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German Pages 382 Year 2010
Religion(en) deuten
Troeltsch-Studien · Neue Folge Herausgegeben von Reiner Anselm · Jörg Dierken Friedrich Wilhelm Graf · Georg Pfleiderer
Band 2
De Gruyter
Religion(en) deuten Transformationen der Religionsforschung
Herausgegeben von Friedrich Wilhelm Graf und Friedemann Voigt
De Gruyter
ISBN 978-3-11-020467-4 e-ISBN 978-3-11-021116-0 ISSN 1866-9638 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data Religion(en) deuten : Transformationen der Religionsforschung / [herausgegeben von] Friedrich Wilhelm Graf, Friedemann Voigt. p. cm. - (Troeltsch-Studien. Neue Folge, ISSN 1866-9638 ; Bd. 2) German and English. Includes bibliographical references and index. ISBN 978-3-11-020467-4 (hardcover 23 ⫻ 15,5 : alk. paper) 1. Religion - Study and teaching. I. Graf, Friedrich Wilhelm. II. Voigt, Friedemann. III. Title: Relionen deuten. IV. Title: Religion deuten. BL41.R37 2010 200.71-dc22 2010022511
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 2010 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/New York Druck: Hubert & Co. GmbH und Co. KG, Göttingen ⬁ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Vorwort
Die im Folgenden gesammelten Studien über „Transformationen der Religionsforschung“ sind hervorgegangen aus Vorträgen, die beim 9. Internationalen Kongreß der Ernst-Troeltsch-Gesellschaft vom 7. bis 9. März 2007 im Evangelischen Augustinerkloster zu Erfurt gehalten worden sind. Einige Autoren haben ihre Beiträge tiefgreifend überarbeitet. Vorworte bieten die Chance gebotenen Dank zu bekunden. Das wissenschaftliche Programm ist von der Fritz-Thyssen-Stiftung gefördert worden. Die von Gaathe Willem Reitsema initiierte Stiftung Vrijzinnig Hervormd Godsdienstig Leven in Rotterdam hat vielen Jüngeren – Studierenden, Doktoranden, sich gerade Habilitierenden – aus aller Welt Gelegenheit zur Teilnahme am Kongreß ermöglicht. Beiden Stiftungen sei für ihr Engagement sehr freundlich gedankt. Erinnert sei auch daran, daß Gaathe Willem Reitsema, Autor einer grundlegenden Troeltsch-Monographie, bei den ersten drei von der Gesellschaft verantstalteten Kongressen mit wunderbaren, ebenso klugen wie erheiternden Diskussionsbeiträgen die Debatten über Religion, Moderne und liberale Theologie stark geprägt hat. Seiner Großzügigkeit verdankt die Troeltsch-Forschung viel. Die Durchführung des Kongresses in Erfurt wäre nicht möglich gewesen ohne die souveräne Organisationskraft von Herrn Professor Dr. Christian Albrecht, damals Inhaber des Lehrstuhls für Evangelische Theologie und Kulturgeschichte des Christentums an der Universität Erfurt. Ihm und seinen Mitarbeitern sei noch einmal dankbare Anerkennung bekundet. Frau Diana Feßl, Frau Hannelore Loidl und vor allem Herr Dr. Stefan Pautler haben sich in schon oft bewiesener Zuverlässigkeit um die Erstellung der Satzvorlagen und das Register gekümmert. Auch ihnen danke ich im Namen des Vorstandes der Ernst-Troeltsch-Gesellschaft herzlich. Mit diesem Band haben nach der Kritischen Gesamtausgabe der Werke Ernst Troeltschs auch die Troeltsch-Studien beim de Gruyter Verlag ihr Zuhause gefunden. Für die Aufnahme der Troeltsch-Studien in
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Vorwort
das Verlagsprogramm sowie die gute Zusammenarbeit bedanke ich mich herzlich beim Verlagshaus de Gruyter und besonders bei Herrn Dr. Albrecht Döhnert. Frau Dr. Sabine Krämer und Frau Sabina Dabrowski bin ich für die verlegerische und herstellerische Betreuung des Bandes dankbar. München, im Juli 2010
Friedrich Wilhelm Graf
Inhaltsverzeichnis
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Friedrich Wilhelm Graf, Friedemann Voigt Transformationen der Religionsforschung. Zur Einleitung . . . . .
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Sigurd Hjelde Die Geburt der Religionswissenschaften aus dem Geist der Protestantischen Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Arie L. Molendijk Der Kampf um die Religion in der Wissenschaft . . . . . . . . . . . .
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Hans Joas Selbsttranszendenz und Wertbindung. Ernst Troeltsch als Ausgangspunkt einer modernen Religionssoziologie. . . . . . . . . . . . .
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Karl-Heinz Kohl Religion als Thema der Ethnologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Reinhard Schulze Islamwissenschaft und Religionswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . .
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Jörg Dierken Theologie und Religionswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
203
Michael Minkenberg Religion als Thema der Politikwissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhaltsverzeichnis
Monika Neugebauer-Wölk Religion als Thema der Geschichtswissenschaft . . . . . . . . . . . . .
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Gangolf Hübinger Die Religion der Historiker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Christian Albrecht Perspektivenerwartungen in den gegenwärtigen Religionsdeutungsdebatten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
291
Alf Christophersen Probleme der Religionstheologie – Probleme mit der Religionstheologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Lori Pearson The Uses and Abuses of Troeltsch in American Debates over Religion, Social Theory, and Theology . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Transformationen der Religionsforschung. Zur Einleitung Friedrich Wilhelm Graf, Friedemann Voigt
Mit der konfliktreichen Rückkehr der Religionen in öffentliche Räume hat auch alter wissenschaftlicher Disziplinenstreit um das Religiöse neue Virulenz gewonnen. Neben den konfessionellen Theologien und der Religionswissenschaft versuchen inzwischen auch Forscher aus zahlreichen anderen Fächern den vielgestaltigen Wandel von Religion in der Moderne zu erkunden. Die Konkurrenz disziplinenspezifischer Perspektiven mit ihren je eigenen Denkstilen, Begrifflichkeiten, argumentativen Konventionen und auch Vorurteilsstereotypen legt die Frage nahe, wie religionsdeutende Fächer jeweils ihre Sicht auf „Religion“ entwerfen. Können durch Selbstreflexion disziplinärer Perspektivität fachspezifische Denkroutinen überwunden und gesteigerte hermeneutische Sensibilität gewonnen werden? Hier liegen die Chancen einer alte Fachgrenzen überschreitenden problemorientierten Religionsforschung. Damit diese gelingt, muß auch die Gegenwartsmacht ausstrahlungsstarker Kontroversen der Vergangenheit durch konsequente Historisierung relativiert werden. Unter dem Gesichtspunkt der Historisierung ist die Rückerinnerung und Vergegenwärtigung der Formationsphase der modernen Kulturwissenschaften um 1900 von besonderer Bedeutung. Als Ernst Troeltsch 1894 von Bonn nach Heidelberg kam, traf er auf einen Kreis von Historikern, Rechtsgelehrten, Nationalökonomen und Philologen, der sich mit der Kulturbedeutung der Religion beschäftigte. Troeltsch wurde bald zu einer zentralen Gestalt dieser kulturwissenschaftlichen Religionsforschung, für die exemplarisch Namen wie Eberhard Gothein, Georg Jellinek und Max Weber stehen. Troeltsch war in diesen Zirkeln der einzige Theologe, der einen nachhaltigen Einfluß ausübte. Nicht, daß im Heidelberger Gelehrtenmilieu die protestantische Theologie eine unerwünschte Disziplin gewesen wäre. Die Schriften etwa Jellineks und erst recht Max Webers, so vor allem in seiner berühmten Untersuchung „Die protestantische Ethik und der ‚Geist‘
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Friedrich Wilhelm Graf, Friedemann Voigt
des Kapitalismus“, lassen eine bemerkenswerte Kenntnis theologischer Literatur und eine differenzierte Einschätzung der theologischen Forschungslandschaft erkennen.1 Das Bewußtsein, von der christlichen Religion nur kompetent sprechen zu können, wenn man auch über profunde Kenntnisse ihres Innenlebens verfügt, war bei den Kulturwissenschaftlern um 1900 in hohem Maße ausgeprägt.2 Erst diese theologischen Kenntnisse befähigten die Theoretiker der unterschiedlichen Disziplinen dazu, der Religion jenes Maß an Selbständigkeit zuzuschreiben, welches zugleich Kulturbedeutung begründet. Denn entgegen den materialistischen Theorien des Sozialismus, nach denen die Ideenmächte und damit auch die Religion nur sekundärer Reflex fundamentaler ökonomischer Prozesse, ihr „Überbau“ sind, ging es den Kulturwissenschaftlern damals um den Aufweis, daß selbst unter modernen Bedingungen Ideen orientierend wirken können. Die Religion war die erste Wahl, wenn es um die Frage ging, welche idealen Lebensmächte einen bestimmenden Einfluß auf die moderne Kultur haben – oder wenigstens eine historische Rolle bei der Heraufkunft der modernen Welt gespielt hatten. Sollte dies adäquat ergriffen werden oder, nochmals in den Worten Max Webers, „die Bedeutung, welche religiöse Bewußtseinsinhalte auf die Lebensführung, die Kultur und die Volkscharaktere gehabt haben“,3 verstanden werden, dann war es notwendig, auf die Theologie zurückzugreifen. Nicht, daß die Theologie das Medium ist, in dem sich die Fragen der Kulturdeutung in idealer Weise lösen. Und natürlich war nicht die Theologie selbst das Ziel der Kulturwissenschaftler. Aber zum einen dienten die theologischen Texte ihnen als Quellen und Zeugnisse jener religiösen Mentalitäten, die sie zu erkunden versuchten, zum anderen diente
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Friedrich Wilhelm Graf: Die „kompetentesten“ Gesprächspartner? Implizite theologische Werturteile in Max Webers „Protestantischer Ethik“, in: Volkhard Krech, Hartmann Tyrell (Hg.): Religionssoziologie um 1900 (Religion in der Gesellschaft, Band 1), Würzburg 1995, S. 209–248. In den Antikritiken zu seiner „Protestantischen Ethik“ hat Weber mehrfach hervorgehoben, daß zunächst die Theologen die Fachleute in Religionsdingen seien, vgl. Max Weber: Die protestantische Ethik II. Kritiken und Antikritiken, hrsg. von Johannes Winckelmann (Siebenstern-Taschenbuch 119/120), München, Hamburg 1968, S. 27–37 und S. 283–345. Max Weber: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, in: ders.: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I, Tübingen 1920, S. 17–206, Zitat S. 205.
Transformationen der Religionsforschung. Zur Einleitung
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die theologische Literatur aber auch als die Auslegerin der Religion, an der sich die eigene Analytik zunächst orientierte. Indem sich diese Denker mit Religion und Theologie beschäftigten, wurden sie aber auch selbst zu Religionsdeutern, die dann wiederum die Grenzen der bislang bekannten theologischen Beschäftigung mit der Religion transzendierten. Diese Überschreitung der theologischen Analytik ist nicht prinzipiell zu verstehen – das Beispiel Troeltschs, auf den gleich noch einzugehen ist, zeigt, daß es auch in der Theologie zur Integration des kulturwissenschaftlichen Blicks kommen kann. Methodisch konzentrierten sich die Historischen Kulturwissenschaftler um 1900 individualitätstheoretisch auf die Fragen nach der Einwirkung der Religion auf die „Persönlichkeit“ und ihre „Lebensführung“. Das Individuum als Träger religiöser Ideen und ihrer soziokulturellen Gestaltungskraft bzw. die individualitätsstärkende Kraft der Religion als Gegenmacht der Entpersönlichungsprozesse der modernen Welt standen im Vordergrund ihrer Analysen. Indem derart das Individuum und seine „Lebensführung“ zum Bezugspunkt gemacht wurde, ergaben sich geradezu unendlich viele Möglichkeiten zur Erschließung von Religiosität jenseits ihrer kirchlichen Gestalt, ohne sich damit einen Mangel an methodischer Präzision einzuhandeln. Neben dieser kulturwissenschaftlichen Verbreiterung der Religionsforschung, wenn auch in vielfältiger Beziehung zu ihr, steht um 1900 die Entwicklung der Religionswissenschaft als einer eigenständigen Disziplin. Ihr Verhältnis zur überkommenen theologischen Religionsdeutung ist stärker von Abgrenzungs- als von Integrationsbestrebungen bestimmt. Der Theologie sollte eine dezidiert „wissenschaftliche“ Religionsanalyse entgegengesetzt werden, welche sich von der thematischen Konzentration auf das Christentum in der Vielfalt seiner konfessionellen Gestaltungen ebenso unterschied wie sie sich von den Werturteilen einer auf die Wahrheit und Absolutheit des Christentums gerichteten Dogmatik absetzen wollte. In der Entwicklung der modernen Religionswissenschaft seit Mitte des 19. Jahrhunderts diente vor allem die konsequente Ausrichtung auf die Religionsgeschichte, speziell die sogenannte „vergleichende Religionsgeschichte“ zum Medium dieser Distanzierung von der Theologie.4 Eine eigene Frage ist es, in welcher Weise hierin gleich4
Hans G. Kippenberg: Die Entdeckung der Religionsgeschichte. Religionswissenschaft und Moderne, München 1997; Arie L. Molendijk: The Emergence of the Science of Religion in the Netherlands (Studies in the History of Religions. Numen Book Series, 105), Leiden, Boston 2005.
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Friedrich Wilhelm Graf, Friedemann Voigt
wohl an bestimmte Traditionen zumindest der liberalen protestantischen Theologie angeknüpft wurde. Dem sind im vorliegenden Band Sigurd Hjelde und Arie L. Molendijk nachgegangen. Jedenfalls war es die Historisierung der Religion, sei es als Religionsgeschichte, sei es in Gestalt des kulturwissenschaftlichen Interesses an der Genese der modernen Welt, welche sowohl die disziplinäre Öffnung als auch die interdisziplinäre Bereicherung der Religionsforschung ermöglichte. Daß die Theologie, insbesondere die „liberale“ protestantische Universitätstheologie und hier vor allem die Vertreter der „Religionsgeschichtlichen Schule“, dies nicht zwingend als illegitime Konkurrenzsituation oder Marginalisierung begreifen mußte, belegt das Beispiel Ernst Troeltschs. Troeltsch beteiligte sich nicht nur produktiv an den kulturwissenschaftlichen Debatten über „Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt“, so der Titel seines Vortrags auf dem Historikertag 1906,5 sondern integrierte nun seinerseits die mit modernen wissenschaftlichen Mitteln arbeitende Kulturdeutung in den Horizont einer „historischen Methode“ der Theologie. In entschiedener Abwehr einer „dogmatischen Methode“, welche durch das übergeschichtliche Konstrukt einer absoluten Wahrheit sich gegenüber der historischen Kritik immunisieren zu können meint, suchten Troeltsch und die anderen „Religionsgeschichtler“ durch entschiedenen Anschluß an religionshistorische Einsichten und moderne Kulturtheorie die Theologie als eine Historische Kulturwissenschaft des Christentums zu begründen, welche ihre normative Kraft in der Deutung der religiösen Gegenwart entfaltet.6 Durch die Bestimmung der im christlichen Gottesgedanken fundierten und von der religiösen Gemeinschaft gestärkten individuellen Persön5
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Ernst Troeltsch: Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt (1906/1911), in: ders.: Schriften zur Bedeutung des Protestantismus für die moderne Welt (1906–1913), hrsg. von Trutz Rendtorff in Zusammenarbeit mit Stefan Pautler (Ernst Troeltsch: Kritische Gesamtausgabe, Band 8), Berlin, New York 2001, S. 199–316; zum damit verbundenen theologischen Programm siehe die Einleitung ebd., S. 1–52; vgl. auch Einleitung in: Ernst Troeltsch: Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte (1902/1912), mit den Thesen von 1901 und den handschriftlichen Zusätzen, hrsg. von Trutz Rendtorff in Zusammenarbeit mit Stefan Pautler (Ernst Troeltsch: Kritische Gesamtausgabe, Band 5), Berlin, New York 1998, S. 1–50. Friedemann Voigt: Die historische Methode der Theologie. Zu Ernst Troeltschs Programm einer theologischen Standortepistemologie, in: Friedrich Wilhelm Graf (Hg.): „Geschichte durch Geschichte überwinden“. Ernst Troeltsch in Berlin (Troeltsch-Studien, Neue Folge, Band 1), Gütersloh 2006, S. 155–173.
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lichkeit als normativem Zentrum des Christentums in der modernen Welt sah Troeltsch dann auch den Mehrwert der theologischen Deutung gegenüber den rein historisch-deskriptiven Kultur- und Religionswissenschaften. Daß er in dieser Weise die Theologie durch Anschluß an die Problemstellung und methodischen Standards der Kulturwissenschaften auf der Höhe der Religionsforschung seiner Zeit hielt, ist die genuine Leistung von Troeltschs Theologie. In diesem Zusammenhang bezog sich Troeltsch, als einer der wenigen Theologen seiner Zeit, auch immer wieder auf die aktuellen Debatten der Religionswissenschaft. Aus heutiger Sicht wenig befriedigend ist hingegen Troeltschs Sichtweise der Religionswissenschaft, welcher er zunächst allein einen hilfswissenschaftlichen Charakter für die theologisch-normative Aufgabe zuschrieb. Besonders die nordamerikanische Rezeption Troeltschs hat hieran Anstoß genommen, wie Lori Pearson zeigt. Die Transformationen der Religionsdeutung um 1900 beruhen auf den Besinnungen auf die Selbständigkeit der Religion als einer eigenen Lebenssphäre, die sich von dogmatisch-theologischen Definitionen nicht normieren läßt, auf der Einsicht in die Religion als einer die individuelle Lebensführung (mit-)bestimmenden Kraft und hat damit verbunden einen Bezug zu der normativen Frage, wie individuelle Freiheit in einer zunehmend bürokratisch sachlichen, von den je eigenen Zweckrationalitäten von kapitalistischer Wirtschaft und Politik geprägten modernen Welt zu bewahren und zu befördern ist. Dies alles sind keine von den Religionsdeutern um 1900 neu erhobenen Bestimmungen der Religion. Vielmehr greifen sie dabei – mehr oder weniger bewußt – auf klassische Bestimmungen der Theologie und Religionsphilosophie des Idealismus zurück.7 Allerdings fassen sie diese methodisch anders und entwickeln sie nicht vornehmlich aus der Ökonomie des subjektiven Selbstbewußtseins, sondern aus der historischen Kulturentwicklung. Die Transformationen der Religionsdeutung um 1900 weisen daher, trotz ihrer thematischen Vielfalt, eine relativ hohe Gemeinsamkeit in Problem- und Methodenbewußtsein auf. Es ist angesichts dieser intrinsischen Verbindung von Kulturwissenschaften und Religionsdeutung nicht verwunderlich, daß mit dem „cultural turn“ seit den 1980er Jahren auch eine Renaissance der Religions7
Vgl. hierzu auch Christian Albrecht: Historische Kulturwissenschaft neuzeitlicher Christentumspraxis. Klassische Protestantismustheorien in ihrer Bedeutung für das Selbstverständnis der Praktischen Theologie (Beiträge zur historischen Theologie, Band 114), Tübingen 2000.
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thematik zu beobachten ist. Darüber hinaus haben natürlich auch die religiösen Akteure in ebenso zahlreicher wie unterschiedlicher Art in den letzten Jahrzehnten Einfluß auf das öffentliche und politische Leben genommen, wodurch der Bedarf an kompetenter Deutung der pluralen Religionskulturen der Gegenwartsmoderne stieg – und auch innerhalb der Wissenschaften bereitwillig aufgenommen wurde. Mit dem neuen, sowohl real- wie wissenschaftshistorisch angeregten Interesse an der Religion ist ihre gelehrte Deutung in eine neue Transformationsphase getreten. Diese scheint im Vergleich mit der Epoche um 1900 erheblich unübersichtlicher und methodisch wie systematisch heterogener. Ja, der Bezug auf die Klassiker der Religionsdeutung um 1900 wird selbst als eine Art positionelle Verortung im Spektrum der gegenwärtigen Religionsdeutung verstanden, mit welcher also bestimmte Überzeugungen und Wertentscheidungen zugunsten einer am Individuum und Freiheit orientierten Religionsdeutung einhergehen, wie dies auch im Beitrag von Hans Joas der Fall ist. Drei teils sich verstärkende, teils aber auch gegenläufige Trends bestimmen die gegenwärtige Religionsforschung: Ihre disziplinäre Schließung bei gleichzeitiger thematischer Entgrenzung der Disziplinen und die Abgrenzung von theologischen und auch religionswissenschaftlichen Diskursen. In einem erstaunlichen Maße haben die geistesund sozialwissenschaftlichen Fächer in den letzten Jahren je eigene Religionsdiskurse etabliert. Die Einsicht, daß unter gegenwärtigen Bedingungen ökonomische, politische, juristische Konflikte nicht ohne Berücksichtigung religiöser Einflüsse analysiert und bearbeitet werden können, hat dazu geführt, daß Religion zu einem omnipräsenten Thema der Wissenschaftslandschaft geworden ist. Beachtenswert ist, daß die Erörterung der Religion im Rahmen etwa der jeweiligen Disziplinen weitgehend als geschlossener Diskurs innerhalb dieser Wissenschaften geführt wird. Dies zeigen die Beiträge von Michael Minkenberg und Monika Neugebauer-Wölk. Eine inzwischen etablierte internationale Öffnung der einzelnen Disziplinen geht dabei mit einer bemerkenswerten disziplinären Schließung einher. Das ist nicht wertend oder gar abwertend gemeint; in der gegenwärtigen Transformationsphase der Religionsforschung entfalten sich durch diese disziplinäre Schließung die produktiven Impulse zunächst innerhalb der einzelnen Disziplinen. Gleichwohl treten in den einzelnen Disziplinen klassische Fragestellungen der modernen Religionstheorie wieder auf, wie sie sich in den Gegenüberstellungen von funktionaler und substantieller, historischer oder apriorischer Religionsdefinition etc. finden. Darauf
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verweist auch Gangolf Hübinger in seinen kritischen Bemerkungen zu Monika Neugebauer-Wölk. Die Frage, in welcher Weise diese „alten“ Problemstellungen mit den Erkenntnisinteressen und -mitteln „neuer“ Wissenschaften angeeignet und reflektiert werden können, beschäftigt natürlich in besonderem Maße diejenigen Disziplinen, die historisch besonders eng mit der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Religionsthema verbunden sind. Das gilt im vorliegenden Band neben der Religionswissenschaft selbst für Ethnologie und Islamwissenschaft, vertreten durch Karl-Heinz Kohl und Reinhard Schulze. Hier verläuft die disziplinäre Selbstbestimmung in historischer Rückbesinnung auf die eigene Fachgeschichte und damit teils in expliziter Abgrenzung gegenüber Theologie und Religionswissenschaft, vor allem aber in kritischer Reflexion auf die Prägungen durch diese gleichsam religionsgeschichtliche Herkunft der eigenen Disziplin. Dies gilt in eigener Weise für die Theologie selbst, die sich im Blick auf ihr disziplinäres Selbstverständnis mit der Religion immer wieder schwer getan hat, weil die Anerkennung einer gegenüber der Theologie relativ selbständigen Religion den theologischen Einflußbereich einschränkte, was die Normierung des religiösen Lebens betraf. Zugleich entschränkte diese Anerkennung der Religion die theologische Betrachtungsweise von den dogmatisch-kirchlichen Zeugnissen hin auf die Frömmigkeit und ihre vielfältigen Äußerungsformen. Der Beitrag von Jörg Dierken hat sich diesen theologischen Transformationsprozessen zugewandt. Die enge Beziehung einer solchen Religionstheologie zu dem oben skizzierten Programm der Kulturwissenschaften um 1900 liegt auf der Hand. Zum Pluralismus theologischer Positionen und Programme gehört es aber auch, diese Selbständigkeit der Religion wieder dogmatisch begrenzen zu wollen, wie dies Alf Christophersen in Auseinandersetzung mit der katholischen Religionstheologie darlegt. Die Theologie, so läßt sich zugespitzt sagen, vollzieht die strukturellen Transformationen der Religionsforschung des 20. und 21. Jahrhunderts daher auch dort mit, wo sie sie eigentlich ausschließen möchte. Die Beobachtungen und Selbstbeobachtungen der Transformationen der Religionsforschung in dem vorliegenden Band sind deshalb mehr als die Konstatierung einer Religionszugewandtheit in neuer disziplinärer und phänomenologischer Vielfalt. Die Beiträge in diesem Band weisen die Beschäftigung mit der Religion als exemplarisches Thema der Erschließung der Komplexität von Wirklichkeit auf. Christian Albrecht zeigt in seinem Beitrag, wie in dieser Weise zugleich auf die Grenzen der je eigenen wissenschaftlichen Erklärungskraft reflektiert wird. In der Be-
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schäftigung mit der Religion ist deshalb die Öffnung der disziplinären Schließung der einzelwissenschaftlichen Diskurse immer schon angelegt. Dazu einen Beitrag zu leisten war die Absicht bei Beschäftigung mit den Transformationen der Religionsdeutung im Zeichen Ernst Troeltschs.
Die Geburt der Religionswissenschaften aus dem Geist der Protestantischen Theologie Sigurd Hjelde Einleitung: Problem und Ausgangsthesen „Die Geburt der Religionswissenschaften aus dem Geist der protestantischen Theologie“ – eine Themenformulierung wie diese wäre in unserem religionswissenschaftlichen Kollegium an der Universität Oslo wohl niemandem so leicht eingefallen. Als Antwort auf die Frage, wo unser Fach denn eigentlich herkomme, weisen wir unsere Studenten auf keine theologische, sondern auf ganz andere Traditionen hin: Max Müller, Edward Burnett Tylor, James George Frazer, Sigmund Freud, Émile Durkheim, Max Weber – das sind die Väterfiguren, die wir sie in erster Linie ehren lehren. Der Name eines Theologen hat in diesem Kanon keinen Platz, auch nicht der von Nathan Söderblom, unserem einmal so bedeutenden schwedischen Nachbarn. Zwar wissen wir alle, daß Wilhelm Schencke (1869–1946), der erste Inhaber des religionsgeschichtlichen Lehrstuhls in Oslo, ursprünglich (1894) theologischer Kandidat war. Aus ihm wurde aber bald ein erklärter Feind aller Universitätstheologie; seine ganze Amtszeit hindurch (1914–1939) führte er einen erbitterten Streit gegen die Theologische Fakultät, diesen „entzündeten Blinddarm“ der Universität, den man, Schencke zufolge, schleunigst entfernen müßte.1 Mit seinem heftigen Angriff auf die Theologische Fakultät hatte Schencke keinen Erfolg; heute, fast hundert Jahre später, behauptet sie immer noch ihren altehrwürdigen ersten Platz unter den mittlerweile acht Fakultäten unserer Universität. Die Wunden aber, die der alte Krieg zwischen Theologie und Religionswissenschaft hinterlassen hatte, sind noch nicht geheilt. Das erfuhren wir vor wenigen Jahren, als im Zuge 1
So Schencke in einem Zeitungsartikel (Tidens Tegn, 28.1.1913), vgl. Sigurd Hjelde: Teologi og religionshistorie: samspill eller sammenstøt? Om innføringen av religionshistorie som fag ved Universitetet i Oslo, in: Norsk Teologisk Tidsskrift 99 (1998), S. 12.
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der Bologna-Reform das Studienangebot unserer ganzen Universität neu strukturiert werden sollte. Da kam – und zwar von theologischer Seite – die Idee auf, ein interfakultäres „Programm für Religionsstudien“ zu organisieren. Die Verhandlungen zwischen Theologie und Religionswissenschaft verliefen aber alles andere als reibungslos, so daß sich dieser Plan nur teilweise verwirklichen ließ. Die Tatsache, daß die heutige Religionswissenschaft die theologische Tradition oft mit Skepsis und Mißtrauen betrachtet und ihre eigenen Väter lieber im Kreis solcher anthropologischen Wissenschaften wie der Ethnologie, der Psychologie oder der Soziologie sucht, hat wohl in erster Linie damit zu tun, daß sie ihre Geschichte mit Vorliebe als einen Prozeß der „Emanzipierung“ versteht, durch den sie sich allmählich von der „Vormundschaft“ solcher alten Autoritäten wie der Theologie oder der Philosophie – vor allem wohl der Theologie – befreit habe.2 Den wissenschaftshistorischen Wert eines derartigen Interpretationsmodells möchte ich nicht in Frage stellen, zweifellos hat es einiges für sich. Es kann mir auch nicht daran liegen, das ganze moderne Religionsstudium als ein ehelich geborenes Kind protestantischer Theologie ausweisen zu wollen. Wohl aber frage ich mich, wie sinnvoll und sachgemäß es eigentlich ist, das Verhältnis der jungen, im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts entstehenden Religionswissenschaft zur christlichen Theologie bloß als eine problematische Beziehung aufzufassen und darzustellen. Mit Blick auf die nicht unwesentliche Rolle, die manche liberale protestantische Theologen in der Vor- bzw. Frühgeschichte der modernen Religionswissenschaft spielten, scheint es mir nicht ganz gerecht, diesen theologischen Anteil an der Genese des neuen Faches einseitig in ein negatives Licht zu stellen. Vielleicht wären hier auch einige Worte der Anerkennung – oder gar des Dankes – am Platze? Das also ist das Anliegen, das den Blickwinkel dieses Beitrags bestimmt, und als Ausgangs- und Orientierungspunkt stelle ich die folgende dreigliedrige Thesenreihe auf: 2
Vgl. z. B. Joachim Wach: Religionswissenschaft. Prolegomena zu ihrer wissenschaftstheoretischen Grundlegung, Leipzig 1924; Kurt Rudolph: Die Religionswissenschaft an der Leipziger Universität und die Entwicklung der Religionswissenschaft. Ein Beitrag zur Wissenschaftsgeschichte und zum Problem der Religionswissenschaft, Berlin 1962; Karl-Heinz Kohl: Geschichte der Religionswissenschaft, in: Hubert Cancik, Burkhard Gladigow, Matthias Laubscher (Hg.): Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe, Band 1, Stuttgart u. a. 1988, S. 217–262.
Die Geburt der Religionswissenschaften
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1) Ihre ideengeschichtlichen Wurzeln bzw. ihren wissenschaftstheoretischen Grund hat die moderne Religionsforschung in erster Linie im Geist der europäischen Aufklärung, insbesondere in deren rationalistischer Religionskritik und anthropologischem Religionsbegriff sowie im Ideal der religiösen Toleranz. Ohne dieses Fundament ist diese ganze Wirksamkeit ganz einfach undenkbar. 2) Dennoch trugen andere Kräfte entscheidend dazu bei, daß diese aufkeimende Religionsforschung weiter ausgebaut wurde und allmählich zu einem eigenen akademischen Studium heranreifte: zum einen die Romantik mit ihrem begeisterten Sinn für Geschichte wie für Religion, zum anderen – teilweise mit der Romantik verbunden – die liberale protestantische Theologie. Hier wie dort war ein „essentialistischer“ Religionsbegriff wirksam, in dessen Licht das Phänomen „Religion“ als ein zentrales Element allen menschlichen Lebens erschien. 3) Auch ohne diesen Einfluß der Romantik wie der liberalen protestantischen Theologie hätte die akademische Welt von heute sicherlich eine vielfältige Religionsforschung umfaßt; nicht ganz so sicher aber ist, daß es dann auch eigene religionswissenschaftliche Lehrstühle oder Institute, geschweige denn so etwas wie einen internationalen Verein für Religionswissenschaft gegeben hätte. Vermutlich wäre diese ganze Forschung und Lehre dann auf mehrere akademische Einrichtungen verteilt – auf die verschiedensten Sprach- und Kulturstudien, auf Ethnologie, Psychologie oder Soziologie. Das sollten wir, die wir als heutige Fachvertreter gelernt haben, allerlei „essentialistische“ Religionskonzeptionen in Frage zu stellen, nicht allzu leicht vergessen. Die erste dieser drei Thesen bedarf, so denke ich, keiner weiteren Begründung. Das Interesse richtet sich im Folgenden darum hauptsächlich auf die zweite These, die ich durch einige wenige historische Beispiele beleuchten möchte. Zu diesem Zweck wähle ich drei theologisch motivierte Ansätze – alle aus dem deutschen Sprachraum – aus, die als bedeutsame Marksteine auf dem Weg zu einem selbständigen akademischen Studium der Religion gelten können. Ich lasse die Akteure in chronologischer Reihenfolge auftreten: zunächst ein Göttinger Kreis der 1790er Jahre, danach Friedrich Schleiermacher und zum Schluß einige liberale Theologen in seiner Nachfolge. Auf den beiden ersten Stationen, von denen jene der Aufklärung, diese der Romantik zuzuordnen ist, sind wir noch im Vorraum der voll erbauten Religionswissenschaft, auf der letzten stehen wir sozusagen auf der Schwelle dazu, unmittelbar vor der Eröffnung dieser akademischen Neugründung. Zum Schluß möchte ich
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Sigurd Hjelde
– allerdings nur noch ganz kurz – die Thematik der dritten These, also die Frage der Institutionalisierung der modernen Religionswissenschaft, in den Blick nehmen und einige Überlegungen zum Verhältnis von Theologie und Religionswissenschaft zur Diskussion stellen. Die Religionswissenschaft der 1790er Jahre (C. F. Stäudlin, I. Berger, C. W. Flügge) Verschiedene Untersuchungen religionshistorischen Inhalts hat es schon immer gegeben, aus der griechischen und römischen Antike ebenso wie aus dem christlichen und islamischen Mittelalter.3 Erst mit der europäischen Aufklärung aber waren die theoretischen und praktischen Voraussetzungen für ein kritisches Studium aller Religionen der Welt gegeben. Als Vorläufer oder Pioniere moderner Religionswissenschaft wären aus diesem Zeitraum mehrere Namen zu nennen;4 vor allem hatten natürlich führende Kolonialmächte wie England, Frankreich und die Niederlande sichere Kenntnisse über Kulturen und Religionen in anderen Weltteilen nötig. Einen der ersten Ansätze aber zu so etwas wie einem Zentrum religionswissenschaftlichen Studiums findet man – vielleicht eher unerwartet? – an der jungen Universität eines deutschen Kleinstaates. An der Georg-August-Universität zu Göttingen las seit Mitte der 1770er Jahre der Philosoph Christoph Meiners (1747–1810) regelmäßig über „Die Religionen der alten Völker“,5 und 1785 publizierte er einen „Grundriss der Geschichte aller Religionen“,6 den er im Laufe der nächsten 20 Jahre weiter ausbaute und vertiefte und 1806–1807 als eine „Allgemeine kritische Geschichte der Religionen“ herausgab.7
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Vgl. Eric J. Sharpe: Comparative Religion: A History, London 1975, 2. Ausg. 1986, Kap. 1. Vgl. dazu z. B. Rudolf Franz Merkel: Zur Religionsforschung der Aufklärungszeit, in: Walter Baumgartner et al. (Hg.): Festschrift Alfred Bertholet zum 80. Geburtstag, Tübingen 1950, S. 351–364. Christoph Meiners: Versuch über die Religionsgeschichte der ältesten Völker, besonders der Egypter, Göttingen 1775. Christoph Meiners: Grundriss der Geschichte aller Religionen, Lemgo 1785, 2. Ausg. 1787. Christoph Meiners Allgemeine kritische Geschichte der Religionen, 2 Bände, Hannover 1806–1807.
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Über Meiners liegen, mir bekannt, zwei Abhandlungen vor, von denen ihn die eine als Religionshistoriker, die andere als Ethnologen ins Auge faßt. In seiner Tübinger Dissertation aus dem Jahre 1917 geht es Herbert Wenzel darum, Meiners aus einer unverdienten „Halbvergessenheit“ zu retten und ihn auf dem Feld der vergleichenden Religionsforschung als „Schöpfer der modernen Phaenomenologie“ gelten zu lassen.8 Auf die abschließende Frage, wie denn der geistesgeschichtliche Standpunkt Meiners’ zu bestimmen sei, meint Wenzel, ihn „zwischen Rationalismus und Romantik“ einordnen zu müssen. Zu keiner dieser beiden Epochen gehöre er ganz, da er „im großen ganzen frei von den Schwächen der ersteren“ sei, ohne dabei völlig „die Vorzüge der letzteren“ zu besitzen.9 Ein Stück weit versteht Alexander Ihle seine Abhandlung über „Christoph Meiners und die Völkerkunde“ ebenfalls als ein Rehabilitierungsprojekt; er möchte zeigen, daß Meiners nicht nur dem „Typus des wenig originellen Vielschreibers“10 angehöre, sondern trotz aller „Einseitigkeit, Flüchtigkeit, Kritiklosigkeit in der Behandlung vieler Quellen“ auch „durchaus modern“ anmutende Folgerungen, Ideen und Problemstellungen präsentiert habe.11 Auf die Einzelheiten dieser beiden Untersuchungen brauchen wir nicht einzugehen. Es genügt hier der Schluß, daß sich der recht vielseitige Philosoph Meiners wohl zu Recht einen Platz in der Vorgeschichte der modernen Religionswissenschaft erworben hat. Mit Interesse, Energie und Erfolg wurde aber in Göttingen im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts das akademische Studium der Religion auch in der Theologischen Fakultät betrieben. Eine Schlüsselrolle scheint in diesem Zusammenhang Professor Carl Friedrich Stäudlin gespielt zu haben, um den sich ein Kreis jüngerer Theologen bildete. 1797 bis 1799 gab er unter dem Titel „Beiträge zur Philosophie und Geschichte der Religion und Sittenlehre“ eine kurzlebige Schriftenreihe heraus, die er in erster Linie eben dem Studium der Geschichte der verschiedenen Glaubensarten und der Sittenlehre widmen wollte. Beide zeichneten sich nämlich, so Stäudlin, als „ein Studium voll hohen Reizes und Interesse“ aus, müßten jedoch „erst in einzelnen Beiträgen erläutert“ werden, ehe an „eine allgemeine Geschichte der Religionen und der Moral“ zu denken sei. Ja, selbst über „die Idee und Methode einer solchen allgemeinen 8
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Herbert Wenzel: Christoph Meiners als Religionshistoriker, Frankfurt a. d. O. 1917, S. 25. Ebd., S. 85. Alexander Ihle: Christoph Meiners und die Völkerkunde, Göttingen 1931, S. 7. Ebd., S. 144.
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Geschichte“ sei, muß Stäudlin feststellen, so weit „nur wenig“ nachgedacht.12 Ein Blick auf das Inhaltsverzeichnis der insgesamt fünf erschienenen Bände der Schriftenreihe Stäudlins genügt, um den gemischten Charakter dieser „Beiträge“ zu erkennen. Neben solchen, die man auch aus heutiger Perspektive als Religionswissenschaft bezeichnen könnte, finden sich nicht wenige, die eher der Religionsphilosophie oder der christlichen Dogmatik zugerechnet werden müssen. In der Vorrede zum fünften Band kündigt aber Stäudlin einen Kurswechsel an: „Wahrscheinlich werde ich diese Beyträge so fortsetzen, dass in der Folge nur historische Untersuchungen und Abhandlungen in sie aufgenommen werden, dass also dieses Journal bloss für die Geschichte der Religions- und Sittenlehre und der verschiedenen Glaubensarten und Kirchen bestimmt bleibt.“ Als Begründung weist er auf den Mangel eines religionshistorischen Forums hin: „Wir haben jetzt sonst kein einziges diesem Zwecke allein bestimmtes Journal, und doch ist in diesem interessanten Fache noch so viel zu thun übrig.“13 Unter jenen Adepten Stäudlins, die hier mitwirkten und sich mit besonderem Fleiß eben dem Feld der Religionswissenschaft zuwandten, verdienen zwei besondere Aufmerksamkeit: Immanuel Berger und – vor allem – Christian Wilhelm Flügge. Auf diesen erstaunlich produktiven, aber dennoch weithin „vergessenen“ Privatdozenten hat Rudolf Franz Merkel in zwei Aufsätzen hingewiesen,14 und in einem breit angelegten Aufsatz, in dem er sowohl Flügge als auch Berger in den geistesgeschichtlichen Kontext der 1790er Jahre einordnet, hat Gunther Stephenson die religionswissenschaftliche Arbeit dieser beiden jungen Theologen analysiert. Mit Recht charakterisiert er den eher philosophisch veranlagten 12
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Carl Friedrich Stäudlin: Vorrede, in: ders. (Hg.): Beiträge zur Philosophie und Geschichte der Religion und Sittenlehre überhaupt und der verschiedenen Glaubensarten und Kirchen insbesondere, 5 Bände, Lübeck 1797–1799, Band 1 (1797), S. III f. Carl Friedrich Stäudlin: Vorrede, in: ders. (Hg.): Beiträge (wie Anm. 12), Band 5 (1799), S. III. Dieses Vorhaben hat Stäudlin in seinem „Magazin für Religions-, Moral- und Kirchengeschichte“ in die Tat umgesetzt; allerdings ging auch diese Schriftenreihe nach wenigen Jahren ein (vier Bände, Hannover 1801–1806). Rudolf Franz Merkel: Beiträge zur vergleichenden Religionswissenschaft. 1. Ein vergessener deutscher Religionshistoriker, in: Archiv für Religionswissenschaft 36 (1939), S. 193–215; ders.: Zur Religionsforschung der Aufklärungszeit (wie Anm. 4), S. 351–364, hier S. 362 ff.
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Berger als den „Theoretiker“ des Kreises,15 Flügge als dessen ausgeprägtesten „Historiker“.16 Und von den beiden scheint dieser letztere in der Tat auch derjenige gewesen zu sein, den man am ehesten unter die „Vorboten“ der modernen Religionswissenschaft einreihen könnte. Im zweiten Band der „Beiträge“ Stäudlins (1797) hat er – zur vollen Befriedigung seines Auftraggebers – einen „Versuch über das Studium der Religionsgeschichte“ entworfen, in dem er nicht nur darüber Rechenschaft ablegt, was auf diesem Felde schon getan worden war, sondern darüber hinaus „die Idee, den Zweck, die Methode, die Principe einer solchen Geschichte“ erörtert.17 Denselben Stoff hat er zweimal (1797 und 1799) in Vorlesungen behandelt18 und schließlich (1801) in einer selbständigen Publikation vorgelegt, in einem Buch, das vermutlich als die allererste „Einleitung“ in das Studium der Religionsgeschichte gelten kann.19 In diesem frühen Entwurf eines akademischen Studiums der allgemeinen Religionsgeschichte mußte Flügge öfters die großen Mängel beklagen, unter denen die Erforschung der einzelnen Völker und Religionen zu seiner Zeit leide; hier seien noch viele Lücken auszufüllen.20 Flügge hat aber auch selber etwas getan, um die empirische Grundlage der Religionsgeschichte weiter auszubauen, unter anderem in Aufsätzen über die 15
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Gunther Stephenson: Geschichte und Religionswissenschaft im ausgehenden 18. Jahrhundert, in: Numen 13 (1966), S. 43–79, hier S. 52 und S. 59. – Unter Bergers Schriften seien hier erwähnt: Ueber den Begriff der Religion, Religionswissenschaft, Religionsgeschichte und ihre Prinzipien, in: Christian Wilhelm Flügge (Hg.): Beyträge zur Geschichte der Religion und Theologie und ihrer Behandlungsart, 2 Bände, Hannover 1797–1798, Band 1 (1797), S. 199–225; Ideen zur Philosophie der Religionsgeschichte, in: Carl Friedrich Stäudlin (Hg.): Beiträge (wie Anm. 12), Band 4 (1798), S. 222–289; Ueber die Moral des Koran und ihr Verhältniß zu der Sittenlehre des Christentums, in: Carl Friedrich Stäudlin (Hg.): Beiträge (wie Anm. 12), Band 5 (1799), S. 250–298. Gunther Stephenson: Geschichte und Religionswissenschaft (wie Anm. 15), S. 52 und S. 54. Vgl. Carl Friedrich Stäudlin: Vorrede, in: ders. (Hg.): Beiträge (wie Anm. 12), Band 2 (1797), S. III. Rudolf Franz Merkel: Beiträge zur vergleichenden Religionswissenschaft. 1. Ein vergessener deutscher Religionshistoriker (wie Anm. 14), S. 194; ders.: Zur Religionsforschung der Aufklärungszeit (wie Anm. 4), S. 363. Christian Wilhelm Flügge: Einleitung in das Studium und in die Literatur der Religions- und Kirchengeschichte, besonders der christlichen, Göttingen 1801. Vgl. Christian Wilhelm Flügge, in: ders. (Hg.): Beyträge (wie Anm. 15), Band 1 (1797), Vorrede (ohne Seitenzahl).
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altsächsische Göttin Ostara21 und die Religion der skandinavischen Lappen22 und in einer breit angelegten Geschichte verschiedener eschatologischer Glaubensvorstellungen.23 Auf eine Untersuchung über Inhalt und Methode dieser Arbeiten können wir uns hier nicht einlassen, und es geht uns ebenso wenig darum, vom heutigen Standpunkt aus ihren wissenschaftlichen Wert zu prüfen. Wichtig in unserem Zusammenhang ist nur der einfache Hinweis auf diese Keimzelle moderner Religionswissenschaft innerhalb der Göttinger Theologischen Fakultät am Ende des 18. Jahrhunderts, während des Übergangs von der Aufklärung zur Romantik. Von einer wirklich vollbrachten „Geburt“ einer neuen Disziplin kann man hier wohl nicht reden, zumindest aber von einem energischen Schritt auf dem Wege dazu. Friedrich Schleiermacher: Religionswissenschaft im Rahmen der „philosophischen“ Theologie Was Friedrich Schleiermacher für die ganze protestantische Theologie bedeutet hat, darüber möchte ich hier kein einziges Wort verlieren. Mein Interesse ist eigentlich auch nicht der große Einfluß, den verschiedene Motive seines Denkens auf mehrere Vertreter der allmählich heranwachsenden Religionswissenschaft ausgeübt haben. Stattdessen möchte ich ganz einfach ein paar zentrale Textstellen in den Blick nehmen, in denen 21
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Christian Wilhelm Flügge: Ueber die Ostara der alten Sachsen, in: Carl Friedrich Stäudlin (Hg.): Beiträge (wie Anm. 12), Band 3 (1797), S. 225–245; Nachtrag in Band 5 (1797), S. 96–101. Christian Wilhelm Flügge: Beyträge zur Religionsgeschichte der Lappen und Finnen, in: ders. (Hg.): Beyträge (wie Anm. 15), Band 1 (ein Beitrag), Band 2 (vier Beiträge). Christian Wilhelm Flügge: Geschichte des Glaubens an Unsterblichkeit, Auferstehung, Gericht und Vergeltung, 3 Teile bzw. 4 Bände, Leipzig 1794–1800. Als eine Kuriosität wäre hier zu erwähnen, daß Flügge auch in terminologischer Hinsicht produktiv gewesen ist: Im Zusammenhang mit einer Untersuchung über die geschichtliche Entwicklung des Eschatologiebegriffs fand ich in diesem Werk (2. Teil, 1795, Vorrede) den ersten Beleg für diesen modernen theologischen bzw. religionswissenschaftlichen Terminus in deutscher Sprachform, vgl. Sigurd Hjelde: Das Eschaton und die Eschata. Eine Untersuchung über Sprachgebrauch und Sprachverwirrung in protestantischer Theologie von der Orthodoxie bis zur Gegenwart (Beiträge zur evangelischen Theologie, 102), München 1987, S. 100 f.
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Schleiermacher Programm und Prinzip einer theologisch motivierten Religionswissenschaft formuliert hat, die eine aus seiner „Kurzen Darstellung des theologischen Studiums“, die andere aus der ersten Auflage der Glaubenslehre.24 In seiner bahnbrechenden theologischen Enzyklopädie teilt Schleiermacher das ganze theologische System bekanntlich in drei Teile: die philosophische, die historische und die praktische Theologie. Von besonderem Interesse in unserem Zusammenhang ist das Verhältnis der philosophischen und der historischen Theologie zueinander: während diese neben der Exegese der kanonischen Schriften und der Kirchengeschichte auch die geschichtliche Kenntnis des Christentums „in seinem gegenwärtigen Zustande“ zum Thema hat, ist jene als eine theologische Prinzipienlehre konzipiert, die unter anderem auf eine Wesensbestimmung des Christentums abzielt. Aus diesen unterschiedlichen Aufgaben ergibt sich für Schleiermacher auch die unterschiedliche Ortsbestimmung beider Disziplinen: „Die philosophische Theologie nimmt ihren Standpunkt immer über dem Christenthum, die historische dagegen innerhalb desselben.“25 Von diesen beiden Ortsbestimmungen soll uns im Folgenden nur die erstere beschäftigen; zehn Jahre später hat sie Schleiermacher in der Einleitung zu seiner Glaubenslehre wiederholt, und zwar dort, wo er sich nach einer grundlegenden Wesensbestimmung des Christentums umsieht, die ihm als Ausgangspunkt für seine Entfaltung der christlichen Lehre dienen könnte. Mit Blick auf die innerprotestantischen Streitigkeiten muß er dann nämlich feststellen, daß es eine Einigkeit darüber, was „in den frommen Erregungen der Christenheit das wesentliche sei“ nicht gibt.26 Was ihm die empirisch vorfindliche Wirk24
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Der Inhalt dieses Abschnitts ist zum großen Teil meiner Abhandlung „Die Religionsgeschichte und das Christentum. Eine historische Untersuchung über das Verhältnis von Religionswissenschaft und Theologie“ (Studies in the History of Religions. Numen Book Series, 61), Leiden 1994 (S. 17–45), entnommen worden. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen (1811), hrsg. von Dirk Schmid (Kritische Gesamtausgabe, Erste Abteilung, Band 6, S. 243–315), Berlin, New York 1998, S. 70 (2. Teil, Schluß, § 7). Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Der christliche Glaube nach den Grundsäzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt (1821/22), Teilband 1, hrsg. von Hermann Peiter (Kritische Gesamtausgabe, Erste Abteilung, Band 7/1), Berlin, New York 1980, S. 15 f. (§ 5).
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lichkeit nicht ohne weiteres hergibt, muß sich Schleiermacher darum selbst methodisch erarbeiten, und in diesem Zusammenhang kommt sein philosophisch-theologisches Arbeitsprogramm aus der „Kurzen Darstellung“ zur Anwendung: „Um auszumitteln, worin das Wesen der christlichen Frömmigkeit bestehe, müssen wir über das Christenthum hinausgehn, und unsern Standpunkt über demselben nehmen, um es mit andern Glaubensarten zu vergleichen.“27 In der damaligen theologischen Welt hat dieser programmatische Satz Schleiermachers, so wie er hier in der Glaubenslehre formuliert wurde, eine lebhafte Debatte in Gang gesetzt.28 Eine erste kritische Reaktion hatte indessen schon die entsprechende Formulierung in der „Kurzen Darstellung“ hervorgerufen. Die Vorstellung, daß über der Gotteserkenntnis des Glaubens eine „höhere“ Erkenntnis Gottes stehe, oder – mit anderen Worten – daß sich das Christentum „von oben herab durch eine höhere Ansicht“ bestimmen lasse, schien dem Kritiker, dem Heidelberger Dogmatiker Friedrich Heinrich Christian Schwarz, theologisch gänzlich unmöglich, ja „in der Wurzel unchristlich“ zu sein.29 In der Glaubenslehre setzt sich Schleiermacher gegen diese Kritik zur Wehr, indem er bestreitet, daß er eine „Weisheit feil geboten“ habe, die über das Christentum gestellt werden sollte. Ihm sei es nur um ein methodisches Prinzip gegangen: um ein durch Vergleich zu gewinnendes Urteil; und in diesem Zusammenhang, argumentiert Schleiermacher, sei sein Sprachgebrauch recht und billig: „denn jeder steht über dem, was er beurtheilt“.30 Parallel zu dieser rein formallogischen Argumentation führt aber Schleiermacher auch noch einen anderen Gesichtspunkt zu Gunsten seines Festhaltens an der provokativen Formulierung an, einen Gesichtspunkt, der am ehesten mit dem „ideologischen“ Aspekt des Problems zu tun hat. Seinen Kritiker wie seine Leser möchte Schleiermacher daran erinnern, daß ein gerechtes bzw. sachgemäßes Urteil nur dann möglich sei, wenn alle glaubensbedingten Vorurteile aus dem Vergleich 27 28
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Ebd., S. 18 (§ 6). Vgl. dazu Sigurd Hjelde: Die Religionswissenschaft und das Christentum (wie Anm. 24), S. 31–45. Friedrich Heinrich Christian Schwarz: [Rez.] Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen, Berlin 1811, in: Heidelbergische Jahrbücher der Litteratur 5 (1812), S. 525. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Der christliche Glaube (wie Anm. 26), S. 21 (§ 6, Punkt 3).
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ausgeschlossen seien. So schließt das erforderte Hinausgehen „über das Christentum hinaus“ also das klassische Gebot der religionswissenschaftlichen „Unparteilichkeit“ in sich, ein Gebot, das Schleiermacher in einer Sprache einschärft, die der späteren religionsphänomenologischen Rede von der „Epoche“ nahe zu kommen scheint: Für die Zeit der religionsvergleichenden „Betrachtung“ müsse der christliche Theologe seine „fromme Erregbarkeit“31 bzw. sein „thätiges Verhältniß im Christentum“32 ruhen lassen. Dem philosophisch-theologischen Religionsvergleich Schleiermachers liegt, wie er selber dargelegt hat, die doppelte Voraussetzung zugrunde, „daß es etwas Gemeinsames gebe in allen Glaubensweisen, weshalb wir sie als verwandt zusammenstellen, und etwas besonderes in jeder, weshalb wir sie von den übrigen sondern“.33 An diesem Punkt meldet sich aber das praktische Problem, daß weder das allen Religionen Gemeinsame noch das jeweils Besondere jeder einzelnen Religion „als bekannt und gegeben nachzuweisen“34 sei: „Daß unsere Aufgabe gelöset wäre, wenn wir beides hätten, ist klar. Denn wir könnten dann dem Christenthum in dem ganzen Kreise der verschiedenen Glaubensweisen seinen bestimmten Ort anweisen. [. . .] Wirklich aber haben wir auf eine allgemein eingestandene Weise nicht nur nicht beides, sondern auch keines von beiden: Ueber den allgemeinen Begriff der Frömmigkeit und der daraus entstehenden Verbindungen wird noch immer gestritten, und die einzelnen Glaubensweisen werden in allen darüber angestellten Untersuchungen noch viel zu sehr als in vieler Hinsicht nur zufällig entstandene Sammlungen von Gebräuchen und Meinungen betrachtet, als daß man das eigenthümliche Gepräge einer jeden sollte entdeckt haben.“35 Von einer Religionswissenschaft, auf die er seine Wesensbestimmung des Christentums hätte stützen können, findet Schleiermacher also bloß wissenschaftlich völlig unqualifizierte Bruchstücke vor. In dieser wenig befriedigenden Lage erweitert sich darum sein Entwurf eines wissenschaftlichen Religionsvergleichs zum Programm einer ganz neuen Wissenschaft überhaupt: „Beides das gemeinsame und das eigenthümliche der Glaubensweisen in allgemeinem Zusammenhang auszumitteln 31 32 33 34 35
Ebd., S. 21 (§ 6, Punkt 3). Ebd., S. 22 (§ 6, Punkt 4). Ebd., S. 22 (§ 7). Ebd., S. 22 (§ 7). Ebd., S. 22 f. (§ 7, Punkt 1).
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[. . .] wäre die wahre Aufgabe jenes Zweiges der wissenschaftlichen Geschichtskunde, den man Religionsphilosophie zu nennen pflegt. Bestünde nun eine solche mit einer nur einigermaßen allgemeinen Anerkennung: so könnten wir uns auf sie berufen; denn das was wir suchen, das Eigenthümliche des Christenthums in seinem Verhältniß zum gemeinsamen der Frömmigkeit überhaupt, müsste auch darin enthalten sein. Da aber dieses gewiss noch nicht zur allgemeinen Befriedigung gefunden ist, [. . .]: so muß auch jene Wissenschaft noch nicht gefunden sein, wie wir denn auch auf diesem Gebiet noch nichts aufzuweisen haben, als Versuche bald mehr geschichtlich bald mehr speculativ, aber in beider Hinsicht ohne feste Grundlage, sondern von den widersprechendsten Hypothesen ausgehend.“36 Schleiermacher sucht hier in der Tat eine Wissenschaft, die „noch nicht gefunden“ worden sei. Moderne Fachbezeichnungen wie „Religionswissenschaft“ oder „Religionsgeschichte“ benutzt er dabei freilich nicht; er folgt mit dem Terminus „Religionsphilosophie“ dem üblichen Sprachgebrauch. Indem er aber darunter einen Zweig der „wissenschaftlichen Geschichtskunde“ versteht, tritt er abermals als Wegbereiter der späteren Religionswissenschaft hervor. Und noch schärfer betont er die geschichtswissenschaftliche Zuordnung jener „religionsphilosophischen“ Aufgabe in der Fortsetzung, wo es heißt, daß sie von „einem rein geschichtlichen Streben, dem jede Religionsform gleich wichtig und werth“ sei, ausgehen müßte.37 An dieser Stelle zieht Schleiermacher sonst die methodischen Konsequenzen, die sich aus dem Fehlen jener rein geschichtlichen Religionswissenschaft für die Durchführung seiner eigenen Aufgabe ergeben: Weil er weder so lange mit seinen Untersuchungen warten könne, bis es jene „Religionsphilosophie“ geben würde, auf die er sich hätte berufen können, noch sich selbst zumuten dürfe, um seines Zweckes willen „die gesammte Religionsphilosophie selbst zu machen“, sei er genötigt, ein „abgekürztes Verfahren“ anzustellen, das darauf hinauslaufe, daß er zunächst „das gemeinsam allen Glaubensweisen zum Grunde liegende Wesen der Frömmigkeit“ aufsuche, dann aber das vergleichende Verfahren „gänzlich“ darauf richte, nur „das Eigenthümliche des Christenthums“ zu finden.38 36 37 38
Ebd., S. 23 f. (§ 7, Punkt 2). Ebd., S. 24 (§ 7, Punkt 3). Ebd., S. 24 (§ 7, Punkt 3).
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Die solchen Anstoß erregende Programmformulierung „über das Christentum hinaus“ hat Schleiermacher in der zweiten Ausgabe seiner Glaubenslehre nicht wiederholt. In der Sache scheint er aber dennoch auf dem ursprünglichen Standpunkt stehen geblieben zu sein. Mit dem Namen „Religionsphilosophie“ bezeichnet er wieder einmal jenen besonderen Zweig der „wissenschaftlichen Geschichtskunde“, dessen Geschäft darin bestehe, „die Gesammtheit aller durch die eigenthümliche Verschiedenheit ihrer Basen voneinander gesonderten Kirchengemeinschaften nach ihren Verwandtschaften und Abstufungen als ein geschlossenes den Begriff erschöpfendes Ganze darzustellen“.39 Ebenfalls muß er die Klage wiederholen, daß die Lösung jener Aufgabe weder „auf einem so allgemein geltenden wissenschaftlichen Verfahren“ ruhe, noch „in solchem Gleichgewicht des geschichtlichen und speculativen“ sich halte, daß man sich in den theologischen Disziplinen hätte darauf berufen können. Darum bleibt ihm immer noch nur jenes „abgekürzte Verfahren“ übrig, das er schon in der ersten Ausgabe entwickelt hatte und hier in der zweiten als „Lehnsätze aus der Religionsphilosophie“ (§§ 7–10) zusammenfaßt. Nach wie vor muß er zu diesem Zweck „auf demselben Punkt wie die Religionsphilosophie“ – in unserem Sprachgebrauch also: wie die Religionswissenschaft – „beginnen und auch denselben Weg einschlagen“, nur mit dem Unterschied, daß er „alles dasjenige unausgeführt zur Seite liegen lassen“ muß, „was nicht zur Ausmittelung des Christenthums unmittelbar beiträgt“.40
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Im Rahmen seiner „Lehnsätze aus der Religionsphilosophie“ spricht Schleiermacher allerdings auch von einer „allgemeinen kritischen Religionsgeschichte“ (Hervorhebung vom Verf.), deren „Geschäft“ in der Zuordnung der „geschichtlich vorkommenden Glaubensweisen“ zu der „teleologischen“ oder aber der „ästhetischen“ Grundform der Frömmigkeit bestehe, vgl. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Der christliche Glaube nach den Grundsäzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, 2. Ausg. (1830/31), Teilband 1, hrsg. von Rolf Schäfer (Kritische Gesamtausgabe, Band 13/1), Berlin, New York 2003, S. 62 (§ 9, Punkt 2). Ebd., S. 13 (§ 2, Punkt 2).
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Religionswissenschaft in der jüngeren „Tübinger Schule“ (F. C. Baur, D. F. Strauß, O. Pfleiderer) In gewissem Sinn läßt sich die ganze liberale protestantische Theologie in der Tradition Schleiermachers als ein Stück Religionswissenschaft charakterisieren. Sie stellt in ihrem Wesen, zumal im Hinblick auf ihre historisch-kritische Methode und ihre grundlegenden wissenschaftstheoretischen Voraussetzungen, einen bedeutsamen religionswissenschaftlichen Ansatz dar. Sie betrachtete die Religion als eine in und mit der menschlichen Natur gegebene Anlage und das Christentum als eine auf dieser natürlichen Grundlage beruhende geschichtliche Erscheinung. Ein wissenschaftliches Verständnis des Christentums hielt sie darum nur so für möglich, daß man von dem Begriff „Religion“ ausging und auf diesem Hintergrund die Eigenart des christlichen Glaubens sowie dessen Ort in der allgemeinen Religionsgeschichte nachzuweisen versuchte. Als Vertreter dieser religionswissenschaftlich orientierten Theologie wollen wir hier drei Autoren in den Blick nehmen: David Friedrich Strauß, Ferdinand Christian Baur und Otto Pfleiderer – die beiden ersteren allerdings nur ganz flüchtig, den letzteren etwas eingehender.41 Von diesen drei Namen gehören die beiden älteren – Strauß und Baur – in die Zeit des definitiven Durchbruchs der historisch-kritischen Methode innerhalb der protestantischen Theologie. Mit seinem umstrittenen „Leben Jesu“ hat Strauß zweifellos für die größere Aufregung in der damaligen theologischen Welt gesorgt, während sein Lehrer Baur als Haupt einer ganzen „Tübinger Schule“ eine ganz anders konstruktive Wirkung ausüben konnte. Mit gleichem Recht aber, wie beiden Namen eine theologiegeschichtliche Bedeutung ersten Ranges zuerkannt wird, könnte man sie wohl auch als Marksteine in der Vorgeschichte der Religionswissenschaft aufstellen.42 Zwar hat sich Strauß hauptsächlich auf theologische Stoffe und Fragestellungen konzentriert, aber in seiner kritischen Interpretation der Evangeliengeschichten hat immerhin 41
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Wie der vorige Abschnitt basiert auch dieser auf Sigurd Hjelde: Die Religionsgeschichte und das Christentum (wie Anm. 24), hier S. 67–87. So wird Baur in Jan Rohls: Ferdinand Christian Baur. Spekulation und Christentumsgeschichte, in: Theologen des 19. Jahrhunderts. Eine Einführung, hrsg. von Peter Neuner und Gunther Wenz, Darmstadt 2002, S. 44, als „der erste Religionsgeschichtler seiner Zeit“ charakterisiert, der „quellenmäßig und methodisch“ gearbeitet habe.
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ein ausgeprägt religionswissenschaftlicher Begriff – der Mythos – eine methodische Schlüsselrolle gespielt. Und Baur hat seinerseits die Grenzen des spezifisch theologischen Arbeitsfeldes überschritten; die ersten größeren Veröffentlichungen aus seiner Hand galten nämlich nicht-christlichen Traditionen wie der antiken „Naturreligion“43 und dem Manichäismus.44 Mit noch größerem Recht als Strauß und Baur könnte wohl der etwas jüngere Pfleiderer – wie Strauß in der „Tübinger Schule“ Baurs erzogen – den Titel eines Religionshistorikers tragen. Sein lebenslanges Interesse für das Studium der nichtchristlichen Religionen bzw. der gesamten Religionsgeschichte kommt schon in seinem Erstlingswerk zum Ausdruck: „Die Religion, ihr Wesen und ihre Geschichte“ (1869). Diese Veröffentlichung, die auf Vorlesungen im Tübinger Stift zurückging, war zwar als „Propädeutik“ für Studenten der Theologie gedacht, aber Pfleiderer hat sich hier auch zum Ziel gesetzt, für einen breiteren, allgemeingebildeten Leserkreis eine „vollständige und übersichtliche Zusammenstellung“ dessen zu geben, was „die neuere und neueste Zeit auf dem Gebiet der Religionswissenschaft hervorgebracht“ habe.45 Auf dieses eine Werk Pfleiderers, das sich – nimmt man die „Introduction to the Science of Religion“ von Max Müller (1870/1873) zum „offiziell“ anerkannten Anfangspunkt der modernen Religionswissenschaft – gerade noch in deren „Vorgeschichte“ einordnen läßt, werden wir uns hier begrenzen müssen, während die weitere Entwicklung Pfleiderers, wie sie sich in den drei Auflagen seiner „Religionsphilosophie auf geschichtlicher Grundlage“ abzeichnet, außer Betracht bleiben muß.46 Das Erstlingswerk Pfleiderers umfaßt, wie es schon der Untertitel andeutet, zwei Bände: eine „philosophische“ und eine „historische“ Un43
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Ferdinand Christian Baur: Symbolik und Mythologie oder die Naturreligion des Alterthums, 2 Bände, Stuttgart 1824–1825. In komparativer Perspektive studiert Baur hier auf der einen Seite die griechisch-hellenistische Religion, auf der anderen die alten Religionen Ägyptens, des Nahen Ostens, Persiens und Indiens. Ferdinand Christian Baur: Das manichäische Religionssystem, nach den Quellen neu untersucht und entwickelt, Tübingen 1831. Otto Pfleiderer: Die Religion, ihr Wesen und ihre Geschichte auf Grund des gegenwärtigen Standes der philosophischen und historischen Wissenschaft, 2 Bände, Leipzig 1869, Band 1, S. VII. Eine gründliche Analyse dieser Werke bietet Reinhard Leuze: Theologie und Religionsgeschichte. Der Weg Otto Pfleiderers (Münchener Monographien zur historischen und systematischen Theologie, 8), München 1980.
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tersuchung, beide mit einem Umfang von etwa 400–500 Seiten. Und was der Autor dabei im Blick hat, ist nichts weniger als ein Versuch, auf den Spuren von Hegel und Schelling „Philosophie und Geschichte, Begriff und Anschauung für die Wissenschaft der Religion zur Einheit zu verbinden“.47 In der Einleitung hat er es in erster Linie mit erkenntnistheoretischen Fragen zu tun, und da er „als allgemein anerkannt“ meint voraussetzen zu dürfen, daß die Religion „wesentlich eine Bestimmtheit des geistigen Lebens des Menschen, eine in erster Instanz innerlichpsychologische Erscheinung“ sei, so muß er auch die wissenschaftliche Erkenntnis derselben „von diesem Quellpunkt im Inneren des menschlichen Geistes, [. . .] also von der Selbstanschauung des religiösen Selbstbewusstseins“ ausgehen lassen.48 Den christlichen Religionsforscher weist Pfleiderer darum zunächst auf „das christliche Selbstbewusstsein“ hin und danach, wenn sich sein Blick „über das eigene Selbst hinaus auf die objektive Welt“ richtet, auf den eigenen religiösen Lebenskreis, das heißt: „auf das Christentum in dessen geschichtlicher Entwicklung in Lehre und Leben der Kirche“. Erst als dritten Schritt des Erkenntnisprozesses läßt Pfleiderer schließlich die Erweiterung „auf den weitesten Kreis, auf das religiöse Leben der Menschheit in dem Gesammtverlauf seiner Geschichte“ erfolgen.49 In kritischer Abgrenzung gegen den zeitgenössischen Positivismus besteht Pfleiderer also auf dem Recht der religionsphilosophischen Betrachtung, die er erkenntnistheoretisch der historischen vorordnet und wiederum in zwei Teile, eine „Psychologie“ („Das Wesen der Religion als eines menschlichen Verhaltens“) und eine „Metaphysik“ („Das Wesen der Religion als eines göttlich-menschlichen Verhältnisses“) gliedert. Aus diesen philosophischen Untersuchungen Pfleiderers können wir hier nur seine eigene Definition der Religion herausgreifen, die er in Auseinandersetzung mit den wichtigsten religionsphilosophischen Entwürfen seit Kant entwickelt: die Religion sei die Lösung eines im Grundtrieb des Menschen wurzelnden Widerspruchs zwischen Unendlichkeit und Endlichkeit, Freiheit und Abhängigkeit.50 Und auf dieser religionsphilosophischen Grundannahme baut Pfleiderer im zweiten Band seine „Geschichte der Religion“ auf, die als eine Entwicklung vom „Natürlichsinnlichen“ zum „Geistig-sittlichen“ konzipiert worden ist und durch 47 48 49 50
Otto Pfleiderer: Die Religion (wie Anm. 45), Band 1, S. XIV. Ebd., S. XI. Ebd., S. XII f. Vgl. ebd., S. 71.
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mehrere Stufen hindurch von der „Urform“ der Religion über die „heidnischen“ bis zu den „monotheistischen“ Religionen hinaufführt. Hier oben kämen, so meint Pfleiderer, die beiden Grundmomente des „frommen Selbstbewusstseins“ – die Abhängigkeit und die Freiheit – im Judentum wie im Islam auf je verschiedene Weise „nur gleichmässig relativ“ zu ihrem Recht, während sie im Christentum „in ihrem vollkommenen Eins- d. h. Ineinandersein beide gleichsehr absolut“ zur Verwirklichung kämen;51 am Ende, auf der allerhöchsten Stufe der Entwicklung, steht in diesem Schema also das Christentum als „absolute“ Religion allein zurück. Und wie es dazu kommen konnte, eben das ist das Durchgangsthema Pfleiderers in seiner umfangreichen Darstellung der frühchristlichen Geschichte; hier geht es ihm darum, den Nachweis zu erbringen, wie das Christentum durch den Sieg des johanneischen Geistes über alle auf das „Natürliche“ bzw. „Sinnliche“ gerichteten Erwartungen die geschichtliche Verwirklichung der absoluten, der vollkommenen Religion geworden ist. Wenn wir nach dieser äußerst gedrängten Übersicht die Frage stellen, was das denn für eine Wissenschaft ist, die Pfleiderer in diesen beiden Bänden betreibt: Philosophie, Theologie oder Religionswissenschaft? könnten sicher alle drei Antwortalternativen in Betracht kommen. Und wenn wir in einem zweiten Durchgang unsere Frage auf die Alternative Theologie/Religionswissenschaft zuspitzen, scheint die Antwort am nächsten zu liegen, daß Pfleiderer – jedenfalls nach seiner eigenen Auffassung – in Wirklichkeit beides betrieben hat: Theologie und Religionswissenschaft. In seiner groß angelegten Synthese einer „philosophischen“ und einer „historischen“ Untersuchung sind jene zwei Fächer organisch miteinander verbunden und ermöglichen erst in diesem ebenso natürlichen wie notwendigen Miteinander das akademische Studium der Religion. So bleibt es am Ende wohl eigentlich eine Geschmackssache, unter welche Überschrift wir die Rechenschaft Pfleiderers über Wesen und Geschichte der Religion stellen: ob wir sie als religionswissenschaftliche Theologie oder theologische Religionswissenschaft charakterisieren?
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Otto Pfleiderer: Die Religion (wie Anm. 45), Band 2, S. 55.
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Zur Frage nach dem Verhältnis von Religionswissenschaft und Theologie – einige abschließende Überlegungen Ein Jahr nach dem Erscheinen des Erstlingswerks Pfleiderers hielt also Friedrich Max Müller in London unter dem Titel „Introduction to the Science of Religion“ jene vier öffentlichen Vorlesungen, die nicht selten als die eigentliche Geburtsstunde der modernen Religionswissenschaft angesehen werden. Drei Jahre später erschienen sie im Druck, und im selben Jahrzehnt, in den 1870er Jahren, wurden auch die ersten Lehrstühle, Institute oder Fachabteilungen für allgemeine Religionsgeschichte errichtet. Von Land zu Land, ja manchmal auch von Universität zu Universität, wurden dabei unterschiedliche organisatorische Lösungen gefunden; es scheint aber eher die Regel als die Ausnahme gewesen zu sein, daß die Religionswissenschaft in dieser ersten Phase der Theologischen Fakultät zugeordnet wurde. Das war in den Niederlanden der Fall, wo die Errichtung eigener Lehrstühle für Religionsgeschichte und Religionsphilosophie im Zusammenhang mit einer durchgreifenden Reform der theologischen Fakultäten zu Stande kam,52 aber auch in Frankreich, wo die Einführung der Religionswissenschaft zum Teil durch ausgeprägt antiklerikale und antitheologische Interessen vorangetrieben wurde,53 spielten in den Gründungsjahren namhafte protestantische Theologen eine führende Rolle.54 Und in Deutschland, wo die Institutionalisierung allerdings erst etwas später einsetzte, war das nicht anders; sowohl in Berlin (1910) als auch in Leipzig (1912) wurde der Lehrstuhl für Religionsgeschichte im Anfang in der Theologischen Fakultät untergebracht und durch theologisch ausgebildete Fachleute besetzt; in Berlin übernahm der Däne Edvard Lehmann den Lehrstuhl, den Pfleiderer innegehabt
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Vgl. dazu neuerdings Arie L. Molendijk: The Emergence of the Science of Religion in the Netherlands (Studies in the History of Religions. Numen Book Series, 105), Leiden, Boston 2005. Vgl. dazu Émile et Odile Poulat: Le développement institutionel des sciences religieuses en France, in: Archives de Sociologie des Religions 21 (1966), S. 23–26; ebenso: Problèmes et méthodes d’histoire des religions. Mélanges publiés par la Section des Sciences religieuses à l’occasion du centenaire de l’École pratique des Hautes Études, Paris 1968. Vgl. dazu Patrick Cabanel: L’institutionnalisation des „sciences religieuses“ en France (1879–1908). Une entreprise protestante?, in: Bulletin de la Société de l’Histoire du Protestantisme français 140 (1994), S. 33–80.
Die Geburt der Religionswissenschaften
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hatte, in Leipzig wurde der Schwede Nathan Söderblom auf einen neu errichteten Lehrstuhl berufen.55 Diese ganze Geschichte der Institutionalisierung der akademischen Religionswissenschaft können wir hier nicht ausführlicher beschreiben oder weiter verfolgen.56 Hier wollte ich eben nur an die aktive Rolle erinnern, die liberale Theologen in mehreren Ländern in diesem Prozeß spielten. Damit sage ich natürlich nichts Neues, nichts, was nicht andere schon gesagt haben und wir nicht alle schon längst wissen. Ja, auch das hat einer schon kraftvoll behauptet – und zugleich bedauert –, daß diese ganze Institutionalisierung akademischer Religionsstudien innerhalb eigener universitärer Einheiten restlos auf theologische Interessen und Initiativen zurückzuführen sei.57 Diese wohl etwas übertriebene Generalabrechnung Timothy Fitzgeralds mit der „Ideologie“ der Religionswissenschaft möchte ich aber hier auf sich beruhen lassen, um stattdessen nur einige abschließende, eher unpolemische Überlegungen über das Verhältnis von Religionswissenschaft und christlicher Theologie anzustellen, und zwar wieder einmal in der Form einer dreigliedrigen Thesenreihe: 1) Religionswisssenschaft und Theologie haben es mit unterschiedlichen Gegenständen zu tun: die Religionswissenschaft mit der Religion bzw. den Religionen, die Theologie mit dem Christentum bzw. dem christlichen Glauben. Eine Antwort auf die Frage, was Religion sei und wie man dieses Phänomen zu erforschen habe, kann die Theologie folglich nicht geben; außerhalb des Studiums der christlichen Religion hat sie keine wissenschaftliche Kompetenz aufzuweisen. Demgegenüber steht einem Religionswissenschaftler natürlich das Studium des Christentums offen, sofern er sich die dafür erforderlichen fachlichen Qua55
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Diese beiden Skandinavier blieben allerdings nicht lange in Deutschland: Lehmann wurde 1913 Professor für Religionsgeschichte in Lund, Söderblom 1914 Erzbischof in Uppsala. Der Lehrstuhl in Leipzig war übrigens zuerst (1911) dem in Kopenhagen lehrenden Philologen Vilhelm Grønbech angeboten worden, der 1914 der erste Professor für Religionsgeschichte in Kopenhagen wurde. Vgl. dazu Kurt Rudolph: Die Religionswissenschaft an der Leipziger Universität und die Entwicklung der Religionswissenschaft (wie Anm. 2); Carl-Martin Edsman: Theologie oder Religionswissenschaft?, in: Theologische Rundschau 35 (1970), S. 1–32; Karl-Heinz Kohl: Geschichte der Religionswissenschaft (wie Anm. 2). Vgl. Timothy Fitzgerald: The Ideology of Religious Studies, New York, Oxford 2000.
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lifikationen aneignet. In der Praxis aber heißt das, daß er wenigstens ein Stück weit ein qualifizierter Theologe wird. 2) In methodischer Hinsicht verläuft die entscheidende Grenze nicht zwischen Religionswissenschaft und Theologie, sondern innerhalb der Theologie selbst, indem sich die historischen und die systematischen Disziplinen hier in ganz anderer Weise gegenüberstehen als dies innerhalb der Religionswissenschaft oder anderer humanistischer Studien der Fall ist. Während also Religionswissenschaft und systematische Theologie zwei grundlegend verschiedene Geschäfte sind, sollte innerhalb des historischen Studiums des Christentums eine konstruktive Zusammenarbeit zwischen Theologie und Religionswissenschaft durchaus möglich sein. 3) Während sich die Religionswissenschaft trotz eines weitgehenden Methodenpluralismus und trotz einer Vielzahl gegensätzlicher Schulbildungen als eine einheitliche Wissenschaft versteht, die durch ihren Gegenstand – eben „die Religion“ – zusammengehalten wird, liegt das einheitsbildende Zentrum der Theologie außerhalb ihrer selbst, namentlich in dem, was Schleiermacher seinerzeit die „Kirchenleitung“ nannte. Einen ähnlichen, fest definierbaren praktischen Zweck hat die Religionswissenschaft nicht. Es finden sich aber in der heutigen Gesellschaft mehrere Praxisfelder, auf denen Religionswissenschaft und Theologie gemeinsam vor bedeutsamen Herausforderungen stehen; als eines der wichtigsten sei hier der Religions- bzw. Ethikunterricht in der öffentlichen Schule genannt, wo es nicht nur darum geht, religionskundliches Wissen zu vermitteln und weltanschauliche oder ethische Fragen zu erörtern, sondern auch solche dialogischen Kompetenzen und toleranten Haltungen zu pflegen, die ein friedliches Zusammenleben in der pluralen Gesellschaft fördern können. Wenn sich diese Thesen verteidigen lassen, können wir, denke ich, immer noch mit Recht von einer Art Familienähnlichkeit zwischen Theologie und Religionswissenschaft sprechen – wessen Geistes Kind die letztere nun auch sei. Zugegebenermaßen haben wir es hier mit schwierigen Verwandtschaftsbeziehungen zu tun, aber vielleicht sollte das heutige Zusammentreffen beider Fachtraditionen im schulischen Religionsoder Ethikunterricht auf beiden Seiten ein Ansporn sein, sich auch auf Universitätsebene eher um Kooperationsmöglichkeiten als um Abgrenzungsmanöver zu bemühen?
Der Kampf um die Religion in der Wissenschaft Arie L. Molendijk 1. Einleitung „Im vermeintlichen Interesse der Selbstbehauptung der Theologie im Gesamtorganismus der Wissenschaften hat sich die religionsgeschichtliche wie die religionspsychologische Theologie zum Teil in einer Weise mit der Bibel und dem Urchristentum, aber auch mit den psychischen Komponenten, den Anschauungen, Begriffen und Gefühlen des Christentums beschäftigt, wie es ebenso ein türkischer Historiker oder ein jüdischer Psychiater tun könnte“. Das würde man zwar heute so nicht mehr schreiben, aber der Satz zeigt doch klar eine gewisse Kontinuität der Ängste und Stereotypen in der europäischen Geschichte auf. Das Zitat entstammt dem einflußreichen Buch „Der Kampf um das Christentum“ (1921) des Neulutheraners Werner Elert, der die Eigenständigkeit des Christentums und der sogenannten christlichen Erkenntnisgemeinschaft gegenüber dem „allgemeinen Denken der Gegenwart“ betonte.1 Theologie soll nach Elert mehr sein als eine Sammlung von wissenschaftlichen Spezialgebieten, die genausogut in anderen Fakultäten ihren Ort haben könnten. Die unter anderen von Ernst Troeltsch befürwortete Einbettung der Theologie im Rahmen der Religionsgeschichte und -philosophie führe zu ihrer Auflösung.2 Über das Verhältnis zwischen Theologie und Religionswissenschaft im breiten Sinne (einschließlich der Religionsgeschichte) und die Bestimmung der unterschiedlichen Gebiete ist dauerhaft gestritten. Auch wenn viele Forscher heutzutage vielleicht eher der Meinung sind, daß es hier 1
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Werner Elert: Der Kampf um das Christentum. Geschichte der Beziehungen zwischen dem evangelischen Christentum in Deutschland und dem allgemeinen Denken seit Schleiermacher und Hegel, München 1921, S. 491; vgl. S. 493 f. Ebd., S. 411: „Die durch geschichtsphilosophische und konsequent religionspsychologische Relativierung des Christentums erreichte Synthese mit der allgemeinen Wissenschaft bedeutet das Ende der christlichen Theologie“.
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keine trennscharfen Grenzen gibt und interdisziplinär zusammengearbeitet werden sollte, heißt das doch nicht, daß die Gefechtshandlungen vorbei sind. Im Gegenteil: es scheint als ob immer mehr Disziplinen den Anspruch erheben, Religion(en) deuten zu können. Dabei zeigt sich, daß nicht nur Religionen ein hohes Konfliktpotential haben, sondern auch die Religionsdeuter selbst, die öfters ihre eigene Kompetenz durch Abgrenzung von anderen Disziplinen und namentlich von der Theologie bestimmen. Berührungsängste scheinen manchmal überherrschend. So schreibt Monika Neugebauer-Wölk in einem Heft, in dem ein neuer religionsgeschichtlicher Forschungsschwerpunkt innerhalb der Geschichtswissenschaft vorgestellt wird, folgendes: „Historiker dürfen ihren Anspruch auf eine vollständige geistige Erfassung des Phänomens ‚Religion‘ nicht aufgeben. Selbstverständlich sind sie aufgerufen, die Ergebnisse theologischer Deutungskompetenz zu rezipieren – die Zeiten einschlägiger Polemik sind erfreulicherweise vorbei. Aber sie müssen dieses Wissen aus eigener Kompetenz überprüfen und ihm eigene Einsichten hinzufügen“.3 Eigene Kompetenz, eigene Einsichten, die den Theologen anscheinend wesensfremd sind. Diese Formulierungen spiegeln perfekt die Bemühungen von Theologen wie Werner Elert um ihr theologisches proprium. Das angegebene Ziel einer vollständigen geistigen Erfassung des Phänomens „Religion“ erinnert mich eher an die Blütezeit der Religionsphänomenologie mit ihrer Suche nach dem Wesen der religiösen Phänomene als an die Arbeit vieler meiner theologischen Kollegen, die heutzutage im Bereich der Geschichte des Christentums tätig sind. Die Grenzen zwischen den Disziplinen, die sich mit dem Thema „Religion“ befassen, sind schwierig festzustellen, und in diesem Sinne kann man tatsächlich – mit Friedrich Graf – von einer Entdisziplinierung der Religionsforschung reden. Damit sind die Grenzgefechte aber nicht sofort verschwunden, wie ich im Folgenden zeigen werde. Ich konzentriere mich auf zwei Hauptthemen: erstens mache ich einige Bemerkungen zum Verhältnis zwischen Theologie und Religionswissenschaft und zweitens bespreche ich die Frage nach der Aufgabe und dem institutionellen Ort der Religionswissenschaft innerhalb der Universität.
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Monika Neugebauer-Wölk: Zur Konstituierung historischer Religionsforschung 1974 bis 2004, in: Zeitenblicke 5/1 (2006), S. 1–34, hier S. 31.
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2. Religionswissenschaft und Theologie: Nähe Die Anfänge der Religionswissenschaft im 19. Jahrhundert sind ohne Zweifel relativ eng mit der protestantischen Theologiegeschichte verknüpft. Dafür gibt es mehrere Indizien. Ein Blick in die historiographischen Übersichten reicht zur Feststellung, daß in der Gründungsphase der Religionswissenschaft (comparative religion) protestantische Theologen überrepräsentiert waren.4 Zudem wurde der neue Fachbereich als theologisch mehr oder weniger relevant betrachtet. Das ging so weit, daß der niederländische Theologe und Religionswissenschaftler Cornelis Petrus Tiele am Anfang seiner Karriere die vollständige Transformation der Theologie in Religionswissenschaft befürwortete. Die neue Wissenschaft könnte nach seiner Meinung die alten, theologischen Aufgaben in einer nicht-klerikalen, eminent wissenschaftlichen Weise erfüllen. Durch die vergleichende Methode würde sie die Superiorität des Christentums, mehr insbesondere des liberalen Protestantismus, unter Beweis stellen.5 Tieles holländischer Kollege Pierre Daniël Chantepie de la Saussaye war zwar skeptischer im Hinblick auf die theologische Relevanz, aber auch er war der Meinung, daß die Beschäftigung mit der Religionswissenschaft für den Theologen in mehrerer Hinsicht von großer Bedeutung sei. In seinem bekannten Lehrbuch hieß es, „dass das Auge, durch vergleichende Studien der Religionen geschärft, die religiöse Idee des Christenthums besser fassen wird, dass die Geschichte des Christenthums nur dann recht zu verstehen ist, wenn man auch die nicht christlichen Religionen, aus denen es so viel entlehnt, oder mit denen es feindlich zusammenstiess, kennt, und endlich, dass die Missionskunde diese Kenntnis durchaus nicht entbehren kann“.6 4
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Louis Henry Jordan: Comparative Religion. Its Genesis and Growth, Edinburgh 1905 (Reprint 1986). Für Frankreich siehe: Patrick Cabanel: L’institutionnalisation des „sciences religieuses“ en France (1879–1908). Une entreprise protestante?, in: Bulletin de la Société de l’Histoire du Protestantisme français 140 (1994), S. 33–80. Für die Frühphase der noch kaum institutionalisierten Religionswissenschaft siehe auch den Beitrag von Sigurd Hjelde in diesem Band und seine Monographie: Die Religionswissenschaft und das Christentum. Eine historische Untersuchung über das Verhältnis von Religionswissenschaft und Theologie, Leiden etc. 1994. Arie L. Molendijk: The Emergence of the Science in the Netherlands, Leiden 2005, namentlich S. 98–106. Pierre Daniël Chantepie de la Saussaye: Lehrbuch der Religionsgeschichte, 2 Bände, Freiburg i. B. 1887–1889, Band I, S. 7.
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Auch ein Nicht-Theologe wie Max Müller betonte mehrfach, daß der christliche Glaube vom neuen Unternehmen nichts zu fürchten habe. Eigentlich bildete das Christentum einen sehr fruchtbaren Boden für die Kultivierung der Religionswissenschaft und Vergleichenden Theologie. „The position which Christianity from the very beginning took up with regard to Judaism, served as the first lesson in comparative theology, and directed the attention even of the unlearned to a comparison of two religions, differing in their conception of the Deity, in their estimate of humanity, in their motives of morality, and in their hope of immortality, yet sharing so much in common that there are but few of the psalms and prayers in the Old Testament in which a Christian cannot heartily join even now, and but few rules of morality which he ought not even now to obey. If we have once learnt to see in the exclusive religion of the Jews a preparation of what was to be the all-embracing religion of humanity, we shall feel much less difficulty in recognising in the mazes of other religions a hidden purpose“.7 Alle Religionen enthalten – wenn man richtig schaut – Keime der inklusiven Religion der Humanität. Das Christentum ist in dieser Sicht das Alpha und Omega der Religionsgeschichte. Solche Auffassungen werden in der Historiographie vielfach als theologisch und borniert entlarvt und die heutigen Religionswissenschaftler sind froh, daß sie diese Phase hinter sich gelassen haben. In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg – so schreibt Karl-Heinz Kohl – „hat sich die Religionswissenschaft den Status einer autonomen Disziplin weiter zu sichern vermocht“.8 Die Selbständigkeit und die Identität der Religionswissenschaft ist aber nicht unumstritten. Eine historisch ansetzende Kritik lautet, ob der verwendete Religionsbegriff nicht zutiefst ein christlicher, oder sogar ein protestantischer Begriff ist. Ernst Troeltsch hat bereits auf diesen Zusammenhang verwiesen, als er behauptete: „Alle Erkenntnis, daß Religion in ihrem Kerne Gefühl, Ahnung, Poesie, Vorstellungsausdruck für in der Tiefe wirkende Ideen, praktische Überzeugung, ein Gesamtzustand des Seelenlebens ist und damit alles, was die moderne Religionswissenschaft an wirklichem Verständnis
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Friedrich Max Müller: Introduction to the Science of Religion, London 1873, S. 39 f. Karl-Heinz Kohl: Geschichte der Religionswissenschaft, in: Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe, Band I, Stuttgart 1988, S. 217–262, hier S. 260.
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hervorgebracht hat, wurzelt im radikalen Pietismus“.9 Ernst Feil hat in seinen begriffshistorischen Untersuchungen die Wandlungen des Religionsbegriffes nachgezeichnet und meint, daß die moderne – in der Innerlichkeit situierte – Religion, von der Troeltsch sprach, in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu ihrem Ende gekommen sein dürfte.10 Eine weitere Frage ist, ob diese Begrifflichkeit nicht zu einem falschen Bild der übrigen – nicht umsonst zwischen Anführungszeichen gestellten – „Religionen“ führe, die nach dem Modell einer bestimmten Phase des Christentums rekonstruiert werden.11 Talal Asad hat dann in seiner tiefgreifenden Kritik der Definition von Clifford Geertz dafür plädiert, den Begriff „Religion“ kontextuell, je nach den bestimmenden, historischen Bedingungen zu verstehen.12 Damit wird die Idee einer Religionsdefinition problematisiert und die Versuche zu einer solchen Definition werden in eine spezifische Geschichte von Erkenntnis und Macht eingezeichnet. Die historisch-dekonstruktiven Untersuchungen zeigen, wie „Religion“ als ein Eigenbegriff konstruiert und in der modernen Zeit vor allem (wenn nicht ausschließlich) im innerlichen, persönlichen, privaten Bereich verortet wird (unterschieden von allen anderen Bereichen des 9
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Ernst Troeltsch: Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit (1906/1909/1922), hrsg. von Volker Drehsen (Ernst Troeltsch: Kritische Gesamtausgabe, Band 7), Berlin, New York 2004 [Die Kultur der Gegenwart, hrsg. von Paul Hinneberg, Teil I, Abteilung IV, I. Hälfte: Geschichte der christlichen Religion (Berlin, Leipzig 1906), S. 253–458; 2. Auflage (Berlin, Leipzig 1909), S. 431–755], S. 424. Ernst Feil: Zur Bestimmungs- und Abgrenzungsproblematik von „Religion“, in: Ethik und Sozialwissenschaften. Streitforum für Erwägungskultur 6/4 (1995), S. 441–455 (das ganze Heft ist Feils Auffassung von „Religion“ gewidmet); cf. Wilfred Cantwell Smith: The Meaning and End of Religion. A New Approach to the Religious Traditions of Mankind, New York 1963. Peter van der Veer: Imperial Encounters. Religion and Modernity in India and Britain, Princeton, Oxford 2001, Kap. V; Donald S. Lopez, Jr.: Prisoners of Shangri-La. Tibetan Buddhism and the West, Chicago 1998; vgl. Kurt Rudolph: Inwieweit ist der Begriff „Religion“ eurozentrisch?, in: Ugo Bianchi (Hg.): The Notion of „Religion“ in Comparative Research. Selected Proceedings of the XVIth Congress of the International Association for the History of Religions, Rome, 3rd –8th September, 1990, Roma 1994, S. 131–139. Talal Asad: The Construction of Religion as an Anthropological Category, in: ders.: Genealogies of Religion. Discipline and Reasons of Power in Christianity and Islam, Baltimore, London 1993, S. 27–54.
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menschlichen Lebens). „Religion“ sei ein konstitutives Element des liberalen Programms der Trennung der öffentlichen Sekularsphäre vom privaten, religiösen Bereich. In seinem Buch über die „Ideologie“ der Religionswissenschaft (religious studies) analysiert Timothy Fitzgerald die „Konstruktion“ von „Religion(en)“ als globalen Erscheinungen im Rahmen des Prozesses des westlichen Imperialismus und Kolonialismus. Der ganze Begriff ist ihm zufolge durch und durch theologisch geprägt. Die theologisch-ökumenische Grundvoraussetzung sei, daß Religion eine universale Erscheinung ist und nur adäquat als Sonderbereich erfaßt werden kann. Fitzgerald behauptet, daß es keine nicht-theologische Basis für das Religionsstudium als akademische Disziplin gibt. Wenn wir in einer nicht-theologischen Weise über Religion reden, meinen wir eigentlich Kultur, „aufgefasst als das Studium von Werten und die Interpretation von Symbolsystemen, einschließlich der Ritualisierung des Alltags“.13 Ich zitiere diesen Satz nicht, weil ich der Meinung bin, daß der Ersatz von „Religion“ durch „Kultur“ wirklich hilfreich ist. Dafür sind die Probleme und Problemfelder, die mit „Religion“ verbunden sind, zu komplex und sie verschwinden auch nicht durch diesen Austausch. Insofern die Rede von der Konstruktion des Religionsbegriffs suggeriert, daß es in der außertextuellen oder außerbegrifflichen Welt keine Referenzen für die hiermit angedeuteten Phänomene gibt, ist sie irreführend. Es gibt Rituale, Symbolsysteme, sakrale Räume, und so weiter, die sinnvollerweise unter dem Nenner „Religion“ gebracht werden können und gebracht werden. In unterschiedlichen Kontexten wird ja gestritten über die Anwendbarkeit von religiösen Begriffen. Für steuerliche Begünstigung muß festgestellt werden, ob eine Organisation mit Recht den Anspruch erhebt, eine religiöse Organisation zu sein.14 Inwieweit wird die Präsenz 13
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Timothy Fitzgerald: The Ideology of Religious Studies, New York, Oxford 2000, S. 19 f.: „But in general my claim is that when we talk of religion in a nontheological sense, we really mean culture, understood as the study of values, and the interpretation of symbolic systems, including the ritualization of everyday life“. Vgl. auch das einflußreiche Buch von Russell T. McCutcheon: The Discipline of Religion. Structure, Meaning, Rhetoric, London 2003, und die kritische Besprechung dieses Buchs von der Hand von Lars Albinus in: Journal of the American Academy of Religion 74 (2006), S. 524–528. Die amerikanische „Internal Revenue Service“ zum Beispiel hat eine ganze Liste mit Kriterien entwickelt, um dies festzustellen; vgl. Massimo Introvigne: Religion as Claim, in: Jan G. Platvoet, Arie L. Molendijk (Hg.): The Pragmatics of
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von religiösen Zeichen und religiöser Bekleidung im öffentlichen Raum akzeptiert oder untersagt? Der Anspruch, daß ein bestimmtes Zeichen einen religiösen Charakter trägt, kann den Einsatz der Debatte um einiges erhöhen. Ist es sinnvoll, die deutsche Verfassung oder das Vietnam Memorial in Washington, D. C., „sakral“ oder sogar „religiös“ zu nennen? Das ist nicht (nur) ein Streit zwischen Religionsexperten, die sich in dieser Weise unentbehrlich machen wollen und sich lediglich um ihren Job kümmern. „Religion“ sich läßt nicht wegdefinieren, aber das heißt noch nicht, daß wir wirklich wissen, was darunter verstanden werden soll und welche Voraussetzungen der Begriff in sich enthält. Der Herkunft des Begriffs in der europäischen Geschichte und seine – teils protestantische – Prägung ist eine Dauerbelastung für alle, die sich mit Phänomenen befassen, die mit diesem Begriff angedeutet werden. 3. Religionswissenschaft und Theologie: Verwicklungen Im Streit um (akademische) Anerkennung hat die Religionswissenschaft sich selbstverständlich von der Theologie abgegrenzt, auch wenn sie – wie in den Niederlanden – ihren institutionellen Ort innerhalb der theologischen Fakultät bekam. Ihre Vertreter hatten große Erwartungen von der neuen Disziplin. So schrieb Max Müller: „The Science of Religion will for the first time assign to Christianity its right place among the religions of the world; it will show for the first time fully what was meant by the fulness of time; it will restore to the whole history of the world, in its unconscious progress towards Christianity, its true and sacred character“.15 Während in England, Frankreich und Holland die Verselbständigung der Religionswissenschaft langsamer oder schneller von statten ging, war man in Deutschland etwas skeptischer. Über die – von Tiele und Chantepie de la Saussaye verfaßten – Handbücher äußerte Adolf Harnack sich mit einer für ihn untypischen Schärfe wie folgt: „Wir haben den Tiele und den Chantepie de la Saussaye, dazu sehr lehrreiche religionswissenschaftliche Zeitschriften. Wir freuen uns dieses Besitzes; aber glaube niemand, daß der Eintritt in die Religionswissenschaft durch diese Kasernenhöfe führt. Nicht einmal Interesse vermag jemand aus
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Defining Religion. Contexts, Concepts and Contests (Studies in the History of Religions: Numen Book Series, 84), Leiden 1999, S. 41–72, hier S. 46. Max Müller: Chips from a German Workshop, Band I: Essays on the Science of Religion, London 1867, S. XX.
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den Zusammenstellungen zu gewinnen, kaum das vorhandene zu stärken. Wem es gelingt, den Chantepie de la Saussaye durchzulesen, dem widme ich meine Bewunderung. Ich glaube aber nicht, daß das jemand schon fertig gebracht hat, es sei denn, daß ihn der Geist trieb, ein Kolleg über allgemeine Religionsgeschichte zu lesen“.16 Das heißt nicht, daß Harnack sich gegen die Verwendung religionsgeschichtlicher Studien innerhalb der Theologie oder auch der Kirchengeschichtsschreibung wendete. „[I]deell und theoretisch“ darf die Geschichte des Christentums nicht von der allgemeinen Religionsgeschichte getrennt werden.17 Das gilt in erster Linie für die Religionen, die einen deutlichen Einfluß auf das Christentum ausgeübt haben. Zu „den Babyloniern, Indern und Chinesen oder gar zu den Negern und Papuas“ begibt der Kirchenhistoriker sich aber nicht oder sehr ungern. Der Buddhismus und der Islam dürften über einen „ähnlichen Reichtum“ wie das Christentum verfügen; „aber im besten Falle lernten wir hier unsicher, was wir bei uns selbst besser und sicherer zu erkennen vermögen“.18 Ob positiv (wie bei Müller) oder eher negativ (wie bei Harnack), die Bedeutung der Religionswissenschaft wurde vielfach in bezug auf ihren Beitrag zur Theologie und der näheren Erfassung des Christentums 16
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Adolf Harnack: Die Aufgabe der theologischen Fakultäten und die allgemeine Religionsgeschichte (Nachtrag) (1901), in: Die Christliche Welt 15 (1901), S. 1104–1107, zitiert nach: ders.: Adolf von Harnack als Zeitgenosse. Reden und Schriften aus den Jahren des Kaiserreichs und der Weimarer Zeit, hrsg. von Kurt Nowak, Band I, Berlin, New York 1996, Band I, S. 816–824, S. 819. Adolf Harnack: Über das Verhältnis der Kirchengeschichte zur Universalgeschichte (1904), in: ders: Aus Wissenschaft und Leben, Band 2, Giessen 1911, S. 41–62, S. 53. In diesem Aufsatz geht Harnack einen Schritt weiter, indem er ausführt, daß „man ein vollkommenes Verständnis einer Religion überhaupt nicht gewinnen kann ohne die Kenntnis anderer“ (S. 53); vgl. Adolf Harnack: Die Bedeutung der theologischen Fakultäten (1919), in: ders.: Adolf von Harnack als Zeitgenosse (wie Anm. 16), S. 856–874, hier S. 869: „Gut, so ergänze man die theologischen Fakultäten durch einige religionsgeschichtlichen Lehrstühle, nur lasse man die zentrale Bedeutung der christlichen Religion dabei bestehen“. Adolf Harnack: Die Aufgabe der theologischen Fakultäten (wie Anm. 16), S. 808–809; vgl. Ernst Troeltsch: Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte (1902/1912), mit den Thesen von 1901 und den handschriftlichen Zusätzen, hrsg. von Trutz Rendtorff in Zusammenarbeit mit Stefan Pautler (Ernst Troeltsch: Kritische Gesamtausgabe, Band 5), Berlin, New York 1998, S. 90 (Fußnote 23).
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gesehen. Das wechselseitige Verhältnis wurde sehr unterschiedlich bestimmt. In seinen Gifford Vorlesungen betonte Tiele den wissenschaftlichen Charakter der einen Religionswissenschaft gegenüber den vielen, unterschiedlichen Theologien, die ihre eigene Religion oder Konfession zu rechtfertigen suchen.19 Wenn Chantepie de la Saussaye in seinem Lehrbuch Religionswissenschaft und Theologie als „[d]ie Wissenschaft der Religion und die der christlichen Religion“ benannte, scheinen sie strukturell parallel geschaltet zu werden, und ist es nicht ohne weiteres klar, daß sie (wie er behauptete) „ihre eigenen Wege [gehen] und ihre eigenen Zwecke [verfolgen]“.20 Viel hängt hier von der Theologieauffassung ab. In Troeltschs Sicht zum Beispiel wurde die alte, dogmatische Theologie durch den „Sauerteig“ der historischen Methode komplett verwandelt. Dieser Prozeß der Umformung beschrieb er an einer Stelle sehr nuanciert: „Die Theologie konformiert Stück für Stück die Erforschung des heiligen Geschehens den Methoden der Erforschung des profanen Geschehens. Sie führt von da nicht bloß zur Analogie der gegenwärten Religion mit der der Vergangenheit, der Entstehung der religiösen Literatur mit der der profanen Schriftwerke, der christlichen und der außerchristlichen Religionen, sondern sie zwingt schließlich zum Ueberblick über die um das entstehende Christentum gruppierte und es mannigfach direkt und indirekt beeinflussende religionsgeschichtliche Entwickelung und von da dann vollends weiter zu der allgemeinen Religionsgeschichte überhaupt mit ihren verschiedenen Absolutheiten, Kirchen, Dogmen, heiligen Büchern, Offenbarungen und Theologien“.21 Die sogenannte „Umstellung dogmatischer auf geschichtliche Begriffe“22 implizierte einen Gestaltwechsel der Theologie.
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Cornelis Petrus Tiele: Inleiding tot de godsdienstwetenschap, 2 Bände, Band I: eerste reeks nov.–dec. 1896; Band nov.–dec. 1898; 2., revidierte Auflage, Amsterdam 1900, Band I, S. 10 f. Chantepie de la Saussaye: Lehrbuch der Religionsgeschichte (wie Anm. 6), Band I, S. 7. Ernst Troeltsch: Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte (1902/1912) (wie Anm. 18), S. 237. Diese Umstellung ist – wie Trutz Rendtorff in seiner Einleitung gezeigt hat – in der Zweitauflage weiter durchgeführt und präzisiert worden; vgl. Ernst Troeltsch: Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte (1902/1912) (wie Anm. 18), S. 42.
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In einer seiner Promotionsthesen aus dem Jahre 1891 hieß es bereits: „Die Theologie ist eine religionsgeschichtliche Disziplin, doch nicht als Bestandteil einer Konstruktion der universalen Religionsgeschichte, sondern als Bestimmung des Inhalts der christlichen Religion durch Vergleichung mit den wenigen großen Religionen, die wir genauer kennen“.23 In dieser Auffassung scheinen keine wesentlichen Unterschiede mehr zu bestehen zwischen Theologie und Religionswissenschaft. Manche von Troeltschs Gegnern haben dann auch den theologischen Charakter seiner religionsgeschichtlichen Theologie bestritten. Bevor man Troeltsch aber zu einem Religionswissenschaftler hochstilisiert, sollte man bedenken, daß Fragen der Geltung und Normativität für ihn wesentlich waren. In diesem Sinne ist die Rede von einer religionsgeschichtlichen Theologie ein wenig irreführend. Diese normative Religionswissenschaft wäre vielleicht am besten als christliche Religionsphilosophie zu bezeichnen.24 Es geht mir hier zunächst nicht um eine präzise Darstellung von unterschiedlichen Positionen, sondern ich will lediglich darauf aufmerksam machen, wie verwickelt das Verhältnis von Theologie und Religionswissenschaft faktisch ist, wenn man auf die unterschiedlichen Bestimmungen und die aktuellen Verfahrensweisen innerhalb dieser beiden – meistens konträr definierten – Gebiete achtet. Ich rede hier absichtlich von Gebieten, weil es sich hier faktisch nicht um zwei Disziplinen handelt, die methodisch klar voneinander zu unterscheiden wären, sondern doch eher um Konstellationen von Disziplinen und Verfahrensweisen. Das galt zu der Zeit ihrer Entstehung und das gilt noch immer, und die Pluralität kommt auch klar zum Ausdruck in der Rede von religious studies, sciences religieuses und Religionswissenschaften (im Plural). Man kann dann – wie öfters geschieht – einfach Unterschiede stipulieren, etwa in dem Sinne, daß Theologie die traditionsgebundene Rechtfertigung der eigenen Religion sei, während Religionswissenschaft 23
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Horst Renz, Friedrich Wilhelm Graf (Hg.): Untersuchungen zur Biographie und Werkgeschichte. Mit den unveröffentlichten Promotionsthesen der „Kleinen Göttinger Fakultät“ 1888–1893 (Troeltsch-Studien, Band 1), Gütersloh 1982, S. 299. Vgl. Arie L. Molendijk: Auf der Suche nach dem Nordpol? Theologie als normative Religionswissenschaft, in: Reinhold Bernhardt, Georg Pfleiderer (Hg.): Christlicher Wahrheitsanspruch – historische Relativität. Auseinandersetzungen mit Ernst Troeltschs Absolutheitsschrift im Kontext heutiger Religionstheologie, Zürich 2004, S. 87–110. Ich füge „christlich“ hinzu, weil Troeltsch ausdrücklich von einem christlichen Standpunkt ausgeht.
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die verschiedenen Religionen erforsche. Das mag vielleicht hilfreich sein, aber führt – wenn man wiederum auf die faktischen Verfahrensweisen innerhalb der „theologischen“ oder „religionswissenschaftlichen“ Studiengänge und Forschungsrichtungen sieht – zum Ergebnis, daß die Grenzen porös sind, und manchmal sogar kaum feststellbar. Viele Neutestamentler und Kirchenhistoriker zum Beispiel sind dann nicht mehr von ihren religionswissenschaftlichen oder anderen Kollegen innerhalb nichttheologischer Fakultäten zu unterscheiden. Andrerseits gibt es natürlich Unterschiede. Im Bereich der Religionswissenschaft zum Beispiel war um 1900 eine Tendenz zur Historisierung des Geschäfts wahrnehmbar und die internationalen Kongresse wurden dementsprechend streng(er) als religionsgeschichtliche Tagungen definiert. Während das World Parliament of Religions in Chicago (1893) noch überwiegend die Form eines Religionsgesprächs (unter christlichprotestantischer Führung) hatte, traten während des religionsgeschichtlichen Kongresses in Stockholm (1897) zwei Strömungen auf: die mehr oder weniger konfessionelle (kirchlich interessierte) und die mehr wissenschaftliche (unabhängig vom traditionellen Glauben).25 Die folgende, große Pariser Konferenz (1900) sollte ausdrücklich eine wissenschaftliche Unternehmung sein, wo historisch und nicht konfessionell oder dogmatisch gearbeitet wurde.26 Aber dann wurden doch wieder Stimmen laut, die mit dieser Eingrenzung nicht zufrieden waren. Man redete über das Wesen der religiösen Phänomene und die Notwendigkeit einer Hermeneutik der erforschten Tatsachen. Die ganze Geschichte der Religionswissenschaft scheint durch eine Pendelbewegung oder – vielleicht 25
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Anathon Aal: Le Congrès des Sciences religieuses de Stockholm, in: Revue de l’Histoire des Religions 18 (1897), S. 265–270, S. 270: „Jusqu’à la fin on retrouve bien nettement distinct les deux courants qui se sont manifestés au Congrès de Stockholm: le premier représenté par les hommes plus ou moins confessionnels, s’attachant aux intérêts et aux croyances de l’Église établie; le second représenté par ceux qui s’en tenaient plus étroitement aux exigences de la science moderne, indépendamment des considérations locales ou des croyances traditionelles“. Actes de Premier Congrès International d’Histoire des Religions. Paris 1900, Band I: Séances Générales, Paris 1901, S. VII (Artikel 7): „Les travaux et les discussions du Congrès auront essentiellement un caractère historique. Les polémiques d’ordre confessionnel ou dogmatiques sont interdites“; cf. Actes du IVe Congrès International d’Histoire des Religions, tenu à Leide du 9e –13e septembre 1912, Leide 1913, S. 14: „Le Congrès sera exclusivement scientifique et sera consacré à des recherches purement historiques sur les religions. Toute discussion concernant des question [sic!] de foi sera interdite“.
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genauer – entgegengesetzte Tendenzen gekennzeichnet zu sein: auf der einen Seite die Vertreter einer strengen, wissenschaftlichen (historischen) Methode und auf der anderen Seite die Befürworter von eher „weichen“, interpretativen Methoden, die manchmal auch normative Fragestellungen zu ihrer Aufgabe rechnen. Diese Opposition kann in sehr unterschiedlicher Weise formuliert werden. Oft wird heutzutage mit der Gegenüberstellung von (wissenschaftlicher, akademischer) Außenperspektive und (gläubiger, konfessioneller) Innenperspektive hantiert. Auch diese Formulierung ist nicht unangefochten und wird bestritten mit dem Argument, daß eine Außenperspektive einfach nicht existiert und auf einer szientistischen Illusion beruht, die den eigenen Standpunkt über allen anderen erhebt. Sind nicht alle Außenperspektiven im Grunde genommen Innenperspektiven? Für die Vertreter der harten Religionswissenschaft sind solche Fragen Ausdruck einer (verkappten) theologischen Sehnsucht, die so schnell wie möglich ausgemerzt werden soll. Die Religionswissenschaft wird ihre akademische Aufgabe erst richtig erfüllen können, wenn solche theologische Überreste verschwunden sind. Man soll unterscheiden zwischen Dienstleistungen an wissenschaftliche und denen an religiöse Gemeinschaften. „Teaching of religion“ ist die Aufgabe der Theologen, während die Religionswissenschaftler über Religion lehren („teach about religion“).27 Dagegen gibt es energische Plädoyers für die Beibehaltung der eigentlich religiösen Perspektive in den Universitäten. Es sei grundfalsch, der faktisch existierenden, religiösen und weltanschaulichen Pluralität durch Ausschaltung der verschiedenen „Innenperspektiven“ zu begegnen. Die Ironie der liberal-protestantischen, inklusiven „Ideologie“ wird durch einen ihrer energischen Gegner wie folgt beschrieben: „Eventually [. . .] the logic of the nonsectarian ideals which the Protestant establishment had successfully promoted in public life dictated that liberal Protestantism itself should be moved to the periphery to which other religious perspectives had been relegated for some time. The result was an ‚inclusive‘ higher education that resolved the problems of pluralism by virtually excluding all religious perspectives from the nation’s highest academic
27
Vgl. Sheila Greeve Davaney: Rethinking Theology and Religious Studies, in: Linell E. Cady, Delwin Brown (Hg.): Religious Studies, Theology, and the University. Conflicting Maps, Changing Terrain, New York 2002, S. 140–154, S. 143. Diese Unterscheidung geht zurück auf eine Supreme Court-Entscheidung aus dem Jahre 1963 (School District of Abington v. Schempp).
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life“.28 Die Aufhebung der unterschiedlichen, religiösen Perspektiven in eine – vermeintlich – unparteiische Überperspektive ist in dieser Sicht eine Katastrophe, die – so wird impliziert – zum Relevanzverlust der Akademie in Sachen von Religion führe. Eine andere Kritik der Ansprüche der Religionswissenschaft liegt darin, daß es ihr nicht so leicht gelingt, die Theologie los zu werden. Das fängt an mit den bereits genannten, faktischen Ansprüchen einer Dependenz. So schreibt Eric J. Sharpe in der zweiten, revidierten Ausgabe seines Standardwerkes: „From the ‚founding fathers‘ of comparative religion, C. P. Tiele, Max Müller, Nathan Söderblom und W. Brede Kristensen in the years around the turn of the century by way of Rudolf Otto and Friedrich Heiler down to Wilfred Cantwell Smith in our own day, the involvement of liberal religion in the comparative enterprise has been fairly constant. We might perhaps add that this involvement has been an irritant to those scholars who have been jealous of their own scientific integrity as dispassionate investigators and empiricists“.29 Ein weiterer Schritt ist der Versuch von Darryl G. Hart zu zeigen, daß die Religionswissenschaft sich – jedenfalls in den Vereinigten Staaten – parasitär zur Theologie verhält. Die Religionswissenschaft hat ihm zufolge wichtige Teile ihres Curriculums dem Ausbildungsprogramm von protestantischen Pfarrern entnommen und sie definiert sich immer noch – negativ – gegenüber dem Protestant divinity.30 Dies hat in der Sicht von Hart dazu geführt, daß die Religionswissenschaft sozusagen keine Mitte hat und im Grunde genommen unsicher ist über ihre eigene Identität. Die Säkularisierung der Religionswissenschaft in den sechziger Jahren hat dieses Problem seines Erachtens nicht gelöst, sondern eher verschärft. Der Professionalisierungszwang bedeutet, daß man die old-time religion hinter sich lassen sollte and sich strikt akademischen Standards zu konformieren hatte. Und dann kommt der Schluß: „Yet, by shifting from religious to academic norms, religious studies had to confront the reality that scholars in other fields already taught and studied religion in ways at least as, if not more, scholarly than the religious studies curricu28
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George M. Marsden: The Soul of the American University. From Protestant Establishment to Established Nonbelief, New York, Oxford 1994, S. 5; cf. S. 431. Eric J. Sharpe: Comparative Religion: A History (1975), 2. Aufl., London 1986, S. 295. D. G. Hart: The University Gets Religion. Religious Studies in American Higher Education, Baltimore, London 1999, S. 244; vgl. S. 15 f.
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lum. Could it be that the university does not need a religion department for the academic study of religion?“31 4. Welchen Ort hat die Religionswissenschaft an der Universität? Diese Frage macht mich – um ganz ehrlich zu sein – sehr nervös. Diese Nervosität ist nicht nur intellektuell, sondern auch sehr praktisch bedingt. Vor mehr als einem Jahrhundert hat Adolf Harnack sich bekanntlich in seiner berühmten Rektoratsrede „Die Aufgabe der theologischen Fakultäten und die allgemeine Religionsgeschichte“ gegen eine Umwandlung von theologischen in religionswissenschaftliche Fakultäten ausgesprochen. Er hatte dabei (wie er später erklärte) vor allem die – mit dem neuen Hochschulgesetz von 1876 entstandene – Lage in den Niederlanden im Blick.32 Anderenorts habe ich argumentiert, daß dieses Urteil auf einer Fehleinschätzung beruht33, aber mit der Gründung einer eigenen, protestantischen Universität im Jahr 2007 durch die (wiedervereinigte) Protestantische Kirche in den Niederlanden (PKN) hat die Lage sich wiederum geändert. Jetzt steht die Frage auf der Tagesordnung, wie die öffentlichen, theologischen Fakultäten (oder Abteilungen) auf diese Klerikalisierung der theologischen Ausbildung reagieren sollen. Haben sie eine andere Wahl, als sich als Zentren für Religionsforschung im breiten Sinne zu definieren?34 Aber was, wenn Darryl G. Hart recht haben sollte? Die Frage nach dem Ort der Religionswissenschaft innerhalb der Universität läßt sich hier nicht im Handumdrehen beantworten. Dafür laufen die unterschiedlichen Auffassungen von Religionswissenschaft auch zu sehr auseinander. Zur Orientierung nehme ich die von Hans G. Kippenberg und Kocku von Stuckrad verfaßte Einführung in die Religionswissenschaft (Singular). Am besten betrachtet man – so fangen die Autoren an – Religionen als Teil einer öffentlichen Kultur und dann zeigt sich bald, daß ihre Untersuchung nicht auf ein einzelnes Fach beschränkt sein kann. Mehrere Fächer wie Ethnologie, Geschichtswissenschaft, Soziolo31 32
33 34
Ebd., S. 247. Adolf Harnack: Die Aufgabe der theologischen Fakultäten und die allgemeine Religionsgeschichte, Berlin 1901; zitiert nach: ders.: Adolf von Harnack als Zeitgenosse, Band I (wie Anm. 16), S. 797–815. Arie L. Molendijk: Auf der Suche nach dem Nordpol? (wie Anm. 24). Arie L. Molendijk: Theologie, kerk en academie in protestants Nederland, in: Kerk en Theologie 58 (2007), S. 4–21.
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gie, Rechtswissenschaft, Philosophie, Psychologie und auch Theologien haben „aus ihrer jeweiligen Perspektive viel zum Verständnis von Religionen beigetragen“.35 Das ist aber noch keine Antwort auf die Frage: was ist dann Religionswissenschaft? Kippenberg und von Stuckrad wollen keine phänomenologische Einführung bieten und beanspruchen keinen besonderen Zugang zum Thema Religion.36 Sie gehen davon aus, daß Gegenstände eine wissenschaftliche Disziplin formen und nicht vorgefaßte Theorien und Begriffe. „Geht man [. . .] von den Gegenständen aus, die Teil eines öffentlichen Diskurses über ‚Religion‘ sind, dann verschwinden die Grenzen zwischen wissenschaftlichen Fächern, die sich mit diesen Diskursen befassen“.37 Zum einen wird behauptet, daß Gegenstände eine Disziplin bilden, zum anderen scheint „Diskurs“ der grundlegende Begriff zu sein. Dann fragt man sich, ob Perspektive und Methoden doch letztlich nicht wichtiger sind, als zunächst suggeriert wurde? Wie dem auch sei, Kippenberg und von Stuckrad betrachten es als „einen großen Vorteil der Religionswissenschaft, daß sie gleichsam ‚quer‘ zu etablierten Fächern ihrer Arbeit nachgeht und sich dabei Methoden bedient, die in anderen Disziplinen entwickelt wurden“.38 Die Religionswissenschaft hat dann die Rolle, das fachübergreifende Gespräch zu moderieren.39 Diese Lösung kann meine Nervosität nicht völlig wegnehmen, weil ich nicht sicher bin, ob alle Partner einverstanden sind, daß gerade der Religionswissenschaftler – ohne eine spezifische, eigene Kompetenz und Perspektive – moderieren soll. Aber zum anderen: wenn es ein religion department geben soll, dann scheint es auf der Hand
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Hans G. Kippenberg, Kocku von Stuckrad: Einführung in die Religionswissenschaft, München 2003, S. 7. Im Klappentext findet der Leser die gleiche Liste mit Fächern minus den Theologien. Ich paraphrasiere hier das Vorwort, ohne ständig Anführungszeichnen zu verwenden. Für die entgegengesetzte Auffassung siehe James L. Cox: A Guide to the Phenomenology of Religion. Key Figures: Formative Influences and Subsequent Debates, London, New York 2006, S. 3: „[. . .] the phenomenology of religion defines the methodology that is uniquely associated with religious studies as a distinct discipline studying ‚religion‘ itself“. Hans G. Kippenberg, Kocku von Stuckrad: Einführung in die Religionswissenschaft (wie Anm. 35), S. 8. Ebd., S. 8. Ebd., S. 13 f.
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zu liegen, daß hier die unterschiedlichen Forscher, die sich mit Religion befassen, zusammengebracht werden. Dann hat man ein Institut für interdisziplinäre Religionsforschung, alle Gelehrte machen ihre Arbeit und treffen sich am Freitagnachmittag in einem gemeinsamen Kolloquium. Das hört sich gut an, aber was haben die unterschiedlichen Spezialisten nun wirklich gemeinsam? In den sechziger Jahren hat Mircea Eliade bereits seine Befürchtung gelüftet, daß das Übergewicht von philologisch orientierten Forschern zur Fragmentierung des Gebietes führe und die Fragmente letztendlich in den unterschiedlichen Philologien aufgenommen würden.40 Von anderer Seite ist behauptet worden: „Religionswissenschaft ist die Flagge, unter der die Religionswissenschafler fahren, aber nicht das Fach, das sie ausüben“.41 Wenn das stimmen sollte, dann sind wir – bezogen auf die Lage in den Niederlanden – wieder zurück in der Mitte des 19. Jahrhunderts (vor dem Gesetz von 1876), als die unterschiedlichen Religionen in der geisteswissenschaftlichen Fakultät von Gelehrten erforscht wurden, die ihre Religion im Rahmen der Geschichte, Sprache und Kultur einer speziellen Region studierten. Heutzutage würde man dies area studies nennen. Diese Tendenz der Spezialisierung und Absonderung kann gekontert werden durch die Gründung von Sondergruppen, die sich mit Fragen der Methode und der Komparatistik beschäftigen. Aber Methodendebatten können auf Dauer doch nicht befriedigen. In seiner plenären Rede vor der großen Konferenz der Religionsgeschichtler im Jahr 2000 in Süd-Afrika hat einer ihrer meist prononzierten Vertreter – manchmal als Guru gescholtener – Jonathan Z. Smith sich gegen die Philologisierung des Fachgebietes gewendet. Die Beherrschung relevanter Fremdsprachen sei zum allerwichtigsten Kriterium der professionellen Ausbildung geworden. Philologie ist entscheidend, Theorie und Komparatistik am besten zweitrangig.42 Dagegen wendet Jonathan Z. Smith sich. Ich zitiere den Schluß dieser Rede:
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M. Eliade: Crisis and Renewal in History of Religions, in: History of Religions 5 (1965), S. 1–17, hier S. 17; vgl. Jonathan Z. Smith: Relating Religion. Essays in the Study of Religion, Chicago, London 2004, S. 368. K. van der Toorn: Is godsdienstwetenschap nog een vak? Over identiteit en doel van het godsdienstwetenschappelijk onderzoek, in: Verslag STEGONSymposium „Uitdagingen aan de theologie“. 27 april 1990, s.l., s.a., S. 19–23, hier S. 19. Jonathan Z. Smith: A Twice-told Tale. The History of the History of Religions’
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„Indeed, the cognitive power of any translation, model, map, generalization or redescription – as, for example, in the imagination of ‚religion‘ – is, by this understanding, a result of its difference from the subject matter in question and not its congruence. This conclusion has, by and large, been resisted through the history of the history of religions. But this resistance has carried a price. Too much work by scholars of religion takes the form of a paraphrase, our style of ritual repetition, which is a particularly weak mode of translation, insufficiently different from its subject matter for purposes of thought. To summarize: a theory, a model, a conceptual category, a generalization cannot be simply the data writ large.“43 Ohne das von Jonathan Z. Smith selbst praktizierte Verfahren zum Standard erheben zu wollen, ist sein Aufruf zu einem mehr reflektierten und theoretisierten Umgang mit „Religion“ zu beherzigen. Und nur so macht ein department of religious studies meines Erachtens wirklich Sinn. Die reflektierte Distanz ermöglicht einen fruchtbaren Austausch, in dem die eigenen Voraussetzungen, Methoden und Theorien befragt und zum Teil auch getestet werden können. Die Einführung von Hans Kippenberg und Kocku von Stuckrad ist ein gutes Beispiel einer solchen theoretisch informierten Religionswissenschaft. 5. Nochmals „Religion“ oder worüber handelt die Religionswissenschaft? Wenn sie mehr ist als eine Sammlung von Superspezialisten, ist eine religionswissenschaftliche Abteilung (department of religious studies) innerhalb der Universität praktisch sinnvoll. Auch in der (post)modernen Welt wird immer von „Religion“ geredet und die Konzentration der Sachkundigen in diesem Bereich liegt auf der Hand. Damit sind aber noch nicht alle Probleme vom Tisch. Das hängt – denke ich – vor allem mit der ungeheuren Breite des Forschungsgebiets und der Undeutlichkeit des Religionsbegriffes zusammen. Werden hier nicht sehr heterogene Sachen zusammengenommen? Die meist zitierte Aussage in diesem Zusammenhang ist wiederum von Jonathan Smith: „there is no data for religion“.44
43 44
History, in: ders.: Relating Religion. Essays in the Study of Religion, Chicago, London 2004, S. 362–374, hier S. 368. Ebd., S. 371 f. Jonathan Z. Smith: Imagining Religion: From Babylon to Jonestown, Chicago, London 1982, S. xi.
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In späteren Texten hat er diese, doch ein wenig enigmatischen Worte in dem Sinne erklärt, daß es die Aufgabe der gelehrten Einbildungskraft ist, „Religion“ so zu verwenden, daß der Begriff einen disziplinären Horizont bildet, ähnlich wie „Sprache“ für die Linguistik oder „Kultur“ für die Ethnologie (cultural anthropology). Damit soll der Forschung ein theoretisches Ziel gesteckt werden.45 Aber gelingt das so? Existiert ein solcher Horizont tatsächlich?46 Was sind die Theorien, die für die Religionsforschung konstitutiv sind? Haben Kippenberg und von Stuckrad nicht einfach recht, wenn sie die Religionswissenschaft als Moderator kennzeichnen – auf dem Schnittpunkt zwischen unterschiedlichen Methoden und Disziplinen? Dazu kommt die Frage, was eigentlich mit „Religion“ gemeint ist: auf welche Phänomene verweist dieser Begriff ? Wenn Innerlichkeit als ein wesentliches Merkmal von genuiner Religion betrachtet wird, dann scheiden viele Phänomene aus. Aufgrund einer essentialistischen Auffassung des Christentums als einer selbständigen Größe, die mit der sozialen und historischen Welt interagiert, und deshalb von seinen historischen Manifestationen unterschieden werden kann, ist zum Beispiel die brasilianische Pfingstbewegung als Produkt von nordamerikanischem, kulturellem Imperialismus gekennzeichnet worden. Hier gehe es um Träume von Konsumentismus und nicht um wirkliche Frömmigkeit.47 Was ist denn eigentlich Religion? Ist sie irgendwo in Reinkultur vorhanden, oder existiert sie nur in Mischformen? Ernst Troeltsch hat dieses Problem wie folgt benannt: „Das ‚Rein-Religiöse‘ existiert nur für den Theoretiker und für wenige innerlich tief empfindende Seelen. Auf dem Markt 45
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Jonathan Z. Smith: A Twice-told Tale (wie Anm. 42), S. 369: „The scholarly imagination of ‚religion‘ as an intellectual category established a disciplinary horizon that should play the same sort of role as ‚language‘ in linguistics or ‚culture‘ in anthropology. In each case, the generic category supplies the field with a theoretical object of study, different from, but complimentary to, their particular subject matters“; vgl. S. 193 f. Paul J. Griffiths: The Very Idea of Religion, in: First Things 103 (May 2000), S. 30–35; vgl. ders.: On the Future of the Study of Religion in the Academy, in: Journal of the American Academy of Religion 74 (2006), S. 66–74. Peter van Rooden: Power and Piety in Contemporary Church History and Social Science, in: Judith Frishman, Willemien Otten, Gerard Rouwhorst (Hg.): Religious Identity and the Problem of Historical Foundation. The Foundational Character of Authoritative Sources in the History of Christianity and Judaism, Leiden u. a. 2004, S. 513–532.
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des Lebens gibt es kein Interesse, das nicht durch Verkoppelung mit der Religion gestärkt würde“.48 Diese Formulierung setzt noch voraus, daß das Religiöse und das Nicht-Religiöse irgendwie voneinander getrennt oder zumindest unterschieden werden könnten. Aber ist Religion nicht sehr oft anderen – nicht-religiösen Sachen – eng verknüpft, so eng, daß es manchmal schwierig oder sogar unmöglich ist sie analytisch zu unterscheiden? Der amerikanische Kulturhistoriker R. Laurence Moore vertritt die These, daß in den Vereinigten Staaten „sakral“ und „säkular“ ständig gemischt werden, und er schreibt etwas paradox: „religion is about something else“.49 Religion ist immer verbunden mit Attitüden und Handlungen, die wir gerade nicht-sakral nennen würden und so ist es seines Erachtens nicht möglich eine Demarkationslinie zwischen sakral und profan zu ziehen. Man wird erinnert an die lange Tradition der Kritik des Religionsbegriffes als einer westlichen Erfindung, die in vielen Kulturen trennt, was vom ‚nativen‘ Gesichtspunkt betrachtet einfach zusammengehört. Aber anscheinend ist die Unterscheidung auch im westlichen Kulturbereich manchmal schwierig durchzuführen. Auch „bei uns“ ist Religion öfters vernetzt mit anderen Gebieten, wie Wissenschaft, Recht, Politik, Sport und Sexualität. Das sind nicht per se oberflächliche Nebenerscheinungen, die mit dem „Kern“ der Religion wenig oder nichts zu tun haben.50 48
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Ernst Troeltsch: Religion, in: D. Sarason (Hg.): Das Jahr 1913. Ein Gesamtbild der Kulturentwicklung, Leipzig, Berlin 1913, S. 533–549, S. 434. R. Laurence Moore: Touchdown Jesus. The Mixing of the Sacred and Secular in American History, Louisville, London 2003, S. 166. Danièle Hervieu-Léger: Religion as Memory. Reference to Tradition and the Constitution of a Heritage of Belief in Modern Societies, in: Jan G. Platvoet, Arie L. Molendijk (Hg.): The Pragmatics of Defining Religion. Concepts, Contexts and Contests (Studies in the History of Religions: Numen Book Series, 84), Leiden 1999, S. 73–92, S. 75 f.: „Religions of substitution, religions of replacement, analogical religions, diffuse religions, ‚surrogate religions‘: these terms express the difficulty of delimiting the obscure constellations which make up these religious productions of modernity. These latter are, in effect, as exploded, mobile and dispersed as the modern imagination in which they inscribe themselves: a loose conglomerate of patchwork beliefs, an elusive hodgepodge of reminiscence and dreams [. . .] [O]ne is here led to an investigation of the diverse surreptitious manifestations of religion in all profane and reputedly non-religious zones of human activity. But how far does one push this investigation? Does one stop after identifying the discrete but properly religious influences (Chri-
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Die vielfältigen Verbindungen zwischen dem („eigentlich“?) Religiösen und Nicht-Religiösen sind vielleicht sogar das große Thema der Religionswissenschaft im breitgefächerten Sinne des Wortes. Wie das Werk von Talal Asad zeigt, kann eine genealogische Diskursanalyse Licht auf diese Verbindungen werfen. Mal schlicht gesagt: „Religion“ kann sich an die unterschiedlichsten Sachen heften und in diesem Sinne gibt es tatsächlich keine, eindeutige „data for religion“. Um diese Problematik zu klären, bräuchten wir mehr Reflexionsarbeit. Aber eines ist klar: diese Komplexität erklärt auch, daß so viele akademische Disziplinen mit Religion zu tun haben. Sie ist an Orten, wo man das vielleicht auf dem ersten Blick nicht erwarten würde. Die unterschiedlichen Disziplinen werden dieser Präsenz des Religiösen mit ihren eigenen Methoden und Theorien begegnen. Ob es dem Religionswissenschaftler in seiner Rolle als Moderator gelingen wird, diese unterschiedlichen Perspektiven in ein fruchtbares Gespräch miteinander zu bringen, ist was mich angeht, noch immer offen. Wie dem auch sei: der Kampf um die Religionsdeutung wird weiter gehen. Das hat nicht nur mit Abgrenzungsneigungen zu tun, sondern auch mit der Unbestimmtheit und Vernetztheit dessen, was wir „Religion“ nennen. In manchen Fällen könnte vielleicht der Begriff der Aspektwahrnehmung hilfreich sein, in dem Sinne, daß die „religiösen Tatsachen“ erst durch den geschulten Blick der Beobachter zu „religiösen“ Tatsachen oder Phänomenen mit einer religiösen Dimension werden. Die theoretischen Ausgangspunkte bestimmen dann bekanntlich die Wahrnehmung: etwas wird als religiös wahrgenommen. Ich kann das hier nicht weiter ausführen und schließe ab mit einer vielleicht paradox anmutenden Bemerkung. Unterschiedliche Theorien und Perspektiven führen zu unterschiedlichen Wahrnehmungen und Deutungen von Tatbeständen, von denen wir überzeugt sind, daß sie irgendwie „da sind“ und auch „religistianism [sic!], Judaism, Islam, etc.) at work outside of their usual spheres? Or does one investigate the entirety of believing, ascetic, militant or ecstatic phenomena which manifest themselves in the areas of economics, politics, arts and sciences? Will it be necessary to concentrate one’s efforts on those ‚indisputably‘ religious phenomena, at the risk of being blinded by their very obviousness, given that it is society itself which thus pre-defines them? Or, rather, will it be necessary to widen one’s perspective in order to bring to light modernity’s (invisible) religious logic, at the risk of the dissolution of the religious object as such, at the risk as well of giving to the researcher an exorbitant privilege in the selection of the significant facts?“; cf. Danièle Hervieu-Léger: Religion as a Chain of Memory (1993), New Brunswick 2000.
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ösen“ Charakter oder zumindest einen „religiösen“ Aspekt haben, ohne das wir wirklich wissen, was wir mit „religiös“ meinen.
Selbsttranszendenz und Wertbindung. Ernst Troeltsch als Ausgangspunkt einer modernen Religionssoziologie Hans Joas
In der internationalen Soziologie ist der Name Ernst Troeltsch heute so weitgehend vergessen, daß man ihn bei Erwähnung buchstabieren muß. Alle lesen weltweit in der Soziologie Max Weber; insofern fällt manchmal ein wenig Aufmerksamkeit auf diejenigen Schriften Troeltschs, die sich mit typisch Weberschen Themen beschäftigen – wie der Rolle des Protestantismus bei der Entstehung der modernen Welt oder auch der Unterscheidung religiöser Organisationsformen in der Geschichte des Christentums (Kirche – Sekte – Mystik); aber Troeltsch steht dabei völlig im Schatten Webers, ohne den freilich wohl nicht einmal dieser schmale Ausschnitt aus seinem Werk und bloße begriffliche Abhub vom historischen Reichtum seines großen Werkes über die „Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen“ Teil des Lektürekanons wäre. Mit Bedauern muß ich feststellen – wenn mir eine solch subjektive Bemerkung gestattet ist –, daß diese Verengung des Blicks bis vor einem knappen Jahrzehnt auch für mich galt. Außer den „Soziallehren“ und der „Protestantismus-Schrift“ hatte ich nur einzelne Stücke aus Troeltschs Weltkriegspublizistik (im Rahmen meiner Arbeit zu einer Soziologie des Krieges) und seinen begriffsgeschichtlichen Aufsatz über „Kontingenz“ im Rahmen der Forschungen zu einer kontingenzorientierten Theorie des sozialen Wandels zur Kenntnis genommen. Am schlagendsten wird mir retrospektiv meine Ignoranz gegenüber dem weiteren Werk Troeltschs dabei bei meinem Buch „Die Entstehung der Werte“ von 19971 deutlich. Dieses Buch entwickelte einen Grundgedanken, der sich in den Titelbegriffen dieses Beitrags ebenfalls bezeichnet findet: daß nämlich unsere Wertbindungen nicht aus rational-argumentativen Rechtfertigungen erwachsen, sondern aus Erfahrungen der Selbstbil1
Hans Joas: Die Entstehung der Werte, Frankfurt a. M. 1997.
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Hans Joas
dung und Selbsttranszendenz, aus Erfahrungen also, in denen wir über uns hinausgerissen werden und in denen uns das Erfahrene subjektiv evident und affektiv intensiv als „gut“ (oder „böse“) erscheint. Dieser Grundgedanke wurde dabei einerseits in Hinsicht auf eine Phänomenologie solcher Erfahrungen und andererseits ideengeschichtlich als ein von Nietzsche bis Dewey reichender Diskurs über Wertgenese und Selbsttranszendenz entfaltet. Als Hauptbeiträger zu diesem Diskurs erschienen mir damals William James, Emile Durkheim, Georg Simmel, Max Scheler und John Dewey. Im Rückblick weiß ich, daß dieser Zuschnitt der ideengeschichtlichen Rekonstruktion zwei große Lücken hat, nämlich Josiah Royce in den USA und Ernst Troeltsch in Deutschland. Zu Troeltschs Rolle für diese Argumentation wird gleich mehr zu sagen sein. Selbst noch in meinem Literaturbericht zur Religionssoziologie für den „Merkur“ 19992 habe ich Rudolf Otto als den Pionier einer „Synthese der deutschen historistischen Tradition der Religionswissenschaft und der wesentlich auf James zurückgehenden ‚Phänomenologie der religiösen Erfahrung‘ gefeiert – ein Verdienst, das ich heute natürlich Troeltsch zuerkennen würde. Meine vertiefte Auseinandersetzung mit Troeltsch begann, als ich Troeltschs späten Text „Naturrecht und Humanität in der Weltpolitik“ las.3 Dieser Text ist Ausdruck einer unerhört produktiven Konfrontation der westlichen Menschenrechts-Tradition mit einem vornehmlich in Deutschland entwickelten anspruchsvollen Begriff von Individualität, Schöpfertum und Selbstverwirklichung. Troeltsch artikuliert hier und an anderen Stellen bereits in aller Klarheit, was durch die Arbeiten Isaiah Berlins und Charles Taylors als „expressivistische Revolution“ bekannt geworden ist, als im 18. Jahrhundert stattfindender Durchbruch zu einem Ausdrucksmodell der Sprache und des Handelns und zur Entstehung des Werts schöpferischer Selbstverwirklichung. Troeltsch sieht diese Veränderung tatsächlich als epochalen denkerischen Umbruch mit enormen kulturellen Auswirkungen. Während er im Krieg noch daran mitgewirkt hatte, aus solcher Einsicht unübersteigbare Differenzen zum Westen zu konstruieren, wendet er sich nun ernüchtert davon ab, ohne allerdings ein Zurück hinter diesen Umbruch zu propagieren. Er 2
3
Hans Joas: Die Soziologie und das Heilige. Schlüsseltexte der Religionssoziologie, in: Merkur 53 (1999), H. 605/606, S. 990–998, jetzt auch in: Hans Joas: Braucht der Mensch Religion?, Freiburg 2004, S. 64–77. Für den nachdrücklichen Hinweis auf diesen Text und seine Affinität zu meinen Arbeiten danke ich Dr. Matthias Schloßberger (Potsdam).
Selbsttranszendenz und Wertbindung
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bekämpft die politischen Konsequenzen, die in der deutschen Geschichte aus den Vorstellungen expressiver Individualität weithin gezogen wurden, insbesondere die Abwehr des westlichen Universalismus der Menschenrechte. Sein Ehrgeiz geht dahin, nicht nur die antiwestliche Mischung von romantischer Überheblichkeit und militaristischem Ordnungswahn im deutschen Selbstverständnis seiner Zeit zu überwinden; er will vielmehr die utilitaristischen und rationalistischen westlichen Begründungsstrategien hinsichtlich der Menschenrechte noch übertreffen und aus dem deutschen Individualitäts- und Geschichtsdenken heraus einen eigenen, neuen und überlegenen Weg zur Stützung des Ideals der Menschenrechte finden. Diese Absicht Troeltschs hat seither an Aktualität nur gewonnen. Zwar hat der lange Weg Deutschlands nach Westen (H. A. Winkler) die Assoziation dieser Thematik mit nationalen Identitätsfragen in Deutschland beträchtlich gelockert, aber andererseits haben kulturelle Veränderungen in den klassischen westlichen Ländern schon seit dem späten 19. Jahrhundert, massenhaft aber seit den 1960er Jahren dazu geführt, daß der Wert schöpferischer Selbstverwirklichung sich auch dort ausbreitete und die Frage nach den politischen Konsequenzen dieses Wertewandels auf die Tagesordnung kam. Wie kann der Glaube an die Menschenrechte mit diesem Ethos der Selbstverwirklichung verknüpft werden – das war Troeltschs Frage von 1922. Wie kann unter diesen neuen Bedingungen eine affektive Bindung an universalistische moralische Werte entstehen – das ist eine zentrale Frage für unsere Zeit.4 Dabei zeigen andere Arbeiten Troeltschs, daß es ihm nicht nur um die spezifische Thematik universalistischer Wertbindungen unter Bedingungen der expressivistischen Revolution ging, sondern in ganzer Breite um die Frage nach Chancen und Gefahren religiöser Individualisierung. Mehr als jeder andere Denker seiner Zeit nahm er die Tendenzen zu solcher expressiven Individualisierung ernst, sah sie aber nicht – wie viele Kulturkritiker damals und heute – einfach als sozial destruktiv und in ihrer Wirkung säkularisierend, sondern als epochale Umstellung der Bedingungen für religiöse Gemeinschaften und Institutionen, denen diese aber sehr wohl durch Selbstreform gerecht werden können, was neue Chancen einer Vertiefung persönlicher Religiosität und individualitätssensibler Gestaltung sozialer Bindungen ermöglicht. Abgesehen von 4
Ausführlicher zu diesem Punkt: Hans Joas: Max Weber und die Entstehung der Menschenrechte, in: Gert Albert u. a. (Hg.): Das Weber-Paradigma, Tübingen 2003, S. 252–270.
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Charles Taylors Versuchen, seine Expressivitätskonzeption auf die Religionsdiagnose anzuwenden,5 sehe ich gar keine Alternative zum Rückgang auf Troeltsch, wenn theoretische Inspiration für die Analyse religiöser Individualisierung gesucht wird. Dies schließt auch vormoderne Phasen der Religionsgeschichte ein. Troeltschs Bild der Reformationszeit ist in dieser Hinsicht erfrischend frei von protestantischem Selbstlob, demzufolge die Reformation den Durchbruch moderner Individualität darstelle. In fünf Punkten will ich hier benennen, worin das Argumentationspotential Troeltschs für eine unserer Zeit angemessene Religionssoziologie liegt. Seine hier geschilderten Überlegungen zu einem expressiven Individualitätsverständnis und den Folgen religiöser Individualisierung sind an erster Stelle zu nennen. An zweiter Stelle ist dann hervorzuheben, daß Troeltsch die Idee irreduzibler expressiv-schöpferischer Individualität nicht nur für eine Diagnose der Religionssituation seiner Zeit und ihrer zukünftigen Tendenzen einsetzt, sondern sie in den Kern seines Verständnisses von Religion einbringt. Damit rückt die „Eigenart religiösen Erlebens“ oder religiöser Erfahrung in eine systematisch zentrale Stelle ein. Die systematische Rolle psychologischer Fundierung der Religionstheorie bei Troeltsch verkennt, wer ihn als „Systematiker der religionsgeschichtlichen Schule“ charakterisiert. Die Größe Troeltschs liegt hier gerade darin, daß er zweifach ansetzt, religionshistorisch und religionspsychologisch, und dies beides mit demonstrativer Distanz gegenüber einer Einengung der Religion auf Moral und einer moralistischen Verengung der religiösen Erfahrung. Diese Kennzeichnung gilt schon für den umwerfend gedankenreichen Text „Die Selbständigkeit der Religion“ von 1895/1896, dann aber noch viel stärker für seinen Vortrag auf dem berühmten Kongreß in St. Louis 1904, der unter dem Titel „Psychologie und Erkenntnistheorie in der Religionswissenschaft“ 1905 publiziert wurde.6 Dieser Text paßt wie angegossen in meine Rekonstruktion eines von William James ausgehenden Diskurses über Wertbindung und Selbsttranszendenz in dieser Zeit. Etwa ein Sechstel der Schrift ist 5
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Sein Buch „Die Formen des Religiösen in der Gegenwart“, Frankfurt a. M. 2002, erreicht dieses Ziel sicher nicht. Vgl. jetzt aber sein monumentales Werk „Ein säkulares Zeitalter“, Frankfurt a. M. 2009. Dazu mein Besprechungsaufsatz: Hans Joas: Die säkulare Option. Ihr Aufstieg und ihre Folgen, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 57 (2009), S. 293–300. Ernst Troeltsch: Die Selbständigkeit der Religion, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 5 (1895), S. 361–436 und 6 (1896), S. 71–110 und S. 167–218, jetzt in: ders.: Schriften zur Theologie und Religionsphilosophie (1888–1902), hrsg. von
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einer Interpretation von James’ Religionsbuch gewidmet, das Troeltsch ein „Meisterwerk“ nennt und dessen Überlegenheit gegenüber den Werken der deutschen Theologen und Psychologen er hervorhebt. Im Vorwort weist er noch ausdrücklich darauf hin, daß diese Bezugnahme auf James keineswegs durch die Rücksicht auf amerikanische Zuhörer veranlaßt worden sei. Was ihn an James so beeindruckte, war dessen Versuch einer „wirklichen Psychologie der Religion, die religiöse Erfahrung ohne Vorurteil für oder wider“ (also weder apologetisch noch säkularistisch, H. J.) zu studieren.“ Troeltsch kritisiert an James freilich, daß dieser die Geltungsfrage gar nicht gestellt habe. Dies ist m. E. insofern ein Mißverständnis, als James seiner Religionspsychologie eine die Geltungsfrage einbeziehende Religionsphilosophie folgen lassen wollte, für die wir freilich bloß Skizzen und Ansätze in anderen Schriften haben.7 Kant repräsentiert in Troeltschs Schrift die Unvermeidlichkeit der Geltungsfrage, aber ich halte es trotz des Untertitels „Eine Untersuchung über die Bedeutung der Kantischen Religionslehre für die heutige Religionswissenschaft“ für unplausibel, Troeltsch hier – wie Ulrich Barth dies tut8 – als einen Kantianer zu interpretieren. Troeltsch entwickelt in großer Deutlichkeit seine Kritik an Kants Moralismus, dem „intellektuellen Postulatencharakter“, der dualistischen Trennung von empirischem und intelligiblem Ich und der Vernachlässigung des Problems der Aktualisierung des religiösen Apriori bei Kant, so daß von diesem eigentlich nur die Frage, aber nichts von der Antwort bleibt. Wie James vertritt Troeltsch ein Verständnis des Glaubens als „letzter subjektiver Gewißheit“, „subjektiver Absolutheit“. Die Geltungsfrage läßt sich damit nur in der tatsächlichen Auseinandersetzung solcher subjektiver Gewißheiten und nicht durch rationalistische Konstruktion ein für allemal lösen. Troeltsch sieht auch – wie James – das passivische Moment in solcher
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Christian Albrecht in Zusammenarbeit mit Björn Biester, Lars Emersleben und Dirk Schmid (Ernst Troeltsch: Kritische Gesamtausgabe, Band 1), Berlin, New York 2009, S. 364–535; ders.: Psychologie und Erkenntnistheorie in der Religionswissenschaft, Tübingen 1905. Zum „Selbständigkeits“-Aufsatz Troeltschs vgl. jetzt meine ausführliche Interpretation: Hans Joas: Die Selbständigkeit religiöser Phänomene, in: Die Fuge 6 (2010), S. 15–28. Vgl. dazu genauer David C. Lamberth: William James and the metaphysics of experience, Cambridge 1999. Ulrich Barth: Religionsphilosophisches und geschichtsmethodologisches Apriori. Ernst Troeltschs Auseinandersetzung mit Kant, in: ders.: Gott als Projekt der Vernunft, Tübingen 2005, S. 359–394.
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subjektiven Gewißheit, die eben nie durch Wahl und Entscheidung zustande kommt, sondern nur durch ein „Ergriffenwerden“, „Überwältigung“, „Hingebung“.9 (Dahinter steht natürlich James’ Konzeption des self-surrender.) Aber eben weil dies so ist, ist Wertbindung nicht Resultat von Willkür, sondern weist einen „inneren Zwang“ auf, der auf „Einsicht“ und „überindividuelle Lebenszusammenhänge“ verweist. Diese Gedanken hat Troeltsch in seinem Spätwerk, vor allem den HistorismusBüchern, weiter ausgearbeitet. Der dritte Vorzug von Troeltschs Denken für eine gegenwärtige Religionssoziologie ist, daß er ohne jede Reduktion des Religiösen auf eine bloße Verkleidung, um nicht zu sagen eine täuschende Hülle materieller Interessen, danach fragt, was aus der tiefsten Inspiration einer religiösen Tradition – im Fall des Christentums also der Vorstellung einer „aus Gott quellenden und zu ihm zurückkehrenden Liebe“ – ethisch und insbesondere politisch-ethisch eigentlich folge. Schon Max Scheler hat in seinem Aufsatz von 1923/24 „Ernst Troeltsch als Soziologe“10 Troeltschs Leistung in dieser Hinsicht überzeugend systematisiert. Zu untersuchen ist, welche Vorstellung vom Individuum und von menschlicher Gemeinschaft in diesen religiösen Kern eingelassen sei; wie die Gemeinschaft der Gläubigen verfaßt sein soll, um der religiösen Grundinspiration zu entsprechen; wie überhaupt menschliches Zusammenleben in Staat und Gesellschaft und damit, praktisch unvermeidlich, das Verhältnis der Gläubigen zu den Ungläubigen als Individuen oder konkurrierenden Gemeinschaften zu regeln sei, und schließlich wie spezifische religiöse Traditionen wirklich die Strukturen von Gesellschaft und Staat beeinflußt haben, aber auch umgekehrt von ökonomischen, politischen, militärischen und kulturellen Kräften geformt worden seien. Damit ist ein riesiges Forschungsprogramm bezeichnet, das Troeltsch bestenfalls für das Christentum in Ansätzen selbst realisiert hat. Max Weber hat in einem Brief an seinen Verleger Siebeck (vom 30.12.1913)11 den An9
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Ernst Troeltsch: Die Zufälligkeit der Geschichtswahrheiten (1923), in: ders.: Schriften zur Politik und Kulturphilosophie (1918–1923), hrsg. von Gangolf Hübinger in Zusammenarbeit mit Johannes Mikuteit (Ernst Troeltsch: Kritische Gesamtausgabe, Band 15), Berlin, New York 2002, S. 551–569, hier S. 558. Max Scheler: Ernst Troeltsch als Soziologe, in: ders.: Schriften zur Soziologie und Weltanschauungslehre. Gesammelte Werke, Band 6, Bern, München 1963, S. 377–390. Der Brief wird hier zitiert nach Wolfgang Schluchter: Religion und Lebensführung, Band 2, Frankfurt a. M. 1988, S. 570.
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spruch erhoben, Troeltschs Forschungsprogramm „für alle Religionen, nur wesentlich knapper“ realisiert zu haben. Ich halte diese Aussage allerdings für ein teilweises Selbstmißverständnis Webers. Sein Interesse an der „Wirtschaftsethik“ der Weltreligionen und seine Frage nach den Zusammenhängen zwischen den in eine Religion eingelassenen Vorstellungen und dem wirtschaftlichen Handeln, insbesondere dem, das ein rationaler Kapitalismus voraussetzt und fordert, ist von höchster Bedeutung – es entspricht aber nicht einer Ausdehnung von Troeltschs Programm auf die nicht-christlichen Religionen. Es stellt zum einen eine Einengung gegenüber Troeltschs Frage nach der „politischen Ethik“ dar, zum anderen eine stärkere Orientierung auf kausale Zusammenhänge hin.12 In den Augen vieler werden diese Differenzen eher als Gründe für eine Überlegenheit Webers erscheinen. Bei anderen, die den Unterschied zugestehen, wird das Argument aufkommen, daß Weber sich aber keineswegs an die engeren Grenzen seiner wirtschaftsbezogenen Fragestellung konsequent gehalten habe, sondern – vor allem in seiner „Religionssystematik“ – über diese auch immer wieder hinausgegangen sei. Der Grund, warum diese Fragen hier überhaupt erwähnt werden mußten, ist der, daß mir ein Rückgang auf die Fragen, die Troeltsch seiner Untersuchung der Geschichte des Christentums zugrunde gelegt hat, einen Ausweg zu bieten scheint aus den Sackgassen, in die die Erörterung über Webers Thesen zur protestantischen Ethik und den Geist des Kapitalismus in der Geschichte Europas und Nordamerikas und vor allem über die Frage nach den kulturellen und religiösen Voraussetzungen für wirtschaftliches Wachstum außerhalb des christlich geprägten nordatlantischen Kulturkreises in der späteren sogenannten Modernisierungstheorie auch geführt hat. In der Gegenwart interessieren, wenn es um die Chancen der Demokratisierung von Gesellschaften außerhalb Europas und Nordamerikas geht und um die Gefahren der religiösen Legitimation undemokratischer Verhältnisse oder sogar, wie manche meinen, neuer Formen eines religiös gestützten Totalitarismus im 21. Jahrhundert, mehr die Zusammenhänge von Religion und politischer Ethik als die von Religion und Wirtschaftsethik. Dies bedeutet keine Haltung der Ignoranz gegenüber wirtschaftlichen Voraussetzungen von Demokratie, sondern nur eine Distanz zu der Vorstellung, von der ja auch Max Weber sich schärfstens abgegrenzt hatte, daß ein Aufschwung kapitalistischen Wirtschaftens von sich aus schon eine hohe Affinität zur Demokratie 12
Zum Folgenden vgl. meine Einleitung zu Hans Joas, Klaus Wiegandt (Hg.): Säkularisierung und die Weltreligionen, Frankfurt a. M. 2007, S. 9–43.
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habe. Weiterhin spielt natürlich eine wichtige Rolle, daß Troeltsch freier war als Weber von der Unterstellung, Modernisierung führe mit innerer Notwendigkeit zur Säkularisierung. Seine Perspektive war anders als bei Weber vom Interesse an gegenwartsadäquaten Formen der Religiosität bestimmt, von den Zukunftsperspektiven des Christentums. Es ist allerdings die Frage, ob man hier wirklich von einer „Komplementarität“ der Forschungsprogramme von Weber und Troeltsch sprechen darf – wie manchmal angenommen wird – oder ob man sie nicht eher als Alternativen anzusehen hat. Troeltschs Interesse ist – Punkt 4 meiner Liste – noch aus einem weiteren Grund höchst wichtig für die gegenwärtigen Sozialwissenschaften. Kaum ein Thema beschäftigt ja gegenwärtig die breitere Öffentlichkeit auf diesem Gebiet mehr als das der politischen Ethik des Islam, dessen Fähigkeit oder Unfähigkeit zu moderner Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Troeltsch erkannte so klar wie kaum ein anderer, daß keine einzelne historische Gestalt einer religiösen Tradition als die eigentliche, völlig innerlich einheitliche Verwirklichung der religiösen Inspiration gesehen werden sollte, von der die Späterkommenden nur abgefallen, zu der also zurückzustreben sei. Gerade Troeltsch war sich der enormen Vielfalt politischer Ordnungen bewußt, die in der Geschichte als christlich gerechtfertigt worden sind. Dabei handelte es sich oft um nur oberflächlich christlich überformte Rechtfertigungsideologien, die etwa aus dem (stoischen) Naturrecht, von Aristoteles oder aus dem römischen Recht entlehnt worden waren. Und die Experimente, aus dem Christentum direkt staatliche Ordnung abzuleiten, sind sicherlich nicht anziehend für die Gegenwart. „Die Lehren, die der Staat der Wiedertäufer, der Cromwellschen Heiligen und in anderer, aber ebenso christlicher Weise der Jesuitenstaat in Paraguay gegeben haben, sollten nicht vergessen werden.“13 Er lehnte also jede deduktive „Ableitung“ einer politischen Ordnung aus einer politischen Ethik und einer politischen Ethik aus dem Glutkern einer religiösen Tradition ab. Nicht Ableitung, sondern schöpferische Konstruktion ist hier jeweils am Werk. Erneut ist dies aber nicht im Sinne einer Vergleichgültigung der religiösen Grundinspiration zu verstehen, sondern als aktive Beteiligung an der Erarbeitung einer jeweils neuen Synthese, als ein Universalismus, der den Menschen keinen Bruch mit den partikularen Bindungskräften der Traditionen zumutet, aus denen heraus sie sich verstehen, der es also ablehnt, ihnen einen Übergang von ihren partikularen Werttraditionen weg hin zu rationalen Universa13
Ernst Troeltsch: Politische Ethik und Christentum, Göttingen 1904, S. 23.
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lismen, Begründungen ohne selbstreflexive Erfahrungsverankerung und Bindungskraft anzusinnen. Der fünfte Punkt auf meiner Liste ist ein methodischer. Er klang schon an, als ich Troeltschs Lob für James zitierte, dieser habe sich um eine Religionspsychologie „ohne Vorurteil für oder wider“ bemüht. Ich denke, daß Troeltsch diesen Anspruch nicht nur auf die Psychologie, sondern auch auf alle anderen religionswissenschaftlichen Disziplinen bezog, allerdings nicht auf die Theologie. Die Theologie sollte gewiß ihre normativen Ansprüche behalten, allerdings nicht durch „die Rückkehr zu einem kirchlichen Offenbarungs- und Autoritätsglauben“ noch durch „die zu einem zeitlose und geschichtslose Wahrheiten und Werte begründenden Rationalismus“.14 Die Betonung „subjektiver“ oder „persönlicher“ Absolutheit und kontingenter Wertentstehung dient gerade dazu, den Weg zu öffnen für eine aktive Rolle der Theologie in den intellektuellen Auseinandersetzungen der Zeit. Aber hier ist nicht so sehr von der Stellung der Theologie zu sprechen, sondern von der der Sozialwissenschaften. Es hört sich harmlos an, diesen in der Beschäftigung mit Religion eine Art methodische Urteilsenthaltung zuzumuten. Dadurch ist nicht sofort erkennbar, welche unerhörte Herausforderung für ein säkularistisches Selbstverständnis der Sozialwissenschaften hierin steckt. Die Sozialwissenschaften müssen sich damit von der Vorstellung verabschieden, sie deckten das wirkliche Geheimnis der Religion auf, die Funktion, die ihre Existenz erkläre. Das ist eine viel tiefere Herausforderung als diejenige, die in der Infragestellung der Säkularisierungsthese steckt. Ein säkularistischer Sozialwissenschaftler kann ja zähneknirschend einräumen, daß Religion nicht verschwinde, aber dabei daran festhalten, daß er (oder sie) das wirkliche Geheimnis religiösen Glaubens kenne, das den Gläubigen verborgen bleibe. Wenn diese Haltung überwunden ist, heißt dies nicht, daß eine „christliche“ Sozialwissenschaft an die Stelle einer „säkularistischen“ tritt,15 sondern daß Glaube und Wissenschaft in ein echtes Spannungsverhältnis treten. Die Sozialwissenschaften werden dadurch mit der Tatsache konfrontiert, daß die Religion eine radikalere Spannung zur Kultur erzeugt, als sie zwischen verschiedenen Kultursphären besteht, und daß die Konstitution von Transzendenz in der Achsenzeit und die Idee unverfügbarer Personalität mindestens als Themen, 14
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Ernst Troeltsch: Die Zufälligkeit der Geschichtswahrheiten (wie Anm. 9), S. 556. Vgl. dazu meine Polemik gegen John Milbank in: Hans Joas: Braucht der Mensch Religion? (wie Anm. 2), S. 78–95.
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aber eben auch als normative Herausforderungen sozialwissenschaftlich ernstgenommen werden müssen. Nach dieser Darlegung der grundsätzlichen Bedeutung Troeltschs für eine gegenwärtige Religionssoziologie will ich nun noch abschließend den m. E. wichtigsten Punkt erwähnen, an dem Troeltsch heute für meine persönliche Arbeit große Bedeutung hat. Ich sehe Troeltsch als den Überwinder Kants auf dem Gebiet der Theorie der Entstehung von Bindung an eine universalistische Moral. Die Begründung dafür kann eine doppelte sein. Zum einen müßte Troeltschs eigene Argumentation zu Kant interpretiert werden. Zum anderen aber sollte Troeltsch auch mit dem Kantianismus seiner Zeit konfrontiert werden. Ich habe einen anderen Weg gewählt und Ernst Troeltsch und Ernst Cassirer Schritt um Schritt in der inneren Logik ihrer Denkentwicklung miteinander verglichen. Das ist deshalb so spannend, weil hier zwei Denker an sehr verschiedenen Punkten beginnen (Transzendentalphilosophie und Historismus/Hermeneutik), aber aus philosophischen Problemlagen und aus politisch aufgeladenen Kulturspannungen zwischen Deutschland und dem Westen heraus sich vielfältig ineinander spiegeln und wechselseitig modifizieren. Davon kann ich hier nur das Fazit darstellen.16 Cassirer erscheint mir als der Denker, der weiter als jeder andere von Kant her kommende Philosoph in der Richtung einer semiotischen Transformation der Transzendentalphilosophie gegangen ist. Um den relativistischen Gefahren dieser Transformation zu entgehen, hielt er aber an einer strikt kantianischen Position in normativen Fragen fest. Kants Postulat der moralischen Freiheit blieb für ihn der Orientierungspunkt schlechthin in allen normativen Fragen. Deshalb konnte er die Ideengeschichte bis hin zu Kant als Fortschrittsgeschichte schildern. Nach Kant konnte für ihn die Einsicht in die moralische Freiheit des Menschen wieder verwischt, vergessen oder bekämpft werden – aber das waren nur die historischen Schicksale der Wahrheit, die ihren Kern unversehrt ließen. Auch die Religion konnte für ihn nur aus dem Freiheitspostulat Kants heraus ihre Rechtfertigung finden. Ihre Rolle ging dann nicht über die einer Stärkung der Motivation zur Moral hinaus.
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Ausführlicher in: Hans Joas: Eine deutsche Idee von der Freiheit? Cassirer und Troeltsch zwischen Deutschland und dem Westen, in: Rainer Forst u. a. (Hg.): Sozialphilosophie und Kritik, Frankfurt a. M. 2009, S. 288–316.
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Gegenüber all diesen Auffassungen eines, wie er gesagt hätte, „messianischen Rationalismus“17 erscheint Troeltsch wie ein Skeptiker. Die Aufklärungszeit ist für ihn nicht der Höhepunkt der Geistesgeschichte schlechthin, an dem das philosophische Denken zu sich selbst kommt, sondern nur eine Übergangszeit zwischen der unbefragten Gültigkeit des Christentums und der aufbrechenden historischen und kulturellen Relativierung aller Gewißheiten, eine Zeit der „Leugnung oder doch Eingrenzung des Historischen durch rationale Konstruktion“, ein „letzter Damm gegen das werdende historische Bewußtsein, diesem wider Willen vielfach sich anpassend“.18 Die fortschreitende Historisierung und Psychologisierung ist dann durchaus eine Fortsetzung der Aufklärung, die nun auch diesen letzten Damm überspült. Der Rationalismus Kants wird dabei für Troeltsch als „säkularisierter Nachhall des religiösen Absolutismus“19 erkennbar. Was er hervorbringen könne, sei immer nur das, was aus dem formalen Charakter des Sollens selbst folgt. Dies sei keineswegs gering zu schätzen, insofern darin tatsächlich universelle Züge einer „Gewissensmoral“20 erkennbar würden. Aber „ein inhaltliches System der Vernunftwerte als Maßstab und Richtkraft des historischen Lebens“21 habe sich auf dieser Grundlage als unmöglich erwiesen. Alle Rede von „natürlichen Rechten“ zergeht letztlich vor dem historisch geschulten Blick. „Die sog. natürlichen Normen sind um nichts fester begründet als die sog. übernatürlichen, und das Bemühen, die einen von der anderen Seite her zu begründen, ist eine Illusion, bei welcher Seite 17
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Ernst Troeltsch: Die Zufälligkeit der Geschichtswahrheiten (wie Anm. 9), S. 556 f. Ernst Troeltsch: Der Historismus und seine Probleme. Erstes Buch: Das logische Problem der Geschichtsphilosophie (1922), hrsg. von Friedrich Wilhelm Graf in Zusammenarbeit mit Matthias Schloßberger (Ernst Troeltsch: Kritische Gesamtausgabe, Band 16), Berlin, New York 2008, S. 185. Ernst Troeltsch: Die Zufälligkeit der Geschichtswahrheiten (wie Anm. 9), S. 557. Ernst Troeltsch: Der Historismus und seine Überwindung (1924), in: ders.: Fünf Vorträge zu Religion und Geschichtsphilosophie für England und Schottland. Der Historismus und seine Überwindung (1924) / Christian Thought. Its History and Application (1923), hrsg. von Gangolf Hübinger in Zusammenarbeit mit Andreas Terwey (Ernst Troeltsch: Kritische Gesamtausgabe, Band 17), Berlin, New York 2006, S. 68. Ernst Troeltsch: Die Zufälligkeit der Geschichtswahrheiten (wie Anm. 9), S. 557.
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man auch zuerst einsetzen möge.“22 Ganz verfehlt muß es deshalb sein, die Religion aus der Moralphilosophie heraus zu begründen. Auf das bloße Postulat der moralischen Freiheit werde so ja nur ein weiteres Postulat daraufgesattelt. Damit erreicht Kant aber „ein bloßes Analogon der Religion“ und nicht die gelebte Religion, da Kants Religion „stets nur ein menschliches Erschließen und Postulieren, ein theoretisches Ergänzen der allein unmittelbar erfahrbaren sittlichen Weltordnung und nicht ein Erleben und Erfahren der Gottesgemeinschaft ist“.23 Troeltsch mußte deshalb anders vorgehen als Cassirer. Er mußte soziologischer werden als dieser, wenn er die Geschichte der Ideen behandelte. Seine Analyse der „deutschen Idee von der Freiheit“ mußte entsprechend die ökonomischen, politischen, sozialen und militärischen Bedingungen für die Spezifika der deutschen Geistesgeschichte erklärend heranziehen und genau sortieren, was eine zu überwindende Rückständigkeit und was potentiell eine auch für andere attraktive Überlegenheit des deutschen Geistes ausmacht. Und er mußte an einem entscheidenden Punkt über die Grenze hinausgehen, an der die kantianische Transzendentalphilosophie auch noch in der Form, die sie durch Cassirers semiotische Transformation annahm, endete. Dieser entscheidende Punkt ergibt sich aus Troeltschs Verständnis der Religion. Diese ist für ihn ja, wie gerade erwähnt, keinesfalls aus dem Postulat moralischer Freiheit erschließbar. Für die Erfahrung der lebendigen Kommunikation mit dem Göttlichen ist für Troeltsch – wie für viele andere große Religionsdenker von Schleiermacher bis James – das „Ergriffenwerden“ charakteristisch, ein Gefühl der Überwältigung und der Hingabe. Der Zweifel hat ihn schon früh beschäftigt, ob denn solche Hingabe in einem Bezugsrahmen überhaupt zu fassen sei, in dem nur von der Ordnung eines gegebenen Bewußtseinsstoffs durch das Subjekt die Rede ist. „Die Grundvoraussetzung der Religion, daß das endliche Wesen seine Befaßtheit in dem Zusammenhang einer unendlichen Macht hingebend oder schauernd erfahre, ist hier völlig sinnlos und gegenstandslos.“24 So sehr er Kants Leistung würdigt, den subjektiven Anteil an der Strukturierung der Wirklichkeit hervorgehoben und dadurch die Möglichkeit von Aussagen über die transsubjektive Wirklichkeit streng eingegrenzt zu haben, so sehr hebt 22 23
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Ernst Troeltsch: Der Historismus und seine Überwindung (wie Anm. 20), S. 68. Ernst Troeltsch: Die Selbständigkeit der Religion (wie Anm. 6), S. 82, bzw. S. 459. Ebd., S. 82.
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er doch auch hervor, „daß das menschliche Bewußtsein nur ein Teilchen einer unermeßlichen es erzeugenden und nährenden Wirklichkeit ist“.25 Und diese Wirklichkeit ist für Troeltsch die Wirklichkeit des menschlichen Handelns in der Welt, eines Handelns, von dem das Handeln gegenüber dem Göttlichen und die Erfahrung der Begegnung mit ihm nicht dogmatisch ausgeschlossen werden dürfen. Man könnte dies eine pragmatische Transformation der Transzendentalphilosophie nennen. Sie überwindet eine dualistische Anthropologie, modifiziert den „empirisch-phänomenalen Kausalitätsbegriff“26 Kants selbst und ist so auf „die Durchbrechung durch hereinwirkende andersartige Kräfte eingerichtet“. Erst so – schreibt Troeltsch27 – „ist dem Versuch der Marburger Kant-Schule (aus der Cassirer hervorging, H. J.), den Kritizismus und damit die Philosophie als wissenschaftliche Erzeugung einer allgesetzlichen und darum erst wahrhaft wirklichen Gesetzeseinheit zu fassen, womit die Reduktion der Religion auf die Vernunftidee der gesetzlichen, im Fortschritt des Denkens werdenden, Welteinheit verbunden ist, die Wurzel ausgebrochen.“ In diesem Punkt haben wir also keine Konvergenz, sondern deutliche Differenz. Cassirers großartige semiotische Transformation der Transzendentalphilosophie war nämlich nicht pragmatisch genug. Beide Transformationen sind nötig; sie sind aber nicht miteinander identisch. Wenn Cassirer die symbolischen Formen als „autonome Schöpfungen des Geistes“ bezeichnet, dann setzt sich – wie Matthias Jung überzeugend gezeigt hat28 – der Transzendentalphilosoph in Cassirer wieder einmal gegen den Hermeneutiker durch. Statt vom „Geist“ müssen wir von der irreduziblen Pluralität der Individuen ausgehen, die in je einzelnen Akten, die notwendig situativ bleiben, auf kontingente Weise Sinn kreieren. Und dieser Sinn bleibt immer bezogen auf das Handeln. Der Vielfalt der Religionen werden wir nicht gerecht, wenn wir sie – wie den Mythos – als letztlich einheitliche symbolische und geschichtlich zu überwindende Form deuten. Diese 25 26
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Ebd., S. 416. Ernst Troeltsch: Psychologie und Erkenntnistheorie in der Religionswissenschaft (wie Anm. 6), S. 42. Ebd., S. 42. Matthias Jung: Der Ausdruckscharakter des Religiösen. Zur Pragmatik der symbolischen Formen bei Ernst Cassirer, in: Hermann Deuser, Michael Moxter (Hg.): Rationalität der Religion und Kritik der Kultur: Hermann Cohen und Ernst Cassirer, Würzburg 2002, S. 119–124.
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Differenz zwischen Cassirer und Troeltsch sollte nicht auf die von Glauben versus Unglauben reduziert werden; ein solcher theologischer (oder anti-theologischer) Reduktionismus wäre ebenso verfehlt wie eine bloß politische Interpretation anderer Divergenzen von Cassirer und Troeltsch. Troeltschs Redeweise vom „religiösen Apriori“ kann so mißverstanden werden, als nehme er recht willkürlich eine anthropologische Setzung vor, derzufolge der Glaube unabdingbar zum Menschsein gehört oder als ermächtige der Glaube zu einer ähnlich willkürlichen Setzung seines Objekts. Doch das Gegenteil trifft zu: Mit diesem Begriff will Troeltsch dem bloß postulatorischen Charakter der Freiheitsannahme gerade entgehen. Er will damit gerade erreichen, daß an die systematische Stelle, an der bei Kant und den Kantianern vom Postulat der moralischen Freiheit die Rede ist, die Erfahrungen der (Selbst-)Transzendenz und des „Irrationalen des schöpferischen Handelns“29 treten, aus denen ein individuelles Bewußtsein von absoluter Gültigkeit hervorgeht. Wenn diese Operation gelingt, dann läßt sich auch die Differenz zum Rationalismus umdefinieren. Es geht dann nicht mehr um eine bloße Ergänzung der rationalen Begründung durch irrationale Motivation, sondern umgekehrt wird der Rationalismus selbst als ein Glaube erkennbar. „Worin man inhaltlich Werte, Güter, Wohlfahrt, Fortschritt findet, ist rationell niemals zu begründen und zu erzwingen, und sogar schon die bloße Bejahung eines Sollens, womit doch die Wertwelt nicht entfernt erschöpft ist, ist nichts rationell Erzwingbares, sondern eine Anerkennung und ein Glaube.“30 Auch die Geltung universalistischer Normen verweist dann auf bestimmte Werte, die Geschichte der Menschenrechte auf die Geschichte sozialer Bewegungen, die Bindung an Werte und die Erfahrungen von Gewalt und Befreiung, ihre Begründung auf Erzählung und die semiotische Transformation der Transzendentalphilosophie auf die Brechung ihres Subjekt-Begriffs in den Erfahrungen der Selbsttranszendenz.
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Ernst Troeltsch: Psychologie und Erkenntnistheorie in der Religionswissenschaft (wie Anm. 6), S. 41. Ernst Troeltsch: Die Zufälligkeit der Geschichtswahrheiten (wie Anm. 9), S. 558.
Religion als Thema der Ethnologie Karl-Heinz Kohl I. Die Beschäftigung mit Religionen hat in der Ethnologie schon immer eine bedeutende Rolle gespielt. Die von ihren Vertretern vorgebrachte Behauptung, daß sie dabei einen besonderen, sich von der Herangehensweise benachbarter Disziplinen unterscheidenden Zugang zu den Phänomenen des Religiösen hervorgebracht habe, wird heute allgemein geteilt und zudem durch die Existenz einer eigenen Subdisziplin des Faches, nämlich der Religionsethnologie, unterstrichen. Diese Annahme ist sicher nicht falsch, bedarf aber doch einer historischen Relativierung. Denn zumindest für die frühe Geschichte der Ethnologie trifft sie nur begrenzt zu. Im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren die Grenzen zwischen den Disziplinen, die sich der Erforschung indigener Glaubensvorstellungen und Kultformen widmeten, noch fließend. Religionswissenschaftler beteiligten sich an dieser Aufgabe ebenso wie Altertumswissenschaftler, Rechtshistoriker, Volkskundler, Soziologen und Theologen. William Robertson Smith, Johann Jakob Bachofen, James G. Frazer, Émile Durkheim, Marcel Mauss, Arnold van Gennep oder Pater Wilhelm Schmidt können zwar alle für die Geschichte der Ethnologie in Anspruch genommen werden, markieren mit ihren Namen zugleich aber auch die vielfältigen Überschneidungen zwischen den einzelnen Fächern.1 War zum Beispiel James G. Frazer, der in Cambridge klassische 1
So ist es zum Beispiel durchaus berechtigt, wenn in der renommierten KlassikerReihe des Beck-Verlags die Fachgenealogien kunterbunt vermischt worden sind. Ethnologen wie Edward E. Evans-Pritchard, Arnold van Gennep oder Victor Turner haben in dem der Religionswissenschaft gewidmeten Band Aufnahme gefunden, werden aber in dem Band „Klassiker der Ethnologie“ nicht durch eigene Artikel gewürdigt. Dafür nimmt dieser Band Theologen und Philosophen wie Las Casas, Sahagún, Montaigne und Herder als Vorläufer der Ethnologie in Anspruch. Die Werke und Biographien von Bronislaw Malinowski, Marcel
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Philologie, Geschichte und Literatur studiert hatte, der über das Priestertum im alten Rom ebenso wie über das Königtum bei den afrikanischen Shilluk forschte, über Totemismus und Exogamie ein umfangreiches Werk publizierte und die maßgebliche Magie-Theorie seiner Zeit entwickelte, nun eigentlich Altertumswissenschaftler, Religionshistoriker oder Ethnologe? Unter wissenschaftshistorischen Aspekten betrachtet scheint es so, als hätten erst die institutionellen Zwänge des akademischen Betriebs, nämlich die Einrichtung von einzelnen Lehrstühlen, zu einer inhaltlich anfangs meist nur schwach begründeten Abschottung zwischen den genannten Disziplinen geführt. Dabei war die Ethnologie im übrigen das Fach, das sich von den aufgeführten als eines der letzten eine eigene Vertretung an den Universitäten sichern konnte. In Großbritannien wurde allgemeine Anthropologie seit 1884 von Tylor in Oxford unterrichtet, die Einrichtung eines Lehrstuhls für Social Anthropology erfolgte aber erst 1908 an der Universität von Liverpool.2 In Deutschland wurde das Fach zur gleichen Zeit von Museumsdirektoren an verschiedenen Universitäten gelehrt, die zu diesem Zweck zu Honorarprofessoren ernannt worden waren. Ein eigenes Ordinariat für Völkerkunde wurde 1920 in Leipzig eingerichtet.3 In Frankreich und den Vereinigten Staaten lagen die Verhältnisse komplizierter, da in beiden Ländern die Ethnologie mit der Physischen Anthropologie eine sehr enge Verbindung eingegangen war, aus der es sich nur langsam löste und die auch heute noch an vielen Departments besteht. Von einer eigenständigen universitären Ethnologie kann man in den USA seit Franz Boas reden, dem Begründer der Cultural Anthropology, der ab 1899 einen Lehrstuhl an der Columbia University innehatte und neben kulturwissenschaftlichen auch weiterhin physisch-anthropologische Stu-
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Mauss und Sigmund Freud werden dagegen in beiden Bänden besprochen. Vgl. Wolfgang Marschall (Hg.): Klassiker der Kulturanthropologie. Von Montaigne bis Margaret Mead, München 1990, und Axel Michaelis (Hg.): Klassiker der Religionswissenschaft. Von Friedrich Schleiermacher bis Mircea Eliade, München 1997. Die Stelle an der Universität wurde mit James G. Frazer besetzt, der sich durch sein großes komparatistisches Werk „The Golden Bough“ vor allem in der ethnologischen Fachwelt einen Namen gemacht hatte. Frazer blieb in Liverpool jedoch nur ein Jahr, um wieder nach Cambridge zurückzukehren. Vgl. Bernard Streck: Fröhliche Wissenschaft Ethnologie. Eine Führung, Wuppertal 1997, S. 53.
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dien betrieb.4 In Frankreich wurden Physische Anthropologie und Ethnologie ebenfalls lange gemeinsam gelehrt.5 Die Anstöße zu einer sozialwissenschaftlich orientierten Ethnologie sind von der Durkheim-Schule ausgegangen. 1925 wurde das „Institut d’Ethnologie de l’Université de Paris“ gegründet, dessen Geschäftsführung Durkheims Neffe Marcel Mauss übernahm.6 Der erste Lehrstuhl für Ethnographie wurde an der Sorbonne allerdings erst 1942 eingerichtet und mit Marcel Griaule besetzt.7 Den eingangs genannten Forschern war gemeinsam, daß sie keinen prinzipiellen Unterschied zwischen ethnologischen, volkskundlichen und aus antiken Quellen bezogenen Daten machten. Möglich war ihnen dies auch deshalb, weil sie sich, die einen mehr und die anderen weniger, an den gleichen theoretischen Ansätzen orientierten. Denn im Grunde waren sie alle entweder vom zeitgenössischen Evolutionismus oder vom Diffusionismus geprägt. Die Bestrebungen der Evolutionisten gingen dahin, auch auf dem Gebiet der Religion eine einheitliche Entwicklungslinie von den einfachen Anfängen bis zur Zivilisationshöhe ihrer Zeit nachzuweisen. Dabei kam den ethnographischen Daten, die seit Ende des 18. Jahrhunderts von Reisenden, Missionaren und Kolonialbeamten systematisch gesammelt worden waren, eine privilegierte Rolle zu, sah man damals in den „Wilden“, „Naturvölkern“ oder „Primitiven“ doch die petrifizierten Überreste der frühesten Stufen der Menschheitsentwicklung. Das von den Evolutionisten eingeschlagene Verfahren sollte von den empirisch ausgerichteten Ethnologen der folgenden Generation als „Zettelkastenmethode“ scharf kritisiert werden.8 Dennoch erwies es sich für die Wissenschaftsgeschichte als sehr fruchtbar. Denn es führte zur Herausbildung der Schlüsselkategorien der modernen Religionsforschung, von denen inzwischen zwar manche als veraltet 4
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Das Fach „Ethnology“ gab es in den USA zwar schon länger, doch beschränkten sich seine Vertreter weitgehend auf das Studium der indianischen Bevölkerungsgruppen des Landes. Die großen ethnographischen Sammlungen waren größtenteils in die Museums of Natural History integriert. Im Musée de l’Homme, das der Direktion des Musée national de l’Histoire naturelle untersteht, ist diese Einheit bis zur Ausgliederung der ethnographischen Objekte in das 2006 eröffnete Musée du Quai Branly erhalten geblieben. Werner Petermann: Die Geschichte der Ethnologie, Wuppertal 2005, S. 838. Ebd., S. 813. Vgl. z. B. Edward E. Evans-Pritchard: Theorien über primitive Religionen, Frankfurt a. M. 1968.
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gelten, andere aber weiterhin verwendet werden. Ethnographische Beobachtungen leisteten bei ihrer Formierung einen zentralen Beitrag. Doch waren die Begriffe der „sympathetischen“, „imitativen“ und „kontagiösen Magie“, des „Animismus“, des „Präanimismus“ und des „Dynamismus“, des „sakralen Königtums“, des „Totemismus“ oder der „rites de passages“ keine ethnologischen Schöpfungen im eigentlichen Sinn. Vielmehr sind sie nahezu alle aus der vergleichenden Betrachtung außereuropäischer und europäischer Kulturen hervorgegangen. Die mit dem Evolutionismus konkurrierende, sich mit ihm teilweise auch überschneidende zweite große ethnologische Richtung des 19. und frühen 20. Jahrhunderts war der Diffusionismus. In Deutschland ist er mit den Namen von Friedrich Ratzel, Bernhard Ankermann, Fritz Graebner und Leo Frobenius verbunden, den Begründern der Kulturkreislehre, die größtenteils an Museen tätig waren. In England wurde der Diffusionismus vor allem von Elliot Smith und William H. R. Rivers vertreten. Dieser theoretische Ansatz beschränkte sich aber ebenfalls keineswegs nur auf die Ethnologie. Er wurde auch von Altorientalisten, wie etwa den Panbabylonikern, und von Theologen, wie etwa den Vertretern der religionshistorischen Schule, geteilt, die von der Existenz einer begrenzten Anzahl ursprünglicher Kulturzentren ausgingen und die Verbreitung bestimmter Kulturelemente über die ganze Erde zu rekonstruieren suchten. Die Vertreter der Kulturkreislehre in der deutschen Völkerkunde, die damals international in hohem Ansehen stand und auch die amerikanischen Cultural Anthropology beeinflußte,9 konzentrierten sich auf die weltweite Diffusion materieller Kulturgüter, die Altorientalisten und Theologen suchten dagegen vorrangig nach Übereinstimmungen in den Mythen und Glaubensvorstellungen. II. Eine genuin ethnologische Sichtweise begann sich erst zu entwickeln, als die Vertreter der Disziplin ihre Studierstuben verließen, um vor Ort, im sogenannten Feld, ihre eigenen Daten zu erheben. Der Begriff „Feld“ wurde wahrscheinlich aus der Physik übernommen, und den Naturwissenschaften nachzueifern war denn auch das Bestreben der Generation der ersten ethnographischen Feldforscher. Als Initialunternehmen die9
Vgl. die zeitgenössische Darstellung von Robert H. Lowie: The History of Ethnological Theory, New York, Chicago 1937.
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ses neuen Forschungsparadigmas gilt die von A. C. Haddon und W. H. R. Rivers 1898/99 unternommene Expedition zu den Inseln der TorresStraits-Region zwischen Neuguinea und Australien.10 Die Mitglieder der Expedition erhoben zwar mit Hilfe der damals neuentwickelten audiovisuellen Aufzeichnungstechniken wie Wachswalze und Film Unmengen von Daten, mußten aber bald feststellen, daß sich die naturwissenschaftlichen Dokumentationsverfahren zur Untersuchung kultureller Phänomene nur bedingt eigneten. Das gesammelte Material blieb zu einem großen Teil unausgewertet. Insbesondere Rivers forderte daher, daß sich Ethnographen nicht mit dem bloßen Erheben von mehr oder weniger oberflächlichen Daten im „Feld“ begnügen dürften, sondern längere Zeit bei den zu untersuchenden Gesellschaften verbringen sollten.11 Diese Einsicht führte zur Herausbildung der Methode der „teilnehmenden Beobachtung“, die begründet zu haben das große Verdienst Bronislaw Malinowskis ist, der zeitweise als Rivers’ Sekretär tätig war und dessen Schriften maßgebliche Anregungen zur Entwicklung dieses neuen Untersuchungsverfahrens entnehmen konnte. Gleichermaßen um Distanz zu den bis dahin üblichen empirischen Erhebungsverfahren wie auch zu einem intuitiven Einfühlen bemüht, beruht diese Methode auf einem ständigen Wechselspiel zwischen Innenund Außensicht. Die Person des Ethnographen wird selbst zum Instrument seiner Forschungen. Er versucht nicht, sich mit der Hilfe von aus zweiter Hand stammenden Texten in die fremde Lebenswelt hineinzuversetzen, sondern nimmt am Leben der zu Untersuchenden aktiv teil, um ihre Handlungen durch sein persönliches Erleben nachzuvollziehen. Diese Methode ermöglichte nun in der Tat auch einen neuen Zugang zu den Phänomenen des Religiösen. Die feldforschenden Ethnologen betonten, daß die Religion in den kleinen, homogenen und geschlossenen Gesellschaften, die sie vorrangig untersuchten, kein eigenständiger Bereich, sondern ein integraler Bestandteil der täglichen Lebenspraxis sei. Überhaupt ließe sich in diesen Gesellschaften, im Unterschied zu den modernen Industriegesellschaften, keine Trennung zwischen den einzelnen Institutionen beobachten. Ob Wirtschaft, Politik, soziale Organisa10
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Haddon war von seiner ursprünglichen Ausbildung her Zoologe, während Rivers Medizin und Psychologie studiert hatte. Vgl. Anita Herle, Sandra Rose (Hg.): Cambridge and the Torres Straits. Centenary Essays on the 1898 Anthropological Expedition, Cambridge 1998. Vgl. Adam Kuper: Anthropologists and Anthropology: The British School 1922–72, Harmondsworth 1973, S. 19 f.
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tion und eben auch Glaubensvorstellungen, mythische Überlieferungen und Rituale, alles greife hier ineinander über, sei untrennbar miteinander verzahnt. Es war diese als „Revolution in der Ethnologie“12 bezeichnete funktionalistische Perspektive, die den ersten wirklich eigenständigen Beitrag der Ethnologie zur Religionsforschung darstellte. Freilich geschah dies um den Preis, daß bei ihrer Anwendung die Selbständigkeit der Erscheinungsformen des Religiösen notwendig in den Hintergrund treten mußte. Die Vertreter des Funktionalismus betrachteten sie vorrangig unter dem Aspekt ihres Beitrags zur Erhaltung des gesellschaftlichen Ganzen. Bronislaw Malinowski hat diese neue Blickrichtung mit seinen Ausführungen zu den mythischen Überlieferungen der Trobriandern in die Welt gesetzt, während Alfred Radcliffe-Brown ihr in der Nachfolge Émile Durkheims eine szientistische Wende geben sollte. In der amerikanischen Cultural Anthropology vertraten Franz Boas und Ruth Benedict einen ähnlichen Standpunkt. Sie dokumentierten und beschrieben zwar religiöse Phänomene wie etwa die Glaubensüberzeugungen, Mythen und Rituale der Nordwestküsten-Indianer oder der Zuni im Südwesten der USA, doch taucht der Begriff Religion bei ihnen nur selten auf. Sie mißtrauten offensichtlich seinen eurozentrischen Implikationen. Die Eskamotierung der Eigenständigkeit des religiösen Bereichs erfolgte in diesem Fall weniger unter einer sozialwissenschaftlichen, als vielmehr unter einer kulturrelativistischen Perspektive. Ruth Benedict etwa subsumierte die religiösen Phänomene unter ihre die „Mentalität“ partikularer Gesellschaften indizierenden „Patterns of Culture“. Ihrer Auffassung nach stellte jede Kultur ein einzigartiges und in sich geschlossenes Ganzes dar, eine Gesamtheit von aufeinander bezogenen Werten, Normen, Praktiken und Vorstellungen, zu denen sie auch die jeweilige religiöse Weltsicht zählte. Der deutsche Völkerkundler Leo Frobenius vertrat in seiner Kulturmorphologie im übrigen einen ganz ähnlichen Ansatz. Auch für ihn waren die Glaubensüberzeugungen und rituellen Handlungen lediglich Teil der von ihm als „Paideuma“ bezeichneten „Seele einer jeden Kultur“. III. Die aus der Feldforschungserfahrung hervorgegangene kulturholistische Sichtweise, die den Funktionalisten und den Kulturrelativisten 12
Vgl. Ian C. Jarvie: The Revolution in Anthropology, London 1972.
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bei allen sonstigen Unterschieden gemeinsam war, hat die Ethnologie lange beherrscht. Sie ist später mit den verschiedenen neueren Schulrichtungen wie dem Neo-Evolutionismus, dem Kulturmaterialismus und der Kulturökologie eine Verbindung eingegangen. Allein der französische Strukturalismus schlug einen anderen Weg ein, indem er nicht nur die matrimonialen Allianzformen, sondern auch die mythischen Überlieferungen aus ihrem jeweiligen kulturellen Kontext löste und miteinander verglich, um nachzuweisen, daß in ihnen die Mechanismen des sich überall gleichen menschlichen Geistes am Werke seien. Doch hat sich dieses vergleichend-analytische Verfahren gegenüber dem ethnographischen Holismus langfristig nicht durchsetzen können. Heute muß man in ihm wohl das Einzelunternehmen seines Begründers, des französischen Ethnologen Claude Lévi-Strauss, sehen. Die ersten Ansätze zu einer allmählichen Aushöhlung des kulturholistischen Paradigmas zeichneten sich nach der erfolgreichen Dekolonisierung der afrikanischen und asiatischen Staaten ab. Den Kolonialherren war noch daran gelegen gewesen, jene geschlossenen ethnischen Gruppen, die dem Fach zu seinen wichtigen neuen Einsichten verholfen hatten, möglichst intakt zu erhalten. Sie suchten die überlieferten Herrschaftsstrukturen zu stärken, da sie die Verwaltung nach dem Prinzip der „indirect rule“ erleichterten. In den Fällen, in denen politische Zentralinstanzen nicht oder nur schwach ausgeprägt vorhanden waren, wurden „traditionelle“ Institutionen dieser Art wie etwa das „afrikanische Häuptlingtum“ in einigen Fällen von den Kolonialadministrationen sogar neu installiert.13 Die politischen Autonomiebestrebungen, die in den ersten drei Dekaden nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zur Unabhängigkeit der ehemals kolonisierten Länder führten, wurden denn auch nicht von den scheinbar traditionell gebliebenen ethnischen Gruppen und ländlichen Bevölkerungsschichten getragen, sondern von den westlich orientierten und oft auch im Westen ausgebildeten urbanen Eliten. Modernisierung war ihre Zauberformel. Die geschlossenen kleinen ethnischen Gruppen verloren die paternalistische Patronage, unter der sie in der Ära des Kolonialismus noch gestanden hatten. In den unabhängig gewordenen Staaten wurden sie zu rückständigen ethnischen Minoritäten erklärt, als die sie den Auswirkungen der von den Regierungen for13
Das galt auch für das neue Ziehen ethnischer Grenzen und die Einrichtung ganzer „native states“. Vgl. etwa für Ghana die Beispielsfälle bei Carola Lentz: Die Konstruktion von Ethnizität. Eine politische Geschichte Nordwest-Ghanas (Studien zur Kulturkunde 112), Köln 1998.
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cierten Modernisierungsbestrebungen nun mehr oder weniger schutzlos ausgesetzt waren. Das wirkte sich auch auf ihre lokalen religiösen Überlieferungen aus. In Indonesien etwa sah man in diesen Traditionen bloßen „Animismus“. Die Angehörigen der Stammesgesellschaften galten den neuen politischen Machthabern als Menschen, die „noch keine Religion besitzen“.14 Und ihre Missionierung, gleichgültig ob von Seiten des Islam oder der christlichen Kirchen, wurde von ihnen vorbehaltlos unterstützt. Sie flankierte die um die lokalen Verhältnisse unbekümmerten und rücksichtslos vorangetriebenen ökonomischen und sozialen Entwicklungsmaßnahmen. Mit dem Einzug der Moderne wurden auch die letzten noch halbwegs intakten indigenen Gesellschaften in übergreifende Interdependenzsysteme einbezogen. Sie verloren ihre kulturelle Autonomie. Die Ethnologie sah sich dadurch ihres klassischen Untersuchungsgegenstands beraubt. Damit begann aber auch der holistische Kulturbegriff an Bedeutung zu verlieren. Welche Folgen sich aus der sukzessiven Auflösung dieses Paradigmas für das Fach im allgemeinen und die Religionsethnologie im besonderen ergaben, läßt sich beispielhaft an der Biographie und am Werk Clifford Geertz’ verfolgen, dessen theoretische Überlegungen zur Religion weit über die Ethnologie hinaus Bedeutung erlangt haben.15 Als Mitglied eines sechsköpfigen amerikanischen Forscherteams hatte Clifford Geertz sich von 1952 bis 1954 in Indonesien aufgehalten – das Land hatte sich erst vier Jahre zuvor von der niederländischen Kolonialherrschaft befreit –, wo er in einer ostjavanischen Kleinstadt ethnographische Feldforschung nach allen Regeln der Kunst betrieb. Er konzentrierte sich auf die Untersuchung der javanischen Volksvariante des Islam, der mit älteren hinduistischen und lokalreligiösen Elementen eine Synthese eingegangen war. In seiner 1960 veröffentlichen Abhandlung „The Religion of Java“ – ein angesichts des lokal beschränkten Fokus der Studie etwas überzogener Titel – zeigte er die durchgehende Verschränkung von Ri-
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Vgl. Karl-Heinz Kohl: Ein verlorener Gegenstand? Zur Widerstandsfähigkeit autochthoner Religionen gegenüber dem Vordringen der Weltreligionen, in: Hartmut Zinser (Hg.): Religionswissenschaft. Eine Einführung, Berlin 1988, S. 252–273. Von den vielen Gesamtdarstellungen von Geertz’ theoretischem Ansatz sei hier lediglich die umfassende Studie von Volker Gottowik: Konstruktionen des Anderen. Clifford Geertz und die Krise der ethnographischen Repräsentation, Berlin 1997, genannt.
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tualen und Glaubensüberzeugungen mit der Alltagspraxis auf.16 Es war eine durchaus konventionelle, in jeder Hinsicht den damaligen Standards empirischer Felduntersuchungen entsprechende Studie. Spätere Forschungsaufenthalte führten ihn nach Marokko und Bali. Sie standen dem ersten allerdings hinsichtlich ihrer Dauer und Intensität erheblich nach. Auch publizierte er keine weitere umfassende ethnographische Monographie, sondern begnügte sich mit der Behandlung von Einzelthemen. 1966 erschien sein Aufsatz „Religion as a Cultural System“,17 in dem er mit dem mittlerweile klassischen Ansatz brach, der in der Religion nur ein Epiphänomen der sozialen Ordnung sah, sich zugleich aber auch von den auf dem Prinzip eines intuitiven Einfühlens operierenden religionsphänomenologischen Methoden distanzierte. Seine eigene Bestimmung der Religion als eines Ensembles von Symbolen, in dem das Bild der Welt und des Selbst zum Ausdruck gelangt und das die Handlungen der Menschen zugleich formt, ist von Hans Kippenberg und Kocku von Stuckrad als „einer der wichtigsten Beiträge zur Religionsforschung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts“ bezeichnet worden.18 Möglicherweise war es auch der letzte Versuch dieser Art, zeigt sich an der Vagheit von Geertz’ Argumentation doch auch, wie problematisch eine solche allgemein gehaltene Definition damals bereits geworden war. Sechs Jahre später publizierte Geertz in dem Sammelband „The Interpretation of Culture“ seinen berühmt gewordenen Aufsatz „Thick Description“,19 den man als seine endgültige Abkehr von der ethnographischen Empirie ansehen kann. Seine Metapher von der Kultur als Text: eines „selbstgesponnenen Bedeutungsgewebes“, in das sich der Mensch verstrickt und das seinerseits der Deutung bedarf, leitete eine Wende zu klassischen hermeneutischen Verfahren ein; nicht umsonst wurde dieser Ansatz von der Literaturwissenschaft geradezu emphatisch begrüßt. In „Deep Play“, seinen Bemerkungen zum balinesischen Hahnenkampf, machte Geertz selbst die Probe aufs Exempel. Bezeichnend an diesem 16 17
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Vgl. Clifford Geertz: The Religion of Java, Chicago, London 1960. Vgl. Clifford Geertz: Religion as a Cultural System, in: Michael Banton (Hg.): Anthropological Approaches to the Study of Religion, London 1966, S. 1–46. Vgl. Hans G. Kippenberg und Kocku von Stuckrad: Einführung in die Religionswissenschaft, München 2003, S. 33. Vgl. Clifford Geertz: Thick Description: Toward an Interpretative Theory of Culture, in: ders.: The Interpretation of Cultures. Selected Essays, New York 1973, S. 3–30.
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ebenfalls in die Wissenschaftsgeschichte eingegangenen Aufsatz ist, daß er auf ein die ganze balinesische Kultur ins Auge fassendes kontextualistisches Verfahren verzichtet und statt dessen an einer einzigen Episode aus Geertz’ Feldforschungsaufenthalt zu verdeutlichen sucht, was seiner Auffassung nach die Alterität des balinesischen Denkens und Handelns ausmacht. Konnte man aber zum Zeitpunkt der Publikation des Aufsatzes von einer solchen grundsätzlichen Alterität überhaupt noch reden? Hatte 1972 die Globalisierungswelle in Form des beginnenden Massentourismus nicht auch schon die Insel Bali erreicht, von den Auswirkungen der javanisch dominierten zentralstaatlichen Verwaltungssysteme und des Militärputsches des Jahres 1966 ganz abgesehen? Geertz selbst war sich zweifellos bewußt, daß die Zeit des klassischen ethnologischen Kulturbegriffs von der historischen Entwicklung bereits überholt war. Konsequenterweise galt seine nächste Monographie daher den Strukturen des balinesischen Staats im 19. Jahrhundert, in einer Zeit also, die vor der kolonialen Okkupation der Insel durch die Holländer lag.20 Und es war sicher nicht weniger konsequent, wenn er sich anschließend der Geschichte des Faches in der Epoche zuwandte, in der eine Untersuchung von halbwegs geschlossenen Kulturen noch möglich war. 1988 veröffentlichte er „The Anthropologist as Author“, eine Studie über Malinowski, Evans-Pritchard, Ruth Benedict und andere bedeutende Ethnologen, mit der er zugleich in polemischer Form Stellung gegen die radikalen Positionen der Repräsentationsdebatte bezog, die sich auch einige seiner engeren Schüler zu eigen gemacht hatten.21 Sein letzter großer Aufsatz, mit dem er sechs Jahre vor seinem Tod einen 2000 publizierten Sammelband abschloß, trug den bezeichnenden und gewissermaßen antithetisch auf den Kulturholismus seiner ersten großen ethnographischen Abhandlung bezogenen Titel „The World in Pieces“.22
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Vgl. Clifford Geertz: Negara. The Theatre State in Nineteenth-Century Bali, Princeton 1980. Vgl. Clifford Geertz: Works and Lives. The Anthropologist as Author, Stanford 1988. Vgl. Clifford Geertz: Available Light. Anthropological Reflections on Philosophical Topics, Princeton, New Jersey 2000, S. 218–263.
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IV. In dem knappen halben Jahrhundert, das zwischen Geertz’ Feldforschungsaufenthalt in Ostjava und der Veröffentlichung seines zuletzt genannten Aufsatzes lag, war die klassische Welt der Religionsethnologie in der Tat in Stücke zerfallen. Nirgendwo mehr auf dem Globus, selbst in seinen abgelegensten Regionen, läßt sich heute noch eine Kultur finden, in der sich religiöse Phänomene in ihrem ursprünglichen Zusammenhang mit allen übrigen Bereichen des sozialen, politischen und ökonomischen Lebens studieren ließen. Mit der Translokalisierung und Hybridisierung der Kulturen im Zuge der letzten großen Globalisierungswelle und dem Triumph der audiovisuellen Massenmedien in ihrem Gefolge haben sich auch die autochthonen Religionssysteme aus ihrem Kontext gelöst und reihen sich heute in das breite Angebot von sei es religiös, sei es ideologisch geprägten Weltanschauungssystemen ein. Im besten Fall ist es traditionellen Religionsformen gelungen, zu einer friedlichen Koexistenz mit den dominanten Weltreligionen zu finden. Während meines eigenen Feldforschungsaufenthalts in einem abgelegenen Dorf im Osten der indonesischen Insel Flores konnte ich ein solches Nebeneinander von zwei religiösen Orientierungssystemen beobachten, die zueinander in einem komplementären Verhältnis standen. Für alle Dinge, die die traditionelle Wirtschafts-, Sozial- und Rechtsordnung der Dorfgemeinschaft betrafen, waren die Adatältesten zuständig, allen voran der Erdherr, der – wie schon seine Vorfahren – bei der Zuteilung der gemeinsam gerodeten Felder unter die einzelnen Clane, bei Aussaat und Ernte, bei Hochzeiten, Unglücksfällen, schlechten Vorzeichen und Träumen Opfer an die Götter, Geister und Ahnen darbrachte. Dagegen wurde alles, was die Beziehungen zur Außenwelt betraf, angefangen mit dem Bau der Wasserleitungen und Krankenstationen bis hin zum Einwerben von Geldern der Entwicklungshilfe, vom lokalen katholischen Priester und seinem Gemeinderat erledigt. Jedes Mitglied der Dorfgemeinschaft gehörte so gleichzeitig zwei religiösen Kommunitäten an. Die rites de passage anläßlich von Geburt, Heirat und Tod wurden dementsprechend doppelt durchgeführt, einmal unter der Leitung der Adatältesten bei der traditionellen Kultstätte im Zentrum Dorfes und ein weiteres Mal, und zwar oft am gleichen Tag, in der am Dorfrand gelegenen Kirche.23 23
Karl-Heinz Kohl: Der Tod der Reisjungfrau. Mythen, Kulte und Allianzen
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Komplizierter gelagert sind die Fälle, in denen es zu einer ausgebildeten Synthese von autochthonen und importierten Religionen gekommen ist. So haben sich zum Beispiel in Afrika noch unter dem Einfluß der christlichen Missionsarbeit zahlreiche unabhängige Kirchen herausgebildet, die seit dem Ende der Kolonialherrschaft eine Eigenentwicklung genommen und sich immer weiter von der christlichen Orthodoxie entfernt haben.24 Ihre Prediger und Gemeindeoberhäupter veranstalten nicht nur die gemeinsamen sonntäglichen Gottesdienste, sondern übernehmen oft auch die Rolle von traditionellen Orakelpriestern und Heilern, mit denen sie als Anbieter von Divinationen, Schutzamuletten und Heilritualen konkurrieren. Für die Gemeindemitglieder sind die Gotteshäuser Orte des sozialen Zusammenseins, wie denn die Kirchengemeinden überhaupt in erster Linie Solidargemeinschaften darstellen, deren Mitglieder sich in Notfällen gegenseitig unterstützen. Bemerkenswerterweise spielen die ethnisch homogenen kleinen Kirchen in den Diasporen der Wanderarbeiter eine weit wichtigere Rolle als in deren Herkunftsgebieten selbst. Noch offener zutage tritt der Synkretismus in den Santería-, Umbanda- und Candomblé-Gemeinden Mittel- und Südamerikas, in deren Pantheon afrikanische Yoruba- und Vodun-Götter ebenso Eingang gefunden haben wie christliche Heilige und die Kunstfiguren der Hollywood-Filmindustrie. Katholische Liturgieelemente, Blutopfer und Besessenheitskulte werden in bunter Abfolge oft in den gleichen Veranstaltungen zelebriert.25 Glaubensvorstellungen und Rituale haben sich aus ihrem ursprünglichen Kontext gelöst. Sie sind neue Verbindungen eingegangen, um die Form von eigenständigen religiösen Institutionen anzunehmen. So archaisch die einzelnen Elemente auch anmuten mögen, in ihrer neuen Zusammenstellung und Verselbständigung zu Religionen sind sie Produkte der Moderne.
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in einer ostindonesischen Lokalkultur (Religionsethnologische Studien des Frobenius-Instituts Frankfurt a. M., Band 1), Stuttgart, Berlin, Köln 1998. Vgl. Birgit Meyer: Christianity in Africa. From African Independent to Pentecostal-Charismatic Churches, in: Annual Review of Anthropology 33 (2004), S. 447–474. Für Candomblé und Umbanda vgl. Nicole Janowski, Christian Meyer: Neue Heimat in der Neuen Welt. Momente der Aneignung, Installation und Performance in afrobrasilianischen Religionen, in: Karl-Heinz Kohl, Nikolaus Schafhausen: New Heimat, New York 2001, S. 38–55.
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Den neuen religiösen Mischformen stehen nur scheinbar die Religionen entgegen, die sich als eine Wiederherstellung älterer Traditionen verstehen. Denn auch sie sind im Grunde artifizielle Gebilde, die ihre Entstehung zu einem nicht geringen Teil dem transkulturellen Wissenstransfer verdanken. Dort, wo es bei indigenen Völkern zu solchen neotraditionalistischen Bewegungen gekommen ist, wie z. B. bei den nordamerikanischen Indianern, bei den australischen Aborigines oder bei den Maori auf Neuseeland, ist häufig beobachtet worden, daß man bei der Rekonstruktion der Glaubensvorstellungen und der Rituale der eigenen Ahnen auf die historischen Dokumentationen von Ethnologen und Missionaren zurückgreift. Unwillentlich sind damit die Ethnologen durch ihre schriftlichen Aufzeichnungen zu den theologischen Autoritäten der von ihnen untersuchten Kulturen geworden.26 Auch die sich global ausbreitenden fundamentalistischen Bewegungen der großen Weltreligionen, des Islam, des Christentums, des Buddhismus und des Hinduismus, müssen dem Neotraditionalismus zugerechnet werden. Ihr Bestreben ist es bekanntlich, die ursprüngliche Religion von allen fremden Elementen zu reinigen und sie wieder zu einem integralen Bestandteil der Alltagspraxis werden zu lassen. Doch erweist sich dies unter den Bedingungen der Moderne und der Globalisierung als ein vergebliches Unterfangen. Die These liegt also auf der Hand, daß die politische Radikalisierung des Islam und auch des evangelikalen Christentums eine Reaktion auf das Scheitern ebenjener Restaurierungsbemühungen darstellt. Um auf Clifford Geertz’ Metapher zurückzukommen: Alles deutet darauf hin, daß die Welt des Religiösen nur in Stücke zerfallen ist, um sich überall wieder neu zusammenzusetzen. Diesen Prozeß zu verfolgen ist eine zentrale Aufgabe der gegenwärtigen religionsethnologischen Forschung. In dem Maße, in dem das lange dominierende kulturholistische Paradigma obsolet geworden ist, haben die älteren theoretischen Ansätze überraschenderweise an Aktualität gewonnen. In einer Epoche der weltweiten Migration von Menschen und materiellen Gütern, von Lebensstilen, Normen und Ideen läßt sich erneut am ethnologischen Diffusionismus anknüpfen. Versuchten seine Vertreter die Wanderwege der Kulturen und Kulturelemente historisch zu rekonstruieren, so können wir 26
Vgl. hierzu ausführlicher Karl-Heinz Kohl: Erfundene Vergangenheiten. Ethnische Reaktionen auf den Prozess der Globalisierung, in: Brigitte Luchesi, Kocku von Stuckrad (Hg.): Religion im kulturellen Diskurs. Festschrift für Hans G. Kippenberg zum 65. Geburtstag (Religionsgeschichtliche Versuche und Vorarbeiten, Band 52), Berlin, New York 2004, S. 423–438.
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ihre Ausbreitung über die Welt gewissermaßen in actu erleben und analysieren. Diese Chance sollte nicht verspielt werden. Spätere Kulturhistoriker werden uns um sie vielleicht einmal beneiden. Die Untersuchung der lokalen Aneignung der Weltreligionen durch die Gesellschaften, die sich über Jahrhunderte hin nach außen abgeschlossen und dadurch ihre kulturelle Eigenart bewahrt hatten, ist zu einem bedeutenden Untersuchungsfeld gegenwärtiger religionsethnologischer Forschungen geworden. Religionsethnologen brauchen heute hierzu indes nicht mehr unbedingt in ferne Länder reisen. Die Translokalisierung der Kulturen hat paradoxerweise zu einer Relokalisierung der Ethnologie geführt. Denn die globalen „ethno-scapes“27 finden sich oft vor der eigenen Haustür. In den geschlossenen und überschaubaren deutschen Diaspora-Gemeinden der afro-kubanischen Santería-Anhänger28 oder kurdischer Yeziden29 lassen sich die anhand von face-to-face-Gesellschaften entwickelten ethnographischen Untersuchungsmethoden sogar oft besser anwenden als in ihren Herkunftsländern. Religiöse Importe sind früher vorwiegend von Nord nach Süd erfolgt. Mittlerweile laufen sie auch in die umgekehrte Richtung. Selbst afrikanische Voodoo-Praktiken, die von nigerianischen Zuhältern und Prostituierten ins Land gebracht worden sind, finden sich heute in den Rotlichtmilieus europäischer Hafenstädte und stellen die Justizbehörden vor erhebliche Probleme.30 Im Blick auf die hier kurz skizzierten Vorgänge der Diffusion, Aneignung und auch Wiederaneignung von Elementen sowohl der universalen als auch der früher auf bestimmte Ethnien begrenzten Religionen kommt meines Erachtens auch dem Begriffsinstrumentarium, das der Evolutionismus des 19. Jahrhunderts hervorgebracht hat, wieder eine gewisse Bedeutung zu. Es käme dabei freilich vor allem darauf an, die durch ihren Gebrauch im Zusammenhang mit den eurozentrischen Zivilisationstheorien der damaligen Zeit in Mißkredit geratenen Termini um ihre evolutionistischen Komponenten zu bereinigen. Dann nämlich 27
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Vgl. Arjun Appadurai: Modernity at Large. Cultural Dimensions of Globalization, Minneapolis, London 1996, S. 48 ff. Vgl. Lioba Rossbach de Olmos: Santeria in Deutschland, in: Ideen über Afroamerika – Afroamerikaner und ihre Ideen (Curupira Workshop 9), Marburg 2003, S. 137–149. Vgl. Andreas Ackermann: Yeziden in Deutschland. Von der Minderheit zur Diaspora, in: Paideuma 49 (2003), S. 157–177. Vgl. Rjik van Dijk: „Voodoo“ on the Doorstep: Young Nigerian Prostitutes and Magic Policing in the Netherlands, in: Africa 71 (2001), S. 58–86.
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ließe sich zeigen, daß sie für universelle Denkmuster stehen, die mit der jeweiligen Kulturhöhe nichts zu schaffen haben. So erleben neuerdings die nicht mehr allein auf das Verhältnis zur Waren- und Konsumwelt bezogenen Begriffe des Fetischismus und der Fetischisierung wieder eine gewisse Konjunktur.31 Die spontane Herausbildung eines sich auf die Symbole der jeweiligen Vereine kaprizierenden Totemismus läßt sich in amerikanischen Baseball- ebenso wie in europäischen Fußballstadien tagtäglich beobachten. Und das magische Denken hat sich mittlerweile gerade an den weltweit operierenden Börsenmärkten wieder einen festen Platz erobert.32 Insgesamt besehen ist die ethnologische Religionsforschung also auf dem besten Wege, sich wieder in die allgemeine Religionsforschung zu integrieren. Als Besonderes bleibt ihr dabei allein jener spezifische methodische Ansatz, der aus der klassischen Epoche der Feldforschung hervorgegangen ist. Der Fokussierung auf kleine und überschaubare Gruppen entspricht ein Blick von außen, der sich letztlich auch auf die kulturellen Selbstverständlichkeiten der eigenen Kultur richten sollte, im Sinne einer Selbstauslegung im Anderen. Dem stehen freilich im Moment noch die allzu eng gezogenen Grenzen entgegen, die aus der ursprünglich einmal sehr fruchtbaren, heute aber eher hinderlich wirkenden ethnologischen Repräsentationsdebatte der letzten beiden Dekaden hervorgegangen sind.
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Vgl. z. B. Patricia Spyer (Hg.): Border Fetishism. Material Objects in Unstable Spaces, New York, London 1998, und Bruno Latour: Pandora’s Hope. Essays on the Reality of Science Studies, Cambridge (Mass.), London 1999. Vgl. Heiner Goldinger: Rituale und Symbole der Börse. Eine Ethnographie, Münster, Hamburg 2002.
Islamwissenschaft und Religionswissenschaft Reinhard Schulze Ausgangsfrage Religionswissenschaft und Islamwissenschaft wurden zeitgleich zwischen 1900 und 1910 an deutschsprachigen Universitäten zu akademischen Disziplinen. Warum, so möchte ich fragen, wurde der Islam aus dem anfänglichen Kanon der Religionswissenschaft ausgeschlossen, so daß er einer eigenen Wissenschaft zugewiesen wurde. Welche Konsequenzen ergaben sich hieraus für die Deutungen des Islam? Ist es allein so, daß die drei monotheistischen Religionen für würdig erachtet wurden, eine eigene Disziplinarität zu entwickeln und daß alle anderen als Religion definierten Traditionen unter der systematischen Kategorie „Religion“ interpretiert wurden? Heute, hundert Jahre nach den akademischen Gründungsakten der Religions- und Islamwissenschaft scheinen die Grenzen zu schwinden. Kaum eine religionswissenschaftliche Institution verzichtet auf Forschungen und Lehre zum Islam und zum Judentum, und dennoch gibt es weiterhin eine von der Religionswissenschaft differente Islamwissenschaft und Judaistik. Während so die Religionswissenschaft Islam und Judentum in ihre Religionsdeutungen aufgenommen haben, beharren Islamwissenschaft und Judaistik auf disziplinäre Autonomie, die sie unter anderem damit begründen, daß Islam und Judentum eben nicht allein Religion seien, sondern sich durch ein Spezifikum auswiesen, daß sie von „Religion“ trenne. Dieses Spezifikum wird konventionell philologisch bestimmt: der Kanon islamischer und jüdischer Texte unterliege zunächst der philologischen Kritik. Doch schon im 19. Jahrhundert wurden thematische Spezifikationen hinzugefügt: für das Judentum galt das Merkmal der Ethnizität, für den Islam das Merkmal einer alle Lebensbereiche definierenden normativen Ordnung. Judentum und Islam seien so nicht Religion im engeren Sinne des Wortes, sondern „Kulturen“, in denen es auch eine religiöse Komponente gebe. Beide Traditionen könnten so nicht als Paradigmen des Religiösen verstanden werden, daher seien
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sie auch nicht primär durch die Religionswissenschaft zu bearbeiten. Die Kompetenz zur Befassung mit dem Islam und dem Judentum obliege allein jenen akademischen Traditionen, die den Islam und das Judentum als eigenständige kulturelle und geschichtlich gewordene „Wesen“ anerkennten und die über den philologischen Sachverstand verfügten, die Texte dieser Kulturen einer sachgerechten Interpretation zuzuführen. Die Religionswissenschaft ihrerseits, die erst seit den 1950er Jahren den Islam und das Judentum in den Blick nehmen sollte, begnügte sich oftmals mit Ausschnitten aus diesen Traditionen, um zum Beispiel religionsphänomenologische Annahmen zu bestätigen. Die akademische Differenzierung zwischen Religionswissenschaft und Islamwissenschaft/Judaistik begründete eine prinzipielle Unterscheidung zwischen Religion auf der einen und Islam beziehungsweise Judentum auf der anderen Seite. Die akademische Autonomie von auf das Judentum und den Islam bezogenen Wissenschaften ging aber noch über diese Differenzierung hinaus. Indem beide Traditionen aus dem Kanon systematischer Disziplinen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts herausgehalten wurden, erfüllten sie zugleich die Erfordernisse der Systematik, die auf ihren „Gegenstand“ bezogen wurde. Islamwissenschaft und Judaistik waren bis in die 1970er Jahre zugleich Philologie, Geschichte und Sprachwissenschaft. Dann traten hinzu: Soziologie, Politologie, Literaturwissenschaft und schließlich sogar Religionswissenschaft. Das heißt, die Islamwissenschaft (und weniger ausgeprägt Judaistik) wurde verstanden als eine Disziplin, die sich aus mehreren systematischen Perspektiven ihrem „Gegenstand“, eben dem Islam, näherte. Die methodologische und epistemologische Grundlegung der Islamwissenschaft in der Philologie wurde explizit oder implizit vorausgesetzt. Im folgenden möchte ich den Prozeß nachzeichnen, der zu dieser Differenzierung führte. Es handelt sich also weder um eine Studie zur Geschichte der Orientalistik1 noch um einen Bericht über die akademische 1
Die Literatur hier ist umfangreich. Ich nenne vertretend für andere Titel Johann Fück: Die Arabischen Studien in Europa bis in den Anfang des 20. Jahrhunderts, Leipzig 1955; Baber Johansen: Politics, Paradigms and the Progress of Oriental Studies: The German Oriental Society (Deutsche Morgenländische Gesellschaft) 1845–1989, in: MARS (Le monde arabe dans la recherche scientifique), Institut du monde arabe, 4 (1995), S. 79–94; Christoph Helm: Aspekte orientwissenschaftlicher Forschung in Halle, in: Orientwissenschaftliche Hefte 1 (2001), S. 1–13; Ludmila Hanisch: Ausgegrenzte Kompetenz. Porträts vertrie-
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Etablierung einer neuen Religionswissenschaft.2 Ich werde zu zeigen versuchen, daß der Islamwissenschaft – zur Judaistik werde ich mich nur in Einzelfällen äußern können – eine Heuristik unterlag, die den Islam als prinzipielle Differenz definierte. Zudem möchte ich untersuchen, welche Auswirkungen diese Differenzierung auf zeitgenössische islamische Selbstdeutungen gehabt hat und in welchem Umfang in diesen Selbstdeutungen die Anliegen nichtmuslimischer Islamdeutungen aufgenommen wurden. Hintergründe Während die Bezeichnung Islamwissenschaft erst um 1879/1886 lexikalisch fixiert wurde, ist der Begriff Religionswissenschaft über 100 Jahre älter.3 Allerdings bezeichnete er seit dem 18. Jahrhundert sehr unterschiedliche Sachverhalte. Im 18. Jahrhundert war es beliebt, mit Religi-
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bener Orientalisten und Orientalistinnen 1933–1945, in: Orientwissenschaftliche Hefte 1 (2001), S. 15–141; Ludmila Hanisch: Die Nachfolger der Exegeten. Deutschsprachige Erforschung des Vorderen Orients in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Wiesbaden 2003; Sabine Mangold: Eine „weltbürgerliche Wissenschaft“. Die deutsche Orientalistik im 19. Jahrhundert, Stuttgart 2004; Ekkehard Ellinger: Deutsche Orientalistik zur Zeit des Nationalsozialismus 1933– 45, Edingen-Neckarhausen 2006; Abbas Poya, Maurus Reinkowski (Hg.): Das Unbehagen in der Islamwissenschaft. Ein klassisches Fach im Scheinwerferlicht der Politik und der Medien, Bielefeld 2008; Ursula Wokoeck: German Orientalism. The study of the Middle East and Islam from 1800 to 1945, London, New York 2009. Die Religionswissenschaft hatte sich schon in ihrer Gründerzeit historisch vergewissert, siehe z. B. Edmund Hardy (1852–1904): Zur Geschichte der vergleichenden Religionsforschung, in: Archiv für Religionswissenschaft 4 (1901), S. 45–66, 97–135, 193–228. Hardy war Sanskritist. Außerdem Louis H. Jordan: Comparative religion. Its genesis and growth, Edinburgh 1905; Gustav Mensching: Geschichte der Religionswissenschaft, Bonn 1948; seitdem ist sehr viel zur Geschichte der Religionswissenschaft geschrieben worden, hervorzuheben ist Kurt Rudolph: Geschichte und Probleme der Religionswissenschaft, Leiden 1992. Für diesen Kontext besonders relevant ist Hans G. Kippenberg: Die Entdeckung der Religionsgeschichte. Religionswissenschaft und Moderne, München 1997. Gunther Stephenson: Geschichte und Religionswissenschaft im ausgehenden 18. Jahrhundert, in: Numen 13 (1966), S. 43–79.
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onswissenschaft eine spezifische Rede und Lehre über christliche Religion anzusprechen. Johann Mattias Schröckh (1733–1808) von der Universität Wittenberg zum Beispiel sah in der Apologetik des Augustinus eine „christliche Religionswissenschaft“.4 In diesem Sinne war Religionswissenschaft lange Zeit synonym mit Theologie,5 weshalb Abraham Geiger beklagt, daß „die christliche Religionswissenschaft keine Ahnung von der mächtigen Geistesbewegung hat, welche zu allen Zeiten im Schoose des Judenthums geherrscht und mit bewundernswerther Kraft sich eben wieder innerhalb des letzten Vierteljahrhunderts geltend gemacht hat.“6 Diese eher negative Perspektive zeigte sich auch dort, wie beklagt wurde, daß die Kirchenväter eben nichts anderes als Theologie betrieben hätten, statt sich auch den Wissenschaften zuzuwenden. Johann Traugott Plant (1756–1794), der maßgeblich an der Popularisierung von Kenntnissen über die osmanische Staats- und Hofkultur beigetragen hatte,7 meinte: „Die Lehrer der christlichen Religion verbreiten sich über keine andere Wissenschaften und Kenntnisse, als bloß die Religionswissen4
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Johann Matthias Schröckh: Christliche Kirchengeschichte, Band VII, Leipzig 1785, S. 311. So noch der Hallenser Theologe Julius Müller (1801–1878): Die christliche Lehre von der Sünde, Band 1, 5. Aufl., Breslau 1867, S. 25. Bei Johann Traugott Leberecht Danz: Encyklopädie und Methodologie der theologischen Wissenschaften, Weimar 1832, hingegen tritt „christliche Religionswissenschaft“ komplementär zu „christliche Theologie“. Abraham Geiger: Das Judenthum und seine Geschichte. Von der Zerstörung des zweiten Tempels bis zum Ende des zwölften Jahrhunderts, 2. Abtheilung, Breslau 1865, S. 176. Johann Traugott Plant: Türkisches Staats-Lexicon oder vollständige und wahre Erklärungen aller türkischen Staats- und Hofbedienungen, Hamburg 1789; Plant publizierte auch eine deutsche Version der islamischen Dogmatik von anNasafi unter dem irreführenden Titel: Birghilu risale oder Elementarbuch der muhammedanischen Glaubenslehre: nach dem Arabischen des Nedschmuddin Omar Nessefy. Nebst Komm. u. erklärenden Zusätzen, Istanbul, Genf 1790, die dann nochmals im selben Jahr in Ratiopolis [Genf] unter dem Titel „Ist die muhammedanische Religion an sich böse und verwerflich? Hat sie Aehnlichkeiten mit der christlichen? Verdient sie nach der christlichen den ersten Rang?“ anonym nachgedruckt wurde. Allerdings handelt es sich nicht, wie auch schon ein Rezensent in der Allgemeinen Literatur-Zeitung 1 (1792) 72, S. 565–566, feststellte, nicht um die Dogmatik des osmanischen Puritaners Mehmed Pir Ali Birgivi (1522–1573), sondern um eben die Dogmatik von Najm ad-Din Umar anNasafi (gest. gegen 1142) mit einem Kommentar von at-Taftazani (gest. 1389).
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schaft.“8 Tatsächlich hatten in den entwicklungstheoretischen Begründungen der Religion von Hume bis Hegel Referenzen auf das Judentum oder gar den Islam keinerlei bedeutsame Rolle gespielt.9 Aber es ging ja nicht um eine Religionsanalyse vor dem Hintergrund realer Traditionen. Der Grundauftrag der spekulativen Religionswissenschaft bestand, wie der Gießener protestantische Hegelianer und rührige Bibliothekar Ludwig Noack (1819–1885) vermerkte, darin, „den Begriff Religion abzuleiten“ und Sachverhalte auf den Begriff Religion zu bringen.10 Noack feierte daher Hegel als „den Begründer der philosophischen Religionswissenschaft in dem Sinne, daß dieselbe die Religion überhaupt in ihrer geschichtlichen Wirklichkeit zu begreifen und aus der Erkenntnis des geschichtlichen Entwicklungsganges der Religion ihre Wahrheit, d. h. ihren vernünftigen Gehalt, zu ermitteln hat.“11 Zugleich aber grenzte er sich von ihm deutlich ab: „Nachdem durch Hegel die Einheit der Religion und Philosophie verkündet und sofort im Gebiete der Theologie die Versöhnung von Philosophie und Theologie darzustellen begonnen worden, könnte es scheinen, als ob mit der wissenschaftlichen Form, welche Theologie und Religionsgeschichte durch Hegel und die Hegel’sche Schule erhalten haben, die Religionswissenschaft im Wesentlichen ihre Vollendung erreicht habe, so daß sie nur noch in den einzelnen Partieen der Bereicherung, concreteren Durchführung des Prinzips und größerer formellen Ausbildung fähig und bedürftig erschiene, in der Anschauung ihrer ideellen wissenschaftlichen Totalität aber zu vollständiger Abrundung gelangt wäre. Diese Voraussetzung, welche zur Ueberzeugung der Schule geworden ist, erscheint jedoch als unbegründet. Die bestimmte Gestallt der Hegel’schen Religionsphilosophie und Theologie, der Ausdruck, welchen die Religionswissen8
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Johann Traugott Plant: Chronologischer biographischer und kritischer Entwurf einer Geschichte der teutschen Dichtkunst und Dichter von den ältesten Zeiten bis aufs Jahr 1782, Erster Theil, Stettin 1782, S. 35 f. Theologische Deutungen des Islam behandeln aus einer protestantischen Sicht ausführlich Reinhard Leuze: Christentum und Islam, Tübingen 1994, und Arnulf von Scheliha: Der Islam im Kontext der christlichen Religion, Münster 2004, S. 46 ff. zu Leuzes Deutungen; zu Hegel auch Reinhard Leuze: Die außerchristlichen Religionen bei Hegel, Göttingen 1975. Diese Texte sind weniger historisch als systematisch-theologisch ausgerichtet. Systematischer Bezugspunkt ist für Leuze der Offenbarungsbegriff. Ludwig Noack: Die speculative Religionswissenschaft im encyclopädischen Organismus ihrer besonderen Disciplinen, Darmstadt 1847, S. 62 f. Ludwig Noack: Propädeutik der Philosophie. Einleitung in die Philosophie und Encyclopädie der philosophischen Wissenschaften, Weimar 1854, S. 67.
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schaft innerhalb der Hegel’schen Schule erhalten hat, entspricht nicht der Idee dieser Wissenschaft als einer wahrhaft speculativen; vielmehr ist damit recht eigentlich und principiell das Wesen der Religionswissenschaft als Philosophie der Religion geradezu aufgehoben und vernichtet, sofern es hier als deren letzte und höchste Aufgabe erscheint, aufzuzeigen, wie die Religion im absoluten Wissen aufgehe und untergehe, indem die Philosophie als das Höhere an die Stelle trete.“12
Noacks Forderung, die Religion durch philosophische Spekulation auf den Begriff zu bringen, verlangte nicht den Einbezug anderer als Religionen erachteter Traditionen. Die auch von Noack angenommene „Urreligion“ habe keine Geschichte; sie sei, wie er in seinem zweibändigen Werk „Das Buch der Religion“ von 1850 entfaltete, ein Prinzip, das in jedem Volk als „positive Religion“13 wirke und sich geschichtlich entfalte. Vehement wandte er sich gegen Annahmen, dieser „Urreligion“ eine geographische Heimat zu geben.14 Religion habe also keine Geschichte, sie trete nur in der Geschichte auf, und in der Entwicklungsgeschichte verwirkliche sich der religiöse Geist der Menschheit. Diese zeige sich in der Betrachtung der Religionsgeschichte der „Wilden“, „Chinesen“, „Inder“, Ägypter“, „Semiten“ [gemeint sind die Chaldäer etc.], „Perser“, „Griechen“, „Römer“ und der „nordischen Germanen“. Dann erst tauchen am Schluß des ersten Bandes die Juden [Israeliten] auf. Der zweite Band ist ganz der Geschichte des Christentums gewidmet, und nur hier im Kontext der Geschichte der katholischen Kirche nach Papst Gregor findet sich ein kleines Kapitel zu „Muhammed und der Islam“. Noack versteht den Islam als Ausdruck einer entwicklungsgeschichtlichen Sackgasse, da er das „religiöse Prinzip“ nur relativ zu den „Naturreligionen“ der Semiten entfaltet habe und daher auf einer sehr viel niedrigeren Stufe als Judentum und Christentum stünde. Zugleich verstand er den Islam als „die von der orientalischen Naturreligion ausgehende Gegenwirkung gegen ein entartetes, sittlich entnervtes, nur in dogmatischen Formeln und Spitzfindigkeiten sich bewegendes Christenthum, wie solches in der 12
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Ludwig Noack: Die speculative Religionswissenschaft im encyclopädischen Organismus ihrer besonderen Disciplinen (wie Anm. 10), S. 32. „Positiv ist [. . .] die Religion überhaupt schon als ein im Wesen des Geistes nothwendig gesetztes und wesentlich begründetes Verhältniß“; Ludwig Noack: Das Buch der Religion oder der religiöse Geist der Menschheit in seiner geschichtlichen Entwicklung, 2 Bände, hier Band 1, Leipzig 1850, S. 48. Ebd., S. 46.
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orientalischen und byzantinischen (griechischen) Kirche damals herrschte.“15 Das Privileg des entwicklungsgeschichtlichen Telos der Religion gehört natürlich dem Christentum, und zwar in seiner protestantischen Gestalt: „Der deutsche Geist hat die Aufgabe übernommen, diese Wiedergeburt des Christenthums aus seinen vergangenen einseitigen Erscheinungs- und Entwickelungsformen theoretisch und praktisch zu vollziehen und die innerst eigne Tendenz des Christenthums, den Humanismus oder die humane Religion, an’s Licht der Wirklichkeit zu bringen. Es ist noch übrig gewesen, nach den vorher gedachten Leistungen der Kritik und Philosophie der Religion, den Versuch zu machen, das aus seinen geschichtlichen Umhüllungen befreite Christenthum nun auch in seiner reinen Gestalt, d. h. als Princip, hinzustellen und zugleich dieses in der eigenthümlich originalen Fassung des ursprünglichen Christenthums selbst festzuhalten, damit die Einheit des wesentlichen Zusammenhanges zwischen der vergangenen Entwickelung und der gegenwärtigen Ausbildung des Christenthums zur humanen Religion wirklich gewonnen werden kann. Mit Einem Worte: es muß der geschichtliche Faden aufgezeigt werden, der den Humanismus mit der ganzen weltgeschichtlichen Erscheinung des Christenthums verknüpft.“16 Noack sei hier nur als ein Beispiel eines dominanten Diskurses genannt, der zwischen 1830 und 1850 Religionswissenschaft im Sinne von Religionsphilosophie und Religionsgeschichte in Beziehung brachte. Über Hegels Deutungsschema kam man damals kaum hinaus. Die historische Betrachtungsweise tradierte so die alte „Religionsgeschichte“ genannte Kirchen- und Sektengeschichte des 18. Jahrhunderts, die auch zeitgenössische Diskussionen berücksichtigen konnte17 und bisweilen sogar nichtchristliche Traditionen einbezog.18 Als Ursprungsgeschichte wurde „Religionsgeschichte“ vor allem seit den 1830er Jahren gedacht.19 15
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Ludwig Noack: Das Buch der Religion oder der religiöse Geist der Menschheit in seiner geschichtlichen Entwicklung, Band 2, Leipzig 18, S. 102–110, hier S. 110. Ebd., S. 302. Christian Wilhelm Franz Walch (Hg.): Neueste Religions-Geschichte, Achter Theil, Lemgo 1781, z. B. befaßte sich ausführlich mit der causa Isenbiehl. Z. B. fabulierend Christoph Meiners (1747–1810): Versuch über die Religionsgeschichte der ältesten Völker besonders der Egypter, Göttingen 1775. Z. B. [Leopold] Zunz: Die gottesdienstlichen Vorträge der Juden – histo-
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Mythologie Die eigentliche Wende hin zu einer Religionsgeschichte, die ihre Wissenschaftlichkeit nicht aus der Religionsphilosophie ableitete, erfolgte durch die Bezugnahme der Religion auf die Mythologie.20 Drei Redeweisen über den Mythos dominierten um 1800: die historisch-philologische der „mythischen Schule“ um Christian Gottlob Heyne (1729–1812), Johann Gottfried Eichhorn (1752–1827) und Johann Philipp Gabler (1753–1826), die hermeneutisch-exegetische um de Wette, Creuzer und Strauß, und die philosophisch-spekulative um Schelling, Hölderlin und Friedrich Schlegel und im Nachgang Hegel. Letztere aber betonte erst die Differenz zwischen Religion und Mythos, indem sie Religion auf Offenbarung und den Logos bezog und Mythos nicht bloß als bestimmte Form der Narration begriff, sondern als prinzipiellen Gegenbegriff zum Logos überhaupt. Gewiß hatten schon Eichhorn, Heyne und besonders Ferdinand Christian Baur (1792–1860) den Mythos mit „Vielgötterey“ in Beziehung gesetzt, und Johann Jakob Hess (1741–1828) formulierte ausdrücklich: „Nun ist das Verhältnis zwischen Religion und Mythologie folgendes: Vielgötterey hat nicht nur ihrer Natur nach Mythisches, sondern sie ist in ihrem Ursprung sowohl als in ihrem Fortgange
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risch entwickelt. Ein Beitrag zur Alterthumskunde und biblischen Kritik, zur Literatur- und Religionsgeschichte, Berlin 1832; Ferdinand Christian Baur: Appolonius von Tyana und Christus oder das Verhältnis des Pythagoreismus zum Christenthum. Ein Beitrag zur Religionsgeschichte des ersten Jahrhunderts nach Christus, Tübingen 1832. Bemerkenswert ist, daß in den 1840er Jahren „Religionsgeschichte“ zum Schlagwort für die Befassung mit der Geschichte des Christentums in Schulbuchreihen wurde: protestantisch: Karl Eckermann (1779–1849): Lehrbuch der Religionsgeschichte und Mythologie der vorzüglichsten Völker des Alterthums, Halle 1848; katholisch: Carl Barthel: Religionsgeschichte vom katholischen Standpunkte aus für höhere Schulanstalten verfaßt, 4. Aufl., Breslau 1843. Hierzu gibt es eine umfangreiche Literatur. Ich nenne nur: Christian Hartlich, Walter Sachs: Der Ursprung des Mythosbegriffs in der modernen Bibelwissenschaft (Schriften der Studiengemeinschaft der evangelischen Akademien, Band 2), Tübingen 1952; Jan de Vries: Forschungsgeschichte der Mythologie, Freiburg i. Br. 1961; Otto Merk: Das Problem des Mythos zwischen Neologie und ‚religionsgeschichtlicher Schule‘ in der neutestamentlichen Wissenschaft, in: ders.: Wissenschaftsgeschichte und Exegese. Gesammelte Aufsätze zum 65. Geburtstag, Berlin 1998, S. 24–46.
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Mythologie selbst.“21 Doch ganz im Sinne ihrer Stufenlehre war Mythos prähistorisch und durch Offenbarung abgelöst. Er hatte also keine Aktualität und keine Relevanz für die Erkenntnisfähigkeit des modernen Menschen. Er war schlicht ein Instrument und ein Objekt der Exegese und philologischen Kritik. Die spekulative Mythologie aktualisierte hingegen den Mythos: „Monotheismus der Vernunft und des Herzens, Polytheismus der Einbildungskraft und der Kunst, dies ist’s, was wir bedürfen!“ heißt es im sogenannten „ältesten Systemprogramm des deutschen Idealismus“, einem Textfragment, das Hölderlin oder eher Schelling, kaum aber Hegel selbst, zugeordnet werden kann und wohl im Sommer 1796 verfaßt wurde. Logos und Mythos, Mythologie und Philosophie sollten fusioniert werden: „Zuerst werde ich hier von einer Idee sprechen, die, soviel ich weiß, noch in keines Menschen Sinn gekommen ist – wir müssen eine neue Mythologie haben, diese Mythologie aber muß im Dienste der Ideen stehen, sie muß eine Mythologie der Vernunft werden. // Ehe wir die Ideen ästhetisch, d. h. mythologisch machen, haben sie für das Volk kein Interesse; und umgekehrt, ehe die Mythologie vernünftig ist, muß sich der Philosoph ihrer schämen. So müssen endlich Aufgeklärte und Unaufgeklärte sich die Hand reichen, die Mythologie muß philosophisch werden und/um22 das Volk vernünftig, und die Philosophie muß mythologisch werden, um die Philosophen sinnlich zu machen.“23 Es galt also, die Mythologie für die Idee in Dienst zu nehmen. Diese „neue Mythologie“ gründete auf einer Emphase des Mythos als schöpferische Kraft und Mittler für die Bezugnahme des Menschen auf die sich in und durch den Menschen selbst offenbarende Natur beziehungsweise auf Gott. Die Parallele zu Hegels sich selbst offenbarender absoluter Idee ist augenfällig. Als Philosophie gedacht war die Mythologie „vernünftig“, also keinesfalls anti-rational, und daher war sie auch philosophiefähig. Diese Deutung 21
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Johann Jakob Hess: Bibliothek der heiligen Geschichte. Beyträge zur Beförderung des biblisches Geschichtsstudiums, mit Hinsicht auf die Apologie des Christenthums, Band II, Zürich 1792, S. 211. So Ludwig Strauss: Hölderlins Anteil an Schellings frühem Systempropgramm [1927], in: ders.: Schriften zur Dichtung (Gesammelte Werke 2, hrsg. von Tuvia Rübner), Göttingen, 1998, S. 95–149, hier S. 96 Franz Rosenzweig: Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus. Ein handschriftlicher Fund, in: Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-Historische Klasse, Heidelberg 1917, Heft 5, S. 3–30, hier S. 6.
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wurde bald auf theologische Schemata bezogen und mit Begriffen wie Pantheismus (Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Münchner und Berliner Vorlesungen, v. a. seit 1828) oder Panentheismus (Karl Christian Friedrich Krause [1781–1832], Göttinger Vorlesungen 1824–1830) belegt und in die Philosophiegeschichte projiziert (v. a. Spinoza). Die spinozistische und dann pantheistische Lesung des republikanischen Freiheitsideals konzipierte den Mythos „fortschrittlich“ und unterfütterte ihn mit einer gegen die (protestantische) Orthodoxie gerichteten Deutung. Zugleich verwies der Pantheismus auf die zu erforschende Natur, wodurch der Mythos fast den Status einer „Natürlichkeit“ und „Ursprünglichkeit“ erhielt. Die Natur (und damit der Mythos) konnten nun theologisch gefaßt werden.24 Die romantische Indienstnahme des Mythos bedeutete für die historisch-philologischen Forscher eine deutliche Aufwertung ihres Status. Altertumswissenschaft und biblische Kritik waren nicht mehr nur ästhetischen, antiquarischen oder theologisch-exegetischen Begründungen unterworfen, sondern wurden Teil, ja Quelle einer modernen Weltdeutung. Knappe Verweise auf Schelling und Hegel genügten oft, um die historisch-philologischen Forschungen zum Mythos „anschlußfähig“ zu machen. Der unterschwellige Sinn des Mythos (vornehmlich die Begründung „nationaler Culturen“) erwies sich auch hier als maßgeblich. Anders aber als die romantischen Mythos-Enthusiasten verstanden sich die Philologen meist als „Realisten“, die von den facta ausgingen. Die Philologen der 1820er Jahre blickten ja noch mehr nach Paris als nach Berlin. Für sie war Silvestre de Sacy (1758–1838) wichtig. Wilhelm Freytag, Johann Gottfried Ludwig Kosegarten, Heinrich Leberecht Fleischer und Gustav Weil hatten bei ihm studiert. Durch ihn wurden sie in jene französische Theorie eingeführt, die auf einer Zuordnung der positiven facta zu „allgemeinen Regeln“ („les règles générales de la metaphysique du langage“) im Sinne der jansenistischen Grammaire générale von Port-Royal (1660) beruhte. Philologie war somit im Sinne von de Sacy eine science positive. Das bedeutete aber nicht, 24
Nicht ohne Einfluß war hier William Paley (1743–1805): Natural Theology, or Evidences of the Existence and Attributes of the Deity, Collected From the Appearances of Nature, London 1802, das in zahllosen Auflagen erschien. Deutsche Übersetzer machten daraus vielfach eine „Theologie der Natur“, cf. die Zusammenfassung des „transcendentalen Pantheisten“ Carl Fortlage (1806– 1881): Darstellung und Critik der Beweise fürs Daseyn Gottes, Heidelberg 1840, S. 217–237.
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daß die deutschen Philologen später zu Positivsten im Sinne Auguste Comtes werden sollten. Hier setzte sich stattdessen jene – überspitzt gesagt – „deutsche Theorie“ durch, die vom Vergleich der Entitäten ausging. Leibniz war dann auch bedeutsamer als Descartes. Die individuellen facta sollten mit spezieller Hinsicht auf ihr gegenseitiges Verhältnis betrachtet werden. Primäres factum war die Sprache, die als das ursprüngliche Klassifikationsschema der Menschheit angesehen wurde. Die Anthropologie sollte historisch von der Sprache her und nicht von physiognomischen, anatomischen oder anderen Formbestimmungen beziehungsweise von einer vergleichenden Charakterkunde25 her entwickelt werden. Hier zeigte sich deutlich die Wirkung von Herder, der seinerseits Leibniz als Liebhaber des Vergleichs bezeichnet hatte. Sprache sei, wie Wilhelm von Humboldt bemerkte, „Gestaltung der nationalen Geisteskraft“, Ziel der Forschung sei „die Betrachtung des Zusammenhanges der Sprachverschiedenheit und Völkervertheilung mit der Erzeugung der menschlichen Geisteskraft, als einer sich nach und nach in wechselnden Graden und neuen Gestaltungen entwickelnden, insofern sich diese beiden Erscheinungen gegenseitig aufzuhellen vermögen.“26 Zwar begnügten sich die meisten Philologen mit einer Bearbeitung, Rekonstruktion oder Restauration der facta (also der Texte), doch bezogen sie ihre Forschung implizit oder explizit auf die Idee der Verwandtschaft als Metatheorie. Begriffe, die ein solches Verwandtschaftsverhältnis bezeichneten, dienten als Erklärungskategorien (Stamm, Vater, Mutter, Cousin etc.). „Entwicklungsstufen“ („Culturstufen“) wurden als Lebenszeit ausgedeutet. Die Metaphorisierung der Cultur als Lebenszeit war generell üblich. Schiller formulierte sie wie folgt: „Ueber den Gesichtspunkt mit Ihnen einig, aus welchem der Werth einer Wissenschaft zu bestimmen ist, kann ich mich dem Begriff der Universalgeschichte selbst, dem Gegenstand der heutigen Vorlesung, nähern. // Die Entdeckungen, welche unsere europäischen Seefahrer in fernen Meeren und auf entlegenen Küsten gemacht haben, geben uns ein eben so lehrreiches als unterhaltendes Schauspiel. Sie zeigen uns Völkerschaften, die auf den mannigfaltigsten Stuffen der Bildung 25
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Wilhelm von Humboldt: Plan einer vergleichenden Anthropologie [1797], in: ders.: Schriften zur Anthropologie und Geschichte, Darmstadt 1960, S. 305– 339. Wilhelm von Humboldt: Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluß auf die geistige Entwickelung des Menschengeschlechts, Berlin 1836, S. 2 f.
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um uns herum gelagert sind, wie Kinder verschiednen Alters um einen Erwachsenen herum stehen, und durch ihr Beyspiel ihm in Erinnerung bringen, was er selbst vormals gewesen, und wovon er ausgegangen ist. Eine weise Hand scheint uns diese rohen Völkerstämme bis auf den Zeitpunkt aufgespart zu haben, wo wir in unserer eignen Kultur weit genug würden fortgeschritten seyn, um von dieser Entdeckung eine nützliche Anwendung auf uns selbst zu machen, und den verlohrnen Anfang unsers Geschlechts aus diesem Spiegel wieder herzustellen. Wie beschämend und traurig aber ist das Bild, das uns diese Völker von unserer Kindheit geben! und doch ist es nicht einmal die erste Stufe mehr, auf der wir sie erblicken. Der Mensch fieng noch verächtlicher an. Wir finden jene doch schon als Völker, als politische Körper: aber der Mensch mußte sich erst durch eine außerordentliche Anstrengung zur politischen Gesellschaft erheben.“27 Wie es nun Sprachstämme gab, gab es auch „Culturstämme“28 – eine Bezeichnung, die sich im Gegensatz zu „Sprachstamm“ aber erst um 1850 durchsetzen konnte. Der Grammatiker und Lexikograph Adelung benannte schon eine ganze Familie von Sprachstämmen, mit Töchtern, Cousins und Enkeln.29 Vorlage für die Ausdeutung von sprachlichen und culturellen Verwandtschaftsverhältnissen war natürlich die biblische genealogische Narration, die mit „Völkerstämmen“ identifiziert wurde. Deckungsgleich waren diese Sprach- und Völkerstämme aber nicht unbedingt. Vielfach ging man ja um 1800 von der Existenz einer „kaukasischen Varietät“, so der damals maßgebliche Göttinger Naturkundler Johann Friedrich Blumenbach (1752–1840)30, aus, die die Gesamtheit europäischer,
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Friedrich Schiller: Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? [Jenaer Antrittsvorlesung 26.5.1789], Jena 1789, S. 11–12. Z. B. Johann Daniel Braunschweig: Umrisse einer allgemeinen Geschichte der Völker: Für Staats- und Geschäftsmänner in Grundzügen entworfen, Leipzig 1833, S. 144, zu den „semitischen Chasdim [sic!] und Chaldäern“ als erstem „Culturstamm“ in Babylon. Johann Christoph Adelung: Mithridates oder allgemeine Sprachenkunde mit dem Vater Unser als Sprachprobe in beynahe fünfhundert Sprachen und Mundarten, hrsg. von Johann Severin Vater, IV Bände, Berlin, Band I (1806) zu Sprachen in Asien, Band II (1809) zu den „europäischen Sprachen“, Band III (1812) zu Sprachen in Afrika, Band IV (1817) Nachträge zu Band I. Johann Friedrich Blumenbach: De generis humani varietate nativa liber, Göttingen 1781.
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semitischer und persischer Sprachen umfaßte.31 Die Untersuchungen zu „Sprachstämmen“ differenzierte somit Völkerverwandtschaft und schuf neue Grenzen, die dann wieder neue Völkerverwandtschaften definierte. Den primären Rahmen des Vergleichs bildeten weiterhin die altertumsrelevanten Sprachen; mit Franz Bopps Studie zum Konjugationssystem des Sanskrit (1816) wurde die Erkenntnis von William Jones über den Zusammenhang des Sanskrit mit dem Griechischen und dem Lateinischen systematisiert, sodaß allmählich die Vorstellung einer ursprünglichen Sprachgemeinschaft (dann u. a. Indogermanisch genannt32) entstand.33 Der Vergleich führte so nicht nur zu einer typologischen Klassifikation, sondern auch zu einer Art Gemeinschaftsbildung und Verwandtschaftsbestimmung. Damit war ein Gegengewicht geschaffen zu 31
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Johann Friedrich Blumenbach: Charte zur Übersicht der vorzüglichsten Varietäten des Menschen nach dem Blumenbachschen Systeme in: Allgemeines Archiv für Ethnographie und Linguistik 1 (1808), S. 29. Diese Bezeichnung geht auf den dänischen Geographen Conrad Malte-Brun (1775–1826) zurück (Précis de la géographie universelle, tome II, nouv. éd. Paris 1832, S. 660 f. [1. Ed. 1810, S. 577]) und wurde von Heinrich Julius von Klaproth (1783–1835) 1823 verdeutscht. Es gab aber keinen Konsens bezüglich dieser Bezeichnung. Andere Vorschläge waren „indoeuropean“ (Thomas Young, 1813), „indisch-teutsch“ (1826), „sanskritisch“ (Wilhelm von Humboldt, 1827), „indokeltisch“ (1840) und andere mehr. Auf „Arier“ bezogen wurde diese Verwandtschaftbezeichnung erstmals durch G. I. Ascoli („arioeuropeo“, 1854) und Friedrich Max Müller („aryan“, 1861). Versuche mit einem biblischen Namen („japetisk“, Rasmus Christian Rask 1815) konnten sich nicht durchsetzen. Heinrich Julius von Klaproth: Asia polyglotta, Paris 1823, S. ix, seinerseits wandte sich entschieden gegen eine Gleichsetzung der „allgemeinen Verwandtschaft der Sprachen mit der Stammverwandtschaft“. Bekanntermaßen waren die ersten, die eine solche Sprachverwandtschaft postuliert hatten, die Leidener Gelehrten Abraham van der Myle (1563–1637), Claudius Salmasius (1588–1653) in seinem „De Hellenistica commentarius, controversiam de lingua Hellenistica decidens et plenissime pertractans originem et dialectos Graecae linguae“ (1643), Marcus Zuërius van Boxhorn (1602/1612–1653) in mehreren seiner Schriften, u. a. in seinem Büchlein „C. Cornelii Taciti quae exstant“ (neue Ed., Amsterdam 1653, S. 76) und „Originum gallicarum liber in que veteris et nobilissimae Gallerum gentis origines, antiquitates, mores, lingua et alia eruuntur et illustrantur“ (Amsterdam 1656, S. 86–88), sowie Gerardus Joannes Vossius (1577–1649). Sie bezeichneten die Verwandtschaft als „skytisch“ (Boxhorn mit Einschluß des Sanskrit). Dabei anerkannten sie – im Anschluß an Johann Elichmann, der in Isfahan als Hofarzt gewirkt hatte (1640) –, daß diese
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den Vorstellungen einer semitischen Sprachenwelt, die schon der Göttinger Historiker und Journalist August Ludwig Schlözer (1735–1809) beiläufig angesprochen hatte und die dann von Eichhorn ausgearbeitet wurde („Die Sprache, welche die Hebräer redeten, und in der das A.T. abgefaßt ist, war ein Dialekt der weit ausgebreiteten Semitischen Sprache“34). Diese Gegenwelt wurde mittels der „historisch-kritischen Methode“ des Sprachvergleichs als „positiv Gegebenes“ nun auch aus dem Mythos abgeleitet, sodaß eine Sinneinheit Sprache und Mythos entstand. Dies beförderte natürlich eine Enthellenisierung der Mythologie, die im frühen 19. Jahrhundert populär wurde. Man erkannte „Naturstaaten“ wie die der „Germanen“, die mythisch begründet gewesen seien,35 und man differenzierte: „In der Darstellung ihrer Religionsalterthümer habe ich mich bestrebt die reine Germanische Mythologie von dem vielen fremdartigen was aus der Slavischen, Celtischen und zum Theil Nordischen und Scytischen sich in dieselbe eingemischt, abzusondern und den Einfluß derselben, welchen sie auf den Charakter der Germanen und selbst in der Folge auf das Christentum Deutschlands hatte zu bemerken.“36 Dem „Norden“, den schon Herder emphatisch beschworen hatte, wurde die Erneuerung des Christentums zugesprochen, er selbst wurde als Krone der Christenheit gefeiert. Die Klage, den Deutschen würde der Mythos fehlen, wurde von den Gebrüdern Grimm vehement zurückge-
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Verwandtschaft ex eadem origine sei, also auf einem gemeinsamen Ursprung beruhe. Anders als William Jones in seinen Vorlesungen von 1786 schlossen sie aber das Japanische und Chinesische (und Boxhorn auch das Türkische) aus der Verwandtschaft aus. Den epistemologischen Hintergrund bildeten die spekulativen Annahmen von Descartes und Leibniz. Zum Hintergrund Kees Dekker: The Origins of Old Germanic Studies in the Low Countries, Leiden 1999, S. 205– 230. Während Elichmann mit seiner persischen Grammatik bekannt blieb, geriet die Annahme von Salmasius und Boxhorn bald in Vergessenheit (mit Ausnahmen: in Schottland war die Skythenthese noch um 1794 bekannt, z. B. in John Pinkerton: An Enquiry into the History of Scotland, II volumes, London 1794, volume II, S. 111 f.). In Deutschland wurde Boxhorn erst um 1870/1880 wiederentdeckt. Johann Gottfried Eichhorn: Einleitung in das Alte Testament, Band I, Leipzig 1803, S. 48–51. Ich denke da an Peter Feddersen Stuhr (1787–1851) und sein Buch Feodor Eggo [Pseud.]: Der Untergang der Naturstaaten, dargestellt in Briefen über Niebuhr’s Römische Geschichte, Berlin 1812. Karl Gottlob Rössig (1752–1806): Die Altherthümer der Deutschen in einem ausführlichen Handbuche dargestellt, Leipzig 1801, S. iv.
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wiesen. Die Philologie sollte sich bald dieser Klassifikation anpassen. Seit 1810/1820 war von einer speziellen „semitischen Philologie“37 die Rede, die zunächst der altehrwürdigen „classischen Philologie“, dann auch der „germanischen Philologie“ und schließlich (seit etwa 1850) der „arischen Philologie“ (Bunsen) gegenüber gestellt wurde. Romantische Schellingianer erfanden dann bald auch – in Fortschreibung und Umdeutung von Herders „nordischer Mythologie“ die „arische Mythologie“, allen voran Adalbert Kuhn (1812–1881), ein Schüler Bopps,38 Friedrich Windischmann (1811–1861)39 und Eduard Röth (1807–1858),40 dessen Lehre, wonach die Kultur Westasiens und Griechenlands aus dem Mutterschoße Ägyptens hervorgegangen sei, so etwas darstellte wie die Umdeutung „Weisheit der Inder“ in eine „Weisheit der Ägypter und Zoroastrier“. Die Mythologie gab den merkwürdigsten Spekulationen Nahrung. Der bayerische Staatsbeamte Christian Karl Barth (1775–1853) war auf Grund seiner Mythenforschung überzeugt, daß die Germanen ein „Teilstamm“ der Kelten seien und rekonstruierte aus den Mythen eine „altdeutsche Religion“ mit „Hertha“ als „Weltenmutter“.41 Solche eher autodidaktischen Entwürfe waren zwischen 1830 und 1850 äußerst beliebt. Sie belegen die Wirksamkeit der Trennung von Religion und Mythos in den nationalistischen Diskursen des frühen 19. Jahrhunderts. 37
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Im 19. Jahrhundert wurde meist der Hallenser Theologie und Hebraist Wilhelm Gesenius (1786–1842) als Begründer der semitischen Philologie gefeiert; fast gleichrangig mit ihm wurde Heinrich Georg August Ewald (1803–1875) genannt, vgl. die Zusammenstellung des Sankskritisten Theodor Benfey (1809– 1881): Geschichte der Sprachwissenschaft und der orientalischen Philologie in Deutschland seit dem Anfange des 19. Jahrhunderts mit einem Rückblick in die früheren Zeiten, München 1869, S. 685. V. a. in seinem Buch „Herabkunft des Feuers und des Göttertranks. Ein Beitrag zur vergleichenden Mythologie der Indogermanen“, Berlin 1859. Friedrich Windischmann: Ursagen der arischen Völker, in: Abhandlungen der philosoph.-philologischen Classe der königlich bayerischen Akademie der Wissenschaften VII (1855), S. 1–20. Der katholische Priester Windischmann, Schüler von Clemens Brentano, versuchte zu zeigen, daß die Mythologie der „arischen“ Völker und die Geschichten der Bibel eine gemeinsame Wahrheit verträten. Eduard Röth: Geschichte unserer abendländischen Philosophie, Band I, Mannheim 1846, S. 283; ders.: Die ägyptische und die zoroastrische Glaubenslehre als die ältesten Quellen unserer spekulativen Ideen, Mannheim 1846. Christian Karl Barth: Hertha und über die Religion der Weltenmutter im alten Teutschland, Augsburg 1828.
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Die Sinneinheit Sprache und Mythos, die zwischen 1810 und 1830 fixiert wurde,42 gab der Bibelkritik neue Nahrung und unterfütterte sie mit einer neuen Methodologie. Historische Kritik wurde nicht mehr an einem Sachverhalt, also an einem Text selbst geübt, sondern zum Prinzip der genealogischen Herleitung eines Textes erkoren. Dies radikalisierte die Trennung zwischen Religion als Prinzip und Religion als Text und Geschichte. Auch wenn letztere mythologisch gelesen wurde, blieb das Prinzip Religion unangetastet. Dies wurde noch dadurch befördert, daß Theologen wie Schleiermacher das Wesen der Religion jenseits des Textes als hermeneutische Erkenntnis beschrieben. Vom Standpunkt einer prinzipiellen Religion aus gesehen war Mythologie „leer“ und „hohl“, oder wie Schleiermacher sagte: „Jede Form, die es [d. h. das Universum] hervorbringt, jedes Wesen dem es nach der Fülle des Lebens ein abgesondertes Dasein giebt, jede Begebenheit die es aus seinem reichen immer fruchtbaren Schooße herausschüttet, ist ein Handeln dessselben auf Uns; und so alles Einzelne als einen Theil des Ganzen, alles Beschränkte als eine Darstellung des Unendlichen hinnehmen, das ist Religion; was aber darüber hinaus will, und tiefer hineindringen in die Natur und Substanz des Ganzen ist nicht mehr Religion, und wird, wenn es doch noch dafür angesehen sein will, unvermeidlich zurücksinken in leere Mythologie.“ Religion habe auch nichts mit einem seienden oder gebietenden Gott zu tun; darüber „zu grübeln“ sei für Metaphysiker gut und schön, doch entstünde daraus nichts anderes als „nur leere Mythologie“.43 Religion wurde von Geschichte befreit, da die Geschichte selbst nur die hermeneutische Grundlage dafür bot, Religion als Sinn des Unendlichen zu erfahren. Die kanonischen religiösen Texte waren damit in die historische Kritik entlassen. Den Durchbruch zur Anerkennung der Mythologie als jüngste Altertumswissenschaft hatte Georg Friedrich Creuzers mehrbändiges Werk „Symbolik und Mythologie der alten Völker, besonders der Griechen“ (1810/1811) eingeleitet, auf dem aufbauend dann Ferdinand Christian Baur die Philologie Creuzers in die Behandlung anderer Traditionen
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„Die Mythologie des Veda ist für den vergleichenden Mythologen das, was das Sanskrit für die vergleichende Grammatik gewesen ist.“ Friedrich Max Müller: Vergleichende Mythologie [1856], in: ders.: Essays. Beiträge zur vergleichenden Mythologie und Ethologie, Band II, Leipzig 1869, S. 68. Friedrich Schleiermacher: Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, hrsg. von Günter Meckenstock, Berlin 2001, S. 82 f.
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einarbeitete.44 Baur dachte sich Religion als den Inhalt der Mythologie, und zwar ganz im Sinne von Schleiermacher als das „Bewußtseyn oder Gefühl der Abhängigkeit von Gott“.45 Die Bezugnahme der Religion auf das „religiöse Selbstbewußtsein“ der Menschen erfüllte zwar noch die Ansprüche der Religionsphilosophie, doch bildete diese nicht mehr den Zweck seiner Forschung. Religion sei zwar philosophisch zu denken, aber nur historisch „nachzuweisen“.46 Die wissenschaftliche Beweisführung sollte nun über die Geschichte erfolgen, methodisch gesichert durch den philologisch untermauerten Vergleich. Das Wesen der Religion erscheint in das Psychologische verlagert, das Sein der Religion allein historisch definiert. Mit dem Begriff Mythologie wurde zugleich ein wichtiges Differenzkriterium zur christlichen Religion geschaffen. Indem nämlich andere Traditionen des Altertums als Mythologie erkannt wurden, erhielten sie eine vom Christentum unabhängige Benennung, die zugleich das Telos des Christentums relativierte. Religion und besonders das Christentum waren so weiterhin entwicklungsgeschichtlich gedacht, während Mythologien umgekehrt ursprungsgeschichtlich ausformuliert wurden. Die Differenz zwischen Mythos und Religion sollte für die Gründung der Religionswissenschaft eine große Rolle spielen. Die Generalisierung von Creuzers, Schellings und besonders Baurs Wissenschaft vom Mythos erhielt durch die Bildung der „Tübinger Schule“ (1842–1857) einen wichtigen Impuls. David Friedrich Strauß nutzte das neue Mythosparadigma für seine „Leben Jesu“-Forschung (1835/1836). Die historische Kritik führte auch bei ihm zu einer konzeptionellen Trennung von Glauben und Geschichte. Und sie erlaubte es, daß sie als Metatheorie religionsübergreifend wirksam werden konnte. Eine frühe Historisierung des Lebens Jesu zum Beispiel stammte aus der Feder des französischen jüdischen Arztes Joseph Salvador (1796–1873), „Jésus Christ et sa doctrine“ aus dem Jahre 1838.47 Im Vorwort zur deutschen Ausgabe von 1841 verwies er auf David Friedrich Strauß48 und stellte fest: „Endlich hat das Werk des Tübinger Professors eine besondere große Bedeutsamkeit als der äußer44
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Ferdinand Christian Baur: Symbolik und Mythologie, oder die Naturreligion des Alterthums, 2 Bände, hier Band 1, Stuttgart 1824, S. iv. Ebd., S. 104. Ebd., S. 116. Joseph Salvador: Jésus-Christ et sa doctrine, 2 Bände, Paris 1838. Obwohl die erste Ausgabe von Strauß’ „Das Leben Jesu“ 1835 in Tübingen er-
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ste Ausdruck des Geistes des Protestantismus. Die Reformation hatte sich selbst getäuscht, als sie sich für eine rein christliche Bewegung, für eine reine und einfache Rückkehr zu den evangelischen Lehren hielt.“49 Die Straußsche Reduktion von Jesus zu einer „symbolischen Idee der Menschheit“ mochte Salvador nicht vollkommen nachvollziehen, wohl aber die Unterscheidung zwischen einer „historischen Privatperson“ Jesus und der „intellektuellen Auffassung, die er darstellt“. Glaube ist hier also vollkommen enthistorisiert, und das Privileg, diese fundamentale Unterscheidung unternommen zu haben, entstamme nicht dem Christentum, sondern dem „unverwüstbare[n] Saft des Hebraismus50 von moralischer Energie und Schöpfungskraft.“ Die Differenzierung zwischen Mythos und Religion („Offenbarung“) beförderte eine Religionswissenschaft, die nun nicht mehr Religionsphilosophie war, sondern als konfessionell bestimmte historische Theologie aufgefaßt wurde. Johann Adam Möhler (1796–1838), katholischer Mitstreiter von Ferdinand Christian Baur und David Friedrich Strauß, sah eine „katholische Religionswissenschaft“ gegeben, die er unter anderem in Clemens von Alexandria (Bücher 1–3 seiner Stromateis) verwirklicht sah51 und die eine In-Wertsetzung der Befassung mit griechischer Philosophie und „heidnischen Religionen“ für die Theologie forderte. Zugleich wurde auch eine „protestantische Religionswissenschaft“ formuliert. Der Göttinger Theologe Friedrich August Holzhausen führte 1836 hierzu aus: „Bisher hat die protestantische Religionswissenschaft die Vernunft für ihr höchstes Prinzip gehalten; aber – die baut ja doch nur in das Leere! Der Protestantismus braucht für die Entwicklung seiner Religionswissenschaft ein reales, schaffendes Princip, und dieses ist ihm mit
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schien, hat Salvador wohl erst von der dritten Auflage 1838 Kenntnis genommen. Joseph Salvador: Das Leben Jesu und seine Lehre, die Geschichte der Entstehung der christlichen Kirche, ihrer Organisation und Fortschritte während des ersten Jahrhunderts, Dresden 1841, S. X. Ich nehme an, daß hier der altertümliche Begriff „Hebraismus“ auf die von Wilhelm Martin Leberecht de Wette in seinem 1813 erstmals veröffentlichten „Lehrbuch der christlichen Dogmatik“ getroffene Unterscheidung zwischen vorexilischer Religion („Hebraismus“) und nachexilischer Religion („Judentum“) verweist. Hierzu Lothar Perlitt: Deuteronomium-Studien, Tübingen 1994, S. 248. So schon Johann Adam Möhler: Kirchengeschichte, Band 1, hrsg. von Pius B. Gams, Regensburg 1867, S. 372.
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dem Genius der Völker gegeben. Damit erhält er eine objective Grundlage, aus welcher das Individuum eine gesunde Entwicklung gewinnt. Hätte sich die protestantische Religionswissenschaft seit der Reformation in diesem Elemente gebildet und fortgebildet; so würde sie eine Basis erhalten haben, auf welcher sich ein fester und schöner Bau hätte ausführen lassen.“52 Holzhausen selbst sah eine solche Religionswissenschaft schon bei dem Neuplatoniker Synesius von Cyrene (ca. 370–ca. 413) gegeben.53 Gedacht war Religionswissenschaft also auch konfessionell: Der katholische Theologe von Johann Baptist Hirscher (1788–1865), konservativer Parteigänger der Tübinger Schule, beschrieb die „christliche Religionswissenschaft“ als „die Wissenschaft von Gott in Christus, mit anderen Worten: die Wissenschaft a. vom Seyn, dem Wesen, den Eigenschaften Gottes, in Christus offenbart [. . .] b. von dem Realwerden all dessen im Menschen. [. . .] so ist die christliche Religionswissenschaft die Wissenschaft vom Realwerden, und Realseyn der Wahrheit im Menschen. Kürzer: die Wissenschaft (oder Lehre) von der christlichen Wahrheit im Subjecte. Und so ist die christliche Religionswissenschaft die Wissenschaft der christlichen Wahrheit nach zwei Seiten hin. Sie ist die Wissenschaft derselben an sich; und sie ist die Wissenschaft derselben im Subjecte.“54 Entsprechend wollte der Bamberger Theologe Leonhard Clemens Schmitt (1810–1868) „Religionswissenschaft“ als „positive Wissenschaft“ verstanden wissen. Als Inhalt der Religionswissenschaft bestimmte er den Begriff von Religion („Wiederanknüpfung der durch die Sünde von Gott getrennten Menschheit an Gott“55). Schon der katholische Philosoph Jakob Sengler (1799–1878) interpretierte den protestantischen Theologen Johann George Mussmann (1795–1833)56 als jeman52
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Friedrich August Holzhausen: Die Kirche, ein Institut des Völkerlebens, in: Jahrbücher der Geschichte und Staatskunst 2, Leipzig 1836, S. 97–130, hier S. 114. Friedrich August Holzhausen in: Göttingische gelehrte Anzeigen 155 (25.9.1852), S. 1537–1539. Johann Baptist von Hirscher: Die christliche Moral als Lehre von der Verwirklichung des göttliches Reiches in der Menschheit, Band 1, 3. Aufl., Tübingen 1838, S. 1–2. Leonhard Clemens Schmitt: Die Construction des theologischen Beweises. Mit besonderer Rücksicht auf die spekulative Entwicklung der Theologie in der Gegenwart, Bamberg 1836, S. 15. Johann George Mussmann: Grundriss der allgemeinen Geschichte der christlichen Philosophie, mit besonderer Rücksicht auf die christliche Theologie, Halle 1830, S. 16 ff.
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den, der das Christentum in einer „christlichen Religionswissenschaft“ beginnen sah, die sich dann zu einer „christlichen Weltweisheit“ und dann zu einer „christlichen Vernunftwissenschaft“ entwickelt haben.57 Der Begriff „Religionswissenschaft“ war so nicht nur besetzt, sondern stand geradezu in Opposition zur Mythologie. Erstere war akademisch tonangebend, so daß Chajim Herrmann Steinthal noch 1865 beklagte: „Während gegen die vergleichende Sprachforschung sich keine Stimme mehr erhebt, wollen die meisten unserer Philologen, und darunter vortreffliche Männer, die vergleichende Mythenforschung noch immer nicht anerkennen.“58 Islam, Judentum und die Mythologie Die Selbstauslegung der Theologie als Religionswissenschaft erlaubte es auch, dem Judentum und dem Islam eine eigene „Religionswissenschaft“ zuzuordnen. Die Kernfrage war, ob das Judentum und der Islam auch Gegenstand einer Mythologie sein könnten. Der aus Göttingen exilierte Orientalist Heinrich Georg August Ewald (1803–1875) hatte seine Professur in Tübingen (ab 1841 an der Theologischen Fakultät) just in der Zeit angetreten, als sich der Kreis um Baur zur „Tübinger Schule“ formierte.59 Nur konnte der liberal-konservative Theologe Ewald nichts mit der historischen Kritik im Sinne Baurs oder vor allem Geigers anfangen.60 Als Ewald 1848 nach Göttingen zurückkehrte, hatte er die Mythologie nicht im Gepäck. Dabei bot das Traditionsgefüge der Orientalistik einen direkten Anknüpfungspunkt in Gestalt der Arbeiten des Hamburger Gymnasialprofessors für orientalische Sprachen Hermann Samuel Reimarus (1694–1768), polemisch Lessings „Fragmentenschreiber“ (Johann Daniel Müller) genannt. Reimarus hatte ja die historische Bibelkri57
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[Jakob] Sengler: Ueber das Wesen und die Bedeutung der speculativen Philosophie und Theologie in der gegenwärtigen Zeit, Band 1, Mainz 1834, S. 270. H[eymann] Steinthal (1823–1899): Neuere Schriften über vergleichende Mythologie, in: Zeitschrift für die österreichischen Gymnasien 16 (1865), S. 36–53, hier S. 38. Horst Junginger: Von der philologischen zur völkischen Religionswissenschaft. Das Fach Religionswissenschaft an der Universität Tübingen von der Mitte des 19. Jahrhundert bis zum Ende des Dritten Reiches, Wiesbaden 1999, S. 14. Ken Koltun-Fromm: Abraham Geiger’s liberal Judaism. Personal meaning and religious authority, Bloomington 2006, S. 54 ff.
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tik vorbereitet und wurde von Geiger wie von Strauß61 überaus positiv rezipiert. Ewald hingegen blieb seinem Lehrer und Vorgänger, dem Supranaturalisten Johann Gottfried Eichhorn (1752–1827), treu. Wie Eichhorn so klammerte auch Ewald den Islam aus seiner Forschung systematisch aus. Mit Tübingen verband ihn aber sein Interesse an der Historiographie, die er als Resultante philologischer Arbeiten ansah. Geiger folgend betonte der jüdische Orientalist Gustav Weil (1808–1889), der 1836 in Tübingen nach seinem sechsjährigen Aufenthalt zunächst in Algier, dann in Kairo, promoviert wurde, noch deutlicher die Notwendigkeit, die Philologie zur Historiographie und zur historischen Kritik zu nutzen.62 Das klassische Arbeitsfeld eines Orientalisten um 1850 bildeten immer noch orientalische Quellentexte (vornehmlich zur Poesie und Geschichte) und die biblische Exegese und biblische Geschichte, wobei letztere in Form historischer Kritik in die vorislamische und islamische „Altertumsgeschichte“ übertragen wurde. Die „vergleichende Mythoswissenschaft“, wie Ignaz Goldziher (1850– 1921) die Mythologieforschung in Analogie zur vergleichenden Sprachwissenschaft später nennen sollte, erhielt ihre Bestimmung also dadurch, daß sie sich jenseits der „Offenbarungswissenschaft“63 etablierte und an die Stelle der spekulativen eine vergleichende philologische Methodologie setzte. Der empirische Rahmen der Mythologie wurde, trotz der Arbeiten von Baur, von den Offenbarungsreligionen getrennt. Dies bedeutete eine kategoriale Unterscheidung zwischen Mythos und Offenbarung, die sich ursprünglich schon in der Straußschen Differenzierung zwischen der historischen Person des Jesus von Nazareth (Mythos) und dem Christus des Glaubens (Offenbarung) angekündigt hat. Entscheidend aber war die Frage nach der „Mythosfähigkeit eines Volkes“.64 Die klassische Mythologieforschung hatte sich im Fahrwasser der neuen indogermanischen Sprachwissenschaft fast ausschließlich jenen Traditionen zugewandt, die mit der Genealogie der „Arier“ in Verbindung ge61
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David Friedrich Strauß: Hermann Samuel Reimarus und sein Schutzbrief für die vernünftigen Verehrer Gottes, Leipzig 1862. Gustav Weil: Die poetische Literatur der Araber vor und unmittelbar nach Mohammed. Eine historisch-kritische Skizze, Stuttgart, Tübingen 1837; ders.: Biblische Legenden der Muselmänner, Frankfurt a. M. 1845. Leonard Clemens Schmitt: Die Construction des theologischen Beweises (wie Anm. 55), S. 56. Die Mythosfähigkeit eines „Volkes“ wurde meist danach vermessen, ob ein „Volk“ das Drama oder dramatische Gesänge entwickelt habe.
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bracht werden konnte. Anders ausgedrückt: Man meinte zu erkennen, daß nur die Arier „mythosfähig“ seien.65 Dem stünde der semitische Monotheismus gegenüber, der den schöpferischen Geist eines Volkes, der sich im Mythos beweise, zunichte gemacht habe. In der sich nun allmählich entfaltenden, dann von Moritz Lazarus konzeptionalisierten Völkerpsychologie66 erhielten jene Völker den höchsten Rang, die den 65
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Allerdings sprach man gegen Ende des 18. Jahrhunderts noch von einer „Mythologie der Hebräer“; der Leipziger Philosoph und Kantianer Friedrich August Carus (Psychologie der Hebräer, Leipzig 1809, S. 22), der gegen die Pneumatologie eine empiristische Seelenlehre vertrat, verwies hierzu vor allem auf Johann Heinrich Philipp Seidenstücker (1760–1817) und den „altrationalistischen“ Theologen und Orientalisten Georg Lorenz Bauer (1755–1806). Gemeint ist der Beitrag von Johann Heinrich Philipp Seidenstücker „Ueber die Mythen der Hebräer“, in: Schleswigsches ehem. Braunschweigisches Journal 1 (1792) , 2. Band, S. 156–172, der mit den Worten eingeleitet wird: „Jedes Volk hat seine Mythen“. Bauer hatte in seinem 1802 veröffentlichten Werk „Hebräische Mythologie des Alten und Neuen Testaments mit Parallelen aus der Mythologie anderer Völker, vornämlich der Griechen und Römer“, Band I–II, Leipzig 1802, in Eichhornscher Tradition eine Scheidung des Mythischen vom „vernunftsgemäßen wesentlichen Inhalt der Bibel“ gesucht; methodisch unterschied er zwischen biblischer Theologie als historische Wissenschaft und der Dogmatik als systematische Wissenschaft. Für einen Rationalisten wie Bauer konnte der Bezug auf einen Mythos natürlich nichts Positives bedeuten. Allerdings nennt er auch Schellings Abhandlung über Mythen im Sinne einer Legitimation, da Schelling „schön sagt: die ältesten Urkunden aller Völker enthalten theils historische Sagen, [. . .] theils historisch dargestellte Philosopheme, Vermuthungen, Dichtungen über den Ursprung der Welt und des Menschengeschlechts.“ Georg Lorenz Bauer: Hebräische Mythologie des Alten und Neuen Testaments mit Parallelen aus der Mythologie anderer Völker, Band I, S. 3. Volk und Mythos bildeten so noch eine prinzipielle Einheit, jedes Volk hat also einen Mythos. Als Mythen bestimmte er Erzählungen aus vorschriftlicher Zeit, die auf übersinnliche Gegenstände oder Facta verweisen, die ins Wunderbare verarbeitet und die in symbolischer Sprache vorgetragen werden. (S. 14 f.) Natürlich verweist er auf das klassische Dictum von Christian Gottlob Heyne: „A mythis omnis priscorum hominum cum historia tum philosophia procedit“ (Ad Apollodori Atheniensis Bibliothecam Notae, Bände I–III, Göttingen 1783, Band II, Praefatio, S. XVI). Neben Heyne galt der Bauer sehr kritisch referierende Wortphilologe Gottfried Hermann (u. a. „Ueber das Wesen und die Behandlung der Mythologie. Ein Brief an Herrn Hofrath Creuzer“, Leipzig 1819) als wichtigste Referenz. Ivan Kalmar: The ‚Völkerpsychologie‘ of Lazarus and Steinthal and the Modern Concept of Culture, in: Journal of the History of Ideas 48 (1987), S. 671–690.
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Monotheismus mit ihrer ureigentlichen Mythologie „verschmolzen“ hätten. Kein geringerer als Ernest Renan machte sich diese Unterscheidung zunutze und schloß die Semiten kategorisch aus dem Bund der mythosfähigen Völker aus: schon 1855 formulierte er im Kontext der Interpretation islamischer Wahhabiten: „De nos jours, le mouvement des Wahhabis n’a-t-il pas failli aboutir à un nouvel islam, sans autre prestige que l’éternelle idée de l’Arabie: simplifier Dieu, écarter sans cesse toutes les superfétations qui tendent à s’ajouter à la nudité du culte pur? De là ce trait caractéristique, que les Sémites n’ont jamais eu de mythologie.“67 Renans radikale Unterscheidung zwischen Ariern und Semiten sollte später eine wichtige Rolle bei der Selbstdeutung islamischer Eliten spielen. Für Renan war klar, daß Wissenschaft und Aufklärung nur den Völkern beschieden sei, die eine mythische Identität hätten. Und dies waren, wie dann auch der Sanskritist Émile-Louis Burnouf (1821–1907) behauptete, allein die Arier. Hierbei stützte er sich auf die Völkerpsychologie wie auf die vergleichende Mythenforschung, die „auf dem arischen Gebiet“ (Goldziher) durch den Indogermanisten Franz Felix Adalbert Kuhn seit den 1840er Jahren weiterentwickelt worden war. Der deutsch-jüdische Historiker Heinrich Graetz (1817–1891) erkannte in der Mythologie eine subversive Strategie der Arianisten, das Judentum (und ceteris paribus den Islam) aus der Entwicklungsgeschichte der Zivilisation auszuschließen. In seiner Geschichte der Juden stellte er 1876 fest: „Die Linguisten der klassischen und europäischen Zungen, die Ethnographen, Mythologen und Völkerpsychologen, durch die Sprachvergleichung auf die Wurzelverwandtschaft der europäischen Sprachen mit den arischen aufmerksam geworden und davon frappiert, pflegen in der Regel dem arischen Wesen die höchste Bedeutung für die Entwicklung der Zivilisation zu vindizieren und die semitischen Völker samt ihrer Kultur in dem Maße herabzusetzen, als sie jenes hoch hinaufschrauben. Nur ein einziger Punkt stört sie in dieser Bewunderung und Selbstbespiegelung: die religiöse Seite der indoeuropäischen Völker. Diese zeigt nämlich in ihren geschichtlichen Anfängen eine buntscheckige Mythologie mit grobsinnlichen Anschauungen. Die Mythologen haben zwar auch diese mit philosophischen Formeln gerechtfertigt und gefunden, daß alles daran gut sei, und eine höhere Idee reflektiere. Sie haben sogar hinterher herausgeklügelt, daß die indisch-griechische Mythologie mit ihrem Vielgöttertum und ihrer Rangordnung von oberen und unteren Göttern und Heroen die Mutter der Poesie und der Kunst gewesen sei, die deswegen nur innerhalb der arischen 67
Ernest Renan: Histoire générale et système comparé des Langues sémitiques. Première partie. Histoire générale des langues sémitiques, 4. ed., Paris 1863, S. 7.
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Völkerschaften sich habe entwickeln können, weil die arische Mythologie die Phantasie angeregt habe, die semitische Rasse dagegen habe nur die rohesten Elemente dieses Blütenstandes der Kultur besessen und der Kunstanregung entbehrt. Allein es war ihnen dabei doch nicht wohl zumute. Sie konnten nicht verkennen, daß der Polytheismus den Begriff ‚absoluter Geist‘, die Vorstellung von einem alles Sinnlichen baren Wesen, nicht erzeugt hat, nicht erzeugen konnte. Die Götter der griechischen und indischen Mythologie, die am reinsten und feinsten ausgebildet erscheint, sind mit menschlichen Schwächen, übermenschlichen Lastern behaftet und mit Untaten befleckt, welche die raffinierteste Auslegungskunst nicht zu verwischen vermag. Sie konnten nicht wegleugnen, daß der Begriff ‚des Geistes‘ ein Produkt des Monotheismus ist, und daß dieser überhaupt die Pflanzschule für Zucht und Sittlichkeit geworden ist, die höhere Moral, die ethische Kultur in die Weltgeschichte eingeführt hat, ohne welche Kunst und Wissenschaft, politische Ordnung und Machtgröße nur eine glänzende Oberfläche ist, die einen faulen Körper bedeckt. Und in der Tat, als der Monotheismus den Schmetterlingsstaub von der farbenreichen Mythologie weggeblasen hatte, trat die Fäulnis in abschreckender Gestalt zutage, und er, der die Eiterbeulen aufgedeckt hatte, war auch berufen, sie mit dem Balsam seiner Lehre zu heilen und die sieche Menschheit wieder gesund zu machen. Der Monotheismus oder das Judentum – denn im Grunde ist dieses allein im völligen Gegensatz zu den arischen Völkern der Autor desselben – hat demnach einen wesentlichen Anteil an der Zivilisation. Dieses Verdienst des Judentums war aber den Arianisten höchst unbequem. Da mußte ein Ausweg gefunden werden, um ihm nicht diesen Anteil oder gar diese Überlegenheit einräumen zu müssen. Dieser Ausweg schien an dem Eranismus gefunden. Diese mit dem Arismus68 stammverwandte Religionsform hat die ursprüngliche mythologische Buntscheckigkeit abgestreift, die holden und unholden Götterwesen reduziert und nur, wie man sagt, zwei Potenzen übrig behalten, Ahura-Mazda und Angro-Mainyus, den Gott des Lichtes und den Gott der Finsternis. Den Ormuzd der eranischen Religionsform suchten die arischen Mythologen so sehr zu sublimieren und zu spiritualisieren, ihm alle Vollkommenheiten in so hohem Grade zu vindizieren, daß er nicht nur dem Gotte des Judentums an die Seite gestellt werden, sondern ihn noch bei weitem übertreffen konnte. Sie nahmen ihn zum Angelpunkt eines
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Der Begriff Arismus gehörte schon in den 1850er Jahren zum damals gängigen völkertypologischen Schema. Gerungen wurde vornehmlich um die Frage, wie sich der „Arismus“ zu anderen „Ismen“ vertrage. Christian Karl Josias Bunsen (1791–1860) sah zum Beispiel den Arismus auf einem Turanismus begründet; Christian Karl Josias Bunsen: Gott in der Geschichte oder der Fortschritt des Glaubens an eine sittliche Weltordnung, Buch 2, Leipzig 1856, S. 42.
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arischen Monotheismus, den sie dem semitischen – wie sie sich ausdrückten – entgegenstellten, um diesem die Palme zu entwinden.“69
Daß Graetz die Mythologie so vehement angriff, verwundert nicht. Für ihn ging es ja darum zu zeigen, daß das Judentum jenseits der rein religiösen Selbstdeutung eine „nationale“, von „Lernen und Leiden geprägte“ Geschichte habe. Er unterschied sich daher deutlich von Leopold Zunz, Abraham Geiger und vor allem Moritz Steinschneider. Für Steinschneider galt: „Religion ist nicht Wissenschaft im engeren Sinne, sondern im Princip natürliche Gegnerin derselben: hier Vorausetzungslosigkeit, dort Autorität, hier Naturgesetz, dort Wunder. Ist die Autorität als höchste anerkannt, dann perhorrescirt der gelehrte Kenner und Vertreter derselben das Recht des Laien zur Kritik einzelner Glaubenssätze und Gebräuche: der Papst steht über Christus und Akiba über Moses. Wird aber die Autorität selbst in Frage gestellt, dann ist unverkümmerte Logik die oberste Instanz; das religiöse Gefühl kehrt sich allerdings oft weder an Logik, noch an Autorität, sein Privilegium ist die Inconsequenz.“70 Steinschneider war radikaler Philologe, so, wie er es in Leipzig bei dem Orientalisten Heinrich Leberecht Fleischer (1801–1888) gelernt hatte. Fleischer hatte nach seinem Aufenthalt als Hauslehrer in Paris (1824–1828) die französische Orientalistik, verkörpert durch Silvestre de Sacy (1758–1838), der 1795/1803 den Lehrstuhl für Arabisch an der École des langues orientales in Paris übernommen hatte, studiert. De Sacy, der den deutschen Orientalisten durch Eichhorns Vermittlung bekannt war, erachtete Sprache – ganz im Sinne der Jansenisten der Zeit – als ursprüngliche Institution des Menschseins, deren allgemeine Regeln eine „Metaphysik der Sprache“ begründe. Hier stand de Sacy Wilhelm von Humboldt nahe, den Steinthal als den Vater der „Metaphysik der Sprache“ gefeiert hatte.71 Fleischer folgte nicht der Umdeutung der Sprachphilologie in eine My69
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Heinrich Graetz: Geschichte der Juden. Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart, Band II/2, Leipzig 1902, S. 375 f. Moritz Steinschneider: Die arabische Literatur der Juden. Ein Beitrag zu Literaturgeschichte der Araber, Frankfurt a. M. 1902, S. ix–x. Heymann Steinthal: Der Ursprung der Sprache, im Zusammenhange mit den letzten Fragen alles Wissens. Eine Darstellung der Ansicht Wilhelm von Humboldts, verglichen mit denen Herders und Hamanns, Berlin 1851, S. 3; vgl. Johann Gottfried Herder: Über die neuere deutsche Literatur. Fragmente, in: ders.: Herder und der Sturm und Drang (1764–1774) (Werke, Band 1), hrsg. von Wolfgang Pross, München 1984, S. 63–354, hier S. 202.
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thologie.72 Als Friedrich Max Müller (1823–1900) von 1840 bis 1843 an der Universität Leipzig studierte, hörte er bei Fleischer, der damals jedes Semester den Korankommentar des Baydawi73 lesen ließ und nur noch selten biblische Themen aufgriff, vor allem Arabisch. Fleischers philologischer Radikalismus veranlaßte Müller, nach Berlin zu gehen, wo er engen Kontakt zu Franz Bopp, dem Mitbegründer der Indogermanistik und Mythologen, hielt. Müllers vor allem auf das Sanskrit ausgerichtete Philologie wurde so ganz nach dem Geschmack der Zeit mythologisch überformt. Als Müller dann 1845 nach Paris kam, traf er auf den Indologen Eugène Burnouf (1801–1852), dessen Vater Jean-Louis Burnouf (1775–1844) wie de Sacy die französische Philologie neu begründet hatte. Ob Müller Eugène Burnoufs Vetter, Émile-Louis Burnouf, damals kennengelernt hat, vermag ich nicht zu sagen. In jedem Falle traf Müller schon auf die ersten Ausformulierungen des Arianismus als eine Rassentypologie, die Émile-Louis Burnouf zur Grundlage einer jeden Humanwissenschaft erhoben hatte.74 Müller selbst distanzierte sich in seiner Oxforder Zeit zwar von dieser Rassentypologie und negierte eine Identität von arischer Sprachverwandtschaft und Rassenverwandtschaft, sah aber dennoch jene „Völker“ privilegiert, die als Arier mythenfähig gewesen seien.75 Müller akzeptierte mit Renan, daß die Arier mythisch und die Semiten „theologisch“ seien. Doch während Renan und mit ihm der jüngere Burnouf die „semitische Theologie“ als Ausdruck eines „monotheistischen Instinkts der semitischen Rasse“ verstanden wissen wollten, sah Müller – ganz im Einklang mit Fleischer – den Polytheismus als semitischen Grundzug. Müller blieb der philologisch fundierten Mytho72
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Auch teilte er nicht Ewalds und besonders Weils Bevorzugung der Historiographie. Abdallah b. Umar al-Baydawi (gest. um 1286) war in Westiran beheimatet und berühmt für seinen Korankommentar asrar at-tanzil wa-asrar at-ta’wil, der sachlich den Korankommentar von az-Zamakhshari (gest. 1143/1144) al-kashshaf zusammenfaßt und ergänzt. Baydawis Kommentar war schon früh in Europa bekannt und gehörte zusammen mit der Weltgeschichte von Abu l-Fida Isma il b. Ali (gest. 1331) zum Grundkanon der orientalistischen Ausbildung. Davon zeugt auch David Samuel Margoliouth: Chrestomathia Beidawiana, London 1894, eine Art Lehrbuch zur Koraninterpretation am Bespiel der Sure 3. Colin Kidd: The Forging of Races. Race and Scripture in the Protestant Atlantic World, 1600–2000, Cambridge 2006, S. 178–187. Friedrich Max Müller: Comparative Mythology. An Essay [1856]; edited, with additional notes and an introductory preface on Solar Mythology, by A. Smythe Palmer, London und New York 1909.
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logie treu und sah dementsprechend in der Sprache selbst die Grundlage für eine vergleichende Typologie, nicht in biologisch definierten Rassen. Allerdings verfocht er keine absolute Mythologie, denn er nahm an, daß Mythen lediglich das Resultat von Sprache seien („a disease of language“), während Religion eine Wahrnehmung des Unendlichen bedeute. Der „transparente Charakter“ der semitischen Sprachen würden diese gegenüber jeder Mythenbildung „immunisieren“. Der eher sprachphilosophische Ansatz von Müller konkurrierte mit dem Biologismus Renans und Burnoufs. In beiden Fällen aber war ausschlaggebend, daß das Judentum und in dessen Kielwasser der Islam aus der Gemeinschaft der mythenfähigen Völker ausgeschlossen wurde. Die Adelung der Mythologie als neuer Wissenschaft erfolgte 1868, als Müller zum Professor für vergleichende Mythologie in Oxford berufen wurde. Doch schon kurze Zeit später zeichnete sich eine Umwidmung der inzwischen klassischen Mythenforschung ab. Burnouf und Müller plädierten fast zeitgleich um 1870 für die Benennung der Mythenforschung als Religionswissenschaft. Anfangs war Müller noch skeptisch. 1867 schrieb er in seinen „Chips from a German Workshop“: „During the last fifty years the accumulation of new and authentic materials for the study of the religions of the world, has been most extraordinary; but such are the difficulties in mastering these materials that I doubt whether the time has yet come for attempting to trace, after the model of the Science of Language, the definite outlines of the Science of Religion. By a succession of the most fortunate circumstances, the canonical books of three of the principal religions of the ancient world have lately been recovered, the Veda, the ZendAvesta, and the Tripitaka. But not only have we thus gained access to the most authentic documents from which to study the ancient religion of the Brahmans, the Zoroastrians, and the Buddhists, but by discovering the real origin of Greek, Roman, and likewise of Teutonic, Slavonic, and Celtic mythology, it has become possible to separate the truly religious elements in the sacred traditions of these nations from the mythological crust by which they are surrounded, and thus to gain a clearer insight into the real faith of the ancient Aryan world. // If we turn to the Semitic world, we find that although no new materials have been discovered from which to study the ancient religion of the Jews, yet a new spirit of inquiry has brought new life into the study of the sacred records of Abraham, Moses, and the Prophets; and the recent researches of Biblical scholars, though starting from the most opposite points, have all helped to bring out the historical interest of the Old Testament, in a manner not dreamt of by former theologians. The same may be said of another Semitic religion, the religion of Mohammed, since the Koran and the literature connected with it were submit-
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ted to the searching criticism of real scholars and historians. Some new materials for the study of the Semitic religions have come from the monuments of Babylon and Nineveh. The very images of Bel and Nisroch now stand before our eyes, and the inscriptions on the tablets may hereafter tell us even more of the thoughts of those who bowed their knees before them. The religious worship of the Phenicians and Carthaginians has been illustrated by Movers from the ruins of their ancient temples, and from scattered notices in classical writers; nay, even the religious ideas of the Nomads of the Arabian peninsula, previous to the rise of Mohammedanism, have been brought to light by the patient researches of Oriental scholars.“76
Doch diese Skepsis wich bald einem emphatischen Optimismus. Burnouf hatte in der Revue des Deux Mondes unter dem Titel „La science des religions“ eine Artikelserie veröffentlicht, in der er recht selbstbewußt deklarierte: „Le siècle présent ne s’achèvera pas sans avoir vu s’établir dans son unité une science dont, les éléments sont encore dispersés, science que les siècles précédents n’ont pas connue, qui n’est pas même définie, et que, pour la première fois peut-être, nous nommons Science des Religions.“77 Und schon drei Jahre später behauptete Müller: „During the years that have elapsed since the delivery of my first course of lectures, the Science of Language has had its full share of public recognition.“78 In der Tat hatte schon 1871 der Leidener Theologe und spätere Professor für Geschichte und Philosophie der Religion, Cornelis Petrus Tiele (1830–1902), auf Müllers Science of Religion aufmerksam gemacht und dabei die Bezeichnung Religionswissenschaft terminologisch benutzt.79 Der Name ist, wie gesagt, nicht neu gewesen. Neu war, daß die systematische Differenzierung zwischen 76
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Max Müller: Chips from a German Workshop, volume I. Essays on the Science of Religion, London 1867, S. XII f. Émile Burnouf: La Science des Religions, Troisième Édition, Paris 1876 (1. Aufl. 1870), S. 8. Max Müller: Lectures Science of Religion. With a Paper on Buddhist Nihilism, and a Translation of the Dhammapada or „Path of Virtue“, New York 1874, S. 4. Cornelis Petrus Tiele: Max Müller und Fritz Schultze über ein Problem der Religionswissenschaft, Leipzig 1871. Sein Buch „Elements of the Science of Religion“, 2 volumes, Edinburgh, London 1897, setzte die Müllersche Tradition fort. Tiele bezieht sich zudem auf das viel zitierte Werk des Dresdener Neukantianers, Pädagogen und Spencer-Übersetzers Fritz Schultze (1846–1908): Der Fetischismus. Ein Beitrag zur Anthropologie und Religionsgeschichte, Leipzig 1871.
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Religion (als Offenbarung) und Mythen (als Geschichte) aufgegeben wurde. Die Forschung selbst änderte sich hierdurch nicht, wohl aber ihr Geltungsanspruch. Mit der Benennung „Religionswissenschaft“ wurde der Mythologie ein Primat in Bezug auf jegliche Religionsforschung zugewiesen. Schon 1861 hatte der Leidener Reformtheologe Abraham Kuenen (1828–1891), dem Tiele explizit folgte, als Aufgabe der Religionswissenschaft festgeschrieben: „Zoo althans beschouwt ze de nieuwere godsdienstwetenschap.80 Zij plaatst zich op het standpunt niet van het geloof, dat geene waarheid erkent buiten den kring waarin het zelf heerscht, maar van de onpartijdige waardeering, die in plaats van overal denzelfden maatstaf aan te leggen de verscheidenheid in haar recht erkent en het goede opmerkt waar en onder welken vorm zij het aantreft.“ [Dt.: „Die neuere Religionswissenschaft stellt sich nicht auf den Standpunkt des Glaubens, welchem keine Wahrheit außer dem Kreise worin er selbst herrscht zuerkannt wird, sondern auf den Standpunkt der unparteiischen Würdigung, welche anstatt überall denselben Maßstab anzulegen die Verschiedenheit in ihrem Rechte erkennt und das Gute bemerkt, wo und in welcher Form sie es antrifft“.]81 Kuenens Bestimmung der neuen Religionswissenschaft sollte vor allem in Göttingen unter den Vertretern der späteren Religionsgeschichtlichen Schule maßgeblich werden.82
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Die holländische Bezeichnung „nieuwere godsdienstwetenschap“ verweist selbst nicht explizit auf „Religionswissenschaft“, meint sie aber. Im frühen 19. Jahrhundert wurde oft zur Erklärung des Begriffs das hochdeutsche Wort „Religionswissenschaft“ in Klammern hinzugefügt, z. B. in der Vorrede von Anthonij Moll zur holländischen Übersetzung von Johann Georg Justus Ballenstedt (1756–1840): Die Urwelt oder Beweis von Dasein und Untergang von mehr als einer Welt, III Bände, Quedlinburg 1818: De vóór-wereld of bewijzen voor het bestaan en den ondergang van meer dan ééne vroegere aardschepping, Dordrecht 1819, S. ix. Abraham Kuenen: Historisch-Kritisch Onderzoek naar het onstaand en de verzameling van de Boeken des Ouden Verbonds, III Bände, Leiden 1861–1865, hier Band I, S. 7. Kuenen, der sich seinerseits u. a. auf die Vertreter der Historik Ewald und Dozy, sowie den Rabbiner Julius Popper (1823–1884) und die elsässischen Theologen Eduard Reuss (1804–1891) und Karl Heinrich Graf (1815–1869) berief, war für Wellhausen so etwas wie ein spiritus rector, siehe M. J. Mulder: Abraham Kuenen and his successors, in: Willem Otterspeer (Hg.): Leiden Oriental Connections 1850–1940, Leiden 1989, S. 7–26, hier S. 17.
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Die Mythologisierung des historischen Jesus Straußscher Prägung verschuf der christlichen Theologie einen paradox erscheinenden Eintritt in die wissenschaftliche Moderne. Der Mythos enthob Jesus der historischen Kritik und stattete ihn mit der „Kraft“ („Idee der Gottmenschlichkeit“83) aus, die dem Mythos (als einer „absichtslos [d. h. unbewußt] dichtenden Sage“84) anhaften solle. Historistische Rekonstruktionsversuche (H. Holtzmann, Die synoptischen Evangelien, ihr Ursprung und geschichtlicher Charakter [1863]) werteten den Geltungsanspruch der christlichen Theologie, auch dem Kanon der Mythologie zugerechnet werden zu können, nicht ab. Der frühe Historismus differenzierte so zwischen historischer Kritik und mythischer Ursprünglichkeit. Für diejenigen mit arabischen Texten arbeitenden Orientalisten, die sich der Modernität des Historismus nicht verschließen wollten, galt nun nicht, daß durch eine historische Kritik etwa des Korans eine das Urreligiöse repräsentierende „Sage“ freigelegt würde. Vielmehr diente die historische Kritik vorrangig der „Unterscheidung“ zwischen „Wahrem“ und „Falschem“ und der Rekonstruktion des Wahren. Das Heidelberger Milieu war dabei maßgeblich. Hier setzte Gustav Weil die Arbeitsweise von Geiger und Strauß fort und versuchte sich an einer historischen Rekonstruktion des Korans85 und dehnte seine historistischen Arbeiten auf andere Zeitkontexte der islamischen Geschichte aus. Der Tiroler Orientalist Aloys Sprenger (1813–1893), der nach seiner Zeit in Bern (1858– 1881) auch nach Heidelberg kommen sollte, popularisierte den Historismus in seiner Übernahme der Leben Jesu-Forschung in Form einer 83
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„Indem der Protestantismus von dem historischen Christus ausgieng, den er dem mythischen der römischen Kirche entgegenstellte, hat er zu gleicher Zeit das Bedürfniß gefühlt, auf die Idee Christi zurückzugehen, sie begrifflich auszuprägen und darzulegen. // Wir haben diese Idee: die Idee der Gottmenschlichkeit genannt. Daß gottmenschliches Leben in Christo war, hat sich uns zwar als historische Thatsache ergeben: als eins mit Gott, seiner menschlichen Erscheinung nach, hat er sich nicht nur selbst dargestellt, sondern die gläubige Gemeinde hat ihn auch so angeschaut. Es kam aber darauf an, diese Idee der Gottmenschlichkeit begrifflich zu entwickeln, wissenschaftlich festzustellen. In wie fern der Protestantismus diese Aufgabe gelöst hat, haben wir jetzt zu untersuchen.“ So Daniel Schenkel (1813–1885): Das Wesen des Protestantismus aus den Quellen des Reformationszeitalters, Band 1: Die theologischen Fragen, Schaffhausen 1846, S. 314. David Friedrich Strauß: Das Leben Jesu kritisch bearbeitet, Band 1, Tübingen 1835, S. 75. Gustav Weil: Historisch-kritische Einleitung in den Koran, Bielefeld 1844.
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Leben Muhammad-Forschung.86 Doch statt eines Mythos meinte er nur, einen „Hysteriker“ Muhammad freilegen zu können.87 Die historische Kritik der Leben Muhammad-Forschung bedeutete also nicht, die Berichte über Muhammad als Mythos auszuweisen. Eine theologische Lesung Muhammads (und des Koran) war nicht möglich, so daß die historische Kritik in eine psychologischen Kritik an Muhammad führen sollte. Der Historismus von Weil, Sprenger, Dozy, später von Nöldeke und Michael Jan de Goeje (1836–1909) und anderen klammerte den Islam als Religion im Sinne der damaligen Mythologen konsequent aus.88 Cultur Es gehörte zum Standard akademischer Texte des 19. Jahrhunderts, Sachverhalte als Entitäten zu begreifen, deren Essenz als gegebenes „Wesen“ erkannt werden könne. Damals noch wurde diese „Essenz“ allgemein mit dem griechischen Begriff οὐσία ausgedeutet. Das „Wesen“ war zugleich die „Natur“ einer Sache, es bestimmte also auch das Werden (γέυεσις), zudem aber das „Wesen“ gegenbegrifflich gedacht war. Im Laufe des 18. und frühen 19. Jahrhunderts konnte praktisch alles nach seiner Wesenhaftigkeit bestimmt werden: Recht, Gelbes Fieber, Gelehrte (Vorlesung von Johann Gottlieb Fichte, 86
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Aloys Sprenger: Das Leben und die Lehre des Mohammad: nach bisher größtentheils unbenutzten Quellen, Berlin 1869, hatte über Jahrzehnte das Muhammad-Bild in der deutschsprachigen Publizistik geprägt. Sprenger wurde immer wieder mangelnde Philologie vorgeworfen; sein teils skurriles Muhammad-Bild wurde eher beiläufig zur Kenntnis genommen. Bemerkenswert ist, daß er mit Moritz Lazarus 1860–1867 Mitglied der philosophischen Fakultät der Berner Universität war. Solche Pathographien über Muhammad waren um 1850 gang und gäbe, später, vor allem um die Jahrhundertwende, aber keineswegs auf Muhammad beschränkt. Albert Schweitzer verwies in seiner medizinischen kurzen Dissertation von 1912 „Darstellung und Kritik der von medizinischer Seite veröffentlichten Pathographien über Jesu“ (gedruckt unter dem Titel „Die psychiatrische Beurteilung Jesu. Darstellung und Kritik“, Tübingen 1913) auf entsprechende Lesungen des Lebens Jesu. Auch Luther und Buddha wurden pathographisch gedeutet und in das Genie-Wahnsinn-Schema eingeordnet. William Muir: The Mohammedan controversy; Biographies of Mohammed; Sprenger on tradition; The Indian liturgy; and the Psalter, Edinburgh 1897; bes. S. 1041–151 zu Sprenger.
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Erlangen 1805), Nervenfieber, Freiheit (Schelling: Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freyheit) Chemismus, Kirche, Welt, Geist (Hegel), das Böse89, schöne Literatur, Universitäten, Magnetismus, Unterricht, Seele, griechische Mythologie, Geschichte, Artillerie, Abendmahl, Mensch, Konditionalsatz, Infinitiv, Rationalismus (Hubert Karl Philipp Beckers 1830, Andreas G. Rudelbach 1830), Wechselfieber, Torf, Geiz, und vieles mehr. Diese Liste zeigt, wie prominent Erklärungsstrategien waren, die auf das Erkennen des Wesens einer Sache abzielten. Natürlich gehörte seit der Aufklärung auch die Religion beziehungsweise das Christentum dazu. Herder hatte den Geist als das Wesen des Christentums angenommen: „Geist ist das Wesen des Lutherthums, wie Geist das Wesen des Christenthums ist; freie Ueberzeugung, Prüfung und Selbstbestimmung; ohne diesen Geist der Freiheit ist oder wird alles Leichnam.“90 Konventionell wurde dies zum Beispiel bei dem Schellingschüler und Lyzeumslehrers Carl Petersohn wie folgt ausformuliert: „Von Ewigkeit her gewehrt Gott der Vater sein Wesen in die Form, das Unendliche ins Endliche, und nimmt das Endliche wieder ins Unendliche zurück. Die Geburt des Idealen ins Reale wird im Christenthum in der Idee Christus symbolisirt, so wie die Zurückführung des Endlichen ins Unendliche in der Idee des heiligen Geists: dies ist das Wesen des Christenthums, welches selbst nichts anders, als die geoffenbarte Dreieinigkeit ist.“91 Allerdings ergaben sich hier im Streit zwischen Katholiken und Protestanten, Pietisten und Rationalisten gewichtige Unterschiede: während letztere das Wesen der Religion als Teil in einer durch Vernunft begründeten Dogmatik sahen, bestimmten erstere ihr Wesen im Gefühl, im Glauben, in der ästhetischen Symbolik und/oder in der „religiösen Ahnung“. Für den Protestantismus wurden Geist und Freiheit als Wesenszüge reklamiert: Wilhelm Martin Leberecht de Wette betonte: „Vor allen Dingen erklärt sich der Protestantismus gegen die Priesterherrschaft, und nimmt die Geistes-Freyheit in Anspruch, welche das Wesen des Christenthums ausmacht. Die Streitfragen, welche zwischen den Refor89
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Martin Balduin Kittel: Ueber die Natur und das Wesen des Bösen: Eine philosophische Abhandlung, Aschaffenburg 1818. Johann Gottfried Herder: Von der Gabe der Sprachen am ersten christlichen Pfingstfest [1794], in: ders.: Sämmtliche Werke, Band XI/1: Religion und Theologie. Christliche Schriften, Karlsruhe 1828, S. 1–78, hier S. 68. Carl Petersohn: Abhandlung über die Construction des Wissens, Mannheim, Heidelberg 1806, S. 83.
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matoren und den Anhängern des alten Systems verhandelt wurden, lassen sich auf die einzige einfache Frage zurückführen: ob man der katholischen Geistlichkeit und vornehmlich dem Pabste, oder Christo glauben soll? Und eigentlich dreht sich noch jetzt aller Streit zwischen der katholischen und protestantischen Kirche um dieselbe Frage. Wenn es nicht eine herrschsüchtige, nach der alten Herrschaft lüsterne Priesterschaft bey den Katholiken gäbe, so gäbe es überhaupt keinen Streit zwischen beyden Kirchen, oder es fehlte ihm wenigstens aller Reiz. Alle streitigen Artikel beziehen sich näher oder entfernter auf die Wichtigkeit des Priesterstandes und der kirchlichen Einrichtungen und Gebräuche, welche er zu behaupten und zu handhaben hat.“92 Bestimmte Religionen wurden so konsequent von ihrem postulierten Wesen her gedacht. Die Wesensbestimmung des Islam fiel sehr unterschiedlich aus: Die Herausgeber des Intelligenzblatts der „Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung“, Johann Wolfgang Goethe und Christian Gottlob Voigt, kritisierten die Bestimmung des Wesens des Islam nach den gängigen Mustern Gewalt, Vielweiberei und Paradiesverheißung und definierten ihrerseits sein Wesen „darin, daß seine Glaubenslehre nur wenige und einfache, aber dem gesunden Menschenverstand einleuchtende Satze der natürlichen Religion enthält. Der reine Deismus, welcher sich in dem Islam ausspricht, und von den Völkern, die ihn annahmen, eine Menge crass abergläubischer Begriffe entfernen sollte, stach ausfallend von dem Wirrwarr der Theologie ab, welche alle damaligen Secten lehrten.“93 Diesem Urteil schloß sich auch Johann Carl Fürchtegott Schlegel (1758–1831) an und kommentierte: „Man kann ohne ungerecht zu seyn, nicht wohl annehmen, daß eine Religion, die nun bereits dreyzehn Jahrhunderte hindurch besteht, und gegenwärtig etwa 160 Millionen Bekenner zählt, ganz ohne Werth sey. [. . .] Indessen gehen aus dem innern Wesen des Islams manche Hindernisse hervor, die es erschweren, das dieses Gute nicht zu höherer Reife gedeihe. Den schnel92
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Wilhelm Martin Leberecht De Wette: Ueber die Religion, ihr Wesen, ihre Erscheinungsformen und ihren Einfluß auf das Leben: Vorlesungen, Berlin 1827, S. 487. Besprechung von Konrad Engelbert Oelsner: Mohamed. Darstellung des Einflusses seiner Glaubenslehre auf die Völker des Mittelalters. Eine Preisschrift, welche von dem französischcn National-Institut der Wissenschaften am 7. Julius 1809 gekrönt wurde. Aus dem Französischen übersetzt und mit Zusätzen des Verfassers vermehrt von E. D. M., Frankfurt a. M. 1810, in: Intelligenzblatt der Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung 8 (1811) 55, S. 433–439.
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len Fortgang verdankt der Islam außer der Hülfe der Waffen, der man jedoch nicht alles allem zuschreiben darf, neben manchen erhebenden und würdigen Vorstellungen der Gottheit, neben manchen angemessenen sittlichen Vorschriften, hauptsächlich der Einfachheit der Lehre, der Religionspflichten und Gebräuche, der möglichsten Erleichterung in Erfüllung derselben, weil man dabey mehr auf die Beobachtung der äußern Gebräuche und Handlungen, als auf die innern Gesinnungen Rücksicht nimmt, der wenigen Beschränkung mancher sinnlichen Genüsse, und vorzüglich den glänzenden Verheißungen, welche den Bekennern bevorstehen; dahingegen diejenigen, welche die Annahme verweigern, endlose Qualen zu erwarten haben sollen.“94 Der Wesensbegriff erlaubte also eine Differenzierung zwischen Islam und seiner Geschichte, und zwar in zweierlei Hinsicht: zum einen, um den Islam vor seiner Geschichte zu retten, zum anderen, um die Geschichte des Islam durch dessen Wesen determiniert zu sehen. Die erste Sichtweise prägte die romantische Ausdeutung des Islam, die zweite dessen philologisch-historische Interpretation. Die Umdeutung der Mythologie zu einer Religionswissenschaft verlief parallel zur Ausdeutung einer Culturgeschichte durch die Historik. Dies sollte gerade für den Islam bedeutsam werden. Da der Kontext Religion für den Islam als nicht maßgeblich angesehen wurde, galt der Begriff Cultur als optimale Ordnungskategorie, um den Orient und dann auch den Islam näher bestimmen zu können. Ein kurzer Rückblick: Culturgeschichte wurde seit den 1780er Jahren geschrieben.95 Anfangs war damit – noch in Analogie zu civilisation – eine allgemeine „Culturgeschichte der Menschheit“ gemeint. Der Berner Theologe Phillipp Albert Stapfer (1766–1840), Freund von Alexander von Humboldt in Paris, benutzte dieses Konzept in einer oft gedruckten Schrift aus dem Jahr 1792.96 Üblich war es, unter Cultur „die Annäherung an die vollkommensten Zustände der bürgerlichen Gesellschaft“ 94
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Johann Carl Fürchtegott Schlegel: Ueber den Geist der Religiosität aller Zeiten und Völker, Band II, Hannover 1819, S. 292 f. D[ietrich] H[ermann] Hegewisch (1740–1812): Allgemeine Uebersicht der deutschen Culturgeschichte bis zu Maximilian dem Ersten: ein Anhang zur Geschichte dieses Kaisers, Hamburg 1788; cf. zum Ganzen Hans Schleier: Geschichte der deutschen Kulturgeschichtsschreibung, Teil 1–2. Vom Ende des 18. bis Ende des 19. Jahrhunderts, Waltrop 2003. Philipp Albert Stapfer: Die fruchtbarste Entwicklungsmethode der Anlagen des Menschen zufolge eines kritischphilosophischen Entwurfs der Culturgeschich-
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zu verstehen.97 Maßgeblich wurde Johann Christoph Adelungs „Versuch einer Geschichte der Cultur des menschlichen Geschlechts“ aus dem Jahr 180098. Der lutherische Theologe Daniel Jenisch (1766–1804) faßte die Culturgeschichte in die spekulative Philosophie ein99, differenzierte politische Cultur von moralischer, ästhetischer und wissenschaftlicher Cultur und territorialisierte sie zugleich im Kontext einer „europäischen Cultur“.100 Den Geltungsanspruch seiner Arbeiten bezeichnete er als die Vollendung der Philosophie der Culturgeschichte. Zeitgenossen aber sahen in seinem Werk nichts, was es von einer Philosophie der Geschichte überhaupt unterscheiden würde. Man beklagte, daß Jenisch Culturgeschichte nur beschreibend betrieb und „von der Philosophie der Culturgeschichte keine bestimmte Erklärung gab“.101 Hier half Hegels Kanonisierung der Unterscheidung zwischen subjectivem und objectivem Geist weiter, indem diese der Unterscheidung zwischen Psychologie und Culturwissenschaft entsprach und die Geisteswissenschaft im Sinne von Philosophie des Geists überhaupt als übergeordneter Ordnungsbegriff fest etablierte. So konnte Noack resümieren: „Die Religion gehört, nach Hegel, in die Sphäre des absoluten Geistes und hat an der Sittlichkeit, so wie an der Kunst ebenso ihre Voraussetzung, wie sie selbst wieder die Voraussetzung für die Philosophie ist, die als die Wahrheit und Vollendung des religiösen Standpunkts erscheint. Das Wesen der Religion ist, der formellen Seite nach, ursprünglich weder Gefühl, noch Vorstellung, son-
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te unsers Geschlechts: in der Form einer Apologie fuer das Studium der classischen Werke des Alterthums. Eine bei Eroeffnung der Vorlesungen des politischen Instituts den 13. Nov. 1792 gehaltene Rede, Bern 1792. Franz Julius Borgias Schneller (1777–1833): Weltgeschichte zur gründlichen Erkenntniß der Schicksale und Kräfte des Menschengeschlechtes. I. Vorwelt, Grätz [Graz] 1808, S. 254. Johann Christoph Adelung: Versuch einer Geschichte der Cultur des menschlichen Geschlechts, Leipzig 1800. Daniel Jenisch: Universalhistorischer Ueberblick der Entwicklung des Menschengeschlechts als eines sich fortbildenden Ganzen: eine Philosophie der Culturgeschichte in zwey Bänden, Berlin 1801. Daniel Jenisch: Geist und Character des 18. Jahrhunderts, politisch, moralisch, ästhetisch und wissenschaftlich, III Bände, Berlin 1800–1801 (3. Band unter dem Gesamttitel „Cultur-Geschichte des achtzehnten Jahrhunderts“). Friedrich August Carus (1770–1807): Abriß einer Geschichte der Geschichte der Menschheit, in: ders.: Ideen zur Geschichte der Menschheit (Nachgelassene Werke, Band 6), Leipzig 1809, S. 6–46, hier S. 37.
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dern Denken in der Form der ihren Inhalt aus sich heraussetzenden Vorstellung, so daß die Religion als diejenige Weise des Bewußtseins von Gott erscheint, in welcher die göttliche Wahrheit für alle Menschen ist. Das Absolute, der Geist, ist der Inhalt auch der Religion, deren Standpunkt aber der ist, das Absolute als ein Fremdes und Jenseitiges außer sich und sich gegenüber zu haben. Der Anfang der Religion ist eben dieser Gegensatz Gottes und des Subjects, des Jenseits und des Diesseits; die treibende Macht und innere Bewegung der Religion geht aber darauf aus, diesen Anfang des religiösen Standpunkts zu überwinden, den Gegensatz zwischen Gott und dem Subject aufzuheben, aus dem Dualismus der religiösen Vorstellung heraus zu kommen und Gott in sich und sich in Gott zu wissen. In ihrer Wahrheit und Vollendung oder in ihrem Begriff ist die Religion zum philosophischen Standpunkt erhoben und ist hier als das Selbstbewußtsein des absoluten Geistes begriffen, d. i. als das Wissen des göttlichen Geistes von sich selbst durch die Vermittlung des endlichen Geistes. Das Sichselbstwissen Gottes und das vollendete Selbstbewußtsein des Menschen sind auf dieser Höhe des zum philosophischen Wissen erweiterten religiösen Standpunktes eins und identisch; das Selbstbewußtsein der Menschheit ist eben das absolute Selbstbewußtsein Gottes, das Wissen Gottes von sich selbst.“102
In Konsequenz wurden die seit dem Ende des 18. Jahrhunderts gebräuchlichen Bezeichnungen „Geist des Islams“ oder „Wesen des Islams“ dem Begriff „Cultur“ zugeordnet. Daß dieser Geist selbst Cultur ist, die Cultur also auch geistig ist, hatte schon Hegel selbst bestimmt.103 Lange, bevor Dilthey die Methodologie der Geisteswissenschaft proklamierte, gehörte die Bezeichnung „Geist des Islam“ zum Repertoire islambezogener Publikationen. Sie findet sich schon 1795 in einem Werk des Kantianers und Verfechters eines theologischen Radikalismus, Christian Wilhelm Flügge (1772–1828),104 und später in einem Handbuch des Historikers Friedrich Christian Rühs (1781– 102
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Ludwig Noack: Mythologie und Offenbarung. Die Religion in ihrem Wesen, ihrer geschichtlichen Entwicklung und ihrer absoluten Vollendung, Band 2: Die absolute Religion oder die vollendete Offenbarung Gottes in der Religion, Darmstadt 1846, S. 367 f. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830), in: ders.: Werke, Band 10, Frankfurt a. M. 2003, S. 274. Christian Wilhelm Flügge: Geschichte des Glaubens an Unsterblichkeit, Auferstehung, Gericht und Vergeltung, Band II, Leipzig 1795, S. 279: „Der Geist des Islam lehrt schon, daß es vor allen die Nicht-Moslemin sind, welche bis zum letzten Gerichtstage jene schreckliche Quaalen ausstehen müssen.“
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1820).105 Für Johann Joseph Ignaz von Döllinger (1799–1890) war der „Geist des Islam“ praktisch eine vulgäre Form des Protestantismus. Die arabischen Wahhabiten wurden von ihm entsprechend als Puritaner gedeutet.106 Carl Daub (1765–1836), der Vertreter einer spekulativen Restauration des orthodoxen Dogmas im hegelianischen Sinne, bemühte sich um eine Charakterisierung dieses Geistes: „Der Unterschied ist der, in der christlichen Religion ist durch den Inhalt und durch das Wesen der Religion selbst keinem, der sich zu ihr bekennt, eine Schranke gesetzt für seinen Glauben. Der Geist der Menschheit, dessen Wesen wie das Wollen so das Denken ist, hat das Denken nur als rein menschliches, indem es das absolute Zweifeln zu sein vermag; das ist das Characteristische der christlichen Religion, daß sie zum unbedingten Zweifel auffordert. Darin ist jener morgenländische Geist des Islam der bornirte, daß er den absoluten Zweifel nicht darf aufkommen lassen.“107 Die öffentlichen Meinungsurteile über den „Geist des Islam“ waren zumeist vernichtend. Bruno Bauer sah seine Wirkung dort, wo Muslime Vertragstexte verschleierten,108 der Historiker und Redaktor Johann Wilhelm Zinkeisen (1803–1863) beklagte den Tod des Geistes des Islam im Osmanischen Reich,109 und fast schon standardmäßig wurde er in einem Eroberungs- und Unterdrückungswillen, in Zwangsgewalt und Feindschaft gegenüber den Wissenschaften gesehen. 105
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Christian Friedrich Rühs: Handbuch der Geschichte des Mittelalters, Wien 1817, S. 260, zu den Ismailiten, die anfangs mit dem „Geist des Islam“ übereinstimmten. Joseph Ignaz von Döllinger: Muhammed’s Religion nach ihrer inneren Entwicklung und ihrem Einflusse auf das Leben der Völker. Eine historische Betrachtung, München 1838. Carl Daub: System der christlichen Dogmatik, Band I, Berlin 1841, S. 644. Daubs Sichtweise belegt einen weiteren Zusammenhang: Indem er den Islam paradigmatisch an das Christentum anschloß, insofern beide „Geist der Menschheit“ und nicht wie das Judentum „Geist der Nation“ seien, sei das Judentum „auszuschließen“. Die Differenz zwischen Islam und Christentum postulierte er in der Unfähigkeit des Islam zum unbedingten Zweifel, zu dem das Christentum aufriefe. Islam und Judentum hingegen ähnelten sich in Hinblick auf „Andacht und Unterwerfung“, doch sei anders, „als sie im Judenthum war, das Knechtische ist weg“. Bezogen auf den osmanisch-russischen Frieden von Küçük Kainarca 1774. Bruno Bauer: England und Rußland, Charlottenburg 1854, S. 67 f. Johann Wilhelm Zinkeisen: Geschichte des osmanischen Reiches in Europa, 3. Theil, Gotha 1855, S. 341.
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Die seit den 1840er Jahren benutzte Bezeichnung „Cultur des Islam“ behauptet noch nicht, daß der Islam selbst Cultur sei; hinter dieser Bezeichnung verbirgt sich eher die Vorstellung, daß die Kultur an sich im Kontext des Islam eine Partikularität aufweise. Das gleiche gilt auch für die Bezeichnung „Geist des Islam“. Auch hier galt der Islam lediglich als Option der Objectivierung des Geistes überhaupt oder als Besitzverhältnis. Hier war Cultur die als Islam erfolgte Objectivierung des Geistes. Islam war so nicht Teilhaber am absoluten Geist. Eine Pluralisierung der Cultur im Sinne von Culturen und damit eine Attribuierung mit spezifischen Begriffen kannte natürlich schon Herder. Die Attribute aber waren meist „national“. Eine Beeigenschaftung der Cultur durch Religionen wurde erst in den 1830er Jahren populär. Eine sehr frühe Formulierung einer spezifischen religionsbezogenen Cultur findet sich in einer Besprechung von der kleinen Schrift von [Heinrich] Daniel Andreas Sonne (1780–1832) „Der Gott Abrahams. Die erste Epoche der UniversalCulturgeschichte“, die 1806 erschien.110 Der Inhalt dieses Büchleins wird als „religiöse Culturgeschichte der Juden“ bezeichnet, wobei Sonne „den Gott Abraham’s nicht bloß als die erste Epoche der religiösen Jüdischen Cultur, sondern als die erste Epoche der Universal-Cultur darstellt, also nicht nur den Anfang der religiösen Jüdischen Bildung, sondern den Anfang der allgemeinen bis auf unsere Zeit herab fortschreitend bemerklichen Menschenbildung von der Entwicklung des Begriffes und von der Verbreitung des Glaubens an den Gott Abraham’s ausführt.“ Diese Qualifizierung von Cultur ist aus mehreren Gründen interessant. Zum einen wird hier erstmals Cultur durch den Begriff Religion näher qualifiziert. Dann wird diese Qualität der Cultur auf die Juden bezogen; dies schließlich deutet an, daß das Judentum primär als „Cultur“ definiert wurde. Religion sei das Judentum daher erst durch den Verweis auf Cultur. Diese Tendenz hatte auch eine 1785 veröffentlichte Schrift des Greifswalder Theologen und Kantschülers Gottlieb Schlegel111, in der dieser explizit eine „Cultur der Juden“ ansprach. Daß Juden eine Cultur haben, war gewiß mit der Vorstellung verknüpft, sie bildeten eine „Nation“ (im vor110
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Daniel Andreas Sonne: Der Gott Abrahams. Die erste Epoche der UniversalCulturgeschichte, in: Göttingische gelehrte Anzeigen, 46. Stück, 22.3.1806, S. 449–451, hier S. 450. Gottlieb Schlegel (1739–1810): Zusatz zu den Vorschlägen und Mitteln über die bürgerliche Cultur und Religionsaufklärung der jüdischen Nation. Mit einigen Nachrichten von den Juden in Polen und den rußischen Provinzen, Königsberg [1785].
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republikanischen Sinne, natürlich). Da „Cultur“ ja mit Herder „national“ gedacht war, war auch die Cultur der Juden nicht notwendig mit Religion verbunden. Das bedeutet natürlich nicht, daß nicht auch von einer „jüdischen Religion“ gesprochen wurde. Dies war ja gerade im 18. Jahrhundert die übliche Bezeichnung für das Judentum gewesen. Auffällig ist vielmehr die Neuzuordnung des Judentums unter das national gedachte Konzept der Cultur. Ebenso verhielt es sich mit der Bezeichnung „muhammedanische Religion“, die nun ebenfalls als Cultur neugedeutet wurde. Auf den Islam bezogen stammen die ersten Belege allerdings erst aus den 1840er Jahren.112 Die Behauptung, daß Cultur spezifische Eigenschaften haben kann und durch diese Eigenschaften von anderen „Culturen“ differenziert werden könne, daß es also die Eigenschaften sind, die eine bestimmte Cultur definierte, erlaubte den Vergleich. In seiner „Rede zur Eröffnung der elften Versammlung Deutscher Philologen, Schulmänner und Orientalisten, gehalten zu Berlin am 30. September 1850“ hatte August Boeckh gefordert: „Wie verschieden auch das Morgenländische und das Klassische sein mag, kann sich bei dem gegenwärtigen Standpunkte der Sprachforschung die Grammatik der klassischen Sprachen nicht mehr der Verbindung mit der vergleichenden Grammatik der Indo-Germanischen Sprachen entschlagen: schon hierin ist eine Gemeinschaft der morgenländischen Philologie mit der klassischen hinlänglich begründet; und um die Streitfrage bei Seite zu lassen, welchen Einfluß das Morgenland und vorzüglich Aegypten auf die klassischen Völker des Alterthums gehabt, muß auf jeden Fall zugegeben werden, daß nicht nur die spätere Geschichte des Morgenlandes, besonders seit der Herrschaft der Perser in den östlichen Küstenlinien des Mittelmeeres, mit der Geschichte der klassischen Völker verwebt ist, sondern daß auch wie die Sprachen, so die ältesten Vorstellungen der vorgenannten morgenländischen und der klassischen Völker unbeschadet der streng ausgebildeten Hellenischen Eigenthümlichkeit vielfache Berührungspunk112
Sachlich fand der Islam auch in sogenannten Standardwerken Berücksichtigung, wie etwa Gustav Klemm (1802–1867): Allgemeine Culturwissenschaft. Die materiellen Grundlagen menschlicher Cultur, 2 Bände, Leipzig 1854/1855; ders.: Allgemeine Cultur-Geschichte der Menschheit, 10 Bände, Leipzig, 1843–1852, Band VII („Das Morgenland“, 1849), S. 416–444, behandelt den Islam konventionell in Form einer Biographie Muhammads, der dann eine sehr knappe Ausführung zum Koran folgt. Kurios ist seine Einteilung der „mohamedanischen Gesetzgebung“ in „Islam“ als Glaubenslehre und und „din“ als „Sittenlehre“ (S. 440).
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te haben, am deutlichsten in Religion und Mythologie, und daß die Geschichte der klassischen Kunst, welche wir als einen Theil der Philologie in Anspruch nehmen, von der Kenntnis der morgenländischen Kunstdenkmäler nicht getrennt werden kann: ja ich möchte behaupten, wie sich die vergleichende Sprachenkunde gebildet hat, ebenso dürfte sich eine vergleichende Culturgeschichte des gesammten Alterthums mit der Zeit als eine Hauptaufgabe der philologischen Wissenschaft herausstellen. Statt also einen Gegensatz zwischen den morgenländischen und den klassischen Studien setzen zu wollen, mögen wir vielmehr das in unserem Vereine dargestellte Band derselben freudig begrüßen.“113 Dieses Programm wurde in den 1850er Jahren populär und zunehmend jenseits der Altertumswissenschaften generalisiert. Es sollte aber bis in die 1870er Jahre dauern, bis diese eher assoziative Bezeichnung einer vergleichenden Culturgeschichte einer systematischen Bestimmung wich. Der Empirist und Positivist Friedrich Jodl (1849–1914), damals noch Dozent an der Bayerischen Kriegsakademie in München, rekapitulierte culturgeschichtliche Werke, die zwischen 1831 bis 1875 publiziert worden waren und leitete daraus kritisch ein Vier-Punkte-Programm ab, das der Culturgeschichtsschreibung zugrunde liegen sollte. Kernpunkt war der Begriff des „Strebens“ der Menschen, und zwar nach Beherrschung der Natur, nach rechtlicher, sozialer und politischer Organisation, nach Durchsetzung staatlicher Macht und nach dem Ideal überhaupt. Letzterem lagen seiner Sicht nach Religion, Recht und Sitte, Wissenschaft sowie Kunst zugrunde.114 Methodisch ging es ihm um Synthese, Generalisierung und Vergleich, woraus dann Regelmäßigkeiten, ja Gesetze abgeleitet werden sollten.115 Dieses Programm ersetzte das von François Guizot seit 1828 immer wieder propagierte Paradigma einer „allgemeinen Geschichte der Civi113
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Verhandlungen der elften Versammlung deutscher Philologen, Schulmänner und Orientalisten zu Berlin, vom 30. September bis 5. October 1850, Berlin 1850, S. 14–25, hier S. 18, auch in: August Boeckh: Reden gehalten auf der Universität und in der Akademie der Wissenschaften zu Berlin, hrsg. von Ferdinand Ascherson, Leipzig 1859, S. 183–199, hier S. 188 f. Oft nachgedruckt. Friedrich Jodl: Die Culturgeschichtsschreibung. Ihre Entwicklung und ihr Problem, Halle 1878. Zum Ganzen auch Hans Schleier: Neue Ansätze der Kulturgeschichte zwischen 1830 und 1900. Zivilisationsgeschichte und Naturgesetze. Darwinismus und Kulturbiologismus, in: Ulrich Muhlack (Hg.): Historisierung und gesellschaftlicher Wandel in Deutschland im 19. Jahrhundert, Berlin 2003, S. 137–158.
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lisation“, deren Zweck es war, als wichtigste Geschichte überhaupt die Geschichte der „Culturstufen“ in Europa zu erarbeiten. Für deutsche Culturgeschichtlicher wie für den Staats- und Cameralwissenschaftler Johann Carl Glaser (1814–1894) erschien zwar Guizots Werk nicht „tief, aber gemüthlich und doch präcis, wie nur ein Franzose kann“ und sowieso nur auf „politische und sogenannt sociale Betrachtungen“ beschränkt, „denen die religiösen, philosophischen und literarischen nur als Illustration dienen, nicht als Grund und Ziel; wobei dann freilich versichert wird, daß der Geist regiere, nicht die äußeren Kräfte.“116 Der Guizot der Engländer, Henry Thomas Buckle (1821–1862), dessen Werk „History of Civilization“ in England (1858/1861) – vor allem durch Arnold Ruges Übersetzung bekannt geworden – ungeheures Aufsehen und lebhafte Diskussion hervorgerufen hatte, wurde hingegen von Jodl – sicherlich auch wegen des ihnen gemeinen Bezugs zu Hume – überaus positiv rezipiert. Ab etwa 1815 wurde Culturgeschichte also partikularisiert. Seitdem war es möglich, bestimmte Sachverhalte mit einer Culturgeschichte auszustatten (Medizin, Nord- und Südamerika etc.), das heißt, die allgemeine menschliche Culturgeschichte wurde zunehmend in Teilfelder zerlegt (vornehmlich Altertum).117 Staat, Kirche und Cultur traten schon bald in eine Sinneinheit. Der Orient wurde erstmals von dem Greifswalder Theologen und Orientalisten Johann Gottfried Ludwig Kosegarten (1792–1860) einer Culturgeschichte zugeordnet.118 Wilhelm Wachsmuth (1784–1866) schloß den Islam im Kontext seiner Betrachtungen zum „germanisch-arabischen Zeitalter“ zunächst in sehr knapper Form ein,119 erweiterte dann aber seine Darlegung zur „muselmännischen Cultur“ erheblich.120 Hierunter subsumierte er das Leben Muhammads, dynastische Geschichte, Ökonomie, Sprache, Bildung, Wissenschaft und 116
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Jahrbücher für Gesellschaft- und Staatswissenschaften, hrsg. von Johann Carl Glaser, 2 (1865) 3, S. 429. Glaser war damals noch an der Universität Königsberg und wurde 1868 an die Universität Marburg berufen. Popularisiert durch die Serie „Allgemeine Taschenbibliothek der menschlichen Culturgeschichte“, verlegt bei Hilscher in Dresden seit 1828. Seine Morgenländische Alterthumskunde erschien 1831 in der Reihe „Allgemeine Taschenbibliothek der menschlichen Culturgeschichte“. Wilhelm Wachsmuth: Grundriß der allgemeinen Geschichte der Völker und Staaten, 2. Aufl., Leipzig 1839, S. 122–124. Wilhelm Wachsmuth: Allgemeine Culturgeschichte, Band 1, Leipzig 1850, S. 513–598. Ähnlich schon in seinem „Leitfaden zu Vorlesungen über die allge-
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Kunst (Poesie). Er differenzierte deutlich zwischen der „muselmännischen Cultur“ und dem Islam. Letzterem mochte er keinen Anteil an der „geistigen Cultur“ zubilligen. „Cultur“ sei bei Muslimen nur durch Aneignung des Fremden entstanden. Sie hätten die erstaunliche Fähigkeit, überall, wohin sie verpflanzt würden, „die edelste Impfung“ zu empfangen.121 Dem Ausschluß des Islam aus der „Culturfähigkeit“ lag die von Ernst von Lasaulx (1805–1861) auf den Satz gebrachte Behauptung zugrunde: „Denn alle Kultur und Wissenschaft ist im Momente ihrer Produktion pantheistisch, nicht monotheistisch.“ Das war auch für Jacob Burckhardt unumstößliche Wahrheit. Daher stellte er, das Dictum von Lasaulx als Referenz nehmend, knapp und bündig fest: „Der Islam, der eine so furchtbar kurze Religion ist, ist mit dieser seiner Trockenheit und trostlosen Einfachheit der Kultur wohl vorwiegend eher schädlich als nützlich gewesen, und wäre es auch nur, weil er die betreffenden Völker gänzlich unfähig macht, zu einer andern Kultur überzugehen. Die Einfachheit erleichterte sehr seine Verbreitung, war aber mit derjenigen höchsten Einseitigkeit verbunden, welche der starre Monotheismus bedingt, und aller politischen und Rechtsentwicklung stand und steht der elende Koran entgegen; das Recht bleibt halbgeistlich.“122
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meine Weltgeschichte“, Leipzig 1833, S. 97, wo er unter „muselmännische Cultur“ Poesie, Bibliotheken, Sprachen, 1001 Nacht, Wissenschaft und Philosophie faßte. Eine Durchsicht der Texte, in denen das Attribut muselmännisch verwendet wird, zeigt, daß damit sehr selten bestimmte Sachverhalte als „islamisch“ qualifiziert wurden; vielmehr handelt es sich einfach um die Kollektivbezeichnung, die ausdrückte, auf wen ein bestimmter Sachverhalt (z. B. Reiche, Häfen, Höfe, Geschichte, Völker etc.) bezogen ist. Muselmännische Cultur bezeichnet damit etwas anderes als „islamische Cultur“ oder, wie v. a. zwischen 1870 und 1910 gebraucht, „islamitische Cultur“. Arthur Schopenhauer hingegen sprach schon 1859 von „islamitischen Völkern“, vgl. „Anhang zu ‚Metaphysik der Geschlechtsliebe‘“, in: ders.: Die Welt als Wille und Vorstellung, Band 2, 3. Aufl., Leipzig 1859, S. 641–649, hier S. 643. Wilhelm Wachsmuth: Allgemeine Culturgeschichte, Band 1 (wie Anm. 120), S. 533. Jacob Burckhardt: Über geschichtliches Studium. Neues Schema [1868], in ders.: Aesthetik der bildenden Kunst: Über das Studium der Geschichte: mit dem Text der ‚Weltgeschichtlichen Betrachtungen‘ in der Fassung von 1905 (Jacob Burckhardt: Werke. Kritische Gesamtausgabe, Band 10, hrsg. von Peter F. Ganz), München 2000, S. 211 (= Jacob Burckhardt: Weltgeschichtliche Betrachtungen, repr. New York 1979, S. 75).
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Dies zeigt, wie ähnlich Cultur und Mythos verstanden wurden. Der Monotheismus, der wegen der ihm zugeschriebenen Deontologie nicht als „schöpferische Kraft“ gesehen wurde, galt als Gegenwelt des Mythos und der Cultur. Und wieder meinte dies, daß der Islam als radikaler Monotheismus keinen Platz im Gefüge der Mythos/Cultur-Einheit haben könne. Der Islam war also zunächst weder Mythos noch eigentlich Cultur. Gegenstand einer auf den Orient bezogenen Culturgeschichte konnte so nicht der Islam selbst sein, sondern das, was im Kontext des Islam historisch hervorgerufen erschien, und das war für den österreichischen Diplomaten und Orientalisten Alfred von Kremer (1828–1889) im Anschluß an seine Lesung von Ibn Khaldun der Staat. Er begründete seine Auffassung wie folgt: „Da wir den Staat als selbstständigen Organismus betrachten, der als solcher sein eigenes Leben und seine eigenen Gesetze der Entwicklung hat, so muß die Culturgeschichte nach zwei Richtungen hin ihre Aufgabe zu lösen suchen. Zuerst hat sie die Entstehung und Ausbildung des staatlichen Gemeinwesens zu verfolgen, dann aber die innerhalb dieses großen Rahmens zur Thätigkeit kommenden Kräfte der einzelnen; die Gesammtheit der Nation bildenden Volksklassen zu erforschen und darzustellen. Der Staat für sich betrachtet; ist im Völkerleben ein Individuum; wie jeder einzelne Mensch im Privatleben. Gerade so sind zwei Heere; deren jedes zwar aus Hunderttausenden von menschlichen Monaden zusammengesetzt ist, wenn sie auf dem Schlachtfelde sich gegenüber stehen; doch nur zwei compacte, wie aus einem Gusse hervorgegangene Massen, von welchen jede für sich ihr eigenes Leben, ihre eigenen Gesetze der Erhaltung oder Auflösung in sich trägt. Und diese Gesetze entsprechen genau der Summe der Anlagen und Kräfte all der unzähligen einzelnen Individuen, die staatlich oder militärisch vereinigt; einen Staat oder ein Heer bilden. So ist für uns der Charakter des Staates der Ausdruck der Summe von individuellen Charaktertypen der den Staat zusammensetzenden Menschen. Die vorherrschend übereinstimmenden Anlagen eines Volkes bestimmen dessen Rassencharakter. Dieser ist das differenzirende Element unter den Völkern und trennt sie von einander, vereinigt aber um so fester die einzelnen Mitglieder einer und derselben Rasse. Für die Culturgeschichte muß deßhalb der erste und wichtigste Gegenstand ihrer Forschung der Rassentypus sein und sie hat ihn nach seinen mannigfaltigen Aeußerungen zu erfassen. Soll dies aber mit einiger Sicherheit geschehen, so läßt sich dies nicht anders bewerkstelligen als durch eine streng objective Darlegung seiner Wirkungen, welche sich am deutlichsten in der politischen Organisation eines Volkes, in seiner Staatsverfassung, in seinen administrativen und politischen Einrichtungen, in seinen Gesetzen erkennen lassen.
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Mit dem Staatswesen sind im Alterthume wie in der Gegenwart die religiöse Anschauung, der Cultus und Glauben unlösbar verbunden, welche den zweitwichtigsten Gegenstand des culturhistorischen Gemäldes zu bilden haben. Daran reiht sich die Besprechung des Lebens und der Verfassung der Familie, sowohl für sich selbst betrachtet, als im Zusammenhange mit anderen, also die Darstellung der bürgerlichen Gesellschaft in ihren verschiedenen Richtungen und Bestrebungen auf dem Gebiete des materiellen und geistigen Lebens. Die letzte und höchste, aber zugleich die schwierigste Aufgabe der Culturgeschichte ist die: aus dem Ueberblicke des gesammten Civilisationsverlaufes einer Nation im Vergleiche mit dem Entwicklungsgange anderer Culturvölker jene allgemeinen Gesetze erfassen zu suchen, welche den Lauf der Völkergeschicke bestimmen und ihn ebenso unwandelbar beherrschen, wie die Naturkräfte das Reich der Materie. Hiermit ist aber auch die Grenzscheide erreicht, wo das Gebiet der Geschichte mit jenem der Philosophie sich berührt.“123
Die von Alfred von Kremer postulierte Konfiguration einer Culturgeschichte setzte den Islam sekundär. Primär war die Rasse, die den Organismus des Staats bestimme. Da der Islam als Herrschaft verstanden wurde, die sich in einer dynastisch definierten Geschichtschreibung aufbereiten ließe, galt ihm der Staat als der wesentliche Deutungsbegriff. Von hier aus war der Weg nicht mehr weit zu behaupten, der Islam sei Religion und Staat.124 Diese Aussage war es dann auch, die den Islam prinzipiell von anderen Religionen differenzieren sollte. Sie wurde zum Proprium des Islam.125 Indem nun Kultur als geschlossener Klassenbegriff aufgefaßt wurde, der auch Religion einschloß, konnte der Islam einem Paradigma zugeordnet werden, das nicht durch Religion bestimmt war. Diese neue Heimat sollte für die Zuordnung des Islam seit den 1870er Jahren bestimmend 123
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Alfred von Kremer: Culturgeschichte des Orients unter den Chalifen, erster Band, Wien 1876, S. viii–ix. So schon 1868 Jacob Burckhardt: Über geschichtliches Studium (wie Anm. 122), S. 212. Hier nicht zu diskutieren ist die Konvergenz zwischen dieser Behauptung und analogen Geltungsansprüchen, die osmanische Intellektuelle seit den 1850er Jahren erhoben, indem sie den Islam mit dem Syntagma „Religion und Staat“ prädizierten (arabisch al-islam din wa-dawla). Bis dahin wurde war dieses Syntagma meist nur Bestandteil eines Namens (z. B. Jamal ad-Din wa-d-Dawla Iqbal az-Zahiri [12. Jh.], der in Aleppo eine hanafitische Medrese hatte erbauen lassen) oder als Bestimmung eines Sultans, din wa-dawla [hier im Sinne von Religionsgemeinschaft und Dynastie] zu schützen, genutzt.
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werden. Anfangs verstand auch Goldziher seine arabistischen Arbeiten noch als Beitrag zu einer Culturgeschichte.126 Culturgeschichte war seit den 1850er Jahren die neue Makrotheorie. Sie bedingt, daß die philosophische Spekulation um Cultur, die Kant als noch ahistorisch als „Idee der Moralität“ definiert und von der Verfeinerung der Sitten (civilisation) abgegrenzt hatte und die er mithin durch die Unterscheidung von Sitten und Sittlichkeit auswies, durch ihre Historisierung im Sinne Herders ersetzt wurde, also zu Culturgeschichte wurde. Historisch gefaßt wurde damit das, was 1860 der Rabbiner Lazarus Adler (1810–1886) wie folgt beschrieb: „Was ist nun Cultur? Nichts anderers als die der unendlichen Fortbildung fähige Entwicklung des menschlichen Geistes. Die Cultur schließt sonach Alles in sich, was den Menschen als geistig fortgeschritten bezeichnet. Wir können sagen: Wie der Mensch durch die Religion ein wahrhafter und edler Diener des göttlichen Willens werden soll, so soll er durch die Cultur ein wahrhafter und edler Beherrscher des physischen Lebens werden.“ Diese Passage sei zitiert, weil sie so etwas wie den common sense ausdrückt, der um 1860 geherrscht haben mochte, als Orientalisten wie von Kremer ebenfalls zur Culturgeschichte fanden. Cultur erscheint wie der autonome Akt der Selbststiftung des Menschen, die aber nur wahre werden könne, wenn sie sich in der Religion findet. Daher fügte Adler hinzu: „Beide, Religion und Cultur sind Seelenzustände, Bezeichnungen des geistigen Lebens; aber in jener schwingt sich der Geist empor und wird eben dadurch, daß er dienend einem höheren Willen sich unterwirft, einer Erhöhung theilhaftig, in dieser beugt er sich herab und wird eben dadurch, daß er zur wirklichen Herrschaft gelangt ein würdiger Diener jenes höheren, des göttlichen Willens. Zwischen beiden besteht ein inniger Zusammenhang und ein wechselseitiger, unvermeidlicher und unaufhörlicher Einfluß. Wenn der Mensch ein Diener Gottes zu sein strebt, so muß er demnach über das physische Leben zu herrschen sich bestreben, und umgekehrt, wer fähig sein will, über das physische Leben zu herrschen, muß dieses als ein Diener Gottes, einem höheren Willen gehorsam. Religion und Cultur stehen ohne Zweifel in der innigsten Verbindung. Aber hier wird uns nun der Unterschied zwischen der monotheistischen und polytheistischen Religion recht anschaulich vor die Seele treten. Das Wesen aller Cultur beruhet auf der Seelenthätigkeit, vermöge welcher im denkenden Geiste der Mensch das physische Leben sich zum Bewußtsein bringt und 126
Ignaz Goldziher: Alî b. Mejmûn al-Magribî und sein Sittenspiegel des östlichen Islam. Ein Beitrag zur Culturgeschichte, Leipzig 1874.
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ihm hierdurch eine ideale Realität verleiht.“127 Die Differenzierung zwischen Religion und Cultur war aber nicht jedem einsichtig. Manch einer ging um 1850 davon aus, daß es sich um „gleichbedeutende Begriffe“ handele.128 Daher wurde schon seit dem frühen 19. Jahrhundert das ganze Gemeinte vielfach einfach mit der Aufzählung „Religion und Cultur“ bezeichnet. Dies erlaubte eine Konkretisierung der Cultur durch den Bezug auf bestimmte „Religionen“. Die seit dem frühen 19. Jahrhundert in frommen Texten oft verwendete Formulierung „christliche Kultur“ meinte anfänglich die durch das Christentum gestiftete Moralität, wobei kaum jemand bezweifelte, daß „die christliche Cultur den Begriff der Cultur also tatsächlich in ungemein viel höherer Weise verwirklicht hat, als irgend eine andere vor ihr oder neben ihr.“129 Unbestritten war zudem die „nationale“ Begründung der Cultur. Im „Mythos“ verschmolzen schließlich Religion und Cultur, indem der auf Religion bezogene Stiftungsakt mit dem auf Cultur bezogenen Bildungsakt verwoben wurde.130 Von der Mythologie zur Religionswissenschaft Die wissenschaftliche Gegenständlichkeit der Religion, deren systematischer Gehalt durch komparatistische Studien erkennbar gemacht werden könne, provozierte zunächst in der Schweiz, in den Niederlanden131 und in Frankreich eine Umdeutung und Entkonfessionalisierung der Theologie. Dies schlug sich in einer institutionellen Gründerzeit 127
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Lazarus Adler: Ueber das Verhältniß des Judenthums zur Cultur überhaupt und zur heutigen insbesondere, in: ders.: Vorträge zur Förderung der Humanität, Kassel 1860, S. 111–122, hier S. 113 f. und S. 115; in dem Band auch sein Vortrag „Civilisation und Judenthum“, S. 45–60. A. G. Hoffmann: „Java“, in: Allgemeine Encyclopädie der Wissenschaften und Künste, 2. Sect., 30. Theil, hrsg. von Aandreas Gottlieb Hoffmann, Leipzig 1853, S. 363–374, hier S. 364. Schon in den Göttingischen Anzeigen für gelehrte Sachen, 15. Stück, 24.1.1791, S. 146, wie folgt formuliert: „unter uns ist, jetzt alle Cultur christliche Cultur. Es entstehen unter uns keine neuen Völker, die noch gar keine Religion haben.“ Religion wurde gestiftet, Cultur bildete. Cornelis Petrus Tiele 1873/1877 in Leiden; Pierre Daniël Chantepie de la Saussaye 1878–1899 in Amsterdam, dann in Leiden; der Eintrag Islam in seinem „Lehrbuch der Religionsgeschichte“, Band 2, Freiburg i. B. 1887/1889, S. 342– 402, beruht auf Christiaan Snouck Hurgronje.
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nieder, als zwischen 1877 und 1879 an zahlreichen theologischen Fakultäten Lehrstühle für Religionsgeschichte errichtet wurde und die ihren Höhepunkt 1886 mit der Gründung der Section des sciences religieuses an der Pariser École pratique des hautes études erreichte – als Ersatz für die katholisch-theologische Fakultät an der Sorbonne – unter dem protestantischen Theologen Albert Réville, der selbst einer rassischen Mythologie gehuldigt hatte.132 Ihr Mentor war der Straßburger protestantische Theologe Frédéric Auguste Lichtenberger (1832–99), der schon früh Frankreich mit der damals zeitgenössischen deutschen protestantischen Theologie bekannt gemacht hatte.133 In der Einleitung zu dem von ihm herausgegebenen 13-bändigen Lexikon Encyclopédie des sciences religieuses (1877–1882) führte er 1877 aus: „Nous disons sciences religieuses et non pas théologiques: d’abord parce que notre entreprise s’adresse essentiellement au public, plus nombreux parmi nous de jour en jour même en dehors des cadres ecclésiastiques, qui demande à être initié et associé aux recherches dont les théologiens de profession avaient jadis le monopole; et, ensuite, parce que le domaine que nous embrassons est en réalité beaucoup plus étendu que celui de la théologie proprement dite. Depuis que, par une plus juste appréciation des termes, l’on commence à distinguer, même dans le langage commun, entre la religion et la théologie, cette dernière n’est plus considérée comme la seule forme que revête le sentiment religieux, et l’on s’occupe avec un intérêt croissant à en saisir et à en étudier les manifestations partout où elles se produisent. Par une suite naturelle de cette évolution, la théologie elle-même s’est entièrement renouvelée depuis cinquante ans; s’inspirant du principe de la méthode historique, appliquée au domaine qui lui est propre, 132
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Réville behauptete (a) „Si pourtant le Cantique, sans être un drame dans toute la force du terme, contenait un élément dramatique très-réel, ne faudrait-il pas incliner la théorie devant le fait et avouer que l’esprit sémitique n’est pas si foncièrement opposé au drame qu’on voulait bien le dire?“ und (b) „Ainsi le sémite est certainement monothéiste de tendance, et pourtant l’idolatrie, le polythéisme sont très-fréquents dans sa race. Pourquoi cependant avons-nous le droit de maintenir la tendance monothéiste des sémites? C’est que le monothéisme du monde est leur œuvre, c’est par lui qu’ils ont marqué dans l’histoire, c’est pour lui que leurs hommes d’élite ont vécu. La race sémitique est monothéiste comme la race grecque est artistique.“ Albert Réville: Essais de critique religieuse, Paris 1869 (1. Aufl. 1860), S. 208–209. Frédéric Auguste Lichtenberger: Étude sur le principe du protestantisme d’après la théologie allemande contemporaine, Straßburg 1857, engl. Übersetzung von William Hastie, Edinburgh 1889.
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elle a pu, en utilisant largement les travaux des sciences auxiliaires et parallèles et sans rien perdre de son originalité, agrandir beaucoup son cadre.“134
Der sehr schnelle Übergang von vergleichender Mythologie zu vergleichender, historischer Religionswissenschaft, der sich innerhalb von nur einem Jahrzehnt vollzog, bedeutete nicht, daß der Ausschluß des Judentums und des Islam aus einer Gemeinschaft der mythosfähigen, und damit schöpferischen, zur Zivilisation führenden Völker aufgehoben wäre. Die Grundklassifikation blieb erhalten; zugleich besagte dies, daß das Judentum und der Islam nicht Gegenstand einer Religionswissenschaft sein könnten, da schöpferische Religion nur die sein könne, deren Träger über eine mythische Schöpferkraft verfügten und so den Schöpfungsakt der Offenbarung geistig erst verwirklichen könne. Daß dieses Deutungsschema genealogisch eng mit dem Protestantismus verknüpft war, hat Volkhard Krech gezeigt.135 Einer, der sich mit dem Ausschluß der Juden aus der vergleichenden Mythologie nicht abfinden wollte, war Ignaz Goldziher. Auch er hatte lange bei Fleischer studiert, wie schon Müller bei ihm vor allem den Korankommentar von Baydawi durchgearbeitet und Fleischers positivistische Philologie verinnerlicht. Zwei Jahre nach seiner Rückkehr von seiner ersten Orientreise 1873/1874 veröffentlichte er seine größere Studie „Der Mythos bei den Hebräern“. Programmatisch betonte er: „[E]s war unsere nächste Aufgabe nur die, zu zeigen, daß sich der Semitismus im allgemeinen und das Hebräische im besondern den Consequenzen der auf psychologische und sprachwissenschaftliche Basis gegründeten Gesetze der Mythosforschung nicht entziehen müsse, daß sich vielmehr eine wissenschaftliche semitische Mythologie psychologisch und sprachwissenschaftlich aus dem Semitismus heraus construiren lasse.“136 134
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Encyclopédie des sciences religieuses, publiée sous la direction de Frédéric Auguste Lichtenberger, tome I, Paris 1877, S. ii, tome IX, 1880, unter dem Stichwort Musulman (neu, 1877 noch Verweis auf Mahométans); der Eintrag liest sich fast als Paraphrase von Aloys Sprenger: Das Leben und die Lehre Mohammads nach bisher größentheils unbenutzten Quellen, 2 Bände, Berlin 1861. Volkhard Krech: Wie protestantisch war die ältere Religionswissenschaft?, in: Richard Faber, Gesine Palmer (Hg.): Der Protestantismus. Ideologie, Konfession oder Kultur?, Würzburg 2003, S. 207–230. Es fällt auf, daß in Darstellungen zur Genese der Religionswissenschaft der Islam praktisch keine Rolle spielt, siehe z. B. Michael Stausberg: The study of religion(s) in Western Europe (I): Prehistory and history until World War II, in: Religion 37 (2007), S. 294–318. Ignác Goldziher: Mythos bei den Hebräern und seine geschichtliche Ent-
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Goldziher anerkannte also die Metafunktion der Mythologie und ihre beiden klassischen Herleitungen, die Sprachwissenschaft und die Völkerpsychologie. Er stellte sich zwar bewußt in die Tradition von Adalbert Kuhn und Müller („Der Verfasser bekennt sich in mythologischen Dingen zu der durch Ad. Kuhn und Max Müller auf arischem Gebiete begründeten Richtung“137), doch kritisierte er deutlich den Arianismus der „Kuhn-Müller-Schule“ und unterstrich: „zu allererst war [. . .] der um die psychologische Vertiefung der neuesten Richtung der Mythologie vielverdiente Steinthal, dem das Verdienst zuerkannt werden muß, die vergleichende Mythoswissenschaft für Hebräisches fruchtbar gemacht zu haben.“138 Diesen Arianismus sah er am deutlichsten bei Ernest Renan vertreten, den er als Verfechter des Ausschlusses der Semiten aus der Mythengemeinschaft portraitierte: „Ein zweiter Gesichtspunkt, von welchem man ausgegangen ist, um einem Theil des Menschengeschlechts die mythosbildende Fähigkeit und Tendenz abzusprechen, ist ein ethnologischer, und als Opfer dieser Anschauung fielen entweder die Semiten im allgemeinen oder die Hebräer im besondern. Die Ausschließung der Semiten vom Reiche der Mythosbildung hat am schärfsten der geistvolle französische Akademiker Ernst Renan betont: ,Les Semites n’ont jamais eu de mythologie‘.“139 Goldzihers Versuch, den „Semiten“ eine Mythologie zuzuordnen, wurde offenbar nicht besonders geschätzt, da dies zu einer „Zerstörung der historischen Grundlagen der Religion“ führen würde.140 Wie vorsichtig die Kritiker Renans vorgingen, zeigte auch Steinthals Reaktion auf Renans Vorwurf, daß die Juden innerhalb der semitischen Rasse eine Art Sonderweg bei der Herausbildung des Monotheismus beschritten hätten. Steinthal beharrte auf der Gleichheit der Juden unter den „Semiten“ und polemisierte gegen Renans Auffassung von einer prinzipiellen Differenz zwischen Juden und Semiten.141 Goldziher hin-
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wickelung. Untersuchungen zur Mythologie und Religionswissenschaft, Leipzig 1876, S. vii. Auch „Az összehasonlító vallástudomány módszeréról“, in: Madyar Tanügy 7 (1878), S. 171–186. Ignác Goldziher: Mythos bei den Hebräern und seine geschichtliche Entwickelung (wie Anm. 136), S. viii. Ebd., S. xxii. Ebd., S. 4. Sidney H. Morse: „Chips from My Studio“, in: Radical Review (May 1877), S. 603–624, hier S. 613. Heymann Steinthal: Zur Charakteristik der semitischen Völker, in: Zeitschrift
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gegen betonte: „Diese psychologische Gleichartigkeit aller Menschenrassen ist von der Frage über monogenetische oder polygenetische Entstehung der Rassen unabhängig. Die psychologische Gleichartigkeit der Völkerrassen tritt besonders hervor, wenn wir die Individuen der einzelnen Rassen im kindlichen Alter betrachten und vergleichen, wo die Unterschiede noch nicht vorhanden sind, welche die Geschichte, welche Erziehung und Unterricht u. s. w. begründen.“142 Der junge Goldziher übernahm nun schon die von Müller geprägte Gleichsetzung von „vergleichender Mythologie“ und „Religionswissenschaft“.143 Der Sache nach ging es ihm also a) um die Aufwertung der jüdischen Tradition, indem sie einer Mythologie zugeordnet wurde, und b) um die Historisierung der Religion, indem sie einer Mythologie zugewiesen wurde. Vergleichend zu arbeiten bedeutete für Goldziher nun auch, den Islam mit der modernen Mythologie zu vermessen. Doch hier mußte er Grenzen ziehen, denn der Islam schien den europäischen Re-
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für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft 1 (1860), S. 328–345, gegen Ernest Renan: Nouvelles considérations sur le caractère général des peuples semitiques, et en particulier sur leur tendance au monothéisme, Paris 1859. Renans Anti-Judaismus bezeichnete Moritz Steinschneider in seiner Besprechung von Steinthals Arbeit (Hamaskir 3 [1860], S. 16) bekanntlich als „anti-semitisch“; siehe David Joshua Engel: The Concept of Antisemitism in the Historical Scholarship of Amos Funkenstein, in: Jewish Social Studies 6 (1999) 1, S. 111–129. Auf diese Begriffsprägung wurde schon 1924 aufmerksam gemacht (Ozar Yisrael 2 [1924], S. 130 ff.), zitiert nach Alex Bein: Modern Anti-Semitism and Ist Place in the History of the Jewish Question, in: ders.: The Jewish Question. Biography of a World Problem, Madison, N. J. 1990, S. 593–622, hier S. 593 (Überarbeitung von Alex Bein: Der moderne Antisemitismus und seine Bedeutung für die Judenfrage, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 6 [1958], S. 340–360). Siehe auch Friedrich Niewöhner: Reizbare Volksseele. Warum ein Jude den Begriff ‚antisemitisch‘ prägte, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 193, 21.08.2002, S. N3. Anti-semitisch meinte hier also die Auffassung, den „Semiten“ die Fähigkeit zu einer schöpferischen Mythologie vorzuenthalten. Ignác Goldziher: Mythos bei den Hebräern und seine geschichtliche Entwickelung (wie Anm. 136), S. x, Anm. Allerdings war der terminologische Gebrauch – wie bei Müller – keineswegs stabil. Theologie konnte die Forschung zur Religion bezeichnen (sowohl in vergleichender wie historischer Hinsicht), Religionswissenschaft aber auch den religionsspezifischen normativen Diskurs. In diesem Sinne sprach Goldziher von einer „islamischen Religionswissenschaft“, meinte also die Diskurse, die eine islamische Normativität definierten, ebd., S. 98.
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ligionsforschern am wenigsten mythenfähig zu sein. Die arabische Literatur erscheint bei Goldziher als ein Steinbruch mythischen Erzählens, dem die „Predigt des epileptischen Krämers von Mekka“144 vollkommen entgegengesetzt gewesen sei. Kein Wunder also, daß Forschungen über „das vorislamische, heidnische System arabischer Theologie“145 und zur Philologie vorislamischer Dichtung äußerst populär waren.146 Während so die jüdische Tradition durch die Mythologie in den damaligen Kanon der vergleichenden Religionsforschung aufgenommen werden sollte, blieb dem Islam, von Müller als „Wasserschoß“, also als unfruchtbarer Trieb des Christentums bezeichnet, dieses Privileg vorenthalten. Der Islam tradierte zwar „Reste arabischen Heidentums“147 und war insofern für die vergleichende Mythologie und vor allem für die Beurteilung der Frage, ob der Monotheismus Gemeingut der Semiten sei, relevant, aber als Gesamttradition konnte er diesem Kanon nicht zugeordnet werden. So wundert es nicht, daß der Islam selbst nicht Gegenstand der akademischen Forschung und Lehre gewesen war. Fleischer hatte nur fünf seiner insgesamt 484 Vorlesungen zur Glaubenslehre des Islam („Muhammedanismus“) gehalten, und dabei blieb es dann auch. Von 1837 bis 1887 las er hingegen 73-mal aus dem Korankommentar des Baydawi. Den Koran las er selbst kommentierend von Sure 25 bis 79. Otto Loth (1844–1881) behandelte (privatissime, aber gratis) den „Muhammedanismus“ in drei seiner insgesamt 48 Leipziger Vorlesungen oder Übungen. Der Begriff Islam war nicht geläufig. Fleischer hat nur einen seiner Kurse mit einem Verweis auf den Islam betitelt (Glaubenslehre des Islam, Sommersemester 1866). Der Namenswechsel von Mythologie zu Religionswissenschaft (im Sinne einer vergleichenden Religionsgeschichte) ist kein einfacher Etikettenwechsel gewesen. Vielmehr zeigt sich hier ein grundsätzlicher Wahr144 145 146
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Ebd., S. 350. Ebd., S. 349. Armand Pierre Caussin de Perceval (1795–1871): Essai sur l’histoire des Arabes avant l’islamisme, pendant l’époque de Mahomet et jusqu’à la réduction de toutes les tribus sous la loi musulmane, 3 Bände, Paris 1847–1848; Johann Ernst Osiander (1829–1864, Diakon in Göppingen): Die vorislamische Religion der Araber, in: Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft 7 (1853), S. 463–505; Ludolf Krehl: Über die Religion der vorislamischen Araber, Leipzig 1863; Heinrich Thorbecke (1837–1890, zuletzt Professor in Halle): Antarah, ein vorislamischer Dichter, Heidelberg 1868 (1. Aufl., Leipzig 1867). Julius Wellhausen (1844–1918): Reste arabischen Heidentumes, Berlin 1887.
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nehmungswechsel. Religion wurde in gewisser Hinsicht mit der „schöpferischen Kraft des Mythos“ ausgestattet und damit aus der Deutungshoheit der Theologie befreit. Religion wurde von der Bezugnahme auf Offenbarung befreit, zugleich aber wurde das Offenbarungskonzept historisiert. Theologisch bedeutete dies, den Gehalt der Offenbarungsvorstellung so zu enthistorisieren, daß die Geschichtlichkeit der Offenbarung von ihrer theologischen Zwecksetzung getrennt wurde. In gewisser Hinsicht vollzog der Wechsel die personenbezogene Differenzierung zwischen dem Jesus von Nazareth und dem Christus der Offenbarung nach. Daß diese Differenzierung Teil der innerprotestantischen theologischen Debatten des 19. Jahrhunderts war, verwundert nicht. Die mythologische Deutung der Religion, die in der neuen Religionswissenschaft vollzogen wurde, betraf natürlich nicht den Islam. Hier waren die Urteile gemacht.148 Für den Schweizer Heinrich Steiner (1841–1883), der in Heidelberg bei Gustav Weil und in Leipzig bei Fleischer studiert hatte, war klar, daß der aus dem „Stammescharakter der Araber“ hervorgegangene Islam nur auf die „Verstandesseite hin ausgebildet“ sei; „das weiche Gemüth, das tiefe Gefühlsleben, die productive Gestaltung fehlt“ ihm ganz. Daher hätten die Araber zwar den Aristoteles rezipieren können, nicht aber das griechische Drama, und die platonische Philosophie hätten sie genauso wenig verstanden wie das Christentum, „Der Islam ist verständig, nüchtern und ebenso einseitig wie der Charakter der Araber selbst. An wahrem ethischem Gehalte steht er tief unter dem Christentum.“149 148
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Sie haben bis heute Bestand; so meinte Thomas Bargatzky: „Das Mythische ist gleichsam der Nährboden der Religion: Ohne Mythos gibt es Religion nicht, wohl aber kann der Mythos von der Religion getrennt werden.“ Thomas Bargatzky: Orare est laborare. Das religiöse Vermächtnis der Urproduktiven Gesellschaft, in: Erwägen Wissen Ethik (EWE) (vormals Ethik und Sozialwissenschaften [EuS]) 14 (2003), Heft 1, S. 1–15, hier S. 1. Konsequenterweise lehnt er den Islam als Dialogpartner ab, siehe Thomas Bargatzky: Europa muß christlich bleiben, in: Junge Freiheit, Nr. 11, 9. März 2007. Heinrich Steiner: Die Mu taziliten oder die Freidenker im Islâm, Leipzig 1865, S. viii–ix. Goldziher hatte sich später deutlich von Steiners Sicht der Mu taziliten als Freidenker und Rationalisten distanziert. Der Philologe und Historiker Johannes Scherr (1817–1886) meinte: „Denn die höchste poetische Gattung, die Dramatik, brachte es in der moslemischen Welt kaum zu rohesten Anfängen, weil die Seele der dramatischen Kunst, die freie Selbstbestimmung des Menschen, von der Wucht des fatalistischen Dogma’s erdrückt wurde.“ Johannes Scherr: Geschichte der Religion. Sechs Bücher, Bd. III. Fünftes und sechstes Buch, Leipzig 1857, S. 429. Scherr, der sein Buch als ersten Versuch bezeichne-
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Mit anderen Worten: Da der Islam radikaler und absoluter Monotheismus sei, entbehre ihm jegliches Gefühl und damit jede Mythologie.150 Die arischen Perser, die angesichts des rationalistischen Monotheismus ihr Gefühl zu bewahren versuchten, hätten nur auf eine „tiefsinnige und zarte Mystik“ ausweichen können, mit der sie das zu schaffen versuchten, was das Christentum geleistet hätte. Der Islam war schlicht trocken und unfruchtbar, weltlich und nur auf den „Verstand“ bezogen. Natürlich war damit nicht die schöpferische Vernunft gemeint, die die Wissenschaften befördert hätten, denn daran hätten die Muslime nach Renan ja keinen Anteil gehabt.151 Orientalisten, allen voran die Altorientalisten, mochten sich dem natürlich nicht anschließen. Richard Gosche (1824–1889), seit 1863 ordentlicher Professor der morgenländischen Philologie an der Universität Halle, feierte geradezu den Wert einer mythologischen Forschung zu den Semiten, um ganz im Sinne Creuzers, eine historische Wahrheit zu finden: „Einen tiefgreifenden Einfluß werden nach und nach die assyrischbabylonischen Entdeckungen auf die Gestaltung der semitischen Philologie ausüben; eine neue semitische Sprache, eine neue zusammenhängende semitische Mythologie, vor Allem überhaupt ein staatenbildendes semitisches Volk mit einer alten, die Grenzen der Heimat weit überschreitenden Geschichte ist gefunden, die hergebrachte Tirade vom not-
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te, von „diesem zugleich freien und gewissenhaften culturgeschichtlichen Standpunkte aus eine Universalhistorie der Religion zu schreiben (III, S. 1), betrachtete den Islam (S. 361–439) ganz aus der pessimistischen Sicht, daß die Moderne keinen Ausweg zwischen den „Bacchanalien eines bleiernen und schmutzigen Materialismus“ und dem „strengen und rigorosen Monotheismus“, der im Islam seinen höchsten Ausdruck gewonnen habe, fände. Allerdings sah auch er einem poetischen persischen Mystizismus, vor allem im Werk des Dichters Hafiz, einen Funken des Lichts, das die wahre „Humanität“ befördern sollte. So auch Ludolf Krehl: Über die Religion der vorislamischen Araber (wie Anm. 146), S. 5: „Erkennt man den engen Zusammenhang der Araber mit Abraham ihrer Abstammung nach an, so ist damit zugleich die Annahme gegeben, daß in früher Zeit der Monotheismus und zwar der absolute, nicht der relative, sich des Gegensatzes des Polytheismus noch nicht bewußte; unklare Monotheismus, den Schelling als die Urreligion voraussetzt, in Arabien, und wenn auch nur in einem kleinen Theile der Bevölkerung, geherrscht haben müsse.“ „Was in der That den Muselmann wesentlich kennzeichnet, das ist der Haß der Wissenschaft, die Überzeugung, daß die Forschung unnütz, frivol, ja fast gottlos sei.“ Ernest Renan: Der Islam und die Wissenschaft, Vortrag gehalten in der Sorbonne am 29. März 1883 [. . .], Basel 1883, S. 23.
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wendigen Nomadenthum der Semiten mit einem Ruck zertreten. Freilich wem ein tieferer geschichtlicher Blick nicht ganz abging, der konnte längst von dem alten Hirten- und Familienleben des semitischen Volksstammes abstrahiren: denn überall reichen bis in diese Schicht der Culturniederschläge die Wurzelfasern des Staatsorganismus hinauf. Wunderlich aber wäre es, etwa der Beimischung kuschitischer Elemente diesen politischen Aufschwung zuschreiben zu wollen, da die Kuschiten für sich nirgends ein politisches Talent verrathen. Die Weltstellung und das sich bildende Bewußtsein von ihr erzeugen staatliches Leben, und so haben die semitischen Stämme in den Euphrat- und Tigrisländern es entwickelt. Die nähere Kenntniß der Sprache derselben wird uns die schwere linguistische Frage entscheiden helfen, welche die lautliche Ursprünglichkeit der aramäischen Idiome und die formelle concrete Fülle des Arabischen so verwickelt machen; eine Frage, welche in Renans geistreichem Buche durch die chronologische Gruppirung nicht beantwortet, sondern mit um so mehr Klarheit und Schärfe hingestellt worden ist. Das mythologische Material, welches Inschriften und Denkmäler jener alten semitischen Staaten immer reichlicher liefern, wird nach bestimmter Ausscheidung der iranischen Einflüsse in größerem Umfange und mit mehr Detaillirung sich zu einem einheitlichen Bilde des alten Volksglaubens gestalten lassen und diese Seite der Urgeschichte des an religiösem Talent bedeutsamsten Volkes der Welt endlich klar erkannt werden.“152 Islamwissenschaft Mit der Umdeutung der Mythologie zur Religionswissenschaft wurde der Islam auch formal aus dem Kanon der „schöpferischen Religionen“ verbannt. Ganz wollte man sich damit nicht abfinden. Schon 1874 beklagte der Oxforder Gelehrte Reginald Bosworth Smith (1839–1908): „Perhaps it is well that the extraordinary learning and genius of Mr. Max Müller should be given mainly to subjects which are less within the reach of ordinary European students than is Islam, but it is impossible not to wish
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Richard Gosche: Wissenschaftlicher Jahresbericht über das Jahr 1856, in: Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft 11 (1857), S. 253–311 und S. 585–667, hier S. 585.
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that he may some day give the world a Chip or two on the Religion of Mohammed.“153 Doch dazu sollte es nicht kommen. In der Retrospektive ließ Goldziher die Islamwissenschaft um etwa 1873/1874 beginnen.154 Der Kontext war eindeutig: Da die neue Religionswissenschaft den Islam als trockenen Monotheismus aus dem für eine vergleichende Religionsgeschichte relevanten Kanon ausgeschlossen hatte, da er wie eine Mauer zwischen Christentum und Polytheismus stehe155, müsse er wissenschaftlich eigens erfaßt und behandelt werden. Die Sonderstellung des Islam führe zwangsläufig zur Etablierung einer besonderen akademischen Disziplin, die nicht Religionswissenschaft, sondern eben Islamwissenschaft zu nennen sei. Die Islamwissenschaft war also geboren in der Anerkennung einer prinzipiellen Differenz zwischen Religion und Islam. Die Andersartigkeit des Islam wurde dadurch grundsätzlich gemacht, indem der Islam mit der Lebensgeschichte Muhammads gleichgesetzt wurde. Das war schon seit der frühen Neuzeit ein übliches Verfahren und gründete auf den von Carl Rose 1800 formulierten Konsens: „Die Beschreibung von der muhammedanischen Religion, erfordert eine vorläufige Abhandlung von Muhammed selbst.“156 Goldziher hingegen verzichtete auf einen solchen Ansatz, da er den Quellen zur Prophetenvita grundsätzlich mißtraute. Seine Feststellung, daß die Prophetentraditionen und damit die Nachrichten über den Propheten selbst größtenteils aus späterer Zeit stammten, entkoppelte Muhammad aus der Geschichte und mythologisierte ihn, so, wie es Jahrzehnte zuvor Strauß mit Jesus gemacht hatte. 153
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Reginald Bosworth Smith: Mohammed and Mohammedanism. Lectures Delivered at the Royal Institution Of Great Britain February and March 1874, London 1874, S. xv. Ignác Goldziher: Die Fortschritte der Islamwissenschaft in den letzten drei Jahrzehnten, in: Preußische Jahrbücher 121 (1905), S. 292–298 (= Congress of Arts and Science – Universal Exposition, Saint-Louis 1904, volume II, S. 508–515). Das deutsche Kompositum markiert deutlicher als die Syntagmen „science of Islam“, „wetenschap van den Islam“ oder „science de l’Islam“ den Objektbezug. Die „Wissenschaft vom Islam“ wurde so deutlicher von der „Wissenschaft des Islam“ unterschieden, sofern diese Konstruktion als Genitivus subjectivus aufgefaßt wurde. So der protestantische Missionar Moritz Lüttke: Der Islam und seine Völker. Eine religions-, cultur- und zeitgeschichtliche Skizze, Gütersloh 1878, S. 2. C[arl] Rose: Ueber die muhammedanische Religion, deren Sekten, Gebräuche, Feste, geistliche Orden etc.. Ein Beitrag zur Religionsgeschichte, Elberfeld 1800, S. 13.
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Goldziher verwirklichte implizit das Programm der Tübinger Schule im Islam und definierte seine Forschungen als „muhammedanische Religionsgeschichte“.157 Goldzihers Zeitangabe für die Entstehung der Islamwissenschaft entspricht nun ziemlich genau der Zeit seines ersten Aufenthalts in Syrien und Ägypten. In seinen in den frühen 1890er Jahren verfaßten Erinnerungen über diesen Aufenthalt vermerkte er: „Obzwar officiell entsendet, um mich zu einer Parliermaschine à la Vambery herauszubilden, konnte mir diese Aufgabe nicht wichtig genug erscheinen, um mich auf eine solche Spielerei zu concentrieren. Ich selbst stellte mir höhere Zwecke, dieselben, die sich 12 Jahre später Snouck in Mekka stellte. Ich setzte mir vor, mich in den Islam und seine Wissenschaft einzuleben, selbst ein Glied der muhammedanischen Gelehrtenrepublik zu sein, die Triebfedern kennen zu lernen, die im Laufe der Jahrhunderte aus dem judaisirten mekkanischem Cultus die gewaltige Weltreligion des Islam bildete. Dann wollte ich auch den Einfluß dieses Systems auf die Gesellschaft und ihre Moral studiren. Dieses Doppelziel konnte nur erreicht werden durch den Umgang mit Gelehrten und mit Leuten aus dem Volke, in Moscheen, in Bazaren und in Spelunken. Überall war ich ein gern gesehener, täglicher Gast. Ich entsagte auch dem Lieblingssport der orientreisenden Gelehrten, nach Handschriften zu fahnden. Dafür hatte ich kein Geld zur Verfügung. Die Menschen, Ideen und Einrichtungen wollte ich belauschen, nicht vergilbte Papiere erjagen.“158
Hier verwies Goldziher auf einen seiner ärgsten Widersacher, Ármin (Hermann) Vámbéry (1832–1913), der nach seiner gefeierten Rückkehr von seinen Asienreisen 1865 zum Professor für orientalische Sprachen und Literaturen an der Universität Budapest ernannt worden war. Vámbéry, damals eifriger Turanist und auf der Suche nach dem turanischen Ursprung der Ungarn, gehörte zu denjenigen, die den Ausschluß des Islam aus der Gemeinschaft der Religionen dadurch radikalisierten, daß sie den Islam als Welt interpretierten. Dies war eine konsequente Weiterentwicklung von der „nüchternen Trockenheit“ des Islam. Da ihm es prinzipiell an „Gefühl“ und schöpferischem Sinn für das Unendliche mangele, da er eben nicht wie das westeuropäische Christentum monotheistischen Rationalismus und mythische Spiritualität zu einem schöpferischen Geist verbunden habe, sei er nur „Welt“ und kenne keine Theologie. Diese Weltlichkeit des Islam hätte sich, so schon die Apologeten seit 157
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Ignácz Goldziher: Az Iszlám. Tanulmányok a muhammedán vallás története köréböl, Budapest 1881 Ignác Goldziher: Tagebuch, hrsg. von Alexander Scheiber, Leiden 1978, S. 56 f.
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der Frühen Neuzeit, in der Sinnlichkeit und Lüsternheit des Propheten – sei es als Schwärmer oder als Hochstapler – und in seinem Machtanspruch bewiesen. Anders als das Christentum sei der Islam eben mehr Welt als Religion, also eine „Islamwelt“. Diese Auffassung hatte tiefgreifende Folgen für die wissenschaftliche Befassung mit dem Islam. Indem der Islam von Religion durch die Behauptung, er sei ein allumfassendes, diesseitiges Regelwerk, differenziert wurde, wurde der Islam primär als Weltordnung begriffen, für deren Deutung es keine religionswissenschaftliche oder theologische Kompetenz bedürfe. An die Stelle einer Zuordnung zu einer Theorie der Religion trat so eine philologisch abgeleitete, dem Historismus unterworfene Geschichte des Islam als Abfolge einer dynastischen Herrschaftsgeschichte.159 Der Islam wurde zum Geschichtstableau. Vámbéry steckte den Islam geographisch ab und machte ihn zu einem Raum, in dessen Kern der Despostismus stünde.160 Im Grunde folgte er hier der Sache nach Alfred von Kremer.161 Für Goldziher hingegen war der Islam ein philologischer Text, in den sich der Orientalist einzuleben, ja mit dem er sich zu verschmelzen habe, um seinem Geheimnis auf die Spur zu kommen. So, wie er sich bei Fleischer in den Koran-Kommentar des Baydawi vertieft hatte, wollte er in der islamischen „Gelehrtenrepublik“ versinken. Er wollte verstehen, wie sich der „judaisierte“ Kult in Mekka zu einer „Weltreligion“ entfalten konnte und wie die Moralordnung durch den Islam bestimmt worden sei. Bemerkenswert ist dabei Goldzihers Differenzierung zwischen Judentum und Islam: „Ich lebte mich denn auch während dieser Wochen so sehr in den mohammedanischen Geist ein, daß ich zuletzt innerlich überzeugt wurde, ich sei selbst Mohammedaner und klug herausfand, daß dies die einzige Religion sei, welche selbst in ihrer doktrinär-offiziellen Gestaltung und Formulirung philosophische Köpfe befriedigen könne. Mein Ideal war es, das Judenthum zu ähnlicher rationeller Stufe zu erheben. Der Islam, so lehrte mich meine Erfahrung, sei die einzige Religion, in welcher Aberglaube und heidnische Rudimente nicht durch den Rationalismus, sondern durch die orthodoxe Lehre verpönt werden.“162 159
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August Müller: Der Islam im Morgen- und Abendland, 2 Bände, Berlin 1885– 1887. Hermann Vámbéry: Der Islam im 19. Jahrhundert. Eine culturgeschichtliche Studie, Leipzig 1875, S. 65 u. ö. Alfred von Kremer: Kulturgeschichtliche Streifzüge auf dem Gebiet des Islams, Leipzig 1873. Ignác Goldziher: Tagebuch (wie Anm. 158), S. 59. Hierzu Hamid Dabashi: Ig-
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Goldziher brauchte lange, bis er die Islambezogenheit seiner Forschungen endgültig mit dem Begriff „Islamwissenschaft“ auswies. Rückwirkend sah er seine kleine Schrift zum marokkanischen Mystiker Alî b. Mejmûn al-Magribî (um 1450–1511)163 als Beginn seiner Islamwissenschaft. Es dauerte aber noch bis Mitte der 1880er Jahre, daß Goldziher den Begriff Muhammedanismus durch Islam ersetzte. Dies hatte, wie Goldziher indirekt zugab, mit den zweiten „Stammvater“ der Islamwissenschaft zu tun, dem Niederländer Christiaan Snouck Hurgronje (1857–1936). Dieser hatte sich zunächst 1874 als Student der reformierten Theologie an der Reichsuniversität in Leiden eingeschrieben und dort sein Kandidatsexamen abgelegt, dann aber bei Michael Jan de Goeje (1836–1909) und Reinhart Pieter Anne Dozy (1820–1883) Arabisch studiert. Nach seiner Promotion setzte er sein Studium in Straßburg bei Theodor Nöldeke164 fort und wurde 1881 zum Lehrer an der Hohen Kriegsschule und zum Ausbilder von Beamten der Ostindischen Kompanie ernannt. 1887 schließlich erfolgte seine Berufung als Dozent für „Instellingen van den Islam“ an der Universität Leiden. Diese Bezeichnung wurde schon seit den 1860er Jahren verwendet, als versucht wurde, die Theologie durch eine allgemeine „godsdienst-wetenschap“ aufzuwerten und ihr auch eine Deutungshoheit über die Befassung mit dem Islam zuzuweisen.165 Institutionell wurde damit schon eine Trennung von der arabischen Philologie, die de Goeje vertrat, und einer Lehre über den Islam, die dann ab 1887 Snouck Hurgronje vertrat, vor-
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naz Goldziher and the Question Concerning Orientalism, in: Ignác Goldziher: Muslim Studies, ed. by Sámuel Miklós Stern, New Brunswick 2006, S. ix–xxxiv; Róbert Simon: Ignác Goldziher. His Life and Scholarship as Reflected in His Works and Correspondence, Leiden 1986, S. 43 ff. Erstmals in: Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft 1874, dann separat Ignác Goldziher: Alî b. Mejmûn al-Magribî und sein Sittenspiegel des östlichen Islam (wie Anm. 126). Carl Heinrich Becker bezeichnete ihn später als den „Senior der Islamwissenschaft“. Tatsächlich hatte Nöldeke schon im ersten Jahrgang des „Archivs für Religionswissenschaft“ 1 (1898), S. 61–63, einen kleinen Beitrag zum Thema „‚Gottesfurcht‘ bei den alten Arabern“ publiziert. Friedrich Schwally gab im 2. Jahrgang einen Bericht über „Die religiösen Verhältnisse in Tunis“, in: Archiv für Religionswissenschaft 2 (1899), S. 252–258. Vorbereitet durch Reinhart Dozy: Het Islamisme, Haarlem 1863. Skeptisch diskutiert von dem niederländischen Theologen Frederik Willem Bernard van Bell (1822–1898): De naaste toekomst van onze nederlandsche Theologie, in: Theologisch Tijdschrift 2 (1868), S. 72–86, hier S. 80.
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genommen. Es ging darum, den „geest en de instellingen van den Islam“ zu erforschen, wie es der Theologe und spätere Volkskundler Pieter Johannes Veth (1814–1895) schon 1868 verlangt hatte.166 Veth, enger Freund von Johannes Henricus Scholten (1811–1885) und Parteigänger von Strauß und dessen Leben Jesu-Forschung, hatte maßgeblichen Anteil an der Institutionalisierung einer auf den Islam bezogenen Wissenschaft. Wie Scholten im Gefolge von Strauß betrachtete auch er das Christentum nicht mehr aus der Perspektive der Offenbarung, sondern betonte seinen ethischen und zivilisatorischen Gehalt. Entsprechend sollte der Islam auch aus seiner Normativität heraus erforscht werden und weniger aus der Sicht einer Muhammad-biographischen Deutung des islamischen Offenbarungsanspruchs, wie es u. a. Aloys Sprenger (1813– 1893) und William Muir (1819–1905) gemacht hatten. Der Ordnung kolonialen Wissens entsprechend war diese Forschung zunächst der Volkskunde Südostasiens zugeordnet. Schon 1868 war vermerkt worden, daß die islamische Wirklichkeit auf Java nicht mittels einer orientalischen Philologie erforscht werden könne.167 Snouck Hurgronje war daher als Kolonialbeamter (u. a. von 1889–1906 als Professor in Batavia) fest in diese Ordnung integriert.168 Für die niederländische Situation war die konfessionelle Auseinandersetzung besonders wichtig. Es galt, den Katholizismus dadurch auszugrenzen, daß er mit dem Islam faktisch gleichgestellt wurde. Der Reformierte Reland hatte Anfang des 18. Jahrhunderts den Islam als Luthertum ausgegrenzt, Dozy erkannte im Islam einen bestimmenden katholischen Zug: „L’islamisme durera-t-il encore longtemps? À cette question je réponds par une autre: Promet-on une longue durée au catholicisme? Quelque grande que puisse être d’ailleurs la différence si essentielle de 166
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So schon P[ieter] J[ohannes] Veth: De oorsprong van den javaanschen adel, in: Tijdschrift voor Nederlandsch Indië 2 (1868) (3. Serie 2), S. 474–484, hier S. 474. Von 1864–1877 war er Dozent für „Land- en Volkenkunde van NederlandsIndië“ am Indischen Institut der Universität Leiden. Zum Ganzen siehe Paul van der Felde: De Zeeuwse lijnen van P.J. Veth, in: Zeeuws Tijdschrift 6 (2000), S. 41–45. P. J. Veth in der Besprechung von Jan Simon Gerardus Gramberg: Madjapahit. Historisch-romantisch tafereel uit de geschiedenis van Java, in: De Gids (1868), S. 111–132, hier S. 112. Gerardus Willebrordus Joannes Drewes: Snouck Hurgronje en de Islamwetenschap, Leiden 1957 = Snouck Hurgronje and the study of Islam, in: Bijdragen tot de Taal-, Land- en Volkenkunde 113 (1957) 1, S. 1–15.
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leurs doctrines, on est cependant frappé des grandes ressemblances que ces deux religions présentent au point de vue de leur histoire, de leur développement et de leur état actuel. Au moyen âge on a vivement controversé à peu près les mêmes questions dans toutes deux; dans toutes deux, un repos effirayant a succédé à cette lutte animée et la foi a étouffé la raison; toutes deux, elles sont devenues autres qu’elles ne l’étaient à l’origine.“169 Durch den konfessionellen Abgleich ermuntert, erkannte Dozy im arabischen Puritanismus des Muhammad b. Abdalwahhab (gest. 1792) einen islamischen Luther, der den Islam aus seinem Katholizismus hinausführen und in eine lutherische Richtung bringen würde.170 Die Universität Leiden war somit die erste Universität, an der die neue Islamwissenschaft akademische Disziplin wurde. Etwas früher allerdings, 1885, hatte schon Hartwig Derenbourg (1844–1908) als Nachfolger von de Sacy an der École des hautes-études, section des sciences religieuses, einen zusätzlichen Lehrauftrag für „islamisme et religions de l’Arabie“ erhalten. Derenbourgs Vater, der aus Mainz stammende Hebraist Joseph Naftali Derenbourg (1811–1895), war ein enger Freund von Geiger gewesen und hatte seinen Sohn in der Geigerschen Tradition ausgebildet. Er ermöglichte es seinem Sohn, unter anderem in Göttingen bei Ewald und in Leipzig bei Ludolf Krehl (1824–1901) und Fleischer zu studieren. Programmatisch hat Hartwig Derenbourg seine Islamwissenschaft nicht verstanden, eher pragmatisch. Schließlich wirkte er gerade zu der Zeit an der École pratique des hautes études in Paris, als Lichtenberger die Umgestaltung der sciences religieuses skizziert und als Teil des Programms die Etablierung von Professuren für andere, nichtchristliche Religionen gefordert hatte. Erst anläßlich seines Amtsantritts nahm Derenbourg das Thema auf,171 konzeptionalisierte aber fast zwangsläufig 169
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Reinhart Dozy: Essai sur l’histoire de l’Islamisme (= Het Islamisme), Paris 1879, S. 534. „De jongere dochter van het Jodendom was dus denzelfden weg opgegaan als hare oudere zuster, waarschijnlijk niet zonder haren invloed, en Mohammed zou zijn godsdienst in het nieuwere Islamisme evenmin herkend hebben, als Christus den zijnen in het Katholicisme. Tegen het laatste was Luther opgestaan, tegen het eerste verhief zich Abd-al-wahhab.“ Ebd., S. 276. Hartwig Derenbourg: La science des religions et l’islamisme. Deux conférences faites le 19 et le 26 mars 1886, à l’école des hautes-études section des sciences religieuses, Paris 1886. Snouck Hurgronje machte aus seiner Abneigung gegenüber Derenbourg keinen Hehl; er hielt ihn schlicht für inkompetent: „und mancher von unseren angehenden Kolonialbeamten versteht vom Islam noch etwas mehr als der neue Professor der Islam-Wissenschaft in der ‚section des sciences
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den Islam als Gegenstand einer „Wissenschaft von den Religionen“ innerhalb einer „section des sciences historiques“. Seinem Wissenschaftsverständnis nach blieb er aber Philologe im Sinne Ewalds und Fleischers. Anders sein Kollege James Darmesteter (1849–1894), der seit 1877 an der École persisch unterrichtete. Dieser war ganz in der Tradition der vergleichenden Mythologie ausgebildet worden und hielt engen Kontakt zu Max Müller. 1885 publizierte er ein Buch zur islamischen Eschatologie,172 das nun zugleich den Beginn französischer Islamwissenschaft kennzeichnete. In Paris war es so möglich, den Islam mit anderen Religionen zumindest akademisch gleichzustellen. Daran hatte auch schon der Indologe Joseph Héliodore Garcin de Tassy (1794–1878) einen Anteil gehabt. De Tassy, bei de Sacy ausgebildet, verfolgte aber andere Ziele als Fleischer. Neben seinen indologischen Arbeiten – er vertrat die Indologie seit 1828 an der École spéciale des Langues orientales – widmete er sich schon in seinen frühen Arbeiten dem Islam als dogmatischem Lehrsystem. Bemerkenswert ist, daß er schon 1822 den Katechismus des osmanischen Puritaners Mehmed b. Pir Ali Birgivi ins Französische übersetzte. Er wählte für die Darlegung islamischer Dogmatik nicht einen frühen islamischen kanonischen Text aus, sondern benutzte den damals im Osmanischen Reich weit verbreiteten Katechismus eines Puritaners. Der Kontext war natürlich noch nicht die Religionswissenschaft, vielmehr beabsichtigte de Tassy, das ihm allzu positiv erscheinende Islambild des 18. Jahrhunderts (v. a. Reland) wie auch das Negativbild (Voltaire) durch eine authentische Dokumentation islamischer Dogmen zu korrigieren: „Néanmoins, je ne prétends point me faire ici le champion du législateur des Arabes, ni le défenseur de la religion qu’il a établie. Je ne suis qu’un simple traducteur, et mon unique but, en publiant en français cette Ex-
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religieuses‘. Wären es nicht die hohen Interessen, welche Herr D. so richtig hervorhebt, so würde ich die Unverfrorenheit, mit welcher er seine Ignoranz einmal im Hörsaale und jetzt schon zweimal in der Presse zur Schau trug, nur als einen Scherz behandeln; so aber, wenn Einer, der sich rühmt, de Sacy’s Nachfolger und Fleischer’s Schüler zu sein, eine Wissenschaft, die für sein Vaterland so hohe Bedeutung hat, als Spielzeug mißbraucht, erfüllt mich die Sache mit unsäglichem Aerger.“ Literatur-Blatt für orientalische Philologie 3 (1887), S. 103–108, hier S. 108. In Deutsche Literaturzeitung für Kritik der Internationalen Wissenschaft 9 (1888), S. i, betonte Snouck Hurgronje nochmals seine Kritik: „Wir wollen auf bessere Zeiten für die Islam-Wissenschaft in Frankreich hoffen; solange das Publicum solche Bücher kauft, sieht es bedenklich aus.“ James Darmesteter: Le Mahdi depuis les origines de l’Islam jusqu’à nos jours, Paris 1885.
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position de la foi musulmane, a été de contribuer à détruire les fausses idées que l’on a encore sur cette religion.“173 In einem 1874 erschienenen Alterswerk hatte er dann den Islam aber auf die „science des religions“ bezogen.174 Goldziher hat die Aktualität des neuen Wissenschaftsnamens gewiß sofort verstanden und sich selbst dieser Forschung (auch) zugerechnet. 1888/1890 veröffentliche er in Halle bei Niemeyer die zwei Bände seiner Muhammedanischen Studien, die fortan als Gründungstexte der deutschsprachigen Islamwissenschaft angesehen wurden.175 Wie sehr nationalpolitische Kontexte die Konfiguration von Religionswissenschaft und Islamwissenschaft bestimmten, zeigen schon 173
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Garcin de Tassy: Foi musulmane, traduite du Turc de Mohammed ben Pir-Ali Elberkevi, Paris 1822, S. v. In seinem Buch „Doctrine et devoirs de la religion musulmane, tirés textuellement du Coran, suivis de l’Eucologe musulman“, Paris 1826, findet sich zudem eine Übersetzung der Gebetssammlung hidayat alIslam von Amanat Allah Shayda (gest. 1845/46), gedruckt Kalkutta 1804. Garcin de Tassy: Science des religions. L’lslamisme, d’après le Coran; l’enseignement doctrinal et la practique, Paris 1874. Es handelt sich um eine Neuauflage seiner früheren Bücher. Das orientalistische Milieu in Frankreich lebte natürlich von dem Prestige de Sacys. Dessen Schüler allerdings bildeten keine geschlossene Gemeinschaft, sondern profilierten sich mit oft recht eigenwilligen Ansichten. Fulgence Fresnel (1795–1855), der später als Diplomat in Kairo und Bagdad wirkte, forderte die Bildung einer Gesellschaft europäischer und muslimischer Gelehrter zur Bewältigung der orientalistischen Studien. Gerne hätte er es gesehen, wenn der Rektor der Azhar, Hasan al- Attar (1766–1835), Mitglied einer solchen Gelehrtenvereinigung geworden wäre. In Rifa a Rafi i atTahtawi (1801–1873), einem Protegé von al- Attar, der 1825–1831 in Paris gelebt hatte und mit de Sacy gut bekannt war, sah er einen Gelehrten (lettré), der über die notwendigen philologischen Voraussetzungen verfügen würde und der eigentlich schon Europäer sei. Siehe Fulgence Fresnel: Lettres sur l’histoire des Arabes avant l’islamisme, Paris 1836, S. iv–v. Allerdings hatten auch andere den Islam „in den wissenschaftlichen Blick“ genommen, vor allem Ludolf Krehl. Krehl, deutlich im Schatten von Fleischer stehend, hatte zwar im Unterricht den Islam kaum jemals thematisiert (oder thematisieren dürfen, er unterrichtete hauptsächlich „semitische Sprachen“), wirkte aber dennoch maßgeblich mit bei der philologischen Befassung mit dem Islam, siehe z. B. Ludolf Krehl: Über die koranische Lehre von der Prädestination, Leipzig 1870 (Aufsatz); ders.: Beiträge zur Charakteristik der Lehre vom Glauben im Islam, Leipzig 1877 (Aufsatz); ders.: Das Leben und die Lehre des Muhammed, Band 1, Leipzig 1884; ders.: Beiträge zur muhammedanischen Dogmatik, Leipzig 1885.
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die konzeptionellen und institutsgeschichtlichen Differenzen zwischen Frankreich, den Niederlanden und den deutschsprachigen Ländern. Markant waren sie auch in Schottland. Als William Robertson Smith (1846–1894) im Jahre 1885 sein Buch „Kinship and Marriage in Early Arabia“176 veröffentlichte, steuerte einen weiteren Gründertext der Islamwissenschaft bei. Smith hatte in Edinburgh bei dem Hebraisten Andrew Bruce Davidson (1831–1902) sowie bei Paul de Lagarde (1827– 1891) studiert. Mit Davidson teilte er die Überzeugung, daß die Bibel nicht als wörtliche Niederschrift göttlicher Offenbarungen, sondern als literarischer Text und historisches Dokument anzusehen sei. Mit de Lagarde, dem Nachfolger Ewalds in Göttingen, verband ihn nicht nur eine enge Freundschaft, sondern auch ein gemeinsames wissenschaftliches Interesse.177 De Lagarde, der Smith seinen „lieben Schüler“ zu nennen pflegte, tradierte in radikalisierter Form den Antisemitismus von Renan. Überhaupt schienen die Beziehungen zu Göttingen wichtig gewesen zu sein. Wellhausen war 1883, gerade zum Professor für semitische Philologie in Halle ernannt, Gast bei Smith in Edinburgh. Smith hatte große Sympathien für Wellhausens philologische Bibelkritik, die ihn zur Überzeugung führten, daß die biblische Überlieferung eine Projektion vor allem der Königszeit gewesen sei. Wellhausens „Prolegomena zur Geschichte Israels“ (erstmals erschienen 1878 unter dem Titel „Geschichte Israels I“, seit der 2. Ausgabe 1883 unter dem genannten Titel) und Smiths Eintrag „Bible“ in der neuen Edition der Encyclopaedia Britannica aus dem Jahr 1875, der zu einem Häresieverfahren in der schottischen Free Church (Mai 1878–Mai 1880) führen sollte178, ähnelten sich in der Zielsetzung, nämlich in der philologischen Historisierung des Alten Testaments. Smith war also kein Mythologe. 176
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William Robertson Smith: Kinship and Marriage in Early Arabia, Cambridge 1885. Das Buch war deutlich von den Arbeiten von John Ferguson McLennan (1827–1881) zu „Primitive Marriage“ (Edinburgh 1865) und „Kinship in Ancient Greece“ (1866) beeinflußt. In gewisser Hinsicht bündelte Smith die beiden Arbeiten von McLennan in einer auf das Alte Arabien bezogenen Perspektive. Julius Wellhausens: Die Reste des arabischen Heidentums, Berlin 1887, fügt sich nahtlos in diese Tradition. Bernhard Maier: William Robertson Smith. His Life, his Work and his Times, Tübingen 2009. Das Verfahren endete bekanntlich mit der Ermahnung an Smith, sich in Zukunft „unvorsichtiger und unvollständiger öffentlicher Äußerungen zu enthalten“.
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In seiner ersten Vorlesung zu „The Religion of the Semites“ (1888) betonte er: „This being so, it follows that mythology ought not to take the prominent place that is too often assigned to it in the scientific study of ancient faiths.“179 Im Anschluß an James Frazer sah Smith nicht den Mythos, sondern das Rituelle und Magische als primär an. Der Mythos war ihm nur die Ausformulierung des Magischen, also in gewisser Weise eine Protorationalisierung. Der schottische Rationalismus siegte hier über die Mythologie, weshalb der radikale Monotheismus des Islam im Kontext der Religionswissenschaft bestehen konnte. Allerdings bedeutete dies nur sehr beschränkt eine religionsgeschichtliche oder gar systematische Thematisierung des Islam. In Frazers Werk „The Golden Bough. A Study in Magic and Religion“ kommt der Islam im Gegensatz zum Judentum und zum Christentum überhaupt nicht vor. Wir haben es also mit mindestens vier akademischen Traditionen zu tun, in denen zwischen 1874 und 1888 der Islam zu einem wissenschaftlichen Gegenstand gemacht wurde. Bemerkenswert ist, daß allein im deutschsprachigen und niederländischen Kontext die Verwissenschaftlichung des Islam zu einer „Islamwissenschaft“ geführt hat.180 Eben deshalb galten Goldziher und Snouck Hurgronje als die Ahnen dieser Wissenschaft. Die Grunddifferenzierung zwischen Religion und Islam wurde dabei nicht aufgegeben; faktisch traf dies auch auf das Judentum zu. Schon früh war es aus der Altertumswissenschaft ausgeschlossen, da, wie der Homer-Forscher Friedrich August Wolf (1759–1824) behauptet hatte, „die hebräische Nation [. . .] sich nicht auf den Grad der Cultur emporgearbeitet [hat], daß man sie als ein gelehrtes cultivirtes Volk betrachten könnte. Sie haben nicht einmal Prosa, sondern noch halbe Poesie. Ihre Geschichtschreiber sind nur ärmliche Chronikenschreiber. Perioden [also in ganzen Sätzen] haben sie nie schreiben können; dies war eine Erfindung der Griechen.“181 Mit der Herausbildung der Wissen179
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William Robertson Smith: Lectures on the Religion of the Semites. The Fundamental Institutions, 3. Ed., New York, London 1927, S. 18. Goldzihers Verwendung des Begriffs Islamwissenschaft ist nicht eindeutig. So bezeichnete er der Chronisten at-Tabari (gest. 923) als „eine der größten Gestalten der Islamwissenschaft aller Zeiten“. Ignác Goldziher: Die Richtungen der islamischen Koranauslegung. An der Universität Upsala gehaltene OlausPetrivorlesungen, Leiden 1920, S. 86. Diese oft zitierte Behauptung findet sich in: Friedrich August Wolf: Vorlesungen über die Althertumswissenschaft, hrsg. von J. D. Gürtler, Band 1, Leipzig 1831, S. 14.
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schaft vom Judentum (seit etwa 1818/1824) allerdings entwickelte sich ein Selbstvertretungsanspruch, der die Paradigmata der Befassung mit Religion in die jüdische Tradition einschrieb. Für Geiger war unmißverständlich, daß Religion nicht als „System von Wahrheiten“ zu verstehen sei, sondern als „Jubel der Seele“, als „Schwung des Geistes nach dem Idealen hin“, als „Bewußtsein von der Höhe und Niedrigkeit der Seele“, als „Streben nach Vervollkommung mit dem Bewußtsein, daß man zur höchsten Stufe sich nicht emporringen könne“. Es gelte, dieses Bewußtsein aus dem bislang antiquierten Judentum, das einer Ruine gleiche, neu zu entwickeln.182 Der Islam wurde – wie auch Goldziher meinte – als Teil der jüdischen Tradition angesehen, da, wie Leopold Zunz sagte, „indessen doch Mehreres aus dem Judenthum in den Mohammedanismus übergegangen“ sei.183 Das war ja schon Geigers Thema seiner Schrift „Was hat Mohammed aus dem Judenthume aufgenommen?“184 gewesen. Und wie schon Geiger mahnte, ging es nicht um die Meinung, der Islam sei einfach eine Fortschreibung des Judentums, sondern um die Differenz, die zwischen Islam und Judentum bestehe. In dieser Differenz konnte zugleich der Kontext des Judentums neu bestimmt werden. Dieser war eben nicht der Alte Orient, sondern die aufgeklärte universale Welt der „Wissenden“ (Geiger). Insofern ging die Wissenschaft von Judentum andere Wege als die Religionsgeschichte der Theologie, Mythologie oder Religionswissenschaft. Letztere kontextualisierte ja das Judentum jenseits des klassischen Altertums in einer „orientalisch-semitischen Zeit“. Die Bibelwelt wurde so zum machtvollen Gegenstand der „historischen Schule“, und indem die Bibelwelt historisiert wurde, wurden die Juden als „Träger“ der Bibelwelt gleichsam dekonstruiert. Goldziher nahm keinen Bezug auf die Wissenschaft vom Judentum. Zwar fühlte er sich Geiger verpflichtet: „Ich muß der Wahrheit die Ehre geben und jedem, der diese Zeilen liest bekennen, daß ich zu dieser Methode durch das in meiner frühesten Jugend eifrig betriebene Studium der Schriften des sel. Abraham Geiger angeregt wurde. Ich habe mich gewöhnt, die religiösen Quellen der jüdischen Lehre nach Geigers Anleitung zu betrachten und die durch diesen unsterblichen Mann begründete 182
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Abraham Geiger: Das Judenthum und seine Geschichte. In zwölf Vorlesungen, Breslau 1864, S. 11 und S. 5. Leopold Zunz: Heißt Raschi Jarchi? [1839], in: ders.: Gesammelte Schriften, Band 3, Berlin 1876, S. 100–105, hier S. 100. Abraham Geiger: Was hat Mohammed aus dem Judenthume aufgenommen?, Bonn 1833.
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Anschauungsweise ist ein Faktor meines geistigen Lebens geworden. Seit jeher konnte ich auch die Dokumente des Islam nicht anders beurtheilen als in denen ich dieselben in Beziehung setzte zu den geistigen Strömungen, zu den mit einander kämpfenden Kräften, deren Resultat zuletzt die einheitliche Kirche war.“185 Doch erschien ihm die Zuordnung zu jüdischen akademischen Institutionen nur eine Verlegenheitslösung für sein Ansinnen, akademisch an staatlichen Universitäten zu reüssieren. Allerdings blieb ihm das Privileg, mit dem Snouck Hurgronje 1887 ausgezeichnet wurde, versagt. Erst 1894 wurde er Titularprofessor, dann im Mai 1905 mit dem Rücktritt des Theologen und Missionars Péter Hatala (1832-1918) ordentlicher Professor an der Universität Budapest, allerdings wie Hatala für semitische Philologie. Zwischenspiel In den 1870er und 1880er Jahren zeichnete sich ein grundlegender Wandel in der wissenschaftlichen In-Wert-Setzung der Begriffe Religion und Cultur ab. Bestehende Konfessionen wurden – wenn als Religion gedacht – radikal historisiert. Zugleich aber wurden sie – wenn als Kultur gedacht – einem Metadiskurs zugeordnet, der die an ihnen vollzogene historische Kritik aufhob. Religion wurde – vor allem von Vertretern der religionsgeschichtlichen Schule – systematisch in historische, vergleichende, soziologische und psychologische Teilaspekte zerlegt und als Kultur neu zusammengefügt beziehungsweise in ihrer „Kulturbedeutung“ analysiert.186 Von katholischer Seite wurde dies schon 1875 als „Culturphilosophie“ negativ apostrophiert.187 Kultur wurde nun – im An185 186
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Ignác Goldziher: Tagebuch (wie Anm. 158), S. 123. Schon Ritschl sprach von Kulturbedeutung. Das Kennzeichen der orientalischen christlichen Kirchen sei, daß sie keine Kulturbedeutung hätten, da sie allein dem Cultus frönten. Albrecht Ritschl: [Rez.] A. Pichler: Geschichte der kirchlichen Trennung zwischen dem Orient und dem Ocident [. . .], Band II, München 1865, in: Göttingische gelehrte Anzeigen, 41. Stück, 11.10.1865, S. 1607. „Die bevorstehende Herrschaft der Culturphilosophie“, „der Druck des Triumphes der ‚Culturphilosophie‘“, in: Stimmen der Zeit 8–9 (1875), S. 38 und S. 40. Tatsächlich wurde schon in der „Denkschrift zur Gründung einer freien akademischen Universität“, die u. a. von Karl Grün, Ludwig Noack und Ludwig Feuerbach im Juli 1848 unterzeichnet wurde, die Culturphilosophie als die Untergliederung der Wissenschaft des Geistes bezeichnet, die den subjektiven Or-
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schluß an Moritz Lazarus188 – als primäre Manifestation des „objektiven Geistes“ gedacht, als „zweite Natur“ des Menschen; im „rein geistigen Sinne“ würde sich diese in Sprache, Gesinnung, Religion und Mythos zeigen.189 Die alten Ideale der „allgemeinen Culturwissenschaft“ hatten sich ja vorrangig auf die Erforschung der „materiellen Grundlagen menschlicher Cultur“ sowie auf die Kulturstufentheorien (Edward B. Tylor) und Rassenlehren (Joseph Gobineau) bezogen. Mit der Inkorporation und historischen Auflösung der Religion erwuchs dem Kulturbegriff nun eine Deutungsmacht, die zwischen 1870 und 1920 auch die Interpretation des Islam bestimmen sollte. Der Islam geriet zu einem objektiven Geist, der geistige, institutionelle, psychologische, instrumentelle und sogar materielle Objektwerdungen umschloß. Und er wurde zum tätigen Geist. Ab jetzt war es möglich, den Islam zum Subjekt von Handlungen, Geschehen, Einstellungen und Normen zu machen. Zeitgleich zeichnete sich der Bezeichnungswechsel von Muhammedanismus zu Islam ab. Ganz neu war das nicht. Die Verweltlichung des Hegelschen objectiven Geistes hatte schon der Hegelianer Karl Rosenkranz beschäftigt und hierzu eine Kurzfassung von Hegels Differenzierung vorgelegt: „Hegel unterscheidet bekanntlich den Geist als den subjectiven, objectiven und absoluten. Der subjective Geist muß die ihm unmittelbar anhaftende Natürlichkeit abstreifen und sich in der Allgemeinheit seiner Freiheit erfassen“ lernen, so daß er zur Objectivität der That fähig wird. Der objective Geist wird sich als der Volksgeist offenbar, der jedoch seine Wahrheit
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ganismus der Freiheit behandelt; Teil dieser Untergliederung sei u. a. die Religionsphilosophie. Die Religionsgeschichte wurde dem subjektiv-objektiven Organismus der Freiheit zugeordnet. Siehe Karl Grün: Ausgewählte Schriften in zwei Bänden, hrsg. von Manuela Köppe, Band II, Berlin 2005, S. 545–553, hier S. 549. Noch älter ist die Einpassung der Culturphilosophie als Lehre von den Culturstufen, so z. B. der Verleger und Komponist Hans Georg Nägeli (1773– 1836): Anrede an die Versammlung des musik[alischen] Vereins der Schweiz, in: Allgemeine musikalische Zeitung 40, 2.10.1816, S. 677–687, hier S. 682. Moritz Lazarus: Einige synthetische Gedanken zur Völkerpsychologie, in: Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft 3 (1865), S. 1–94, hier S. 41 ff.: „Als den bedeutendsten Erfolg alles geistigen Zusammenlebens bezeichnen wir die Entstehung eines erzeugten, erschaffenen, vorhandenen, eines objectiven Geistes.“ Siehe auch Ivan Kalmar: The „Völkerpsychologie“ of Lazarus and Steinthal and the Modern Concept of Culture, in: Journal of the History of Ideas 48 (1987), S. 671–690. Ludwig Stein: An der Wende des Jahrhunderts. Versuch einer Kulturphilosophie, Freiburg i. Br., Leipzig, Tübingen 1899.
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nicht in sich, sondern im Geist der Menschheit hat. Der Volksgeist steht nur als ein Glied in der Reihe anderer Volksgeister da. Seine Geschichte geht durch sich selbst in die Geschichte der Welt über. Der Geist als an und für sich die sich wissende Wahrheit befreiet sich in der geschichtlichen Entwicklung auch von den Schranken der Geschichte. Diese Sphäre ist die der Religion, der Absolutheit des Geistes, erscheine dieselbe als Kunst, als Glaube oder Wissenschaft. Der objective Geist, der sich im Recht, in der Sitte und Verfassung eines Volkes das System seiner Freiheit erschafft, ist in diesem Thun unendlich. Der Inhalt seines Daseins ist die Freiheit, wie niedrig an sich vielleicht auch die Stufe sei, auf der er sie verwirklicht.“190 Die Hegelsche Bestimmung des „objectiven Geists“ (Philosophie des Geistes, 2. Abt., § 483: Der Geist ist objektiver Geist „in der Form der Realität als einer von ihm hervorzubringenden und hervorgebrachten Welt, [. . .] in welcher die Freiheit als vorhandene Notwendigkeit ist“) war gewiß intellektuelles Gemeingut um 1850. Unter dem Stichwort „Pantheismus“ schrieb z. B. der katholische Theologe Wenzeslaus Martin Mattes (1815–1886): „Der freie Geist ist es, der sich objectivirt. Somit ist der Geist 2) als objectiver Geist. Das Object aber, worin der objective Geist ist, ist a) das Recht, b) die Moralität, c) die Sittlichkeit, welch’ letztere wirklich ist in oder als Familie, Gesellschaft und Staat, so daß der vollendete objective Geist der Staat ist (in vollkommenster Gestalt natürlich der preußische!). Diese Objektivität, worin so der Geist ist, ist freie Objektivität d. h. vom bewußten Geist geschaffene Wirklichkeit.“191 Neu war, daß der objective Geist nicht aus einer philosophischen Spekulation abgeleitet, sondern mit der vielgestaltigen Empirie der Wissenschaften in Bezug gesetzt wurde, daß Religion endgültig aus der Hegelschen Zuordnung zum „absoluten Geist“ gelöst und dem objectiven Geist unterstellt, das heißt als von ihm hervorgerufen angesehen wurde, und daß der objective Geist mit dem neuen Kulturbegriff fusioniert wurde. In diesem Kulturbegriff verschmolzen die Synthesen Herders und Hegels zu einer Deutungswelt.192 Nun 190
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K[arl] Rosenkranz: Psychologie oder die Wissenschaft vom subjectiven Geist, Königsberg 1838, S. xxiv. Heinrich Joseph Wetzer, Benedikt Welte (Hg.): Kirchen-Lexikon oder Encyclopädie der katholischen Theologie und ihrer Hilfswissenschaften, Band VIII, Freiburg i. Br. 1852, S. 84. Dies wird lange so bleiben. Josef van Ess: From Wellhausen to Becker. The Emergence of „Kulturgeschichte“ in Islamic Studies, in: Malcom H. Kerr (Hg.):
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war sie da, die „moderne Cultur“. Natürlich war sie auch Gegenstand mancher theologischer Anfeindung, und nicht wenige Theologen, wie der Göttinger Julius August Wagenmann (1823–1890),193 sahen eine Grundfeindschaft zwischen Christentum und moderner Cultur. Andere betrieben nationalistische Apologetik, wie der Sohn Friedrich Rückerts, Heinrich Rückert (1823–1875) in seinem „Lehrbuch der Weltgeschichte in organischer Darstellung“: „Die moderne Cultur hat, wie sich dies aus ihren Anfängen und schon aus der Individualität ihres hauptsächlichsten nationalen Bestandesheiles, des germanischen, mit Nothwendigkeit ergab, alle diejenigen Vertheidigungs- und Angriffswaffen mit bewunderungswürdiger Ausdauer und unermeßlichem Erfolge ausgebildet, die dazu dienen, die Kargheit und Sprödigkeit der Natur zu überwältigen und in ihr eine wohnliche Stätte für ein höheres menschliches Dasein zu schaffen.“194 Diese Rekonfessionalisierung im Nachgang des Kulturkampfs bedeutete für die Loslösung der Konfessionen aus dem Gefüge der Religion und ihre schließliche Rekonzeptionalisierung als Kultur. Es war gewiß nicht zufällig, daß die Auseinandersetzungen zwischen dem Staat und der katholischen Kirche, ab 1873 zunächst in Preußen, mit dem seit 1878 in der Presse benutzten Begriff „Kulturkampf“ im Sinne eines Kampfes um die Kultur und ihre institutionellen Formen (öffentlicher Friede, Schulaufsicht, Zivilehe, Sozialfürsorge, Pfründe etc.) bezeichnet wurde. Der Begriff war ungemein populär und wurde schon bald – vor allem im Kontext antisemitischer Redeweisen – auf historische Kontexte übertragen.195 Der Privatdozent für orientalische Sprachen, Adolf Wahrmund (1827–1913), generalisierte den Begriff als Kampf zwischen Orient und
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Levi della Vida Conferences, volume VII. Islamic Studies: A Tradition and its Problems, Malibu, Cal. 1980, S. 27–51, resümiert abschließend in seiner Betrachtung der Etablierung einer Kulturgeschichte im Kontext der Orientalistik: „Wir brauchen beide: Herder und Hegel.“ Julius August Wagenmann: Tersteegen, Hiller, Gellert. Eine Säcularerinnerung, in: Jahrbücher für deutsche Theologie 15 (1870), S. 124–240, hier S. 180. Heinrich Rückert: Lehrbuch der Weltgeschichte in organischer Darstellung, II Bände, Leipzig, 1857, hier Band II, S. 803. Cf. das Drama des katholischen Priesters Michael Carl Hörschel (1838–1921): Judas Makkabi oder der jüdisch-griechische Culturkampf um die Mitte des zweiten Jahrhunderts v. Chr.: Historisches Schauspiel in 5 Akten, Würzburg 1878.
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Okzident.196 Auch hier wieder wirkte der antisemitische Kontext: Wahrmund verweigerte den Semiten – und hier besonders den Juden – jegliche Fähigkeit, ein Gemeinwesen und eine Kultur zu bilden, und forderte eine radikale Trennung zwischen den semitischen „Parasiten“ und den „Nichtsemiten“. Den Kulturkampf deutete er in zweierlei Richtung: den aktuellen kirchenpolitischen Streit sah er durch die Juden ausgelöst, die den protestantischen Liberalismus unterwandert und „razziiert“ hätten; tatsächlich herrsche also ein grundsätzlicher Kulturkampf zwischen Semiten und Nichtsemiten, der nur im Kirchenstreit verschleiert würde. Bekanntermaßen folgte er hier dem österreichischen katholischen Theologen August Rohling, der bereits im Jahre 1871 eine Schmähschrift gegen das Judentum unter dem Titel „Der Talmudjude“ veröffentlicht hatte.197 Der Durchbruch 1904/1912 Die Bezugnahme auf den Islam als distinktes wissenschaftliches Objekt blieb bis Beginn des 20. Jahrhunderts in philologische und historistische Metadiskurse eingebettet.198 Getragen wurde sie vor allem von jenen Orientalisten, die zwischen 1870 und 1900 an den deutschen Universitäten studierten, die in irgendeiner Weise das Studium orientalischer Texte erlaubten. Ihre Gesamtzahl ist schwer einzuschätzen, doch läßt eine Durchsicht deutscher biographischer Lexika vermuten, daß es ins196
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Adolf Wahrmund: Der Culturkampf zwischen Asien und Europa. Ein Beitrag zur Klarlegung des heutigen Standes der orientalischen Frage, Berlin 1887. Die Affaire um Rohling ist zusammengefaßt von Simon Dubnow: Weltgeschichte des Jüdischen Volkes, autorisierte Übersetzung aus dem Rußischen von Dr. A. Steinberg, Band 10, Berlin 1929, S. 77–78. Die Frühgeschichte der Islamwissenschaft als akademische Disziplin ist oft beschrieben worden, z. B. Jean Jacques Waardenburg: L’Islam dans le miroir de l’Occident. L’approche compréhensive et la formation de l’image de la religion islamique chez quelques orientalistes occidentaux. Une étude à propos de l’oeuvre de I. Goldziher, C. Snouck Hurgronje, C. H. Becker, D. B. Macdonald, Louis Massignon, ’S-Gravenhage 1961; Ulrich Haarmann: Die islamische Moderne bei den deutschen Orientalisten, in: Friedrich H. Kochwasser, Hans R. Roemer (Hg.): Araber und Deutsche, Tübingen, Basel 1974, S. 56–91; Baber Johansen: Politics and Scholarship (wie Anm. 1), S. 71–130; Sabine Mangold: Eine „weltbürgerliche Wissenschaft“? (wie Anm. 1), S. 251–272; Ursula Wokoeck: German Orientalism (wie Anm. 1), S. 164–184.
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gesamt etwa 200–300 Personen gewesen sein mögen. Nur etwa einem Zehntel von ihnen gelang es, sich auf Professuren zu etablieren. Weiterhin fällt auf, daß ab etwa 1880 die Zahl derjenigen Studenten stark zunahm, die das Studium der protestantischen Theologie mit der Orientalistik kombinierten. Etwa 60% der um 1900 lehrenden Orientalisten waren hauptamtlich protestantische Theologen; um 1870 waren es nur etwa 35% gewesen. Insgesamt stammten im 19. Jahrhundert wohl mehr als 80% der deutschen Orientalisten aus einem protestantischen Milieu. Diese Zahl ist insofern bedeutsam, als im 19. Jahrhundert nur etwa 60% der Akademiker an deutschsprachigen Universitäten protestantisch, hingegen knapp 35% katholisch und knapp 5% jüdisch waren.199 Vor einer Entflechtung der Orientalistik von der Theologie kann also kaum die Rede sein, im Gegenteil: die konfessionspolitischen Auseinandersetzungen des späten 19. Jahrhunderts bildeten nicht nur in Deutschland, sondern auch in Großbritannien, Frankreich und der Schweiz einen Kontext für die endgültige akademische Ausbildung einer Islamwissenschaft. Folgende, gerne mit der Ausbildung der Islamwissenschaft in Verbindung gebrachte Orientalisten hatten einen – vor allem protestantischen – theologischen Hintergrund: Martin Hartmann (1851–1918) studierte in Breslau protestantische Theologie und dann ab 1871200 orientalische Philologie bei Fleischer; Karl Vollers (1857–1909), studierte protestantische Theologie in Tübingen und Halle;201 David Samuel Margoliouth (1858–1940) war anglikanischer Priester; Christian Seybold (1859–1921), erhielt in Tübingen eine protestantische theologische Ausbildung und war Schüler von Fleischer; Georg Jacob (1862–1937) studierte in Erlangen protestantische Theologie; Duncan Black MacDonald (1863–1943) lehrte am Hartford Theological Seminary;202 199 200
201 202
Berechnet nach http://www.deutsche-biographie.de/index.html. Deutlich kritisch im Ton der Nachruf von Carl Heinrich Becker: Martin Hartmann, in: Der Islam 10 (1920), S. 228–233. Carl Heinrich Becker: Karl Vollers, in: Der Islam 12 (1922), S. 214–222. Duncan D. MacDonald: Development of Muslim Theology, Jurisprudence and Constitutional Theory, New York 1903. Duncans Eingangsstatement differenziert den Islam deutlich vom Christentum mit dem Verweis darauf, daß „in Muslim countries, Church and State are one indissolubly, and until the very essence of Islam passes away, that unity cannot be relaxed.“ Ebd., S. 3.
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August Fischer (1865–1949) studierte protestantische Theologie in Halle, war aber ganz in der Tradition von Fleischer radikaler Philologe und expliziter Gegner einer Islamwissenschaft; Friedrich Schwally (1863–1919) war als protestantischer Theologe in Gießen ausgebildet worden und Schüler des Alttestamentlers Bernhard Stade (1848–1906); Georg Kampffmeyer (1864–1936) studierte protestantische Theologie u. a. in Bern, Lausanne; Paul Kahle (1875–1964) war zunächst protestantischer Pfarrer und habilitierte sich „erst“ 1909 für semitische Philologie in Halle; Enno Littmann (1875–1958) studierte in Berlin, Greifswald und Halle protestantische Theologie; Carl Heinrich Becker (1876–1933) hatte in Lausanne und Heidelberg protestantische Theologie studiert;203 Rudolf Strothmann (1877–1960) war von 1907 bis 1923 protestantischer Pfarrer in Schulpforta; Richard Hartmann (1881–1965) wurde als protestantischer Theologe in Tübingen ausgebildet; Max Horten (1874–1945) war katholischer Theologe; Louis Massignon (1883–1962), in einem katholischen Milieu erzogen, „konvertierte“ 1908 zum Katholizismus und wurde zum „Erben“ von Charles de Foucault (1858–1916); Jacob Barth (1851–1914), Schüler Fleischers, ab 1874 Dozent am Rabbinerseminar in Berlin;
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Zu Becker ist viel geschrieben worden: Erich Wende: C. H. Becker. Mensch und Politiker. Ein biographischer Beitrag zur Kulturgeschichte der Weimarer Republik, Stuttgart 1959; Josef van Ess: From Wellhausen to Becker. The Emergence of Kulturgeschichte in Islamic Studies (wie Anm. 192); Marc Batunsky: Carl Heinrich Becker. From Old to Modern Islamology, in: International Journal of Middle East Studies 13 (1981), S. 287–310; Peter Heine: C. Snouck Hurgronje versus C. H. Becker. Ein Beitrag zur Geschichte der angewandten Orientalistik, in: Die Welt des Islam 23/24 (1984), S. 378–387; Cornelia Essner, Gerd Winkelhane: Carl Heinrich Becker (1876–1933) – Orientalist und Kulturpolitiker, in: Die Welt des Islam 28 (1988), S. 154–177; Guido Müller: Weltpolitische Bildung und akademische Reform. C. H. Beckers Wissenschafts- und Hochschulpolitik 1908–1930, Köln 1991; Alexander Haridi: Das Paradigma der „islamischen Zivilisation“ – oder die Begründung der deutschen Islamwissenschaft durch Carl Heinrich Becker (1876–1933). Eine wissenschaftsgeschichtliche Untersuchung, Würzburg 2005.
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Eugen Mittwoch (1876–1942) wirkte neben seiner Tätigkeit als Professor für semitische Philologie an der Universität Berlin als jüdischer Gelehrter und Jurist; Die Mehrheit bildeten natürlich protestantisch geprägte Orientalisten. Nichttheologisch ausgebildete Islamwissenschaftler waren oftmals Katholiken (Eugen Prym [1843–1913], Hubert Grimme [1864–1942], Adam Mez [1869–1917] und Anton Baumstark [1872–1948]), oder Juden (hier vor allem Ignaz Goldziher selbst sowie Lazarus Goldschmidt [1871–1950]). Goldzihers Befürwortung einer Islamwissenschaft folgte eine ähnliche, aber anders gelagerte Forderung von dessen Studienkollegen Martin Hartmann. Hartmann hatte 1899, als er schon Lektor für Arabisch am Seminar für Orientalische Sprachen in Berlin war, für eine unabhängige Disziplin namens Islamkunde (Islamologie) plädiert,204 die sich von der Semitistik zu lösen habe.205 Hartmann beklagte: „Von einer systematischen Darlegung des Gegenstandes [d. h. des Islam, R. S.] kann keine Rede sein.“ Doch war unklar, was das systematische Merkmal sein könnte. Goldziher sah die Islamwissenschaft trotz des Ablehnungsdiskurses in einer Nähe zu einer philologisch begründeten Religionswissenschaft. Hartmann mochte sich nicht ganz auf die Philologie der Religionswissenschaft einlassen, sondern bezeichnete sich als „reiner Religionswissenschaftler und Soziologe“, wobei er beklagte, daß sein Programm für eine Islamwissenschaft noch nicht weit vorangekommen sei.206 Um 1900 deutete sich nun an, daß die noch nicht akademisch institutionalisierte Islamwissenschaft allmählich neu kontextualisiert wur204
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206
Martin Hartmann: Islamologie, in: Orientalische Litteratur-Zeitung 2 (1899), S. 1–4; die von Hartmann zur Erklärung von Islamkunde verwendete Bezeichnung Islamologie ist sicherlich in Analogie zu Soziologie zu verstehen. In „Les études musulmanes en Allemagne“, in: Revue du monde musulman 12 (1910), S. 532–536, hier S. 534 f., nannte er seine Islamkunde auf französisch „études musulmanes“ und forderte einen Bruch mit der Semitistik; siehe Martin Kramer: Arabistik and Arabism. The Passions of Martin Hartmann, in: Middle Eastern Studies 25 (1989), S. 283–300. Von „Islamkunde“ hatte schon zuvor Goldziher gesprochen, siehe seinen Beitrag „Neue Materialien zur Litteratur des Ueberlieferungswesens bei den Muhammedanern“, in: Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft 50 (1896), S. 465–506, hier S. 495. Hartmann behielt diesen Sprachgebrauch noch bis 1911 bei. Siehe Ludmila Hanisch: Die Nachfolger der Exegeten (wie Anm. 1), S. 68, Anm. 223. Hartmann an Goldziher, Brief vom 10.07.1909, in: Ludmila Hanisch: Die Nachfolger der Exegeten (wie Anm. 1), S. 331.
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de. Maßgeblich war gewiß die Popularität staatswissenschaftlicher, soziologischer und theologischer Gelehrsamkeit, die mit den Namen Adolf von Harnack (geb. 1851), Georg Jellinek (geb. 1851), Ferdinand Tönnies (geb. 1855), Karl Gotthart Lamprecht (geb. 1856), Georg Simmel (geb. 1858), Werner Sombart (geb. 1863), Max Weber (geb. 1864), Ernst Troeltsch (geb. 1865) und Albert Schweitzer (geb. 1875) verbunden war. Sie gehörten der gleichen Generation an wie die Orientalisten, die sich für eine Islamwissenschaft aussprachen. Zwischen 1887 (Tönnies) und 1906 (Schweitzer) veröffentlichten diese Gelehrten ihre ersten Hauptwerke.207 Das Problem für die Islamwissenschaftler war, daß diese Gelehrten aus einer makrohistorischen oder makrosoziologischen Perspektive auch über den Islam sprachen, ohne – nach Meinung der Orientalisten – dazu befähigt oder berechtigt zu sein. Manche nahmen auch Anstoß an der Privilegierung der Theologie als Metadiskurs jeder Forschung zu Religionen. Martin Hartmann reagierte geradezu empört auf von Harnacks Universitätsrede von 1901: Erstens sah er in ihm einen Theologen, und damit „nicht als Mann der Wissenschaft“, zum anderen forderte er ganz entgegen von Harnacks Vorstellung die Umwandlung der katholischen und protestantischen Theologie in eine echte „Religionswissenschaft“.208
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Ferdinand Tönnies: Gemeinschaft und Gesellschaft. Abhandlung des Communismus und des Socialismus als empirischer Culturformen, Leipzig 1887; Adolf von Harnack: Lehrbuch der Dogmengeschichte, 3 Bände, Tübingen 1886–1890; Georg Simmel: Über sociale Differenzierung. Sociologische und psychologische Untersuchungen, Leipzig 1890; Georg Jellinek: System der subjektiven öffentlichen Rechte, Freiburg i. Br. 1892; Max Weber: Die sozialen Gründe des Untergangs der antiken Kultur, Stuttgartt 1896; Werner Sombart: Sozialismus und soziale Bewegung im 19. Jahrhundert, Bern 1896; Ernst Troeltsch: Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte. Vortrag gehalten auf der Versammlung der Freunde der Christlichen Welt zu Mühlacker am 3. Oktober 1901, erweitert und mit einem Vorwort versehen, Tübingen, Leipzig 1902, jetzt: Ernst Troeltsch: Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte (1902/1912), mit den Thesen von 1901 und den handschriftlichen Zusätzen, hrsg. von Trutz Rendtorff in Zusammenarbeit mit Stefan Pautler (Ernst Troeltsch: Kritische Gesamtausgabe, Band 5), Berlin, New York 1998; Albert Schweitzer: Von Reimarus zu Wrede. Eine Geschichte der Leben-JesuForschung, Tübingen 1906. Hartmann an Goldziher, Brief vom 24.5.1901, in: Ludmila Hanisch: Islamkunde und Islamwissenschaft im deutschen Kaiserreich: Der Briefwechsel zwischen
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Allerdings blieb Hartmann die Erklärung dafür schuldig, warum es denn dann eine gesonderte „Islamologie“ geben müsse. Harnack hatte eine Lanze für die Philologen gebrochen und den Theologen das Primat der Religionsdeutung zugewiesen. In seiner Rektoratsrede hatte er ausgeführt: „Erstlich bedarf es nur einer kurzen Erwägung, um zu erkennen, daß das Studium jeder einzelnen Religion von dem Studium der gesamten Geschichte des betreffenden Volkes schlechterdings nicht losgelöst werden darf. Zu dieser Geschichte gehört vor allem die Sprache des Volkes, sodann seine Literatur, weiter seine sozialen und politischen Zustände. Die Religion allein studieren wollen ist ein noch kindlicheres Unterfangen als das, statt der ganzen Pflanze nur die Wurzel oder nur die Blüte zu untersuchen. Die Sprache ist nicht nur die Scheide, darinnen das Messer des Geistes steckt; sie ist viel mehr als die Scheide, zumal in Bezug auf die Religion. Die Religion hat zum Teil die Sprache geschaffen, und in der Sprachgeschichte spiegelt sich die Religionsgeschichte. Nur wer jene in allen ihren Nuancen kennt, kann versuchen, die Religion zu entziffern.“209 Mithin übergab Harnack den Philologen das Privileg, andere, nichtchristliche Religionen zu behandeln, und zwar ohne Bezugnahme auf eine allgemeine Religionstheorie: „Um so lebhafter aber ist unser Wunsch, daß der Indologe, der Arabist, der Sinologe etc. auch der Religion des Volkes, dem er sein Studium gewidmet hat, volle Beachtung schenke und die Ergebnisse seiner Arbeit in Vorlesungen und Büchern mitteile.“210 Denn das Prinzip Religion sei allein auf die „Religion, deren Eigentum die Bibel ist“, zu beziehen, durch die die Erkenntnis der Religion überhaupt erst möglich sei: „Wir wünschen, daß die Theologischen Fakultäten Fakultäten für die Erforschung der christlichen Religion bleiben. Weil das Christentum in seiner reinen Gestalt nicht eine Religion neben anderen ist, sondern die Religion.“211 Religionsgeschichtlich sei das Christentum dadurch ausgewiesen, daß es faktisch für alle religiösen Erscheinungen anderer Traditionen eine Parallele darstelle, während es in keiner anderen Religion Parallelen für Erscheinungen des Christentums wie bestimmte „Typen christlicher Frömmigkeit“
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Carl Heinrich Becker und Martin Hartmann (1900–1918), eingeleitet und hrsg. von Ludmila Hanisch, Leiden 1992, S. 172. Adolf Harnack: Die Aufgabe der theologischen Fakultäten und die allgemeine Religionsgeschichte nebst einem Nachwort [1901], in: ders.: Reden und Aufsätze, Band 2, Giessen 1904, S. 159–188, hier S. 167. Ebd., S. 176 f. Ebd., S. 172.
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gäbe. Als eifriger Rezipient von Karl Lamprecht suchte Hartmann nun nach Gesetzmäßigkeiten in der islamischen Geschichte, doch programmatisch konnte er damit keinen „Methodenstreit der Orientalistik“ auslösen, so, wie es Lamprecht in der Geschichtswissenschaft oder zuvor Carl Menger in der Ökonomie gelungen war. Immerhin, die zwei Pole der geisteswissenschaftlichen Diskussion der Jahrhundertwende (Lamprecht und Weber, Menger und Gustav Schmoller etc.) prägten die frühe Ausformulierung einer Verwissenschaftlichung des Islam. Doch wie Lamprecht blieb auch Hartmann akademisch ein Außenseiter. Sachlich vertrat er einen klassischen französischen Positivismus, also ohne Bezug auf Durkheim. Hier folgte er deutlich den sogenannten Leipziger Positivisten um Wilhelm Wundt, dem Geographen Friedrich Ratzel, dem Chemiker Wilhelm Ostwald, dem Ökonomen Karl Bücher und eben Karl Lamprecht. Elfriede Üner faßte die Grundannahmen der Leipziger Positivisten wie folgt zusammen: „Die Entwicklung der Kulturformen, Institutionen, Gesellschaften, wie auch der Persönlichkeit, kann letztendlich als ‚emergentes‘, d. h. ein sich mit fortlaufender Erfahrung ausdifferenzierendes ‚Gesetz‘ aufgefaßt werden, das sowohl den konstanten Faktor der Persönlichkeit darstellt, wie auch in der geschichtlichen Welt das strukturierende Kontinuum bildet. Diese Gesetzmäßigkeit ist keinesfalls reduktionistisch als statische oder natürliche Grundkonstante zu verstehen, sie ist vielmehr als ein sich mit zunehmender Erfahrung ausdifferenzierender ‚Code‘ oder eine ‚Grammatik‘ aufzufassen.“212 Weber kritisierte diese „induktive Metaphysik“ und den Versuch, in der Kulturentwicklung objektive Gesetze festzustellen als Hegelianismus, der nichts anderes bedeutete als die Übertragung der metaphysischen Annahmen auf eine vermeintliche objektive Wirklichkeit.213 In der Tat zeigte sich in der „panpsychischen Naturphilosophie“ (Chickering) der Leipziger eine deutliche Nähe zur monistischen Bewegung, über die Ernst Haeckel 1899 seine Programmschrift „Die Welträtsel“ veröffentlicht hatte. In Haeckels monistischer Synthese fehlte auch der Islam nicht. „Aber trotzdem müssen wir der mohammedanischen Religion den Vorzug lassen, 212
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Elfriede Üner: Kulturtheorie an der Schwelle der Zeiten. Exemplarische Entwicklungslinien der Leipziger Schule der Sozial- und Geschichtswissenschaften, in: Archiv für Kulturgeschichte 80 (1998), S. 375–415. Roger Chickering: Das Leipziger ‚Positivisten-Kränzchen‘ um die Jahrhundertwende, in Rüdiger vom Bruch, Friedrich Wilhelm Graf, Gangolf Hübinger (Hg.): Kultur und Kulturwissenschaft um 1900, Band II: Idealismus und Positivismus, Stuttgart 1997, S. 227–245, hier S. 243 f.
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daß sie auch im Verlaufe ihrer historischen Entwickelung und der unvermeidlichen Abartung den Charakter des reinen Monotheismus viel strenger bewahrte als die mosaische und die christliche Religion. [. . .] Als ich 1873 zum ersten Male den Orient besuchte und die herrlichen Moscheen in Kairo und Smyrna, in Brussa und Konstantinopel bewunderte, erfüllten mich mit wahrer Andacht die einfache und zugleich geschmackvolle Dekoration des Innern, der erhabene und zugleich prächtige architektonische Schmuck des Aeußern. Wie edel und erhaben erscheinen diese Moscheen im Vergleiche zu der Mehrzahl katholischer Kirchen [. . .]. Nicht minder erhaben erscheinen die stillen Gebete und die einfachen Andachts-Uebungen des Koran im Vergleiche mit dem lauten, unverstandenen Wortgeplapper der katholischen Messen und der lärmenden Musik ihrer theatralischen Processionen.“214 Wie nahe Hartmann diesem Milieu zugeordnet wurde, zeigt eine Notiz von Becker: „Hartmann sucht in der Geschichte des Islam die Bestätigung seiner politischen Staats- und Gesellschaftsauffassung und formuliert seine subjektiven Werturteile in der Terminologie des modernen Radikalismus.“215 Dies entspricht recht getreu der Kritik Webers an den Leipziger Positivisten. Hartmann bemerkte hierzu: „Nein! Ich suchte nie und nirgends in dem von mir Durchforschten die Bestätigung meiner Weltanschauung. Seit ich historisch arbeite, habe ich die Erscheinungen, die mir entgegentraten, von den subjektiven Momenten, deren keine Tradition entbehrt, zu befreien gesucht. Aus dem so Gewonnenen habe ich mein Bild von dem Weltgeschehen zu ergänzen und zu berichtigen ehrlich gestrebt.“216 Und wieder im Sinne der Positivisten betonte Hartmann: „Die Soziologie hat die Aufgabe, die Gesetze zu finden, nach denen sich die immerwährenden Konflikte gestalten und lösen. Freilich; sie kann diese Aufgabe nur lösen, wenn sie mit einem sicheren Tatbestande operieren kann. Den Tatbestand liefert ihr die Soziographie.“217 Becker seinerseits war in seiner Kritik bei aller gebotenen Höflichkeit – er nannte Hartman als jemanden, von dessen „Fragestellungen [er] des öfteren 214
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Ernst Haeckel: Die Welträthsel. Gemeinverständliche Studien über Monistische Philosophie, Bonn 1899, S. 330. Carl Heinrich Becker: Islam, in: Archiv für Religionswissenschaft 15 (1912), S. 530–602, hier S. 535. Becker bezog sich auf Martin Hartmann: Der Islam, Geschichte, Glaube, Recht, Leipzig 1909. Beckers Beitrag ist eine Art Werkschau zur bisherigen „Islamforschung“. Martin Hartmann: Islam, Mission, Politik, Leipzig 1912, S. v. Ebd., S, xii.
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fruchtbare Anregungen empfangen“ habe218 – nicht zimperlich: „Hartmann hat ein soziologisches System von ‚Gesellungen‘ erdacht, das in seiner ganzen Produktion während der letzten Jahre immer wiederkehrt. Hartmann ist ein Feind der Scholastik, aber ein noch weiterer Ausbau seiner Kategorien, in die er alles hineinzwängt, muß in einer allgemeinen Gesellungsscholastik enden.“219 Hartmanns Erwiderung auf diesen „Scherz mit der ‚Gesellungsscholastik‘“ ist bezeichnend. Er verwies darauf, daß die Studierstube nicht mehr genüge, um den Islam zu erforschen, „man müsse selber sehen“. Die Blickrichtung hatte sich sowohl für Hartmann wie für Becker geändert. Es ging darum, „die Faktoren zu skizzieren und in ihrer Wirkung zu beurteilen, aus denen das religiöse Zivilisationsganze des modernen Islam erwachsen ist. Neben dem religiösen Faktor wurden besonders die politischen und wirtschaftlichen Momente gewürdigt, die bisher meist unterschätzt worden waren. Auch das Verhältnis zum Hellenismus und zum alten Orient kam dabei zur Darstellung.“220 Hier fiel das Stichwort „moderner Islam“; implizit nannte Becker also drei Aufgaben: (1) Erkenntnis des Islam als „Zivilisationsganzes“, (2) islamische Geistesgeschichte (mit Goldziher als Meister221), (3) Analyse politischer und wirtschaftlicher Faktoren und (4) Darlegung der Kontinuität der islamischen Kultur/Zivilisation in bezug auf die Antike und den Hellenismus. Religion ist unter dem „Zivilisationsganzen“ gefaßt und zwar in attributiver Stellung. Becker hatte schon 1907 auf dem Orientalistenkongreß in Straßburg einen Vortrag unter dem Titel „Christentum und Islam“ gehalten und festgestellt, daß beide Religionskulturen im Mittelalter einen hohen Grad von Analogie aufwiesen; während das Christentum sich aber aus dem Mittelalter (durch den Protestantismus) befreien konnte, konnte der Islam „die in ihm erwachsene Welt- und Lebensanschauung nicht los werden. Noch heute ist er völlig in den Banden des Mittelalters gefangen, und der moderne Orientale, wenn er sich auch noch so europäisch geberdet, wird selbst bei journalistischer Tätigkeit noch ganz im Stile der Scholastiker mit Traditions- und 218
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Hartmann publizierte auch in der ersten Nummer von Beckers Zeitschrift „Der Islam“; Martin Hartmann: Deutschland und der Islam, in: Der Islam 1 (1910), S. 72–92. Carl Heinrich Becker: Islam (wie Anm. 215), S. 535. Ebd., S. 532. In der ersten Nummer von Beckers „Der Islam“ hatte auch Goldziher einen kleinen Beitrag („Über die Benennung der ‚Ichw¯an al-saf¯a‘“, 1 [1910], S. 22–26) veröffentlicht.
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Vernunftbeweisen operieren.“222 Hier wird die protestantische Differenzierung zwischen Religion im Sinne eines Katholizismus („Scholastik“) und Religion im Sinne einer die Geschichte transzendieren, protestantischen, also nachmittelalterlichen Absolutheit deutlich. „Erst durch den Bruch mit der kirchlichen Weltanschauung ist diese Erkenntnis aber erst möglich“, fügte Becker hinzu. Der Islam ist also nicht Religion im Sinne der protestantischen Religionstheologie, sondern Religion im Sinne der Kulturgeschichte. Die Überordnung der Kultur über Religion ist nach Becker eine prinzipielle: „Eins scheint mir nun das Ziel all dieser Forschung, nämlich zu erkennen, wie sich das religiöse Erlebnis der Persönlichkeit des Stifters, wenn es wirken will, auseinandersetzen muß mit allen vorgefundenen Faktoren der jeweiligen Kultur. Der endliche Sieg der neuen Religion in der Welt ist immer und überall nur ein Kompromiß; es kann nicht anders sein, weil das Religiöse im Menschen wohl einer der bedeutendsten, aber nicht der einzige Faktor ist, der das menschliche Sein bestimmt.“223 Beckers Pointe lag also darin (a) einen Vergleich von Christentum und Islam aus der Warte des Kulturbegriffs zu fordern, (b) den Islam endgültig genealogisch an das Christentum anzuschließen und (c) ihn aus der Moderne auszuschließen, und zwar durch den Hinweis, daß der „Orient“ (hier der Name für die übergeordnete Kultur) das „antike Erbe“ nur in erstarrter Kontinuität verarbeitet habe, während der Okzident die Verarbeitung der Antike in Form eines Bruch und einer Neuschöpfung „schöpferisch“ unternommen habe. In seinem Vortrag auf dem Deutschen Orientalistentag 1921 in Leipzig resümierte er: „Bei der ungeheuren Stoffmasse kulturgeschichtlicher Tatsachen und historischer Entwicklung wird eine wissenschaftlich abschließende islamisch-europäische Kulturgeschichte wohl stets eine Utopie bleiben; aber auf die Vollständigkeit kann es ja auch gar nicht ankommen. Wichtiger ist das Verständnis für die Verschiedenheit der Wirkung des kulturellen Erbes auf die Träger der neuen Entwicklung. Das historisch Bedeutsame ist die schöpferische Energie der verschiedenen Kulturträger. Sie kann nur durch Gegenüberstellung und Vergleich erkannt werden. Der Vergleich wird um so ergebnisreicher, je näher sich die schöpferischen Faktoren stehen, sei es in Bezug auf Zeit, Ort, Abstammung, Aufgabe oder historisches Erbe. Die Erkenntnis der modernen Welt ist durch Max Webers Vergleich zwischen der 222 223
Carl Heinrich Becker: Christentum und Islam, Tübingen 1907, S. 50. Ebd., S. 51.
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verschiedenartigen Auswirkung der Ideen so nahverwandter Männer wie Luther und Calvin224 mehr gefördert worden als durch alle früheren Vergleiche zwischen Protestantismus und Katholizismus oder Mittelalter und Neuzeit oder Morgen- und Abendland. So brauchen wir zur vollen kulturgeschichtlichen Würdigung des Islam im Rahmen unserer Problemstellung Antwort auf die Frage: Wie hat der Islam, wie hat Europa auf das antike Erbe reagiert.“225 Becker sollte diese Frage später zunehmend anthropologisch beantworten und die „orientalische Seele“ für den „lethargischen Auflösungsprozeß, Versandung und Entartung“ verantwortlich machen.226 1921 war die Antwort noch etwas anders ausgefallen: Der Islam sei der Ausdruck dafür, daß der Orient die Antike nicht schöpferisch integrieren und überwinden konnte. Dies bedingte, daß der Islam nicht mehr in Opposition zum Christentum zu stellen sei, sondern zu Europa beziehungsweise dem Abendland. „Das große unterscheidende Erlebnis des Abendlandes ist eben der Humanismus227. Im Abendland lebt die Antike nicht nur weiter wie im Islam, nein, sie wird dort neu geboren. Und mit ihr wird der vom Orientalen grundsätzlich verschiedene abendländische Mensch geboren. Der Unterschied liegt in einer vollkommen anderen Auffassung von Mensch und Menschentum. Es wird von der Antike nicht nur die Form, sondern das Wesen der antiken Einstellung zu Mensch und Leben entdeckt. Das Entscheidende war der vorangegangene innere Bruch mit der Antike durch das Christentum. Dann wurde sie neu erlebt, und zwar nicht vom rassefremden Intellekt, sondern vom verwandten Blut. Es war ein Bruch mit der Tradition, in der die Spätantike fortlebte. Damit
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Verweis auf „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“ (besonders I 3 und II 1) in: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I, Tübingen 1920. Vgl. auch Ernst Troeltsch: Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen (Ernst Troeltsch: Gesammelte Schriften, 1. Band), Tübingen 1912, S. 605. Carl Heinrich Becker: Der Islam im Rahmen einer allgemeinen Kulturgeschichte, in: Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft 76 (1922), S. 18–35, hier S. 27 f. Hierzu Cornelia Essner, Gerd Winkelhane: Carl Heinrich Becker (1876–1933), Orientalist und Kulturpolitiker, in: Axel Havemann, Baber Johansen (Hg.): Gegenwart als Geschichte. Islamwissenschaftliche Studien. Fritz Steppat zum fünfundsechzigsten Geburtstag, Leiden 1988, S. 154–177, hier S. 175. Verweis auf Werner Wilhelm Jaeger (1888–1961).
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wurde der Weg frei.“228 1931 radikalisierte er seine Analyse und schloß, daß „der Islam eben nichts anderes als weiterlebender, auf die Dauer sich aber immer mehr asiatisierender Hellenismus sei.“229 Jetzt hatte der Kulturbegriff genau die Funktion erhalten, die den Mythosbegriff in der Mitte des 19. Jahrhunderts ausgezeichnet hatte: mit ihm wurde zwischen dem „schöpferischen Humanismus des Abendlands“ und dem „erstarrten Hellenismus des Orients“ unterschieden. Religionen wurde eine Akteursrolle zugewiesen, die ihrerseits wieder eine Rassen- oder Volkseigenschaft zum Ausdruck brachten. Und so, wie der Islam (und das Judentum) nicht Teil der Mythosgemeinschaft sein konnten, waren der Islam (und das Judentum) nicht Teil einer Kulturgeschichte. Der Islam war als eine Sonderheit gegenüber dem Mythos bestimmt worden, nun war er von Kultur (im Sinne „humanistischer Bildung“) abgesondert. Becker verbarg nicht seine kritische Haltung gegenüber Hartmann. In seinem Nachruf auf Hartmann: „Martin Hartmann aber haßte und liebte, und zwar elementar. Er verurteilte ebenso schnell und ebenso unbegründet, wie er sich begeisterte. Ebenso tief war sein Bedürfnis nach Synthese, aber seine Schlüsse waren oft gezogen, ehe die Prämissen feststanden. Seine Ungeduld bei der Beschaffung der Unterlagen ließ ihn intellektuell zu falschen Synthesen und ethisch zu falschen Wertungen gelangen. [. . .] Wo waren denn in Deutschland im ausgehenden 19. Jahrhundert die Orientalisten, die einen Blick für die Probleme des zeitgenössischen islamischen Orients hatten, der doch gerade damals für Deutschland wichtig zu werden begann? Gewiß, man war aus der 228
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Carl Heinrich Becker: Der Islam im Rahmen einer allgemeinen Kulturgeschichte (wie Anm. 225) S. 34 und S. 29. Carl Heinrich Becker: Das Erbe der Antike im Orient und Okzident. Vortrag gehalten in der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zu Berlin am 18. März 1931, Leipzig 1931, S. 17; siehe auch Alexander Haridi: Das Paradigma der „islamischen Zivilisation“ – oder die Begründung der deutschen Islamwissenschaft durch Carl Heinrich Becker (1876–1933) (wie Anm. 203), S. 58. In diesem Vortrag übernahm Becker deutlich die Sichtweise von Hans Heinrich Schaeder: Der Orient und das griechische Erbe, in: Die Antike 4 (1928), S. 226–265. Schaeder hatte die „Aufnahme des griechischen Erbes“ im Islam als „tragisch zu nennende Unfruchtbarkeit“ bezeichnet; zu einer „entwicklungsfähigen Bildung und Gesittung“ gäbe es „für den Orientalen keinen anderen Weg als den Weg der abendländischen Menschheit: den Weg zu den Griechen.“ Übernommen in: Hans Heinrich Schaeder: Der Mensch in Orient und Okzident: Grundzüge einer eurasiatischen Geschichte, hrsg. von Grete Schaeder, München 1960, S. 160.
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¯ Fleischerschen Ära heraus, man wußte, daß A’ischa auch noch etwas anderes war als ein Partizipium der ersten Form, Nöldeke und Wellhausen hatten der Realienforschung Bahn gebrochen, und große ausländische Gelehrte, wie Goldziher und Snouck Hurgronje, begannen sich durchzusetzen, aber vom modernen Orient studierte man bestenfalls die Dialekte. Martin Hartmann war in Deutschland der erste und lange Zeit der einzige, der die staatliche Gestaltung, die politischen Kämpfe, die kulturellen Verhältnisse des modernen Orients in den Bereich seiner Studien zog und ihre Betrachtung aus der Domäne des reinen Journalismus in die Höhenlage wissenschaftlicher zeitgeschichtlicher Forschung zu heben versuchte.“ Kurzum, er warf ihm die Kombination von „mißglückter Historie“ und „mißverständliche Systematik“ vor, und am meisten ärgerte Becker Hartmanns „soziologische Betrachtungsweise“, die immer wieder um den Begriff der „Gesellung“ kreiste. Mit unverkennbarem Zynismus referierte Becker Hartmanns Aussage, er habe das theoretische Konzept der Gesellung Geyers Philosophischer Einleitung in die Rechtswissenschaft und Holtzendorffs Realenzyklopädie entnommen, also eben nicht der soziologischen Standardliteratur der damaligen Zeit.230 Bei dem österreichischen Strafrechtler August Geyer (1831–1885) liest sich das Thema „Gesellung“ unter anderem wie folgt: „Die Familie erweitert sich im Laufe der Jahrhunderte zum Geschlecht, zum Stamm und zum Volk (‚Naturvolk‘ im Gegensatz zum ‚Staatsvolk‘) s. unten. Der Uebergang ist ein stetiger, unmerklicher, durch keine festen Gränzlinien zu bezeichnender. Die Gemeinsamkeit des ‚Stammvaters‘ ist gegenüber der des ‚Familienvaters‘ eine durch mehrere Zwischenglieder vermittelte, auch nicht selten eine mehr geglaubte und gefühlte, als mit Sicherheit gewußte. Der gemeinsame Stammescharakter bleibt überdieß durch die gemeinsamen Schicksale (die gemeinsame Geschichte) in einem gewissen Grade erhalten. Aehnliches gilt auch von der Volksgemeinschaft. Die gemeinsame Sprache ist hier zunächst das Kennzeichen und Band der Einigung; aber eben die Sprache und der ‚Nationalcharakter‘ weisen zugleich auf einen gemeinsamen Ursprung zurück. – Setzt eine Weltreligion wie das Christenthum an die Stelle dieser natürlichen Bande die Anschauung der ganzen Menschheit als Einer Familie der ‚Kinder Gottes‘, so mildert sie zwar in sehr wohlthätiger Weise den schroffen Gegensatz zwischen den Nationalitäten, andrerseits aber kann auch gesunder Familiengeist und ächte Volksthümlichkeit darunter leiden. [. . .] Alle Gesellungen, welche wir betrachtet haben, sind bloß einseitige d. h. es bilden in ihnen immer nur einzelne, wenn auch bedeutende und dauernde Interessen und Zwecke das einigende 230
Carl Heinrich Becker: Martin Hartmann, in: Der Islam 10 (1920), S. 228–233.
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Band. Eine Gesellung dagegen ist ihrem Wesen nach eine allseitige – wir meinen den Staat.“231
Hartmanns Interesse galt allgemein der Vergesellschaftung im Staat, die durch Geschlecht, Sprache, Volk, Wirtschaft und „Vorstellungen“ vollzogen würde. Dem Islam aber sprach er die Fähigkeit ab, eine solche Gesellung zu gestalten: „Einen islamischen Staat in unserem Sinne gibt es theoretisch nicht, es fehlt sogar den Sprachen der Islamwelt ein Wort dafür. Wir betrachten als ein Hauptmerkmal des Staates die räumliche Beschränktheit. Die fehlt im Islam grundsätzlich. Da ein jedes Individuum des Islams die Pflicht hat, die wahre Religion auf jede Weise zu verbreiten, so hat auch die durch eine gemeinsame Regierung verbundene Gemeinschaft die Pflicht, nichtmuslimische Gesellschaften, in diesem Falle Staaten, zu unterwerfen. Dieser Gedanke beherrscht vollkommen sowohl die islamische Gesellschaft wie die islamischen Regierungen. Es ist in dieser Hinsicht kein Unterschied zwischen der sunnitischen Türkei und dem schiitischen Persien. Es ist der Standpunkt vollständiger Feindsäligkeit.“232 Mithin dürfe Mission nicht konfessionell sein, sondern müsse – quasi säkularisiert – die „Gesellungsprozesse“ unterstützen, die in islamischen Ländern zu einem modernen Staat führten. Wie andere auch sah Hartmann in Vertretern der islamischen Reformbewegung (vor allem in Muhammad Rashid Rida) die Protagonisten für eine „sozialdemokratische“ Gestaltung des Staats. In Hartmanns Staatsapologetik hatte eine autonome Bestimmung des Islam als Religion keinen Platz. Religion war Feind des Staats, also war auch der Islam an sich ein Feind. Diese „materialistische Geschichtsauffassung“ Hartmanns (so Becker) machte diesen zum Außenseiter unter den Orientalisten und zum Gegner der Kulturapologeten. Hartmanns Positivismus ging also in eine andere Richtung als der des Leipziger Kränzchens. Kultur war für ihn dem Staat untergeordnet, während die Kulturenthusiasten des späten 19. Jahrhunderts den Staat als Ausdruck von Kultur bestimmt hatten und in einem monistischen Sinne diese Betrachtungsweise auf die Spitze trieben, 231
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August Geyer: Geschichte und System der Rechtsphilosophie in Grundzügen, Innsbruck 1863, S. 184; Becker meint August Geyer: Philosophische Einleitung in die Rechtswissenschaften, in: Franz von Holtzendorff (Hg.): Enzyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer und alphabetischer Bearbeitung, 4., umgearbeitete und teilweise vermehrte Aufl., Leipzig 1882, S. 1–96, auch separat Leipzig 1882. Vgl. Martin Kramer: Arabistik and Arabism (wie Anm. 204), S. 67. Martin Hartmann: Deutschland und der Islam (wie Anm. 218), S. 73.
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indem in der Hierarchie der Wissenschaften – wie Ostwald meinte – eine „Kulturologie“ das absolute Primat besitzen sollte.233 Hartmanns wissenschaftliche Zielsetzung akzeptierte also eine kategorische Unterscheidung von Religion und Islam; beide sollten zwar dem gleichen soziologischen Erkenntnisparadigma unterliegen, doch waren sie selbst eben nicht gleich. Hartmann folgte hier zum einen der französischen Tradition, die Religion durch ihre „Gesellschaftlichkeit“ funktionalistisch erklären wollte, fusionierte diese Sichtweise mit der deutschen historischen Tradition und bestimmte – hier indirekt Lamprecht folgend – den Islam als Ausdruck einer historischen Gesetzlichkeit. Die Trennung von Religion und Islam erfolgte nicht systematisch, sondern war durch die Diskurse um die Begründung einer Religionswissenschaft gesetzt. Die Mischung aus Funktionalismus und Historismus war offenbar nur schwer zu vermitteln, jedenfalls hatte Hartmann nur einen sehr geringen Anteil an der Ausformulierung einer „islamischen Kulturwissenschaft“, die erst Becker gelingen sollte. Es war offensichtlich schwierig, den Islam in das entstehende religionssoziologische Paradigma einzuordnen. Weber selbst tat sich daran schwer, und für Durkheim war der Islam nicht die Rede wert. Aber auch die deutschen Orientalisten enthielten sich soziologischen Deutungen. Wenn Soziologisches angesprochen wurde, dann fast ausschließlich im Kontext Indiens.234 Was auch immer diese Zurückhaltung ausgeprägt haben mag, sie steht in jedem Fall in scharfem Kontrast zu der von Hartmann rezipierten französischen Soziologie. Die französischen Orientalisten anerkannten zwar eine „sociologie religieuse“ oder „sociologie de la religion“ und hatten hierfür gerade in ihren Kolonialstudien auch eine praktische Verwendung. Doch den Islam selbst als Objekt einer Religionssoziologie zu bestimmen wurde erst nach 1945 geläufig, und zwar in Rückbezug auf Weber wie auf Durkheim. Johannes Hendrik Kramers (1891–1951) zum Beispiel meinte 1951: „C’est que, dans l’espèce, il devra faire de la ,sociologie de la religion‘, ainsi qu’on nomme depuis les travaux qu’a donnés Max Weber sur de terrain. C’est-à-dire qu’il doit être convaincu que l’Islam comme religion est pour quelque 233
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Gangolf Hübinger: Die monistische Bewegung. Sozialingenieure und Kulturprediger, in: Rüdiger von Bruch, Friedrich Wilhelm Graf, Gangolf Hübinger (Hg.): Kultur und Kulturwissenschaften, Band II (wie Anm. 213), S. 246–259. Lore Spindler: Indische Lebenskreise (Versuche einer Soziologie des Wissens, hrsg. von Max Scheler im Auftrag des Forschungsinstituts für Sozialwissenschaften in Köln), München 1924.
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chose dans les faits sociaux qu’il veut relever.“235 Später wird Jacques Waardenburg Snouck Hurgronje mit einer „sociologie de l’Islam“ in Verbindung bringen. Waardenburgs Zusammenfassung der Grundannahmen von Snouck Hurgronje lesen sich wie eine Ausdeutung des Hartmannschen Ideals: (1) Möglichkeit des Verstehens einer Religion durch die Geschichte, (2) Möglichkeit des Begreifens einer gelebten Religion durch Beobachtung des gesellschaftlichen Lebens, und (3) Verstehen der islamischen Religion von dessen „System“ ausgehend, und zwar bezogen auf dessen Entstehung, Inhalt und Gebrauch.236 Die französische soziologische Deutung galt der Gesellschaft und nicht dem Islam als Religionssystem. Das entsprach der Vorstellungen, daß der Islam primär Gesellschaft sei, weshalb der Islam vorrangig als Differenzkriterium für eine bestimmte Form der Gesellschaft wirke. Daher war auch von einer „sociologie musulmane“ die Rede, und eben nicht von einer „sociologie de l’Islam“.237 Mit dem Dekret vom 24. November 1902 war am Collège de France ein Lehrstuhl für „sociologie et en sociographie musulmanes“ als Gründung des „gouvernement général de l’Algérie, du protectorat de Tunis, et du gouvernement de l’Afrique occidentale“ errichtet worden. In einer deutschen Mitteilung zur Berufung von Le Chatelier auf diesen Lehrstuhl (bis 1908) wurde die Benennung (wohl durch Hartmann selbst) mit „Islamische Gesellschaftswissenschaft“ erläutert.238 Allerdings gab es damals schon Vorbehalte bezüglich der französischen Bezeichnung. In der italienischen Revue internationale de sociologie wurde 1902 vermerkt: „L’expression de ‘sociologie musulmane’ n’est peut-être pas parfaitement choisie pour désigner l’étude des sociétés musulmanes. Il y a lieu de noter pourtant qu’elle correspond à celle de ‚sociologie coloniale‘ qui servait de titre à un des Congrès tenus pendant l’Exposition Universelle de 1900 et qui depuis a reçu une certaine diffusion.“ Zugleich 235
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Johannes Hendrik Kramers: La sociologie de l’Islam [Vortrag gehalten auf dem XXII. Internationalen Orientalistenkongreß 1951], in Acta Orientalia 21 (1953), S. 243–253, hier S. 244. Jen-Jacques Waardenburg: L’Islam dans le miroir de l’Occident (wie Anm. 198), S. 293. Wenn letztere Formulierung gebraucht wurde, dann meist im Sinne eines genitivus subjectivus, das heißt, daß es eine Soziologie in der islamischen Wissenschaftsgeschichte (meist auf Ibn Khaldun bezogen) gäbe. Mittheilungen des Seminars für Orientalische Sprachen an der Königlichen Friedrich Wilhelms-Universität zu Berlin 11 (1908), S. 250.
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aber zeigte sich die Redaktion der Zeitschrift erfreut, daß endlich der Begriff Soziologie auch in den Programmen des Collège de France Einzug gehalten habe.239 Le Chatelier selbst hatte große Vorbehalte gegenüber einer „Soziologie“. In einem Brief an Martin Hartmann schrieb er, daß sein Lehrstuhl besser Afrikanische und muhammedanische Politik heißen sollte, also auf Geschichte und Politik auszurichten sei. Doch das Wort „Politik“ sei für viele verdächtig gewesen, weshalb er „im letzten Moment“ die Bezeichnung geändert und den Begriff sociographie erfunden und diesen mit dem Wort sociologie ergänzt habe.240 Die Diskussion um die Zuordnung der französischen vergleichenden Religionswissenschaft zur Soziologie war damals noch nicht abgeschlossen. Der Jurist Raoul de la Grasserie (1839–1914) hatte sich dafür stark gemacht, die vergleichende Religionsforschung ganz einer soziologischen Sichtweise zu unterstellen und die Geschichte als sekundär für eine Religionsbetrachtung anzusehen: „La sociologie religieuse est celle qui examine la constitution des diverses sociétés religieuses; elle étudie, par exemple, le catholicisme, le protestantisme, l’islamisme à ce point de vue, pas encore, il faut bien se garder de confondre, en tant que la société religieuse peut influer sur la société civile, ou celle-ci sur la première, ce qui forme un chapitre à part, mais en tant que la société religieuse, à l’instar de la société ordinaire, forme un véritable être organique ayant ses lois de composition, d’action, de réaction, et en définitive, de vitalité.“241 Der Islam war damit eine „société religieuse“. Das paßte natürlich zu Durkheim. Er hatte zeitgleich, also auch 1899, seinen Aufsatz „De la définition des phénomènes religieux“242 veröffentlicht, indem er der Re239 240
241
242
Revue internationale de sociologie 10 (1902), S. 932. Le Chatelier an Martin Hartmann, 15. Dezember 1912, zit. nach: Martin Kramer: Arabistik and Arabism (wie Anm. 204). Der von Sebald Rudolf Steinmetz theoretisch gefaßte Begriff Soziographie wurde so schon früher islamisch kontexualisiert. Raoul Guérin de la Grasserie: Des religions comparées au point de vue sociologique, Paris 1899, S. 16. De la Grasserie hatte 1900 einen Vortrag zum Totemismus gehalten und behauptet, die Mystik sei eine Form von Sexualität. Die Zuhörer waren damals mehr als empört, siehe Nathaniel Schmidt: The Paris Congress of the History of Religion, in: The Biblical World 16 (1900) 6, S. 447–450, hier S. 445. Émile Durkheim: De la définition des phénomènes religieux, in: L’Année Sociologique 2 (1899), S. 1–28.
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ligion ein Primat in der Beobachtung einräumte, insofern als ein Soziologe gleichsam über sie stolpere und sie die einfachste, d. h. nicht auf weitere „Regeln“ zurückführbare Tatsache sei.243 Der Aufsatz, der auf einen Vortrag aus dem Jahr 1895 zurückgeht, markierte einen Perspektivwechsel bei Durkheim.244 Das war natürlich noch nicht weberianisch begründete Religionssoziologie als Teil einer kulturwissenschaftlichen Makrotheorie. Aber Durkheims Synthese von französischem Funktionalismus und deutschem Idealismus hätte zumindest den deutschen Orientalisten eine Möglichkeit geboten, „Gesellschaft“ als analytische Kategorie in ihrer Rekonstruktion des Islam aufzunehmen. Dennoch konnten sich die deutschen Orientalisten nicht mit Durkheim anfreunden, da der Begriff „sociologie musulmane“ allzu deutlich „französisch“ sei und eben nicht auf die deutsche historische Tradition verweise.245 Islamisch war somit nicht die Gesellschaft, sondern die Kultur, meist mit den Begriffen „Orient“, „Länder“, „Völker“, Zivilisation246 oder Geschichte spezifiziert. Becker nannte seine 1910 gegründete Zeitschrift daher auch „Der Islam. Zeitschrift für Geschichte und Kultur des islamischen Orients“. Die ersten Belege für das Syntagma „islamische Gesellschaft“ stammen erst aus den frühen 1970er Jahren. Eine Ausnahme stellt einmal mehr der früher Goldziher dar. In seinem schon zitierten Aufsatz „ Alî b. Mejmûn al-Magribî und sein Sittenspiegel des östlichen Islam. Ein Beitrag zur Culturgeschichte“ [1874] sah er schon ein Gesamtkollektiv gegeben, daß er „muhammedanische Gesellschaft“ nannte.247 Nur wenige griffen diese Spezifikation auf.248
243
244 245 246
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Wolfgang Schluchter: Grundlegungen der Soziologie: eine Theoriegeschichte in systematischer Absicht, Band 1, Tübingen 2006, S. 165. Ebd., S. 141 f. Beiträge zur Kenntnis des Orients 8 (1910), S. 107. Joseph Schacht: Über den Hellenismus in Baghdad und Cairo im 11. Jahrhundert, in: Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft 90 (1936), S. 526–545, hier S. 526: „daß die islamische Zivilisation in der Spätantike wurzelt, ist seit Carl Heinrich Becker Gemeingut der orientalistischen Wissenschaft geworden“. Ignaz Goldziher: Alî b. Mejmûn al-Mag’ribî und sein Sittenspiegel des östlichen Islam (wie Anm. 126), S. 294, 302. Paul Schwarz: Traum und Traumdeutung nach Abdalgani an-Nabulusi, in: Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft 67 (1913), S. 473–493, hier S. 478 und S. 482.
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Religion in „Gesellschaft“ zu denken, war natürlich nicht neu. Herbert Spencer hatte bekanntlich in seinen „Principles of Sociology“ (1885) einen „natürlichen Ursprung“ der Religion festgeschrieben, und zwar in Form von Göttern, die als Apotheose aus machtvollen Menschen entstanden seien, motiviert durch Ahnenverehrung und Versöhnungshoffnungen gegenüber Geistern, betrieben durch Priester, die anfangs nicht von der Herrscherstellung differenziert waren.249 In seiner evolutionären Deutung der Religionsgeschichte spielte der Islam praktisch keine Rolle. Wenn überhaupt vom Islam die Rede war, dann meist um religiöse Praxis zu karikieren. Spencer eröffnete sein Kapitel zu „The Theological Bias“ in seiner „Study of Sociology“ (1873) mit den Worten: „‚What a log for hell-fire!‘ exclaimed a Wahhabee, on seeing a corpulent Hindu. This illustration, startling by its strength of expression, which Mr. Gifford Palgrave250 gives of the belief possessing these Mahommedan fanatics, prepares us for their general mode of thinking about God and man. Here is a sample of it: – When Abd-el-Lateef, a Wahhabee, was preaching one day to the people of Riad, he recounted the tradition according to which Mahomet declared that his followers should divide into seventythree sects, and that seventy-two were destined to hell-fire, and one only to Paradise. ‚And what, O messenger of God, are the signs of that happy sect to which is ensured the exclusive possession of Paradise?‘ Whereto Mahomet had replied, ‚It is those who shall be in all conformable to myself and to my companions.‘ ‚And that,‘ added Abd-el-Lateef, lowering his voice to the deep tone of conviction, ‚that, by the mercy of God, are we, the people of Riad.‘“251 249
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Herbert Spencer: Ecclesiastical Institutions. Being Part VI of the Principles of Sociology, Edinburgh 1885. Personal Narrative of a Year’s Journey Through Central and Eastern Arabia 1862–63, 3rd ed., II volumes, London 1866, volume II, S. 22. Herbert Spencer: The Study of Sociology, New York 1896, S. 266. Palgrave nahm folgende Tradition auf: „Die Juden haben sich in 71 Gruppen gespalten, eine davon ist im Paradies und 70 davon sind im Höllenfeuer. Die Christen haben sich in 72 Gruppen gespalten, 71 Gruppen davon sind im Höllenfeuer und eine Gruppe ist im Paradies. Bei dem, in dessen Hand die Seele Muhammads ist, meine Gemeinde wird sich in 73 Gruppen spalten, eine Gruppe wird ins Paradies kommen, die anderen 72 ins Höllenfeuer. ‚Es wurde gesagt: Oh Prophet, wer sind sie?‘ Er sagte: ‚Die Gemeinschaft‘.“ (Sunan Ibn Majah Hadith, Nr. 3992). Nach at-Tirmidhi: „Von Abdallah Ibn Umar, der sagte: Wer sind sie, oh Gesandter? Er sagte: (Der Weg) auf dem ich mich befinde und meine Gefährten.“
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Spencer wie andere Zeitgenossen auch bezogen ihre Informationen meist aus Reiseberichten wie den von Palgrave. Sie schienen ausreichend Material für eine soziologische Bestimmung der Muslime zu enthalten. Palgrave vermerkte zum Beispiel: “Though the followers of Mahomet shed their own blood and the blood of others, to establish everywhere the worship of one god, the worship of minor gods has grown up afresh among them. Not only do the Bedouins make sacrifices at saints’ tombs, but among more civilized Mahometans there is worship of their deceased holy men at shrines erected to them.“252 Solche Zitate genügten oft, um den Islam au seiner weiteren Erörterung auszuschließen, denn sie zeigten, daß Muslime eben nicht einmal ihre Grunddogmen einhielten. Die Abspaltung des Islam vom allgemeinen Begriff Religion, die sich schon in der Umdeutung der Mythologie zu einer Religionswissenschaft abgezeichnet hatte, vertiefte sich um die Jahrhundertwende. Zwar wurde der Islam (oder besser wie noch bis um 1910 üblich der Mohammedanismus) mit Religion in Bezug gesetzt, doch war es nicht jene Form von Religion, die sich die kulturtheologischen Eliten auf die Fahne geschrieben hatten. Für sie war die „Kulturbedeutung der Religion“ absolut, aber eben nur, wenn sie auf die Absolutheit des Christentums ausgerichtet war. Diese erkannt zu haben, war für manche das eigentliche Ergebnis der Wissenschaft des 19. Jahrhunderts. Hans Delbrück formulierte es 1900 wie folgt: „Wenn die Wissenschaft des 19. Jahrhunderts ein Ergebnis gehabt hat, das alle anderen an Bedeutung übertrifft, vor dessen Wucht alle Thatsachen der Naturforschung klein erscheinen, so ist es, daß das Christentum nicht eine, sondern die Religion, die absolute Religion ist.“253 Der Islam konnte so nicht Religion an sich sein, sondern nur relative Religion. Relativ bedeutete, daß er stets in einem anderen, primären und normativen Kontext definiert werden müsse. Hier boten sich an: Volk, Rasse, Klima, Despotismus, unverdauter, kopierter Hellenismus, Welt, Entlehnungen (zunächst aus dem Judentum, dann aus dem Christentum) und andere mehr. In Abgrenzung vom Historismus wurde die „Culturbedeutung“ des Islam nur noch selten mit der Biographie Muhammads in Beziehung gebracht. Anders Robertson Smith, der noch 252 253
Herbert Spencer: The Study of Sociology (wie Anm. 251), S. 748. Hans Delbrück: Politische Korrespondenz, in: Preußische Jahrbücher 101 (1900), S. 378–384, hier S. 384, zit. bei Friedrich Wilhelm Graf: Rettung der Persönlichkeit. Protestantische Theologie als Kulturwissenschaft um 1900, in: Rüdiger vom Bruch, Friedrich Wilhelm Graf, Gangolf Hübinger (Hg.): Kultur und Kulturwissenschaften um 1900 (wie Anm. 213), S. 103–131, hier S. 107.
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1889 festgestellt hatte: „Judaism, Christianity, and Islam are positive religions, that is, they did not grow up, like the systems of ancient heathenism, under the action of unconscious forces operating silently from age to age, but trace their origin to the teaching of great religious innovators, who spoke as the organs of a divine revelation, and deliberately departed from the traditions of the past.“254 Becker hingegen wandte sich deutlich gegen Versuche, die „Kulturbedeutung“ des Islam auf die Person Muhammads zu projizieren. Für ihn war die historistische Diskussion um den auf Muhammad bezogenen Stiftungsakt des Islam wie überhaupt „Offenbarung“ kein Thema. Becker faßte das Narrativ der alten historistischen Sichtweise wie folgt zusammen: „Das Mittelalter wie die werdende Gegenwart sahen im Islam in erster Linie die feindliche Religion, die der Ausbreitung des Christentums einen Damm entgegensetzte, ja selbst seinen Besitzstand bedrohte. Die neue Religion, so legte man sich die historische Entwicklung zurecht, begeisterte die Araber, das Bedürfnis der Weltbekehrung trieb die Muslime hinaus. Mit dem Schwert verbreiteten sie ihre Religion. Muhammed war Prophet und Staatsmann in einer Person; damit war der Weltreichgedanke gegeben. In diesem neuen Staate schuf dann die arabische Kultur und die neue islamische Religion die arabisch-islamische Zivilisation. Wenn auch eine große Menge vorislamischer Ideen und Institutionen bestehen blieb, die Religion war nicht nur das primum movens, sie war der Neubildner, der Organisator einer ganzen Zivilisation. Die ganze spätere Entwicklung vollzog sich dann als Folge der religiösen Gründung. So war es nur natürlich, daß die Religion dieser ganzen Zivilisation einen einheitlichen Stempel aufdrückte. Damit war der Begriff einer islamischen Einheitszivilisation gegeben.“255 Der Kulturhistoriker Becker hingegen setzte den Islam nicht mit der Figur Muhammads an, sondern mit dem Status der Religion im späten Hellenismus. Wirkungsmächtig waren Wirtschaft, Klima, Sprachen, Wanderungen, rassische Differenzen, Staatsideale, abstrakte Kategorien also, die die Prophetie und die ihr folgende Geschichte determinierten. Das Gesamtgefüge konnte so nicht mehr auf Muhammad zentriert werden; der konventionelle Name Mohammedanismus trat zunehmend in den Hintergrund und wurde mehr und mehr durch den Namen „Islam“ abgelöst. In späteren Arbeiten verzichtete Becker ganz auf Muhammad; 254
255
William Robertson Smith: Lectures on the Religion of the Semites, new ed., revised by the author, London 1894, S. 1. Heinrich Becker: Der Islam als Problem, in: Der Islam 1 (1910) 1, S. 1–21, hier S. 3.
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was blieb war die Bezeichnung der Muslime als „Mohammedaner“. „Mohammedanismus“ und „Islam“ gerieten so zum Emblem einer Differenz zwischen Historismus und Kulturwissenschaft. Der Islam war nicht mehr das Gefüge, das aus dem Stiftungsakt Muhammads entsprang, sondern das historische Essemble kultureller Bedingtheiten, die zur „islamischen Zivilisation“ führten. Es war daher konsequent, daß Max Weber nie von Muhammad, Mohammedanern oder gar Mohammedanismus sprach. Für ihn gab es nur noch den „Islam“. Und es war genauso konsequent, die Wissenschaft, die sich mit eben diesem Islam befaßte, als „Islamwissenschaft“ (oder, wie zunächst häufiger gebraucht, „Islamkunde“) zu bezeichnen. Der Name war also programmatisch und genealogisch eng mit dem Verständnis von Kulturwissenschaft verbunden, die die intellektuellen Diskussionen um die Jahrhundertwende bestimmt hatten. Die Trennung zwischen „absoluter“ und „relativer“ Religion war gewissermaßen programmatisch. Schon Tiele war davon ausgegangen, daß Religion aus Gestalten bestehe, aus der äußeren Form, die sich als differenzierende Geschichte nachzeichnen läßt, und aus dem inneren Kern einer allgemeinen Religion, die sich als (den eigentlichen) Teil der Entwicklung des Bewußtseins einer Menschheitsgeschichte begreifen lasse.256 Hier muß nochmals etwas genauer auf Troeltsch verwiesen werden. Troeltsch folgte diesem Gedanken aber nur im Prinzip. Der Islam war für ihn auch Religion, die einen allgemeinen Anspruch erhob; aber gleichzeitig betonte er: „So sehr in ihm [im Buddhismus] wie im Islam die Allgemeinheit der Religion sich geltend macht und so oder so gefordert wird, der Anspruch beider ist im tatsächlichen Umfang und in der Begründung weniger intensiv als der des Christentums. Es ist die einzige Religion, die aus der eigentlich religiösen Triebkraft heraus sich unbedingt als allgemeingültige Wahrheit empfindet und durchsetzt und damit tatsächlich erreicht, was in der Tendenz der Religion überhaupt liegt. Es ist die einzige, die über die Neigung zur dogmatischen und kultischen Verhärtung aus eigenem Lebenstriebe immer wieder den Sieg gewinnt, die einzige, die weder im Gesetz erstarrt, noch in der Erfassung des Erlösungsgedankens sich lediglich auf die Verneinung fixiert. Daß sie das wirklich abschließend und für alle Zukunft wesentlich unveränderlich sei, läßt sich freilich nicht durch einfache geschichtsphilosophische Konstruktion erweisen. So sehr wir überzeugt sein müssen, daß in der Religionsgeschichte ein zusammenhängender 256
Cornelis Petrus Tiele: Grundzüge der Religionswissenschaft [Leiden 1901], dt. Bearbeitung von G. Gehrig, Tübingen 1904, S. 32.
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Fortschritt erfolgt, der auf der inneren Bewegung des göttlichen Geistes im menschlichen beruht, so können wir doch nicht257 einen allgemeinen Begriff der Religion als die Triebkraft dieser Entwickelung aufstellen und das Christentum als dessen notwendige Vollendung erweisen.“258 Nach Troeltsch ergibt sich der Absolutheitsanspruch des Christentums aber nur durch die Relation zur Religionsgeschichte, die durch die „bedeutendsten, mit den höchsten Kulturen verbundenen Religionen“ vertreten wird, und diese seien das Christentum, der Buddhismus und der Islam. Es ging ihm also nicht um eine supranaturalistische Absolutheitsbehauptung, sondern um eine durch die Kulturwissenschaft freigelegte Absolutheit: „Das Einzige, was unmittelbar für den Selbstanspruch des Christentums geltend gemacht werden kann, ist der Umstand, daß diesem seinem einzigartigen Anspruch auch eine tatsächliche Einzigartigkeit seines Inhalts und Wesens entspricht, die gerade einer religionsgeschichtlichen Forschung deutlich entgegentritt. Allerdings bilden die Religionen eine im Ganzen aufsteigende Einheit und ist eine allgemeine Tendenz erkennbar, die auf zunehmende Vergeistigung, Verinnerlichung, Versittlichung und Individualisierung und damit – denn das ist die notwendige Folge – auf die Herausbildung eines immer tieferen Erlösungsglaubens gerichtet ist.“259 Das Telos ergab sich so nicht aus der rationalen Spekulation, sondern aus dem Erkennen eines Entwicklungsprozesses, der diese Absolutheit definiere: „Der Ausdruck ‚Absolutheit‘ entstammt der modernen evolutionistischen Apologetik und hat nur unter ihren Voraussetzungen einen bestimmten Sinn, insofern er den Horizont der allgemeinen Religionsgeschichte, die Anerkennung aller nichtchristlichen Religionen als relativer Wahrheiten und die Konstruktion des Christentums als der diese relativen Wahrheiten zu der absoluten vollendenden Gestalt der Religion einschließt.“260 Die Beziehungen zwischen den „relativen Wahrheiten“, und dazu müßte Troeltsch auch den Islam zählen, definiere das Christentum nicht mehr 257
258
259 260
Merkwürdigerweise fehlt in manchen Zitaten dieses Passus genau das entscheidende Wort „nicht“, z. B. Kurt Rudolph: Geschichte und Probleme der Religionswissenschaft (wie Anm. 2) S. 125. Ernst Troeltsch: Christentum und Religionsgeschichte, in: ders.: Zur religiösen Lage, Religionsphilosophie und Ethik (Ernst Troeltsch: Gesammelte Schriften, 2. Band), Tübingen 1913, S. 328–363, hier S. 352 f. Ebd., S. 353 f. Ernst Troeltsch: Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte (wie Anm. 207), S. 9, Troeltsch KGA, Band 5, S. 120.
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als „einzigartig und übernatürlich geoffenbarte Wahrheit“, sondern macht sie „im eigentlichen Sinne zur absoluten Religion, zur Religion des ihr Wesen erschöpfenden Begriffes, zur Realisation der Idee der Religion.“261 Ohne Religionsgeschichte lasse sich dieser Prozeß nicht bestimmen. Für diese aber kämen nur jene Religionen in Betracht, die die „bedeutendsten und mit den höchsten Kulturen verbundenen Religionen“ seien, und diese seien das Christentum, der Buddhismus und der Islam.262 Die Vermessung des Islam an der kulturwissenschaftlichen Metatheorie erbrachte aber für Troeltsch den Beweis dafür, daß er im Grunde eine radikale Antithese zum Christentum darstelle. Dies aus mehreren Gründen. (1) Fehlen einer Verinnerlichung und Versittlichung: „In anderer Weise, aber ebenso eng bleibt der Universalismus des Islam gebunden, der seinen stärksten Ausgangspunkt in jüdischen religiösen und ethischen Gedanken hat. Er hat von ihnen den Monotheismus, die Grundzüge der Ethik und damit ein Stück der innerlich begründeten Absolutheit geerbt, die in den ersten Kundgebungen Muhameds auch in ächter Prophetenweise sich äußert. Allein sein Gott hat von dem finsteren fatalistischen Willkürwillen zu viel behalten, um ein inneres Verhältnis zu seinen Geboten und zu der menschlichen Seele zu haben, und die Gebote haben zu viel ganz zufälliges arabisches Recht und arabische Sitten nebst ganz persönlichen Einfällen des Propheten aufgenommen, als daß ein wirklich innerlich notwendiger Universalismus hätte entstehen können. Muhamed hat denn auch mit dem für ihn charakteristischen Schwinden der naiven Hingebung zu künstlichen Ersatzmitteln gegriffen und den Gedanken eines heiligen Gesetzbuchs, der bei Juden und Christen sekundär war, absichtlich auf sein Werk übertragen, wodurch er für immer seine Gläubigen an einen oft großartigen und ebenso oft dürftigen und verworrenen, allerhand arabische Besonderheiten verewigenden Buchstaben gebunden hat. [. . .] Wie ganz anders ist mit der Klarheit und Stärke des religiösen Lebens auch die rein innerliche Absolutheit
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Ebd., S. 124, bzw. Troeltsch KGA, Band 5, S. 237. So schon Ernst Troeltsch: Die Selbständigkeit der Religion, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 5 (1895), S. 361–436 und 6 (1896), S. 71–110, 167–218, hier S. 200, jetzt in: ders.: Schriften zur Theologie und Religionsphilosophie (1888–1902), hrsg. von Christian Albrecht in Zusammenarbeit mit Björn Biester, Lars Emersleben und Dirk Schmid (Ernst Troeltsch: Kritische Gesamtausgabe, Band 1), Berlin, New York 2009, S. 364–535, hier S. 515.
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ausgesprochen in der Verkündigung Jesu!“263 (2) Unfähigkeit, zwischen Staate und Religion zu trennen: „Aber gerade in diesem Verhältnis zur Staatsgewalt zeigt sich die Beschränktheit des Islam. Denn es ist nicht ein bloß tatsächliches Paktieren der beiden auf einander angewiesenen Mächte, sondern eine prinzipielle Vereinerleiung der politischen und der geistlichen Gewalt. Der Universalismus des Islam war im Grunde doch nur ein theoretischer, mit einer gewissen Gewaltsamkeit entlehnter. Sein religiöses Gut war im Grunde kein gegen die weltlich-nationalen Güter selbständiges. Er ist die Anpassung der Ideen der älteren Religionen an nationalarabische Verhältnisse, die Einigung und Erhebung der Beduinenstämme. Seine Kirche ersetzte von Hause aus den Staat. Sie war ein religiös-militärischer Kommunismus, wie ihn der gewaltige Omar folgerichtig aus den Ideen des Propheten entwickelte. Die Gemeinde der Gotteskämpfer eroberte die Welt für Allah und Arabien und machte die Bewohner der eroberten Länder zu Staatsheloten, welche bei ihrem Glauben bleiben, aber durch ihre Steuern und ihren Landbau die muslimische Militär- und Religionsgemeinde ernähren sollten. Staatsoberhaupt und geistliches Oberhaupt fallen zusammen, ja die geistliche Gewalt macht erst zum Staatsoberhaupt. Die Staatssteuer ist die religiöse Armensteuer und der Zins der Ungläubigen. Alle religiösen Bewegungen werden zu politischen und umgekehrt.“264 (3) Das Verharren in seinem Status als Gesetzesreligion: „Judentum und Islam, diese beiden Abzweigungen des israelitischen Prophetismus, sind in der Hauptsache Gesetzesreligionen, bei denen überdies die natürlichen und partikularen Gebundenheiten nicht völlig überwunden sind.“265 (4) Unfähigkeit, die Orthodoxie zu überwinden, weil sie mit der Staatsgewalt in unmittelbarer Zweckgemeinschaft lebe: „Eine berufsmäßige Theologie schuf im Kampf mit allerlei Häresien ein orthodoxes Dogma, eine theologische Jurisprudenz arbeitet Ritual und Kirchenrecht mit peinlicher Sorgfalt aus. Die Staatsgewalt stellte sich der Orthodoxie zur Verfügung, wie umgekehrt die Orthodoxie die festeste Stütze der Staatsgewalt bildete. Aber gerade in diesem Verhältnis zur Staatsgewalt zeigt sich die Beschränktheit des Islam.“266 263
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Ernst Troeltsch: Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte (wie Anm. 207), S. 109, bzw. Troeltsch KGA, Band 5, S. 225 f. Ernst Troeltsch: Religion und Kirche, in: ders.: Zur religiösen Lage, Religionsphilosophie und Ethik (wie Anm. 258), S. 146–182, hier S. 158. Ernst Troeltsch: Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte (wie Anm. 207), S. 75, bzw. Troeltsch KGA, Band 5, S. 193. Ernst Troeltsch: Religion und Kirche (wie Anm. 264), S. 158.
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(5) Fehlende Einfassung des Islam durch die Antike: Ohne Antike wäre das ganze Christentum so, wie noch heute das Christentum in Ägypten und Abessinien, zu einer Fratze verkommen, und der Islam ist trotz seiner vordergründigen griechischen Bildung zu einer „Unkultur“ geworden.267 Bei allem Wissen um diese „Beschränktheiten“ bleibe der Islam aber ein unberechenbarer Faktor: „Für die Berechnung des zukünftigen Ganges der Menschheit ist daher der Islam eines der undurchsichtigsten Rätsel, über dessen Lösung kaum die berufensten Kenner des Orients Vermutungen wagen dürfen.“268 Eine exklusive und eine inklusive akademische Verfahrensweise bestimmten also den Umgang mit dem Islam: Harnack beauftragte die Philologen als Wissensproduzenten und schloß den Islam aus einer geschichtstheologischen Deutung aus; Troeltsch hingegen integrierte den Islam in seine Kulturwissenschaft, die im Islam die Kontingenz historischer Entwicklung des Religiösen erkennen sollte und so zur Rekonstruktion einer prinzipiellen Differenz des Christentums beitragen sollte. Die orientalistischen Philologen fühlten sich durch Harnack gewiß mehrheitlich bestätigt. Allerdings bedurfte es keiner expliziten Legitimation ihres Anspruchs durch einen Verweis auf Harnack. So wundert es nicht, daß Harnack nur selten direkt zitiert wurde; meist blieb es bei allgemeinen Verweisen. Der Heidelberger Theologe Georg Beer (1865– 1946) zum Beispiel verwies in der Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft auf Goldschmidts „Das Wesen des Judentums“; es charakterisiere „das seit Harnack’s Wesen des Christentums zeitgemäß gewordene und seitdem schon öfter behandelte Wesen des Judentums.“269 Das Wesen des Islam war hingegen keinen Buchtitel wert. Das hat sicherlich damit zu tun, daß es im deutschsprachigen Umfeld praktische keine muslimische Selbstvertretung gab. Eine Ausnahme bildete das Büchlein des rheinischen katholischen Konvertiten Muhammad Adil Schmitz du Moulin, über das Becker sagte: „Durch den Titel irreführen 267
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Ernst Troeltsch: Wesen der Religion und der Religionswissenschaft, in: ders.: Zur religiösen Lage, Religionsphilosophie und Ethik (wie Anm. 258), S. 452– 499, hier S. 468. Ernst Troeltsch: Religion und Kirche (wie Anm. 264), S. 159. Troeltsch gewann seine Informationen zum Islam hauptsächlich aus August Müller (1848–1892): Der Islam im Morgen- und Abendland, 2 Bände, Berlin 1885–1887. Georg Beer: Jahresbericht: Alttestamentliche Studien, in: Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft 62 (1908), S. 185.
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könnte das Buch von Muhammed Adil Schmitz du Moulin, das gar kein wissenschaftliches Buch ist, sondern der Propaganda der phantastischen Ideen des Verfassers dient. Er konstruiert sich einen Idealislam, den er predigt – ein ganz kurioses Buch.“270 Schmitz du Moulin, der „Ritter des Lichtes“, soll hier nur aus zwei Gründen genannt werden: Zum einen gehörte er zu den Konvertiten, die den Islam über die Persische Tradition an ein „Ariertum“ anschlossen und quasi „entsemitisierten“, zum anderen verwob er konservativen sprituellen Katholizismus im Sinne des katholischen Theologen Peter Hüls (1850–1918) mit mystizistischen Traditionen im Gefolge von Anna Katharina Emmerick (1774–1824) und einem „katholischen Islam“. Seine Bücher hatten relativ großen Erfolg vor allem unter den Theosophen der Jahrhundertwende. Es waren vor allem der dem Sozialismus zuneigende Martin Hartmann und der wertkonservative Becker, die nun versuchten, Teil der Gelehrtengemeinde zu werden, die durch ihre makrosoziologischen und makrohistorischen Studien die Taktgeber der deutschen Geistes- und Sozialwissenschaften im Kaiserreich wurden.271 Zunächst betrachteten sie sich nicht als Islamwissenschaftler, sondern als Religionswissenschaftler, Geschichtsforscher oder Soziologen. Man schien die gleiche Sprache zu sprechen, man redete von Kulturkreisen272, Zivilisationen. Hartmann bemängelte aber schon 1899: „Auf diesem Wege geht es nicht weiter. So wird man nie zu einem Werke gelangen, das sich nur annähernd Harnacks Geschichte des christlichen Dogmas an die Seite stellen läßt.“273 Das war also das Ziel: man wollte in der protestantischen akademischen Welt über die Arbeit am Islam den Status erreichen, den die Koryphäen des Kulturprotestantismus erreicht hatten. Grundlegend war für sie die Bestimmung des Islam als Zivilisation, Kultur und soziales Ganzes. 270
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Carl Heinrich Becker: Islam (wie Anm. 215), S. 130. Muhammad Adil Schmitz du Moulin: Das Wesen des Islam (Schmitz du Moulin: Ritter d. Lichtes, 2), Leipzig 1908. Vgl. Ludmila Hanisch: Islamkunde und Islamwissenschaft im deutschen Kaiserreich (wie Anm. 208). Während die Orientalisten den Sprachgebrauch der neuen Kulturwissenschaften nicht prägen konnten, hatten die Völkerkundler um Leo Frobenius, Bernhard Ankermann und Fritz Graebner mit ihrer Kulturkreislehre (Begriff von Frobenius 1897) ungeahnten Erfolg. Troeltsch zitierte u. a. Frobenius und Graebner. Der Sache nach ist die Zuordnung von Menschen zu Kulturkreisen natürlich älter und geht auf die 1840er Jahre zurück. Martin Hartmann: Islamologie (wie Anm. 1), S. 2.
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Ihr Ansinnen war es, als Fachmenschen in Bezug auf den Orient und den Islam so in die Gelehrtengemeinschaft integriert zu werden, daß sie als gleichberechtigte Partner an der Ausarbeitung der Makroperspektive anerkannt würden. Tatsächlich aber scheiterten sie, genauso, wie schon Goldziher gescheitert war, als er versuchte, den gleichen Status etwa wie Max Müller oder Robertson Smith in der neuen Religionswissenschaft zu erlangen. Die Islamwissenschaft Goldzihers war ja nur eine defensive Reaktion auf den Ausschluß des Islam – und damit auf den Ausschluß der mit dem Islam befaßten Orientalisten – aus dem neuen Kanon der Metatheorien der Religionswissenschaft gewesen. So war auch der zweite Anlauf, eine Islamwissenschaft zu begründen, lediglich das Resultat eines weiteren Ausschlußprozesses gewesen, diesmal seitens der mit Makrogeschichte und Makrosoziologie befaßten Gelehrten. Selbst der Verzicht auf die philologische Grundlegung half den Orientalisten nicht. Das einzige, was sie erreichen konnten, war als Wissenszulieferer zu wirken. Umgekehrt sahen sie – mit Ausnahme von Hartmann und Becker – kaum eine Notwendigkeit, auf die Makroperspektiven und den Systematisierungen der Theologen, Soziologen oder Ökonomen einzugehen. Dabei handelte es sich nicht um einen passiven Boykott dieser Gelehrten, vielmehr entstand der Eindruck, der Ausschluß sei programmatisch und gleich wieder makrohistorisch begründet. Tatsächlich führte Ernst Troeltsch 1908 aus: „Das religiöse Kapital unserer Kulturwelt ist nun aber das Christentum. Von ihm aus haben wir zu suchen und uns zu verständigen. Was man auch von der Größe und Schönheit fremder Religionen erzählen möge, vom Judentum, Islam und Buddhismus, es sind doch unserem Wesen fremde religiöse Kräfte, die unter allen Umständen keine derartige Überlegenheit besitzen, daß wir uns ihnen zuwenden und aus ihnen das Heil suchen müßten. Soviel mit ihnen auch kokettiert wird, an eine Überführung unseres Lebens in jene Religionen denkt im Ernste kein Mensch. Es ist sonnenklar, daß sie nichts besitzen, was uns über unseren Besitz hinausführen kann, dagegen daß sie Schranken haben, die unsere Religion nicht hat.“ Auch der Katholizismus kann „nicht mehr eine produktive Religionsbewegung der modernen Menschheit bedeuten.“274 An anderer Stelle schrieb er: „Die moderne Religionswissenschaft hat die christliche Theologie der verschiedenen Konfessionen, vor 274
Ernst Troeltsch: Luther und die moderne Welt (1908), in: ders.: Schriften zur Bedeutung des Protestantismus für die moderne Welt (1906–1913), hrsg. von Trutz Rendtorff in Zusammenarbeit mit Stefan Pautler (Ernst Troeltsch: Kritische Gesamtausgabe, Band 8), Berlin, New York 2001, S. 59–98, hier S. 61.
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allem des Protestantismus, in den Bann ihres Einflusses gezogen und hierdurch den fortschrittlichen Bestrebungen des Protestantismus eine wissenschaftliche Basis gegeben, aber eben damit auch die Kluft zwischen seinen verschiedenen Richtungen verstärkt und doch die religiös völlig ermattete moderne Bildungswelt kaum zu ergreifen vermocht. Immerhin hat sie nicht bloß in der Fachtheologie und den kirchlichen Interessenkreisen das moderne Christentum tiefgreifend beeinflußt, so daß man von einer Umbildung und Neubildung auf einer anderen Grundlage als den bisher spezifisch kirchlichen reden muß.“275 Von Harnack sah den Islam sowieso nur als Eroberungsreligion, der „in Arabien entstanden, eine arabische Religion geblieben [ist], wohin er auch immer gekommen ist.“276 Für die „moderne Bildung“ brauche es also keinen Islam, was implizit bedeutete, daß die moderne Wissenschaft auf eine islambezogene Wissenschaft verzichten kann. Gemeingut war die Anschauung, daß man aus dem Islam und aus dem Buddhismus keine feste Erkenntnis der Religion gewinnen könne.277 Geradezu deprimierend wirken mußte die Erkenntnis, daß viele der „neuen Gelehrten“ aus dem akademischen Milieu stammten, das auch für die Orientalisten bedeutsam gewesen war. Zu nennen ist einerseits der protestantische Zirkel von Schülern Fleischers in Leipzig (Emil Friedrich Kautzsch, Baudissin, Hans Konrad von Orelli), zum anderen natürlich die Religionsgeschichtliche Schule in Göttingen: von Harnack sah sich als Ritschl-Schüler, Troeltsch als Verehrer von de Lagarde. Sie ehrten nicht die „neuen“, sondern die „alten“ Orientalisten wie Julius Wellhausen, den von Harnack 1900 zum korrespondieren Mitglied der Berliner Akademie empfahl. Wellhausen stand der Arbeitsweise von Harnacks allerdings skeptisch gegenüber. Als von Harnack den zweiten Teil seines 1904 erschienenen Buchs „Geschichte der altchristlichen Litteratur bis Eusebius“ Wellhausen widmete, reagierte dieser in einem Brief mit folgenden Worten: „Es gehört eine Geduld und Resignation dazu so etwas fertig zu bringen, die mir versagt ist; ich kann die nöthige 275
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Ernst Troeltsch: Wesen der Religion und der Religionswissenschaft (1909) (wie Anm. 267), S. 498. Adolf von Harnack: Das Wesen des Christentums. Sechzehn Vorlesungen vor Studierenden aller Fakultäten im Wintersemester 1899/1900 an der Universität Berlin, hrsg. von Claus-Dieter Osthövener, Tübingen 2005, S. 125. Kurt Nowak: Theologie, Philologie und Geschichte. Adolf von Harnack als Kirchenhistoriker, in: Kurt Nowak, Otto Gerhard Oexle (Hg.): Adolf von Harnack, Göttingen 2001, S. 189–239, hier S. 214.
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beharrliche und gleichmäßig gerechte Aufmerksamkeit nicht aufbringen, um mich durch ein solches Gewirr alter und besonders auch neuerer Literatur durchzuarbeiten.“278 Anders ausgedrückt: Wellhausen mochte sich nicht an den großen „Synthesen“ versuchen, die von Harnack, Troeltsch und andere wagten. Eine Sonderrolle spielte das akademische Milieu in Heidelberg. Hier habilitierte sich Becker 1902 mit seinen „Beiträgen zur Geschichte Ägyptens unter dem Islam“ für Semitische Philologie. Erstmals ergab sich ein direkter Anknüpfungspunkt zwischen Semitisten und den neuen Soziologen. Beckers Arbeiten zum „Lehnswesen“ in der islamischen Geschichte sollten für Max Weber die wichtigste Referenz für wirtschaftsgeschichtliche Darlegungen zum Islam werden;279 in ähnlicher Weise sollte auch Goldziher280 die wichtigste Quelle Webers für dessen Erörterung „des Islams“ werden. Der Heidelberger Neukantianismus – Wilhelm Windelband (1848–1915)281 und Heinrich Rickert (1863–1936), seit 1915 in Heidelberg – forderte die Synthese der Welt des Ideals in einer Geistes- und Kulturwissenschaft, basierend auf der idiographisch ausgerichteten Methode des Verstehens; Troeltsch und seine Mitstreiter konkretisierten dieses Ideal in dem „europäischen Kulturkreis“, Weber baute das Ideal um in Idealtypen des Verstehens. Rickert, der den „Geist“ als „Kultur“ begriff, faßte die Aufgabenstellung 1898 wie folgt zusammen: „Durch die Werte, die an der Kultur haften, und durch die Beziehung auf sie wird der Begriff einer darstellbaren historischen Individualität als eines realen Trägers von Sinngebilden erst 278
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Wellhausen an von Harnack, 13.4.1904, zit. nach: Adolf von Harnack: Widmungen und Motti, bearbeitet von Claus-Dieter Osthövener (http://anu.theologie.uni-halle.de/ST/harnack/download/widmungen.pdf). Becker hatte seine Habilitationsschrift im Februar 1902 in Kairo für den Druck fertig gemacht. Sie erschien als Heft 1 in Straßburg bei Trübner 1902, als Heft 2 1903. In der Habilitationsschrift nahm Becker noch keinen direkten Bezug zu makrosoziologischen Theorien zum Beispiel Webers. Weber bezieht sich ausführlich auf Beckers Aufsatz „Steuerpacht und Lehnswesen. Eine historische Studie über die Entstehung des islamischen Lehnswesens“, in: Der Islam 5 (1914), S. 81–120. Dazu ausführlich Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen und Mächte, Nachlaß, Teilband 4: Herrschaft, hrsg. von Edith Hanke u. a. (Max Weber: Gesamtausgabe, Abt. 1, Band 22), Tübingen 2005, S. 392 ff. Vor allem Ignaz Goldziher: Vorlesungen über den Islam, Heidelberg 1910. Auf dessen „Lehrbuch der Geschichte der Philosophie“ sich Becker explizit beruft, siehe z. B. Carl Heinrich Becker: Islam und Christentum, Tübingen 1907.
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konstituiert.“282 Gewiß, Weber und Troeltsch gingen in der Bestimmung und Bestimmbarkeit dieser Werte sehr unterschiedliche Wege283, und diese Differenzierung sollte auch bei Becker eine Rolle spielen. Es ging ihm nicht darum, „die letzten Werte europäischer und asiatischer Kultur miteinander zu vergleichen, sondern nur die Unterschiede in der Form der Assimilierung des antiken Erbes aufzuweisen.“284 Ein anderer Anknüpfungspunkt hatte sich 1904 ergeben. Am 23. September 1904 hielt Ignaz Goldziher auf dem Congress of Arts and Sciences, der im Rahmen der gleichzeitig in St. Louis stattfindenden Weltausstellung abgehalten wurde285, einen Vortrag unter dem Titel „The Progress of Islamic Science in the Last Three Decades.“286 In diesem Vortrag sprach Goldziher nicht nur von „Islamwissenschaft“ 282
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Heinrich Rickert: Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, Tübingen 1926, S. 81; oft zitierte Passage. Wolfgang Schluchter: Handlung, Ordnung und Kultur. Studien zu einem Forschungsprogramm im Anschluß an Max Weber, Tübingen 2005, S. 86 ff. Carl Heinrich Becker: Der Islam im Rahmen einer allgemeinen Kulturgeschichte (wie Anm. 225), S. 34; Becker las Weber als jemanden, der „das rein ideologische Moment“ als bestimmend für die Differenz zwischen Europa und Islam angesehen habe, und zugleich hegte er „in diesem Punkt eine gewisse Skepsis“. Er sah die Differenz. Zur Vorbereitung dieses Kongresses siehe Hugo Münsterberg: The St. Louis Congress of Arts and Sciences, in: Atlantic Monthly 91 (1903), S. 671–684. Der Kongreß war u. a. der Frage gewidmet, welche Fortschritte die Wissenschaften gemacht hätten. Ignác Goldziher: The Progress of Islamic Science in the Last Three Decades, in: Howard J. Rogers (Hg.): International Congress of Arts and Science, XIV volumes, London, New York 1908, volume VIV: Law and Religion, S. 497–518; dt. in: Preußische Jahrbücher 121 (1905), S. 274–300, nachgedruckt in: Ignác Goldziher: Gesammelte Schriften, Band IV, Hildesheim 1967, S. 443–469. Im Text sprach Goldziher abwechselnd von Islamic Science und Science of Islam; allerdings war bis dahin üblich gewesen, das Syntagma „science of Islam“ als Genitivus subjectivus („Wissenschaft des Islam“) zu verwenden. In einem kleinen Artikel in „Budapesti Szemle“ 20 (1879), S. 310, prägte Goldziher schon den Begriff „iszlámtudomány“ („Islamwissenschaft“), ohne ihn aber systematisch weiter aufzugreifen. Der englische Begriff „Islamic studies“ bezeichnete ursprünglich den Anspruch muslimischer Gelehrter in Indien, den Islam selbst auszulegen; er wurde um 1910/1919 populär, als an der Universität von Calcutta ein quasi theologisches Department für „Islamic studies“ eingerichtet werden sollte.
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(englisch: „Islamic science“), sondern benannte sie zugleich als eigenständige Disziplin. Ziel der Wissenschaft sei es, den Islam darzustellen, „wie er sich in seiner Entwicklung und seiner lebendigen Gestaltung zeigt, wie er wirksam ist in der Gesellschaft und in der Geschichte“.287 Die früheren wissenschaftlichen Darstellungen hätten hingegen noch ganz im Geiste der Forderung Relands gestanden, der zu Beginn des 18. Jahrhunderts dazu aufgefordert hatte, den Gegenstand so zu erforschen, „ut docetur in templis et scholis Mohammedicis“. Nach dem Portrait verschiedener Forschungen kommt Goldziher zum Schluß, daß der „innere Fortschritt der Islamstudien“ durch folgende Punkte charakterisiert sei: 1. Schärfere Kenntnis des Urislam („ancient Islam“) und seiner konstituierenden Faktoren 2. Methodische Betrachtung der die Entwicklung des Islams reflektierenden Quellen 3. Bessere Einsicht in die Bedeutung der Institutionen des Islams und seines Gesetzes 4. Die zunehmende Würdigung der individuellen Gestaltungen innerhalb des allgemeinen Islams 5. Die Beachtung der Nachwirkungen vorislamischer Traditionen auf jene individuellen und volkstümlichen Gestaltungen.288 Kurz gefaßt gehe es also um die Eigentümlichkeit des Islam, um dessen Ursachen und Wirkungen und um die historisch faßbaren individuellen Ausformulierungen. Diese Neubestimmung der Erforschung des Islam begründete Goldziher mit dem Verweis auf zwei „Gruppen wissenschaftlicher Errungenschaften“: erstens auf die „Methode historischer Kritik“ und zweitens auf die „vergleichende Religionswissenschaft“. An diesem Kongreß nahmen u. a. auch Otto Pfleiderer289, Troeltsch290, 287
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Ignác Goldziher: Die Fortschritte der Islamwissenschaft in den letzten drei Jahrzehnten (wie Anm. 154), S. 275 [444]. Ebd., S. 515 f.; ders.: Die Fortschritte der Islamwissenschaft in den letzten drei Jahrzehnten (wie Anm. 154), S. 298 [467]. Otto Pfleiderer: The Relation of the Philosophy of Religion to the Other Sciences, in: International Congress of Arts and Science, volume I: Philosophy and Metaphysics (wie Anm. 286), S. 263–274. Ernst Troeltsch: Main Problems of the Philosophy of Religion: Psychology and Theory of Knowledge in the Science of Religion, in: Congress of Arts and Science. Universal Exposition, St. Louis 1904, edited by Howard J. Rogers, vo-
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Weber291, Sombart292, Tönnies293 und von Harnack294, insgesamt 35 deutschsprachige Gelehrte, teil. Eingeladen hatte der Psychologe Hugo Münsterberg. Es ist nicht überliefert, ob einer dieser Herren den Vortrag von Goldziher gehört hat, auch weiß ich nicht, ob Goldziher Kenntnis von den Vorträgen der deutschen Soziologen hatte. Über den Kongreß mochte Goldziher nicht gerne berichten. In einem knappen Brief an Martin Hartmann erwähnt er, daß er dort zusammen mit Duncan Black MacDonald „den muslimischen Orient“ vertreten habe und er über die Fortschritte, Duncan über die weiteren Probleme der „Islamwissenschaft“ gesprochen habe.295 In seinem Tagebuch vermerkt er lediglich, daß er keine Lust verspürt hatte, in die USA zu reisen, daß er aber stolz war, nun zu den „electi“ zu gehören und daß sich seine Reise nachträglich als „ruhmvoll“ herausgestellt habe.296
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lume 1, Boston, New York und Cambridge 1905, S. 275–289; Hans Rollmann: Ernst Troeltsch in Amerika. Die Reise zum Weltkongreß der Wissenschaften nach St. Louis (1904), in: Horst Renz (Hg.): Ernst Troeltsch zwischen Heidelberg und Berlin (Troeltsch-Studien, Band 2), Gütersloh 2001, S. 88–117. Max Weber: The Relations of the Rural Community to Other Branches of Social Science, in: International Congress of Arts and Science, volume XIV: Jurisprudence and Social Science (wie Anm. 286), S. 725–746; Hans Josef Rollmann: ‚Meet me in St. Louis‘. Troeltsch and Weber in America, in: Hartmut Lehmann, Guenther Roth (Hg.): Weber’s Protestant Ethic. Origins, Evidence, Contexts, Cambridge 1993, S. 357–383; Wolfgang Schluchter: Zur Entstehung und Überlieferung der Texte, in: Max Weber: Wirtschaft, Staat und Sozialpolitik. Schriften und Reden 1900–1912, Tübingen 1999, S. 164 ff. Werner Sombart: The Industrial Group, in: International Congress of Arts and Science, volume XIV: Jurisprudence and Social Science (wie Anm. 286), S. 791– 799; Zur besonderen Stellung von Sombart siehe Reiner Grundmann: Why Is Werner Sombart Not Part of the Core of Classical Sociology? From Fame to (Near) Oblivion, in: Journal of Classical Sociology 1 (2001), S. 257–287. Ferdinand Tönnies: The Present Problems of Social Structure, in: The American Journal of Sociology 10 (1905) 5, S. 569–588. Adolf von Harnack: The Relation between Ecclesiastical and General History, in: International Congress of Arts and Science, volume IV (wie Anm. 286), S. 621–635. Ludmila Hanisch (Hg.): Machen Sie doch unseren Islam nicht gar zu schlecht. Der Briefwechsel der Islamwissenschaftler Ignác Goldziher und Martin Hartmann 1894–1914, Wiesbaden 2000, S. 219. Im ganzen Briefwechsel finden sich keine Verweise auf die damaligen Köpfe der Religionssoziologie. Ignác Goldziher: Tagebuch (wie Anm. 158), S. 238–240.
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In diese Zeit fiel nun eine erste indirekte Zusammenarbeit von Goldziher und Troeltsch. Den Rahmen bildete das enzyklopädische Werk „Die Kultur der Gegenwart“, das Paul Hinneberg um 1902 initiiert hatte und das seit 1906 erschien. Troeltsch war schon beim ersten Teil [vierte Abteilung] mit seinem Beitrag „Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit“ dabei. Goldziher trug mit seinem Aufsatz „Die Religion des Islams“297 zu dem Gesamtvorhaben bei. Der Islam war für ihn nun Weltanschauung und Lebensführung. Doch zu einer thematischen Verflechtung mit Troeltschschen Sichtweisen kam es nicht. Konsens war allein, daß die Muslime der „historischen Kritik“ bedürften, um auf eine höhere Kulturstufe zu gelangen. Goldziher reduzierte das Kernproblem auf folgende Feststellung: „Von verschiedenen (historischen, religionswissenschaftlichen, politischen, soziologischen) Gesichtspunkten aus bildet seit langer Zeit Gegenstand der Erwägung die Frage: ob der Islam einer Gesellschaft, deren sittliches Leben sich unter der Herrschaft seiner Weltanschauung gestaltet hat, nicht hindernd im Wege stehe in der Betätigung der Aufgabe, in die Forderungen eines fortschreitenden kulturellen und sozialen Lebens einzugehen, und sich dessen Bestrebungen und Einrichtungen anzupassen; mit anderen Worten: ob Islam und modernes Kulturleben nicht diametrale, unausgleichbare Gegensätze sind.“298 Seine Antwort war unmißverständlich: ja! Aber auf eine systematische Diskussion der „Gesichtspunkte“ (er meint sicherlich die Kulturtheorien seiner Zeit) verzichtete er. Diese Verflechtung sollte erst Becker gelingen. Ausgangspunkt war sein Artikel „Der Islam als Problem“, der den Auftakt zu seiner neuen Zeitschrift „Der Islam“ bildete und in dem er gleich zu Beginn feststellt: „Die Wissenschaft vom Islam, der in dieser Zeitschrift ein neues Heim eröffnet werden soll, braucht ihre Existenzberechtigung nicht erst zu erweisen. Wie die alte Geschichte neben die klassische Philologie ist sie seit langem als historische Disziplin neben die Philologien der von Muhammedanern gesprochenen Sprachen getreten.“299 Der Islam besteht für ihn aus (a) der Religion, (b) den Weltreichen, (c) einer politischen Theo297
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Ignác Goldziher: Die Religion des Islams, in: Paul Hinneberg (Hg.): Die orientalischen Religionen (Die Kultur der Gegenwart. Ihre Entwicklung und ihre Ziele, Teil I, Abt. 3.1), Berlin, Leipzig 1906, S. 87–135. Ignác Goldziher: Der islamische Modernismus und seine Koranauslegung, in: ders.: Die Richtungen der islamischen Koranauslegung, Leiden 1920, S. 310– 370. Carl Heinrich Becker: Der Islam als Problem (wie Anm. 255), S. 1.
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rie und (d) einer Zivilisation als „das Religion und Staat umschlingende Kulturganze mit dem gleichen Namen“. Für die Ausarbeitung seines Islam stützte sich Becker explizit auf das Paradigma, das Troeltsch – besonders in seinem Buch „Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen“ beschrieben hatte. Unumwunden betonte er: „ Auch bekenne ich hier dankbar, daß ich in der gesamten Fragestellung dieses Aufsatzes stark von Tröltsch’schen hier und anderweitig niedergelegten Gedanken beeinflußt bin.“300 Jahre später, 1920, reagierte Troeltsch auf diese Anerkennung in seinem Aufsatz „Der Aufbau der europäischen Kulturgeschichte“301, auf den sich dann Becker in seinem Goldziher gewidmeten Aufsatz „Der Islam im Rahmen einer allgemeinen Kulturgeschichte“302 bezog. Troeltsch wiederum kommentierte: „Ich kann der höchst interessanten Studie nur zustimmen. Der Standpunkt des reinen Historikers ist aber hier etwas anders als der der Geschichtsphilosophie, wie ich ihn verstehe. Diese sieht auf die Gemeinsamkeit der Ergebnisse, jener auf die Gemeinsamkeit der Ursprünge. Für Becker steht die Gemeinsamkeit während der Kämpfe um die Aneignung der byzantinischen, ost300
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Ebd., S. 3, Anm. Über die Beziehung Beckers zu Troeltsch und Weber ist viel geschrieben worden. Eine kritische Diskussion des „historistischen Orientalismus“ (Baber Johansen) bei Troeltsch und Becker bietet Birgit Schäbler: Historismus versus Orientalismus oder: Zur Geschichte einer Wahlverwandtschaft, in: Abbas Poya, Maurus Reinkowski (Hg.): Das Unbehagen in der Islamwissenschaft. Ein klassisches Fach im Scheinwerferlicht der Politik und der Medien, Bielefeld 2008, S. 51–70, zum o. g. Troeltsch-Zitat S. 60 ff. Ernst Troeltsch: Der Aufbau der europäischen Kulturgeschichte, in: Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reiche 44 (1920) S. 1–48, jetzt in: Ernst Troeltsch: Der Historismus und seine Probleme. Erstes Buch: Das logische Problem der Geschichtsphilosophie (1922), hrsg. von Friedrich Wilhelm Graf in Zusammenarbeit mit Matthias Schloßberger (Ernst Troeltsch: Kritische Gesamtausgabe, Band 16), Berlin, New York 2008, S. 1008–1099, hier S. 1045 f. Carl Heinrich Becker: Der Islam im Rahmen einer allgemeinen Kulturgeschichte (wie Anm. 225). Ursprünglich Vortrag, gehalten auf dem Deutschen Orientalistentag zu Leipzig am 30. Sept. 1921. Der Text wurde von Hans Heinrich Schaeder (1896–1957) korrigiert und mit „den unentbehrlichsten Anmerkungen“ versehen. Gleich in Anm. 2 weist Becker [d. h. Schaeder] darauf hin, daß Schaeder „in einem Vortrag in der D. Gesellsch. f. Islamkunde am 3. Mai 1921 die Untrennbarkeit des orientalisch-abendländischen Kulturzusammenhanges und die Bedeutung der Einsicht in diesen Zusammenhang für die abendländische Bildung darzustellen versucht hat.“
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christlichen und hellenistischen Bestandteile und dann die Kulturüberlegenheit während des Mittelalters im Vordergrund. Er fragt dann aber selbst nach den Gründen der Trennung im Ergebnis. Er sieht sie in der verschiedenen Art der Reaktion auf das antike Erbe. ‚Das große unterscheidende Erlebnis des Abendlandes ist der Humanismus.‘ Das Abendland habe die Antike nicht bloß fortgesetzt, sondern neu geboren. Damit erst wird nach B. der vom Orientalen grundsätzlich verschiedene abendländische Mensch geboren. Warum aber war das im Abendlande möglich? Der Grund liegt nach B. darin, daß das Christentum einen Bruch mit der hellenistischen Antike selber schon bedeutete.“303 Kurzum: „Die Ziele der islamischen Welt sind niemals wie in Europa die eines autonomen, frei und grenzenlos aus sich selber schaffenden Menschentums geworden, und der Lebenszusammenhang bestand und besteht viel mehr in einem erbitterten Kampf als in einer Gemeinsamkeit der Völkerfamilie, wie sie das Abendland in strengem Unterschied von allem orientalischen und spätantiken Imperialismus herausgearbeitet hat. Der Islam hat daher eine Universalgeschichte für sich, so zahlreich und eng seine Beziehungen zum Europäismus sind, und gehört nicht in die Universalgeschichte des Europäertums. Es gibt keine gemeinsame Kultursynthese für beide Welten, außer etwa den Gedanken der gegenseitigen Toleranz und Verständigung sehr verschiedenartiger geistiger Welten, wozu aber ein sehr modernisierter und europäisierter Islam nötig wäre, wie ihn vielleicht die heutigen Aegypter wollen.“ Becker, der den Islam dem Zivilisationsparadigma unterordnete, anerkannte: „Im Abendland lebt die Antike nicht nur weiter wie im Islam, nein, sie wird dort neu geboren. Und mit ihr wird der vom Orientalen grundsätzlich verschiedene Mensch geboren. Der Unterschied liegt in seiner vollkommen anderen Auffassung von Mensch und Menschentum: Es wird von der Antike nicht nur die Form, sondern das Wesen der antiken Einstellung zu Mensch und Leben entdeckt. Das Entscheidende war der vorangegangene innere Bruch mit der Antike durch das Christentum. Dann wurde sie neu belebt, und zwar nicht vom rassefremden Intellekt, sondern vom verwandten Blut.“304 Zugleich aber warf er Troeltsch vor: „Auch Troeltsch fordert die historische Beschäftigung mit den fremden Kulturkreisen, auch er anerkennt die Nützlichkeit gelehrter Zusammenarbeit, wie z. B. in Helmolts Weltgeschichte, auch er schätzt die psycho303
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In einer Anm. zur Ausgabe des Aufsatzes „Der Aufbau der europäischen Kulturgeschichte“ (wie Anm. 301), S. 1045 f., Anm. Carl Heinrich Becker: Der Islam als Problem (wie Anm. 255), S. 29 f.
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logischen oder soziologischen Parallelisierungen, aber für die eigentlich historische und geschichtsphilosophische Betrachtung verlangt er die Beschränkung auf die europäisch-amerikanische Entwicklung – unter Ausschluß des Orients.“305 Becker wehrte sich vehement gegen den „Ausschluß“ des Islam aus einer „Kultursynthese“, nicht aber gegen den Ausschlußdiskurs selbst. Er benutzte ihn ja selbst, um den Islam von „Asien“ abzukoppeln. Trotz Beckers Versuch, eine Vermittlungsrolle des Islam zu definieren, verharrte Troeltsch auf seinem schon 1906 geäußerten Urteil über den Islam. Die Vermittlungsrolle, die Becker dem Islam zuwies und die Troeltsch so vehement ablehnte, paraphrasierte aber nur die Bemühungen der neuen Generation von Orientalisten, Anerkennung auf der Ebene der Metadiskurse zu finden, also zu einer ähnlich führenden intellektuellen Funktion zu gelangen wie die Theologen, Staats- und Sozialwissenschaftler der Zeit. Erneut aber bedeutete die Ablehnung, die Troeltsch stellvertretend äußerte, daß mit dem Islam akademisch kein Staat zu machen war. Der Islam und damit die Islamwissenschaftler blieben außen vor, die Islamwissenschaftler vermochten es mit Ausnahme von Becker und Goldziher nicht, in die Zitiergemeinschaft der makrotheoretischen Kulturwissenschaftler aufgenommen zu werden. Mehrheitlich blieben sie – wenn überhaupt – Wissenszulieferer. Da der Islam in Folge des Ausschlußdiskurses der 1850er Jahre als „Welt“ und nicht mehr primär als „Religion“ gedeutet wurde, bezog sich der Ausschluß nicht allein auf den islamischen Monotheismus, sondern auf die „islamische Welt“, verdinglicht als „Zivilisation“ oder „Kulturkreis“. Islam spielte weiterhin keinerlei Rolle bei der Ausarbeitung einer systematischen Theoriebildung. Becker, Hartmann und die anderen mußten dem Mehrheitsdiskurs, für den der Name Troeltsch stand, Tribut zollen. Mit der akademischen Gründung der Islamwissenschaft wurde anerkannt, daß auf den Islam bezogene Forschung nicht in den Kanon der neuen systematischen Disziplinen integriert werden konnte.306 Zum zweiten Mal wurde so die Islamwissenschaft als Verlegenheitslösung begründet. Der Anspruch Beckers und Hartmanns konnte sich aber selbst in der Islamwissenschaft nicht halten; 305
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Ebd., S. 19. Allerdings war der Verfasser des Kapitels „Westasien im Zeichen des Islams“ in: Hans F. Helmolt (Hg.): Weltgeschichte, Band 3, Leipzig, Wien 1901, S. 251–390, kein Orientalist, sondern der Völkerkundler und Historiker Heinrich Schurtz (1863–1903). Troeltsch blieb für manche Islamwissenschaftler eine wichtige Referenzfigur, zum Beispiel für Helmut Gätje (1927–1986): Gedanken zur Problematik der
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schon in den 1920er Jahren zeichnete sich eine Restauration der philologischen Grundlegung dieser Disziplin ab. Hellmut Ritter (1892–1971), ehemals Beckers Assistent, sah schon 1924 die Islamologie im Sinne einer „Islamsoziologie“ am Ende.307 Nachwirkungen Der Islam war zur Welt und Weltanschauung geworden, aber akademisch ließ sich eine Wissenschaft vom Islam nur schwer durchsetzen. Becker, der 1916 in das Preußische Wissenschaftsministerium eingetreten war, sprach sich im selben Jahr schon für die Einrichtung einer „Realienprofessur für die Kunde des Morgenlandes“ an der Berliner Universität aus. 1921, nach der Emeritierung von Eduard Sachau (1845–1930), konkretisierte die Philosophische Fakultät dieses Ansinnen und bat das Ministerium um die Errichtung einer Professur für Islamistik als eine „von Wesen der Sache“ her begründete „Wissenschaft vom Islam“. Im Antrag hieß es: „Die Wissenschaft vom Islam hat es von den semitischen Völkern nur mit den Arabern zu tun, über diese hinaus aber mit Völkern, deren Sprachen nicht semitisch sind, mit Persern, Türken, Indern, Malayen usw. Sie hat die Entwicklung und Verbreitung des Islam von seiner Entstehung in Arabien über alle Länder Asiens und Afrikas zu erforschen, von den Tagen Mohammeds bis in unsere Zeit, in der die Probleme der islamischen Völker einen wesentlichen Faktor der kolonial-politischen und allgemeinpolitischen Probleme bilden. Zur Islamistik gehört auf diese Weise neben der Vor- und Urgeschichte des Islam, der Erforschung seiner Abhängigkeit von den früheren Religionen und Kulturen, Religion, Recht und Philosophie, politische Geschichte und Literaturgeschichte, Geschichte der allgemeinen Wissenschaften, vor allem der Mathematik, der Astrono-
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islamischen Kulturgeschichte, in: Die Welt als Geschichte 3 (1960), S. 157–167; für andere, z. B. Jörg Kraemer: Das Problem der islamischen Kulturgeschichte, Tübingen 1959, S. 52, spielte Becker diese Rolle. Ludmila Hanisch: Die Nachfolger der Exegeten (wie Anm. 1), S. 102. Anders klang noch 1910 Le Chateliers Beurteilung der „Islamologie“: „En Hollande, en Allemagne, en Angleterre, l’orientalisme est donc entré déjà franchement, largement, dans les voies de l’ ‚Islamologie‘, sans se laisser attacher au rivage par les traditions de la ‚Sémitistique‘.“ Zugleich betonte er : „On peut dire, au contraire, que l’Islamologie est, à certains égards, plus avancée en France qu’ailleurs“, siehe „Ouverture“, in: Revue du Monde Musulman 12 (1910) 12, S. 528.
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mie und Medizin, der Baukunst, bildende Kunst und des Kunstgewerbes, vor allem des Ornaments, bei den islamischen Völkern.“308 Das Vorhaben aber scheiterte, und selbst die Semitistik konnte nach Brockelmanns kurzem Gastspiel 1922/23 bis 1930 zunächst nicht besetzt werden. Einzige Orientalisten waren nun nur noch Eugen Mittwoch (für semitische Philologie) und als Dozent beziehungsweise Extraordinarius Franz Babinger (1891–1967), seit 1925 schon Dozent für Türkisch und Islamkunde. Becker, inzwischen preußischer Kultusminister, genehmigte nach langem Zögern 1929 schließlich Mittwochs Antrag auf Errichtung eines Instituts für Semitistik und Islamkunde an der Universität Berlin. Nach seinem Rücktritt als Kultusminister wurde Becker auf die Professur für Semitische Sprachen berufen, die er aber praktisch nicht wahrnahm. Dafür gelang es ihm, den von ihm hoch geschätzten Iranisten Hans Heinrich Schaeder 1931 von Königsberg nach Berlin zu holen.309 Mittwoch blieb bis zu seiner Zwangsemeritierung 1935 am Institut für Semitistik, danach wurde seine Professur für semitische Philologie in „arische Philologie“ umgewidmet; indirekt folgte ihm 1936 als Ordinarius für orientalische Philologie Richard Hartmann, der sich nun zusammen mit Schaeder die Direktion des Instituts für Semitistik (ab 1937 Arabistik) und Islamkunde teilte. Doch damit war das Experiment Islamwissenschaft zumindest institutionell noch nicht beendet. Bis 1937 wurde an zehn Universitäten die Dr. phil.-Prüfung in Islamwissenschaft geschaffen. In München und Halle wurde die Islamwissenschaft in den Namen der Lehrinstitution aufgenommen. Die Islamwissenschaft (Berlin, Hamburg, Frankfurt) und ihr zugeordnete Bezeichnungen wie Islamische Philologie (Kiel, Königsberg, Marburg, München, Tübingen), Sprachen des islamischen Kulturkreises (Heidelberg) und Islamkunde und Kunde des Christlichen Orients (Münster) wurden meist komplementär zur dominanten Bezeichnung Semitistik oder Semitische Philologie, die an 18 Universitäten unterrichtet wurde, als Lehr- und Prüfungsgebiet eingerichtet. Allerdings bedeutete dies keineswegs, daß das frühe Programm einer Islamwissenschaft als „Kulturwissenschaft“ den fachlichen Status dieser Islamwissenschaft beschrieben hätte. Außer Hellmut Ritter, Hans Heinrich Schaeder und Richard Hartmann bezog sich kaum einer der neuen Islamwissenschaftler auf die Arbeiten von Becker oder Martin Hartmann. Vielmehr gestaltete sich die Islamwissenschaft vornehmlich als 308 309
Zit. nach ebd., S. 56 f. Zum Kontext: Manfred Bauschulte: Religionsbahnhöfe der Weimarer Republik. Studien zur Religionsforschung 1918–1933, Marburg 2007, S. 241 ff.
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Verlegenheitslösung, um eine Repräsentation der „drei Kultursprachen des Islam“, als des Arabischen, Persischen und Türkischen in einem Kanon zu behandeln und von der Befassung durch die semitische Philologie zu lösen. Der hierzu benutzte Sammelbegriff „Islamische Philologie“ wurde seit dem frühen 20. Jahrhundert benutzt und war Lehrgebiet von Georg Jacob (1862–1937), als dieser 1911 Ordinarius an der Kieler Universität wurde. Auffällig ist, daß es vor allem turkologische Professuren waren, die nun (meist zusätzlich) mit der Denomination „islamische Philologie“ ausgestattet wurden.310 1924 konnte Theodor Menzel (1878– 1939) als Turkologe in Kiel die venia legendi für Islamische Philologie erwerben und damit 1926 die Nachfolge Jacobs antreten. Die Turkologie war so in gewisser Hinsicht ein Einfallstor für die Institutionalisierung der Islamwissenschaft in den 1920er Jahren. Der akademische Status der Disziplin aber war niedrig: mit diesem Lehrgebiet wurden fast nur Dozenten oder Extraordinarien ausgestattet. Gewiß dürften auch ideologische Hintergründe eine Rolle gespielt haben, insofern als „islamisch“ eben nicht mehr auf „semitisch“ verwies. 1948 ergab sich eine ungewohnte Konstellation, die zur Restauration der Islamwissenschaft führen sollte. Walther Braune (1900–1989), der 1928 mit einer Studie zum islamischen Mystiker al-Jilani bei Schaeder promoviert wurde, kam ebenfalls 1931 nach Berlin, arbeitete – soweit dies möglich war – als Assistent bei Becker und wurde dort 1934 habilitiert. Es dürfte sich um eine der wenigen frühen Habilitationen gehan310
Neben Babinger 1921 in Berlin auch Herbert Wilhelm Duda (1900–1975) 1936 in Breslau (ab 1942 in Wien), Friedrich Giese (1870–1944) 1920 in Breslau (ab 1928 ebenda als Ordinarius), Karl Süssheim (1878–1947) 1919 in München; das Lehrgebiet seines Extraordinariats wurde mit der Denomination „Islamische Geschichte und Sprachen“ ausgewiesen. Richard Hartmann war schon 1918 an der Universität Leipzig zum Extraordinarius für Islamkunde berufen worden. Er wurde 1914 bei Jacob an der Universität Kiel habilitiert. Siehe Hans-Robert Roemer: Richard Hartmann, in: Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft 117 (1967), S. 1–10, hier S. 6. Diese Tradition wurde 1946 bei der Neugründung der Universität Mainz beibehalten. Helmuth Scheel (1895–1967), bei Sachau in Greifswald promoviert, 1936 Vertreter für Islamische Philologie und Islamkunde, 1939 bis November 1946 Verwaltungsleiter der Preußischen Akademie der Wissenschaften und bekennender Nationalsozialist, wurde im selben Jahr auf den Lehrstuhl für Islamische Philologie und Islamkunde berufen. Als Joseph Schacht 1925 als Dozent, dann 1927 als Extraordinarius an der Universität Freiburg berufen wurde, sollte er das Lehrgebiet Semitische Sprachen, Türkisch und Islamkunde übernehmen.
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delt haben, die hinsichtlich der venia legendi neben der üblichen Bezeichnung „semitische Philologie“ erstmals das Gebiet „Islamkunde“ anführte. Das Privileg, die erste islamwissenschaftliche Habilitation erworben zu haben, gebührt vielleicht Franz Babinger. Er wurde 1920/21 mit seiner Schrift „Schejch Bedr ed-din, der Sohn des Richters von Simaw“311 an der Universität Berlin für Islamwissenschaft habilitiert. Ihm folgte einiges später Paul Kraus (1902–1944). Kraus hatte in Prag (bei Adolf Grohmann) und in Jerusalem studiert, kam dann nach Berlin und wurde 1929 unter Mittwoch promoviert. Im März 1932 erfolgte seine Habilitation für Semitistik und Islamwissenschaft. Braune war ein enger Freund, Schüler und Tradent von Paul Tillich, der sich wiederum stark mit Troeltsch beschäftigt hatte;312 Troeltsch wiederum hatte schon vor 1922 von Tillich (und besonders seinem Kairos-Aufsatz) Kenntnis genommen.313 Tillichs „Geschichtstheologie und Theologie der Kultur“314 sollten auch für Braune maßgeblich werden.315 Als Braune 1948 die Universität Berlin verließ und einen Ruf an die neue Freie Universität Berlin annahm, setzte er Tillichs Ideale institutionell um. Tillich hatte die Errichtung einer Professur und eines Seminars für Religionswissenschaften angeregt, auf die dann sein Assistent Braune berufen wurde. Braune wurde Professor für Religionswissenschaft, nahm dann aber später noch die Bezeichnung Islamwissenschaft und Arabistik hinzu. Die semitische Philologie trat zugunsten der Religionswissenschaft zurück, die nun als 311
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Franz Babinger: Schejch Bedr ed-din, der Sohn des Richters von Simaw. Ein Beitrag zur Geschichte des Sektenwesens im altosmanischen Reich, in: Der Islam 11 (1921), S. 1–174. Paul Tillich: Ernst Troeltsch. Versuch einer geistesgeschichtlichen Würdigung, in: Kant-Studien 29 (1924) S. 351–358. Ernst Troeltsch: Der Historismus und seine Probleme (wie Anm. 301), S. 1015. Zur Beziehung zwischen Troeltsch und Tillich ist in jüngerer Zeit viel geschrieben worden, siehe z. B. A. Dumais, J. Richard (éd.): Ernst Troeltsch et Paul Tillich. Pour une nouvelle synthèse du christianisme avec la culture de notre temps, Québec 2002; Jean-Marc Aveline: L’enjeu christologique en théologie des religions. Le débat Tillich-Troeltsch, Paris 2003; Martin Harant: Religion – Kultur – Theologie. Eine Untersuchung zu ihrer Verhältnisbestimmung im Werke Ernst Troeltschs und Paul Tillichs im Vergleich, Frankfurt a. M. 2009. Paul Tillich: Rechtfertigung und Zweifel (1917/1924), in: ders.: Religion, Kultur, Gesellschaft. Unveröffentlichte Texte aus der deutschen Zeit (1908–1933), hrsg. von Erdmann Sturm, Band 1, Berlin 1999, S. 182. Walther Braune: Paul Tillich. Ein Gedenkvortrag, Berlin 1966.
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Metatheorie auch die Islamwissenschaft inkorporieren sollte.316 Walther Braune wurde gefeiert als jemand, der nicht zwischen Islamwissenschaft und Religionswissenschaft getrennt habe und der – ganz im Sinne Tillichs – den Orient theologisch faßte und seiner Kultur den Islam zugrunde legte. Der Islam war jetzt Religion im Sinne Tillichs geworden. Die Synthese der zwei Wissenschaftskulturen hielt nur bis 1969; schon Braune selbst hatte eine islamwissenschaftliche Abteilung zugelassen, an der unter anderem Fritz Steppat arbeitete. Braune war so einer der letzten Vertreter der alten kultur- und religionsgeschichtlichen Tradition, die seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts den Hintergrund für die Ausformulierung einer Islamwissenschaft gebildet hatte. Dies bedeutete keineswegs eine homogene Sicht der Dinge: Schaeder, der ursprünglich Weber als seinen Lehrer gesucht hatte, fand 1921 bis 1923 in Berlin bei Troeltsch eine gedankliche Heimat und war fest in einem protestantisch-rechtskonservativen Milieu verankert317, das ihn deutlich von Braune absetzte.318 Braune, eher Weber folgend, stand nach 1940 in Kontakt mit dem Kreisauer Kreis, dem auch Harald Poelchau, ein Schüler und Freund Tillichs, angehört hatte. Schaeder hingegen war nach 1919 im Juniklub und dann im Ring-Kreis aktiv. Er war also deutlich dem national-konservativen „deutschen Lebensstil“ des Her316
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Hinweise hierzu in Michael Strausberg: The study of religion(s) in Western Europe (II). Institutional developments after World War II, in: Religion 38 (2008) 4, S. 305–318. Eine andere Heimat bildete die iranistische Tradition von de Lagarde und Josef Markwart, vgl. Hans Heinrich Schaeder: Paul de Lagarde als Orientforscher, In: Orientalische Literaturzeitung (1942), S. 1–12. Zu Becker hielt Schaeder nicht allein die akademische Etikette ein. So hatte er Anteil an der Ausgabe von Beckers Islamstudien (1924) und widmete ihm einen Vortrag auf dem Orientalisten-Tag in München (1924); Becker seinerseits widmete Schaeder 1931 seine Schrift „Das Erbe der Antike im Orient und Okzident“. Ganz im Beckerschen Sinne hatte Schaeder am 3. Mai 1921 vor der Deutschen Gesellschaft für Islamkunde einen Vortrag gehalten „vom Troeltschen Gedanken ausgehend [. . .] die Untrennbarkeit des orientalisch-abendländischen Kulturzusammenhangs und die Bedeutung der Einsicht in diesen Zusammenhang für die abendländische Bildung dazustellen versucht“. So Carl Heinrich Becker: Der Islam im Rahmen einer allgemeinen Kulturgeschichte (wie Anm. 225), S. 19, Anm. 2. Schaeder habe Becker geholfen, für die Veröffentlichung von Beckers Vortrag diesen mit den „notwendigen Anmerkungen zu versehen.“ Schaeders Abwendung von Becker wurde erst nach dessen Tod 1933 deutlich.
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renklubs verpflichtet319 und hatte etwa in dem von Arthur Moeller van den Bruck, Heinrich von Gleichen und Max Hildebert Boehm herausgegebenen Band „Die neue Front“ geschrieben, genau zu der Zeit, als er Troeltsch als seinen Lehrer gewählt hatte. Zwischen beiden Milieus gab es biographische Überschneidungen (etwa in der Person von Theodor Steltzer), doch zwischen Schaeder und seinem Schüler aus Königsberger Zeiten Braune müssen unüberwindliche, auch milieubestimmte Hürden bestanden haben, wobei Schaeder – wohl um 1942 – selbst vor Denunziationsdrohungen gegen Braune nicht zurückgeschreckt sein soll.320 Die kultur- und sozialwissenschaftlichen Makrotheorien, die zwischen 1890 und 1930 das intellektuelle Klima bestimmt und die zur Definition einer Islamwissenschaft maßgeblich beigetragen hatten, wurden von den Islamwissenschaftlern nun kaum noch diskutiert; sie wurden selbst zu einer Kultur. Die Bruchlinie Troeltsch/Becker setzte sich hier fort. Braune folgte Becker insofern, als auch er eine (begrenzte) Integration „des Orients“ in einer „Kultursynthese“ akzeptierte; hier folgte ihm Helmut Gätje. Schaeder hingegen war ganz auf Troeltschs Trennung der „Kultursysteme“ ausgerichtet.321 Hier folgte ihm Jörg Kraemer. Allerdings führte Gätje, 1955 bei Kraemer promoviert, ebenfalls Troeltsch – neben Nicolai Hartmann und Bruno von Freytag gen. Löringhoff – als eine seiner Bezugsgrößen an.322 Es mag ein 319
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Bettina Petzina: Erziehung zum deutschen Lebensstil. Ursprung und Entwicklung des jungkonservativen Ring-Kreises 1918–1933, Berlin 2000. Der Kontext dürfte die Denunziation Braunes und Richard Hartmanns durch den Studenten Rühmann (5.5.1942) gewesen sein, in der Rühmann Braune mehr als deutlich als engagierten Gegner des Nationalsozialismus bezeichnet hatte. Bekannt ist, daß Schaeder bei der Entlassung von Babinger 1933 eine Rolle gespielt hat, insofern er Zweifel an dessen „arischer Abstammung“ geäußert hatte (Ekkehard Ellinger: Deutsche Orientalisten zur Zeit des Nationalsozialsmus [wie Anm. 1], S. 54 und S. 180 f.). Bei der Entlassung von Babinger, der Mitglied des Zentrums war, dürfte auch Georg Kampffmeyer eine Rolle gespielt haben. Schaeders negative Haltung zu Babinger hatte auch dazu beigetragen, daß Babinger keine Chance bei der Wahl des Nachfolgers von Gotthelf Bergsträsser in München 1933 hatte. Siehe Helmut Heiber: Der Professor im Dritten Reich. Bilder aus der akademischen Provinz, München 1991, S. 330, und Gerhard Grimm: Franz Babinger (1891–1967): Ein lebensgeschichtlicher Essay, in: Die Welt des Islams 38 (1998) 3, S. 286–333. Siehe H. H. Schaeder: Die Orientforschung und das abendländische Geschichtsbild, in: Die Welt als Geschichte 2 (1936), S. 377–396. Gewissermaßen wollte Gätje Troeltsch von Kraemers Zugriff befreien. In sei-
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Zufall gewesen sein, daß Schaeders und Walther Hinz’ Interpretation der Kulturgeschichte eindeutig iranisch zentriert war, während Braune – Becker folgend – eine „arabische“ Perspektive des Islam in den Vordergrund stellte. Allerdings knüpfte die iranische Ausrichtung nicht nur an Präferenzen auf „arische“ Kulturen an, sondern reflektierte die alte Differenzierung zwischen „schöpferischer arischer“ Mythologie und „statischem semitischen“ Monotheismus. Trotz der offensichtlichen Verflachung der theoretischen Ansprüche, die mit den klassischen Kulturwissenschaften der Jahrhundertwende und danach verbunden waren, blieb ein Motiv durchgängig erhalten, das Troeltsch schon in seiner Reaktion auf von Harnacks Rektoratsrede 1902 formuliert hatte. Theologie sollte ihre Autonomie bewahren, weil es bei ihr eben „nicht um Religionsgeschichte überhaupt, sondern um die Gewinnung normativer religionswissenschaftlicher Erkenntnisse“ ginge, „daher nur darum, in erster Linie diese Normativität von der Religionsgeschichte aus statt von der Apologetik gegen philosophische Systeme und von scholastischen Offenbarungstheorien aus zu gewinnen.“323 Geschichte solle nicht die Hilfswissenschaft der Theologie sein, sondern die Quelle für den Gewinn einer Normativität überhaupt. Für die Orientalisten bedeutete dies aber nicht, den Orient als normative Geschichte auszuschreiben, sondern ihn als Instrument der Selbstvergewisserung einer eigenen, eben vom Orient freien und unabhängigen Normativität zu nutzen. Diese Redeweise zeigte sich zum Beispiel in dem von Henrik Samuel Nyberg (1889–1974) gehaltenen Festvortrag zur Eröffnungssitzung des XII. Deutschen Orientalistentages in Bonn vom 30. Juli 1952. Dort führte er aus: „Die römische Kultur ist nichts andres als hellenistische Weltkultur in lateinischer Sprache und mit einheimisch-italischen Elementen versetzt, dazu von einem politischen und staatsbaulichen Geist von urwüchsiger Originalität und Kraft getragen. [. . .] Die hellenistische Kultur war somit eine Universalkultur,
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nem Aufsatz „Gedanken zur Problematik der islamischen Kulturgeschichte“ von 1960 (wie Anm. 306) distanzierte sich Gätje deutlich von seinem ehemaligen Lehrer mit Bezug auf dessen Buch „Problem“, das 1959 erschienen war. Ernst Troeltsch: Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte (wie Anm. 207), S. 90, 91. Zitate sind aufgenommen in Arie L. Molendijk: Auf der Suche nach dem Nordpol? Theologie als normative Religionswissenschaft, in: Reinhold Bernhardt, Georg Pfleiderer (Hg.): Christlicher Wahrheitsanspruch – historische Relativität. Auseinandersetzungen mit Ernst Troeltschs Absolutheitsschrift im Kontext heutiger Religionstheologie, Zürich 2004, S. 87–110.
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die nicht an den griechischen Mutterboden gebunden war, die mit vielen Kulturen in Berührung kam und Zuflüsse von verschiedenen Seiten aufnahm. Dennoch blieb sie ihrem Kern nach selbständig und ihrer Grundhaltung nach durchaus griechisch. Die bodenständigen orientalischen Kulturen wurden von ihr tief beeinflußt, obgleich sie sich nie verdrängen ließen. [. . .] Die hellenistische Kultur war die überlegene, denn ihr lag zu Grunde die vielleicht mächtigste geistige Bewegung, die die Menschheit erlebt hat: die attische Hochkultur der klassischen Epoche. In einer Hinsicht aber war der Orient der hellenistischen und römischen Welt entschieden überlegen: auf dem Gebiete der Religion. [. . .] Prinzipiell ist das Evangelium die Sprengung der ganzen Religionsgeschichte, insofern als es all das relativiert, was sonst in den Religionen als die höchsten Werte gilt: Kultus, Gesetzgebung, Gebet um irdische Güter, ja das irdische Leben selbst, das es nicht verachtet, aber für das Gottesreich rücksichtslos opfert. Das Christentum gab dem menschlichen Schicksal und der Geschichte der Menschheit einen Sinn, indem es ein eschatologisches Ziel setzte, dem alles Geschehen und Wirken zustreben. [. . .] Eben deswegen besitzt unsere Kultur etwas, was allen anderen Kulturen der Welt, der Vorzeit wie der Neuzeit, fremd ist: ein geschichtliches Bewußtsein. Andere Kulturen – nicht alle, die indische z. B. nicht – haben zwar eine mehr oder weniger geordnete Erinnerung ihrer Vergangenheit und der geschichtlichen Ereignisse, die sie erlebt haben. Aber eine Geschichtsbetrachtung im tieferen Sinne, die Geschichte als Problem, kennt nur die europäische Kultur.“ Nyberg beklagte einen Verlust eines „historischen Bewußtseins“: „Es scheint mir eine der dringendsten Kulturaufgaben dieser Zeit zu sein, von dem geschichtlichen Bewußtsein und vom europäischen kulturellen Universalismus soviel in die neue Zeit hinüberzuretten, als uns immer möglich ist. Das Abendland ist von allen Seiten bedrängt, andere Kulturen treten mit hohen Ansprüchen hervor und streiten uns jedes Vorrecht ab, würden es auch mit Freude sehen, daß wir vom Schauplatz ganz verdrängt würden. Wir würden uns selbst untreu sein, wenn wir unsere geistigen Waffen nicht voll in den Kampf einsetzten. Unsere beste geistige Waffe ist aber das nüchterne, kühl objektive Studium der Gegner, das unbeirrte Verständnis ihrer geschichtlichen Voraussetzungen und jetzigen Ziele. Wir müssen unsere Gegner durchschauen, damit wir, ohne über uns selbst unsicher zu sein, ihnen ruhig entgegentreten können. Der Orientalist hat hier Wehrdienst zu machen.“324 324
Henrik Samuel Nyberg: Das Studium des Orients und die europäische Kultur,
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Abgesehen von dem makabren Sprachgebrauch des schwedischen Semitisten Nyberg zeigen seine Ausführungen, wie stark die Normativität als implizite Zwecksetzung der eigenen Forschung dann hervortrat, wenn der Forscher jenseits seiner partikularen Idiographien Generalisierungen vornahm. Sie waren nicht theoretisch abgeleitet, sondern beruhten auf normativen Setzungen, die eklektisch aus den Diskursen der Vorkriegszeit gewonnen wurden. Wie sehr diese auch auf die Interpretation „des Islam“ zurückwirkten, zeigt ein anderes Beispiel: Vor der Eröffnung des oben genannten Orientalistentages in Bonn hatten sich am 28. und 29. Juni 1952 in Mainz 20 Orientalisten zu einer Tagung zum Thema „Islamkunde und Kulturwissenschaft“ versammelt. Eingeladen hatte Gustav von Grunebaum als Vertreter der University of Chicago. Zweck der Tagung war es nach von Grunebaum, „die deutschen Islamforscher mit den amerikanischen Arbeiten und Arbeitsmethoden und umgekehrt die amerikanischen Gelehrten mit den Arbeiten ihrer deutschen Fachgenossen bekannt und vertraut zu machen.“ Von Grunebaum war der einzige Vertreter der Amerikaner, sein Referat sollte also so etwas wie die amerikanische Perspektive der Islamforschung darstellen. Von Grunebaum hielt ein langes Referat.325 Ihm ging es um die Übertragungsformen zwischen zwei Kulturen, im Konkreten zwischen der griechischen hellenistischen Kultur und dem Islam. Dazu bearbeitete er die Themenfelder Bildung, Ästhetik, Frömmigkeit und das „Hereinleiten eines fremden Kulturstroms in den eigenen Kulturbereich“. Von Grunebaum verzichtete auf jeden Verweis auf die klassischen Kulturtheorien, aber Redeweise und Aussagen machten den Zuhörern klar, daß er sich thematisch an die Troeltsch-Becker-Kontroverse von 1920/1922 anschloß. Von Grunebaum erkannte eine „Eigenart der islamischen Kultur durch die überragende Bedeutung der religiösen Bindung“. In den Reaktionen der Zuhörer zeigte sich, wie wenig sie sich noch mit solchen Makrotheorien auseinandersetzen wollten, auch wenn sie unterschwellig ebensolche annahmen.326 Rudi Paret, der damals gerade an seiner Koranübersetzung arbeitete, meinte, daß „trotz des großen Reizes, den gemeinhin spezielle Fachprobleme auf den einzelnen Forscher je nach dessen Individualität auszuüben pflegten, es notwendig sei, damit sich die Forschung nicht in
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in: Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft 103 (1952), S. 9– 21. Gustav von Grunebaum: Islamkunde und Kulturwissenschaft, in: Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft 103 (1953) S. 2–16. Ebd., S. 16–18.
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eine Reihe von mehr, oder weniger handwerklichen Spezialitäten auflöse, sich ab und zu auf die Grundproblematik zu besinnen, die den speziellen Fragestellungen zugrunde liege, und sich des eigentlichen und letzten Zieles gelehrter Forschung und gelehrten Unterrichts bewußt zu werden. Auch dürfe man die Probleme der Islamwelt nicht als isolierte Phänomene behandeln, müsse sie vielmehr im Zusammenhang mit der allgemeinen Kulturgeschichte und der Problematik betrachten, die das Abendland in seiner Geschichte bewegt haben. Da einerseits die geschichtliche Entwicklung in der Islamwelt tatsächlich weitgehend selbständig, nach eigenen Gesetzen verlaufe, andererseits die Einzelforschung auf vielen Gebieten noch sehr im Rückstand sei, bereite das für den Einzelforscher erhebliche Schwierigkeiten, dennoch müsse die Forderung nach einer solchen Zusammenschau und Einordnung der speziellen Probleme in die allgemeine Problematik des historischen Geschehens aufrecht erhalten bleiben.“ Paret anerkannte so, daß sich der Islamforscher „ab und zu“ auf solche Grundproblematiken einlassen sollte, doch dürfe dies nicht zu Lasten der Einzelforschung gehen. Andere nahmen den von von Grunebaums gesponnenen Faden auf, verflachten aber das Niveau deutlich: Wilhelm Hoenerbach erinnerte an das „Fehlen des Dramas im Islam“ (worauf Hellmut Ritter mit dem Verweis auf das schiitische Passionspiel und das osmanische Schattentheater reagierte) und meinte, daß die Rezeption der Antike in der Renaissance im Gegensatz zum Orient „emotional“ gewesen sei. Ritter meinte, die „epische Begabung der Araber“ sei gering, während sich „das Epos bei den Persern reicher entwickelt“ habe. Von Grunebaum spitzte die Differenz zwischen Europa und Islam auf das Fehlen einer Klassik zu: „In der Renaissance lebte im Westen der Platonismus wieder auf. Dieser Vorgang mußte dem Araber fremd bleiben; denn in dem antiken Erbe, das er einst angetreten hatte, war ihm der Platonismus unerschlossen geblieben. Hinzu kommt, daß bereits im Karolingischen Zeitalter, erst recht zur Zeit der Renaissance, dann wieder im 17. Jahrhundert bei den englischen Dichtern und vielleicht auch später bei unseren Romantikern, die religiös gebundene Tradition des Mittelalters durch das Vorbild einer Vergangenheit ersetzt wurde, also eine Autorität, nämlich die geistliche, von einer durch wissenschaftliche Arbeit erschlossenen an deren verdrängt wurde. Wenn es auch im Islam Versuche gibt, auf eine ideale Vergangenheit zurückzugreifen, also eine Klassik ins Leben zu rufen, so muß man doch immer in Rechnung stellen, daß der Fehlschlag dieser Versuche in der Armut des Erbes begründet war. Das Abendland
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konnte sich am Griechentum, an der Antike mit deren unglaublichem Reichtum viel leichter erneuern als die Araber an der verhältnismäßig armen Beduinentradition.“327 Der Abbruch der Traditionslinie der klassischen Kulturtheorien um 1960 markierte nicht nur einen Generationswechsel innerhalb der Orientalistik, sondern bedeutete gleichermaßen den Abschluß der Restauration der klassischen Form philologischer Orientalistik auch und gerade in Bezug auf die Befassung mit dem Islam. Die von Becker 1910 formulierte Ausgangslage „Der Islam als Problem“, die dann zu einem „Problem der islamischen Kulturgeschichte“ ausgeweitet wurde, wurde nach 1960 kaum noch angesprochen; der Islam trat deutlich zugunsten einer Philologie orientalischer Texte zurück. Bemerkenswert ist, daß 1963 an der Freien Universität ein Ordinariat für Semitistik und Arabistik und eben nicht für Islamwissenschaft eingerichtet wurde.328 Der Islam wurde wieder ganz und gar der Obhut der Philologie unterstellt. Als Metatheorie wirkte nun noch deutlicher der Historismus mit seinen Prämissen Staat und Mensch als Interaktionsgefüge, Partikularität und Autonomie der historischen Individualitäten sowie idiographische Historisierung von Individualitäten (Personen, Ereignisse, Texte, Sprachen und Kulturen). Die Grundlegung für das „richtige“ Wissen um diese Individualitäten sollte weiterhin die Philologie garantieren. Daher trat die Islamwissenschaft als Lehrauftrag nur komplementär zu orientalischer oder semitischer Philologie hinzu. Folglich blieb die fachwissenschaftliche Bezeichnung für die Befassung „mit dem Islam“ schwankend: Islamwissenschaft (bisweilen pluralisiert: Islamwissenschaften), Islamkunde, Islamforschung, islamische Philologie und sogar Islamistik.329 Erst in den späten 1920er Jahren tauchte dann die Tätigkeitsbezeichnung „Islamwissenschaftler“ oder 327 328
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Ebd. Im Zuge der Bestimmung der Nachfolge für Braune wurden 1969/71 die Islamwissenschaft (Fritz Steppat) und die Religionswissenschaft (Klaus Heinrich) eigenständig institutionalisiert. Martin Hartmann wie Becker experimentierten noch bis 1902 mit dieser Bezeichnung, siehe OLZ 5 (1902), S. 193 (Hartmann), 235 (Becker). Hartmann nannte die Wissenschaftler der Islamistik daher „Islamisten“ (OLZ 6 [1903], S. 408, 409). Dann sprach er noch von „Islamweltforschung“ (OLZ 8 [1904], S. 292). Im Wintersemester 1910 aber kündigte er zum ersten Mal am Seminar für Orientalische Sprachen der Universität Berlin seine Vorlesungen „Staat und Gesellschaft der islamischen Länder“ und „Religion des Islams“ unter der Gesamtbezeichnung „Islamkunde“ an (OLZ 13 [1910], S. 557). In der Besprechung der ersten Nummer von Beckers „Der Islam“ benutzte Mittwoch für
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„Islamkundler“ auf. Die fehlende terminologische Präzisierung des disziplinären Status der Islamwissenschaft hatte zur Folge, daß die alte Bezeichnung „Orientalistik“ oder „orientalische Philologie“ noch lange als institutioneller Rahmen bestehen blieb. Beckers Optimismus, der schon 1908 von der Islamwissenschaft (beziehungsweise Islamkunde) als „unserer Disziplin“ gesprochen hat und der diese wie Goldziher in „der Ausbildung der historisch-kritischen Methode und der vergleichenden Religionswissenschaft“ begründet gesehen hatte,330 blieb so lange Zeit unerfüllt. Islamwissenschaft oder Islamkunde als eigenständiger Grundauftrag einer Professur wurde erst in den 1970er Jahren populär. Diese Rückbindung der Islamwissenschaft an die orientalischen Philologien war gewiß auch der Tatsache geschuldet, daß die klassische Kulturwissenschaft des frühen 20. Jahrhunderts den disziplinären Status der Islamwissenschaft nicht klären konnte. Anders als in der Religionswissenschaft vollzog sich keine Trennung zwischen einer systematischen und einer historischen Islamwissenschaft. Die von Goldziher komplementär zu „Islamwissenschaft“ eingeführte Bezeichnung „Islamgeschichte“ hatte sich nicht durchsetzen können.331 Die Religionswissenschaft ging andere Wege. Religion selbst hatte zu Beginn des 20. Jahrhunderts – auch in Fortschreibung der Geltungsansprüche der klassischen Religionsphilosophie – den Status eines systematischen Sachverhalts erlangt, sodaß, wie Joachim Wach (1898–1955) in Abgrenzung zu Troeltsch formulierte,332 eine prinzipielle Differenz zwischen Religionswissenschaft und Religionsgeschichte möglich wurde. Neben der Geschichte von Religion war die Religionstheorie333 getreten. Damit fügte sich die Religionsforschung in die begriffliche Tradition, zwischen
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die „Wissenschaft vom Islam“ einmal Islamkunde in Anführungszeichen und ein anderes Mal Islamwissenschaft (OLZ 15 [1912], S. 18–19). Als Martin Hartmann im Frühsommer 1918 an das neue Institut für Orientforschung der Universität Leipzig berufen wurde, wurde ihm ein Lehrstuhl für „Islamkunde“ zugewiesen. Carl Heinrich Becker: Islam, in Archiv für Religionswissenschaft 11 (1908), S. 340–368, hier S. 340. Ignaz Goldziher: Neue Materialien zur Litteratur des Ueberlieferungswesens bei den Muhammedanern, in Zeitschrift der deutschen morgenländischen Gesellschaft 50 (1898), S. 465–506, hier S. 474. Joachim Wach: Religionswissenschaft. Prolegomena zu ihrer wissenschaftstheoretischen Grundlegung, Leipzig 1924, S. 72 ff. Der Begriff ist alt und weist bis in das 18. Jahrhundert zurück.
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Wissenschaft und Geschichte zu unterscheiden, was sich zum Beispiel in Differenzierungen wie Kunstwissenschaft und Kunstgeschichte, Musikwissenschaft und Musikgeschichte, Literaturwissenschaft und Literaturgeschichte, Sprachwissenschaft und Sprachgeschichte äußerte. Das Basisschema, das Ferdinand de Saussure (1857–1913) für die Sprachforschung erarbeitet hatte, formalisierte die Unterscheidung zwischen System und Geschichte. Religion konnte als „Sprache“ (System) oder als (historische) „Rede“ (parole) begriffen werden. De Saussures Genfer Vorlesungen von 1906–1911, die Charles Bally und Albert Sechehaye unter dem Titel „Cours de linguistique générale“ 1916 publiziert hatten,334 waren den Orientalisten gewiß nicht unbekannt, insofern sie in seiner Theorie die ihnen vertraute Unterscheidung zwischen „Wesen“ und „Erscheinung“ wiedererkennen konnten. Sechehaye (1870–1946) selbst hatte schon 1908 eine formale Trennung zwischen Sprachsystem und Sprachgeschichte angeregt.335 Wachs Religionswissenschaft ist in vieler Hinsicht parallel zu de Saussures „Cours“ organisiert. Sachlich ging es auch um eine Korrektur der Forschungstradition, die zum Beispiel mit der Religionsgeschichtlichen Schule (oder, um bei den Sprachwissenschaften zu bleiben, mit den Junggrammatikern), also allgemein mit dem Historismus verbunden war. In gewisser Hinsicht saßen so Weber, Troeltsch, de Saussure, Wach, Becker und Hartmann in einem Boot. Dieser Historismus hatte von etwa 1850 bis 1900 eine fast unumstrittene Herrschaft ausgeübt, sieht man einmal von Nietzsches Schrift „Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben“ (1874), dem Historismusstreit in der Nationalökonomie (1883/1884, Carl Menger gegen Gustav Schmoller), in der Jurisprudenz (1888, Rudolf Stammler gegen Ernst Immanuel Bekker) und der Theologie (1892, Martin Kähler gegen die Religionsgeschichtliche Schule) ab. Die Kritik am Historismus, die nach 1900 in der Philosophie, der Soziologie und schließlich auch der Geschichtswissenschaft selbst Fuß faßte, bewirkte die Rekonstruktion einer systematischen, normativen Forschung zur „Weiterentwicklung“ des zu erforschenden Sachverhalts selbst. Troeltsch betonte daher: „So gesehen, bedeutet das Problem allerdings eine Grundfrage unseres heutigen geistigen Lebens, nichts Geringeres als das Problem des sogenannten Historismus überhaupt, d. h. der aus 334
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Ferdinand de Saussure: Cours de linguistique générale; publié par Charles Bally et Albert Sechehaye; avec la collaboration de Albert Reidlinger, Paris 1916. Albert Sechehaye: Programme et méthodes de la linguistique théorique. Psychologie du langage, Paris 1908.
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der grundsätzlichen Historisierung unseres Wissens und Denkens sich ergebenden ‚Vorteile und Nachteile‘ für die Bildung eines persönlichen geistigen Lebens und für die Schaffung der neuen politisch-sozialen Lebensverhältnisse.“336 Die Wege, die zur Bestimmung einer normativen Theorie über die Sachverhalte gegen deren historische Relativierung und Individualisierung beschritten wurden, waren natürlich nicht gleich. Mit de Saussures frühem Strukturalismus konnten die Kulturkritiker nichts anfangen. Diese Kritik aber trug wesentlich dazu bei, die Sachverhalte selbst jenseits der historischen Forschung so theoretisch zu bestimmen, daß über Definitionsaussagen auch normative Urteile begründbar wurden. Die Forderung von Becker und Hartmann, eine Islamforschung akademisch zu institutionalisieren, war so auch Teil des Historismusstreits. Eben deshalb konnte Becker den Islam selbst zum wissenschaftlichen Problem verabsolutieren, ohne ihn – wie bis dahin üblich – mit einem Bezugsfeld – etwa „in der Philosophie“ – zu ergänzen. Die kategorische Trennung zwischen einer systematischen und einer historischen Sicht in der Islamwissenschaft wurde damit allerdings nicht nachvollzogen. Eine explizite Diskussion über eine „Islamtheorie“337 kam nicht zustande. Die Verallgemeinerungsverfahren, die in der Islamwissenschaft (beziehungsweise in den orientalischen Philologien) verwendet wurden, unterlagen keiner systematischen Kontrolle oder Reflexion.338 Da der Islam generisch nicht auf Religion bezogen wurde, entfiel auch die Möglichkeit, den Islam aus einer religionssystematischen Perspektive zu behandeln.339 Das bedeutet natürlich nicht, daß die 336
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Ernst Troeltsch: Der Historismus und seine Probleme (wie Anm. 301), S. 176– 178. Ignác Goldziher: Die Richtungen der islamischen Koranauslegung (wie Anm. 180), S. 316, benutzt diesen Begriff, um die Selbstauslegung indischer muslimischer Gelehrter zu bezeichnen. In der Frankophonie gab es bemerkenswerte Ausnahmen. So plädierten der marokkanische Philosoph Muhammad Abid al-Jabiri und der algerische Philosophiehistoriker Mohammed Arkoun für eine strukturalistische Islamtheorie, der marokkanische Historiker Abdallah Laroui (al- Arawi) hingegen lehnt sie ab, sofern sie historische Prozesse nicht berücksichtige. Cf. z. B. Mohammed Arkoun: Religion et société d’après l’exemple de l’Islam, in: Studia Islamica 55 (1982), S. 5–59. Eine Ausnahme bildeten die Bezüge zur Religionsphänomenologie (v. a. Annemarie Schimmel) und besonders zu Mircea Eliade. Diese soll es ermöglichen zu ergründen, was „Phänomene an und für sich aussagen“ und folglich, was
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Islamwissenschaft keine theoretischen Verallgemeinerungen vollzogen hätte. Nur erfolgten diese meist implizit und mit großer Beliebigkeit, sodaß trotz des erkorenen Anspruchs, idiographisch zu arbeiten, allgemeine Aussagen zum Islam zustande kamen. Dies bedeutete natürlich nicht, daß der Islam vollkommen aus der Sicht der Religionswissenschaft verschwand. Verschiedentlich wurde die Rückbindung der Islamwissenschaft an die Religionswissenschaft programmatisch gefordert und in akademischen Biographien verbunden (Jacques Waardenburg, Peter Antes). Er spielt aber weiterhin kaum eine Rolle bei der Ausarbeitung einer systematischen Religionswissenschaft. Schon Joachim Wach behandelte den Islam nur an zwei Stellen als „empirisches Material“. Dabei fällt auf, daß, wenn von Islam die Rede war, die religionsgeschichtliche Perspektive oftmals verloren ging. Islamische Dogmen erschienen – selbst bei Wach – als zeitlose Normen, die das Wesen des Islam markierten.340
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der Islam selbst „an und für sich“ bedeutet. Aber selbst die explizite Bezugnahme der Islamwissenschaft auf die Religionsphänomenologie ist selten. Anders natürlich die Religionswissenschaft, sofern sie sich mit dem Islam befaßt, z. B. Jacques D. J. Waardenburg: Grundsätzliches zur Religionsphänomenologie, in: Neue Zeitschrift für Systematische Theologie und Religionsphilosophie 14 (1972), S. 315–335. Sein Beitrag „Islamforschung aus religionswissenschaftlicher Sicht“, in: Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft, Supplement V: XXI. Deutscher Orientalistentag (1980), S. 198–212, stellt einen der wenigen Versuche dar, die Religionswissenschaft für eine „Islamforschung“ in Wert zu setzen: „Da die Tatsache des Islam seit dessen Anfängen von denen, die sich nicht zu ihm bekennen, als ein Problem angesehen worden ist, ist die Frage der Erkenntnis des Islam – also was der Islam zumal als Religion wirklich sei – erst später aufgekommen. Das Problem einer systematischen Islamforschung ist dann eigentlich erst im 19. Jahrhundert als wissenschaftliche Frage gestellt worden.“ (S. 198) Waardenburg verstand seinen Beitrag als „Vorschlag einer systematischen Islamforschung“ (S. 199): „Das wichtigste epistemologische Problem in diesem Bereich scheint aber noch immer zu sein, die richtige Beziehung zu finden zwischen den allgemeinen Kategorien von Beschreibung und Analyse gegebener Tatsachen einerseits, und der wissenschaftlich besten Konzeptualisierung spezifisch islamischer Wirklichkeiten andererseits, wie sie namentlich aus dem muslimischen Sprachgebrauch hervorgehen.“ (S. 204) Z. B. „Bekanntlich haben die Moslems neben dem Koran die im Hadith überlieferte Sunna des Propheten und der Genossen als maßgebend anerkannt. Dabei ist das Zweite allerdings eigentlich nur die nähere Erläuterung und Auslegung des Ersten.“ Joachim Wach: Religionswissenschaft (wie Anm. 332), S. 52. In der islamischen Dogmengeschichte war das Deutungsprimat Koran oder Sun-
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Die komplexe Beziehungsgeschichte zwischen Islamwissenschaft und Religionswissenschaft hat maßgeblich dazu beigetragen, einen Islambegriff zu generieren, der folgende Eigenschaften aufweist: (1) der Islam ist nicht nur Religion, sondern Welt, Weltanschauung, umfassende soziale Ordnung, Zivilisation, Kultur und/oder Staatsordnung; (2) der Islam ist in struktureller Opposition zur Moderne zu verstehen; (3) der Islam ist das, als was er gründungsgeschichtlich erkannt werden kann; (4) der Islam ist „eigengeschichtlich“ und „total“. Diese Eigenschaften können (1) philologisch, (2) historistisch, (3) kulturell und/oder (4) soziologisch bestimmt werden. Diese Distinktion erlaubt es, der Welt, der Gesellschaft, dem Staat, der Kultur und auch der Geschichte das Prädikat „islamisch“ zuzuweisen.341 Das protestantische akademische Milieu, in denen die Islamwissenschaft und die Religionswissenschaft entstanden, bedingte, daß der Islam stets in Differenz zu den vorherrschenden protestantischen Selbstdeutungen gesehen wurde, die ihrerseits wieder die Transformation muslimischer theologischer Selbstdeutungen bestimmt hatten.342
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na heftig umstritten; diese Dogmengeschichte könnte entlang des Streits modelliert werden. Die Bezeichnung „christliche Welt“ hat daher eine ganz andere Konnotation als „islamische Welt“. Troeltsch kannte zwar eine „christliche Weltanschauung“, doch wenn er von „Christlicher Welt“ sprach, dann meinte er immer die 1886 von Harnack-Schülern gegründete lutherische Zeitschrift. Ein analoges Verständnis verbirgt sich auch hinter der Bezeichnung „jüdische Welt“. Reinhard Schulze: Islam und Judentum im Angesicht der Protestantisierung der Religionen im 19. Jahrhundert, in: Lothar Gall, Dietmar Willoweit (Hg.): Judaism, Christianity, and Islam in the Course of History: Exchange and Conflicts, München 2010, S. 139–164.
Theologie und Religionswissenschaft Jörg Dierken 1. Dissenslinien und Schnittflächen Nicht Theologie zu sein, gehört zu den Grundbestimmungen von Religionswissenschaft. Umgekehrt gilt Ähnliches. Die Verbundenheit im Dissens wird durch etliche Stichworte markiert. Hierzu zählen in religionswissenschaftlicher Optik: Epoché bei Wahrheitsüberzeugungen, empirisch-phänomenale Methoden, Distanz zu Religionsinstitutionen, vergleichender Blick auf verschiedene Religionskulturen bei Werturteilsenthaltung – kurz: geltungsneutrale Beschreibung in der Außenperspektive. Die theologiespezifischen Opposita lauten: Teilhabe an der religiösen Binnensicht, Explikation ihrer Wahrheitsüberzeugung und Rechtfertigung gegenüber Anfragen, normative Beurteilung empirischer Religionsphänomene, praktische Ausbildungsaufgaben für geistliches Personal. Neben diesen Dissenslinien gibt es auch Schnittflächen, teils überraschende. So ist beobachtende Religionswissenschaft keine Religionskritik, mag sie in Teilen auch aus dieser abstammen.1 Auch Theologie zielt nicht auf Überwindung von religiöser Wahrheitsüberzeugung. Allerdings impliziert sie Kritik religiöser Standpunkte, nicht nur der von anderen.2 Ferner hat gerade die akademische Theologie religionswissenschaftliche Methoden wie kritische Philologie und Religionsgeschichte maßgeblich mitentwickelt. Insofern Theologie überhaupt einem Explikationsbedürfnis religiöser Wahrheitsüberzeugungen entspringt, das auf Anfragen mit Rechtfertigungsbedarf reagiert, hat auch Theologie mit Außenperspek1
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So spricht Hubert Knoblauch im Blick auf die Religionssoziologie von einer Geburt „aus dem Geiste der Religionskritik“ (Hubert Knoblauch: Religionssoziologie, Berlin 1999, S. 20 ff.). Ähnliches dürfte für manch andere religionswissenschaftliche Disziplin zu sagen sein, etwa die Religionspsychologie. Im Horizont der Theologie steht auch die anspruchsvolle religionsphilosophische Aufgabe einer Kritik der Religion als Kritik der Vernunft in der Religion.
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tiven zu tun. Sie muß die aus den Bezugsfeldern der Anfragen resultierenden Perspektiven irgendwie aufnehmen. Dies gilt exemplarisch für die Standards moderner Wissenschaft. Wenn Theologie hier Bestand haben will, kann sie sich nicht in reflexionsfernem Doktrinalismus ergehen. Schon darum kultiviert sie auf ihre Weise religionswissenschaftliche Methoden. Zudem muß eine gute Theologie den Anspruch haben, die von ihr vertretene Religion – ich spreche hier für christliche Theologie – auch Nicht- oder Andersgläubigen zutreffend darzustellen, so sehr sie auf Stärkung der Urteilskraft in eigener Sache zielt. Theologie beurteilt normative Fragen, die mit dem Vorkommen von Religion empirisch gegeben sind, unter kritischer Erkundung von deren Geltungsgründen. Wenn sie wie die Religionswissenschaft religiöse Phänomene anderen gegenüber darstellt, geschieht dies aber durch Explikation von deren innerer Logik. Weitere Bezugsgrößen der Disziplinen lassen Schnittflächen und Unterscheidungslinien deutlicher hervortreten. Die Verbreitung des Christentums infolge der kolonialgeschichtlichen Globalisierung hat in missionstheologischem Kontext Interesse an nichtchristlichen Religionskulturen hervorgerufen3 – vielfach freilich im Interesse einer Vergewisserung des Christentums in den Koordinaten zwischen Inkulturation in neuen Welten und Abgrenzung von deren Religionsmilieus. Religionswissenschaft wurde daher oftmals innerhalb der Theologie etabliert. Umgekehrt drängten etliche Religionswissenschaftler mit theologischer Ausbildung durch Wahrnehmung anderer Religionen aus der Theologie hinaus. Wissenschaftliche Religionsbefassung soll gerade nicht in konfessionell geprägte Berufe – in weitestem Sinn – einmünden, sondern neutral zur Kultpraxis stehen. Hinzu kommt, daß Universitäten unter Säkularisierungsbedingungen von einem weltanschaulich neutralen Staat getragen sind. Nur bei ‚hinkender Trennung‘ oder, je nach Perspektive, aufgrund integraler Wahrnehmung kulturstaatlicher Bildungsaufgaben ist Theologie an staatlichen Universitäten verankert – mit fein ausbalancierten Zuständigkeiten von Staat und Religionsgemeinschaften. Religionsrechtlich analog liegen die Dinge hinsichtlich 3
Dies geschah indes zumeist mit erheblicher Verspätung. Vgl. Christoph Bochinger: Wahrnehmung von Fremdheit. Zur Verhältnisbestimmung zwischen Religionswissenschaft und Theologie, in: Gebhard Löhr (Hg.): Die Identität der Religionswissenschaften, Frankfurt a. M. 2000, S. 57–77, bes. S. 59 ff.; Andreas Feldkeller: Religionswissenschaft innerhalb und außerhalb der Theologie, ebd., S. 79–96.
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des Religionsunterrichts. Dies läßt je nach Funktion und Optiken religionswissenschaftliche oder theologische Kompetenzbedarfe aufkommen, mit mannigfachen Überschneidungen. So bemühen etwa Juristen religionswissenschaftliche Kompetenz, um religionsrechtlich legitime Ansprüche von illegitimen zu unterscheiden, obwohl in einer liberalen Ordnung gerade das theologisch artikulierte Selbstverständnis der Religionsgemeinschaften über Religionstatbestände befindet – und eben nicht der Staat. Beim Religionsunterricht sind neben den pädagogischen Richtlinien daher die Grundsätze der Religionsgemeinschaften maßgeblich. Demgegenüber bringt LER4 eine andere Konzeption zum Zuge, mit latenter Skepsis gegenüber bestimmten Religionsformen.5 Wenn hier auch Interessen alter DDR-Eliten Pate standen, sind die Debatten um Religionsunterricht und LER ebenso durch Auflösung homogener Konfessionsmilieus und gestiegenen Pluralismus evoziert. Auch in den Religionspädagogikmilieus etablierter Konfessionen läßt dies das Interesse an anderen Religionskulturen anschwellen. Hier dominiert aber eher das Bemühen um warme Begegnungen zum Anfassen; die Konturen von Religionsdissensen verschwimmen leicht im milden Licht eines nachsichtigen Kulturschutzes. Treten gleichwohl harte Religionskonflikte auf, so versucht man verstört zu verstehen, was eine liberale Öffentlichkeit kaum glauben mochte. Davon profitieren auch Religionswissenschaften. Nach 9/11 fanden sich die islamwissenschaftlichen Orchideenfächer im Scheinwerferlicht. Doch die Islamwissenschaft kann und will nicht leisten, was vielfach zur Integration von Muslimen in westliche Gesellschaften und zum Abbau zivilisatorischer Konfrontationslinien gefordert wird: nämlich eine islamische Theologie, die von innen heraus Modernisierungserfordernisse aufnimmt. So wird etwa von einem ‚Euro-Islam‘ erwartet, daß seine Theologie klassische religionswissenschaftliche Methoden integriert, insbesondere die historische Kritik. Unausgesprochen stehen hier Konturen moderner christlicher, mehr noch: protestantischer Theologie Modell, so etwa hinsichtlich einer Differenzierung von Religion und Recht, von Glauben und Politik und Gewissen und Gewalt. Umgekehrt werden, um das Unverständliche von religiöser Gewalt nachzuvollziehen, religiös-theologische Figuren wie: unbedingt 4 5
Das Unterrichtsfach „Lebensgestaltung – Ethik – Religionskunde“. Dies gilt unabhängig von den praktischen Fragen der Unterrichtsorganisation im Umfeld von Religionsthemen in einer weltanschaulich stark pluralisierten Gesellschaft.
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verpflichtender Auftrag, Aufhebung der Grenzen zwischen Leben und Tod, Individuum und Gruppe, beansprucht. Gleichwohl dürfte die Wirkung von Islamforschern auf muslimisches Religionsleben begrenzt bleiben. Vermutlich kommen Islamwissenschaftler eher bei Polizei und Geheimdiensten in Lohn und Brot als in Koranschulen. Die Überschneidungen haben Spuren in beiden Disziplinen hinterlassen. Kaum ein Theologe wird gegenwärtig die alte Distinktion von eigener religio vera und fremden religiones falsae ungebrochen übernehmen. Das berühmte Diktum Harnacks: „Wer diese [sc. christliche] Religion nicht kennt, kennt keine, und wer sie samt ihrer Geschichte kennt, kennt alle“,6 wird nurmehr verschämt zitiert. Die Gegenposition des Religionswissenschaftlers Müller: ‚Wer nur eine Religion kennt, kenne keine‘ hat höheren Kredit. Sie läßt sich intelligent mit Harnacks Sicht verbinden, wenn die Plausibilität des Christlichen im Durchmessen religiöser Alternativen,7 deren Typenzahl nach Troeltsch begrenzt ist,8 erprobt wird. Selbsterkenntnis im Lichte von Alterität, praktiziert im Umweg über das Fremde, und ehrlich als eigener Standpunkt Anderen gegenüber artikuliert: So dürfte heute ein reflektierter theologischer Umgang mit den unaufhebbaren Wahrheitsansprüchen des Christentums aussehen. Die kommunikativen Chancen solcher Standpunktdarstellung werden durch eine kulturwissenschaftliche Beschreibung der empirischen Religionspraxis gesteigert. Auch die religionswissenschaftliche Landschaft verändert sich. Daß für neutrale Erforschung ‚von außen‘ die mit Religion stets verbundene Binnensicht der Beteiligten in Rechnung zu stellen ist, gehört inzwischen zum Einführungswissen der Disziplin.9 Wahrgenommen wird auch, wie 6
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Adolf von Harnack: Die Aufgabe der theologischen Fakultäten, in: ders.: Reden und Aufsätze, Band 2, 2. Aufl., Gießen 1906, S. 161–189, hier S. 168. Systematisch entspricht dies dem vom Historiker Harnack propagierten Durchgang durch die Geschichte. Vgl. Ernst Troeltsch: Die Selbständigkeit der Religion (Teil II), in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 6 (1896), S. 167–218, hier S. 216 f., jetzt in: ders.: Schriften zur Theologie und Religionsphilosophie (1888–1902), hrsg. von Christian Albrecht in Zusammenarbeit mit Björn Biester, Lars Emersleben und Dirk Schmid (Ernst Troeltsch: Kritische Gesamtausgabe, Band 1), Berlin, New York 2009, S. 364–535, hier S. 531 f. Vgl. Fritz Stolz: Grundzüge der Religionswissenschaft, Göttingen 1988, S. 35 ff. Vgl. zum Problem: Russell McCutcheon (Hg.), The Insider / Outsider Problem in the Study of Religion. London, New York 1998.
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sehr selbst religionswissenschaftliche Konzepte einzelner Religionen aus dem nichtchristlichen Kulturkreis – wie etwa ‚des‘ Islam – von der Optik europäischer Religions- und Konfessionskonflikte geleitet sind.10 Religionswissenschaften reflektieren überdies selbst die normativen Implikationen ihrer Beschreibungen – und sei es nur die, daß auch die Epoché in normativen Fragen eine normative Position ist. Zum Grundwissen der religionswissenschaftlichen Disziplin gehört zudem Problemsensibilität bei allen Versuchen, Tatbestände als ‚religiös‘ zu qualifizieren. Die Kategorie des Heiligen, in deren Zeichen die vergleichende Religionsphänomenologie dem ‚Wesen‘ von Religion nachspürte und philologische Meisterleistungen vollbrachte, ist in den Hintergrund gerückt. Von festen Religionsdefinitionen wird angesichts ihrer Überfülle, Unschärfe und Standpunktrelativität Abstand genommen. Religion wird eher tastend umschrieben, etwa als ‚Orientierung‘.11 Bei der Beobachtung von Kulten und Riten anderer Kulturkreise wird die Herkunft des Religionsbegriffs aus dem Umfeld des christlich geprägten Westens in Rechnung gestellt. Religion wird als Teil von Kultur beschrieben – in ihren Artefakten, Kommunikationssymboliken und Sozialformen.12 Kulturwissenschaftliche und insbesondere soziologische Perspektiven drängen nach vorn.13 Religion wird in die spannungsvolle Kulturgeschichte der Moderne eingestellt.14 Der Fokus richtet sich auf subjektiven Sinn in seiner Bedeutung für die Lebensführung in sozialen Kontexten.15 Damit erweist 10
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Das zeigt im Blick auf ‚den‘ Islam der Beitrag von Reinhard Schulze in diesem Band. Vgl. Jean Jacques Waardenburg: Religionen und Religion. Systematische Einführung in die Religionswissenschaft, Berlin 1986, S. 34 ff. Vgl. Burkhard Gladigow: Religionswissenschaft als Kulturwissenschaft, hrsg. von Christoph Auffarth und Jörg Rüpke, Stuttgart 2005, S. 24–39. Vgl. Hans G. Kippenberg, Kocku von Stuckrad: Einführung in die Religionswissenschaft, München 2003. – Kurzschlüssige Alternativen zwischen philologischer und sozialwissenschaftlicher sowie historischer und gegenwartsorientierter Religionswissenschaft werden von Volkhard Krech kritisiert: Wohin mit der Religionswissenschaft?, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 58 (2006), S. 97–113, hier S. 103. Vgl. Hans G. Kippenberg: Die Entdeckung der Religionsgeschichte. Religionswissenschaft und Moderne, München 1997. Vgl. hierzu aus unterschiedlichen Perspektiven: Hans G. Kippenberg, Kocku von Stuckrad: Einführung in die Religionswissenschaft (wie Anm. 13), bes. S. 14; Hartmann Tyrell, Volkhard Krech, Hubert Knoblauch: Religion als Kommuni-
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sich die Kategorialität eines religionswissenschaftlichen Klassikers als aktuell. Ihr sei nun zur Grenzerkundung gegenüber der Theologie nachgegangen, um sodann mit besonderem Blick auf Max Webers Fachmenschenfreund Ernst Troeltsch die soziologisch-institutionelle Verortung von Theologie gegenüber Religionswissenschaft zwischen Universität und Kirche in den Blick zu nehmen. Eine Schlußbemerkung wird dem Religionsbegriff gelten. 2. Grenzrationalität – zur Logik wissenschaftlicher Religionsbefassung Max Webers Religionssoziologie beschreibt Religion über Umwege. Sie wird als Antrieb über praktische Handlungen faßbar, prägt die Lebensführung der Einzelnen und formt die Entwicklung von Gemeinschaften. Religion ist direktem Zugriff entzogen und zeigt sich immer in, mit und unter soziokulturellen Formationen. Dies gilt auch für ihre wichtigste Errungenschaft: Die Ausbildung rationaler Formen des Denkens und Handelns durch Ausbildung von Weltdeutungen, die die Führung des Lebens erlauben. Diese Weltdeutungen entstehen durch Stiftung subjektiven Sinns. Dies geschieht, weil ohne Anhalt an der Naturalität der ‚Welt‘, spontan, kontingent, unmittelbar und insofern: irrational.16 Die Rationalisierungsfunktion von Religion qua Sinn ist irrational, aber gleichwohl ein Erfordernis des in Formen des Subjektiven gelebten Lebens. Indem die Religionssoziologie dies beschreibt, berührt sie die Grenze des ihr rational Zugänglichen. Die Soziologie vermag anzugeben, wie Sinn und Rationalisierung funktionieren und daß sie kulturgeschichtlich ebenso kontingent wie unausweichlich sind. Unmittelbaren Zugriff hierauf besitzt sie aber nicht. Ihre ratio liegt in der indirekten Beschreibung der Rationalisierungsleistung von subjektivem religiösen Sinn. Damit hält sie eine Stelle für Theologie als dessen direkterer Rationalisierung offen. Dies mag angesichts von Webers Urteil über die Theologie erstaunen. Wissenschaft und Theologie – verstanden als ‚Weg zu Gott‘ – schließen einander aus. Dies folgt nicht nur aus der für alle Wissenschaft spezifi-
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kation, Würzburg 1998; Hubert Knoblauch: Qualitative Religionsforschung. Religionsethnographie in der eigenen Gesellschaft, Paderborn u. a. 2003. Vgl. Max Weber: Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen, in: ders.: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Band I, 9. Aufl., Tübingen 1988, S. 253, S. 537 ff., S. 566.
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schen „Entzauberung der Welt“,17 sondern auch aus der permanenten Überholbarkeit aller Erkenntnisse. Wissenschaft stiftet keinen Sinn, hinterfragt ihn vielmehr, und vernichtet ihn geradezu. Wissenschaft ist permanente Kränkung: Der Akteure mit ihrer der Sache gewidmeten Leidenschaft ebenso wie der mit allen Sinn- und Lebensformen verbundenen Götterideale, denen andere den Kampf ansagen. Die Wissenschaft kann solchen Götterkampf um Sinnformen und Werte nur beschreiben und muß sich damit begnügen zu verstehen, „was das Göttliche [. . .] in der einen oder anderen Ordnung ist“; beeinflussen kann sie das im „Kampf“ der Götter waltende „Schicksal“ aber nicht.18 Noch die Voraussetzung von aller Wissenschaft, das deutende Werturteil darüber, was wissenswert ist, sowie die darin implizierte „Stellungnahme zum Leben“ ist mit Wissenschaftsmitteln nicht entscheidbar.19 Damit evoziert gerade die auf Sinn abstellende Wissenschaft ein „Lebensproblem“.20 Dieser Hiat von Wissenschaft und Leben, von Sinnstiftung und Falsifikationsdruck läßt sich für Weber nur in heroischer Gelassenheit ertragen. Damit impliziert Wissenschaft indes eine kontrafaktische Rationalität von Sinnfindung durch Sinnabblendung. Mit dieser Paradoxie zeigt sich eine wissenschaftlich faßbare Grenze von Wissenschaft. Sie weiß um den Kampf der ihren Gräbern entsteigenden Götter, kann selbst aber nur eine asketische Dietätik im Umgang mit Sinnerwartungen empfehlen. Sie kennt die Funktion von im Subjektiven gründenden Deutungen und Sinnkonstitutionen, hat selbst aber keinen Ort für das am subjektiven Fürsich haftende Wollen und Entscheiden über Götter und Werte, das dem Ich als Teilhaber des über subjektive Sinnformen erschlossenen ‚Lebens‘ immer schon aufgenötigt ist. Dies muß das Ich je selbst, obwohl es mitnichten selbst die Disposition über solches Wollen und Entscheiden hat. Wissenschaft kann allenfalls beschreiben, inwiefern Wollen gewollt werden muß. Doch Wollen muß man je selbst wollen – ähnlich wie Werturteile und Sinndeutungen selbst vollzogen werden müssen. Solcher Selbstvollzug in der Sinnfindung gehört zur rationalen Irrationalität von Religion. Zur Führung des Lebens befähigende Sinndeutungen, die auszubilden der Vollzug des Lebens selbst evoziert, entsprechen religiösem Heil. Theologie ist nur intellektuelle „Rationalisierung“ seines 17
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Max Weber: Wissenschaft als Beruf, in: ders.: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 7. Aufl., Tübingen 1988, S. 594. Ebd., S. 604 Ebd., S. 599. Ebd., S. 604.
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„Besitzes“.21 Herstellen kann sie ihn nicht, allenfalls zur Bewohnung kultivieren. Ebendies ist eine religionswissenschaftliche Einsicht über die Theologie angesichts der rationalen Irrationalität von Religion. Mit dieser Einsicht wird Religionswissenschaft aber nicht zur Theologie, sosehr sie auf eine ihrerseits von ihr unterschiedene Theologie bezogen bleibt – und vice versa.22 Dies erhellt exemplarisch aus Webers Interpretation religiöser Heilsund Erlösungsvorstellungen. Religion, auf Lebenssteigerung ausgerichtet und insbesondere in magischen Formen alles Übernatürliche diesseitigen Zwecken dienstbar machend, läßt als einen Grundtypus von Heil die Selbstvergottung23 erkennen. Hierzu gehört nicht nur aktivische Handlungsmachtsteigerung durch magische Verbündung mit höheren Kräften, sondern auch eine eher passivisch erlebte Teilhabe am Absoluten, die die Auszehrung durch Verstrickung in innerweltliche Kämpfe abdämpft. Auch dieses an den Untergang des Ich grenzende Heilsziel liegt in der Verlängerung des Selbsterhaltungsinteresses. Verwickelter wird gegenüber solch magischen und mystischen Heilstypen das Heilskonzept einer gnädigen Zuwendung eines weltjenseitigen unfaßbaren Gottes, der erfolgreich Aufmerksamkeit erwartet, sogar gegen unmittelbare Nutzinteressen. Dies ist die zum okzidentalen Rationalismus führende Grundform. Die Irrationalität dieses Willkürgottes als Voraussetzung von paradoxer Wirkung auf das Diesseits liegt an der Grenze des direkt Verstehbaren. Webers Religionssoziologie bemüht denn auch eine komplexe Logik. Sie verläuft gleichsam sub contrario, nämlich über das Theodiezeethema als Negativ zu Heilsvorstellungen. In dieser Logik wird die irrationale Seite von Religion so faßbar, daß von hier aus die religiöse Rationalisierungsleistung in den Blick kommt. Dies dokumentiert Webers Deutung des asketischen Protestantismus und seines Berufsmenschentums. Die Irrationalität der Annahme eines weltdifferenten jenseitigen Gottes, der um der Steigerung des Absolutismus rechenschaftlsloser Gnade willen immer schon doppelt vorherbestimmt hat, wer in den Genuß des Heils kommt und wer nicht, wird kulturgeschichtlich nur einsichtig, wenn sie logisch bezogen ist auf ein irritiertes Streben nach sinnhafter Einheit.
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Ebd., S. 610. Diese Verhältnisbestimmung ist, wenn man so will, religionsphilosophischer Art. Vgl. Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 1921/1972, S. 325, S. 245.
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Dieses Streben ist generell charakteristisch für Religion. Es findet sich im westlich-prophetischen Typ der Gesamtdeutung der Welt im Interesse einer „einheitlich sinnvollen Stellungnahme“ zum Leben zwecks entsprechender „Lebensführung“, aber auch im östlichen Typ von aristokratischer Intellektuellenreligiosität, die einem inneren Zug zu Einheit als Selbstübereinstimmung der Gedankenwelt folgt.24 Beide Typen fördern die Wahrnehmung harter Differenzen als Kehrseite. Je stärker die Einheit, umso sperriger zeigt sich das, was sich nicht fügt: Enttäuschungen methodisch gesteigerter Erfolgserwartungen, mithin Leiden, aber auch als böse empfundene Abweichungen vom selbstevident zusammenstimmenden Guten. Diese negative Kehrseite führt zum Theodizeeproblem.25 Es bedarf der Integration in den Sinnhaushalt. Hierfür sind Heils- und Erlösungskonzepte zuständig. Hierzu zählt die strategiefreie östliche Strategie der Erwartungsabdämpfung und des Eingehens in eine All-Einheit bei gleichzeitiger Rollenstabilisierung, aber auch das westliche Modell des ethischen Monotheismus, der den Umgang mit Widersinnigem zur Daueraufgabe im Diesseits des gegenbildlich zur Welt ins Jenseits geschobenen Gottes erhebt. Dieser Aufgabe dient Askese, auch innerweltlich-aktive, aller naiven religiösen Machtsteigerung zum Trotz. Ihre an der Irrationalität des weltjenseitigen Gottes geschulte Aufmerksamkeit für indirekte Heilsstandsparameter im Diesseits wird nicht zum Antrieb simpler Vergottung, sondern zu rationaler Lebensführung im Diesseits durch entbehrungsbereite Erwerbstätigkeit.26 Webers Protestantismusdeutung expliziert diese Logik kulturgeschichtlich in aller Subtilität.27 24 25 26 27
Ebd., S. 275, S. 304, S. 308. Vgl. ebd., S. 314 ff. Vgl. ebd., S. 331 f. Mit der für den Protestantismus signifikanten Askese schlägt aber, je nach Lage der Dinge, die andere, dem ethisch einheitlichen Willen Gottes zuwiderlaufende Seite Gottes über das Verhältnis zu seinem Werkzeug irgendwie auf Gott zurück: im Extremfall bis zu einer für ihn selbst undurchsichtigen verborgenen und verdammenden Seite. Dieser Aufbruch interner Differenzen gerade in Gotteskonzeptionen, die im Zeichen der Einheit eines ethisch gefaßten Gottes stehen, läßt sich weiter verfolgen als es bei Weber der Fall ist. Mit Weber ist aber zu fragen, in welcher Weise die über einen Hiat im Gottesgedanken gewonnenen Integrationsmöglichkeiten von Sinnverlust inmitten von sinnhafter Lebensführung, die mit kontrafaktischen Freiheitsbestrebungen einher gehen, sich im Handeln niederschlagen.
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Der religionssoziologisch beschriebene Zusammenhang von Religion und Lebensführung weist mehrfache Gegenläufigkeiten auf. In ihnen steckt eine Grenzdialektik gegenüber der Theologie – sozusagen auf der anderen Seite einer kaum markierten Grenze. Zum asketischen Berufsmenschen wird nur, in wem sich ein Heilsgewißheitsbedürfnis reibt mit gnadentheologischer Radikalisierung des jenseitigen Souveräns zu rechenschaftsloser Bestimmungsgewalt über Errettete und Verdammte. Den Religionssoziologen indes wird die Einsicht in die Funktion der praedestinatio gemina kaum zum Calvinisten konvertieren lassen. Als Genetiker der Moderne kommt er überdies zu spät. Auch die religionssoziologische Eule der Minerva beginnt in der Dämmerung ihren Flug. Gleichwohl bleibt die Problematik der Rationalisierung angesichts der Konfrontation mit Irrationalem, dem Schatten von Rationalität. Der Impuls zur Rationalisierung ist nicht rational, und er haftet an der Subjektivität der Sinnform.28 Davon hängt auch die soziologische Rationalität ab. Darum hält die Religionssoziologie einen Platz für Theologie frei, wenigstens momentan. Ebendarum kann eine kluge Theologie nicht bestrebt sein, an deren Stelle zu treten. Gleiches möchte auch umgekehrt gelten. 3. Zur Institutionalität einer spannungsvollen Dialektik Theologie und Religionswissenschaft ersetzen sich nicht, ergänzen sich aber ebenso wenig bloß äußerlich. Beide haben in ihrer Eigenlogik Platzhalter für das, was auf der anderen Seite steht. Ebendarum sind Formeln wie ‚Theologie oder Religionswissenschaft‘, aber auch ‚Theologie als Religionswissenschaft‘ unzutreffend, mögen sie auch politisch oder publizistisch nach vorn gespielt werden. Stattdessen ist die spannungsvolle Dialektik zwischen beiden Disziplinen und ihren Logiken auf Dauer zu stellen. Nur hierdurch bleibt die Herausforderung lebendig, mit dem Blick auf das Andere blinde Flecken im eigenen Gesichtsfeld aufzuklären.29 Für die Religionswissenschaft bedeutet dies, den Übergang zur subjek28
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Mit ihr ist auch das Thema der Individualität verbunden. Denn Sinn ist stets Sinn für jemanden, und Sinn impliziert zugleich den Ausgriff auf immer weitere Kontextualisierung und Einheitsstiftung. Sinn geht auf weiteren Sinn – und ist doch nur Sinn für jemanden. Dieser Jemand ist nicht auch ein Anderer, sowenig ein Fürsich allein für sich sein kann und sosehr es sich qua Sinnkontextualität immanent transzendiert. Dies geschieht, um im Bild zu bleiben, indem dessen Blickwinkel mit der ei-
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tiven Vollzugsdimension sinnhaften Erlebens und Deutens in den Horizont zu nehmen, ohne die analytische Beschreibung aufzugeben. Religiöse Normativitätsansprüche und Handlungsimpulse sind empirische Tatsachen; sie müssen empirisch beschrieben werden, bedürfen aber auch der normativen Beurteilung. Damit verflicht sich wissenschaftliche Religionsbefassung mit einer elementaren Dimension ihres Themas. Nicht umsonst hat gerade der religionssoziologisch versierte Ernst Troeltsch eine „Religionsforschung“ in ihre Schranken gewiesen, die „ohne religiöse Stellungnahme“ auszukommen meint.30 Religionsforschung mit religiöser Stellungnahme geht in Theologie über. Damit sie indes Forschung bleibt und nicht bloß subjektive religiöse Stellungnahme ohne Rechenschaft vor einem auf Intersubjektivität und Objektivierung drängenden Forum ist, bedarf sie ihrerseits religionswissenschaftlicher Kompetenz. Religionsurteile sollten tunlichst reflektiert ergehen, und dazu ist eine momentane Distanz zum eigenen Religionsvollzug unentbehrlich. In akademischer Hinsicht wird diese durch Religionswissenschaft evoziert. Indem die Theologie sich für Fragen und Methoden der Religionswissenschaft öffnet, trägt sie zu einer reflexiven Selbstdistanz des Religionsgeschehens bei, auf das sie in der Form Stellung nehmender Beurteilung bezogen bleibt. Paul Tillich hat nicht zu Unrecht die Formel von der Theologie als normativer Religionswissenschaft geprägt.31 Sie darf allerdings nicht überdehnt werden, sonst bleibt mit der Differenz der Disziplinen auch deren dialektische Spannung auf der Strecke. In diesem Sinne ist eine für Religionswissenschaft offene Theologie Religionsaufklärung durch Schärfung der Urteilskraft. Die Öffnung zu religionswissenschaftlichen Methoden kennzeichnet die Entwicklung
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genen Perspektive gekreuzt wird und zu einer Perspektivenverschiebung durch Perspektiverweiterung führt. Ernst Troeltsch: Die Trennung von Staat und Kirche, der staatliche Religionsunterricht und die theologischen Fakultäten, Tübingen 1907, S. 40. Vgl. Paul Tillich: Über die Idee einer Theologie der Kultur, in: ders.: Die religiöse Substanz der Kultur, Gesammelte Werke, hrsg. von Renate Albrecht, Band 9, Stuttgart 1967, S. 13–31, hier S. 14. – Auf religionswissenschaftlicher Seite erachtet Joachim Wach eine normative Dimension im Religionsverständnis für unabdingbar. Wenngleich der Ahnherr der Chicagoer Tradition vergleichender Religionswissenschaft Religion im Zeichen existentiell bedeutsamer Erfahrungen von ‚Letzter Wirklichkeit‘ versteht, die mit einem inhaltlichen Akzent auf schöpferischer Spontaneität formal Rudolf Ottos ‚Heiligem‘ entspricht, so erinnert die permanente Kritik aller endlichen Manifestationsgestalten von dieser Wirklichkeit an Tillich. Vgl. Joachim Wach: Vergleichende Religionsforschung, Stuttgart 1962, bes. S. 53 ff.
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der Theologie seit der Aufklärung – freilich mit vielen Zickzacklinien. Während historisch-philologische Methoden fest etabliert wurden, besteht in kulturwissenschaftlicher Hinsicht Nachholbedarf. Wenn mit der Stellungnahme der praktische Vollzug von Religion als Phänomen des Lebens in den akademischen Horizont tritt, ist zugleich nach der praktischen Lebensdimension der beiden religionsbefassten Disziplinen zu fragen. Damit tritt ihre institutionelle Funktion im Wissenschaftskontext in den Blick. Beide haben gemein, daß sie zwar Religion thematisieren, aber nicht produzieren. Darum ermöglicht ihre professionelle Religionssensibilität eine kritische Funktion in der universitas litterarum. Sie steht dafür, daß Wissenschaft nicht selbst zur Religion oder Ähnlichem mutiert. Religionshaltige ideologische Verwerfungen finden sich in der Wissenschaft zuhaufe, nicht nur in den Zeiten eines totalitären Menschenbildes oder Staatsverständnisses. Wissenschaft muß mit der Dauerkränkung angesichts permanenter Überholung ihrer Erkenntnisse umgehen; sie kann bei allem notwendigen Forscherdrang nicht unkritisch den take off in visionäre Räume etwa der Verbindung von Mensch und Maschine ohne Trübung durch Nachdenklichkeit mit Bodenhaftung im Hier und Jetzt befeuern wollen. Theologie wie Religionswissenschaft haben in der akademischen Welt die Funktion eines kritischen Regulativs. Zugleich fungieren sie im Idealfall als wechselseitiges Korrektiv. Dies betrifft Umgangsweisen mit Religion, in denen die Disziplinen selbst zur Religionsproduktion mutieren In der Religionswissenschaft zeigt sich dies etwa in den schon älteren Versuchen zu neuen Religionsstiftungen auf naturalistischem Boden.32 Religionswissenschaft kann auch zum Zeitgeistkult werden, etwa in der Hochkonjunktur feministischer Hexenforschung mit praktischen Ritualübungen. Ähnliches gilt für die Theologie. Sie kann die Autoritätssemantik des älteren Theismus zum Weltanschauungsersatz erheben, zur Liebeslyrik in göttlichen Dingen degenerieren, aber auch dem Problem patriarchaler Symbolik in den biblischen Traditionen mit Re-Kreation ‚geschlechtergerechter‘ Religionsquellen ausweichen, um in die Segensaura von political-correctnessHeiligkeit zu geraten. Pluralität und Konkurrenz von Theologie und Religionswissenschaft steigern die kritische Aufmerksamkeit. Gleichwohl unterscheiden sich die Disziplinen in ihrer praktischen Funktion. Bei der Theologie verbinden sich die akademischen Aufgaben des Regulativs und der urteilsstarken Aufklärung in Religionsdin32
Vgl. Friedrich Wilhelm Graf: Die Wiederkehr der Götter. Religionen in der modernen Kultur, München 2004, S. 231 f.
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gen mit praktischen institutionellen Ausbildungs- und Steuerungsfunktionen für die Kirchen. Auch eine kultur- und religionswissenschaftlich erweiterte Theologie ist auf religionspraktische Kommunikationsvollzüge in frommen Gemeinschaften gewiesen. Sie erfüllt Ausbildungsfunktionen für das geistliche Personal – was cum grano salis auch für die Befähigung zum Lehramt im Religionsunterricht zutrifft. Von hier aus rollte Troeltsch die Debatte auf. Er griff die alte Universitätseinteilung in obere, dem Staatsdienst für zeitliches Wohl, zeitliche Ordnung und ewiges Heil zugeordnete, und untere, der wissenschaftlichen Erkenntnis und Kritik gewidmete Fakultäten auf. Heute wird allerdings die Begründung und Begrenzung der Theologie als konfessionelle Disziplin an staatlichen Universitäten von der verfassungsrechtlichen Grundnorm der Religionsfreiheit bestimmt.33 In ihr liegt die Ausbildungsfunktion für konfessionelle Religionsinstitutionen begründet. Eine solche kennt Religionswissenschaft allenfalls mittelbar, über Bezüge auf theologische oder pädagogische Disziplinen. Sofern sie diesen nicht zugeordnet sind, bilden die Religionswissenschaften Teile der in der Philosophischen Fakultät34 angesiedelten Kulturwissenschaften.35 Ihr institutioneller Lebensbezug ist über die Universität vermittelt. Darin nehmen sie die Rolle eines Diskurspartners im ‚Streit der Fakultäten‘ ein, der als wissenschaftlicher öffentlich inszeniert gehört. In diesem Streit muß auch die andere, theologische Seite die Stimme erheben, anderenfalls läuft er leer. Systematisch wurzelt die Rolle der Theologie im Fakultätenstreit darin, daß es eine Vernunftangelegenheit ist, die historisch-kontingente Dimension der in der Religion enthaltenen, stets im Werden begriffenen Vernunft wahrzunehmen. Als andere Seite des Allgemeinen gehört das Kontingente in den Horizont dialektischer 33
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Genauer wäre von der positiv-institutionellen, mit der negativen in Ausgleich zu bringenden Seite der Religionsfreiheit zu sprechen. Vgl. vom Vf.: Geäußertes Inneres. Das Religionsrecht und die Dialektik der Freiheit, in: ders.: Selbstbewußtsein individueller Freiheit. Religionstheoretische Erkundungen in protestantischer Perspektive, Tübingen 2005, S. 407 ff. Oder in deren ausdifferenzierten Nachfolgegestalten. Die erst in der neueren Universitätsorganisation verselbständigte Pädagogik nimmt freilich eine Sonderstellung in der Einteilung der Fakultäten ein – so sehr große Teile der Philosophischen Fakultät faktisch mit Lehrerbildung befaßt sind. Darin entsprechen sie den unterschiedlichen Dimensionen von Kulturwissenschaften, sei es in einem historisch-philologischen Gepräge der Religionswissenschaften, sei es mit sozialwissenschaftlichem Akzent oder auch als Teil der vielfältigen area studies.
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Vernunft. Diese Dialektik wird in den geschichtlich-positiven Religionen manifest, nicht im Esperanto reiner Vernunftreligion. Insofern geschichtliche Religionen institutionelle Vergemeinschaftungsformen ausbilden, kann ein sozialtheoretisch reflektiertes Theologiekonzept wie das Schleiermachersche Theologie als ‚positive‘ Wissenschaft über praktische Bildungs- und Leitungsfunktionen für empirische kirchliche Gemeinschaften bestimmen. Insofern sich religiöses Interesse und wissenschaftlicher Geist durchdringen sollen, beerbt Schleiermacher ein Motiv von Kants Fakultätenstreit, nämlich Korrektur durch Kritik.36 Er macht es unter Aufspaltung in kleinste Limitationsdifferentiale zum Maßstab der Wissenschaft und Kirche vermittelnden Theologie. Darin ist ihm Troeltsch – mit manchen Modifikationen aus Hegelschem Erbe – gefolgt. Troeltsch entwirft ein sozial- und kulturtheoretisches Konzept, das die Universitätstheologie als Gipfel des kulturstaatlichen Religionsunterrichts versteht.37 Dessen Bildungsauftrag erwächst aus dem Verhältnis von Staat und Kirche, das der „inneren Stellung der Gesellschaft zum religiösen Leben“ entspricht.38 Mit einem historischen Blick auf die Herkunft der modernen Verhältnisse von souveränem Macht- und Rechtsstaat und einer Pluralität von Kirchen, die der geschichtlichen Verschiebung von Religion zur Offenbarung im Subjektiven entspricht, betont Troeltsch die relativen Vorzüge dieses – freilich mit „Gebrechen“ belasteten – Modells der kulturstaatlichen Kooperation im Bildungswesen gegenüber hartem Laizismus und machtgierigem Staatskult, aber auch gegenüber Restaurationsversuchen einer autoritativen Einheitskirche.39 Innerhalb dieser Kooperation solle der Religionsunterricht vorwiegend „historisch“ ausgerichtet sein, aber zugleich von einem „festen Zentrum“ 36
37 38 39
Ob sich dies unmittelbar beim hiervon geprägten Ideal des ‚Kirchenfürsten‘ nahe legt, sei dahingestellt. Vgl. Friedrich Schleiermacher: Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen, hrsg. von Heinrich Scholz, Nachdruck Hildesheim 1977, § 9. Vgl. zum systematischen Erbe des Fakultätenstreits Schleiermachers Vorschlag, die Grenzen zwischen den Fakultäten für Universitätsprofessoren durchlässig zu machen: Friedrich Schleiermacher: Gelegentliche Gedanken über Universitäten im deutschen Sinne, in: ders.: Werke, Auswahl in vier Bänden, hrsg. von Otto Braun und Johannes Bauer, Band 4, Leipzig 1927/1928, Nachdruck Aalen 1981, S. 533 ff., hier S. 584 f. Ernst Troeltsch: Die Trennung von Staat und Kirche (wie Anm. 30), S. 6. Ebd., S. 7. Ebd., S. 51. Eine Trennung verschiebt nach Troeltsch das Problem nur, löst es aber nicht.
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ausgehen.40 Ähnliches gilt für die theologischen Fakultäten. Deren Aufgaben würden unbeschadet der erwünschten Integration neuer religionsgeschichtlicher Forschungszweige fortbestehen; selbst eine „neue“, dem „eigentlichen Geist der Wissenschaft rücksichtsloser dienen[de]“ Fakultät „würde [. . .] keine grundsätzliche Aufhebung der alten sein“.41 Daß die Stärkung der historisch-wissenschaftlichen Perspektive es erlaubt, „alte und neue Fakultät“ und damit „auch in Zukunft die Religionswissenschaft und die Kultusgemeinschaft [zu] verbinden“, basiert für Troeltsch darauf, daß das um den „Glauben an das Personwerden des Menschen durch die Hingabe an Gott“ zentrierte Christentum „die höchste uns gegebene Religionsstufe“ ist.42 Damit sind die Problemknäuel der großen Lebensthemen Troeltschs geschürzt: also die Absolutheit des Christentums trotz historistischem Relativismus, die auf das Personalitätsideal abstellende Kultursynthese des Europäismus und die Religionshaltigkeit auch der modernen Welt, für die ein von Autoritätssemantik befreiter, in der ‚elastisch‘ gemachten Volkskirche kommunizierter Gottesglaube signifikant ist. Die von Troeltsch subtil diagnostizierten Probleme lassen sich nicht wie ein gordischer Knoten durchschlagen. Dennoch verlangen Troeltschs Diagnosen nicht immer therapeutische Gefolgschaft – schon weil sich trotz historisch beschriebener Entzweiungsgeschichte der Moderne letztlich alles allzu gut zusammenfügt. Fragen evoziert insbesondere der tragende Schlußstein des Religions- und Gottesverständnisses. Mit Troeltsch sei betont, daß die fein tarierte institutionenpolitische wie wissenschaftsmethodische Konzeption an einem veritablen, intersubjektiv kommunizierbaren Religionsbegriff haftet. Religion muß sich als eine Größe erweisen lassen, die mit dem menschlichen Geistes- und Kulturleben verzahnt, aber auch irgendwie ‚selbständig‘ ist.43 Ihr ‚Apriori‘ ist subjektive Gewißheit. Gegen Troeltsch sei jedoch betont, daß sein damit kombiniertes Konzept einer „absoluten Substanzbeziehung“44 als Kern 40 41 42 43
44
Ebd., S. 61, S. 60. Ebd., S. 67. Ebd., S. 62, S. 68. Anderenfalls wären andere Wissenschaften zuständig oder eine Praxis des professionellen Umgangs mit Pathologien. Ernst Troeltsch: Das Wesen der Religion und der Religionswissenschaft, in: ders.: Zur religiösen Lage, Religionsphilosophie und Ethik (Ernst Troeltsch: Gesammelte Schriften, Band 2), 2. Aufl., Tübingen 1922, Neudruck Aalen 1981, S. 452–499, hier S. 494.
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des Gültigkeits- oder Wahrheitswerts der Religion nicht genügt. Hier steht allein das Moment der Mystik, von Troeltsch als „Urphänomen aller Religion“ apostrophiert, im Vordergrund. Damit korrespondiert, daß alle Geschichte letztlich in einem göttlichen ‚All-Leben‘ zusammenläuft.45 Ein solcher Akzent im Religionsbegriff kann nicht aufnehmen, was sich bei dem Historiker Troeltsch selbst sensibel wahrgenommen findet: Die Unwahrscheinlichkeit der geschichtlichen Entwicklung sozialer Letztgeltung des Individuums und die kontingente Evidenz diesbezüglicher religiöser Deutungen, der Unableitbarkeit von Subjektivität entsprechend. Und dieser Religionsbegriff kann nicht integrieren, was gerade Troeltschs Konzept von Staat und Kirche, in dem sich äußere Macht und innerliche Religion ebenso fremd bleiben wie sie aufeinander angewiesenen sind, betont: Die in deren Verhältnis unaufhebbar steckende Irrationalität.46 Solche Irrationalität müßte Platz finden in der Rationalität eines umfassenderen Religionsbegriffs. Dazu noch knappe Schlußüberlegungen. 4. ‚Religion‘ und ihre Mehrdimensionalität Das Schnittfeld von Theologie und Religionswissenschaft bildet die Erkundung von Phänomenen, die aus unterschiedlicher Optik heraus als ‚Religion‘ bezeichnet werden. Damit stellt sich das Dilemma, diesen Begriff verständlich und mitteilbar zu halten, obwohl das mit ihm Gemeinte stets in perspektivischer Gebrochenheit erscheint. Dieses Dilemma weist auf das weitere, daß Religion für beide Fächer eine plausible Eigenart besitzt, obwohl sie immer nur in, mit und unter weiteren kulturellen Formen praktiziert wird. Mit diesen Dilemmata verbindet sich das aus Troeltschs und Webers Analysen erwachsende Erfordernis, dem geschichtlich Kontingenten und Irrationalen einen Ort zu geben, gerade wenn Religion ein angemessener Umgang hiermit sein soll. Diesen
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Ebd., S. 493; vgl. Ernst Troeltsch: Der Historismus und seine Probleme (Gesammelte Schriften, Band 3), Tübingen 1922, S. 87 u. ö., jetzt in: ders.: Der Historismus und seine Probleme. Erstes Buch: Das logische Problem der Geschichtsphilosophie (1922), hg. von Friedrich Wilhelm Graf in Zusammenarbeit mit Matthias Schloßberger (Ernst Troeltsch: Kritische Gesamtausgabe, Band 16), Berlin, New York 2008, S. 266 u. ö. Vgl. ebd., S. 56 f.
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Anforderungen wird kein Religionsbegriff gänzlich Genüge tun. Gleichwohl ist der Religionsbegriff unentbehrlich. Deshalb sei erwogen, den Religionsbegriff zunächst in pragmatischer Absicht zu gebrauchen. Er fungiert als Suchinstrument und Verständigungsmedium zwischen Verschiedenen über Phänomene, die in unterschiedlicher Weise als religiös qualifiziert und damit von Anderem abgehoben werden. Sie dürften darin ein Gemeinsames haben, daß sie mit Sinndeutungen einhergehen, die trotz Alternativen als evident erlebt werden. In solch pragmatischer Verwendung zeigt sich Religion als Begriff mit einer inneren Übergangsdynamik. Zudem muß der Sinnbezug von Religion auch irgendwie Sinn für die geben, die ihn in unterschiedlichen Perspektiven wissenschaftlich thematisieren. Einleuchten muß einleuchten können, gerade angesichts von Alternativen. Damit sind diese Alternativen im Horizont, sei es als zuvor, danach oder daneben befolgte, sei es als ausgeschlossene. So werden Konversionen und Synkretismen faßbar, aber auch Offenbarung, Konfession und Überzeugung. Intersubjektive Mitteilung und Präsenz von Alternativen im Zeichen von ‚Religion‘ bedeutet, daß dem Begriff stets auch eine holistische, aufs Universale gerichtete Tendenz innewohnt. Wird hierin seine Gültigkeit reflektiert, gerät diese Reflexion selbst in den Universalitätssog des Reflexionsbegriffs. Die durch Reflexion geleitete Religionstheorie47 tendiert kraft innerer Logik zu einer Ganzheit, in die sie selbst einbegriffen ist. Damit gewinnt die Religionstheorie selbst ein kultisches, nämlich theoretisch-kontemplatives Moment. Damit verliert sich jedoch die pragmatische Dimension des Begriffs. Sie wird akzentuiert, wenn Momente von Positionierung durch Festlegung oder Entscheidung ins Spiel kommen. Eine Seite wird für die andere erkennbar und damit auch für sich selbst. Solche Positionierung ist letztlich irrational. Ihre Irrationalität läßt sich nicht umgehen, sondern nur rationalisieren. Erfaßt die Religionstheorie dies, so bezieht sie sich auf ein Oppositum zum Universalen. Auch dies gehört zu ihrem philosophischen Begriff. Damit geht die Religionstheorie momentan zu einer gegenläufigen Dimension von praktisch vollzogener Religion über. Religion hat es offenbar mit der spannungsvollen Dynamik zwischen der Tendenz zum Ganzen und der Akzentuierung eines unableitbar Eigenen zu tun: Ihr Ort sind Grenzübergänge zwischen beidem. Eine religionsphilosophisch auf Grenzübergänge aufmerksame Religionstheorie partizipiert ihrerseits aus kategorialen Gründen an religiösen Strukturmomenten – 47
Diese Religionstheorie weist ein religionsphilosophisches Gepräge auf.
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und distanziert sich doch zugleich auch. Empirisch läßt sich dasselbe anders sagen: Religionswissenschaft wie Theologie agieren immer auch als Bestandteile der Religionsgeschichte, die sie analysieren.48 Gut, wenn sie wissen, was sie tun. Grenzübergänge werden immer nur von einer Seite aus angepeilt. Die Einheit von Ganzheit und Eigenheit mag sich als coincidentia oppositorum einem absoluten Blick von nirgendwo darstellen. Dieser göttliche Blick ist aller auch nur visuellen Kommunikation, und sei es der des Blickwechsels, überhoben. Für uns stellt sich das Verhältnis zur Grenze anders. Darin sind wir vom Absoluten geschieden. Man mag das aufheben oder verstärken wollen, je nach Religionstyp. Protestantisch ist es, das Jenseits durch die Unterscheidung von Divinem und Humanem zur Kraft des Diesseits zu machen. Die Irrationalität von Religion wird über Verschiebung ins Gottesverhältnis zugleich zum Möglichkeitsgrund menschlich-individueller Freiheit. Es geht auch anders, wie die Religionstheorie weiß – freilich mit anderen Folgen für Handeln und Lebensführung.
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Die Frage nach den geschichtlichen Veränderungen von Religion und ihrem historischen Ort in der Gegenwart bestimmt mithin auch die Religionstheorie. Die Annahme, daß Religion durch die funktionale Rationalität der Moderne obsolet werden sollte, hätte auch Konsequenzen für die praktische Rolle der Religionstheorie: Sie gehörte damit selbst ins Museum – günstigstenfalls als Kristallisationsort des kulturellen Gedächtnisses. Diese Frage kann hier nicht weiter verfolgt werden. Vgl. dazu vom Vf.: Selbstbewußsein individueller Freiheit (wie Anm. 33), Teil I.
Religion als Thema der Politikwissenschaft Michael Minkenberg 1. Einleitung: Religion und Konjunktur Die Aufmerksamkeit, welche in den vergangenen Jahrzehnten die Politik und die Politikwissenschaft der Religion und ihrer Rolle in der Öffentlichkeit entgegen gebracht haben und noch bringen, ist stark konjunkturabhängig. Es ist eine Konjunktur außeralltäglicher Krisen und Konflikte, die jenseits ökonomischer Schwankungen, sozialer Problemlagen und des darauf bezogenen politischen Konfliktmanagements liegen und die Koordinaten traditioneller Machtpolitik im Innern wie im Äußeren durchbrechen. Es begann mit zwei zeitgleichen Entwicklungen in den USA und im Iran, zwei „Revolutionen“. In den USA wurde der irritierende Aufstieg der fundamentalistischen christlichen Rechten und der ihr zu einem beträchtlichen Teil zugeschriebene Wahlerfolg Ronald Reagans im Jahre 1980 verzeichnet – die sog. „Reagan Revolution“. Im Iran wurde 1979 das pro-westliche Regime des Schah gestürzt und durch ein theokratisches Mullah-Regime ersetzt – die iranische Revolution. Die beiden „Revolutionen“ erschreckten vor allem diejenigen, die an die weiter schwindende Bedeutung von Religion als politischem Faktor glaubten und dem im politikwissenschaftlichen wie auch gesamtgesellschaftlichen mainstream vorherrschenden Säkularisierungsparadigma verhaftet waren. Dazu kam noch eine ebenfalls stark irritierende (welt)politische Betätigung des polnischen Papstes Johannes Paul II., der einen substanziellen Beitrag zur Erosion des sowjetischen Imperiums beizutragen gewillt war.1 Während nach dem Berliner Mauerfall das höchst säkulare Geschäft des Systemwandels in Mittel- und Osteuropa, die anstehenden Erweiterungsrunden der EU und die Globalisierungsdebatte die internationalen Agenden füllten, bahnte sich eine neue Konjunktur des Religions1
Vgl. N. J. Demerath III: Crossing the Gods: World Religions and Worldly Politics, New Brunswick 2001, S. X.
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themas an. Bereits Mitte der 1990er Jahre verkündete Samuel Huntington2 einen bevorstehenden internationalen Zivilisations- und im Kern letztlich Religionskonflikt, als Ablösung für den die internationale Ordnung, aber auch die inneren Verhältnisse der westlichen Welt 40 Jahre lang dominierenden Kalten Krieg. Der 11. September 2001 wurde denn auch von vielen als Bestätigung dieser Prognose empfunden, und seitdem konzentriert sich die politische und politikwissenschaftliche Aufmerksamkeit (wiederum) vor allem auf diejenigen Facetten von Religion, die für die Demokratie, für den Weltfrieden und, etwas konkreter, für die westlichen Werte bzw. westliche Welt als besonders störend oder gefährlich, kurzum als Abweichung von der säkularen und modernen Norm empfunden werden: der weltweite islamistische Terror, der antiwestliche Fundamentalismus im Mittleren Osten, die sog. „neuen Kriege“, hinter denen nicht selten auch religiöse Interessen und Werte stehen oder vermutet werden.3 Zweifellos verdienen diese Phänomene gebührende Aufmerksamkeit. Was diese Fokussierung jedoch bisher bewirkt hat ist, daß Religion als „normaler Faktor“ innerhalb westlicher Demokratien nur selten in den Blick gerät. Dabei weisen eine Vielzahl von aktuellen Entwicklungen und Auseinandersetzungen, wie diejenigen um Kruzifixe und Kopftücher in deutschen und französischen Schulen, um die kulturellen Grenzen der EU und den Gottesbezug in der Präambel der künftigen EU-Verfassung, um die Krise des Sozialstaates und die soziale Rolle von Kirchen sowie ganz generell um die Haltung des Islam zur Demokratie bzw. die Haltung der Demokratie zum Islam darauf hin, daß Religion als Faktor politischer Ordnung und Prozesse längst auf unterschiedlichen Ebenen seinen Wiedereinzug gehalten hat. Die Frage dieses Beitrags lautet nun: wie nähert sich die Politikwissenschaft der Religion heute, welchen Stellenwert kann die Religion als Forschungsthema in der Politikwissenschaft beanspruchen? In diesem Beitrag steht also die These von der Rückkehr der Religion in die Politik aus politikwissenschaftlicher Sicht im Mittelpunkt. Er wendet sich damit 2
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Samuel P. Huntington: The Clash of Civilizations?, in: Foreign Affairs, Band 72, 3 (1993), S. 22–49; ders.: The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order, New York 1996. Herfried Münkler: Die neuen Kriege, Reinbek 2002; Leonard B. Weinberg, William L. Eubank: Terrorism and Democracy: What Recent Events Disclose, in: Terrorism and Political Violence, Band 10 (1), 1998, S. 108–118; Jeffrey Kaplan: Introduction, in: Terrorism and Political Violence, Band 14 (1), 2002, S. 1–24.
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an einen besonders in Deutschland noch recht jungen und weitgehend peripheren Forschungsstrang in der Politikwissenschaft, welcher unter dem Eindruck der o. g. Entwicklungen dabei ist, sein Nischendasein zu verlassen.4 Welthistorisch betrachtet, ist das Thema „Politik und Religion“ allerdings alles andere als neu. Es sei hier nur auf die klassischen Beispiele von Augustinus’ Gottesstaat und dessen Bestimmung des Verhältnisses von Sacerdotium und Imperium, auf das Alte Testament und den Bund zwischen Jahwe und dem jüdischen Volk oder auf Homers Ilias und das dort beschriebene Eingreifen der Götter in die Politik der Griechen verwiesen. Die Wurzeln der bewußten Auseinandersetzung mit Politik und Religion lassen sich auf die von Karl Jaspers beschriebene „Achsenzeit“ etwa 500 v. Chr. zurückführen. Deren Kennzeichen ist nach Shmuel Eisenstadt die Institutionalisierung „einer neuen ontologischen Konzeption der Trennung zwischen dem Transzendenten und dem Weltlichen“5, d. h. die Differenzierung zwischen Staat/Politik und Religion und damit die Entstehung eines Verhältnisses zwischen diesen beiden Bereichen. Wie noch weiter auszuführen ist, ist die vielbeschworene Rückkehr der Religion, auch in die Politik und die Politikwissenschaft, keine echte Rückkehr. Sie verdankt sich vielmehr dem „Gründungsmythos der Moderne“. Diesem zufolge – so Hans-Joachim Höhn in seinem Buch „Postsäkular“ (2007)6 – sollte die Religion modernisierungsbedingt vom Säkularen abgelöst werden. Nach Höhn jedoch war dies eine wirkungslose Strategie: „Wenn säkulare Mächte die Macht übernehmen wollen, die ehedem der Religion zukam, müssen sie sich selbst Merkmale des Religiösen zulegen.“7 Die Politikwissenschaft hat dies in ihrem mainstream 4
5
6
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Vgl. u. a. Manfred Brocker, Hartmut Behr, Mathias Hildebrandt (Hg.): Religion – Staat – Politik, Wiesbaden 2003; Mathias Hildebrandt, Manfred Brocker, Hartmut Behr (Hg.): Säkularisierung und Resakralisierung in westlichen Gesellschaften, Wiesbaden 2001; Heinz-Dieter Meyer, Michael Minkenberg, Ilona Ostner (Hg.): Religion und Politik. Zwischen Universalismus und Partikularismus, Opladen 2000; Michael Minkenberg, Ulrich Willems (Hg.): Politik und Religion (PVS-Sonderheft 33), Wiesbaden 2003. Shmuel N. Eisenstadt: Religion and the Civilizational Dimensions of Politics, in: Said A. Arjomand (Hg.): The Political Dimensions of Religion, Albany, NY 1993, S. 13–41, hier S. 14, meine Übersetzung. Hans-Joachim Höhn: Postsäkular. Gesellschaft im Umbruch – Religion im Wandel, Paderborn 2007. Ebd., S. 87.
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lange Zeit übersehen. Dies hängt nicht zuletzt damit zusammen, daß die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Religion und Politik bis in die jüngere Zeit unter weitgehendem Ausschluß der Politikwissenschaft stattfand. Die diesen Zusammenhang entscheidend prägendenden Klassiker lassen sich in den Nachbar- oder Vorläuferdisziplinen, insbesondere der Soziologie finden: de Montesquieu und Durkheim, Weber und Troeltsch. Bis in die jüngste Zeit dominierten andere Fachrichtungen in der Erforschung des religiös-politischen Komplexes: Theologie, Soziologie, Geschichtswissenschaft (vor allem Religionsund Kirchengeschichte), Rechtswissenschaft, Anthropologie, Literaturwissenschaft. 2. Religion und die Dominanz des Säkularisierungsparadigmas in den Sozialwissenschaften Grundsätzlich dominiert in der Politikwissenschaft wie in ihren Nachbardisziplinen noch heute eine säkularistische Sicht vom Niedergang der Religion in der Politik westlicher Staaten. Eine Variante dieser säkularistischen Sicht besteht im Postulat des weltanschaulich neutralen säkularen Staates, das sich am ehesten durch strikte Trennung von Staat und Religion und dem prinzipiellen Vorrang des Staates gegenüber der Religion gewährleisten läßt. Diese Sichtweise gesteht der Religion in der Politik heutiger westlicher Gesellschaften durchaus eine Bedeutung und Berechtigung zu, vor allem mit Blick auf neue Religionsgemeinschaften und den Multikulturalismus, unterstreicht aber die prinzipielle Konflikthaltigkeit der Religion in der Politik und empfiehlt zur Aufrechterhaltung des inneren Friedens, daß Religion durch Entpolitisierung religiöser Identität und ihrer konsequenten Folklorisierung entschärft wird.8 Ob sich aber die staatliche Neutralität mit einem solchen Schritt noch aufrecht erhalten läßt, ist angesichts der darin enthaltenen Zumutung für die Mitglieder der davon betroffenen Religionsgemeinschaften zweifelhaft. Vor diesem Hintergrund sind für die westlichen Demokratien die großen Schlüsselfragen des Verhältnisses von Religion und Politik mit 8
Vgl. Heiner Bielefeldt: Zwischen laizistischem Kulturkampf und religiösem Integralismus: Der säkulare Rechtsstaat in der modernen Gesellschaft, in: Heiner Bielefeldt, Wilhelm Heitmeyer (Hg.): Politisierte Religion, Frankfurt a. M. 1998, S. 474–492; Rudolf Burger: Multikulturalismus im säkularen Rechtsstaat, in: Leviathan, Band 25, 1997, S. 173–185.
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wenigen Ausnahmen9 kaum umfassend und systematisch-vergleichend untersucht worden. Zu diesen Fragen gehören unter anderem diejenigen nach der Verträglichkeit von Religion und Demokratie, nach der Bedeutung des Staat-Kirche-Verhältnisses für die Politik und die Religion, insbesondere der Umsetzung des liberalen Gebots eines neutralen und säkularen Staates, nach dem religiösen Anteil am politischen input christdemokratischer und anderer Parteien und der Relevanz des religiösen Faktors für den politischen output, einschließlich der religiösen Fundierung des modernen Sozialstaates und der Politik des Multikulturalismus. Der Beitrag geht dabei von der Prämisse aus: „je stärker sich die Politik den religiösen Orientierungen eines Teils der Bürger in einem radikalen ‚Säkularismus‘ verschließt und je weniger sie berechtigte soziale Erwartungen und Orientierungsbedürfnisse zu erfüllen vermag, desto mehr wird die Religion sich politisieren, sich als Quelle alternativer Identitäten und sozialer Praxen etablieren und damit erhebliche Konflikte generieren“.10 Die hier vorgestellte und diskutierte These ist die einer Politisierung der Religion – damit einhergehend eines Bedeutungszuwachses der Religion, der nicht im Widerspruch zu allgemeinen Entwicklungen der Säkularisierung stehen muß. Sie geht davon aus, daß diese Politisierung, und damit neue Bedeutung von Religion in westlichen Demokratien im Kontext von mehreren ineinander verschränkten Prozessen stattfindet: zum einen der Prozess einer gebrochenen und nicht linear immer weiter fortschreitenden Säkularisierung und zum anderen Prozesse der gesellschaftlichen Modernisierung („Postmoderne“) und einer nicht nur ökonomischen, sondern auch kulturellen Globalisierung. Diese Prozesse münden in einer fortschreitenden Pluralisierung der kulturellen Landschaft, die eine Politisierung von Religion provoziert. 9
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Vgl. etwa Kees van Kersbergen: Social capitalism. A study of Christian Democracy and the welfare state, London 1995; Stephen Monsma, J. Christopher Soper: The Challenge of Pluralism. Church and State in Five Democracies, Lanham, MD 1997. Ulrich Willems, Michael Minkenberg: Politik und Religion im Übergang – Tendenzen und Forschungsfragen am Beginn des 21. Jahrhunderts, in: Michael Minkenberg, Ulrich Willems (Hg.): Politik und Religion (PVS-Sonderheft 33), Wiesbaden 2003, S. 13–41, hier S. 22 f.; vgl. auch Ted G. Jelen, Clyde Wilcox: Religion: The One, the Few, and the Many, in: Ted G. Jelen, Clyde Wilcox (Hg.): Religion and Politics in Comparative Perspective. The One, the Few, and the Many, Cambridge 2002, S. 1–24, hier S. 18.
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Dies bedeutet unter anderem, daß das liberale Postulat der strikten Trennung von Religion und Politik, von Staat und Kirche als Kennzeichen liberaler Demokratien zurückgewiesen und modifiziert werden muß. Dies bedeutet aber auch, daß die Selbstverständlichkeit des christlichen bzw. religiösen Selbstbezugs von Parteien der Christdemokratie auf den Prüfstand gestellt werden muß. Und es bedeutet, daß die Leistungen des modernen Wohlfahrtsstaates, der gemeinhin als säkulare Fortsetzung vormoderner religiöser (meist kirchlicher) Sicherungs- und Inklusionssysteme gilt, auch in seiner Spätphase im Übergang zum 21. Jahrhundert und im Zeichen einer allgemeinen Sozialstaatskrise auf ihren religiösen Gehalt hin abgeklopft werden müssen. Dies bedeutet allerdings nicht, daß hier die These von der Rückkehr der Religion bzw. der Umkehr des Säkularisierungsprozesses, wie sie etwa im Konzept der „Entsäkularisierung“ enthalten ist,11 vertreten werden soll (s. o.). Allerdings könnte man von einem „postsäkularen Charakter“ der Beziehung zwischen Religion und Politik in den westlichen Demokratien am Ende des 20. Jahrhunderts bzw. von einer „postsäkularen Politik“ in Angelegenheiten, die das Verhältnis von Politik zur Religion betreffen, sprechen.12 3. Neue Perspektiven und Schlüsselkategorien der politikwissenschaftlichen Forschung zu Religion und Politik Die Renaissance der Religion in der Politikwissenschaft Die Renaissance der Religion als Faktor in der Politik oder genauer die Rückkehr der Religion auf die politische – und politikwissenschaftliche – Agenda ist beileibe keine deutsche oder europäische Besonderheit.13 Auch in den weniger säkularisierten USA, in denen seit ihrer Gründung 11
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Vgl. Peter L. Berger: The Desecularization of the World: A Global Overview, in: ders. (Hg.): The Desecularization of the World. Resurgent religion and World Politics, Washington, D. C./Grand Rapids, Michigan 1999, S. 1–18; John Keane: Secularism?, in: David Marquand, Ronald L. Nettler (Hg.): Religion and Democracy, Oxford 2000, S. 5–19. Vgl. Jürgen Habermas: Zwischen Naturalismus und Religion. Philosophische Aufsätze, Frankfurt a. M. 2005; Hans-Joachim Höhn: Postsäkular (wie Anm. 6). Vgl. Friedrich Wilhelm Graf: Die Wiederkehr der Götter. Religion in der modernen Kultur, München 2004.
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und unter maßgeblicher Beteiligung europäischer Besucher (Alexis de Tocqueville, Max Weber u. a.) über das rechte Verhältnis von Religion und Politik gestritten wird, ist ein „Religionsrückkehr-Diskurs“ zu beobachten. Anfang der neunziger Jahre proklamierte eine Gruppe von namhaften Politikwissenschaftlern ein neues Forschungsprogramm in einem umfangreichen Buch mit dem Titel „Rediscovering the Religious Factor in American Politics“14 zehn Jahre später wurde von einer ebenfalls namhaften Autorengemeinschaft erkannt: „Religion Returns to the Public Square. Faith and Policy in America“15. In dieser Zeitspanne wuchs auch in anderen westlichen Demokratien, etwa in Frankreich16 und in Großbritannien17, ganz zu schweigen von den schon älteren multikulturellen Diskursen in den Niederlanden, in Kanada und Australien, das politikwissenschaftliche Interesse an grundsätzlichen und wieder für offen gehaltenen Fragen des Verhältnisses von Religion und Politik. Den Hauptteil der Veröffentlichungen zu diesem Thema machen dabei länderspezifische oder international vergleichende Untersuchungen zum Islam und seines Verhältnisses zum „Westen“ bzw. seiner Rolle für die westliche Politik aus.18 Bei der nicht auf den Islam beschränkten Analyse von Religion und Politik in westlichen Demokratien überwiegen Fallstudien einzelner Länder, die nicht selten der Gefahr parochialer Verengung der Fragestellung und der Antworten ausgesetzt sind, oder Vergleichsstudien, die als Sammelbände konzipiert mit wenigen Ausnahmen das Thema eher unsystematisch und als Ansammlung von Studien 14
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David Leege, Lyman A. Kellstedt: Rediscovering the Religious Factor in American Politics, Armonk, NY 1993. Hugh Heclo, Wilfred M. McClay (Hg.): Religion returns to the public square: faith and policy in America, Baltimore, Md. 2003. Maurice Barbier: La laïcité, Paris 1995; Danièle Hervieu-Léger: Le pélerin et le converti: la religion en mouvement, Paris 1997; ders.: La religion en miette ou la question des sectes, Paris 2001. Grace Davie: Religion in Modern Europe. A Memory Mutates, Oxford 2000; John Madeley, Zsolt Enyedi (Hg.): Church and State in Contemporary Europe. The Chimera of Neutrality, London 2003. Eine Aufzählung auch nur der wichtigsten Werke würde hier den Rahmen sprengen. Für eine dezidiert politikwissenschaftlich-vergleichende Analyse vgl. die Dreiländerstudie von Joel Fetzer, J. Christopher Soper: Muslims and the State in Britain, France and Germany, Cambridge 2005, darin auch eine umfassende Bibliographie.
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einzelner Länder aufbereiten.19 Systematische internationale Vergleichsstudien zum Verhältnis von Religion und Politik lassen sich dagegen in den außereuropäischen oder nicht-westlichen „area studies“, vor allem den auf Lateinamerika bezogenen, finden.20 Die politikwissenschaftliche Hinwendung zu diesem thematischen Komplex ging mit dessen Institutionalisierung einher. Auch hier treten die USA als Trendsetter in Erscheinung. So gibt es bei der American Political Science Association, der wichtigsten Fachvereinigung Nordamerikas, seit ca. 1987 die Sektion „Religion and Politics“.21 Die Sektion hat derzeit über 600 Mitglieder und bringt seit 2008 eine eigene Zeitschrift „Politics and Religion“ heraus. In der International Political Science Association gibt es seit 1986 die Study Group „Religion and Politics“, welche 1999 zu einem Research Committee aufgewertet wurde. In Deutschland ist die Deutsche Vereinigung für Politische Wissenschaft im Jahre 2000 nachgefolgt und hat die ad hoc-Gruppe „Politik und Religion“ eingerichtet, die inzwischen als Arbeitskreis fungiert, aus dem mehrere wohlbeachtete Sammelbände hervorgegangen sind.22 Im europäischen Verband des European Consortium of Political 19
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Ted G. Jelen, Clyde Wilcox (Hg.): Religion and Politics in Comparative Perspective. The One, the Few, and the Many, Cambridge 2002; John Madeley, Zsolt Enyedi (Hg.): Church and State in Contemporary Europe (wie Anm. 17); HeinzDieter Meyer, Michael Minkenberg, Ilona Ostner (Hg.): Religion und Politik (wie Anm. 4). Anthony Gill: Rendering unto Caesar. The Catholic Church and the State in Latin America, Chicago, London 1998; Jeff Haynes: Religion in Global Politics, London, New York 1998; Mala Htun: Sex and the State. Abortion, Divorce, and the Family Under Latin American Dictatorships and Democracies, Cambridge 2003. Das genaue Datum ließ sich bei den Beteiligten nicht mehr ermitteln. In einer Email vom 30. April 2007 wies mich einer der „founding fathers“, Matthew Moen, darauf hin, daß die Unterlagen bei einem Büroumzug verschwunden seien. Seit Juni 2000 existiert eine ad-hoc Gruppe „Politik und Religion“ in der Deutschen Vereinigung für Politikwissenschaft (DVPW); vgl. das Vorwort in Mathias Hildebrandt, Manfred Brocker, Hartmut Behr (Hg.): Säkularisierung und Resakralisierung in westlichen Gesellschaften (wie Anm. 4). Darüber hinaus hat die DVPW das alljährlich unter einem speziellen Schwerpunkt erscheinende Sonderheft ihrer Verbandszeitschrift PVS im Jahre 2002 dem Thema „Politik und Religion“ gewidmet; vgl. Michael Minkenberg, Ulrich Willems (Hg.): Politik und Religion (wie Anm. 4).
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Research schließlich gibt es seit 2006 die Standing Group „Religion and Politics“23, welche ein Jahr später zum ersten Mal auf den Joint Sessions in Helsinki in Erscheinung trat. Zudem gibt es inzwischen auf europäischer Ebene Forschungsinitiativen wie NORFACE, welche unter der Rubrik „Re-emergence of Religion as a Social Force in Europe?“ internationale Forschungsnetzwerke fördert. Der Schweizer Nationalfond hat ebenfalls ein neues großdimensioniertes und gut finanziertes Forschungsprogramm zur Erforschung der Religion „Religion, the State and Society“ aufgelegt, dem ging die Einrichtung eines Zentrums für Religion, Politik und Wirtschaft an der ETH Zürich einher. Und schließlich wurde im Zuge der Exzellenzinitiative der Bundesregierung 2007 an der Universität Münster ein Exzellenzcluster „Religion and Politics“ eingerichtet, nachdem es hier bereits vorher schon den Sonderforschungsbereich „Funktion von Religion“ gab. Wie andernorts ausführlich dargelegt,24 lassen sich neuerdings Differenzierungen und Verschiebungen im sozial- und politikwissenschaftlichen Diskurs über Religion und Politik in verschiedenen zentralen Bereichen aufzeigen: in der Auseinandersetzung um das Säkularisierungsparadigma und die Defizite des politikwissenschaftlichen Analyseinstrumentariums, in einer auch empirisch orientierten Diskussion des Verhältnisses von Religion und Demokratie, in der Problematisierung des Staat-Kirche-Verhältnisses und in der Diskussion des Zusammenhangs zwischen Globalisierung, Modernisierung und Fundamentalismus. Zweifellos haben externe Ereignisse wie der 11. September 2001 zu einer Intensivierung der Forschung auf dem Gebiet des Fundamentalismus, aber auch der tatsächlichen oder angeblichen (Un-)Vereinbarkeit bestimmter religiöser Traditionen und der liberalen Demokratie geführt (siehe hierzu weiter unten). In der USA-Forschung trug bereits wesentlich früher, nämlich in den 1980er Jahren, die Machtübernahme Ronald Reagans und der Neokonservatismus, der Aufstieg der christlichen Rechten und die Politisierung des protestantischen Fundamentalismus zu einer gewissen Konjunktur der Erforschung der neuen religiösen Einflüsse auf die Politik bei.25 Gleichwohl hat hier, vor allem aufgrund der 23
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Genauer, seit Februar 2006, vgl. European Political Science 6 (2007), S. 219– 221, doi:10.1057/palgrave.eps.2210133. Vgl. Michael Minkenberg, Ulrich Willems (Hg.): Politik und Religion (wie Anm. 4); Ulrich Willems, Michael Minkenberg: Politik und Religion im Übergang (wie Anm. 10). Iring Fetscher (Hg.): Neokonsertive und „Neue Rechte“: der Angriff gegen So-
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weitaus größeren Vitalität der Religion im öffentlichen Leben sowie seiner prononcierten politischen Rolle von den zivilreligiösen Plattformen früher Präsidenten über die anti-katholische Know-Nothing Partei in den 1840er Jahren bis hin zu John F. Kennedy und Martin Luther King, bereits vor Ronald Reagan und der christlichen Rechten und dem darauffolgenden Diskurs des „return“ das Verhältnis von Religion und Politik einen festen Platz in der Politikwissenschaft. Die zunehmende Berücksichtigung religiöser Faktoren in der Politikwissenschaft kann über die tagespolitische Aktualität hinaus aber auch in einem größeren Zusammenhang, nämlich dem von postindustriellen Kontexten und neuen Wissenschaftsreflexionen bedingten cultural turn in der Disziplin gesehen werden.26 Dieser vollzieht sich nicht nur in der von einer Rückbesinnung auf die Hermeneutik und Eric Voegelin bestimmten politischen Philosophie, sondern zunehmend auch in den empirischen Forschungsfeldern.27 So beziehen sich verschiedene Autoren explizit oder implizit insbesondere auf die immer prominentere Rolle der Wertewandelforschung und das damit zum Ausdruck kommende Interesse an Kultur und Symbolen als politischer Variable.28 Damit einhergehend ist ein Aufschwung der Politischen Kulturforschung zu beobach-
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zialstaat und liberale Demokratie in den Vereinigten Staaten, Westeuropa und der Bundesrepublik, München 1983; Wolfgang Lorig: Neokonservatives Denken in der Bundesrepublik Deutschland und den Vereinigten Staaten von Amerika: zum intellektuellen Klima in zwei politischen Kulturen, Opladen 1988; Michael Minkenberg: Neokonservatismus und Neue Rechte in den USA, BadenBaden 1990; Frank Rieger: Der amerikanische Neokonservatismus. Analyse und Kritik eines postliberalen Politikkonzepts, Wiesbaden 1989. Vgl. Hans-Joachim Höhn: Postsäkular (wie Anm. 6), S. 88; Birgit Schwelling (Hg.): Politikwissenschaft als Kulturwissenschaft. Theorien, Methoden, Problemstellungen, Wiesbaden 2004. Vgl. Birgit Schwelling: Politische Kulturforschung als kultureller Blick auf politische Phänomene. Überlegungen zu einer Neurorientierung der Politischen Kulturforschung nach dem „cultural turn“, in: Zeitschrift für Politikwissenschaft, Band 11, 2 (2001), S. 601–629; Dies.: Der kulturelle Blick auf politische Phänomene. Theorien, Methoden, Problemstellungen, in: Dies. (Hg.): Politikwissenschaft als Kulturwissenschaft (wie Anm. 26), S. 11–29. Vgl. z. B. Russell J. Dalton: Citizen Politics in Western Democracies, Chatham, NJ 1988; Ronald Inglehart: The Silent Revolution, Princeton, NJ 1977; ders.: Culture Shift in Advanced Industrial Society, Princeton, NJ 1990; Michael Minkenberg, Ronald Inglehart: Neoconservatism and Value Change in the USA: Tendencies in the Mass Public of a Post-industrial Society, in: John Gibbins
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ten, der allerdings den religiösen Faktor nur marginal einbezieht.29 Neuerdings sind Versuche zu beobachten, den Kulturbegriff von der rein auf Umfragen gestützten Einstellungsforschung zu lösen und auch Symbole und wissenszentrierte Ansätze einzubeziehen.30
Der Gegenstand der Politikwissenschaft: Politikbegriff und Struktur der Disziplin Gegenstand der Politikwissenschaft ist ganz allgemein die Erforschung politischer Strukturen und Prozesse, politischer Entscheidungen und ihrer Konsequenzen sowie die normative oder empirisch orientierte Theoriebildung. Eine derartig breite Bestimmung des Untersuchungsgegenstandes hängt entscheidend von dem zugrunde gelegten Politikbegriff ab.31 Dieser variiert in der grundlegenden politikwissenschaftlichen Literatur stark zwischen institutionalistischen Begriffen (Staat, Macht, Herrschaft), normativen Politikbegriffen (die rechte Ordnung, Freiheit, Demokratie) und konfliktorientierten Begriffen (Konflikt, Klassenkampf). Die von Gerhard Lehmbruch formulierte Begriffsbestimmung, derzufolge „Politik gesellschaftliches Handeln [ist], [. . .] welches darauf gerichtet ist, gesellschaftliche Werte verbindlich zu regeln“32, ist die mehr oder weniger direkte Übertragung des systemtheoretischen Politikbegriffs von David Easton.33 Dem entspricht die ältere und berühmte Formulierung von Harold Lasswell: in der
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(Hg.): Contemporary Political Culture. Politics in a Postmodern Age, London etc. 1989, S. 81–109; Jan van Deth, Elinor Scarborough (Hg.): The Impact of Values, Oxford 1995. Vgl. Max Kaase, Kenneth Newton (Hg.): Beliefs in Government, Band 5, Oxford 1995; Hans-Dieter Klingemann, Dieter Fuchs (Hg.): Citizens and the State, Oxford 1995; Pippa Norris (Hg.): Critical Citizens. Global Support for Democratic Government, Oxford 1999. Vgl. Birgit Schwelling: Politische Kulturforschung als kultureller Blick auf politische Phänomene (wie Anm. 27); Dies. (Hg.): Politikwissenschaft als Kulturwissenschaft (wie Anm. 26). Vgl. Ulrich von Alemann, Erhard Forndran: Methodik der Politikwissenschaft, 5. Aufl., Stuttgart 1995, S. 36 f. Zitiert in Ulrich von Alemann, Erhard Forndran: Methodik der Politikwissenschaft (wie Anm. 31), S. 37. David Easton: A Systems Analysis of Political Life, New York 1965, S. 24.
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Politik geht es um „who gets what, when, and how“.34 Dieser konfliktorientierte und systemtheoretisch begründete Politikbegriff hat sich zwar nicht umfassend durchgesetzt, bestimmt aber mehr oder weniger den mainstream des Fachgebietes, insbesondere in der vergleichenden Politikwissenschaft, so daß er auch hier zugrunde gelegt werden soll. Daran anknüpfend liegt eine politikwissenschaftliche Heuristik nahe, die vom Systembegriff ausgehend eine Bestimmung der Input- und Output-Faktoren politischer Konfliktregelungsprozesse vornimmt.35 Wichtiger als die deskriptive Erfassung der einzelnen Strukturen oder Akteure eines politischen Systems (z. B. Parteien und Verbände, Legislative und Exekutive, Bürokratie und Justiz) wären demnach die verschiedenen Funktionen eines politischen Systems, seiner Teile bzw. Subsysteme und die diesen Funktionen zugedachten „Träger“.36 Dem Richtung weisenden Werk von Gabriel Almond und G. Bingham Powell37 folgend kann man drei Funktionsbündel unterscheiden: erstens die die Normen des politischen Systems generierenden System-Funktionen von Sozialisierung, Elitenrekrutierung und Kommunikation, die alle anderen Prozesse beeinflussen, zweitens die Input-Funktionen von Interessenartikulation, Interessenaggregation, Policy-making und Policy-Implementierung (wobei den politischen Kernorganisationen und -institutionen Parteien, Verbände, Parlamente und Regierungen Schlüsselfunktionen zukommen), sowie, drittens, die Output-Funktionen von Regulierung und Verteilung durch das politische System (z. B. Steuergerechtigkeit, Normen der öffentlichen Ordnung usw.). Daran anschließend kann man auch den Politikbegriff und das Fach insgesamt gemäß der drei großen P’s differenzieren: polity – 34 35
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Harold Lasswell: Politics: who gets what, when, how, New York 1936. Vgl. Hans-Joachim Lauth, Christoph Wagner: Gegenstand, grundlegende Kategorien und Forschungsfragen der „Vergleichenden Regierungslehre“, in: HansJoachim Lauth (Hg.): Vergleichende Regierungslehre. Eine Einführung, Wiesbaden 2002, S. 16–40. Vgl. Hans Keman: Comparing across political systems: Towards positive theory development, in: Sabine Kropp, Michael Minkenberg (Hg.): Vergleichen in der Politikwissenschaft, Wiesbaden 2005, S. 198–217. Gabriel A. Almond, G. Bingham Powell: Comparative Politics. System, Process and Policy, 2. Aufl., Boston, Toronto 1978; Dies. (Hg.): Comparative Politics Today. A World View, 6. Aufl., New York 1996; vgl. auch Jürgen Hartmann: Vergleichende Regierungslehre und Systemvergleich, in: Dirk Berg-Schlosser, Ferdinand Müller-Rommel (Hg.): Vergleichende Politikwissenschaft, 3. Aufl., Opladen 1997, S. 27–48.
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die institutionelle Seite der Politik mit Staat, Verfassung und Strukturen; politics – die Konfliktregelungsprozesse selbst, die darin involvierten Akteure (z. B. Parteien, Verbände) und Konfliktthemen; policies – die unterschiedlichen Politikfelder, in denen verbindliche Entscheidungen getroffen werden (Außenpolitik, Sozialpolitik usw.) bzw. der output des politischen Systems. Im Folgenden soll nun ein Überblick über die wichtigsten Bereiche neuerer politikwissenschaftlicher Forschung über die Rolle und Bedeutung von Religion gegeben werden. Dabei wird nach der Theorie, insbesondere der Demokratietheorie, der Politikbegriff in seinen drei Dimensionen, die drei P’s, zur Strukturierung herangezogen. Schließlich seien auch einige Überlegungen zur Bedeutung des religiösen Faktors in der internationalen Politik angefügt. 4. Religion in der Demokratietheorie In der Demokratietheorie stehen sich verschiedene, zum Teil völlig entgegengesetzte Positionen zum Verhältnis zwischen Demokratie und Religion gegenüber.38 So behaupten Vertreter liberaler Theorien, daß die Demokratie in einem fundamentalen Spannungsverhältnis zur Religion steht, was eine strikte Trennung der Bereiche von Politik und Religion, d. h. einen neutralen und säkularen Staat sowie die Privatisierung der Religion erfordert, um Demokratie zu gewährleisten.39 Diese Perspektive knüpft an ältere, auf John Locke und John St. Mill zurückgehende Konzepte eines in kultureller und religiöser Hinsicht neutralen Staates an, welcher seine Tätigkeiten weder auf der Basis der Überlegenheit noch auf derjenigen der Unterlegenheit bestimmter Entwürfe des „guten Lebens“ legitimiert. Damit werde die moralische Autonomie der Bürger sowie eine universelle Gerechtigkeitsidee respektiert.40 Aus dem libera38
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Vgl. hierzu Michael Minkenberg: Democracy and Religion: Theoretical and Empirical Observations on the Relationship between Christianity, Islam, and Liberal Democracy, in: Journal of Ethnic and Migration Studies 33 (2007), 6 (August), S. 887–909. Vgl. etwa Robert Audi: Liberal Democracy and the Place of Religion in Politics, in: ders., Nicolas Woltersdorff: Religion in the Public Square. The Place of Religious Conviction in Political Debate, Lanham, MD 1997, S. 1–66; John Rawls: Political Liberalism, New York 1993. Vgl. den Überblick bei John Madeley: European Liberal Democracy and the
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len Lager selbst gibt es allerdings zunehmend Kritik an diesem Neutralitätspostulat, wie die jüngeren Schriften des liberalen Multikulturalisten Will Kymlicka zeigen.41 Die französische Debatte geht noch über die amerikanische insofern hinaus, als sie direkte Bezüge zu nationalen Regelungen enthält. So sieht Jean Baubérot die Laïzität als Grundlage jeglicher Gewissens- und Gedankenfreiheit und daher als Fundament einer liberalen Demokratie, auch wenn er dafür plädiert, den frontalen Konflikt zwischen säkularer Republik und organisierter (katholischer) Religion durch einen „pacte laïque“ zu ersetzen.42 Ähnlich argumentiert der deutsche Soziologie Heiner Bielefeldt, für den „Säkularität“ und Religionsfreiheit zwei Seiten derselben Medaille sind.43 Diese Position ist inzwischen nicht nur von Kommunitaristen, sondern von verschiedenen Seiten der Demokratietheorie, wie etwa von Alfred Stepan44, unter Beschuß geraten. Auch Ulrich Willems45 hat in der deutschen Diskussion das strikte Neutralitäts- und Trennungsgebot aus demokratietheoretischer Sicht in Frage gestellt. Diese Kritiker arbeiten die Zumutungen heraus, die ein solches Neutralitätsgebot für viele Religionsgemeinschaften darstellt, deren Religionsfreiheit im öffentlichen Raum dadurch beschnitten wird, daß sie sich als private Religion darstellen müssen. Eine Gegenposition zum liberalen Trennungs- und Neutralitätsgebot behauptet, daß Demokratie auf vorpolitische Ressourcen des Zusammenhalts, und hier insbesondere die Religion als kulturell integrierende
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Principle of State Religious Neutrality, in: ders., Zsolt Enyedi (Hg.): Church and State in Contemporary Europe (wie Anm. 17), S. 1–22, hier S. 5 f. Will Kymlicka: Multicultural Citizenship, Oxford 1995; ders.: Politics in the Vernacular. Nationalism, Multiculturalism, and Citizenship, Oxford 2001. Jean Baubérot: La morale laïque contre l’ordre moral, Paris 1997; ders.: La laïcité comme ‚pacte laïque‘, Papier auf der Jahrestagung der Association française de science politique, Rennes 1999; vgl. auch Maurice Barbier: La laïcité (wie Anm. 16). Heiner Bielefeldt: Zwischen laizistischem Kulturkampf und religiösem Integralismus (wie Anm. 8), S. 485 f.; vgl. auch Rudolf Burger: Multikulturalismus im säkularen Rechtsstaat (wie Anm. 8). Alfred Stepan: Religion, Democracy, and the „Twin Tolerations“, in: Journal of Democracy 11 (Okt. 2000), S. 37–57. Ulrich Willems: Religion als Privatsache? Eine kritische Auseinandersetzung mit dem liberalen Prinzip einer strikten Trennung von Politik und Religion, in: Michael Minkenberg, Ulrich Willems (Hg.): Politik und Religion (PVSSonderheft 33), Wiesbaden 2003, S. 88–112.
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Kraft, angewiesen sei. Diese Position geht auf Konzepte der Zivilreligion zurück und knüpft an Jean-Jacques Rousseau, Alexis de Tocqueville u. a. an.46 Ihren modernen Ausdruck in der deutschen Debatte findet sie in dem sog. „Böckenförde-Paradoxon“, demzufolge der liberale Staat von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht garantieren kann.47 Damit ist in der Regel die Religion gemeint. Eine Denkschrift des Rats der Evangelischen Kirche in Deutschland mit dem Titel „Christentum und politische Kultur“ unterstreicht diesen Gedanken mit Nachdruck.48 In einer Kritik dieser Position zeigt Michael Haus, daß sich hinter dieser Formel ebenfalls Zumutungen verbergen.49 Sie ergeben sich zum einen aus einem überzogenen hegelianischen Dualismus von Staat und Gesellschaft, zum anderen aus einem sich Carl Schmitt verdankenden Homogenitätsdenken. Hier betreffen die Zumutungen in erster Linie den nicht unbeträchtlichen areligiösen Teil der Gesellschaft oder die verschiedenen religiösen Minderheiten. Eine vermittelnde Position in dieser Debatte nehmen Theoretiker wie Veit Bader50, Alfred Stepan51 sowie Michael Walzer52 und neuerdings auch Jürgen Habermas53 ein, denen zufolge der Vorrang der Demokratie vor anderen Weltanschauungen durchaus mit einer öffentlichen Rolle und Anerkennung von Religion einhergehen kann, wenn bestimmte 46
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Vgl. Heinz Kleger, Alois Müller (Hg.): Religion des Bürgers. Zivilreligion in Amerika und Europa, München 1986. Ernst-Wolfgang Böckenförde: Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: ders.: Recht, Staat, Freiheit. Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte, Frankfurt a. M. 1991 [1967], S. 92– 114. Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland: Christentum und politische Kultur. Über das Verhältnis des demokratischen Rechtsstaates zum Christentum, Hannover 1997. Michael Haus: Ort und Funktion der Demokratie in der zeitgenössischen Demokratietheorie, in: Michael Minkenberg, Ulrich Willems (Hg.): Politik und Religion (PVS-Sonderheft 33), Wiesbaden 2003, S. 45–67, hier S. 48 f. Veit Bader: Religious Pluralism. Secularism or Priority for Democracy?, in: Political Theory 27 (Okt. 1999), S. 597–633; ders.: Secularism or Democracy? Associational Governance of Religious Diversity, Amsterdam 2007. Alfred Stepan: Religion, Democracy, and the „Twin Tolerations“ (wie Anm. 44). Michael Walzer: Über Toleranz. Von der Zivilisierung der Differenz, Hamburg 1998. Jürgen Habermas: Zwischen Naturalismus und Religion (wie Anm. 12).
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Voraussetzungen eingehalten werden. Bei Stepan sind dies die „twin tolerations“.54 Sie bedeuten einerseits, daß demokratische Institutionen im Rahmen der Verfassung und der Menschenrechte frei sein müssen, policies generieren zu können. Das schließt verfassungsmäßige oder anders garantierte Privilegien von Religionsgemeinschaften aus, demokratisch gewählten Regierungen eine bestimmte Politik vorzuschreiben. Auf der anderen Seite muß der demokratische Staat die vollkommene Ausübung von Religionsfreiheit im Privaten sowie die Möglichkeit von Religionsgemeinschaften, ihre Werte in der Öffentlichkeit geltend zu machen, garantieren.55 Das Prinzip der doppelten Tolerierung bedeutet also, daß der öffentlichen Ausübung von Religionsfreiheit Grenzen gezogen werden müssen, daß jedoch keiner Religionsgemeinschaft a priori verwehrt werden kann, sich als politische Partei zu betätigen. Veit Bader hat in seinem neuesten Werk „Secularism or Democracy?“56 eine dichte demokratietheoretische Begründung für diesen Mittelweg vorgeschlagen. Sein zentrales Prinzip einer „doppelten Autonomie“ ist ein Echo der „Twin Tolerations“ von Stepan und der Autonomien des italienischen Kirchenrechtlers Silvio Ferrari57. Einige empirische Demokratieforscher wie etwa Samuel P. Huntington58 und Manfred Schmidt59 verweisen explizit auf eine religiöse Verwurzelung von Demokratie, d. h. auf die Bedeutung säkularisierter Werte ehemals christlicher oder anderer religiöser Überzeugungen wie Freiheit, Gleichheit, Toleranz, Partizipation u. a. Im weltweiten Vergleich zeigt sich durchaus, daß die übergroße Mehrheit von Demokratien mehrheitlich christlich sind60 und offenbar ein Zusammenhang zwischen dem An54 55 56 57
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Alfred Stepan: Religion, Democracy, and the „Twin Tolerations“ (wie Anm. 44). Ebd. S. 39. Veit Bader: Secularism or Democracy? (wie Anm. 50). Silvio Ferrari: Islam and the Western European Model of Church and State Relations, in: Wasid A. R. Shadid, P. S. van Koningsveld (Hg.): Religious Freedom and the Neutrality of the State: the Position of Islam in the European Union, Leuven 2002, S. 6–19. Samuel P. Huntington: The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order (wie Anm. 2). Manfred G. Schmidt: Demokratietheorien, 3. überarb. Aufl., Opladen 2000, S. 448. So waren im Jahre 1999 79 der 88 von Freedom House als „frei“ eingestuften Länder solche mit christlicher Prägung; vgl. Manfred G. Schmidt: Demokratietheorien (wie Anm. 59), S. 448.
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teil von Protestanten und Katholiken und der Stabilität einer demokratischen Ordnung existiert. Schaut man sich die Regionen an, in denen der Demokratisierungssprung von den 1970er zu den 1990er Jahren besonders ausgeprägt ist, so fallen vor allem die Regionen Lateinamerika und Osteuropa auf.61 Auch hier dominiert das Christentum in seinen verschiedenen Varianten. Allerdings ist in den christlich-orthodoxen Ländern Osteuropas – von den nichtchristlichen Nachfolgestaaten der Sowjetunion ganz zu schweigen – der Demokratiegrad noch nicht besonders ausgeprägt.62 Das von Huntington u. a. vertretene Postulat einer Unvereinbarkeit von Islam und Demokratie ist trotz der empirisch offensichtlichen Unterentwicklung von Demokratien in der islamischen Welt nicht aufrecht zu erhalten. Dagegen spricht, daß auch in islamischen Ländern wie der Türkei oder Indonesien die Demokratie Einzug gehalten hat und daß in der arabischen Welt die Abwesenheit von Demokratie eher durch regionale und politische Faktoren (wie die Manipulation ethnoreligiöser cleavages und die erfolgreiche Etablierung eines ‚autokratischen Gesellschaftsvertrages‘ zwischen antidemokratischen Herrschern und der Bevölkerung) als durch religiöse zu erklären ist.63 Die These von der Unvereinbarkeit von Islam und Demokratie wurde u. a. von Stephen Fish64 in einem globalen Vergleich in Frage gestellt: Demokratisierung wird eher durch patriarchalische soziale und politische Verhältnisse und weniger vom Islam als Religion blockiert. Schließlich spricht gegen die enge funktionale Verknüpfung von Christentum und Demokratie die historische Kontingenz ihres Zusammenfallens. So erwies sich die katholische Kirche lange Zeit als erbitterte Gegnerin der Demokratie und akzeptierte diese Herrschaftsform und die Menschenrechte offiziell erst mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962–65).65
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Vgl. Daniel Brumberg, Larry Diamond: Introduction, in: Larry Diamond, Marc F. Plattner, Daniel Brumberg (Hg.): Islam and Democracy in the Middle East, Baltimore, London 2003, S. ix–xxvi. Vgl. John Anderson: Religious Liberty in Transitional Societies, Cambridge 2003. Vgl. Daniel Brumberg, Larry Diamond: Introduction (wie Anm. 61). M. Stephen Fish: Islam and Authoritarianism, in: World Politics 55,1 (2002), S. 4–37. Vgl. Michael Minkenberg: Democracy and Religion (wie Anm. 38), S. 891–895.
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5. Religion und Polity Institutionelle Regelungen von Religion und Politik (polity) schlagen sich vor allem im jeweiligen Staat-Kirche-Verhältnis nieder. In westlichen Demokratien herrschen Regime mit Staatskirchen, solche mit strikter Trennung von Staat und Kirche sowie Mischformen vor. In außereuropäischen bzw. historisch vor- oder nichtchristlichen Kulturen ist die Spannbreite noch weiter, mit Max Weber66 können Cäsaropapismus (der Staat dominiert die Religion), Hierokratie (die Religion beaufsichtigt den Staat) und Theokratie (die Herrschaft der Priester) unterschieden werden. So gesehen ist etwa die Islamische Republik Iran keine Theo- sondern eher eine Hierokratie. In all diesen Variationen gilt das Trennungsprinzip nur eingeschränkt. Diese Typologie wurde von Roland Robertson weiter entwickelt, der argumentierte, man solle auch die Autonomie der Kirche gegenüber dem Staat mit berücksichtigen. Wichtig seien Unterscheidungen der Staat-Kirche-Beziehungen nach der Autoritäts- und Legitimitätsstruktur politischer und religiöser Institutionen.67 Ihm zufolge stehen sowohl Theokratie als auch Cäsaropapismus für eine Fusion, aber im zweiten Typ dominiert die Politik die Religion, wohingegen im ersten Typ die Religion die Politik dominiert.68 Von diesen grundsätzlichen Überlegungen angeregt, richtet sich die aktuelle politikwissenschaftliche Debatte vor allem auf das Verhältnis des demokratischen Staates zu den großen Kirchen und etablierten Religionsgemeinschaften einerseits, und zur wachsenden Vielfalt organisierter Religion in westlichen Gesellschaften andererseits.69 66
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Max Weber: Politische und hierokratische Herrschaft, in: ders.: Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 1980 [1922], S. 688–726. Vgl. Roland Robertson: Church-State Relations in Comparative Perspective, in: Thomas Robbins, Roland Robertson (Hg.): Church-State Relations. Tensions and Transitions, New Brunswick, NJ 1987, S. 153–160. Ebd., S. 158. Vgl. Stephen Monsma, J. Christopher Soper: The Challenge of Pluralism (wie Anm. 9); John Madeley, Zsolt Enyedi (Hg.): Church and State in Contemporary Europe (wie Anm. 17); Michael Minkenberg: Staat und Kirche in westlichen Demokratien, in: Michael Minkenberg, Ulrich Willems (Hg.): Politik und Religion (PVS-Sonderheft 33), Wiesbaden 2003, S. 115–138; ders.: The Policy-Impact of Church-State Relations: Family Policy and Abortion in Britain, France, and Germany, in: John Madeley, Zsolt Enyedi (Hg.): Church and State in Contemporary Europe (wie Anm. 17), S. 195–217; Joel Fetzer, J. Christopher Soper: Muslims and the State in Britain, France and Germany (wie Anm. 18); Veit Bader (Hg.):
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Umstritten ist allerdings, wie die erhebliche Varianz der empirischen Ausgestaltung des Verhältnisses von Staat und Kirche in westlichen Demokratien klassifiziert und erklärt werden kann und welche Auswirkungen die unterschiedliche Ausgestaltung dieses Verhältnisses sowohl auf die Religion als auch auf die Politik und ihr Leistungsprofil hat. In den Klassifikationsversuchen der neueren Literatur zum Staat-Kirche-Verhältnis findet sich üblicherweise eine Mischung institutioneller, konfessioneller und religionssoziologischer Kriterien, während politische Faktoren in der Struktur und Dynamik dieses Verhältnisses eher vernachlässigt werden. Auf der einen Seite dominieren vielfältige empirische Untersuchungen, die in der Regel als Einzelfallstudien und sehr legalistisch angelegt sind.70 In der Regel wird dort typologisch zwischen Staatskirchen-, Trennungs- und Kooperationssystemen unterschieden. Auf der anderen Seite wird die Vorzugswürdigkeit bestimmter Ausgestaltungen des Verhältnisses von Staat und Kirche diskutiert und dementsprechend findet sich dort eine Einteilung nach dem Kriterium der vermuteten Auswirkungen auf Bürgerrechte und Demokratie. In dieser Diskussion steht dem Plädoyer für eine „positive Neutralität“ des Staates gegenüber der Religion – was auf die Favorisierung eines „partnerschaftlichen“ Verhältnisses wie im Fall Deutschlands oder der Niederlande hinausläuft71 – die Empfehlung für die Übernahme des amerikanischen Modells einer Mauer zwischen Staat und Kirche72 oder die französische Tradition der laïcité gegenüber. Jüngere Ansätze versuchen dagegen, das Staat-Kirche-Verhältnis nicht legalistisch, normativ oder einzelfallbezogen, sondern empirisch, analytisch und komparativ zu erfassen. Hier stehen eher Fragen nach den Ursachen sowie den Folgen spezifischer Arrangements von Staat und Kirche für Religion und Politik im Mittelpunkt.73
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Governing Islam in Western Europe. Essays on Governance of Religious Diversity, Sonderheft des „Journal of Ethnic and Migration Studies“, Band 33, 6 (August 2007), S. 871–1016. Gerhard Robbers (Hg.): Staat und Kirche in der Europäischen Union, BadenBaden 1995. Vgl. Stephen Monsma, J. Christopher Soper: The Challenge of Pluralism (wie Anm. 9). Vgl. Reinhold Zippelius: Staat und Kirche. Eine Geschichte von der Antike bis zur Gegenwart, München 1997, S. 164. Vgl. Joel Fetzer, J. Christopher Soper: Muslims and the State in Britain, France
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Zweifellos ist das heutige Staat-Kirche-Gefüge in westlichen Gesellschaften das Ergebnis eines langen und nicht sehr linearen historischen Prozesses. Dieser geht von der Zwei-Reich-Lehre des Augustinus’ und dem christlichen Staatskirchentum im römischen Kaiserreich aus und führt über die Kirchenspaltung, die Re-Etablierung des Staatskirchentums im nationalen Rahmen und darauf folgend der Staatskirchenhoheit (in einzelnen Ländern) bzw. der Desetablierungsprozesse von Kirchen (in anderen Ländern) zum verfassungsmäßig verankerten Postulat des säkularen Staates und zur Ausdifferenzierung und in manchen Fällen völligen Trennung von Staat und Kirche.74 Das Staat-KircheVerhältnis in Demokratien ist keine allein verfassungsmäßige oder rechtlich bestimmte Angelegenheit, sondern wird von vielfältigen ökonomischen, rechtlichen und politischen, insbesondere bildungsund sozialpolitischen, Aspekten bestimmt. Dazu zählen die Existenz offizieller Staatskirchen, die Diskriminierung religiöser Minderheiten, Kirchensteuern, staatliche Bezahlung kirchlicher Gehälter, staatliche Subventionen von Religionsgemeinschaften und Gebäuden, Religionsunterricht, staatliche Förderung religiöser sozialer Dienste u. a.75 Gemäß diesen Kriterien variiert das Staat-Kirche-Verhältnis in westlichen Demokratien beträchtlich, auch unter den wenig pluralistischen katholischen Ländern. Eine Skala der Verflechtung des Staat-Kirche-Regimes unter Einbezug der genannten Kriterien (insgesamt acht Kriterien, ausgenommen diejenigen der religiösen Diskriminierung und der Förderung sozialer Einrichtungen) vermittelt eine Übersicht über die Bandbreite dieses Verhältnisses in allen westlichen Demokratien (siehe Tabelle 1)76.
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and Germany (wie Anm. 18); John Madeley, Zsolt Enyedi (Hg.): Church and State in Contemporary Europe (wie Anm. 17). Vgl. Reinhold Zippelius: Staat und Kirche (wie Anm. 72). Vgl. Veit Bader: Secularism or Democracy? (wie Anm. 50), S. 53–62. Zu Einzelheiten der Skalierung vgl. Michael Minkenberg: Staat und Kirche in westlichen Demokratien (wie Anm. 69), S. 120–123. Vgl. hierzu auch Jonathan Fox: A World Survey of Religion and the State, Cambridge 2008.
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Tabelle 1: Verflechtungsskala von Staat und Kirche in westlichen Demokratien 0 USA
1 Kanada Niederlande Neuseeland
Staat – Kirche Trennung (Deregulierung)
2 Australien Frankreich Irland
3 Italien Spanien
4 Österreich Portugal Schweiz
←→
5 6 Belgien Deutschland GB
7 8 Dänemark Finnland Norwegen Schweden Staat – Kirche Verflechtung (Etablierung)
Quelle: Michael Minkenberg: Staat und Kirche in westlichen Demokratien (wie Anm. 69), S. 123.
Eine Polarität besteht zwischen protestantisch geprägten Einwanderungsländern (USA, Australien, Neuseeland) sowie dem laizistischen Frankreich und den versäulten Niederlanden mit Staat-Kirche-Trennung auf der einen, und den protestantischen Ländern Skandinaviens mit Staatskirchen auf der anderen Seite (in Schweden bis 1999). Dazwischen befinden sich u. a. das gemischt konfessionelle Deutschland mit dem Partnerschaftsmodell zwischen Staat und den beiden Großkirchen, das protestantisch-plurale Großbritannien mit der anglikanischen Staatskirche sowie das katholische Belgien mit einer „positiven Neutralität“ des Staates. Eine der intensivsten Debatten hat sich um die Frage entwickelt, ob die Struktur des Staat-Kirche-Verhältnisses für die höchst unterschiedlichen Raten religiösen Engagements und religiöser Partizipation verantwortlich sind. So haben sich etwa Mark Chaves und David Cann77 kritisch mit Laurence Iannaccones Ansatz auseinandergesetzt, der die religiöse Vitalität eines Landes (gemessen an der Kirchgangshäufigkeit) mit dem Grad des religiösen Wettbewerbs (gemessen am religiösen Pluralismus; siehe weiter unten) erklären will.78 Sie argumentieren, daß man 77
78
Mark Chaves, David E. Cann: Regulation, Pluralism, and Religious Market Structure. Explaining Religion’s Vitality, in: Rationality and Society 3, Band 4 (Juli 1992), S. 272–290. Laurence Iannaccone: The consequences of religious market structure. Adam Smith and the economics of religion, in: Rationality and Society 2, Band 3 (1991), S. 156–177; vgl. auch Rodney Stark, Laurence Iannaccone: A supplyside reinterpretation of the secularization of Europe, in: Journal for the Scientific Study of Religion 3, Band 33 (1994), S. 230–252.
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religiösen Pluralismus und staatliche Regulierung von Religion getrennt betrachten sollte und präferieren eine primär politische, an de Tocqueville orientierte gegenüber einer rein ökonomischen, auf Adam Smith zurückgreifenden Argumentation. Danach besteht der Vorteil einer institutionellen Trennung von Staat und Kirche darin, daß Religion nicht mit bestimmten politischen Interessen identifiziert werden kann.79 Im Gegensatz zu Iannaccone beziehen sie auch die katholischen Länder in die Analyse ein (siehe oben). Ein besonders prägnantes Beispiel für diese Argumentation bildet Frankreich: Die geringe religiöse Vitalität trotz niedriger Regulierung des religiösen Marktes läßt sich dadurch erklären, daß die katholische Kirche sich massiv mit dem alten Regime identifizierte. Sie provozierte damit die Entstehung eines militanten, antiklerikalen Säkularismus und beförderte so die Entstehung einer Konfliktlinie, die bis heute Folgen für die religiöse Partizipation zeitigt.80 Im Vergleich zu dieser Debatte um die Auswirkung staatlicher Regulierung von Religion auf ihre Vitalität ist die Diskussion um die Folgen des Staat-Kirche-Verhältnisses für die Politik und ihr Leistungsprofil noch unterentwickelt.81 In einzelnen, für die Kirchen sensiblen Themenfeldern wie der Frauen-, Familien- und Abtreibungspolitik lassen sich dabei durchaus Effekte dieses Verhältnisses aufzeigen.82 So ist z. B. in westlichen Demokratien in der Regel überall dort, wo Staat und Kirche getrennt sind, die Politik deutlich weniger an Fraueninteressen orientiert, während Länder, wo die Kirchen voll etabliert sind, sich durch eine umfassende (frauenfreundliche) Familienpolitik und liberale Abtreibungsregelungen auszeichnen. Da die Mehrzahl der Länder mit einer wenig umfassenden Familienpolitik überwiegend protestantisch oder gemischt79
80
81
82
Mark Chaves, David E. Cann: Regulation, Pluralism, and Religious Market Structure (wie Anm. 77), S. 275. Vgl. Detlef Pollack: Säkularisierung – ein moderner Mythos?, Tübingen 2003, S. 183–201. In Ansätzen bei Stephen Monsma, J. Christopher Soper: The Challenge of Pluralism (wie Anm. 9); siehe auch Joel Fetzer, J. Christopher Soper: Muslims and the State in Britain, France and Germany (wie Anm. 18). Vgl. Michael Minkenberg: Religion and Public Policy: Institutional, Cultural, and Political Impact on the Shaping of Abortion Policies in Western Democracies, in: Comparative Political Studies 2, Band 35 (März 2002), S. 221–247; ders.: The Policy-Impact of Church-State Relations: Family Policy and Abortion in Britain, France, and Germany, in: John Madeley, Zsolt Enyedi (Hg.): Church and State in Contemporary Europe (wie Anm. 17), S. 195–217.
Religion als Thema der Politikwissenschaft
243
konfessionell ist, läßt sich diese Verteilung nicht einfach mit dem konfessionellen Faktor als Auswirkung eines (konservativen) „catholic cultural impact“83 erklären. Vielmehr könnte man argumentieren, daß dort, wo die Trennung vollzogen ist, die Kirchen mehr politischen Spielraum besitzen und so zu dieser Politik beitragen. Dies stimmt mit der Beobachtung überein, daß in den mehrheitlich katholischen Ländern, in denen eine restriktive Abtreibungsregelung Anwendung findet, zugleich die staatliche Regulierung von Kirchen nur schwach ist. Kirchliche Interessen können offenbar dort besser wahrgenommen werden, wo sie weniger stark vom Staat reguliert sind und daher unabhängiger agieren können und zwar in der Rolle von „entprivatisierten“, an der Gesellschaft statt am Staat orientierten Kirchen.84 Umgekehrt engagieren sich staatlich privilegierte oder Staatskirchen weniger als andere für Policy-Positionen, die ihnen traditionell wichtig sind, und sind stattdessen eher an der Sicherung ihres Status interessiert, auch wenn dies bedeutet, Kompromisse in wichtigen Politikfeldern einzugehen. Allerdings spricht auch einiges für eine umgekehrte Logik, zumindest in religiös vielfältigen Gesellschaften. Auf der einen Seite hat die Deregulierung des religiösen Marktes und der sich daraus ergebende Pluralismus in doppelter Weise eine Schwächung der politischen Durchsetzungskraft von religiösen Positionen zur Folge, denn das Erzielen von Mehrheiten ist in religiös pluralisierten Gesellschaften schwierig und erfordert die Zurückstellung theologischer Differenzen. Jelen und Wilcox sprechen in diesem Zusammenhang von einem „model of demobilized pluralism“.85 Auf der anderen Seite befördert die Deregulierung einen Trend der Fragmentierung und theologischen Konkurrenz in größeren religiösen Gruppen, wie sich etwa an der christlichen Rechten in USA beobachten läßt;86 damit verschlechtern sich jedoch die Chancen, sich auf gemeinsame Positionen zu einigen und sie mit Nachdruck zu vertreten. 83
84
85
86
So Francis G. Castles (Hg.): Families of Nations. Patterns of Public Policy in Western Democracies, Dartmouth 1993; ders.: Comparative Public Policy. Patterns of Post-war Transformation, Cheltenham, UK 1998. Vgl. José Casanova: Public Religions in the Modern World, Chicago 1994, S. 220. Ted G. Jelen, Clyde Wilcox: Religion: The One, the Few, and the Many (wie Anm. 10), S. 14. Vgl. Ted G. Jelen, Clyde Wilcox: The Political Roles of religion, in: Ted G. Jelen, Clyde Wilcox (Hg.): Religion and Politics in Comparative Perspective (wie Anm. 19), S. 314–324, hier S. 316.
244
Michael Minkenberg
6. Religion und Politics Zu den religiösen Einflußgrößen auf die Politik zählen insbesondere religiöse Parteien und Bewegungen (politics). In westeuropäischen Demokratien steht vor allem die Beharrlichkeit der Christdemokratie unter den Parteienfamilien in einem Zusammenhang mit der Stabilität der religiösen Konfliktlinie im Wahlverhalten. In Anlehnung an die oben vorgestellten Konzeptionen von Politik und politischem System kann in der politikwissenschaftlichen Religionsforschung grundsätzlich unterschieden werden zwischen einem auf Glaubenssysteme und religiösen Traditionen bezogenen Untersuchungsgegenstand, wie etwa die katholische Soziallehre oder die protestantische Ethik und deren Niederschlag in der Politik,87 und diversen religiösen Organisationen und Institutionen, die im Kontext des politischen Systems die Funktionen der Artikulation und Aggregation von Interessen wahrnehmen. Neben den katholischen oder protestantisch-fundamentalistischen Bewegungen und den Kirchen selbst sind hier vor allem christdemokratische Parteien von außerordentlichem Interesse, da ihnen die verschiedensten Funktionen im politischen System zukommen: von der Artikulation und Aggregation gesellschaftlicher Interessen über die Zielfindung in Ideologie und Programmatik (im Sinne der verbindlichen Regelung gesellschaftlicher Werte) und die Mobilisierung und Sozialisierung der Bürger vor allem bei Wahlen bis hin zur Rekrutierung des politischen Personals und der Regierungsbildung.88 Dementsprechend hat sich gerade auf diesem Gebiet in der konventionellen Politikwissenschaft eine rege Forschungstätigkeit über den religiösen Faktor entwickelt. Einen Schwerpunkt dieser Forschung bildet die Wahlforschung, die die Wahlerfolge christdemokratischer Parteien und die Charakteristika ihrer Wählerschaft mit den üblichen wahlsoziologischen Mitteln der Umfrageforschung (Individualdatenanalyse) und der Wahlgeographie (Aggregatdatenanalyse) untersucht.89 Untersuchungen, 87
88
89
Vgl. Franz-Xaver Kaufmann: Religion und Modernität. Sozialwissenschaftliche Perspektiven, Tübingen 1989; Kees van Kersbergen: Social capitalism (wie Anm. 9). Vgl. Klaus von Beyme: Parteien in westlichen Demokratien, 2. überarb. Aufl., München 1984, S. 25. Vgl. Russell J. Dalton: Citizen Politics in Western Democracies (wie Anm. 28); ders.: Citizen Politics. Public Opinion and Political Parties in Advanced Indu-
Religion als Thema der Politikwissenschaft
245
die den Einfluß religiöser Bewegungen und Parteien auf die Politik im Sinne von Policy-Effekten zum Gegenstand haben, sind in der Regel im Kontext der Debatte um die Bedeutung politischer Parteien insgesamt für den politischen Output („do parties matter?“) zu verorten.90 Ausgangspunkt der Diskussion um die aktuelle Bedeutung der Christdemokratie – oder religiös orientierter Parteien im allgemeinen – ist die Konfliktlinientheorie von Seymour M. Lipset und Stein Rokkan91 und die Literatur zu Parteienfamilien92. Die empirische Basis für die These eines Bedeutungsschwundes der Christdemokratie ist eng an das Säkularisierungsparadigma gekoppelt: Daten über zurückgehende Kirchgangshäufigkeit, Daten über schrumpfende Kirchmitgliedschaften sowie Daten über zerfallende katholische Milieus usw. Im Zusammenhang mit diesen Trends stellt sich die Frage, inwieweit sich die Christdemokratie der Nachkriegszeit von ihren christlich-katholischen Ursprüngen entfernt bzw. diesen treu geblieben ist, ob sie eine Rückkehr der Religion oder vielleicht eher eine (fortlaufende) Politisierung derselben anzeigt. Uneinigkeit herrscht in der Parteienforschung in der Frage, welche Parteien überhaupt zur Christdemokratie (CD) gehören. Hier gibt es enge und weite Definitionen. Einige wie Daniel Seiler93 zählen nur wenige Parteien wie die holländischen, belgischen, italienischen und österreichischen Christdemokraten zu dieser Gruppe. Die CDU/CSU bleibt dagegen ausgeschlossen, denn für Seiler ist sie „ein konservativer Kuckuck im christdemokratischen Nest“94; auch die christlichen Parteien auf der
90
91
92 93 94
strial Democracies, 4. Aufl., Washington, DC 2006; David Hanley (Hg.): Christian Democracy in Europe. A Comparative Perspective, London 1994; ders.: Die Zukunft der europäischen Christdemokratie, in: Michael Minkenberg, Ulrich Willems (Hg.): Politik und Religion (PVS-Sonderheft 33), Wiesbaden 2003, S. 231–255. Vgl. z. B. Francis G. Castles: Comparative Public Policy (wie Anm. 83); HansDieter Klingemann, Richard Hofferbert, Ian Budge: Parties, Policies, and Democracy, Boulder, CO 1994; Manfred G. Schmidt: When parties matter: a review of the possibilities and limits of partisan influence on public policy, in: European Journal of Political Research, Band 30 (1996), S. 155–183. Seymour M. Lipset, Stein Rokkan: Cleavage Structures, Party Systems and Voter Alignments, in: Dies. (Hg.): Party Systems and Voter Alignments, New York 1967, S. 1–64. Vgl. Klaus von Beyme: Parteien in westlichen Demokratien (wie Anm. 88). Daniel Seiler: Les partis politiques, 2. Aufl., Paris 2000. Ebd., S. 131.
246
Michael Minkenberg
iberischen Halbinsel und in Skandinavien zählen nicht dazu. Eine entgegengesetzte Perspektive findet sich bei David Hanley95, dessen Kriterium die Mitgliedschaft in der Europäischen Volkspartei ist. Das bedeutet, daß auch die britischen Konservativen und viele andere problematische Fälle eingeschlossen werden. Es empfiehlt sich daher ein historisch orientierter Mittelweg, nämlich die Berücksichtigung der Gründergruppe der CD-Familie in den westeuropäischen Nachkriegsdemokratien sowie derjenigen Parteien, die sich in ihren Programmen der christdemokratischen Programmatik besonders verschrieben haben.96 Die skandinavischen Parteien wären damit ebenso ausgeschlossen wie die britischen Tories, die neuen katholischen Parteien Polens und Ungarns wären dagegen Mitglieder der CD-Familie. Nach allgemeiner Lesart nimmt die Christdemokratie einen besonderen Platz in westlichen Parteiensystemen ein:97 sie ist weder eine konservative noch eine Partei der (liberalen) Mitte, auch keine catch-all party. Gegen ersteres spricht der Einfluß sozialer Ideen aus der katholischen Soziallehre, gegen zweiteres die Bedeutung des Personalismus und der Familie gegenüber dem liberalen Individualismus, gegen das dritte die Bedeutung des Faktors Religion. Einigen Autoren zufolge werden zu den christdemokratischen Prinzipien u. a. sozialer Konservatismus, Pragmatismus und sozialer Kapitalismus, d. h. Integration und Ausgleich verschiedener Interessen, gezählt.98 In der Tat lassen sich einige Anzeichen für den Niedergang der Christdemokratie finden.99 Erstens sank in den meisten europäischen Ländern im Laufe der 1990er Jahre der Stimmenanteil der Christdemokratie. Zweitens sank die Mitgliederzahl der CD-Parteien ebenfalls, was allerdings auf fast alle Typen von Parteien zutraf.100 Drittens 95 96
97
98
99
100
David Hanley: Die Zukunft der europäischen Christdemokratie (wie Anm. 89). Vgl. etwa Michael Gehler, Wolfram Kaiser (Hg.): Christian Democracy in Europe since 1945, London, New York 2004. Vgl. Klaus von Beyme: Parteien in westlichen Demokratien (wie Anm. 88); David Hanley: Die Zukunft der europäischen Christdemokratie (wie Anm. 89). Vgl. Kees van Kersbergen: Social capitalism (wie Anm. 9); David Hanley (Hg.): Christian Democracy in Europe (wie Anm. 89). Vgl. David Hanley: Die Zukunft der europäischen Christdemokratie (wie Anm. 89), S. 231; siehe auch Michael Gehler, Wolfram Kaiser (Hg.): Christian Democracy in Europe since 1945 (wie Anm. 96). Vgl. Peter Mair, Ingrid van Biezen: Party Membership in Twenty European Democracies, 1980–2000, in: Party Politics, Band 7, Nr. 1 (2001) S. 5–21.
Religion als Thema der Politikwissenschaft
247
gerieten auch die christdemokratischen Netzwerke in eine Krise: das Gewebe sozialer Bewegungen, welches christdemokratische Parteien lange Zeit untermauert hat – Gewerkschaften, Bauern-, Frauen- und Studentengruppen – zeigte in den vergangenen zwei Jahrzehnten keine Zeichen einer Wiederbelebung.101 Makro-Prozesse wie Globalisierung und Postmodernisierung haben zweifellos zu strategischen Anpassungsprozessen bei den CD-Parteien geführt, und die Parteienforschung konstatiert eine Reihe von Anpassungsmaßnahmen wie etwa mehr wirtschaftsliberale oder konservative Lösungsansätze anstelle traditioneller CD-Doktrinen wie die katholische Soziallehre.102 Schließlich sind auch Veränderungen in den staatlichen Strukturen selbst zu verzeichnen, denn europäische Staaten entfernen sich vom Modell des auch christdemokratisch geprägten Wohlfahrtsstaats in Richtung neo-liberaler Strukturen.103 All dies führt einige Beobachter zu dem unzweideutigen Schluß: „The age of Christian Democracy in Europe has ended“.104 Allerdings lassen sich auch Faktoren finden, welche gegen die These vom Ende der Christdemokratie sprechen. So waren die CD-Parteien trotz sinkendem elektoralem Zuspruch, schwindenden Mitgliedszahlen und anderen Phänomenen erstaunlich lange und nachhaltig an Regierungen beteiligt,105 und in verschiedenen Ländern wie der Bundesrepublik verzeichneten sie nach einer Phase des Niedergangs eine Rückkehr in der Wählergunst in Landtags-, Bundestags- und Europawahlen. Auch läßt sich eine erstaunliche Stabilität der konfessionellen Konfliktlinie feststellen, wie verschiedene Studien über den Zusammenhang zwischen der Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft und dem Wahlverhalten
101 102
103 104
105
Patrick Pasture: Christian Trade Unions in Europe since 1968, Aldershot 1994. Vgl. David Hanley, Colette Ysmal: Le parti populaire européen et la recomposition des droites européennes, in: Gérard Grunberg, Pascal Perrineau, Colette Ysmal (Hg.): Les Vote des Quinze: les élections européennes de juin 1999, Paris 2000, S. 203–222. Vgl. Kees van Kersbergen: Social capitalism (wie Anm. 9). Martin Conway: The Age of Christian Democracy. The Frontiers of Success and Failure, in: Thomas Kselman, Joseph A. Buttigieg (Hg.): European Christian Democracy. Historical Legacies and Comparative Perspective, Notre Dame, IN 2003, S. 43–67, hier S. 43. Vgl. David Hanley: Die Zukunft der europäischen Christdemokratie (wie Anm. 89), S. 244.
248
Michael Minkenberg
in Westeuropa in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts zeigen.106 Daneben übertrifft der Zusammenhang zwischen Religiosität und Wahlverhalten denjenigen des „class voting“. Dabei ist jedoch zu bedenken, daß die religiöse Konfliktline deutlich variiert.107 Ihre stärkste Ausprägung hat sie in den katholischen sowie den gemischten protestantischen Ländern, vor allem in den Niederlanden. Mit dem wachsenden Anteil an konfessionslosen Wählern und dem Auftreten neuer Parteien wie der Grünen in den 1990ern ging mit wenigen Ausnahmen (Irland, Niederlande) eine Abschwächung einher. In den USA hat die Konfliktlinie zwischen Protestanten und Katholiken und zwischen religiösen und nicht-religiösen Wählern durch die politische Mobilisierung der (protestantischen) Christlichen Rechten an Bedeutung gewonnen.108 Insgesamt tritt die Beziehung zwischen Religiosität und Wahlverhalten am stärksten dort hervor, wo sich protestantische oder katholische Parteien oder christliche Bewegungen etabliert haben und wo die Säkularisierung (im Sinne einer Entzauberung) besonders weit fortgeschritten ist. Nach dem Zweiten Weltkrieg spielten in einer Reihe von westeuropäischen Ländern christdemokratische Parteien nicht nur eine Rolle als Regierungspartei, sondern auch beim (Wieder)Aufbau der demokratischen Ordnung (so in der Bundesrepublik, in Frankreich und Österreich, in Italien und den Benelux-Staaten). In letzter Zeit verzeichnet die Christdemokratie auch jenseits ihrer Stammländer, und zwar in Nordeuropa und in den neueren Demokratien im Süden und Osten des Kontinents, ein quantitatives Wachstum.109 Bei den Anzeichen des Niedergangs handelt es sich daher eher um eine Identitäts- als eine politische Krise der Christdemokratie. Ihre Rolle als führende politische Kraft hat sie mit we106
107
108
109
Russell J. Dalton: Citizen Politics in Western Democracies (wie Anm. 28); ders.: Citizen Politics. Public Opinion and Political Parties in Advanced Industrial Democracies (wie Anm. 89). Vgl. Oddbjørn Knutsen: Religious Denomination and Party Choice in Western Europe: A Comparative Longitudinal Study from Eight Countries, 1970–1997, in: International Political Science Review, Band 25, Nr. 1 (2004), S. 97–128. Vgl. Michael Minkenberg: Neokonservatismus und Neue Rechte in den USA (wie Anm. 25); David Leege, Kenneth D. Wald, Brian S. Krueger, Paul D. Mueller: The Politics of Cultural Differences. Social Change and Voter Mobilization Strategies in the Post-New Deal Period, Princeton, NJ 2002. Vgl. David Hanley: Die Zukunft der europäischen Christdemokratie (wie Anm. 89).
Religion als Thema der Politikwissenschaft
249
nigen Ausnahmen wie etwa Italien nicht eingebüßt, aber ihr spezifisch christliches Profil schwächt sich zunehmend ab. Als Fazit dieser Diskussion ergibt sich also, daß für die Erklärung der Entwicklung der Christdemokratie die These einer Säkularisierung westlicher Wählerschaften oder eines Zerfalls des katholischen Milieus weniger ergiebig ist als die Struktur des Parteienwettbewerbs, insbesondere wenn die Christdemokratie mit säkular-konservativen Parteien konkurriert. 7. Religion und Policies Religiöse Spuren finden sich auch heute noch in wichtigen Politikfeldern (policies). In der europäischen Geschichte standen lange Zeit viele PolicyBereiche unter der Autorität der Kirchen, bevor der moderne Staat sich ihrer annahm, so z. B. Wohlfahrt, Bildung, Familie.110 Im postmodernen Kontext einer wachsenden Bedeutung kultureller Orientierungen, dem Primat der Lebenswelt und der zentralen Rolle von Bildung, Sprache und Kommunikation sowie der Pluralisierung und Abschwächung traditioneller Weltbilder und Autoritäten gewinnen solche Bereiche – und somit die öffentliche Rolle von Religion – eine neue Bedeutung.111 Dazu kommen die Herausforderungen von Einwanderung und Integration zumeist nichtchristlicher Bevölkerungsgruppen. In der Sozialpolitik lassen sich zum Teil ausgeprägte religiöse Wurzeln finden, denn das in der Geschichte eines Landes verankerte konfessionelle Muster ist ein wichtiger Erklärungsfaktor für die Rolle der Religion in aktuellen sozialpolitischen Feldern. In diesem Bereich hat die Politikwissenschaft als Politikfeld-Forschung die Religion früh aufgegriffen.112 So zeigen verschiedene Studien, daß der kontinentaleuropäische Wohlfahrtsstaat christdemokratische Züge trägt, die auf die katholische Soziallehre und die päpstlichen Sozialenzykliken Rerum Novarum (1891) und Quadragesimo Anno (1931) zurückgehen. Im Mittelpunkt dieser Ideologie stehen die Subsidiarität und der Personalismus, der in Abgrenzung zu 110 111
112
Vgl. Franz-Xaver Kaufmann: Religion und Modernität (wie Anm. 87). Vgl. José Casanova: Public Religions in the Modern World (wie Anm. 84); Francis G. Castles: Comparative Public Policy (wie Anm. 83). Vgl. Gøsta Esping-Andersen: The Three Worlds of Welfare Capitalism, Princeton, NJ 1990; Francis G. Castles (Hg.): Families of Nations (wie Anm. 83); ders.: Comparative Public Policy (wie Anm. 83); Kees van Kersbergen: Social capitalism (wie Anm. 9).
250
Michael Minkenberg
Sozialismus und Liberalismus den Wert von Gemeinschaft (statt Gesellschaft) und vor allem der konventionellen Familie betont. Damit korrespondiert ein harmonisches und organisches Politik- und Gesellschaftsmodell.113 Spezifisch katholische Policy-Effekte zeigen sich auch darin, daß mit Ausnahme von Frankreich katholische Länder eine eher konservative Familienpolitik aufweisen, während in protestantischen Ländern stärker egalitäre Vorstellungen die Sozial- und Familienpolitik durchdringen.114 Neuerdings ist jedoch verstärkt darauf verwiesen worden, daß die vergleichende Wohlfahrtsstaatsforschung die unterschiedlichen Theologien des Protestantismus, vor allem des lutherischen im Vergleich zum reformierten, stärker berücksichtigen sollte.115 Unter den für die historische Entwicklung des Wohlfahrtsstaats relevanten protestantischen Strömungen wurde der anglikanischen Lehre ein vergleichsweise geringer Stellenwert attestiert. Zwar ging die Industrialisierung in England und die Entdeckung der sozialen Frage auch an der Church of England nicht ohne Spuren vorbei, und die „Social Gospel“, der Versuch einer Versöhnung von Christentum und Sozialismus, fand einigen Anklang in der Kirche. Aber es waren eher sozialistische Vorstellungen, die in die Kirche flossen, als kirchliche Ideen, die die Sozialpolitik beeinflußten.116 Anders sieht es mit den Kritikern an der Amtskirche und den Sozialreformern in ihrem evangelikalen Flügel aus, die gegen Kinderarbeit und für den staatlichen Schutz der sozial Schwachen eintraten und in einer Verbindung des konservativen Paternalismus und des liberalen Reformismus die britischen Sozialreformen im späten 19. Jahrhundert, z. B. der Sozialgesetzgebung des Liberalen Lloyd George (1908–1920), beeinflußt haben.117 Auch in der Labour Party findet sich von Tawney bis Blair eine 113 114
115
116
117
Kees van Kersbergen: Social capitalism (wie Anm. 9). Vgl. Birgit Fix: Religion und Familienpolitik. Deutschland, Belgien, Österreich und die Niederlande im Vergleich, Wiesbaden 2001; Michael Minkenberg: The Policy-Impact of Church-State Relations (wie Anm. 69). Vgl. Philip Manow: „The Good, the Bad, and the Ugly“. Esping-Andersens Sozialstaats-Typologie und die konfessionellen Wurzeln des westliches Wohlfahrtsstaats, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Band 54, Heft 2 (2002), S. 203–225. Vgl. William L. Sachs: The Transformation of Anglicanism. From State Church to Global Communion, Cambridge 1993, S. 208–224. Vgl. Franz-Xaver Kaufmann: Religion und Modernität (wie Anm. 87), S. 104 f., sowie ebd. Fn. 32.
Religion als Thema der Politikwissenschaft
251
christlich-sozialistische Strömung, die individuelle Freiheit mit der Forderung nach einer sittlichen Konstituierung des Gemeinwesens und daraus fließender Sozialreform verknüpft.118 Deutlicher als im englischen Mutterland treten sozialpolitische Doktrinen des freikirchlichen Protestantismus in Nordamerika und in Ozeanien in Erscheinung. Hier steht der Voluntarismus im Vordergrund. Es wurden weniger die Ideen von Karl Marx als christlich inspirierte Utopisten wie Henry George und Edward Bellamy von der Arbeiterbewegung rezipiert; und es fanden die Ideen des Prohibitionismus, der Abschaffung von Sklaverei, der Bodenreform und der Verwendung einer progressiven Einkommenssteuer zur Finanzierung von Sozialprogrammen besonderen Anklang.119 Im Gegensatz dazu blieb die christlich-soziale Bewegung in Ländern mit lutherischer Staatskirche und wenig freikirchlichen Abweichlern eher schwach, da einerseits der Staat bereits früh eine Verantwortung für Sozialpolitik übernahm und andererseits die Religion stark individualisiert war.120 Vor diesem Hintergrund konnten in Skandinavien, wo die lutherische Staatskirche nicht wie in Deutschland auf eine starke katholische Minderheit traf, sozialdemokratische Vorstellungen eines egalitären und universellen Wohlfahrtsstaates besondere Resonanz entfalten. Schließlich ist in gemischt-konfessionellen Staaten ohne lutherischen Protestantismus wie den Niederlanden und der Schweiz ein individualistisch eingefärbter freikirchlich-reformierter Protestantismus am Werke.121 Im Politikfeld von Einwanderung und Multikulturalismus geraten etablierte Muster staatlicher Regulierung von Religion und Politik, die sich bestimmten historischen Kräftekonstellationen zwischen den 118
119
120
121
Vgl. Emma Heron: Die soziale Theologie New Labours oder Der Appell an Moral, Gemeinschaft und Gewissen, in: Heinz-Dieter Meyer, Michael Minkenberg, Ilona Ostner: Religion und Politik (wie Anm. 4), S. 49–80, hier S. 70 f.; Philip Manow: „The Good, the Bad, and the Ugly“ (wie Anm. 115), S. 208. Vgl. Philip Manow: „The Good, the Bad, and the Ugly“ (wie Anm. 115), S. 209; siehe auch David B. Bebbington: Evangelicalism in Modern Britain and America, in: George A. Rawlyk, Mark A. Noll (Hg.): Amazing Grace. Evangelicalism in Australia, Britain, Canada and the United States, Grand Rapids, MI 1993, S. 183–212, hier S. 194–196. Vgl. Franz-Xaver Kaufmann: Religion und Modernität (wie Anm. 87), S. 107 f.; John Madeley: Scandinavian Christian Democracy: Throwback or Portent?, in: European Journal of Political Research, Band 5 (1977), S. 267–286; David Martin: A General Theory of Secularization, New York 1978, S. 33–36. Vgl. Philip Manow: „The Good, the Bad, and the Ugly“ (wie Anm. 115), S. 210.
252
Michael Minkenberg
christlichen Konfessionen wie auch zwischen diesen und dem Staat verdanken (vgl. Abschnitt 5 oben), unter Druck. Dieser resultiert vor allem aus einer enormen Zunahme kulturell-religiöser Pluralität westlicher Gesellschaften, insbesondere infolge der Zuwanderung in den letzten Jahrzehnten. Tabelle 2 gibt die religiöse Landkarte der westlichen Demokratien wieder.
Katholiken
Anglikaner
Andere Protestanten
Orthodoxe
Juden
Muslime
Andere/ keine
Pluralismus-Index, ca. 1980*
Pluralismus-Index, ca. 2000*
Tabelle 2: Religiöse Vielfalt in 19 westlichen Demokratien, ca. 2000 (oder nächstliegendes Jahr), in Prozent der Wohnbevölkerung
Australien
27.7
20.7
16.8
2.8
0.45
1.5
30.0
0.74
0.82
Belgien
80.9
0.1
1.6
0.5
0.35
3.8
12.8
0.05
0.21
0.6
0.1
88.4
0.0
0.06
2.8
8.0
0.07
0.23
32.1
0.0
31.8
1.1
0.12
3.7
30.3
0.54
0.66
0.1
0.0
91.0
1.1
k. A.
0.4
7.4
0.09
0.25
Frankreich
78.8
0.0
1.6
0.3
1.1
8.5
9.7
0.08
0.40
Großbritannien
11.0
29.0
14.0
0.6
0.48
2.7
42.2
0.59
0.69
Irland
77.0
9.1
7.4
0.0
0.8
0.2
5.5
0.09
0.15
Italien
97.2
0.0
1.5
0.2
0.05
1.0
0.1
0.03
0.30
Kanada
41.8
2.6
22.6
4.7
1.2
2.0
25.1
0.66
0.70
Neuseeland
12.8
21.4
37.3
0.2
k. A.
0.6
27.7
0.76
0.81
Niederlande
34.5
0.1
30.0
0.0
0.19
5.7
29.9
0.62
0.72
Norwegen
1.0
0.0
97.1
0.0
k. A.
1.4
0.5
0.15
0.20
Österreich
73.6
0.0
4.7
1.9
0.1
4.2
15.5
0.15
0.41
Portugal
90.8
0.0
4.2)
0.0
0.02
0.3
1.3
k. A.
0.14
2.0
0.0
95.2
1.3
0.2
1.1
0.2
0.29
0.23
Schweiz
41.8
0.2
35.3
1.8
0.2
4.3
16.4
0.55
0.61
Spanien
96.1
0.0
1.1
0.0
0.04)
0.7
2.1
0.02
0.45
USA
20.8
0.9
51.4
2.1
2.1
1.4
21.2
0.88
0.82
Dänemark Deutschland Finnland
Schweden
*) Die Werte geben den Grad an religiöser Fragmentierung, gemessen als 1 – H (Wert des Herfindahl-Indexes), wieder: je kleiner die Zahlen, desto größer die re-
Religion als Thema der Politikwissenschaft
253
ligiöse Konzentration, je höher die Zahlen, desto größer der religiöse Pluralismus. H ist definiert als die Wahrscheinlichkeit, daß zwei Personen, die zufällig aus einer Grundgesamtheit von irgendeiner Religionsgemeinschaft zugehörigen Personen ausgewählt werden, derselben Religionsgemeinschaft angehören.122 Anmerkung: Länder, in denen der Islam die zweit- oder drittgrößte Religionsgemeinschaft darstellt, sind mit grauem Schatten unterlegt. Hier sind die Anglikaner in der protestantischen Religionsgemeinschaft mit eingeschlossen. Quellen: siehe Angaben in Michael Minkenberg: Democracy and Religion (wie Anm. 38), S. 898 f.
Einige Trends treten recht deutlich hervor. In 14 von 19 westlichen Demokratien ist der Islam die drittstärkste oder sogar zweitstärkste Religionsgemeinschaft. Die Länder, in denen der Islam besonders stark ist, waren historisch zum Teil bis in die jüngste Vergangenheit konfessionell besonders homogen: auf der einen Seite die lutherischen Länder Dänemark und Norwegen, auf der anderen Seite das katholische Belgien und Frankreich. In Spanien und Österreich sind die Muslime dabei, die Protestanten zu überholen. In den klassischen Einwanderungsländern USA, Kanada und Australien dagegen liegen die Orthodoxen Christen an zweiter oder dritter Stelle, in Australien dicht gefolgt vom Buddhismus.123 Wie Tabelle 2 unterstreicht, hat zwischen 1980 und 2000 der religiöse Pluralismus in den meisten westlichen Ländern stark zugenommen, vor allem in den katholischen Ländern Österreich, Spanien, Italien und Frankreich, aber auch in Skandinavien – außer in Schweden und den USA. Eine Gruppe von Autoren124 argumentiert, daß konfessionelle und religiöse „legacies“, vor allem der Katholizismus und die Staat-Kirche Beziehungen, tiefe Spuren in politischer Kultur und politischen Problemlösungsmodellen hinterlassen haben, die sich auch auf die Religionspolitik und die Governance religiöser Vielfalt auswirken. Diesen Argumenten zufolge bleiben die policy patterns aufgrund unterschiedlicher kultureller und 122
123 124
Literaturverweise in Michael Minkenberg: Democracy and Religion (wie Anm. 38), S. 898 f. Gary Bouma: Australian Soul, Sydney 2007. Francis G. Castles (Hg.): Families of Nations (wie Anm. 83); ders.: Comparative Public Policy (wie Anm. 83); Kees van Kersbergen: Social capitalism (wie Anm. 9); Joel Fetzer, J. Christopher Soper: Muslims and the State in Britain, France and Germany (wie Anm. 18); Ronald Inglehart, Wayne E. Baker: Modernization, cultural change, and the persistence of traditional values, in: American Sociological Review 65 (2000), S. 19–51.
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institutioneller Prägungen divergent, auch wenn sie sich ein wenig annähern mögen. Anzeichen dafür finden sich u. a. in den Konflikten um den Religionsunterricht an staatlichen Schulen, um religiöse Symbole im öffentlichen Raum, um die Inanspruchnahme von Religionsfreiheit durch Muslime und neue religiöse Bewegungen. Die Studie von Fetzer und Soper125 ist hier ein Anschauungsbeispiel. In einem 3-Länder-Vergleich (Deutschland, Frankreich, Großbritannien) zur Integration von Muslimen treten kulturelle Erklärungen noch hinter die Bedeutung der StaatKirche Regime als institutionelle „legacy“ zurück in der Erklärung nationaler Variationen. Frankreich fungiert als starrer Fall einer säkularistischen und assimilatorischen Politik in einem strikten Trennungsregime als hauptsächliches Anschauungsbeispiel. Es spricht einiges dafür, daß die Aushandlungsprozesse zwischen dem Staat und den jeweiligen Minderheiten durch die dominanten nationalen und konfessionellen Traditionen und ihre institutionellen Regelungen geprägt und daß Konvergenzen, etwa durch Anpassungsdruck infolge von gleichförmigen Prozessen wie Globalisierung und Einwanderung oder – in Europa – des europäischen Integrationsprozesses, durch pfadabhängige Divergenzen überlagert werden. Allerdings sollte das französische Beispiel nicht überbewertet werden, denn in den außereuropäischen Demokratien spielen Staat-Kirche-Trennungen eine andere Rolle. Trennungsregime in Ländern mit protestantischen Mehrheiten wie in den Niederlanden und den außereuropäischen Demokratien stehen einer Kompromißfindung in diesen Aushandlungen und einer kulturellen Integration der Gruppen offenbar weniger im Wege als die Modelle privilegierter Staat-Kirche-Partnerschaften in gemischt-protestantischen und katholischen Ländern (z. B. in Deutschland, der Schweiz sowie Österreich, Belgien und Italien).126 8. Religion und internationale Politik Auch in der internationalen Politik spielt die Religion eine Rolle, die inzwischen von der Politikwissenschaft verstärkt wahrgenommen wird. Einer der ältesten Akteure in der internationalen Politik war und ist der 125
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Joel Fetzer, J. Christopher Soper: Muslims and the State in Britain, France and Germany (wie Anm. 18). Vgl. Ruud Koopmans, Paul Statham, Marco Giugni, Florence Passy: Contested Citizenship. Immigration and Cultural Diversity in Europe, Minneapolis, Lon-
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Vatikan, die katholische Kirche kann seit dem päpstlichen Aufbegehren gegen die Vorherrschaft der christlichen Monarchen im 11. Jahrhundert als transnationale Organisation par excellence gelten. Diese Rolle wurde in der Moderne durch zwei Entwicklungen untermauert: der Ultramontanismus im 19. Jahrhundert, der sich gegen die französische Revolution und den Nationalstaat richtete, und der Verzicht auf kirchliche Machtansprüche auf dem II. Vatikanischen Konzil, das das Papsttum vor allem unter Johannes Paul II. in eine „moralische Supermacht“127 verwandelte. In den vergangenen Jahrzehnten hat sich auch der transnationale Islam, begünstigt durch Globalisierung und moderne Kommunikationstechnologien, auf der internationalen Bühne zurück gemeldet. Die Bedeutung von Religion in der internationalen Politik wurde lange Zeit durch die Hegemonie der realistischen Schule und des Westfälischen Modells, das nur Territorial- oder Nationalstaaten als Akteure in den internationalen Beziehungen kannte, übersehen.128 Erst der Fundamentalismus und ein religiös gefärbter Terrorismus brachte die Religion in dieses Forschungsfeld zurück. Politisches Gewicht hatten die Impulse des Vaticanum II in Richtung derjenigen Länder, in denen aufgrund der großen Spannungen zwischen (National)Staat und Kirche zwischen 1870 und 1960 eine Aussöhnung der Katholiken mit der Moderne noch ausstand. Neu war jedenfalls, daß der Vatikan seit 1965 auch einen ständigen Sitz bei den Vereinten Nationen bekam: die „theologische Begründung der (relativen) ‚Rechte der Nationen‘ wird erst am Ende des 20. Jahrhunderts formuliert: nämlich vom katholischen Universalisten und polnischen Patrioten Karol Wojtyla, in seiner Rede vor der UNO-Vollversammlung (1995)“.129 In der EU organisieren sich religiöse Interessen ebenfalls transnational. Wie bei den Verfassungsgebungen in Italien und Deutschland (1948/49,) Spanien (1977) und Polen (1991/97) hat sich auch bei der
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don 2005; Michael Minkenberg: Religious Legacies and the Politics of Multiculturalism: a Comparative Analysis of Integration Policies in Western Democracies, in: Simon Reich, Ariane Chebel d’Appollonia (Hg.): Immigration, Integration, and Human Security, Pittsburgh, Penn 2008, S. 44–66. Otto Kallscheuer: Papismus und Internationalismus. Zur Rolle des Vatikan in der Weltpolitik, in: Michael Minkenberg, Ulrich Willems (Hg.): Politik und Religion (PVS-Sonderheft 33), Wiesbaden 2003, S. 523–542. Scott M. Thomas: The Global Resurgence of Religion and the Transformation of International Relations, New York 2005. Otto Kallscheuer: Papismus und Internationalismus (wie Anm. 127), S. 531.
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EU-Verfassungsgebung vor allem die katholische Kirche dafür eingesetzt, eine besondere Berücksichtigung ihrer Interessen und allgemeiner christlicher Prinzipien zu erwirken. Seit Ende der 1990er Jahre unterhält die Europäische Kommission auf Wunsch der christlichen Kirchen in den EU-Mitgliedsländern informelle Beziehungen zu diesen sowie zu einigen nichtchristlichen Gruppierungen. Hierbei existiert allerdings eine Spannung zwischen dem Versuch der Kirchen, auf die EU einzuwirken und von dieser anerkannt zu werden, und dem Beharren der Kirchen, ihr Verhältnis zum Staat auf der jeweiligen nationalen Ebene zu regeln und nicht auf eine supranationale Ebene zu übertragen.130 Schließlich sind auf der internationalen Ebene auch religiöse Netzwerke gewalttätiger Gruppen zu nennen, die von der wachsenden Interdependenz der globalen Ordnung profitieren. Anders als bei mittelalterlichen oder modernen Kreuzzügen stehen aber keine Staaten oder andere legitime Autoritäten, sondern selbsternannte religiöse Führer oder fast anarchisch strukturierte Netzwerke und Kleingruppen dahinter. Das Szenario eines religiös begründeten internationalen bzw. interzivilisatorischen „Kampfes der Kulturen“ (Huntington) muß allerdings als überspitzt und wissenschaftlich unhaltbar zurückgewiesen werden. 9. Schluß Die Prozesse von Modernisierung und Globalisierung verhelfen der Religion zu einer neuen Prominenz in der Politik westlicher Demokratien. Die Kräfte einer religiösen Pluralisierung sind nicht nur in der Zuwanderung religiöser Minderheiten und demographischer Veränderungen zu suchen, welche die religiöse Landkarte der betroffenen Länder bunter machen als lange Zeit seit Nationsbildung und Demokratisierung und der Durchsetzung des säkularen und liberalen Staates. Sondern sie kommen auch aus dem erloschen geglaubten „Glutkern“ (Burger) bestehender Religionsgemeinschaften, die in den Diskussionen über die Neuregelungen des religionspolitischen Komplexes ihre Stimme hörbar vernehmen lassen. Sie repräsentieren die neue öffentliche Rolle von Religion, ihre „Entprivatisierung“ (Casanova) trotz ungebrochener Fortsetzung des Säkularisierungsprozesses in einzelnen Bereichen.
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Vgl. Timothy A. Byrnes, Peter J. Katzenstein (Hg.): Religion in an Expanding Europe, Cambridge 2006.
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Die neue Bedeutung der Religion in westlichen Demokratien läßt sich auf zweierlei Weise festmachen: durch die offensichtliche Politisierung von Religion (alter und neuer), auf die politische Akteure und auch der Staat selbst reagieren müssen (und wodurch ihnen eine öffentliche Anerkennung zuteil wird, die ihnen als privatisierte Religion versagt blieb), und durch eine Offenlegung von bislang ebenfalls verschleierten Verschränkungen von Religion und Politik, einschließlich des säkularen Staates, die das Postulat des neutralen Staates unterlaufen. Damit ist weniger gemeint, daß der Staat, wie Kritiker der liberalen Theorie immer wieder einwenden, eine parteiische Ideologie des „Säkularismus“ mehr oder weniger militant gegenüber allen Religionsgemeinschaften vertritt, sondern eher die Verwurzelung dieses Staates in klassischen, von den dominanten christlichen Religionsgemeinschaften mitkonstruierten Arrangements einer nur unvollkommenen Neutralität. Die sich aus den skizzierten Prozessen ergebenden neuen Konfliktlagen sollten allerdings nicht als Bedrohung für das politische Gefüge westlicher Demokratien, im Sinne einer Abweichung von der Norm der Moderne oder krisenhaften Zuspitzung bzw. Unterminierung des politischen Betriebs betrachtet werden. Vielmehr können sie, wenn man den weiter oben vorgestellten Politikbegriff zugrunde legt, als Weiterentwicklung des „normalen“ Geschäfts politischer Konfliktregulierung begriffen und in das politische System wie auch in das Analyseinstrumentarium der Politikwissenschaft integriert werden. Das wachsende politikwissenschaftliche Interesse am Verhältnis von Religion und Politik sollte sich allerdings vor Idealisierungen in acht nehmen: „Both religion and politics are a messy business, invoking both high ideals and prideful power-seeking, lofty rhetoric and questionable motives. Their union is dangerous to political liberty and religious purity; their separation impossible and imprudent“.131
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Clarke E. Cochran: Introduction, in: Mary Segers, Ted G. Jelen (Hg.): A Wall of Separation? Debating the Public Role of Religion, Lanham, MD 1998, S. ix–xx, hier S. xix.
Religion als Thema der Geschichtswissenschaft Monika Neugebauer-Wölk I. Nach langer Zeit, vielleicht erstmals seit ihrer Konstituierung im 19. Jahrhundert, ist das Verhältnis zwischen Geschichtswissenschaft und dem Gegenstandsbereich ‚Religion‘ deutlich und umfassend in Bewegung geraten. Diese Entwicklung ist jung, und sie ist ein Resultat des endgültigen Scheiterns der Säkularisierungsgewißheit. In vielfach dramatischer Weise hat die Gegenwart die Notwendigkeit ins Bewußtsein der Historiker eingeschrieben, dieses Thema offensiv und vor allem in seiner gesamten Komplexität zu behandeln. Man weiß inzwischen, daß man nicht mehr darauf warten kann, bis es sich von selbst erledigt. Seit der Jahrhundertwende hat es wohl mehr Tagungen zu Fragen von Religion und Religiosität gegeben als je zuvor in einem so kurzen Zeitraum, und Historiker waren die Initiatoren oder engagiert daran beteiligt. Ich kann die einzelnen Veranstaltungen hier nicht aufzählen.1 Allein die Quantität der Initiativen in den letzten Jahren belegt die Intensität des neuen Interesses und das Bewußtsein des Defizits. Aber was genau war eigentlich das Defizit? Es ist ja keineswegs so, daß Historiker keine Studien zu religionsrelevanten Themen vorgelegt hätten. Sie aufzulisten alleine für die deutsche Geschichtswissenschaft – 1
Vgl. z. B. den Bericht von Thomas Wünsch: Religion und Magie in Ostmitteleuropa. Spätmittelalter und frühe Neuzeit. Ein Tagungsresümee, in: Monika Neugebauer-Wölk (Hg.): Religionsgeschichte der Neuzeit. Profile und Perspektiven (zeitenblicke. Onlinejournal für die Geschichtswissenschaften 5 [2006], Nr. 1). Der „Arbeitskreis für moderne Sozialgeschichte“ hat im April 2006 eine Tagung zum Thema Religion in der Sozialgeschichte Europas im 20. Jahrhundert veranstaltet, im September 2006 gab es am ‚Max-Planck-Institut für Geschichte‘ in Göttingen ein Symposium zum Thema Religionsgeschichte im Vergleich. Eine deutschfranzösische Bilanz für die Frühe Neuzeit. Diese Liste könnte problemlos erweitert werden.
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und nur für die kann ich hier sprechen – würde eine stattliche Bibliographie ergeben. Schon seit den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts hat es auch Versuche gegeben, einen übergeordneten Zugang zu entwickeln: Wolfgang Schieders Religionsgeschichte als Sozialgeschichte der Neuzeit oder Richard van Dülmens Forschungen zur Volksreligiosität als Kulturgeschichte.2 Der Schlüssel zum Verständnis des Defizits, das sich trotzdem ergibt, liegt in der Beantwortung der Fragen, die Friedrich Wilhelm Graf diesem Kongreß vorangestellt hat: „Wie konstituiert eine religionsdeutende Disziplin ihren Blick auf ‚Religion‘? Welche Erkenntnis- oder Verstehensansprüche werden erhoben?“3 Ich will mit der nötigen Radikalität antworten, um das Problem deutlich zu machen: Die deutschen Historiker erhoben traditionell überhaupt keine Erkenntnisansprüche gegenüber dem geschichtsbildenden Faktor ‚Religion‘. Stattdessen kümmerten sie sich um dessen Wirkungen und Folgen im gesellschaftlichen und politischen Bereich. Und das ist selbstverständlich interessant und notwendig und soll hier gar nicht negativ bewertet werden. Es ist nur wichtig, sich bewußt zu machen, daß ein auf die Wirkungsgeschichte beschränkter Erkenntnisanspruch nicht auf das Zentrum, den eigentlichen Gegenstand von Religionsforschung zielt. Wenn Graf über die konkurrierenden Disziplinen schreibt: „Alle sind sich darin einig, Religion verstehen zu wollen. Nahezu jeder geht davon aus, er könne dies mit seiner Wissenschaft besser als andere,“4 so kann die Einschränkung des „nahezu“ für den Blick auf die Geschichtswissenschaft stehen: Immer dort, wo es darum ging, allgemein-historische Entwicklungen an eine Konzeption des Religiösen rückzubinden, rekurrierten Historiker auf Arbeitsergebnisse und Sichtweisen anderer Disziplinen: die Konfessionalisierungsforschung auf die theologiebezogene Kirchengeschichtsschreibung5, die 2
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Dazu im Überblick Monika Neugebauer-Wölk: Zur Konstituierung historischer Religionsforschung 1974 bis 2004, in: dies. (Hg.): Religionsgeschichte der Neuzeit (wie Anm. 1), ohne Seitenzählung. Friedrich Wilhelm Graf: Religion[en] deuten. Transformationen der Religionsforschung. Tagungsausschreiben zum 9. Internationalen Kongreß der ErnstTroeltsch-Gesellschaft, Erfurt 2007, S. 5. Ebd., S. 3. Hier ist nur am Rande zu erwähnen, daß sich eine ‚neue Konfessionalisierungsforschung‘ zunehmend auch kulturgeschichtlich ausrichtet. Siehe etwa Anna Ohlidal: ‚Konfessionalisierung‘. Ein historisches Paradigma auf dem Weg von der Sozialgeschichte zur Kulturwissenschaft?, in: Acta Comeniana 15/16 (2002), S. 327–342.
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frühneuzeitbezogene Volksreligiositätsforschung zunächst auf die Volkskunde, dann auf Anthropologie und Ethnologie, die Arbeiten zur Moderne auf die Religionssoziologie usw. Auf welches der anderen Fächer man sich bezog, das folgte dem je persönlichen Weltbild oder eben den Vorgaben und Usancen des Themenbereichs, in dem man sich bewegte. So gibt es auch in der Binnendifferenzierung Historischer Institute keine Lehrstühle für Religionsgeschichte. Der historische Faktor ‚Religion‘ wurde nicht als ein eigenständiges Arbeitsgebiet wahrgenommen. Ist es falsch, sich auf die Positionen anderer Disziplinen zu beziehen? Selbstverständlich nicht. Es liegt im vitalen Interesse jeder disziplinspezifischen Religionsforschung, sich interdisziplinär zu öffnen. Problematisch war nicht, daß die Zugangsweisen anderer Fächer in der Geschichtswissenschaft rezipiert wurden; kritisch ist zu sehen, daß dies weitgehend distanzlos und diskussionslos geschah. Wo ist die Übernahme eines Modells sinnvoll, wo nicht? Woher kommen die Modelle, was leisten sie? Welche Ansätze entsprechen den Fragestellungen der Geschichtswissenschaft und ihrem eigenen Forschungsinteresse? Zu allen diesen Fragen gab es kaum eine Debatte. Die wünschenswerte ‚Entdisziplinierung‘ in der Religionsforschung macht aber nur Sinn – das betont das Tagungsausschreiben zu Recht –, wenn die ‚disziplinäre Matrix‘ aller beteiligten Fächer geklärt ist.6 Es dürfte aber bis heute schwierig sein, das Spezifische geschichtswissenschaftlicher Religionsforschung zu beschreiben. Die Wahrnehmung dieses Problems ist nun bei den Historikern angekommen. 2006 hat sich Lucian Hölscher zu dieser Frage geäußert. Er formulierte den Eindruck, daß „die methodische und theoretische Selbstreflexion“ im Fach mit der immer weiter zunehmenden thematischen Erweiterung „nicht wirklich Schritt gehalten hat. Noch immer werden die meisten religionsgeschichtlichen Untersuchungen vorwiegend von profanhistorischen, d. h. politik- und ideen-, sozial- und neuerdings vermehrt auch von kulturgeschichtlichen Fragestellungen bestimmt. Von einer Reflexion darüber, was in all diesen Themenfeldern Religion eigentlich bedeutet [. . .], findet sich dagegen kaum etwas.“7 6 7
Friedrich Wilhelm Graf: Religion[en] deuten (wie Anm. 3), S. 3. Lucian Hölscher: Der Raum des Religiösen. Semantische Strukturen des religiösen Lebens im 19. Jahrhundert – eine problemgeschichtliche Skizze, in: Hartmut Lehmann (Hg.): Transatlantische Religionsgeschichte 18. bis 20. Jahrhundert, Göttingen 2006, S. 109–123, Zitat S. 109 f. Hölscher hat einen religionsgeschichtlichen Schwerpunkt an der Universität Bochum aufgebaut, dessen Zentrum in der „Fakultät für Geschichtswissenschaft“ liegt. Vgl. ders.: Pro-
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II. Es ist die Absicht dieses Beitrags, einige Überlegungen dazu vorzustellen, wie eine solche disziplinäre Matrix geschichtswissenschaftlicher Religionsforschung profiliert werden könnte. Zuvor sei jedoch ein weiterer Rückblick erlaubt. Ich knüpfe da an, wo ich die Fächer genannt habe, bei denen sich die Historiker für ihr Grundverständnis von ‚Religion‘ im allgemeinen bedienen. Die Religionswissenschaft ist dabei unerwähnt geblieben. Das war durchaus kein Versehen. Das Fehlen der Religionswissenschaft unter den allgemein üblichen Referenzdisziplinen historischer Religionsforschung reflektierte ja nur die Tatsache, daß dieses Fach für die deutsche oder europäische Geschichte traditionell nichts zu bieten hatte, war es doch gemäß der Arbeitsteilung mit der Kirchengeschichte auf die außereuropäische Welt verwiesen. Nun hat sich dies allerdings in letzter Zeit grundlegend geändert: Die ‚Europäische Religionsgeschichte‘ wurde als Forschungsgegenstand entdeckt. An diesem Tagungsort ist es wohl kaum nötig, dies breit auszuführen. Die nach der Wende wiederbegründete Universität Erfurt hat einen ihrer Schwerpunkte in der Religionswissenschaft. Schon die hier gehaltenen Antrittsvorlesungen befaßten sich mit dem zentralen Element des neuen Konzepts, dem Pluralismus.8 ‚Pluralismus‘ meint einen grundsätzlichen Paradigmenwechsel: Europa ist in der Wahrnehmung der Religionswissenschaftler heute nicht mehr identisch mit der Grundfigur des Christlichen Abendlands. Auch für den europäischen Raum wurde nun der Begriff der ‚Religion‘ nicht mehr umstandslos mit dem Christentum identifiziert, und – vor
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jektbericht: Neuer religionsgeschichtlicher Schwerpunkt in Bochum, in: Monika Neugebauer-Wölk (Hg.): Religionsgeschichte der Neuzeit (wie Anm. 1), ohne Seitenzählung. Friedrich Wilhelm Graf hat die Situation in der Geschichtswissenschaft ebenfalls deutlich formuliert, wenn er konstatiert, daß selbst „der neue Boom an neuzeithistorischer Religionsforschung bisher keinen relevanten Methodenstreit provoziert hat“ – „Bei vielen – ich vermute: wohl den meisten – Fachhistorikern läßt sich eine elementare Unsicherheit beobachten, wie denn eine moderne Religionsgeschichte zu schreiben oder Religion als eine Kulturpotenz sui generis in eine moderne europäische Sozial- und Kulturgeschichte zu integrieren sei.“ (Friedrich Wilhelm Graf: Euro-Gott im starken Plural? Einige Fragestellungen für eine europäische Religionsgeschichte des 20. Jahrhunderts, in: Journal of Modern European History 3 [2005], S. 231–256, Zitate S. 233 f.). Vgl. Andreas Gotzmann, Vasilios N. Makrides, Jamal Malik, Jörg Rüpke: Pluralismus in der europäischen Religionsgeschichte. Religionswissenschaftliche Antrittsvorlesungen, Marburg 2001.
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allem – die Pluralisierung des Religiösen wurde von der Gegenwart auf die Geschichte rückprojiziert, damit vom Prozeß der Säkularisierung losgelöst und historisiert.9 Auch das in Erfurt angesiedelte „Max-WeberKolleg“ gibt diesen Neuansätzen Raum. Im Februar 2006 hat hier eine Tagung zum Thema Europäische Religionsgeschichte. Entwicklungspfade und Vermittlungsformen stattgefunden.10 Der religiöse Pluralismus wird für die Religionswissenschaft zum „Normalfall in Europa“ – wie Hans G. Kippenberg und Kocku von Stuckrad es in ihrer Einführung in die Religionswissenschaft formuliert haben.11 Gemeint war damit nicht nur die Repräsentanz der beiden anderen Hochreligionen im europäischen Raum – Judentum und Islam –, sondern auch ein informeller Faktor, das Fortleben ‚heidnisch‘-antiker religiöser Elemente in verschiedenen Stufen der Aneignung und Transformation. Als historisch konstitutiv gelten dabei die verschiedenen Renaissancen der antiken Kultur, vor allem die Renaissance im 15. Jahrhundert. Burkhard Gladigow, der wie kein anderer den Paradigmenwechsel der Religionswissenschaft angestoßen hatte, hatte die Formulierung seines Konzepts mit dieser Beobachtung begonnen: „Für die europäische Religionsgeschichte [. . .] ist spätestens seit der Renaissance eine Wahlmöglichkeit zwischen Sinnsystemen möglich.“12 Der Schwerpunkt lag dabei auf dem Fortleben „indigener europäischer Religionen“,13 des Polytheismus der griechisch-römischen Antike, komplementär zu den aus dem Vorderen Orient stammenden Monotheismen. Selbstverständlich verbot der Herrschaftscharakter des Christentums in vormoderner Zeit 9
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Zum diesbezüglichen Verhältnis zwischen Religionswissenschaft und Geschichtswissenschaft Burkhard Gladigow: Religionswissenschaft. Historisches, Systematisches und Aktuelles zum Stand der Disziplin, in: Berliner Theologische Zeitschrift 12 (1996), S. 200–213, bes. S. 211–213. Max-Weber-Kolleg für kultur- und sozialwissenschaftliche Studien. Nachrichten, Heft 7 (Winter 2006), S. 19–21. Publiziert: Hans G. Kippenberg, Jörg Rüpke, Kocku von Stuckrad (Hg.): Europäische Religionsgeschichte. Ein mehrfacher Pluralismus, 2 Bde., Göttingen 2009. Hans G. Kippenberg, Kocku von Stuckrad: Einführung in die Religionswissenschaft. Gegenstände und Begriffe, München 2003, S. 131. Burkhard Gladigow: Europäische Religionsgeschichte, in: Hans G. Kippenberg, Brigitte Luchesi (Hg.): Lokale Religionsgeschichte, Marburg 1995, S. 21–42, Zitat S. 21. Burkhard Gladigow: Vorwort, in: Andreas Gotzmann, Vasilios N. Makrides, Jamal Malik, Jörg Rüpke: Pluralismus in der europäischen Religionsgeschichte (wie Anm. 8), S. 11–15, Zitat S. 14.
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das nachhaltige Offenlegen derartiger Tendenzen, so daß von einem „latenten Polytheismus“14 gesprochen werden kann, der sich an immer wieder anderen kulturellen Schnittstellen manifestierte. Als Bezugssysteme, in denen sich diese Aneignung vollzog, wurden Philosophie und Philologien genannt, Medien der Wiederbelebung vor allem der religiösen Elemente des antiken Neuplatonismus.15 Nahezu gleichzeitig und offenbar zunächst unabhängig von diesem Umbruch in der Religionswissenschaft vollzog ein Historiker eine vergleichbare Neuorientierung. 1994 entwickelte der gerade neuberufene Direktor am Göttinger „Max-Planck-Institut für Geschichte“, Hartmut Lehmann, ein Forschungsprogramm, das ebenfalls auf ein innovatives Verständnis der europäischen Religionsgeschichte zielte.16 Lehmanns Ausgangspunkt war dabei allerdings nicht die Skepsis gegenüber dem geschlossenen Bild vom Christlichen Abendland, sondern die Kritik am herkömmlichen Konzept der Säkularisierung. Gegen die Vorstellung eines linear verlaufenden Prozesses der Verweltlichung auf Kosten von Christentum und Kirchen setzte er den Dreiklang von Säkularisierung, Dechristianisierung und Rechristianisierung, d. h. die Vorstellung einer sogar zeitweise gegenläufigen Entwicklung zur Säkularisierung, von Schüben der Erneuerung des religiösen Potentials bis hinein in die
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Siehe Burkhard Gladigow: Europäische Religionsgeschichte seit der Renaissance, in: Monika Neugebauer-Wölk (Hg.): Religionsgeschichte der Neuzeit (wie Anm. 1), Absatz . Vgl. auch Jörg Rüpke: Polytheismus und Pluralismus, in: Andreas Gotzmann, Vasilios N. Makrides, Jamal Malik, Jörg Rüpke: Pluralismus in der europäischen Religionsgeschichte (wie Anm. 8), S. 17–34, bes. S. 20. Burkhard Gladigow: Mediterrane Religionsgeschichte, Römische Religionsgeschichte, Europäische Religionsgeschichte. Zur Genese eines Fachkonzepts, in: H. F. J. Horstmanshoff, H. W. Singor, F. T. van Straten, J. H. M. Strubbe (Hg.): Kykeon. Studies in Honour of H. S. Versnel, Leiden, Boston, Köln 2002, S. 49–67, S. 50: „Die Wirkung der historischen, philologischen und kulturwissenschaftlichen Wissenschaften ist ein Teil des Phänomens ‚Europäische Religionsgeschichte‘.“ Vgl. zur monographischen Umsetzung dieses Konzepts die auf vielfache Anregungen Gladigows zurückgehende Dissertation von Michael Stausberg: Faszination Zarathushtra. Zoroaster und die Europäische Religionsgeschichte der Frühen Neuzeit, Berlin, New York 1998 (Vorwort S. VIII). Vgl. zur Bedeutung der Forschungen Hartmut Lehmanns für die Entwicklung einer historischen Religionsforschung die Sammelrezension von Friedrich Wilhelm Graf: Von der Baustelle der Religionsgeschichte, in: neue politische literatur, Heft 1 (2006), S. 5–10, besonders die einleitenden Bemerkungen.
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Moderne.17 Dabei machte er aber ähnliche Beobachtungen wie die Religionswissenschaftler. Auch Lehmann konstatierte, daß es schon in der Frühen Neuzeit religiöse Orientierungen in Europa gegeben habe, die nicht oder jedenfalls nicht zur Gänze im Christentum aufgingen: „Ohne die Kenntnis anderer Wertorientierungen, anderer Glaubensformen und anderer Verhaltensweisen kann der relative Einfluß dessen, was christlich geprägt ist, nicht erfaßt werden. Deshalb gilt es auch die Ursprünge sowie Erfolg und Einfluß der mit dem Christentum konkurrierenden nichtchristlichen Weltdeutungen zu erfassen.“18 Und Lehmann ging in einem ganz wesentlichen Punkt über die gleichzeitig entwickelten Anregungen aus der Religionswissenschaft hinaus: Er sah, daß es Fragen der Begriffsklärung aufwarf, wenn man das Spektrum der europäischen Religionsgeschichte erweiterte: „Die Probleme einer für die Erforschung der Transformationen des Religiösen im neuzeitlichen Europa adäquaten Terminologie sind bisher nicht gelöst [. . .],“19 und: „Eigentlich müßte das Ensemble der hier verwendeten Begriffe [nämlich Säkularisierung, Dechristianisierung, Rechristianisierung, M. N.-W.] noch durch einen vierten Begriff komplettiert werden, der als Gegenbegriff zum Begriff Säkularisierung die Hinwendung zu unterschiedlichen Formen einer transzendenten Orientierung im neuzeitlichen Europa bezeichnet.“20 Bei den Religionswissenschaftlern konnte Lehmann diesbezüglich nicht fündig werden. Hier lehnte man es aus prinzipiellen Gründen ab, das aus der Antikenrezeption der Renaissance stammende Element europäischer religiöser Pluralität auf den Begriff zu bringen. In
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Vgl. zuerst: Hartmut Lehmann: Aktueller Forschungsschwerpunkt „Dechristianisierung, Säkularisierung und Rechristianisierung im neuzeitlichen Europa“, in: Jahrbuch der Max-Planck-Gesellschaft 1994, S. 592–597. Hartmut Lehmann: Von der Erforschung der Säkularisierung zur Erforschung von Prozessen der Dechristianisierung und Rechristianisierung im neuzeitlichen Europa, in: ders. (Hg.): Säkularisierung, Dechristianisierung, Rechristianisierung im neuzeitlichen Europa. Bilanz und Perspektiven der Forschung, Göttingen 1997, S. 9–16, Zitat S. 14 f. Hartmut Lehmann: Säkularisierung, Dechristianisierung, Rechristianisierung im neuzeitlichen Europa. Forschungsperspektiven und Forschungsaufgaben, in: ders. (Hg.): Säkularisierung, Dechristianisierung, Rechristianisierung (wie Anm. 18), S. 314–325, Zitat S. 318. Ebd., S. 318.
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bewußter Abgrenzung zur Religionsphänomenologie21 vermied man jede als ahistorisch und essentialistisch empfundene Definition oder ‚Wesens‘-Bestimmung entsprechender Strömungen. So griff Lehmann ein Systematisierungsangebot auf, das vom Londoner Warburg Institut und den Forschungen von Frances Yates ausgegangen war. Yates hatte bekanntlich – abgeleitet aus der Rezeption des auf antiken Traktaten basierenden Corpus Hermeticum in der Renaissance – den Begriff des Hermetismus in seiner Bedeutung für Philosophie und Literatur der Vormoderne eingeführt.22 Am ‚Max-Planck-Institut‘ erkannte man die religionsgeschichtliche Relevanz dieses schon aus den sechziger Jahren stammenden Konzepts und veranstaltete 1999 eine Tagung, die die „Pluralisierung von Religiositäts- und Wissensformen in der Frühen Neuzeit“ unter dieses Stichwort stellte.23 Lehmann forderte dazu auf, „eine umfassend angelegte Religionsgeschichte“ zu konzipieren, die „dem Hermetismus im Rahmen des religiösen Denkens zwischen Renaissance und Aufklärung einen angemessenen Platz einräumt.“24 Damit war wohl erstmals eine Situation hergestellt, in der die Geschichtswissenschaft sich beim Thema ‚Religion‘ anschickte, mit modernsten Anregungen aus dem interdisziplinären Umkreis gleichzuziehen und sie darüber hinaus eigenständig weiterzuentwickeln. Bereits hier war ein Punkt erreicht, von dem aus die Historiker einen maßgeblichen Beitrag zur Religionsforschung hätten leisten können. Aber die Göttinger Bemühungen blieben fachintern wirkungslos. Die Zusammensetzung der Tagung hatte das bereits erwarten lassen: Von den Veranstaltern abgesehen, kamen nur drei der siebzehn Referenten
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Zum fachhistorischen Hintergrund dieser Vermeidungsstrategie siehe Burkhard Gladigow: Religionswissenschaft (wie Anm. 9), S. 200 f. Vgl. das Standardwerk Frances A. Yates: Giordano Bruno and the Hermetic Tradition, Chicago 1964. Dazu Marjorie G. Jones: Frances Yates and the Hermetic Tradition, Lake Worth 2008, bes. S. 119–136. Vgl. Anne-Charlott Trepp: Hermetismus oder zur Pluralisierung von Religiositäts- und Wissensformen in der Frühen Neuzeit. Einleitende Bemerkungen, in: dies., Hartmut Lehmann (Hg.): Antike Weisheit und kulturelle Praxis. Hermetismus in der Frühen Neuzeit, Göttingen 2001, S. 7–15. Hartmut Lehmann: Probleme einer Europäischen Religionsgeschichte der Frühen Neuzeit. Anmerkungen zur Verortung des Hermetismus zwischen Renaissance und Aufklärung, in: Anne-Charlott Trepp, Hartmut Lehmann (Hg.): Antike Weisheit und kulturelle Praxis (wie Anm. 23), S. 235–242, Zitate S. 242.
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aus der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft.25 Auf dem Hintergrund des lange eingeübten Verzichts auf fachspezifische substantielle Religionsdeutung fehlte einfach die Kompetenz für eine solche Diskussion, so daß der Funke nicht übersprang. Und so ging man auch am MPI den eingeschlagenen Weg nicht konsequent weiter. Zwar setzte Hartmut Lehmann seine Bemühungen um die Öffnung des Gesamtverständnisses neuzeitlicher Religionsgeschichte fort: 2003 begründete er die Schriftenreihe Bausteine zu einer Europäischen Religionsgeschichte im Zeitalter der Säkularisierung.26 Das Ziel jedoch, die informellen Elemente der religiösen Antikenrezeption in der Neuzeit zu systematisieren und damit dem Gesamtspektrum der Europäischen Religionsgeschichte eine neue Struktur zu verleihen, wurde nicht weiter verfolgt. Hintergrund dieser Entscheidung war über die ausbleibende fachliche Resonanz hinaus wohl auch die Tatsache, daß das deutsche Konzept der ‚Europäischen Religionsgeschichte‘ inzwischen internationale Konkurrenz bekommen hatte. In den ausgehenden neunziger Jahren begann es sich allmählich auszuwirken, daß Antoine Faivre an der ‚Section des Sciences Religieuses‘ der Pariser ‚Ecole Pratique des Hautes Etudes‘ die Esoterikforschung begründet hatte.27 Faivre tat nichts anderes, als sich um die Denomination seines Lehrstuhls zu bemühen, der der Geschichte der esoterischen Strömungen im Europa der Neuzeit gewidmet war.28 Damit wurde jedoch ein Terminus der religiösen Moderne auf die Religionsgeschichte übertragen, der eine prekäre Konnotation besaß; es 25
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Siehe das Autorenverzeichnis des Berichtsbandes: Anne-Charlott Trepp, Hartmut Lehmann (Hg.): Antike Weisheit und kulturelle Praxis (wie Anm. 23), S. 467. Siehe zuerst: Hartmut Lehmann (Hg.): Multireligiosität im vereinten Europa. Historische und juristische Aspekte, Göttingen 2003. Vgl. dazu Wouter J. Hanegraaff: The Birth of a Discipline, in: Antoine Faivre, Wouter J. Hanegraaff (Hg.): Western Esotericism and the Science of Religion, Leuven 1998, S. VII–XVII. Der genaue Titel der Denomination lautete: „Histoire des courants ésotériques et mystiques dans l’Europe moderne et contemporaine“. Vgl. Richard Caron, Joscelyn Godwin, Wouter J. Hanegraaff, Jean-Louis Vieillard-Baron (Hg.): Esotérisme, gnoses & imaginaire symbolique. Mélanges offerts à Antoine Faivre, Leuven 2001, S. XI. Zur Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte der Zuordnung dieses Lehrstuhls siehe: Ein neues Feld europäischer Religionsgeschichte. Antoine Faivre gibt Auskunft zur Esoterikforschung, in: Monika Neugebauer-Wölk (Hg.): Religionsgeschichte der Neuzeit (wie Anm. 1), ohne Seitenzählung, hier Absätze –.
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wurde eine Verbindungslinie gezogen zwischen intellektuell und kulturell nicht akzeptierten religiösen Erscheinungsformen der Gegenwart, der ‚Esoterik‘, und der auf hohem Niveau angesiedelten philosophischphilologisch begründeten Renaissancereligiosität. Der Hermetismusbegriff hatte derartige Assoziationen dagegen nicht provoziert, sondern gerade verdeckt. Auch Faivre hatte die Konstituierung seines Gegenstandes in der Renaissance des 15. Jahrhunderts angesetzt. Er umriß ein sogenanntes ‚Esoterisches Corpus‘ auf den Basiselementen von Astrologie, Alchemie und Magie, der Rezeption des Corpus Hermeticum und der Kabbala,29 auf der Quellengrundlage der Entdeckung und Entschlüsselung von Texten des platonisch-neuplatonischen Zusammenhangs und seiner Wirkungsgeschichte. Aus diesem Corpus abstrahierte Faivre eine ‚esoterische Denkform‘ aus vier notwendigen Elementen, darunter dem Analogie- und Transmutationsdenken.30 An der Universität Amsterdam wurde ab 1999 von Wouter J. Hanegraaff ein ganzes Institut aufgebaut, das einschlägigen Forschungen gewidmet ist und heute einen Studiengang zur Geschichte europäischer Esoterik anbietet.31 Eine wissenschaftliche Zeitschrift für Esoterikforschung wurde begründet32 und die „European Society for the Study of Western Esotericism“ ins Leben gerufen.33 Diese westeuropäische Forschungsoffensive fand kaum Eingang in die deutsche Religionswissenschaft. Auch am ‚Max-Planck-Institut‘ in Göttingen ging man diesen Weg der Begriffs- und Konzeptbildung nicht mit. Das war schon entschieden, als 2001 der Berichtsband der Hermetismustagung erschien. In dessen Einleitung lehnte Anne-Charlott Trepp 29
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Grundlegend Antoine Faivre: L’ésotérisme, Paris 1992, dt. zuerst: Antoine Faivre: Esoterik, Braunschweig 1996, dann: Antoine Faivre: Esoterik im Überblick. Geheime Geschichte des abendländischen Denkens, Freiburg i. Br. 2001. Hier das Kapitel: „Die Ausbildung eines grundlegenden Corpus in der Renaissance“, S. 15–23. Ebd., S. 24–34. Vgl. Monika Neugebauer-Wölk: Artikel ‚Esoterik‘/‚Esoterisches Corpus‘, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Band 3, Stuttgart, Weimar 2006, Sp. 544– 554. Wouter J. Hanegraaff, Joyce Pijnenburg (Hg.): Hermes in the Academy. Ten Years’ Study of Western Esotericism at the University of Amsterdam, Amsterdam 2009. Aries. Journal for the Study of Western Esotericism, Band 1 (2001). Internetauftritt der ESSWE: http://www.esswe.org/.
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für die Herausgeber die Verwendung des Begriffs ‚Esoterik‘ mit Bezug auf „die neuzeitliche Rezeption antiker Weisheitslehren“ explizit ab, und zwar, „weil er in der Frühen Neuzeit nicht gebräuchlich war und [. . .] weil er nur allzu leicht Assoziationen mit der ‚New Age‘-Bewegung unserer Tage weckt“.34 So stand die „prinzipielle Diskussion zur Frage der Begrifflichkeit“35 und Paradigmenbildung weiter aus. Sie ist bis heute nicht nur bei den Historikern ein offenes Feld. III. Im Folgenden soll auf dem Hintergrund der dargestellten Zusammenhänge ein Vorschlag zur Entwicklung einer ‚disziplinären Matrix‘ geschichtswissenschaftlicher Religionsforschung vorgestellt werden. Dazu sind – um Mißverständnisse zu vermeiden – zwei Vorbemerkungen erforderlich, die beide auf die Begrenzung dieses Katalogs hinweisen. Das Grundgerüst aus neun Eckpunkten ist im Grundsatz an den neuen Wegen der deutschen und internationalen Religionswissenschaft orientiert, befaßt sich daher erstens und vor allem mit denjenigen religiösen Strömungen, die ihren Schwerpunkt außerhalb des Christentums haben. Dieser Beitrag zur Matrixbildung bezieht sich also im wesentlichen auf diejenigen Religionsformen, deren wissenschaftliche Untersuchung noch große Defizite aufweist. Das heißt selbstverständlich nicht, daß der Blick auf diese Erscheinungsformen europäischer Religiosität die Aufmerksamkeit der bisherigen Forschung auf Christentum und Kirchen verdrängen oder ersetzen soll. Es soll sie vielmehr ergänzen. Zweitens bedingt die Orientierung an den neuen religionswissenschaftlichen Konzepten eine zeitliche Begrenzung auf die Neuzeit. Das liegt an der Fokussierung dieser Ansätze auf die innovativen Elemente der religiösen Neuorientierung in der Renaissance und deren fortlaufender Wirkungsgeschichte bis in unsere Gegenwart. Die epochenspezifische Ausrichtung ist aber selbstverständlich auch darin begründet, daß meine Kompetenz als Neuzeithistorikerin einen entsprechenden Zugriff auf Mittelalter und Altertum nicht erlaubt. Eine komplette Matrix geschichtswissenschaftlicher Religionsforschung müßte also die Geschichte des Christentums und seiner Konfessionen und die im Folgenden zu behandelnden religiösen Strömungen umfassen, und sie 34 35
Anne-Charlott Trepp: Hermetismus (wie Anm. 23), S. 10. Ebd., S. 10.
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müßte sich auf alle drei Standardepochen der Geschichtswissenschaft beziehen. Bis ein solcher Stand disziplinspezifischer Selbstvergewisserung erreicht wird, dürfte allerdings noch viel Arbeit vor uns liegen. 1. Eine neue Religionsforschung innerhalb der Geschichtswissenschaft kann und sollte auf den neuen Konzepten der Religionswissenschaft aufbauen, auf der ‚Europäischen Religionsgeschichte‘ und der Esoterikforschung. Dies wäre allerdings nicht im Sinne einer nachvollziehend-verbindlichen Orientierung zu verstehen, sondern als kritische Aneignung und Weiterentwicklung nach den Maßstäben und Interessen des eigenen Fachs. Vor allem sollten – anders als es in der Religionswissenschaft selbst bisher geschieht36 – beide Konzepte zu einem Gesamtbild integriert, d. h. ihre Grundaussagen aufeinander bezogen werden. 2. Der Zäsurbildung beider religionswissenschaftlicher Referenzmodelle folgend, sollten die Historiker den Beginn des religionsgeschichtlichen Paradigmas der Neuzeit im 15. Jahrhundert ansetzen. Damit wäre für den religionsgeschichtlichen Kontext die Epochengrenze zwischen Mittelalter und Neuzeit gegenüber der üblichen Datierung um ein Jahrhundert vorzuverlegen. Das 15. Jahrhundert ist die Konstituierungsphase der religiös orientierten Antikenrezeption, einer neuplatonisch-esoterischen Gelehrtenreligiosität37, aber auch – und das ist ein genuines Forschungsergebnis der Geschichtswissenschaft – der Zeitrahmen der Entstehung der neuzeitlichen Form des Magieglaubens, der der europäischen Hexenverfolgung zugrunde liegt.38 Der 36
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Eine der wenigen Ausnahmen unter den einschlägigen Autoren ist Kocku von Stuckrad, der als Kippenberg-Schüler in Bremen und Erfurt an der Entwicklung des Konzepts der ‚Europäischen Religionsgeschichte‘ mitgewirkt hat und später am Amsterdamer Institut von Wouter Hanegraaff tätig war. Vgl. z. B. seine Habilitationsschrift: Kocku von Stuckrad: Schamanismus und Esoterik. Kulturund wissenschaftsgeschichtliche Betrachtungen, Leuven 2003. Vgl. Monika Neugebauer-Wölk: Esoterik in der Frühen Neuzeit. Zum Paradigma der Religionsgeschichte zwischen Mittelalter und Moderne, in: Zeitschrift für Historische Forschung 27 (2000), S. 321–364, hier bes. S. 321–331. Dies wurde seit dem späten 19. Jahrhundert von Historikern herausgearbeitet (vgl. Joseph Hansen: Zauberwahn, Inquisition und Hexenprozeß im Mittelalter und die Entstehung der großen Hexenverfolgung, Leipzig 1900), freilich ohne den hier postulierten religionsgeschichtlichen Zusammenhang. Dazu Monika Neugebauer-Wölk: Wege aus dem Dschungel. Betrachtungen zur Hexenforschung, in: Geschichte und Gesellschaft 29 (2003), S. 316–347, bes. S. 330–
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Magieglaube der Hexenjäger und die Esoterik der Renaissancemagie sind Schübe jener Dechristianisierungsprozesse in der europäischen Neuzeit, deren Untersuchung Hartmut Lehmann programmatisch gefordert hat. Gleichzeitig wird mit dieser Sichtweise auch deutlich, daß Dechristianisierung nicht automatisch Säkularisierung bedeutet. Andere Glaubensstrukturen überlagern partiell die christlichen Grundlagen der Gesellschaft. Die Reformation, bisher epochentrennendes Zäsurereignis, rückt damit zeitlich – selbstverständlich nicht ihrer Bedeutung nach – an die zweite Stelle religiöser Wandlungsprozesse am Beginn der Neuzeit. 3. Nächst dem Beginn der Religionsgeschichte der Neuzeit geht es um deren zeitliche Reichweite. Sie sollte als prinzipiell zusammenhängendes Muster vom 15. Jahrhundert bis in die Moderne hinein untersucht werden.39 Natürlich verläuft diese Kontinuität nicht ohne Brüche und Phasen von Umorientierung und Neugestaltung – das 18. Jahrhundert mit dem Prozeß der Aufklärung ist so eine Zeit.40 Der Hexenglaube der Frühen Neuzeit geht um 1700 seinem Ende entgegen und konstituiert sich im 19. und vor allem 20. Jahrhundert in neuer Form.41 Aber die Zäsuren und der Wandel vollziehen sich innerhalb eines übergeordneten
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334. Besonders wichtig jetzt die Forschungsoffensive an der Universität Lausanne zum Inkubationsgebiet von Hexenglauben und Hexenverfolgung im Alpenraum. Vgl. auch die Züricher Dissertation von Niklaus Schatzmann: Verdorrende Bäume und Brote wie Kuhfladen. Hexenprozesse in der Leventina 1431– 1459 und die Anfänge der Hexenverfolgung auf der Alpensüdseite, Zürich 2003. Hartmut Lehmann geht dagegen im allgemeinen für sein Konzept von einer Kontinuität aus, die erst mit dem 17. Jahrhundert einsetzt. Vgl. z. B. Hartmut Lehmann: Von der Erforschung (wie Anm. 18), S. 15. Dazu jetzt die Arbeiten der DFG-Forschergruppe Die Aufklärung im Bezugsfeld neuzeitlicher Esoterik am „Interdisziplinären Zentrum für die Erforschung der Europäischen Aufklärung“ der Universität Halle-Wittenberg (Internetadresse: http://www.izea.uni-halle.de). Der Hexenglaube der Moderne ist ein Teilbereich der Esoterik und unterscheidet sich vor allem dadurch vom Hexenglauben des 15. bis 17. Jahrhunderts, daß hier die angebliche Existenz von Hexen positiv gesehen wird, der Glaube also nicht in Verfolgung mündet. Vgl. etwa Sönke Lorenz, Dieter R. Bauer, Wolfgang Behringer, Jürgen Michael Schmidt (Hg.): Himmlers Hexenkartothek. Das Interesse des Nationalsozialismus an der Hexenverfolgung, Bielefeld 1999 (der Untertitel ist mißverständlich: Im Nationalsozialismus gab es kein Interesse daran, Frauen als Hexen zu verfolgen, sondern es gab ein Interesse daran, die frühneuzeitliche Hexenverfolgung zu erforschen, um diese Vorgänge in das eigene
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Denk- und Glaubensrahmens. Der forschungsleitende Begriff der ‚Esoterik‘ indiziert diesen Zusammenhang und ist daher als Stichwort für die Erforschung dieses Segments der Religionsgeschichte in ihrer longue durée geeignet. Für das 19. und 20. Jahrhundert könnten die Historiker auf diese Weise die Verbindung zwischen den sogenannten ‚neuen Religionen‘ der Moderne und der Religionsgeschichte der Frühen Neuzeit herstellen. Daß die ‚neuen Religionen‘ keine genuin modernen religiösen Ausdrucksformen sind, sondern sich nur in ihrer spezifischen Gestalt, in ihren Variationen, von ihrer historischen Tiefenstruktur unterscheiden, ist in der Religionswissenschaft inzwischen ein Gemeinplatz.42 Eine nachhaltige Rezeption dieser Erkenntnis steht jetzt für die Geschichtswissenschaft an.43 Dabei ist selbstverständlich nur den aus den Quellen nachweisbaren Kontinuitäten zu folgen, nicht dem Selbstbild entsprechender Religionsgemeinschaften und deren Herkunftslegende.44 In Bezug auf das Christentum wird bekanntlich neben den Tendenzen der Dechristianisierung heute bereits an den Rekonfessionalisierungsphänomenen unter dem Stichwort des ‚Zweiten Konfessionellen Zeitalters‘ gearbeitet.45
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Geschichtsbild einordnen zu können – genauso ist es von den Herausgebern selbstverständlich auch gemeint). Zum ‚modernen‘ Hexenglauben in England: Ronald Hutton: The Triumph of the Moon. A History of Modern Pagan Witchcraft, Oxford, New York 1999. Vgl. Hans G. Kippenberg, Kocku von Stuckrad: Religionswissenschaftliche Überlegungen zum religiösen Pluralismus in Deutschland. Eine Öffnung der Perspektiven, in: Hartmut Lehmann (Hg.): Multireligiosität im vereinten Europa (wie Anm. 26), S. 145–162, S. 147: „[. . .] ‚neue[n] Religionen‘, wie sie in Unkenntnis ihrer historischen Tiefe genannt wurden [. . .]“. Soweit ich sehe, gibt es einen entsprechenden Ansatz bisher nur bei Helmut Zander, einem Spezialisten für Theosophie und Anthroposophie um 1900. Vgl. Helmut Zander: Geschichte der Seelenwanderung in Europa. Alternative religiöse Traditionen von der Antike bis heute, Darmstadt 1999. Derartige Entwürfe sind variantenreich, wobei es wohl zwei Hauptformen gibt – erstens die Rückführung auf eine allen Menschen gemeinsame Urreligiosität (vgl. z. B. Helena P. Blavatsky: Die Geheimlehre. Die Vereinigung von Wissenschaft, Religion und Philosophie, Band 1, Den Haag 1899, bes. die Einleitung) – zweitens den Bezug völkischer Religion auf das Germanentum. Zur generellen Orientierung: Uwe Puschner: Die völkische Bewegung im wilhelminischen Kaiserreich. Sprache – Rasse – Religion, Darmstadt 2001. Siehe zum Ausgangspunkt dieses Konzepts Olaf Blaschke: Das 19. Jahrhundert. Ein Zweites Konfessionelles Zeitalter?, in: Geschichte und Gesellschaft 26 (2000), S. 38–75.
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4. Der Ansatz der Esoterikforschung ist auch deshalb für die Strukturen einer neuen Religionsgeschichte von Bedeutung, weil er es ermöglicht, eine problematische Wahrnehmung der religiösen Moderne zu überwinden, die vor allem von der Religionssoziologie ausging. Hier wurde ein religionsrelevanter Pluralismus erst und nur für die Zeit seit dem 19. Jahrhundert wahrgenommen, und er wurde weitgehend ohne wissenschaftliches Bemühen um die Zuordnung von Glaubensinhalten vor allem nach seinen formalen Merkmalen charakterisiert, als Individualisierung, Privatisierung und Fragmentierung religiöser Muster.46 Dies führte zur Vorstellung von Beliebigkeit moderner religiöser Entwürfe, eine Auffassung, die sich zwangsläufig ergibt, solange der Blick auf die Gegenwart nicht vom Wissen um die historischen Wurzeln der Phänomene geleitet wird, und solange die Komplexität dieser Vergangenheit nicht in einem Rahmenverständnis gebündelt wird. Dies versucht nun die Esoterikforschung. Bei dieser notwendigen Anstrengung zur Erarbeitung übergeordneter Modelle sollten sich die Historiker auch nicht vom gegenwärtig herrschenden Definitions- und Unterscheidungsverbot in der Religionswissenschaft beeindrucken lassen. Die Geschichtswissenschaft hat nicht dieselben Probleme wie die Religionswissenschaft mit der Geschichte ihres Fachs. Die Abgrenzung zur Religionsphänomenologie mit ihrem religiös gewirkten Essentialismus steht hier nicht im Vordergrund.47 Die Bildung von Typologien dürfte daher nicht als numinose ‚Wesens‘bestimmung 46
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Vgl. ausführlicher Monika Neugebauer-Wölk: Aufklärung – Esoterik – Wissen. Transformationen des Religiösen im Säkularisierungsprozeß. Eine Einführung, in: dies. (Hg.): Esoterik in der Aufklärung. Rezeption – Integration – Konfrontation, Tübingen 2008, S. 1–25, bes. S. 11 f. Das formale Grundverständnis moderner Religiosität hat die Disziplingrenzen der Soziologie längst überwunden und findet sich heute als ein Topos fachübergreifender Religionsforschung. Für die Theologie vgl. z. B. Friedrich Wilhelm Graf: Euro-Gott im starken Plural? (wie Anm. 7), der das Ergebnis einer Befragung unter der Bevölkerung der Schweiz aufgreift: „Jede(r) ein Sonderfall!“ und daraufhin resümiert: „Für eine europäische Religionsgeschichte des 20. Jahrhunderts folgt daraus: Historiker müssen ihre Aufmerksamkeit auf die Prozesse der Individualisierung des Religiösen richten.“ (S. 239 f.). Zur Religionsphänomenologie in klassischer Interpretation vgl. Fritz Stolz: Grundzüge der Religionswissenschaft (zuerst 1988), 2. überarb. Aufl., Göttingen 1997, S. 217–232. In kritischer Abgrenzung Hans G. Kippenberg, Kocku von Stuckrad: Einführung in die Religionswissenschaft (wie Anm. 11), S. 32–34: „Das Ende von Funktionalismus und Religionsphänomenologie“.
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mißverstanden und grundsätzlich abgelehnt werden. Systematisierung ist vielmehr möglich und geboten, um die Komplexität der europäischen Religionsgeschichte erkennbar werden zu lassen. 5. Religionswissenschaft und Theologie führen auch immer noch den Kampf gegen ein dogmatisches Verständnis des Christentums. Der Versuch der Markierung von Trennungslinien zu anderen Religionen oder religiösen Strömungen wird deshalb häufig ohne Rücksicht auf die Frage nach dessen Motivation als ‚Exklusionspraxis‘, als Ausgrenzung, mißverstanden.48 Es ist aber ein Unterschied, ob ich Glaubenskonzeptionen voneinander unterscheide, um die ‚eigene‘ gegenüber der ‚anderen‘ wertend abzugrenzen und deren Mitglieder dann zu verfolgen oder zu diskriminieren, oder ob ich mir in wissenschaftlicher Erkenntnisabsicht die Aufgabe stelle, verschiedene religiöse Profile oder Theologien zu erfassen; Differenzierung ist nicht gleichbedeutend mit Diskriminierung.49 Die verbreitete Verwechslung von wissenschaftlicher Modellbildung mit Intoleranz erwächst noch heute aus der historischen Erfahrung mit dem Kampf der christlichen Kirchen gegen die Häresien. So ist es nicht erstaunlich, daß sich das vor allem in Arbeiten zu ‚Ketzer‘bewegungen auswirkt, die von ihrem Gegenstand nichts mehr wissen wollen. Diese Zurückweisung bezieht sich keineswegs nur auf eine sinnvolle Kritik an der traditionellen Bezeichnung und Bewertung häretischer Bewegungen. Die Existenz der Häresie insgesamt wird in Frage gestellt. Kann dies für den Teilbereich der Ketzerei angeblicher Hexen und Zauberer als realgeschichtlich zutreffend gelten,50 so scheint es äußerst problematisch, die These von einer „Erfindung der Ketzer“ durch die Kirchen zu generali48
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Vgl. z. B. Friedrich Wilhelm Graf: Euro-Gott im starken Plural? (wie Anm. 7), S. 242. Vgl. dazu auch Monika Neugebauer-Wölk: Esoterik und Christentum vor 1800. Prolegomena zu einer Bestimmung ihrer Differenz, in: Aries. Journal for the Study of Western Esotericism 3 (2003), S. 127–165. Problematisierend dazu Kocku von Stuckrad: Die Esoterik in der gegenwärtigen Forschung. Überblick und Positionsbestimmung, in: Monika Neugebauer-Wölk (Hg.): Religionsgeschichte der Neuzeit (wie Anm. 1), Absätze und . Daß es sich bei der frühneuzeitlichen Entwicklung des Hexenglaubens um eine theoretische Vorstellung ohne reale Entsprechung handelt, wird nun zunehmend auch in der Hexenforschung wahrgenommen. Vgl. z. B. Rita Voltmer: Vom getrübten Blick auf die frühneuzeitlichen Hexenverfolgungen – Versuch einer Klärung, in: Gnostika 10 (2006), S. 45–59. Hier S. 48: „Die Hexenverfolgungen [. . .] beruhen auf einem, in den Köpfen von Theologen erfundenen und von der Gerichtspraxis scheinbar bestätigten Konstrukt.“ Siehe auch Christoph
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sieren.51 Historiker sollten darauf beharren, daß es auch in vormoderner Zeit Personen gegeben hat, die – als getaufte Christen – Glaubensvorstellungen entwickelten, die nicht mehr in die Grundkonzeption des Christentums integrierbar waren. Das verlangt in spiegelbildlicher Entsprechung eine Neuauffassung der christlichen Orthodoxien. Deren Wahrnehmung durch die Geschichtswissenschaft ist bisher bestimmt durch die antiorthodoxe Polemik in Pietismus und Aufklärung.52 Statt derartiger Fremdbilder, die die entsprechende Haltung als intellektuell defizitär und moralisch verwerflich verstehen, sollte eine sachgemäße Einordnung in die Herausforderungen der jeweiligen Zeit erfolgen. Historiker könnten hier richtungsweisend wirken. 6. Bei der Herausarbeitung von Formationen außerchristlicher Religiosität der Neuzeit sind Historiker besonders deshalb herausgefordert, weil ihr religionsgeschichtlicher Blick bisher vor allem an gesellschaftlichen Gruppen bzw. Organisationen orientiert ist. Hartmut Lehmann hat diesbezüglich bereits größere Offenheit angemahnt: Wir wissen viel zu wenig über „nichtetablierte Religionen“.53 Wenn es heute wesentlich darum geht, ergänzend zur Christentums- und Kirchengeschichte Grundlinien und Parameter esoterischer oder polytheistischer Religiosität herauszuarbeiten, so bedarf es gerade diesbezüglich einer Neujustierung. Zwar kennt auch Esoterik organisierte Formen – von frühneuzeitlichen Sozietäten, besonders der Freimaurerei mit ihren vielen Ausformungen bis zu den esoterischen Gesellschaftsbildungen der Moderne.54 Charakteri-
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Daxelmüller: Die Erfindung des zaubernden Volkes, in: Jahrbuch für Volkskunde 19 (1996), S. 60–80. Vgl. paradigmatisch Christoph Auffarth: Die Ketzer. Katharer, Waldenser und andere religiöse Bewegungen, München 2005. Hier findet sich S. 9 das Wort von der „Erfindung der Ketzer“. Die Ablehnung dieser Maximalposition kann umgekehrt natürlich nicht bedeuten, jede konkrete Ketzereiwahrnehmung in historischer Zeit wissenschaftlich zu bestätigen. Es bedarf eben der Entwicklung nachvollziehbarer Kriterien entsprechender Zuordnung. Gottfried Arnolds „Kirchen- und Ketzergeschichte“ von 1699/1700 kann als eine Begründungsschrift der Orthodoxiepolemik seit dem 18. Jahrhundert gesehen werden. Vgl. Monika Neugebauer-Wölk: Esoterik und Christentum vor 1800 (wie Anm. 49), S. 147–150. Hartmut Lehmann: Säkularisierung. Der europäische Sonderweg in Sachen Religion, Göttingen 2004, S. 61. Eine entsprechende Gesamtdarstellung mit esoterikgeschichtlicher Kompetenz gibt es nicht, wichtig in diesem Zusammenhang aber Wolfgang Hardtwig: Genossenschaft, Sekte, Verein in Deutschland, Band 1: Vom Spätmittelalter bis zur
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stisch ist jedoch eher das Informelle: lockere Netzwerke, Wirkung durch literarische Rezeption, die Entwicklung immer wieder anders akzentuierter und changierender Konzeptionen in offener oder verdeckter Debatte. Das Sichtbarmachen dieses Segments europäischer Religionsgeschichte verlangt also in besonderem Maße nach wissenschaftlicher Synthese. Das Determinantenmodell Antoine Faivres, das vier Faktoren zur Konstituierung esoterischer Religiosität vom 15. Jahrhundert bis zur Gegenwart festschreibt,55 ist ein Ausgangspunkt für diese Diskussion – nicht mehr und nicht weniger. Es muß an einem Rahmenkonzept gearbeitet werden, das gleichwohl verschiedene Blickrichtungen, Bezugssysteme und Entwicklungsstufen offen hält. Daß der ständige Wandel in Zeit und Raum zu beachten ist, das muß man Historikern wohl am wenigsten ans Herz legen. 7. Parallel zu einem neuen Verständnis von der Legitimität religionsgeschichtlicher Paradigmenbildung ist allerdings ein Problembewußtsein dafür zu entwickeln, daß diese religiösen Grundmuster nicht umstandslos auf das Selbstverständnis individueller Religiosität übertragen werden können. Die kulturwissenschaftlich orientierte Religionswissenschaft weist zu Recht darauf hin, daß wir die Vorstellung überwinden müssen, ein Mensch habe grundsätzlich eine Religion, die religionssystematisch klar zuzuordnen wäre,56 sei also z. B. entweder Christ oder Esoteriker. Eine außerchristliche Selbstbeschreibung wird man vor allem für die vormoderne Zeit kaum finden, was natürlich nicht nur an der authentischen Wahrnehmung liegt, sondern auch am Herrschaftsund Zwangscharakter der vormodernen Kirchen. Aufgegriffen werden Konstellationen der Uneindeutigkeit heute bereits bei der Erforschung religiöser Mischgebiete oder in der ‚Historischen Konversionsforschung‘, die religiöse Grenzüberschreitungen und Hybridkulturen
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Französischen Revolution, München 1997. Für die Zeit nach 1800 gibt es vor allem Einzeldarstellungen, so jetzt Helmut Zander: Anthroposophie in Deutschland. Theosophische Weltanschauung und gesellschaftliche Praxis 1884–1945, Göttingen 2007. Vgl. auch Frank Simon-Ritz: Die Organisation einer Weltanschauung. Die freigeistige Bewegung im Wilhelminischen Deutschland, Gütersloh 1997. Siehe oben bei und in Anm. 29 f. Vgl. z. B. Burkhard Gladigow: Religion in der Kultur – Kultur in der Religion, in: Friedrich Jaeger, Jörn Rüsen (Hg.): Handbuch der Kulturwissenschaften, Band 3, Stuttgart, Weimar 2004, S. 21–33, bes. S. 22.
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berücksichtigt.57 Als solche Hybridfiguren können auch viele Überlagerungsformen zwischen Christentum und Esoterik gelten, deren Träger sich selbst häufig als ‚wahre Christen‘ verstehen.58 Persönliche Religiosität entspricht also nicht zwingend wissenschaftlicher Logik. Wir müssen jedoch etwas über die verschiedenen Grundmuster wissen, um deren individuelle Formen der Überlagerung überhaupt erkennen zu können. 8. Anders als für Religionswissenschaft und Theologien liegt für die Geschichtswissenschaft der Faktor ‚Religion‘ nicht im Zentrum des Fachs, sondern bildet einen von zahlreichen gleichberechtigten Themenschwerpunkten. Das verbindet Historiker mit Soziologen, Literatur- und Kulturwissenschaftlern und deren disziplinspezifischen Profilen und generiert das elementare Interesse an der Verhaltens- und Handlungsrelevanz von Religiosität. Der Historiker wird das Feld immer so aufbereiten, daß seine Muster und Kategorien Ansatzpunkte bieten für das Verständnis von individuellen Entscheidungen auf der Basis religiöser Optionen, von religiös bedingten gesellschaftlichen Beziehungen, von Konstituierung politischer Herrschaft.59 Viele dieser Kontexte in der Geschichte der Neuzeit werden aber vom bisherigen Modell: ‚Religion = Christentum‘ nicht abgedeckt. Die Erweiterung des Religionsverständnisses um die neuen Muster einer pluralen europäischen Religionsgeschichte bietet präzisere Möglichkeiten des Verstehens und der Zuschreibung. Dabei ist es von zentraler Bedeutung, die alternativen Religiositätsformen nicht grundsätzlich – ihrem verbreiteten Selbstbild entsprechend – als ausgegrenzte und verfolgte zu verstehen. Sie wirken vielmehr häufig in den Zentren der Macht. Die religiöse Formensprache des Anspruchs auf absolute Herrschaft am Hof Ludwigs XIV. etwa
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Siehe dazu Jörg Deventer: Konversion und Konvertiten im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung. Stand und Perspektiven der Forschung, in: Aschkenas. Zeitschrift für Geschichte und Kultur der Juden 15 (2005), S. 257– 270, z. B. S. 265, und Thomas Wünsch: Die religiöse Dimension sozialer Integration. Glaubensverhältnisse in den galizisch-wolhynischen Bistümern des 15.– 17. Jahrhunderts, in: ders., Andrzej Janeczek (Hg.): On the Frontier of Latin Europe, Warschau 2004, S. 61–80, bes. S. 62. Näheres dazu bei Monika Neugebauer-Wölk: Esoterik und Christentum vor 1800 (wie Anm. 49), S. 144–150. Vgl. programmatisch auch Lucian Hölscher: Der Raum des Religiösen (wie Anm. 7), S. 109 f.
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bleibt ohne das Wissen um den „latenten Polytheismus“60 in der europäischen Religionsgeschichte unverständlich. Der Apollokult, den der ‚Sonnenkönig‘ zur politischen Selbstinszenierung nutzte,61 entwickelte sich aus der Antikenrezeption der Renaissance und ist bereits in der humanistischen Sodalität am Wiener Hof Kaiser Maximilians I. zu beobachten.62 Das Auftreten von Alchemisten an den frühneuzeitlichen Residenzen63 erschließt sich – jenseits der Wahrnehmung als Hochstapelei und Betrug – esoterikgeschichtlich als Ausübung religiösen ‚Wissens‘ ebenso wie in polytheistischen Strukturen.64 Die Nähe der europäischen Dynastien des 18. und 19. Jahrhunderts zur Freimaurerei ist bekannt,65 aber noch kaum verstanden.66 Moderne Esoterik ist ein Element des europäischen Faschismus und öffnet Horizonte zum Verständnis des Phänomens ‚Politischer Religion‘, das in der Zeitgeschichte eine zunehmend wichtige Rolle spielt. Das kann paradimatisch gezeigt werden am spezifischen Selbstbild nationalsozialistischer Macht- und Wissenspolitik.67 60 61
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Siehe dazu oben bei und in Anm. 14. Dazu allgemein Peter Burke: Ludwig XIV. Die Inszenierung des Sonnenkönigs, Berlin 1993. Vgl. Wolfgang Hardtwig: Genossenschaft, Sekte, Verein in Deutschland (wie Anm. 54), S. 201. Die Beispiele sind zahlreich. Paradigmatisch sei auf Kaiser Rudolph II. verwiesen. Dazu Jacqueline Dauxois: L’Empereur des alchimistes. Rodolphe II de Habsbourg, o. O. 1996. Joachim Telle: Mythologie und Alchemie. Zum Fortleben der antiken Götter in der frühneuzeitlichen Alchemieliteratur, in: Rudolf Schmitz, Fritz Krafft (Hg.): humanismus und naturwissenschaften, Boppard 1980, S. 135–154. Grundlegend als Materialübersicht Hans Riegelmann: Die europäischen Dynastien in ihrem Verhältnis zur Freimaurerei, Berlin 1943, Nachdruck Struckum 1985. Vgl. in einem ersten Ansatz Monika Neugebauer-Wölk: Arkanwelten im 18. Jahrhundert. Zur Struktur des Politischen im Kontext von Aufklärung und frühmoderner Staatlichkeit, in: dies. (Hg.): Arkanwelten im politischen Kontext, Hamburg 2003, S. 8–65, bes. ab S. 27. Vgl. schon oben (Anm. 41) den Hinweis auf das NS-Interesse an der Erforschung der Hexenverfolgung. Allgemein: Monika Neugebauer-Wölk: Esoterik und Neuzeit. Überlegungen zur historischen Tiefenstruktur religiösen Denkens im Nationalsozialismus, in: dies.: Religionsgeschichte der Neuzeit (Hg.) (wie Anm. 1), ohne Seitenzählung.
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9. Ein Eckpunktekatalog zum Entwurf einer ‚neuen Religionsgeschichte‘ wäre nicht vollständig ohne das Nachdenken über die Grenzen des Faktors ‚Religion‘ im historischen Prozeß. Sicher ist das ein schwieriges Problem. Ausweichen sollte man ihm trotzdem nicht. Die Religionswissenschaft verzichtet inzwischen darauf, eine allgemeingültige Definition des Religionsbegriffs vorzunehmen, interessiert sich vielmehr für den konzeptionellen Hintergrund der vielen verschiedenen Definitionen.68 Dasselbe könnte für das Säkulare gelten. Es wäre nicht definitiv zu bestimmen, sondern jeweils neu zu konstituieren und auf die Elemente dieser Konstitution zu hinterfragen. Auf jeden Fall wäre der Einfluß einer Religionssoziologie wie der Peter L. Bergers zurückzudrängen, der jede Sinngebung im gesellschaftlichen und politischen Raum, jedes ‚System‘ als Religion verstanden wissen wollte, das der Legitimation der sozialen Ordnung dient.69 Mit Blick auf die individuelle Religiosität arbeiten Historiker inzwischen zunehmend an den Phänomenen von Unglauben und Blasphemie auch in vormoderner Zeit70 – ich verweise nur auf die Arbeiten von Gerd Schwerhoff.71 Das Säkulare darf nicht vom Religionsbegriff aufgesogen werden. Dieses Beharren 68
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Vgl. Hans G. Kippenberg, Kocku von Stuckrad: Einführung in die Religionswissenschaft (wie Anm. 11), S. 38. Ganz in diesem Sinne wäre der aktuelle Vorschlag von Lucian Hölscher kritisch zu hinterfragen, einen „systematisch brauchbaren Begriff der Religion oder des Religiösen“ „jenseits der inhaltlichen Beschreibung [. . .] bei der sprachlichen Form seiner Artikulation“ anzusetzen. (Lucian Hölscher: Der Raum des Religiösen [wie Anm. 7], S. 110 f.). Gordon Clanton: Peter L. Berger und die Rekonstruktion der Religionssoziologie, in: Wissenschaft und Praxis in Kirche und Gesellschaft 3 (1973), S. 78–95. An der Humboldt-Universität Berlin fand im März 2007 eine interdisziplinäre Konferenz statt zum Thema „Religion und ihr Anderes. Säkulare und sakrale Konzepte und Praktiken in Interaktion“. Vgl. hier den angekündigten Vortrag der Göttinger Historikerin Dorothea Weltecke: „Jenseits der Religion. Über das Fehlen von Glauben im Hohen und Späten Mittelalter“ (hsozkult.geschichte.huberlin.de/termine/id=6542). Gerd Schwerhoff: Zungen wie Schwerter. Blasphemie in alteuropäischen Gesellschaften 1200–1650, Konstanz 2005. Schwerhoff zielt zwar letztlich auf eine „Neubestimmung der Religionsgeschichte“, ist aber sehr zurückhaltend gegenüber vorzeitigen Kategorisierungen. Blasphemie ist für ihn noch nicht zwingend Indikator von Unglauben und Atheismus. Vgl. auch ders.: Die alltägliche Auferstehung des Fleisches. Religiöser Spott und radikaler Unglaube um 1500, in: Historische Anthropologie. Kultur – Gesellschaft – Alltag 12 (2004), S. 309– 337.
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auf einer eigenständigen Bedeutung des Säkularen ist nicht gleichbedeutend mit einem Festhalten am Grundverständnis der Säkularisierung als Prozeß. Die Säkularisierungstheorie unterstellte Zielgerichtetheit und Unausweichlichkeit einer Entwicklung, deren Ratio die Durchsetzung der Verweltlichung als Gesamtsignatur moderner Gesellschaften ist. Die Wahrnehmung des Säkularen jenseits der Teleologie in seiner jeweiligen Erscheinungsform und Bedeutung in einem historischen Moment verweist dagegen auf eine offene und nicht-determinierte Behandlung einschlägiger Tendenzen. Soweit also erste Umrisse einer ‚disziplinären Matrix‘ geschichtswissenschaftlicher Religionsforschung. Ergänzt durch weitere Grundsatzüberlegungen zur Geschichte des Christentums und seiner Konfessionen kann ein Modell entstehen, das zukünftige Studien auf diesem Feld strukturiert und einen Beitrag im interdisziplinären Bemühen um die Entwicklung einer ‚Europäischen Religionsgeschichte‘ leistet. Grundsätzlich gilt, daß die Historiker den Anspruch erheben sollten, Vorstellungen zu entwickeln, die unabhängig von Maßstabsetzungen in anderen Fächern profiliert werden, d. h. sie nur in einer Form zu adaptieren, die auf ihre Funktionalität und Sinnhaftigkeit im Rahmen historischer Forschung befragt wurde. Genau dies muß auch für die Entwicklung von Eckpunkten zur Erforschung des Christentums gelten; hier sind nicht – wie traditionell üblich – einfach die Vorgaben der Kirchengeschichte zu übernehmen. ‚Religion‘ oder ‚Religiosität‘ ist in ihrem gesamten Umfang ein Forschungsgegenstand wie jeder andere, der das persönliche Erleben von Menschen berührt. Er kann wie jeder andere von einer säkular begründeten Wissenschaft untersucht werden. Daß nicht alle bewußtseinsrelevanten Konnotationen individueller Religiosität erfaßt werden können, ist eine Selbstverständlichkeit, die in gleicher Weise für alle Bereiche der persönlichen Erlebniswelt gilt. Ist man sich dieser Grenzen bewußt, die die Religionsforschung aller Disziplinen betrifft, dann können in diesen Grenzen gültige Ergebnisse erzielt werden. Es ist zu hoffen, daß sich die Historiker in Zukunft in diesem Sinne an den interdisziplinären Anstrengungen auf diesem Gebiet beteiligen werden.
Die Religion der Historiker Gangolf Hübinger
Wir haben ein großes Plädoyer für einen Paradigmenwechsel in der europäischen Religionsgeschichte gehört.1 Die spannende Frage etwa, wie Menschen seit der Renaissance sich mehrere und gegensätzliche religiöse Sinnwelten aneignen, liegt im neuesten Forschungstrend, religiöse Institutionen herabzustufen und den subjektiv gemeinten Sinn der Frommen ins Forschungszentrum zu rücken. Alle Götter haben ihre Eigenmacht. Allerdings sind nicht alle Götter gleich mächtig. Sie haben höchst unterschiedliche Spuren durch die europäische Kulturgeschichte gezogen. Darüber müssen wir diskutieren. Die „disziplinäre Matrix“, die Monika Neugebauer-Wölk im Anschluß an das Tagungsexposé benutzt, ist zu diesem Zweck ein feingliedriges Instrument. Mit ihr lassen sich Erkenntnisperspektiven, reflektierte Theorie- und Methodenwahl, Formen der Geschichtsschreibung und intellektuelle Absichten der Historiker ermitteln.2 Die Leitfrage des Troeltsch-Kongresses an die geistes- und sozialwissenschaftlichen Einzeldisziplinen – „Wie hast du’s mit der Religion?“ wird also durch die Matrix (oder „Historik“) in ihre analytischen Erkenntnis-Dimensionen zerlegt. Frau Neugebauer-Wölk ist eine Expertin der Esoterik-Geschichte.3 Ih1
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Der Duktus dieses Beitrags als kurzer Kommentar zu Monika NeugebauerWölk, „Religion als Thema der Geschichtswissenschaft“, wurde hier belassen; zur ausführlicheren Diskussion des Themas vgl. Gangolf Hübinger: „Säkularisierung“. Ein umstrittenes Paradigma der Kulturgeschichte, in: Ute Schneider und Lutz Raphael (Hg.): Dimensionen der Moderne, Frankfurt a. M. 2008, S. 93–106. Auf den Schultern Johann Gustav Droysens von Jörn Rüsen als „Historik“ systematisch eingeführt in: Jörn Rüsen: Grundzüge der Historik, Göttingen 1983– 1989, vgl. bes. Band 1, S. 24–32. Monika Neugebauer-Wölk: Zur Konstituierung historischer Religionsfor-
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re paradigmatische Quelle, das corpus hermeticum, führt sie zu einer Alternative zu Ernst Troeltsch und dessen Epochenschnitt des 18. Jahrhundert für die Religionsgeschichte der Neuzeit.4 In der Tradition der AbyWarburg-Forschung aktualisiert sie vielmehr die Debatte „Renaissance oder Reformation?“, um von dort die Reise in die pluralisierte europäische Religionslandschaft beginnen zu lassen. Zwischen Renaissance und Aufklärung entwirft sie ihre eigene Problemgeschichte religiöser Pluralisierungsprozesse. Strukturell sieht sie das große Forschungsdefizit bzw. Desiderat dabei ähnlich wie Friedrich Wilhelm Graf: „Moderne Religion zu deuten, heißt in erster Linie, die schnelle Pluralisierung der Religionskulturen seit dem 18. Jahrhundert zu verstehen. Die Religionsgeschichten der Moderne sind innerhalb wie außerhalb Europas durch eine extrem hohe Konfliktdynamik geprägt.“5 Inhaltlich setzt sie die Akzente in folgender Weise anders: Die Pluralisierung des religiösen Feldes seit dem 15. Jahrhundert sei zwar in aller Munde, aber bislang nicht konsequent durchdacht. Die nichtchristlichen Alternativen in der Wahl der Götter und im Aufbau von Sinnwelten seien gegenüber den christlichen Traditionen wesentlich höher zu gewichten. Mit Burkhard Gladigow und Antoine Faivre arbeitet sie an der Generalthese: Wenn man die antiken Weisheitslehren und nichtchristlichen Glaubenshaltungen von der Renaissance bis zur Esoterik der Aufklärung angemessen einbezieht, müsse die europäische Religionsgeschichte radikal umgeschrieben werden. Das meint „Paradigmenwechsel“. Auf die 9 „Eckpunkte“, die Frau Neugebauer-Wölk in ihrem Beitrag zu diesem Paradigmenwechsel anführt, kann in diesem Rahmen nicht einzeln eingegangen werden. Ich konzentriere mich deshalb auf drei Thesen, die diesen geschichtstheoretischen Optionen zugrunde liegen und die die bisherige Arbeit der Historiker an der Religionsgeschichte im Kern kritisieren.
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schung 1974 bis 2004, www.zeitenblicke.de/2006/1/Einleitung, S. 1–24 (abgerufen 22.06.2009). Siehe Friedrich Wilhelm Graf, Horst Renz (Hg.): Protestantismus und Neuzeit (Troeltsch-Studien, Band 3), Gütersloh 1984; dies. (Hg.): Umstrittene Moderne: Die Zukunft der Neuzeit im Urteil der Epoche Ernst Troeltschs (TroeltschStudien, Band 4), Gütersloh 1987. Friedrich Wilhelm Graf: Die Wiederkehr der Götter. Religion in der modernen Kultur, München 2004, S. 18.
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These 1: „Die deutschen Historiker erhoben traditionell keine eigenen Erkenntnisansprüche gegenüber dem geschichtsbildenden Faktor ‚Religion‘.“ These 2: Die antiken Weisheitslehren und ihre Rezeptionslinien haben paradigmatischen Status. Wenn sie nicht systematisch mit der Christentumsgeschichte konfrontiert werden, bleibt eine europäische Religionsgeschichte strukturlos. These 3: Mit den grundlegenden Fragen zu Begrifflichkeit und Paradigmenbildung der Religionsgeschichte haben die Fachhistoriker noch gar nicht recht begonnen, es ist „ein offenes Feld“. Problemgeschichtlich reizen mich diese Thesen zu kritischen Rückfragen. Ich spitze etwas zu: Zu These 1: So dumm bestellt ist das Feld nicht. Die deutschen Historiker haben seit ihrer Professionalisierung im Zeitalter des Historismus entschiedene Erkenntnisansprüche zur Religion angemeldet. Die Dreifaltigkeit des deutschen Historismus hat hier bis über den Zweiten Weltkrieg hinaus Grundmuster bereitgestellt und traditionsbildend gewirkt.6 Der Theologiestudent Leopold Ranke hat Zeit seines Lebens die „Geschichte Gottes in der Welt“ verfolgt. Auch für den Begründer der modernen Geschichtstheorie Johann Gustav Droysen, Sohn eines Feldpredigers, ist Geschichtsdenken religiös an den „sittlichen Mächten“ orientiert. Und so bleibt es über Troeltschs Freund Friedrich Meinecke und den Luther-Biographen Gerhard Ritter bis zu Franz Schnabel mit der These vom erneuerten „konfessionellen Zeitalter“ und noch bis zu Thomas Nipperdeys Unterscheidung zwischen christlichen und vagierenden Religionen. Und an Jacob Burckhardt, den „Ketzer“ (Burckhardt über Burckhardt), und an seine offene Strukturtypologie historischer Potenzen lässt sich bis heute die Maß gebende Frage anschließen: Wie wird Religion für politischen und kulturellen Wandel relevant? Und vice versa: wie ist Religion durch politischen und kulturellen Wandel bedingt. Zu These 2: Deshalb haben wir im 20. Jahrhundert auch keinen eindimensionalen Prozeß von der Religionsvergessenheit zur Religionsbegeisterung. In Troeltschs Epoche, der „kleinen Achsenzeit“ geistes- und naturwissenschaftlicher Paradigmenwechsel, ist auch das europäische Religionsfeld nachhaltig durchstrukturiert worden. Zwei Entwicklungstendenzen führen von dort in unsere heutige Situation. Wir haben im neuen „Riesenbetrieb“ Universität eine immer größere Spaltung zwischen Ge6
Über Konfessionen im Zusammenhang mit Karrierewegen vgl. Wolfgang Weber: Priester der Klio. Historisch-sozialwissenschaftliche Studien zur Herkunft und Karriere deutscher Historiker und zur Geschichte der Geschichtswissenschaft 1800–1970, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 1987, bes. S. 83–93.
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neralisten, die National- und Europageschichten schreiben, und Spezialisten, die über immer kleinere Felder immer detaillierteres Wissen produzieren. Und wir haben, viel wichtiger, Konjunkturen in der Paradigmenbildung. Das Zuviel an Ideen-, Religions- und Politikgeschichte gegenüber Wirtschafts- und Sozialgeschichte hat in den 1960er Jahren das Pendel einseitig in die ökonomische und Sozialstrukturforschung ausschlagen lassen. In Deutschland und Großbritannien war der Pendelausschlag besonders stark. In Frankreich und den USA durch die dortigen Paradigmen der Symbolforschung, der Zeichentheorien und des Pragmatismus dagegen weniger. Faszinierend ist der Bogen, der sich zum Thema Wunderglauben von Marc Blochs „wundertätigen Königen“7 zum „wonderful blood“ schlagen lässt, dem neuen Buch der führenden amerikanischen Mediävistin Caroline Walker Bynum zu den Blutgemälden und Blutritualen im 14. und 15. Jahrhundert.8 Kontinuierlich kamen aus Frankreich und den USA Impulse, um religiöse Symbolsprachen, individuelle Glaubenshaltungen, dörfliche und städtische Frömmigkeitspraktiken oder politischen Sakraltransfer zu entschlüsseln. Es gab also durchaus methodisch gut strukturierte Konzepte. Befördert durch den massiven Pendel-Umschlag, den „cultural“ und „religious turn“ haben wir aber eine neue Situation. Durch den Boom der Kulturwissenschaften haben wir einen religionsgeschichtlichen Markt der Möglichkeiten mit einer enormen Pluralisierung der Perspektiven erhalten. Hier lohnt sich, dieses unübersichtliche Terrain wieder einmal zu durchforsten. Historiker erklären regelmäßig in ihrer disziplinären Matrix, warum jede Generation ihre Geschichte umschreibt. Momentan befinden wir uns in heftigen Umschreibeprozessen, und die „Bausteine zu einer europäischen Religionsgeschichte“ (allen voran Hartmut Lehmanns großes Göttinger Unternehmen) werden auf sehr unterschiedlichen Baustellen schon fast zu einer Skyline hochgemauert.9 7
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Marc Bloch: Les rois thaumaturges. Étude sur le charactère surnaturel attribué à la puissance royale particulièrement en France et en Angleterre (1924), deutsch: Die wundertätigen Könige, München 1998; zu Blochs Anspruch, die laizistische Forschungstradition zu verändern und auch das Heilige in mittelalterlichen wie in modernen Gesellschaften zu erforschen, vgl. Ulrich Raulff: Ein Historiker im 20. Jahrhundert: Marc Bloch, Frankfurt a. M. 1995, S. 330–333. Caroline Walker Bynum: Wonderful Blood. Theology and Practice in Late Medieval Northern Germany and Beyond, Philadelphia 2007. Zu den ersten 5 Bänden der Reihe „Bausteine zu einer europäischen Religions-
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Die hier aktuell wohl betriebsamste Großbaustelle der Geschichtswissenschaft ist die historische Symbolforschung, verbunden mit der historischen Anthropologie. Wenn die „neue Religionsgeschichte“ einen erneuten Paradigmenwechsel gegenüber der bisherigen Forschung, etwa gegenüber Heinz Schillings und Wolfgang Reinhards schon so genanntem „Konfessionalisierungsparadigma“10 wünscht, stellen sich bei Frau Neugebauer-Wölk zu den Punkten 3 „Reichweite“ und 8 „Handlungsrelevanz“ systematische Fragen: Wie geht die neue Religionsgeschichte mit dem Zusammenhang von Symbolisierung und Institutionalisierung um?11 Wann stiften religiöse Symbole wie Kreuze oder Ikonen strenge Lebensordnungen, wann öffnen sie ganz individuelle „Fenster zur göttlichen Transzendenz“?12 Damit eng zusammenhängend, angeregt vom Buch des Historikers Wolfgang Reinhard, „Lebensformen Europas“: Welchen Sitz hat die Religionsgeschichte in der historischen Anthropologie?13 Mit Carlo Levis autobiographischem Roman aus dem faschistischen Italien, „Christus kam nur bis Eboli“, lässt sich der These von der andauernden Mischung antik-nichtchristlicher Weltdeutung und christlicher Kulturprägung viel abgewinnen. Aber wie sind die Mischungsverhältnisse in der europäischen Religionstopographie insgesamt? Welche Lebensformen und Lebensordnungen in den unterschiedlichen europäischen Geschichtslandschaften müssen anthropologisch anders beschrieben werden als bisher? Das führt zu These 3, die Historiker hätten mit Begrifflichkeit14 und Paradigmenbildung noch gar nicht recht begonnen.
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geschichte“ des Göttinger Max-Planck-Instituts für Geschichte kritisch Friedrich Wilhelm Graf: Von der Baustelle der Religionsgeschichte, in: Neue Politische Literatur 51 (2006), S. 5–10. Heinz Schilling: Die Konfessionalisierung von Kirche, Staat und Gesellschaft – Profil, Leistung, Defizite und Perspektiven eines geschichtswissenschaftlichen Paradigmas, als Einleitung zu: Wolfgang Reinhard und Heinz Schilling (Hg.): Die katholische Konfessionalisierung, Heidelberg 1995, S. 1–49. Mit zahlreichen Beispielen von der Antike bis zur Gegenwart Gert Melville (Hg.): Institutionalität und Symbolisierung. Verstetigungen kultureller Ordnungsmuster in Vergangenheit und Gegenwart, Köln 2001. Das Beispiel bei Volkhard Krech: Götterdämmerung. Auf der Suche nach Religion, Bielefeld 2003, S. 72. Wolfgang Reinhard: Lebensformen Europas. Eine historische Kulturanthropologie, München 2004. Historiker fahren so schlecht nicht, wenn sie zum Begriff „Religion“ an Ernst
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Zu These 3: Der Kernsatz bei Frau Neugebauer-Wölk lautet (Punkt 6), es gehe heute wesentlich darum, „Grundlinien und Parameter“ esoterischer Religiosität herauszuarbeiten. Nun bin ich ein großer Freund der verlegerischen Energien, mit denen ein Eugen Diederichs die europäische Mystik und Esoterik zusammengetragen hat. Nur, reicht das begrenzte Feld der Esoterik für einen Paradigmenwechsel? Ein Paradigma, also ein theoretisches Modell zur Strukturierung der großen europäischen Transformationsprozesse unter dem Vorzeichen der Religion, muß m. E. in Problemstellung und Perspektivenwahl eine Ebene oberhalb der zwischen-religiösen Opposition „Zauberflöte oder Bachchoral“ angesiedelt werden. Neuzeit-Historiker widmen sich in der Regel nicht isoliert nur der Konkurrenz der religiösen Sinnwelten untereinander. Sie widmen sich gleichzeitig der Konkurrenz religiöser und weltlicher Lebensformen, dem „sacred and secular“15. Beim umstrittensten aller historischen Grundbegriffe in diesem Zusammenhang, der „Säkularisierung“, können Historiker dabei immer noch Ernst Troeltsch folgen. „Säkularisierung“ ist in der Epoche Troeltschs ein florierender historischer Prozeßbegriff. Troeltsch selbst erklärt in seinem Beitrag zu Hinnebergs „Kultur der Gegenwart“ die „Säkularisation des religiösen Individualismus“ zum Motor „für die allgemeine Kulturgeschichte“.16 „Moderne Kunst und Poesie“ befördern für Troeltsch eine anthropologische Wende, etwa die „Lösung der Geschlechtslust vom Erbsündegedanken“. Die Dichtung seit Aufklärung und Romantik sei „nichts anderes [. . . ] als die Säkularisation des religiösen Gefühlsüberschwanges und seine Richtung auf das Natürliche“, referiert Troeltsch auf dem Historikertag von 1906.17
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Troeltschs Definition anschließen, die er von der „Mystik“ her als „Urphänomen aller Religion“ entwickelt, nämlich „der Glaube an Präsenz und Wirkung übermenschlicher Mächte mit der Möglichkeit der inneren Verbindung mit ihnen“, in: Ernst Troeltsch: Wesen der Religion und der Religionswissenschaft (1909), in: ders.: Gesammelte Schriften, Band 2, (Neudruck der 2. Aufl. Tübingen 1922), Aalen 1981, S. 452–499, Zitat S. 493. Unter diesem Titel empirische Erhebungen bei Pippa Norris und Ronald Inglehart: Sacred and Secular. Religion and Politics Worldwide, Cambridge 2004. Ernst Troeltsch: Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit (1906/1909/1922), hrsg. von Volker Drehsen in Zusammenarbeit mit Christian Albrecht (Ernst Troeltsch: Kritische Gesamtausgabe, Band 7), Berlin, New York 2004, S. 298, 301. Ernst Troeltsch: Schriften zur Bedeutung des Protestantismus für die moderne Welt (1906–1913), hrsg. von Trutz Rendtorff in Zusammenarbeit mit Stefan
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Die paradigmatische Leitfrage auch einer „neuen“ europäischen Religionsgeschichte scheint mir deshalb zu sein, wie die neuzeitlichen Religionen, die „Kirchen und Gruppen“, mit der „Säkularisierung des Denkens“18 und Fühlens, die Troeltsch nicht anders diagnostiziert als sein Freund Max Weber, faktisch umgehen: Wie ihre Mitglieder die im öffentlichen Kommunikationsraum immer freier rivalisierenden Weltbilder annehmen oder ablehnen.19 In welchen spezifischen historischen Konstellationen sich die „Spannungen“ zwischen religiöser Lebensführung und der „Eigengesetzlichkeit moderner Lebensordnungen“ vergrößern oder verringern, – Max Webers Fragestellung aus der „Zwischenbetrachtung“ ist bis heute für Historiker fruchtbar geblieben. Die zu Beginn zitierte „Konfliktdynamik“ forciert zwei historische Prozesse, wachsende Differenzierung der religiösen Lebenswelten untereinander und wachsende Spannungen zwischen religiösen und weltlichen Lebensordnungen. – Das war der große religionssoziologische Ertrag der Troeltsch-Epoche. Wie die beiden Teilprozesse ineinander verschlungen sind, – spannungssteigernd, wie im Fall der konfessionellen Kulturkämpfe, aber auch spannungslösend in der Erfolgsgeschichte des Vereinswesens seit dem 18. Jahrhundert,20 – auf diese Eigenart einer doppelten „Konfliktdynamik“ der europäischen Kulturentwicklung richten sich die historischen Debatten. Das Problem dabei: vergleichbare Sachverhalte
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Pautler (Ernst Troeltsch: Kritische Gesamtausgabe, Band 8), Berlin, New York 2001, S. 252. Formulierung bei Max Weber: „Das religiöse Recht konnte dabei – wie wir noch sehen werden – mit wachsender Säkularisierung des Denkens einen Konkurrenten oder Ersatz in einem philosophisch begründeten „Naturrecht“ erhalten, welches neben dem positiven Recht teils als ideales Postulat, teils als eine verschieden starke, die Rechtspraxis beeinflussende Doktrin herging.“ Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie (1922), 5., rev. Aufl., besorgt von Johannes Winckelmann, Studienausgabe, Tübingen 1980, S. 469. Vgl. Hartmut Lehmann: Säkularierung. Der europäische Sonderweg in Sachen Religion, Göttingen 2004; Artikel „Säkularisation, Säkularisierung“, in: Geschichtliche Grundbegriffe, Band 5, Stuttgart 1984, S. 789–831. Werner Conze verweist hier auf die freidenkerische „Secular Society“ in London seit 1846 und ihr Anliegen einer „‚Welt‘-Kultur“, bevor gegen Ende des 19. Jahrhunderts im Deutschen Reich eine Säkularisierungsdebatte in Gang kam, ebd., S. 791. In Band 8 der „Bausteine zu einer europäischen Religionsgeschichte“ hat Hartmut Lehmann sehr plausibel die Säkularisierung sozialer Beziehungen zur Bedingung eines neuen religiösen Vereinswesens erklärt. Hartmut Lehmann: Nichtreligiöse Aspekte religiöser Gemeinschaftsbildung im 19. und frühen
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wie „Disziplinierung der Lebensführung“ oder „Zuwachs staatlicher Gewalt“ werden sowohl unter dem „Konfessionalisierungsparadigma“ (Heinz Schilling)21 als auch unter dem „Säkularisierungsparadigma“ (Hartmut Lehmann)22 verbucht. Hier ist dringende Klärung zweier nebeneinander herlaufender Großerzählungen geboten. Die Thesen von Frau Neugebauer-Wölk sensibilisieren für die Pluralisierungsschübe, welche die Konfrontation der Esoterik mit dem Christentum ausgelöst hat. Nur sehe ich in der genannten Weise drei übergreifende Problemebenen, auf denen Historiker momentan in paradigmatischer Absicht (und in Konkurrenz) ihre Analyseinstrumente erproben und interdisziplinäre Religionskontakte pflegen. Ich fasse nur noch einmal zusammen: 1.) Die historische Symbolforschung untersucht religiöse Symbolwelten in anthropologischer Absicht. Das ist eine französisch-amerikanische Domäne, aber durch Ernst Cassirers „animal symbolicum“ mit wachsender Attraktivität auch in deutschen Sonderforschungsbereichen.23 2.) Die historische Kultursoziologie untersucht Religion akzentuiert in der Spannung zu anderen Lebensordnungen (Troeltsch sagt „Kulturbildungen“) und plädiert dafür, das Weber- und Troeltsch-Paradigma unter spezifischen Fragestellungen und in spezifischen Konstellationsana-
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20. Jahrhundert, in: Michael Geyer und Lucian Hölscher (Hg.): Die Gegenwart Gottes in der modernen Gesellschaft. Transzendenz und religiöse Vergemeinschaftung in Deutschland, Göttingen 2006, S. 27–34. Heinz Schilling, Die Konfessionalisierung von Kirche, Staat und Gesellschaft (wie Anm. 10), S. 2; vgl. auch den Vorschlag zur Dimensionierung der Konfessionalisierungsprozesse bei Wolfgang Reinhard: Was ist katholische Konfessionalisierung, in: ebd., S. 419–451, hier S. 426 f. Ganz im Deutungsmuster der Säkularisierung ist der Band in der Reihe „Europa bauen“ des Beck-Verlages durch den französischen Historiker und Politikwissenschaftler René Rémond gehalten: Religion und Gesellschaft in Europa. Von 1789 bis zur Gegenwart, München 2000, vgl. S. 25: „Wohl abgewogen hingegen ist der Begriff der ‚Säkularisation‘. Der unsere Zustimmung findet [. . .]. Deshalb werden wir diesen Begriff am häufigsten verwenden, und er bestimmt auch das allgemeine Thema dieses Buches, das den Prozeß der Säkularisation über zwei Jahrhunderte hinweg schildern wird.“ Vgl. Burkhard Gladigow: Symbole und Symbolkontrolle als Ergebnis einer Professionalisierung von Religion, in: Rudolf Schlögl, Bernhard Giesen, Jürgen Osterhammel (Hg.): Die Wirklichkeit der Symbole, Grundlagen der Kommunikation in historischen und gegenwärtigen Gesellschaften, Konstanz 2004, S. 59– 172.
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lysen zu aktivieren,24 nicht zu überwinden, wie Frau Neugebauer-Wölk in Punkt 4 nahezulegen scheint. 3.) Die „neue Weltgeschichte“ ermittelt die Bedeutung der Religion für Genese und Eigenart Europas in den neuzeitlichen Prozessen der Globalisierung; das reicht von Shmuel Eisenstadts „multipler Moderne“ über den Schwerpunkt des Erfurter Max-Weber-Kollegs, „die kulturellen Werte Europas“ zu profilieren bis zu Christopher A. Baylys „Weltreichen der Religion“ in einem Antagonismus von Religionsvielfalt und Uniformierung durch die weltweiten Transferprozesse25. Mit diesen Paradigmen stehen Historiker naturgemäß in interdisziplinären Problemzonen, die erhebliche Arbeit an gemeinsamer Kategorienbildung erfordern, – bei Friedrich Wilhelm Graf ein ceterum censeo, und auch bei Neugebauer-Wölk in Punkt 5 gefordert. Religionshistoriker stehen damit interdisziplinär heute in der Situation, in der Politikhistoriker international auf dem Historikerkongreß 1928 in Oslo standen. Was Marc Bloch dort in einem großen Vortrag zum Abbau nationalistischer Sichtblenden durch eine „gemeinsame Wissenschaftssprache“ sagte, gilt heute für die „Interdisziplinarität als Lernprozeß“.26 Von einer gemeinsamen Wissenschaftssprache erhoffte sich Marc Bloch nicht weniger als das Ende vom „Dialog unter Schwerhörigen, von denen jeder völlig verkehrt auf die Fragen des anderen antwortet.“27 Kongresse, wir hier zu Ernst Troeltsch, dürften ein geeignetes Forum sein, daran zu arbeiten. 24
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Vgl. Gert Albert, u. a. (Hg.): Das Weber-Paradigma. Studien zur Weiterentwicklung von Max Webers Forschungsprogramm, Tübingen 2003. Shmuel N. Eisenstadt: Die Achsenzeit der Weltgeschichte, in: Hans Joas und Klaus Wiegandt (Hg.): Die kulturellen Werte Europas, Frankfurt a. M. 2005, S. 40–68; ders.: Die institutionellen Ordnungen der Moderne. Die Vielfalt der Moderne aus einer weberianischen Sicht, in: Gert Albert (Hg.), Das WeberParadigma (wie Anm. 24), 328–351; Christopher A. Bayly: Die Geburt der modernen Welt. Eine Globalgeschichte 1780–1914, Frankfurt a. M. 2006, Kapitel 9, Weltreiche der Religion, S. 400–450. Hans G. Kippenberg: Konfrontation der Disziplinen: Wo bleibt die Autonomie der Religion? In: Interdisziplinarität als Lernprozeß. Erfahrungen mit einem handlungstheoretischen Forschungsprogramm, hrsg. von Hans Joas und Hans G. Kippenberg, Göttingen 2005, S. 63–77. Marc Bloch: Für eine vergleichende Geschichtsbetrachtung der europäischen Gesellschaften, in: Matthias Middell und Steffen Sammler (Hg.): Alles Gewordene hat Geschichte. Die Schule der Annales in ihren Texten 1929–1992, Leipzig 1994, S. 121–159, hier S. 159.
Perspektivenerwartungen in den gegenwärtigen Religionsdeutungsdebatten Christian Albrecht
„Religion boomt“, „Religion hat wieder Konjunktur“, „es gibt eine Rückkehr der Religion“ – diese Sätze liest man seit einigen Jahren zwar täglich, aber sie sind höchst unpräzise. Denn in erster Linie ist es ja wohl die Religionsdeutung, die eine Konjunktur erlebt. Die intellektuellen und wissenschaftlichen Diskurse widmen sich seit geraumer Zeit wieder verstärkt dem Religionsthema – und zwar nicht erst seit dem vielbeschworenen 11. September 2001, sondern bereits seit den späten 1970er Jahren, wenngleich die Religionsdeutung zweifellos in den letzten zehn Jahren noch einmal einen massiven Aufschwung erlebt hat. Diese Rückkehr der Religionsdeutung1 wirft die Frage auf, was die Teilnehmer an den Religionsdebatten sich von ihrer Teilnahme an diesen Debatten erwarten. Worin bestehen die – vermutlich höchst unterschiedlichen – Perspektivengewinne, die von den Teilnehmern am gegenwärtigen Religionsdiskurs erwartet oder erzielt werden? 1. Voraussetzungen Drei knappe, einleitende Beobachtungen zu den gegenwärtigen Religionsdeutungsdebatten möchte ich einleitend thesenhaft nennen. Sie versuchen, einige Probleme des gegenwärtigen Religionsdiskurses anzusprechen, die dann den Blick auf das Folgende leiten sollen. Die erste Beobachtung lautet: Die Art und Weise der Behandlung des Religionsthemas hat sich zwar, im Vergleich zu früheren Epochen der Religionsdeutung, verschoben. In den religionsdeutenden Debatten der 1
„Religion ist auf die Agenda der modernen Wissenschaften zurückgekehrt“: Friedrich Wilhelm Graf: Die Wiederkehr der Götter. Religion in der modernen Kultur, München 2004 u. ö., S. 15.
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Gegenwart wird vorderhand kaum noch um die Legitimität von Religion gestritten, vielmehr wird die Bedeutung der Religion analysiert, so etwa die Bedeutung öffentlicher Organisation von Glaubensaussagen oder die Wirkungen von kulturellen Manifestationen religiöser Traditionen. Aber die alten religionspolitischen Durchsetzungsinteressen sind nicht einfach domestiziert, wie manche Teilnehmer und Beobachter der Religionsdiskurse glauben oder glauben machen wollen.2 Bisweilen geht es, in den vermeintlich analytischen Debatten, eben unverändert darum, einen bestimmten Religionsbegriff oder eine bestimmte Religionsform durchsetzen zu wollen. Auch die notorischen Frontverläufe zwischen Religionskritik oder Religionsapologetik sind beileibe nicht so befriedet, wie man denken könnte. Vereinfacht gesagt: Die gegenwärtigen Debatten werden zwar geführt als Debatten über die Folgen von Religion, nicht als Debatten über die Sachhaltigkeit der Religion. Aber diese alte Frage nach der Sachhaltigkeit von Religion ist deswegen nicht verschwunden, sondern sie wird verdeckt mitgeführt. Die zweite Beobachtung verhält sich sperrig zu der ersten und betrifft den paradigmatischen Charakter des Religionsbegriffes. In den gegenwärtigen intellektuellen Debatten fungiert der Religionsbegriff weithin als Erschließungsmuster komplexer kultureller, politischer und sozialer Wirklichkeit. Religion fungiert als eine Art Schlüsselbegriff, mit dessen Hilfe komplexe und ambivalente Strukturen in der Verfassung der modernen Welt beschrieben werden sollen, aber auch: als ein Schlüsselbegriff, der unterschiedliche und als fragmentarisch empfundene Theorieperspektiven in einen Zusammenhang bringen soll. Der Religionsbegriff hat damit, wie ich abgekürzt sagen möchte, die Funktion eines Leitparadigmas in den intellektuellen Debatten der Gegenwart. Am deutlichsten wird das vielleicht, wenn man sich die Vorgängerbegriffe anschaut, den Begriff der Gesellschaft in den 1960er und 1970er Jahren sowie den Begriff der Kultur in den 1980er und 1990er Jahren. Auch „Gesellschaft“ und „Kultur“ sollten solche integralen Begriffe sein, denen nicht ohne weiteres ein eindeutiger Gegenstand oder eine eindeutige Gegenständlichkeit entsprochen hätte und auch nicht entsprechen mußte. Auch sie waren vor allem Begriffe, die das Ganze erfahrener Komplexität auf ein Muster zu bringen suchten, das diese Komplexität transparent und strukturierbar machte. Auch sie fungierten als integrale und integrative 2
So etwa, stellvertretend für andere: Hans G. Kippenberg, Kocku von Stuckrad: Einführung in die Religionswissenschaft. Gegenstände und Begriffe, München 2003, S. 94–135.
Perspektivenerwartungen in den gegenwärtigen Religionsdeutungsdebatten
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Begriffe, die komplexe, untergründige und ambivalente Verknüpfungen ebenso freilegen sollten wie sie eingespielte Perspektiven in Frage stellen sollten. Diese paradigmatische Funktion wird gegenwärtig, so scheint es mir, dem Religionsbegriff zugetraut bzw. zugemutet. Die Konjunktur der Religionsdeutung ist insofern nicht zuletzt die Konjunktur eines derzeit herrschenden Paradigmas in den intellektuellen Selbstverständigungsdebatten. Das führt auf die dritte Beobachtung. Über Religion läßt sich, gleich in welcher Wissenschaft und gleich in welcher intellektuellen Perspektive, nicht objektiv oder neutral reden. Das hat teils damit zu tun, daß intellektuelle Deuter der Religion in ihren Beschreibungen stets bezogen bleiben auf eigene religiöse oder religioid funktionierende Erfahrungen, Interessen und Sozialisationsmuster, die diesen Beschreibungen als unhintergehbare Bedingungen vorausliegen. Doch es gibt noch einen weiteren Grund. Daß es in Sachen der Religionsdeutung keine neutrale Beobachterperspektive geben kann, keinen Standpunkt außerhalb, hat meines Erachtens mindestens genau so stark mit dem – in den gegenwärtigen Debatten besonders deutlich werdenden – Anspruch des Religionsbegriffes zu tun, sich auf das Ganze der Wirklichkeit zu beziehen: Zum paradigmatisch eingesetzten Religionsbegriff gehört es konstitutiv, das Ganze der komplexen Wirklichkeit zumindest in ihren Grundstrukturen zu erschließen und gerade keine Bereiche auszuschließen, vor allem nicht die eigene Theorieperspektive. Das integral funktionierende Paradigma zielt ja gerade auf die Einzeichnung des ursprünglich eigenen Themas oder der ursprünglich eigenen Perspektive in den größeren Zusammenhang eines Ganzen. Auch hier verdeutlicht der historische Vergleich: Der das Gesellschaftsparadigma in Anspruch nehmende Literaturwissenschaftler der 1960er und 1970er Jahre konnte und wollte nicht darauf verzichten, Literatur und Literaturtheorien eben als Teil des „Gesellschaft“ genannten Ganzen zu verstehen – ebenso wenig wie etwa der das Kulturparadigma bemühende Theologe, der damit ja massive Interessen für den Zuschnitt der eigenen Disziplin im Horizont des „Kultur“ genannten Ganzen verband. Die in den jeweiligen Paradigmen programmatisch gemeinte Richtung auf das Ganze brachte es mit sich, daß es einen neutralen Standpunkt außerhalb nicht geben konnte und nicht geben sollte. So ist es nun auch in den gegenwärtigen Religionsdebatten. Es geht den zahlreichen Teilnehmern an den religionsdeutenden Diskursen bei der Inanspruchnahme des Religionsparadigmas immer auch um das Bemühen um die Einzeichnung des je eigenen Theoriegegenstandes, der je eigenen Theorieperspektive in das größere Ganze diskursiver Zusam-
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menhänge, es geht um den Relevanzerweis des eigenen Gegenstandes, der eigenen theoretischen Perspektive im Horizont der gegenwärtigen Debatten – wie sollte das neutral vonstatten gehen können, ohne massive Interessen und normative Absichten? In den gegenwärtigen Religionsdiskursen kann es das Denken und Deuten nicht anders als in Teilnehmerperspektive geben. Der Befund ist also diffizil und ambivalent: Einerseits fungiert der Religionsbegriff gegenwärtig als schlüsselhaftes Paradigma, dabei werden aber alte religionspolitische Durchsetzungsinteressen untergründig ebenso mitgeführt wie Standortgebundenheiten. Auf diesem Hintergrund und unter diesen Voraussetzungen möchte ich das mir vorgegebene Thema so bearbeiten, daß ich mir die Leitfrage stelle: Welche Perspektivengewinne werden durch die Teilnahme am Religionsdiskurs erwartet oder erzielt? Ich meine, daß man hier verschiedene Typen ausmachen kann und möchte im folgenden einige markante solcher Typen beschreiben. Für diese Typisierung nehme ich vorsorglich in Anspruch, was für jede Typisierung gilt: Sie vereinfacht, sie dient der Verdeutlichung, der Pointierung, sie erhebt nicht den Anspruch, einzelnen Theoriekonzepten oder ihren Vertretern zur Gänze gerecht zu werden, erst recht nicht den Vielschichtigkeiten ihrer Ausführungen, sie soll lediglich Linien und Richtungen markieren, die zur Orientierung in einem unübersichtlichen Feld dienen und im einzelnen natürlich vielfach differenziert werden müßten. Vor allem aber erhebe ich nicht den Anspruch, daß die Listung der Typen vollständig ist: nur einige, für die Frage nach dem Perspektivengewinn markante Typen sollen beschrieben werden, viele andere werden nicht genannt. Die Religionsdebatten verlaufen beileibe nicht so übersichtlich, wie die Typisierung nahelegen könnte. Ihr Zweck besteht lediglich darin, bestimmte Grundmuster in den Debattenbeiträgen zu beschreiben. 2. Typen der Teilnahme am Religionsdiskurs Insgesamt acht solcher Typen des Perspektivengewinns möchte ich kurz umreißen. Die ersten vier sind primär thematisch bestimmt, in den letzten vier sind dann andere Gewinnerwartungen leitend. Unter den zahlreichen Themen, die die gegenwärtigen Religionsdiskurse antreiben und bestimmen, lassen sich unschwer vier Hauptthemen erkennen. Ich kann sie hier äußerst kurz und stichwortartig nennen.
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1. Politikdeutung Religionsdeutung ist, diesem Impuls und Motiv nach, vor allem das Bemühen, politische Entwicklungen in ihren Gründen und in ihrem Ausmaß zu verstehen. Die Thematisierung von Religion dient dazu, die für die Verfassung weiter Teile der westlichen Welt programmatische Autonomie der Sphäre des Politischen im globalen Horizont auf ihr Recht und ihre Grenzen zu prüfen. 2. Unterscheidung zwischen Privatheit und Öffentlichkeit Religionsdeutung fungiert hier als Kritik an der eingespielten Dichotomisierung von Privatheit und Öffentlichkeit bzw. als exemplarisches Feld der Einsicht in deren wechselseitige Angewiesenheit, in komplexe Mischformen aus Privatheit und Öffentlichkeit. 3. Verarbeitung von Pluralismus Religionsdeutung ist das Medium der reflexiven Verarbeitung von Pluralismus. Religionsdeutung dient der Erschließung der Notwendigkeiten und Möglichkeiten von Regeln, Instrumenten und Modulatoren für die Koexistenz konkurrierender Weltbilder und Lebensführungspraxen. 4. Religionsphänomenologie Schließlich viertens ist auch ein ganz schlichtes thematisches Interesse zu nennen: Religionsdeutung kann, das soll nicht vergessen oder übersehen bleiben, ungebrochen und unvermittelt auf die Beschreibung von religiösen Gegenwartsphänomenen zielen wollen, etwa auf die Konjunktur von zivilreligiösen Beständen, auf das kommunikative Zustandekommen der Religion, auf die wachsende Bedeutung von Räumen und Zeiten usw. Neben diesen vier Haupttypen einer thematisch orientierten Teilnahme an den Religionsdebatten der Gegenwart lassen sich nun weitere Typen ausmachen, deren Perspektivengewinne eher in andere Richtungen zu weisen scheinen. Natürlich finden sich die im folgenden zu nennenden Typen teils in, teils neben den genannten themenbezogenen Teilnahmetypen. Sie werden hier nur zur Beschreibung künstlich isoliert. Unter dieser Bedingung möchte ich vier weitere solcher Typen der Teilnahme an den gegenwärtigen Religionsdebatten und ihre spezifischen Perspektivengewinne nennen.
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5. Artikulation religionspolitischer Interessen Dieser Typus der Beteiligung an den Religionsdiskursen ist dadurch bestimmt, daß er auf die Durchsetzung von Positionen im religiösen Feld bzw. im Verteilungskampf der religiösen Anbieter zielt. Man mag hier zuerst an Wortmeldungen im Interesse profitorientierter Anbieter religiös aufgeladener esoterischer, medizinischer, psychologischer oder auch künstlerisch-ästhetischer Lebensdeutung denken, die etwa eine Religion der Musik genau so wie Körperkulte oder Medienfrömmigkeiten festzuschreiben versuchen. Indessen lassen sich für dieses Interesse an der Durchsetzung von Positionen charakteristische Beispiele im Rahmen kirchlicher und theologischer Stellungnahmen finden. Am weitesten preschen hier naturgemäß die Kirchen vor. Sprechend ist etwa das 2006 veröffentlichte, sogenannte Zukunftspapier der EKD: „Ein neues, plural geprägtes Interesse für religiöse Fragen bestimmt unsere Gegenwart [. . .]. Dieses neue religiöse Interesse muß bewußt als ein besonderes Zeitfenster für neue kirchliche Initiativen genutzt werden.“3 Zwar ist, so wird festgehalten, „keineswegs sicher, dass dieses weithin kulturelle Interesse an der Religion einer verbindlichen Zuwendung zum Evangelium zu Gute kommt.“ Aber: „Die christlichen Kirchen haben im Blick auf ihre zentralen Themen neue Chancen.“4 Offen um Marktanteile ringend zeigt sich, zweitens, auch die in der gegenwärtigen Systematischen Theologie wahrnehmbare Tendenz zur Adaption religionskritischer Traditionen: Methoden, Muster und Kriterien der alten Religionskritik werden gesichtet, renoviert und wieder in Dienst genommen, soweit sie es erlauben, qualitative Differenzen zwischen den Religionen festzustellen, wobei das Ziel des Verfahrens schon sehr früh feststehen dürfte. Und schließlich drittens: auch der in meiner Disziplin, der Praktischen Theologie, weitverbreitete Programmgestus des „Wahrnehmens“ gegenwärtiger nichtkirchlicher und nichtchristlicher, aber religiöser oder religionsverdächtiger Phänomene entpuppt sich bei Lichte besehen allzu oft als ein nur mühsam mit kulturhermeneutischer Tarnfarbe überzogenes Waffenstillstandsangebot in den religiösen Verteilungskämpfen nach dem trivialrelativistischen
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Kirche der Freiheit. Perspektiven für die evangelische Kirche im 21. Jahrhundert. Ein Impulspapier des Rates der EKD, hrsg. vom Kirchenamt der EKD, Bad Münder o. J. [2006], S. 14. Ebd., S. 15.
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„Ich-bin-ok-du-bist-ok“-Muster: Nehm’ ich dich wahr, mußt du mich wahrnehmen.5 6. Theorieverstärkung In ihrer vielleicht am weitesten verbreiteten, zugleich unspektakulärsten Form hat die Teilnahme am intellektuellen Religionsdiskurs aber die Funktion der Theorieverstärkung. Das Interesse an der Religion erscheint hier kaum als ein primäres, ursprüngliches Interesse, vielmehr dient die Inanspruchnahme des Religionsparadigmas der Weiterentwicklung eines bereits zuvor zumindest in den Grundzügen feststehenden Theorieprogramms. Besonders intensiv gesehen worden ist das etwa in zahlreichen Reaktionen auf Jürgen Habermas’ überraschende Wende zur Religion seit der Friedenspreisrede 2001. Werkgeschichtlich, so der Tenor mancher Entgegnungen, und nur darum geht es hier, sei das Konzept der postsäkularen Gesellschaft zwar vielleicht konsequent, religionsphänomenologisch dagegen überraschend blind.6 Vergleichbare Beobachtungen könnte man vielleicht auch an anderen jüngeren Beteiligungen am Religionsdiskurs machen. Auch etwa für Norbert Bolz oder Gianni Vattimo liegt die Bedeutung der Religion darin, daß sie einer ästhetischen Bewältigung von Überforderungsphänomenen der Moderne dient, nämlich der Überkomplexität der Moderne, so Bolz, oder der Dürftigkeit der Moderne, so Vattimo. Denken könnte man auch etwa an Peter Sloterdijk, der ja seit einiger Zeit der Religion die Funktion der individuellen Immunisierungstechnik gegen die im Laufe der kulturellen Entwicklung der Moderne zunehmenden Verletzungen und Kränkungen zuschreibt. Nur auf folgendes kommt es mir an: Bei allen genannten Autoren rückt die Religion in kompensatorische Funktionsstellen ein, die in den Theoriekonzepten schon früher als existent bzw. notwendig behauptet worden waren, nun aber durch den Eintrag der Religion prominent besetzt werden können. Die Religion zu bemühen, bedeutet, gleichsam ei5
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Stellvertretend sei hier hingewiesen auf das Handbuch Religion und Populäre Kultur, hrsg. von Kristian Fechtner, Gotthard Fermor, Uta Pohl-Patalong und Harald Schroeter-Wittke, Stuttgart 2005. Vgl. hier nur exemplarisch Hans Joas: Religion post-säkular? Zu einer Begriffsprägung von Jürgen Habermas (2002), jetzt in: ders.: Braucht der Mensch Religion? Über Erfahrungen der Selbsttranszendenz, Freiburg, Basel, Wien 2004, S. 122–128.
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ne Brücke zu schlagen zwischen dem in den Grundzügen feststehenden gedanklichen System und dem Zeitgeschehen. Mit dieser Beobachtung soll keinesfalls der mögliche Erschließungswert der jeweiligen Deutung für das Verständnis der Religion in Abrede gestellt oder diskreditiert werden. Der von den exemplarisch genannten Autoren erwartete Perspektivengewinn bei der Beteiligung am Religionsdiskurs zielt aber eben, darauf kommt es mir an, nicht in erster Linie auf eine solche Erschließung der Religion, sondern auf die Verstärkung der eigenen sozialphilosophischen oder ästhetischen Modernetheorie durch die Inanspruchnahme des gängigen Paradigmas. 7. Steigerung epistemischer Selbstreflexivität In einer nachgerade entgegengesetzten Weise fungiert die Beteiligung an den Religionsdebatten in dem nächsten hier vorzustellenden Typus, nämlich nicht als Selbstkritik vermeidende Verstärkung der eigenen Theorie, sondern eher als Anlaß der selbstkritischen Reflexion auf ihre Bedingungen. Ein einziges Beispiel für diesen Typus möchte ich nennen. Es stammt aus den gegenwärtigen Religionswissenschaften. Die Religionswissenschaften zeigen sich derzeit stark mit dem Bemühen um eine Begrenzung des religiösen Feldes beschäftigt (vielleicht aus Sorge um die Unübersichtlichkeit, die ihr Gegenstand in der letzten Zeit angenommen hat) und neigen darum unter einem gewissen Hang zum Dekonstruktivismus, dem zufolge man eigentlich nichts über die Religionen und schon gar nichts über die Religion sagen könne. Gelegentlich wird das herrschende Paradigma aber auch zum Anlaß einer entschlossenen methodischen Selbstbesinnung der Disziplin genommen. Ich möchte hier nur hinweisen auf die vor einigen Jahren erschienene Einführung in die Religionswissenschaft aus der Feder Kocku von Stuckrads und Hans Kippenbergs.7 Hier wird die Konjunktur des Religionsparadigmas bzw. die mit ihr verbundene explosionsartige Vermehrung intellektueller Religionsdeutungen zum Anlaß genommen für die eindringliche Erinnerung an die Perspektivität religionswissenschaftlicher Religionsdeutungen durch den Hinweis auf die Standortgebundenheit des Religionswissenschaftlers und die Aufforderung zur Reflexion auf diese. Die Autoren destruieren alte, illusionäre Annahmen vom Überlegenheitsanspruch religionswis7
Hans G. Kippenberg, Kocku von Stuckrad: Einführung in die Religionswissenschaft (wie Anm. 2).
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senschaftlicher Religionsdeutungen, werben für die Multiperspektivität auch innerhalb der Religionswissenschaft, stellen die Frage nach den impliziten normativen Axiomen und richten den Blick auf die Wissenschaftsgeschichte der eigenen Disziplin und auf das Zustandekommen von Definitionen und historischen Narrativen. Das Religionsparadigma wird also, darauf kommt es hier an, nicht in erster Linie genutzt, um eigene sachbezogene Deuteinteressen durchzusetzen, wenngleich diese natürlich hervortreten, beispielsweise in der Wiederentdeckung des religiösen Gemeinschaftshandelns und in der Aufmerksamkeit auf die mediale Präsenz der Religion etc. Religion ist hingegen vor allem ein Reflexionsparadigma, das dazu dient, die eingespielten Selbstverständlichkeiten des eigenen Denkens kritisch zu ergründen. In manchem mutet dies an wie die Wiederkehr einer methodischen Selbstbesinnung, die Ernst Troeltsch gut einhundert Jahre zuvor der protestantischen Theologie verschrieben hatte, ironischerweise nicht zuletzt angesichts des Aufkommens der modernen Religionswissenschaften. Gegenwärtig findet man diesen methodenbezogenen, selbstreflexiven Typus der Teilnahme am Religionsdiskurs wohl vor allem in den Religionswissenschaften, doch auch in der protestantischen Theologie etwa dort, wo im Rahmen der Teilnahme an den Religionsdiskursen verwandte Konzepte der Selbsthistorisierung und der Begriffskritik, der reflektierten Integration der Beobachterperspektive8 oder der wissenschaftshistorischen Motivgeschichte9 vorgeschlagen werden. 8. Implizite Debattenkritik Den letzten hier vorzustellenden Typus könnte man als implizite Debattenkritik bezeichnen: Die Wortmeldung in der Religionsdebatte gibt zwar eine Religionsdeutung zu Protokoll, scheint aber doch in erster Linie eine Stellungnahme zur Richtung der Debatte selbst sein zu wollen. Exemplarisch anschaulich wird das etwa in den Akzentverschiebungen, die die Religionsdeutung Hermann Lübbes erkennen lassen. Hatte Lübbe sich etwa in der Mitte der 1980er Jahre intensiv mit Fragen des 8
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Vgl. dazu die Ansätze in der älteren und neueren Theorie des Christentums, dazu jetzt Martin Laube: Theologie und neuzeitliches Christentum. Studien zu Genese und Profil der Christentumstheorie Trutz Rendtorffs (BHTh 139), Tübingen 2006. Friedrich Wilhelm Graf: Die Wiederkehr der Götter (wie Anm. 1).
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Verhältnisses von Politik und Religion oder mit Problemen der Religionsfreiheit auseinandergesetzt,10 so wiederholt oder modifiziert er diese Überlegungen gegenwärtig, da diese Themen eine breite Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen können, gerade nicht. Vielmehr scheint seine Religionsdeutung gegenwärtig ein neues Hauptthema zu kennen, nämlich die Frage der Erkennbarkeit von Religion. Offensichtlich in der kritischen Reaktion auf die breite Aufmerksamkeit, die die Suche nach der unsichtbaren Religion und die Aufwertung diffuser Phänomene in den zur Zeit laufenden Debatten erfährt, propagiert Lübbe gegenwärtig11 ein auf den ersten Blick atavistisch anmutendes Religionsverständnis. Religion ist das, was der common sense für Religion hält: eine funktional bestimmte, identifizierbare Lebenspraxis, die zentral in der erfahrungsgesättigten Anerkennung handlungssinntranszendenter Daseinsbedingungen besteht. Es führt wohl in die Irre, diesem Religionsverständnis seine enge Bindung an kirchliche oder konfessionelle Prägungen entgegenhalten zu wollen. Denn ersichtlich folgt die vermeintliche Schlichtheit der Bestimmung einem Motiv, das vor allem als Kritik an manchen Ausuferungen der gegenwärtigen Religionsdebatten, als Kritik an der religionswissenschaftlich modisch gewordenen Tendenz zum destruktiven Verzicht auf Allgemeinbegriffe in den Religionsdebatten zu verstehen ist und als Plädoyer dafür, in diesen Debatten auch klassische Elemente sichtbarer Religion und deren Stärken in einer angemessenen Weise thematisch werden zu lassen. Schluß Noch einmal: Das Grundproblem der gegenwärtigen Religionsdebatten dürfte darin bestehen, daß sich die Typen der Teilnahme und die erwarteten Perspektivengewinne eben gerade nicht so sauber unterscheiden lassen, wie ich es in der vorstehenden Typisierung versucht habe. Die Typen und die sie leitenden Motive sind miteinander vermengt, jeder Debattenbeitrag dürfte zugleich mehrere Absichten und Interessen verfolgen, und die erwarteten oder erzielten Perspektivengewinne bleiben wohl auch großenteils unbewußt. Die religionsdeutenden Debatten verlaufen eben 10
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Hermann Lübbe: Religion nach der Aufklärung (Graz, Wien, Köln 1986), 4. Aufl., München 2004. Hermann Lübbe: Modernisierungsgewinner. Religion, Geschichtssinn, Direkte Demokratie und Moral, München 2004.
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sehr viel komplexer und diffuser, als schneisenhafte Typisierungen wie die vorstehende erfassen können. Völlig ausgeblendet bleiben mußte in dieser Typisierung auch die Selbstanwendung, also die Frage nach dem Perspektivengewinn, der mit der debattendeutenden Typisierung wie der vorliegenden erwartet wird. Deutlich gemacht haben sollte die Typisierung aber, daß angesichts der die gegenwärtigen Religionsdebatten kennzeichnenden diffusen Gemengelage aus einer paradigmatischen Verwendungsweise des Religionsthemas, aus religionspolitischen Durchsetzungsinteressen und aus Standortgebundenheiten vor allem diejenigen Wortmeldungen eine Chance auf wirkungsvolles Gehör haben, die die Fähigkeit zur Selbstreflexion auf die Bedingungen, Gründe und Folgen ihrer eigenen Perspektive erkennen lassen. Kaum irgendwo ist die Bereitschaft und Fähigkeit zur Selbstkritik, zur Selbstrelativierung, mithin zur Selbsthistorisierung so notwendig wie in den Religionsdiskursen der Gegenwart12, und zwar mindestens aus zwei Gründen. Notwendig ist dies zum einen, um die Einflüsse der eigenen religionspolitischen Interessen und der eigenen, unhintergehbaren Standortbedingtheiten auf die eigenen Religionsdeutungen zu kennen. Implizite Dogmatismen, perspektivische Beschränkungen und unbewußte Absichten leiten Religionsdeutungen stets in besonders hohem Maße und sind stets bereit, ein unbeobachtetes Eigenleben unter der Oberfläche der vermeintlich sach- und themenbezogenen Deutungen zu beginnen. Notwendig ist die Selbsthistorisierung der Beiträge in den gegenwärtigen Religionsdebatten zum anderen aber insbesondere aufgrund des auch paradigmatischen Charakters, den das Religionsthema derzeit in den intellektuellen Debatten angenommen hat. Paradigmen kommen und gehen auch wieder, und es gehört nicht viel Phantasie dazu, um sich vorzustellen, daß dem Religionsparadigma – wie seinerzeit dem Gesellschafts- oder Kulturparadigma – nur eine begrenzte Zeit zugemessen ist. Das Paradigma wird abgelöst werden durch ein neues, die Religionsdebatten werden stiller werden und die Religionsdeutung weniger aufgeregt als das derzeit der Fall ist. Nur Religionsdeuter, die in der Lage sind, Debatten und vor allem die eigene Position in dieser Debatte zu historisieren, werden die dann nötige Einsicht in die Funktion der schwankenden Konjunktur von Begriffen haben können. Die braucht man aber, um zu wissen: So kurzsichtig es war, unter Verzicht auf historische Selbstrelativierung der eigenen Deuteperspektive vor 12
Friedrich Wilhelm Graf: Die Wiederkehr der Götter (wie Anm. 1), S. 238.
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kurzem die vermeintliche Wiederkehr der Religion zu konstatieren, so kurzsichtig wird es sein, dann in naher Zukunft beim Wechsel des Paradigmas den vermeintlichen Verlust der Religion zu notieren – sei’s zustimmend, sei’s im Ton der Klage. Wer religionsdeutende Debatten vergangener Epochen kennt, könnte wissen, daß das eine wie das andere, die Rückkehr der Religion wie der Verlust der Religion, nicht ohne weiteres zutrifft. Insbesondere professionelle Religionsdeuter sind gut beraten, sich zur Vermeidung von Selbsttäuschungen nun sowohl gegen die derzeitige Konjunktur ihres Themas als auch gegen die erwartbare Rezession einen historisch gebildeten Immunschutz zuzulegen.
Probleme der Religionstheologie – Probleme mit der Religionstheologie Alf Christophersen Religionstheologie in ökumenischer Perspektive: eine Vorbemerkung Unter der Annahme, daß die gegenwärtigen Problemstellungen, mit denen die Weltgesellschaft konfrontiert ist, deutliche, in elementaren ethischen Fragen konsensorientierte Positionen der Religionen erfordern, und der überkommene interreligiöse Dialog erheblich vertieft werden muß, drängt sich spätestens seit den frühen 1960er Jahren eine spezifisch religionstheologische Fragestellung in den Vordergrund. Dabei gerät die theologisch-kritische Reflexion über die religiösen Lehrgehalte, ihre Praxisformen und die jeweiligen Geltungsansprüche auf Wahrheit in den Fokus. Grundlegend brachte Carl Heinz Ratschow 1979 die Zielrichtung einer religionstheologischen Perspektive zum Ausdruck, indem er festhielt: „Unter einer Theologie der Religionen verstehen wir die Urteilsbildung des christlichen Glaubens über die bedrängende Pluralität der Religionen.“1 1
Carl Heinz Ratschow: Die Religionen (Handbuch Systematischer Theologie, Band 16), Gütersloh 1979, S. 120. Vgl. auch die recht eingängige Formulierung von Michael Hüttenhoff: Der religiöse Pluralismus als Orientierungsproblem. Religionstheologische Studien, Leipzig 2001, S. 26: „Theologie der Religionen“ sei zu verstehen „als die Teildisziplin der Systematischen Theologie, die angesichts des religiösen Pluralismus die Geltungsansprüche der Religionen in ihrem Verhältnis zueinander thematisiert und theologisch zu beurteilen versucht.“ Vgl. ebenfalls Reinhold Bernhardt: Theologie der Religionen, in: Taschenlexikon Ökumene, Frankfurt a. M., Paderborn 2003, S. 254–258, hier S. 254: „Im Unterschied zur Praxis des interreligiösen Dialogs als der Pflege der Außenbeziehungen des Christentums geht es bei der Religionstheologie um das binnenchristliche Nachdenken über Wirklichkeit und Wahrheitsanspruch nichtchristlicher Religionen, aber auch umgekehrt: um die Reflexion des christlichen Wahrheitsund Heilsvermittlungsanspruchs im Lichte der Religionen.“ Vgl. zudem Chri-
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Die gegenwärtigen Debatten zur Religionstheologie sind in einem erheblichen Maße ideologisch aufgeladen. Zentrale Elemente, die ihren klassischen Ort in der Dogmatik haben, werden in die religionstheologischen Argumentationen integriert, verlieren dabei aber nur allzu oft an begrifflicher Schärfe und gedanklicher Präzision. Es bildet sich eine Art „Theologie light“ oder „interreligiöse Gebrauchstheologie“ heraus, die konsequent unter dem inhaltlichen Niveau der systematischtheologischen, teilweise auch praktisch-theologischen Fachdebatten bleibt. Nicht alle Topoi sind dabei gleichmäßig gefragt; es ist vor allem die Christologie, deren Substanz veräußert wird, aber gerade auch Religionsphilosophie oder Hermeneutik werden nur allzu gern trivialisiert. Wolfhart Pannenberg hatte vor etwa 40 Jahren betont, daß die religionstheologische Thematik solange im Kontext der Systematischen Theologie, näher der Prolegomena oder der Fundamentaltheologie, verbleiben müsse, bis sich die Religionswissenschaft zu einer „Theologie der Religionen“ ausgebildet habe, die als „Grunddisziplin der Theologie überhaupt“2 gelten könne. Bis dahin führe kein Weg daran vorbei, die Religionstheologie spezielleren Disziplinen zuzuordnen, deren Rahmen eigentlich zu eng sei. Es liege, lautet das Urteil, eine „Notlösung“ vor, die „so lange und nur solange“ gerechtfertigt werden könne, „wie eine echte Fundamentaltheologie in Gestalt einer Theologie der Religion und der Religionen nicht vorhanden ist“3. Der kritische Blick auf die gegenwärtige Lage läßt auch Jahrzehnte später immer noch deutlich werden, daß sich die Notlösung als Normalzustand sachlich besser behauptet als viele der gängigen religionstheologischen Simplifizierungsmuster, die den Zwang religiöser Korrektheit ausstrahlen. Religionstheologie ist vor allem im römisch-katholischen Kontext ein Problem, da es dort in aller Konsequenz des Systems stets auch um den Status des Lehramtes und die Maßregelung abweichender Positionen geht. Die religionstheologischen Auseinandersetzungen sind folglich immer auch Grundsatzdebatten über den normativen Anspruch der Institution Lehramt, insbesondere der Glaubenskongregation, päpstliche Unfehlbarkeit und die authentische Auslegung von Konzilsdokumenten.
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stoph Schwöbel: Theologie der Religionen. II. Dogmatisch, in: Religion in Geschichte und Gegenwart, Band 8, 4. Aufl., Tübingen 2005, Sp. 309–311. Wolfhart Pannenberg: Wissenschaftstheorie und Theologie, Frankfurt a. M. 1973, S. 372. Ebd., S. 373.
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In den folgenden Überlegungen wird es 1.) darum gehen, das ursprüngliche Anliegen einer „Theologie der Religionen“ zu benennen, um so die aktuellen Diskurse historisch-genetisch zu verankern; auf dieser Basis werden 2.) die unterschiedlichen religionstheologischen Haupttypen differenziert, um vor dieser Folie die Erklärung „Dominus Iesus“ als dasjenige lehramtliche Dokument zu präsentieren, das paradigmatisch die römisch-katholische Position in ihrer lehramtlich sanktionierten Form repräsentiert. Religionstheologie tritt dabei gerade auch als ökumenische Problemstellung in Erscheinung. Schließlich kommt über die am interreligiösen und interkonfessionellen Dialog orientierte Religionstheologie hinaus 3.) die grundsätzliche Verhältnisbestimmung von Religion und Theologie zur Sprache. 1. Von der Theologie der Religionsgeschichte zur Religionstheologie Die Formulierung „Theologie der Religionen“ ist mehrdeutig; denn es besteht die doppelte Möglichkeit, entweder von einem genitivus objectivus oder subjectivus auszugehen. Im einen, weitaus dominanteren Fall, werden die nichtchristlichen Religionen auf der Ebene der Dogmatik einer Analyse unter Vorzeichen der christlichen Glaubensvorstellungen unterzogen; im anderen Fall geht es darum, die Religionen daraufhin zu prüfen, inwieweit die Annahme eines Göttlichen in ihnen zum Ausdruck kommt.4 Begriffsgeschichtliche Studien zur „Theologie der Religionen“ beziehungsweise „Religionstheologie“ existieren bislang noch nicht, auch in den einschlägigen Lexika wird das Phänomen eher stiefmütterlich behandelt. Abgesehen von einigen wenigen eher unscharfen Erwähnungen oder Belegen, die mit dem gegenwärtig intendierten Bedeutungsfeld sachlich nicht direkt zu tun haben,5 gewinnt die Religionstheologie als zunehmend fest umrissenes Feld vor allem ab 4
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Vgl. Reinhard Leuze: Möglichkeiten und Grenzen einer Theologie der Religionsgeschichte, in: Kerygma und Dogma 24 (1978), S. 230–243; und unter Aufnahme von Leuze: Falk Wagner: Was ist Religion? Studien zu ihrem Begriff und Thema in Geschichte und Gegenwart, Gütersloh 1986, S. 547. Vgl. Wilhelm Dilthey: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte, Band I, Leipzig 1883, S. 381 (2. Buch, 3. Abschnitt, 6. Kapitel [„Zweiter Zeitraum des mittelalterlichen Denkens“]): „Die Vergleichung von Christenthum, Islam und Judenthum verbreitete ihre Helle über das Gebiet der Theologie; die Verglei-
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den 1960er Jahren an Konjunktur und Kontur.6 Bereits 1928 hatte aber Paul Althaus von einer „Theologie der Religionsgeschichte“ gesprochen. Dabei sah er in der religionsgeschichtlichen Perspektive allerdings keine selbständige Größe, sondern nur eingeschränkt eine erweiterte Folie für die Deutungskraft der christlichen Theologie.7 Althaus beabsichtigte, sich von Ernst Troeltsch abzuheben, dessen Überlegungen zu einer „religionsgeschichtlichen Theologie“8 ihm von der Glaubensbotschaft des Evangeliums abzurücken schienen. „Theologie der Religionsgeschichte“, so Althaus programmatisch, „heißt Vollzug des Glaubens und des in ihm liegenden Urteils über die Menschenwege in konkretem Durchdringen der Religionswelt. Nicht auf die Religionsgeschichte
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chung der Vernunftwissenschaft des Aristoteles mit der Theologie der Religionen erleuchtete die Grenzen des Beweisbaren und des religiösen Geheimnisses; die Verbindung des Naturwissens mit der Theologie erweiterte den Horizont der Vernunftwissenschaft.“ Zur Begriffsgeschichte vgl. Max Seckler: Theologie der Religionen mit Fragezeichen, in: Theologische Quartalschrift 166 (1986), S. 164–184; Michael Hüttenhoff: Der religiöse Pluralismus als Orientierungsproblem (wie Anm. 1), S. 11, Anm. 2; hier wird als erster Beleg für „Theologie der Religion“ genannt: Heinrich Stephan: Glaubenslehre. Der evangelische Glaube und sein Weltverständnis, 3. Aufl., Berlin 1941. – Es ist mit der Existenz weitaus älterer Belegstellen zu rechnen: Schon im Sommersemester 1919 formulierte etwa Paul Tillich für seine Vorlesung „Das Christentum und die Gesellschaftsprobleme der Gegenwart“ in einer von ihm wieder gestrichenen Passage: „Während die Theologie als Sonderwissenschaft eine Theologie der Religion schafft, arbeitet die Theologie als Methode an einer Theologie der Kultur“ (Paul Tillich: Berliner Vorlesungen I [1919–1920], hrsg. und mit einer historischen Einleitung versehen von Erdmann Sturm [Ergänzungs- und Nachlaßbände zu den Gesammelten Werken, Band XII], Berlin, New York 2001, S. 27–213, hier S. 67). Paul Althaus: Mission und Religionsgeschichte (1928), in: ders.: Theologische Aufsätze I, Gütersloh 1929, S. 153–205. Vgl. Ernst Troeltsch: Über historische und dogmatische Methode in der Theologie, in: ders.: Zur religiösen Lage, Religionsphilosophie und Ethik (Ernst Troeltsch: Gesammelte Schriften, 2. Band), Tübingen 1913, S. 729–753, hier v. a. S. 738. Vgl. dazu Paul Althaus: Mission und Religionsgeschichte (wie Anm. 7), S. 157: „An die Stelle des scharfen Gegensatzes, wie die Dogmatik seit Paulus ihn behauptet, treten unter der Wirkung des historischen Weltbildes Übergänge, Stufen, der Entwicklungsgedanke, der alle Gegensätze relativiert, indem er sie als Glieder einer Kette versteht. Dieses Geschichtsbild des Historismus nimmt nun sein gutes Gewissen von dem Blick auf die scheinbar offenkundigen Tatsachen der Religionsgeschichte.“
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gründet sich der Glaube, aber in ihr wird er vollzogen.“9 Der Erlanger Theologe zielte in gläubiger Heilsgewißheit auf ein „missionarisches Verstehen“ der nichtchristlichen Religionen ab: „Die ‚Theologie der Religionsgeschichte‘ ist das Selbstbewußtsein der missionierenden Christenheit.“10 Dieses Verständnis nahm wiederum Wolfhart Pannenberg 1962 und dann ausgearbeiteter 1967 in seinen „Erwägungen zu einer Theologie der Religionsgeschichte“11 zum Ausgangspunkt kritischer Rückfragen und attestierte Althaus mit Joachim Wach die „intellektuelle Unverbindlichkeit eines nur subjektiv akzeptierten supranaturalen Standpunktes“12. Denselben Vorwurf erhebt Pannenberg auch gegenüber römisch-katholischen Positionen, wie sie 1964 in Heinz Robert Schlettes Bändchen „Die Religionen als Thema der Theologie“ zum Ausdruck kommen. Schlette versteht „Religionstheologie“ als Auseinandersetzung mit theologischen Aussagen über nichtchristliche Religionen. Er zielt auf eine heilsgeschichtliche Deutung ab, in der der Theologie die Aufgabe zukomme, die spezielle Heilsgeschichte vor dem Hintergrund der ihr vorausliegenden oder parallel verlaufenden zu entfalten,13 um somit zu einem besseren Verständnis der eigenen Position zu gelangen. Es ist vor allem Schlettes Behauptung, die „Einführung theologischer Prinzipien“ verletze gezielt „die Objektivität im Sinne der ‚profanen‘ Religionsforschung“14, die Pannenbergs Widerspruch weckt, 9 10 11
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Paul Althaus: Mission und Religionsgeschichte (wie Anm. 7), S. 188. Ebd. Wolfhart Pannenberg: Erwägungen zu einer Theologie der Religionsgeschichte, in: ders.: Grundfragen systematischer Theologie (Gesammelte Aufsätze), 3. Aufl., Göttingen 1979, S. 252–295. Das hier aufgegriffene Thema hat Pannenberg bekanntlich in den Folgejahrzehnten, gerade auch in seiner „Systematischen Theologie“, vielfach spezifiziert und weiterentwickelt. Wolfhart Pannenberg: Erwägungen zu einer Theologie der Religionsgeschichte (wie Anm. 11), S. 255. Heinz Robert Schlette: Die Religionen als Thema der Theologie. Überlegungen zu einer „Theologie der Religionen“ (Quaestiones Disputatae, Band 22), Freiburg u. a. 1964, S. 6 und S. 122. Um seine Thesen zu stützen, bezieht sich Schlette, ebd., S. 81, auf Karl Rahner: Das Christentum und die nichtchristlichen Religionen [1961], in: ders.: Schriften zur Theologie, Band V. Neuere Schriften, 3. Aufl., Zürich u. a., 1962, S. 136–158. Rahner entfalte „die Präliminarien einer Religionstheologie“. Heinz Robert Schlette: Die Religionen als Thema der Theologie (wie Anm. 13), S. 64.
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denn so entstehe zu Recht der Eindruck von Voreingenommenheit und sachlicher Irrelevanz theologischer Aussagen.15 Pannenberg besteht darauf, daß die Endgültigkeit christlicher Offenbarung nur „im Rahmen eines unbefangenen Verständnisses des Gesamtprozesses der allgemeinen Religionsgeschichte“16 erfaßt werden könne. Vor allem im Rekurs auf Ernst Troeltschs impulsgebende Überlegungen zur „Selbständigkeit der Religion“17 und seine Schrift „Psychologie und Erkenntnistheorie in der Religionswissenschaft“18 gelangt Pannenberg zu dem Ergebnis, daß das Verhältnis von Theologie und Religionswissenschaft nicht – etwa in dialektisch-theologischer Manier19 – durch dogmatische Vorgaben zu bestimmen sei, sondern in „einer unvoreingenommenen Aufgeschlossenheit für das Erscheinen des göttlichen Geheimnisses und für seine Strittigkeit in der Geschichte der Religionen“20 gefunden werden müsse. Pannenberg verknüpft eine deutlich missionstheologische Deutungsperspektive, in der er auf die
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Wolfhart Pannenberg: Erwägungen zu einer Theologie der Religionsgeschichte (wie Anm. 11), S. 255, Anm. 8. Ebd., S. 255. Vgl. ebd., Anm. 9, die zustimmende Aufnahme von Ernst Benz: Ideen zu einer Theologie der Religionsgeschichte, in: Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Abhandlungen der geistes- und sozialwissenschaftlichen Klasse, Nr. 5, Mainz 1960, S. 425–496 (vgl. dort zu Barth und Troeltsch S. 454 f., S. 459–466). Ernst Troeltsch: Die Selbständigkeit der Religion (1895/96), in: ders.: Schriften zur Theologie und Religionsphilosophie (1888–1902), hrsg. von Christian Albrecht in Zusammenarbeit mit Björn Biester, Lars Emersleben und Dirk Schmid (Ernst Troeltsch: Kritische Gesamtausgabe, Band 1), Berlin, New York 2009, S. 364–535. Ernst Troeltsch: Psychologie und Erkenntnistheorie in der Religionswissenschaft, Tübingen 1905. Als immer wieder angeführte Paradestelle für die durch und durch skeptische Bewertung der Religion(en) durch die dialektische Theologie im Gefolge Barths vgl. nur: ders.: Kirchliche Dogmatik, Band I/2, 4. Aufl., Zürich 1948, § 17, S. 304–397: „Gottes Offenbarung als Aufhebung der Religion“. Dazu ausführlich Michael von Brück: Möglichkeiten und Grenzen einer Theologie der Religionen (Theologische Arbeiten, Band 38), Berlin (Ost) 1979, bes. S. 19–108. Wolfhart Pannenberg: Erwägungen zu einer Theologie der Religionsgeschichte (wie Anm. 11), S. 295. Zu Pannenbergs Troeltsch-Rezeption im Kontext des Religionsbegriffs vgl. v. a. auch ders.: Systematische Theologie, Band 1, Göttingen 1988, bes. S. 149 f.
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Einheit der Religionsgeschichte an ihrem Ende blickt,21 mit einem an Ludwig Feuerbachs Illusionsdestruktionen geschulten anthropologischen Ansatz, der das alle Menschen von Beginn an verbindende religiöse Moment aufsucht, um „das religiöse Leben als ein notwendiges Element in der Struktur des menschlichen Daseins nachzuweisen“22. Als Leitfrage identifiziert Pannenberg die Problematik, inwieweit einstige Erfahrungen mit dem göttlichen Geheimnis, die als Erhellung der Daseinswirklichkeit erfahren wurden, auch durch gegenwärtige Erfahrungen bestätigt werden, so daß der Anspruch bestehen bleibe, „einen Zugang zum göttlichen Geheimnis selbst zu eröffnen“23. Pannenbergs Erwägungen finden ihren Anfang in einem Hinweis auf Paul Tillichs letzte Chicagoer Vorlesung „The Significance of the History of Religions for the Systematic Theologian“ von 1966.24 Tillich wies auf die Notwendigkeit hin, die christliche Theologie für die religionsgeschichtliche Frage neu zu öffnen. Nachdrücklich hebt Pannenberg hervor, daß sich hier das Erbe Ernst Troeltschs durchsetzten konnte, der sich „mit der letzten Wendung, die Tillichs Denken nahm, schließlich doch als derjenige erwiesen“ habe, „der die wahrhaft fundamentalen Fragen und Aufgaben der Theologie im 20. Jh. formuliert hat“. Tillichs Wendung zu Troeltsch 21
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Siehe Wolfhart Pannenberg: Erwägungen zu einer Theologie der Religionsgeschichte (wie Anm. 11), S. 275. Ebd., S. 281. Vgl. in diesem Zusammenhang die kritische Würdigung Pannenbergs bei Carl Heinz Ratschow: Die Religionen (wie Anm. 1), bes. S. 103–108, S. 116–118. Vgl. auch die Polemik von Gerhard Ludwig Müller: Erkenntnistheoretische Grundprobleme einer Theologie der Religionen, in: ders., Massimo Serretti (Hg.): Einzigkeit und Universalität Jesu Christi. Im Dialog mit den Religionen (Sammlung Horizonte, NF Band 35), Freiburg 2001, S. 17–48, hier S. 28: „Mit einer ins Positive gewendeten Projektionstheorie Feuerbachs meint man sich die von der Kritik zersetzten und vor den aufgeklärten Zeitgenossen als peinlich empfundenen Glaubensinhalte als Bilder und kulturbedingte Ausdrucksformen einer Erfahrung des Absoluten und Göttlichen wieder zugänglich machen zu können, wenn nur ein wörtliches und buchstäbliches Verständnis ausgeschlossen wird.“ Bei diesen Versuchen sei eine „Nähe zu Ernst Troeltsch“ erkennbar, „der gelegentlich schon als der Vater der Pluralistischen Religionstheologie genannt worden ist“. Wolfhart Pannenberg: Erwägungen zu einer Theologie der Religionsgeschichte (wie Anm. 11), S. 295. Paul Tillich: The Significance of the History of Religions for the Systematic Theologian, in: ders.: The Future of Religions, ed. by Jerald C. Brauer, New York 1966, S. 80–94.
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erhalte angesichts der dialektisch-theologischen Abwendung von eben diesem Konzept „den Sinn des eindringlichen Omens“25. Es sei gerade Troeltsch gewesen, der das Christentum umfassend in den Blick nahm und es „als Religion und Religionen“ verortete. Je länger es sich die Theologie heraus nehme, „auf einem kerygmatischen Ansatz, der keine Befragung des Kerygmas selbst auf seine Wahrheit mehr erlaubt“, zu beharren, „desto größer muß die Verwüstung sein, die sie beim Erwachen aus ihren kerygmatischen Träumen vorfinden wird“26. Tillich sei es darum gegangen, resümiert Pannenberg, eine religionsgeschichtliche Theologie zu entfalten, die – unter Verzicht auf dogmatische Vorgaben – die Phänomene prüfe, um dann die unterschiedlichen Religionen einem Strukturvergleich zu unterziehen. Nur hat Pannenberg erhebliche Zweifel daran, „wie auf diese Weise eine Theologie der Religionsgeschichte möglich sein soll, die nicht nur dem religiösen Verhalten der Menschen, sondern dem Erscheinen der göttlichen Wirklichkeit gewidmet ist, auf die jenes Verhalten sich richtet“27. Hinzu komme, daß Tillichs Andeutungen zur phänomenologischen Beschreibung und abstrahierende Typisierungen des Geschichtsverlaufs nicht substantiell dazu beitragen könnten, die spezifischen Eigenarten des Christentums im Vergleich mit anderen Religionen zu profilieren.28 Es wäre doch möglich, folgert Pannenberg programmatisch, „daß die religiöse Besonderheit des Christentums erst durch seine Funktion im Prozeß der Religionsgeschichte selbst in den Blick käme“29. Trotz Pannenbergs kritischer Reserve wird bis in die jüngste Zeit hinein Paul Tillich immer wieder als nahezu visionärer Impulsgeber für eine zu entfaltende „Religionstheologie“ angesehen.30 Das Christentum müsse akzeptieren, nur eine Religion unter anderen zu sein. Und es sei die Aufgabe der Theologie, die Lehrgehalte so zu artikulieren, daß ihre besondere Leistungskraft auf eine Art und Weise zum Ausdruck gebracht 25
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Wolfhart Pannenberg: Erwägungen zu einer Theologie der Religionsgeschichte (wie Anm. 11), S. 253. Ebd. Ebd., S. 256. Tillich verdankte wesentliche Einsichten zur Religionsphänomenologie seiner intensiven Zusammenarbeit mit Mircea Eliade. Wolfhart Pannenberg: Erwägungen zu einer Theologie der Religionsgeschichte (wie Anm. 11), S. 256. Zu den Anregungen Pannenbergs durch Tillich vgl. zeitgenössisch Peter Beyerhaus: Zur Theologie der Religionen im Protestantismus, in: Kerygma und Dogma 15 (1969), S. 87–104, bes. S. 95 f. Gegen Tillich und Pannenberg gerichtet
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werde, die sie als Heilsangebot erkennen lasse, dem sich der Einzelne anschließen könne oder auch nicht. Ein Denken in Absolutheitsdimensionen und Überlegenheitsansprüche seien überwunden und für einen von Toleranz bestimmten interreligiösen Dialog, der die Vorläufigkeit der individuellen Einsicht akzeptiere, unangemessen.31 Ein Kontrastmodell zu dieser Tillich-Deutung wird prominent von Papst Benedikt XVI. vertreten: Wer auf Absolutheitskategorien verzichte, verkenne das Christusmysterium und überlasse die Heilsbotschaft relativistischer Destruktion.
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fragt Beyerhaus, S. 96, im Bekenntnisduktus: „Ist die Eigentümlichkeit des biblischen Glaubens, die personale Gottesbeziehung in ihrer Bestimmung durch Vergebung und Kindschaft, hier nicht verflüchtigt zu einer abstrakten Philosophie der Geschichte?“ Zentraler Bezugspunkt bleibt die letzte Chicagoer Vorlesung (Paul Tillich: The Significance of the History of Religions for the Systematic Theologian [wie Anm. 24]). In ihr zeichnen sich die Grundlinien einer Revision bisheriger Systematisierung ab, die um den Gedanken einer „Religion des konkreten Geistes“ kreisen. Schon für Carl Heinz Ratschow, der seinerseits die religionstheologische Fragestellung seines Vorbilds Tillich weiterführen wollte, wird hier „deutlich, daß Tillich durch die nähere Bekanntschaft mit der Religionsgeschichte vor neuen Aufbrüchen stand, daß er seine bisherigen Konzeptionen ad acta legte und die Notwendigkeit neuer Überlegungen sah“ (Carl Heinz Ratschow: Einführung: Paul Tillich, Ein biographisches Bild seiner Gedanken, in: TillichAuswahl, Band 1, hrsg. von Manfred Baumotte, Gütersloh 1980, S. 11–104, hier S. 104). Tillich erkannte, wie sein ehemaliger Assistent und damaliger Dean der Divinity School Jerald C. Brauer betonte „the possibility of a new type of systematic theology in which an interpretation of Christian theology would be developed in a dialogue with the insights of the other religions or in relation to a ‚different fragmentary manifestation of theonomy‘“ (Jerald C. Brauer: Editor’s Preface, in: Paul Tillich: The Future of Religions [wie Anm. 24], S. 7–11, hier S. 7). Vgl. zudem den ausführlichen Bericht von Tillichs Dialogpartner Mircea Eliade: Paul Tillich and the History of Religions, in: ebd., S. 31–36. Vgl. auch Dirk Chr. Siedler: Paul Tillichs Beiträge zu einer Theologie der Religionen. Eine Untersuchung seines religionsphilosophischen, religionswissenschaftlichen und theologischen Beitrages, Münster u. a. 1999. Siedler läßt seine Studie auf die These zulaufen, Tillich habe eine „pneumatologische Religionstheologie“ (S. 265) vertreten. Vgl. zudem Robison B. James: Tillich and World Religions. Encountering Other Faiths Today, Macon, Ga. 2003. Zum Beitrag Tillichs für eine Religionstheologie vgl. jüngst Christian Danz, Werner Schüßler und Erdmann Sturm (Hg.): Religionstheologie und interreligiöser Dialog (Internationales Jahrbuch für die Tillich-Forschung, Band 5), Münster u. a. 2010.
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2. Religionstheologie als Ausdruck des Relativismus? Am 12. September 2006 kam Papst Benedikt XVI. in seiner Regensburger Vorlesung zum Thema „Glaube, Vernunft und Universität“ auch auf den Status von Ethik und Moral zu sprechen.32 Tragend ist dabei die Grundthese, daß es – massiv befördert durch die Reformation und die Liberale Theologie des 19. und 20. Jahrhunderts, als deren zentrale Gestalt Adolf von Harnack präsentiert wird – zu einer „Enthellenisierung“ des Christentums gekommen sei, die Logos, das heißt Vernunft, und Glaube aus ihrer produktiven inneren Einheit herausgelöst habe, so daß die positivistische Vernunft, die jeden Glauben zurückweise und „dem Göttlichen gegenüber taub“ sei, Triumphe feiere. Wer jedoch, so der Papst, die „Religion in den Bereich der Subkulturen abdrängt, ist unfähig zum Dialog der Kulturen“33. Werde die Theologie von einem positivistischen Vernunftbegriff aus wissenschaftlich beurteilt, bleibe nur noch „ein armseliges Fragmentstück“ übrig. Dann komme es aber zwangsläufig auch zu einer Verkürzung des Menschen, die für ihn entscheidenden Fragen nach Religion und Ethos verlören ihren Rang und erhielten den Charakter des bloß Subjektiven. Auf diese Weise werde das Gewissen „zur letztlich einzig ethischen Instanz“34, die gemeinschaftsbildende Kraft von Ethos und Religion gehe verloren, verfalle der Beliebigkeit – ein für die Menschheit gefährlicher Zustand, wie „an den uns bedrohenden Pathologien der Religion und der Vernunft, die notwendig ausbrechen müssen, wo die Vernunft so verengt wird, dass ihr die Fragen der Religion und des Ethos nicht mehr zugehören“35, wahrgenommen werden könne. Benedikts Regensburger Rede wurde aufgrund ihrer islamkritischen Passagen als skandalträchtig aufgefaßt. Hinter den weltweiten – wenngleich vielfach inszenierten – Empörungswellen, die der Vortrag durch den als Zitat verpackten Hinweis auf den Zusammenhang von Krieg, Gewalt und Islam ausgelöst hat, ist im öffentlichen Bewußtsein die scharfe Kritik des Papstes an den vermeintlich Bindungslosigkeit und Moralverlust befördernden Individualisierungstendenzen des Pro-
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Benedikt XVI.: Glaube und Vernunft. Die Regensburger Vorlesung, vollständige Ausgabe kommentiert von Gesine Schwan, Adel Theodor Khoury und Karl Kardinal Lehmann, Freiburg, Basel, Wien 2006. Ebd., S. 30. Ebd., S. 27. Ebd., S. 27 f.
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testantismus nur sehr eingeschränkt zur Kenntnis genommen worden, obgleich auch sie eine Provokation eigener Qualität darstellt.36 Mit der 1999 in Augsburg von Vatikan und Lutherischem Weltbund nach langen Kämpfen und prominentem Widerstand unterzeichneten „Gemeinsamen Offiziellen Feststellung“ zur „Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre“ war im ökumenischen Dialog eine Euphorie ausgebrochen – alles schien nun möglich, weil endlich darin Einigkeit zu bestehen schien, daß der Glaube allein, ohne Unterstützung durch gute Werke, den Menschen vor Gott gerecht werden lassen.37 Doch ein Jahr später unterzeichnete Joseph Kardinal Ratzinger das Dokument „Dominus Iesus“, in dem den Protestanten aus Rom attestiert wurde, keine Kirche im eigentlichen Sinn zu sein, sondern lediglich eine „kirchliche Gemeinschaft“. Seither hat der Ökumeneprozeß seinen Schwung verloren, und das Bemühen Papst Benedikts XVI. um eine Wiederherstellung der vollen und sichtbaren Einheit der Kirche erweckt den Anschein, den Erfolg an die einseitige Erfüllung der römisch-katholischen Vorgaben zu koppeln. Dieser Eindruck verstärkte sich zuletzt durch den vom 29. Juni 2007 datierenden Text der Glaubenskongregation „Antworten auf Fragen zu einigen Aspekten bezüglich der Lehre über die Kirche“. Auch hier wurde der Status der protestantischen Kirchen auf einer Linie mit „Dominus Iesus“ erneut festgeschrieben: „Nach katholischer Lehre kann man mit Recht sagen, dass in den Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften, die noch nicht in voller Gemeinschaft mit der katholischen Kirche stehen, kraft der in ihnen vorhandenen Elemente der Heiligung und der Wahrheit die Kirche Christi gegenwärtig und wirksam ist. Das Wort 36
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Vgl. die versammelten Reaktionen in: Knut Wenzel (Hg.): Die Religion und die Vernunft. Die Debatte um die Regensburger Vorlesung des Papstes, Freiburg u. a. 2007. Zur Protestantismuskritik Benedikts XVI. vgl. Friedrich Wilhelm Graf: Eine Wissenschaft, die sich für das Ganze zuständig weiß. Das besondere Nikolausgeschenk: An diesem Mittwoch erscheint die autorisierte und kommentierte Fassung der Regensburger Vorlesung des Papstes, in: Süddeutsche Zeitung, 6. Dezember 2006, S. 16; vgl. jetzt auch Roderich Barth: Systematische Lutherdeutung in der liberalen Theologie, in: Journal for the History of Modern Theology/Zeitschrift für Neuere Theologiegeschichte 16 (2009), S. 58–74, bes. S. 71 f. Vgl. dazu jetzt: Die Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre. Dokumentation des Entstehungs- und Rezeptionsprozesses, hrsg. von Friedrich Hauschildt gemeinsam mit Udo Hahn und Andreas Siemens in Beratung mit dem Lutherischen Weltbund und dem Päpstlichen Rat zu Förderung der Einheit der Christen, Göttingen 2009.
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‚subsistiert‘ wird hingegen nur der katholischen Kirche allein zugeschrieben, denn es bezieht sich auf das Merkmal der Einheit, das wir in den Glaubensbekenntnissen bekennen (Ich glaube . . . die ‚eine‘ Kirche); und diese ‚eine‘ Kirche subsistiert in der katholischen Kirche.“38 Die evangelische Seite, allen voran der damalige Ratsvorsitzende der EKD Wolfgang Huber, gab sich brüskiert.39 Zu den profiliertesten Reaktionen auf die neuen Debatten zum römisch-katholischen Kirchenbegriff gehört ein Essay Eberhard Jüngels, der 2007 anläßlich des Reformationstages unter der Überschrift „Der Glaube an die Einheit der Kirche“ in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ erschien.40 Die Pointe dieses Textes ist darin zu erkennen, daß Jüngel mit Hilfe des Gottesbegriffs und der Trinitätslehre den Status der ‚real existierenden Kirchen‘ bestimmt. Aus der Einmaligkeit und Einzigkeit Gottes könne gefolgert werden, daß „auch die an ihn glaubende Gemeinschaft der Glaubenden, [. . .] auch die christliche Kirche einmal und nicht wieder“ existiere. „Sie ist einzig. Jede christliche Gemeinschaft der Glaubenden muss deshalb 38
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Kongregation für die Glaubenslehre: Erklärung Dominus Iesus über die Einzigkeit und die Heilsuniversalität Jesu Christi und der Kirche. Antworten auf Fragen zu einigen Aspekten bezüglich der Lehre über die Kirche. 2000/2007 (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls, Nummer 148), hrsg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, 4. erweiterte Aufl., Bonn 2008, S. 51 f. – Zur Debatte um „Dominus Iesus“ vgl. die Textsammlung: Michael J. Rainer (Hg.): „Dominus Iesus“. Anstößige Wahrheit oder anstößige Kirche? Dokumente, Hintergründe, Standpunkte und Folgerungen, Münster u. a. 2001. Vgl. Evangelische Kirche empört über den Vatikan. Glaubenskongregation betont Einzigartigkeit der katholischen Kirche, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.7.2007, S. 4. Eberhard Jüngel: Der Glaube an die Einheit der Kirche, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 31.10.2007, S. 11; zusammen mit anderen Stellungnahmen zum Text der Kongregation für die Glaubenslehre auch in: Jan-Heiner Tück (Hg.): Römisches Monopol? Der Streit um die Einheit der Kirche, Freiburg u. a. 2008, S. 67–74. Vgl. etwa auch ebd., S. 75–80: Gunther Wenz: Kirche im eigentlichen Sinn. Eine Stellungnahme aus evangelischer Sicht. Wenz weist vor allem den römisch-katholischen Anspruch, über eine ununterbrochene Sukzessionskette zu verfügen, die auf einen kirchlichen Alleinvertretungsanspruch hinauslaufe, zurück: „Nicht auf historische Fiktionen, sondern auf die zeichenhaft wirksame Berufung zum Dienst der öffentlichen Verkündigung des apostolischen Evangeliums in Wort und Sakrament“ komme es an, und darauf, „dass das kirchliche Amt in allen seinen Gestalten durch den Gehalt des Evangeliums begründet und begrenzt ist“ (ebd., S. 79).
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für sich den Anspruch erheben, dass die im Glaubensbekenntnis bejahte una sancta catholica et apostolica ecclesia sich in ihr konkret verwirklicht (subsistiert), so dass die geglaubte Kirche ‚ihre konkrete Existenzform‘ in der jeweiligen – sei es orthodoxen, sei es römisch-katholischen, sei es evangelischen – Kirche hat.“41 Bereits in der Alten Kirche habe deutlich werden können, daß Gott als Vater, Sohn und Heiliger Geist vom Begriff des alius her zu verstehen sei, und zwar als aufeinander bezogenes Anderssein: das göttliche Wesen alteriere nicht, werde also nicht zu einem aliud. Diese Auffassung sei auf den Kirchenbegriff zu übertragen, denn: „Dann und nur dann ist die Analogie zwischen der trinitarischen Subsistenz des einen göttlichen Wesens im Vater, im Sohn und im Heiligen Geist und der Subsistenz der einen Kirche Jesu Christi in unterschiedlichen Konfessionskirchen in dem Sinne hilfreich, dass man legitimer Weise von einer ‚Wesensgemeinschaft gegenseitigen Andersseins‘ reden könnte und eine gegenseitige Exkommunikation nicht mehr möglich wäre.“42 Die Kirche könne niemals vom Gedanken einer Uniformität geleitet werden, und es sei ihre höchste Aufgabe, sich vom Hören auf das Wort Christi bestimmen zu lassen, nur so bleibe sie menschlich. Jüngel greift gezielt die Erklärung „Dominus Iesus“ auf und unterstreicht damit den Rang dieses Textes. Erarbeitet von der Glaubenskongregation bildet er in seiner Summe den vielschichtigen Versuch, die Universalität der römisch-katholischen Kirche zu postulieren und ihre lehrbegriffliche Verfaßtheit als politisch-theologischen Anspruch gegenüber dem Phänomen ‚Globalisierung‘ normativ ins Spiel zu bringen. Dabei steht neben der Problematik des Verhältnisses zwischen Katholizismus und anderen christlichen Konfessionen vor allem die Wahrheitsfrage innerhalb des interreligiösen Dialogs im Mittelpunkt. Um den Stellenwert der Erklärung „Dominus Iesus“ als paradigmatischen Text für eine ganz bestimmte Form der Religionstheologie bestimmen zu können, ist es sinnvoll, die maßgeblichen drei Haupttypen einer „Theologie der Religionen“ zu differenzieren, die sich in den letzten 50 Jahren ausgeprägt haben.43 41 42 43
Eberhard Jüngel: Der Glaube an die Einheit der Kirche (wie Anm. 40), S. 70. Ebd., S. 71 f. Es existiert eine ganze Reihe von Überblickswerken zur Religionstheologie, die auch immer wieder zur den unterschiedlichen, vielfach differenzierten Typisierungen Stellung nehmen und sie in aller Breite darlegen; vgl. v. a. Andreas Grünschloß: Der eigene und der fremde Glaube. Studien zur interreligiösen Fremdwahrnehmung in Islam, Hinduismus, Buddhismus und Christentum (Herme-
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I. Dem Exklusivismus zufolge ist eine Religion wahr und führt zum Heil. In Jesus Christus hat sich der eine Gott in einer Weise offenbart, deren Einzigartigkeit alle anderen Religionen überbietet. Im Protestantismus findet sich dieser Typ besonders in evangelikaler Form, gerade nordamerikanischer Prägung, und in den verschiedenen Missionstheologien. Aber auch Karl Barth läßt sich mit Blick auf seine Christologie und die Betonung von Universalismus und Objektivität der Gnade als Vertreter identifizieren, wenngleich hier genau auf die ganz eigene Kontrastierung von auf die Offenbarung verwiesenem christlichem Glauben und Religion zu achten ist.44 II. Vertreter des Inklusivismus oder auch Superiorismus postulieren, daß mehrere Religionen existieren, die wahr sind, aber nur eine Religion, die sich als allen anderen überlegen weiß. In Folge des Zweiten Vatikanums ist dieser Typ in der lehramtlich sanktionierten römisch-katholischen Religionstheologie verbreitet. So wird etwa in „Dialog und Verkündigung“ von 1991 die geheimnisvolle, auf die Kirche verwiesene Partizipation an der Erlösung Christi unterstrichen: „Konkret heißt das: die Anhänger
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neutische Untersuchungen zur Theologie, Band 37), Tübingen 1999, bes. S. 16– 43; Michael Hüttenhoff: Der religiöse Pluralismus als Orientierungsproblem (wie Anm. 1), bes. S. 29 ff.; Ekkehard Wohlleben: Die Kirchen und die Religionen. Perspektiven einer ökumenischen Religionstheologie, Göttingen 2004; Christian Danz, Ulrich H. J. Körtner (Hg.): Theologie der Religionen. Positionen und Perspektiven evangelischer Theologie, Neukirchen-Vluyn 2005 (bes. die Einführung der Herausgeber: „Evangelische Positionen und Perspektiven einer Theologie der Religionen“, S. 1–12); Christian Danz: Die Deutung der Religion in der Kultur. Aufgaben und Probleme der Theologie im Zeitalter des religiösen Pluralismus, Neukirchen-Vluyn 2008, v. a. S. 41–70; und besonders Reinhold Bernhardt: Literaturbericht „Theologie der Religionen“ (I. und II.), in: Theologische Rundschau 72 (2007), S. 1–35 und S. 127–149. Zur Versachlichung der umkämpften religionstheologischen Frage trägt die von Reinhold Bernhardt herausgegebene Reihe „Beiträge zu einer Theologie der Religionen“ bei, die konsequent die aktuellen Entwicklungen begleitet; vgl. von den zuletzt erschienenen nur als Band 5: Reinhold Bernhardt, Perry Schmidt-Leukel (Hg.): Multiple religiöse Identität. Aus verschiedenen religiösen Traditionen schöpfen, Zürich 2008; als Band 7: Reinhold Bernhardt, Klaus von Stosch (Hg.): Komparative Theologie. Interreligiöse Vergleiche als Weg der Religionstheologie, Zürich 2009. Dies hält etwa auch Joseph Ratzinger (Benedikt XVI.): Glaube – Wahrheit – Toleranz. Das Christentum und die Weltreligionen (2003), 4. Aufl., Freiburg u. a. 2005, S. 66 f., nachdrücklich fest.
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anderer Religionen antworten immer dann positiv auf Gottes Einladung und empfangen sein Heil in Jesus Christus, wenn sie in ehrlicher Weise das in ihren religiösen Traditionen enthaltene Gute in die Tat umsetzen und dem Spruch ihres Gewissens folgen.“45 Mit Bezug auf Schleiermacher und den frühen Troeltsch präsentiert Reinhold Bernhardt, um eine repräsentative Spielart zu nennen, ein „Modell hierarchischer Superiorität“, das von der Überlegenheit einer Religion ausgeht, die Geltung aber der anderen Religionen nicht an die Teilhabe an der höchsten Religion gebunden sehen will.46 Seinerseits tritt Bernhardt für das Modell eines „mutualen Inklusivismus“ ein, mit dem er exklusivistische und pluralistische Ansätze vermitteln will.47 III. Als dritter Haupttyp kann das pluralistische Modell gelten: Hier gibt es eine Vielfalt wahrer Religionen, Wege zum Heil, die gleichberechtigt nebeneinander existieren.48 Eine radikale Form läßt sich von einer gemäßigten abheben, deren Verfechter zwar mehrere, aber nicht alle 45
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Päpstlicher Rat für den Interreligiösen Dialog. Kongregation für die Evangelisierung der Völker: Dialog und Verkündigung. Überlegungen und Orientierungen zum Interreligiösen Dialog und zur Verkündigung des Evangeliums Jesu Christi. 19. Mai 1991 (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls, Nummer 102), Bonn 1991, Nummer 29, S. 17. Reinhold Bernhardt: Der Absolutheitsanspruch des Christentums. Von der Aufklärung bis zur Pluralistischen Religionstheologie, 2. durchges. und ergänzte Aufl., Gütersloh 1993, bes. S. 71 ff. Vgl. dazu die kritische Analyse von Christian Danz: Wahrnehmung von Religionen aus theologischer Perspektive. Zur Grundlegung einer protestantischen Theologie der Religionen, in: Kerygma und Dogma 51 (2005), S. 100–125; dort S. 115–117. Dieses Schema zum ersten Mal bei John Hick: On Conflicting Religious Truth Claims, in: Religious Studies 19 (1983), S. 485–491; sowie Alan Race: Christian and Religious Pluralism. Patterns in the Christian Theology of Religions, London 1983. Zur Kritik vgl. v. a. Gavin D’Costa: The Impossibility of a Pluralist View of Religions, in: Religious Studies 32 (1996), S. 223–232. Zur Diskussion der Einwände vgl. Perry Schmidt-Leukel: Gott ohne Grenzen. Eine christliche und pluralistische Theologie der Religionen, Gütersloh 2005, S. 75–87; ders. grundlegend zuvor: Theologie der Religionen. Probleme, Optionen, Argumente (Beiträge zur Fundamentaltheologie und Religionsphilosophie, Band 1), Neuried 1997. – Vgl. auch die kritische Würdigung Hicks durch John Clayton: Liberalität und Liberalismus. Ein britisches Beispiel, in: Friedrich Wilhelm Graf (Hg.): Liberale Theologe. Eine Ortsbestimmung (Troeltsch-Studien, Band 7), Gütersloh 1993, S. 65–82.
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Religionen als gleichberechtigt beurteilen. Als Exponenten lassen sich etwa Raimundo Panikkar (Der neue religiöse Weg. Im Dialog der Religionen leben, 1990), John Hick (God Has Many Names, 1980 und 1982; An Interpretation of Religion. Human Responses to the Transcendent, 1991)49 und Paul F. Knitter (No Other Name?, 1995) anführen.50 Auch Perry Schmidt-Leukel drängt mit seinem Wunsch nach einer „Welt-Theologie“, die sich „in einem weltweiten Kolloquium der Religionen“ zu vollziehen habe, und dem Entwurf einer von den „Tugenden“ Zuversicht, Demut, Neugier, Freundschaft, Ehrlichkeit, Mut und Dankbarkeit getragenen „interreligiösen Spiritualität“ in den Vordergrund.51 49
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Dt.: Religion: Die menschlichen Antworten auf die Frage nach Leben und Tod, München 1996; Gott und seine vielen Namen, hrsg. im Auftrag von Reinhard Kirste im Auftrag der Interreligiösen Arbeitsstelle. Aus dem Englischen von Ilke Ettemeyer und Perry Schmidt-Leukel, Frankfurt a. M. 2001. Vgl. den einschlägigen von Hick und Knitter herausgegebenen Sammelband mit Aufsätzen von Gordon D. Kaufman, Raimundo Panikkar u. a.: The Myth of Christian Uniqueness. Toward a Pluralistic Theology of Religions (Faith Meets Faith Series), Maryknoll, NY 1987. Zu Paul F. Knitter vgl. zunächst die von Carl Heinz Ratschow betreute Dissertation: Towards a Protestant Theology of Religions: A Case Study of Paul Althaus and Contemporary Attitudes, Marburg 1974; zusammenfassend: Introducing Theologies of Religions, Maryknoll, NY 2002; vgl. weiter aus der Fülle der Veröffentlichungen: ders.: Horizonte der Befreiung. Auf dem Weg zu einer pluralistischen Theologie der Religionen, Frankfurt a. M., Paderborn 1997. Siehe dort zum Relativismusvorwurf etwa S. 236: „Obwohl eine pluralistische Theologie nicht darauf besteht, Jesus Christus sei absolut und endgültig, hält sie – entgegen einem verbreiteten Mißverständnis – daran fest, daß Jesus universal und entscheidend ist. Pluralisten sagen also nicht, Jesus ist Retter ‚nur für uns‘ oder ‚nur für Christen oder Abendländer‘, auch behaupten sie nicht, Buddah sei ebenso gut oder das Gleiche wie Jesus. Solch relativistisches Gefasel wäre in der Tat das Totengeläut sowohl persönlicher und religiöser Verbindlichkeit als auch des interreligiösen Dialogs.“ Vgl. hierzu v. a.: Raymund Schwager (Hg.), Christus allein? Der Streit um die pluralistische Religionstheologie (Quaestiones Disputatae, Band 160), Freiburg u. a. 1996; oder: Gerhard Ludwig Müller, Massimo Serretti (Hg.): Einzigkeit und Universalität Jesu Christi (wie Anm. 22); zusammenfassend Hans-Gerd Schwandt (Hg.): Pluralistische Theologie der Religionen. Eine kritische Sichtung, Frankfurt a. M. 1998. Siehe Perry Schmidt-Leukel: Gott ohne Grenzen (wie Anm. 48), S. 486–496. Vgl. damit auch Hans-Martin Barths Rede von einer zu entwerfenden „interreligiös sensiblen christlichen Dogmatik“ (Hans-Martin Barth: Dogmatik. Evan-
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Aus der Fülle alternativer Vorschläge, die über das inzwischen klassische Dreierschema hinausgehen, seien zwei hervorgehoben: Stets aufs Neue wird der Versuch unternommen, die als zu statisch wahrgenommene Trias durch einen vergleichenden Ansatz aufzuweichen. Eine komparative Theologie propagiert James L. Fredericks entsprechend; sie sei der Prozeß einer auf konkret umrissene Felder bezogenen Abwägungspraxis.52 Es handele sich dabei nicht um die herkömmliche vergleichende Religionswissenschaft, sondern, so der Harvarder Theologe und Religionswissenschaftler Francis X. Clooney, um eine vom Christentum ausgehende „constructive theology from and after comparison“53. Ekkehard Wohlleben weist die Entwicklungstendenz, die er im etablierten Dreierschema ausmacht, zurück und entfaltet ausgiebig ein trinitarisches Konsensmodell, das allen drei Formen gerecht werden will; denn „die Gegenüberstellung alternativer Zuordnungsmodelle“ habe sich als „Engführung“ erwiesen.54 Sein trinitarisches Modell könne nun als ein hermeneutischer Ansatz aufgefaßt werden, in dem allen drei Typen unterschiedliche Ebenen zugewiesen werden; dem Exklusivismus die existenzielle des Bekenntnisses und Gebetes. Der Inklusivismus nehme andere Religionen aus christlicher Perspektive in den Blick, „indem er sie auf das universale Handeln des dreieinigen Gottes zurückbezieht“; und der Pluralismus lasse „die unauflösbare Fremdheit der anderen Religionen gelten“55. Wie verhält es sich nun vor dem Hintergrund dieses Modellpanoramas mit der Erklärung „Dominus Iesus“? Die Grundthese des Textes lautet: „Die universale Sendung der Kirche entspringt dem Auftrag Jesu
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gelischer Glaube im Kontext der Weltreligionen. Ein Lehrbuch, 3., aktualisierte und ergänzte Aufl., Gütersloh 2008, S. 39 u. ö.). Vgl. James L. Fredericks: Faith Among Faiths. Christian Theology and NonChristian Religions, New York 1999, S. 8 f. Francis X. Clooney: Comparative Theology: A Review of Recent Books (1989– 1995), in: Theological Studies 56 (1995), S. 521–550, hier S. 522. Zur komparativen Theologie vgl. Perry Schmidt-Leukel: Gott ohne Grenzen (wie Anm. 48), S. 87–95; Klaus von Stosch: Komparative Theologie als Hauptaufgabe der Zukunft, in: Reinhold Bernhardt, Klaus von Stosch (Hg.): Komparative Theologie (wie Anm. 43), S. 15–33. Ekkehard Wohlleben: Die Kirchen und die Religionen (wie Anm. 43), S. 415. Ebd. „In dieser mehrdimensionalen Verhältnisbestimmung des Christentums zu den Religionen“, meint Wohlleben erkennen zu können, „spiegeln sich sowohl die Begrenztheit menschlicher Erkenntnis als auch die vielfache Bezogenheit des dreieinigen Gottes zu Welt und Menschheit wider“ (S. 416).
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Christi und verwirklicht sich durch die Jahrhunderte, indem das Mysterium Gottes, des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes, sowie das Mysterium der Menschwerdung des Sohnes als Heilsereignis für die ganze Menschheit verkündet wird.“56 Auf dieser Basis komme der Kirche ein Evangelisierungsauftrag zu. Mit dem Dokument „Nostra aetate“ des Zweiten Vatikanischen Konzils wird bekräftigt, daß auch in anderen Religionen ein „Strahl jener Wahrheit“ erkannt werden könne, „die alle Menschen erleuchtet“57. Gleichzeitig wird eine klare Angriffslinie den sogenannten relativistischen Theorien gegenüber gezogen, die die „immerwährende missionarische Verkündigung der Kirche“ dadurch elementar gefährden, daß sie „den religiösen Pluralismus nicht nur de facto, sondern auch de iure (oder prinzipiell) rechtfertigen wollen“. Dies führe nun dazu, daß zentrale Glaubenswahrheiten „als überholt betrachtet“ würden, zum Beispiel „der endgültige und vollständige Charakter der Offenbarung Jesu Christi“, „die Natur des christlichen Glaubens im Verhältnis zu der inneren Überzeugung in den anderen Religionen“, aber auch „die Subsistenz der einen Kirche Christi in der katholischen Kirche“58. Der Relativismus werde verstärkt durch „die metaphysische Entleerung des Ereignisses der Menschwerdung des ewigen Logos in der Zeit, die zu einer bloßen Erscheinung Gottes in der Geschichte verkürzt wird“, und einen „Eklektizismus jener, die in der theologischen Forschung Ideen übernehmen, die aus unterschiedlichen philosophischen und religiösen Strömungen stammen, ohne sich um deren Logik und systematischen Zusammenhang sowie deren Vereinbarkeit mit der christlichen Wahrheit zu kümmern; schließlich die Tendenz, die Heilige Schrift ohne Rücksicht auf die Überlieferung und das kirchliche Lehr56 57 58
Dominus Iesus (wie Anm. 38), 1. Dominus Iesus (wie Anm. 38), 2 (unter Aufnahme von Nostra aetate, 2). Dominus Iesus (wie Anm. 38), 4. Vgl. dazu auch mit Bezug auf das Dreierschema von Exklusivismus, Inklusivismus und Pluralismus: Joseph Ratzinger: Glaube – Wahrheit – Toleranz (wie Anm. 44), S. 16. „Immer werden die Religionen als letztlich gleich gültige Masse behandelt, immer unter dem Gesichtspunkt der Heilsmöglichkeit betrachtet.“ Es könne, betont Benedikt XVI., nicht angehen, den Unterschied der einzelnen Religionen angesichts der Heilsfrage „als letztlich irrelevant“ einzustufen. Demgegenüber sei zunächst die Vielfalt der Religionen aufzufächern und phänomenologisch zu beschreiben, um die jeweilige geschichtliche Prägung zu bestimmen und die spirituelle Struktur zu ergründen. Der pluralistische Ansatz breche, stellt der Papst unter Verweis auf Perry Schmidt-Leukel fest, „mit dem Glauben, daß allein von Christus das Heil kommt und daß zu Christus seine Kirche gehört“ (S. 43).
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amt zu lesen und zu erklären“59. So entstehe eine Dynamik, die darauf hinauslaufe, daß „die christliche Offenbarung und das Mysterium Jesu Christi und der Kirche ihren Charakter als absolute und universale Heilswahrheit verlieren oder wenigstens mit einem Schatten des Zweifels und der Unsicherheit behaftet werden“. Es liege also eine „relativistische Mentalität“60 vor, die sich immer mehr ausbreite. Ihr müsse mit der Einsicht begegnet werden, daß die Offenbarung Jesu Christi nicht begrenzt, unvollständig, unvollkommen und komplementär zu jener in den anderen Religionen sei. „Mit Festigkeit“ müsse auf „der Unterscheidung zwischen dem theologalen Glauben und der inneren Überzeugung in den anderen Religionen“ beharrt werden. Der „theologale Glaube“, „die Annahme der durch den einen und dreifaltigen Gott geoffenbarten Wahrheit“, könne keinesfalls gleichgesetzt werden „mit der inneren Überzeugung in den anderen Religionen, mit religiöser Erfahrung also, die noch auf der Suche nach der absoluten Wahrheit ist und der die Zustimmung zum sich offenbarenden Gott fehlt“61. Keinesfalls könne es akzeptiert werden, wird in „Dominus Iesus“ ausgeführt, daß die „Einzigkeit und die Heilsuniversalität des Mysteriums Jesu Christi geleugnet“62 werde. Dieses Mysterium hat nun einschneidende Konsequenzen für den Charakter der katholischen Kirche. Unter interpretierender Aufnahme von „Lumen gentium“, der Formulierung, daß die Kirche Christi sich in der katholischen Kirche verwirkliche (subsistit in), wird in „Dominus Iesus“ herausgestellt, daß in der Konstitution des Zweiten Vatikanums „zwei Lehrsätze miteinander in Einklang“ gebracht worden seien: „auf der einen Seite, dass die Kirche Christi trotz der Spaltungen der Christen voll nur in der katholischen Kirche weiterbesteht, und auf der anderen Seite, ‚dass außerhalb ihres sichtbaren Gefüges vielfältige Elemente der Heiligung und der Wahrheit zu finden sind‘, nämlich in den Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften, die nicht in voller Gemeinschaft mit der katholischen Kirche stehen.“63 Als Quintessenz tritt hervor, daß es „also eine einzige Kirche Christi“ gebe, „die in der 59
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Dominus Iesus (wie Anm. 38), 4. Vgl. als kritische Stimme u. a. Wolfhart Pannenberg: Die Einzigkeit Jesu Christi und die Einheit der Kirche. Anmerkungen zu der Erklärung der vatikanischen Glaubenskongregation „Dominus Iesus“, in: Kerygma und Dogma 47 (2001), S. 203–209, hier S. 207 f. Dominus Iesus (wie Anm. 38), 5. Dominus Iesus (wie Anm. 38), 7. Dominus Iesus (wie Anm. 38), 13. Dominus Iesus (wie Anm. 38), 16. Unter Aufnahme von: Lumen gentium, 8.
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katholischen Kirche subsistiert und vom Nachfolger Petri und von den Bischöfen in Gemeinschaft mit ihm geleitet wird.“64 Im Jahr 2002 verschärften sich die innerkatholischen Auseinandersetzungen um die Interpretation des subsistit in, als Alexandra von Teuffenbach in ihrer bei Karl Josef Becker an der Päpstlichen Universität Gregoriana in Rom entstandenen Dissertation zur Bedeutung dieser Formulierung aus Lumen gentium 8 massiv den römisch-katholischen Exklusivitätsanspruch unterstrich.65 Sie löste damit eine kontroverse Debatte aus, die letztlich als eine wesentliche Ursache für das Papier der Glaubenskongregation von 2007 zum Kirchenverständnis angesehen werden kann.66 Immer wieder stellt Joseph Ratzinger die Pluralismusfrage ins Zentrum seiner Äußerungen und entwickelt die Grundlinien der Erklärung „Dominus Iesus“, die er als Präfekt der Glaubenskongregation maßgeblich verantwortete, weiter. Den „Exklusivismus in dem Sinn, daß allen Nichtchristen das Heil abgesprochen wird“, schließt er als ernstzunehmende Möglichkeit zunächst aus. Auch Karl Barth habe sich auf die Religion als Phänomen bezogen und nicht konkret auf die unterschiedlichen Religionen. Es bleibe nur die Gegenüberstellung von Inklusivismus und Pluralismus. Unter kritischer Aufnahme einer Formulierung von Karl Rahner beharrt Ratzinger darauf, daß das Christentum auf die „Anmaßung nicht verzichten“67 könne, das Heil der Welt auf Christus zu bezie64 65
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Dominus Iesus (wie Anm. 38), 17. Alexandra von Teuffenbach: Die Bedeutung des ‚subsistit in‘ in (LG 8). Zum Selbstverständnis der katholischen Kirchen, München 2002. Vgl. dazu nur Bernd Jochen Hilberath: Problematische Verengungen. Kritische Rückfragen an das römische Dokument, in: Jan-Heiner Tück (Hg.): Römisches Monopol? (wie Anm. 40), S. 33–48; sowie ders.: Einheit durch Vielfalt. Bedeutung und Grenze „pluralistischer Ekklesiologie“, in: ebd., S. 81–113; bes. S. 91– 95. Joseph Ratzinger, Glaube – Wahrheit – Toleranz (wie Anm. 44), S. 66. Vgl. zu Barth ebd., S. 41. In seinem Aufsatz „Das Christentum und die nichtchristlichen Religionen“, in dem der wirkmächtige Gedanke des ‚anonymen Christentums‘ auftauchte, hatte Rahner bereits 1961 in für das Zweite Vatikanum wegweisender Form die Frage eines interreligiösen Dialogprozesses neu artikuliert. Der auch von Ratzinger, Glaube – Wahrheit – Toleranz (wie Anm. 44), S. 15, zitierte Kernsatz lautet: „Es mag dem Nichtchristen anmaßend erscheinen, daß der Christ das Heile und geheiligt Geheilte in jedem Menschen als Frucht der Gnade seines Christus und als anonymes Christentum wertet und den Nichtchristen als einen noch nicht reflex zu sich gekommenen Christen betrachtet. Aber auf
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hen. Ratzinger stellt die These auf, daß allein der Inklusivismus dem Wesen des kulturell verfaßten Menschen entspreche. Alle Kulturen könnten „miteinander in Kommunion“ treten; ein radikaler Pluralismus hingegen leugne „die Einheit der Menschheit und [. . .] die Dynamik der Geschichte, die ein Prozeß der Vereinigungen ist“68. Demgegenüber sei es nun gerade der auf die Offenbarung verwiesene Glaube, der als Vorgang „prophetische[r] Aufklärung [. . .] die Götter beiseite schiebt, um das Gesicht Gottes zu finden“69. Unerbittlich dränge dieser Glaube auf die Wahrheitsfrage. Das große Ziel müsse es sein, eine „Begegnung in einer Einheit, die Pluralismus in Pluralität wandelt“70, zu erreichen. Den großen Gegner dieser Vorgabe erkennt Ratzinger in der pluralistischen Theologie der Religionen, die, wie von John Hick entfaltet, in Verbindung mit befreiungstheologischen Elementen „jetzt voll ins Zentrum des christlichen Bewußtseins gerückt“71 sei: „Letzten Endes bedeutet Religion für Hick, daß der Mensch von der ‚self-centredness‘ als der Existenz des alten Adam zur ‚reality-centredness‘ als der Existenzweise des neuen Menschen übergeht, also sich aus dem eigenen Ich heraus auf das Du des Nächsten hin ausstreckt. Das klingt schön, ist aber bei Licht betrachtet inhaltlich so nichtssagend und leer wie Bultmanns Ruf zur Eigentlichkeit, den er aus Heidegger geschöpft hatte. Dazu braucht man Religion nicht.“72 Es sei für Hick, aber auch Paul F. Knitter, charakteristisch, daß sie in den Bahnen Kants, der die Vernunft für unfähig erklärt habe, das
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diese ‚Anmaßung‘ kann der Christ nicht verzichten“ (Karl Rahner: Das Christentum und die nichtchristlichen Religionen [wie Anm. 13], S. 158). Joseph Ratzinger: Glaube – Wahrheit – Toleranz (wie Anm 44), S. 67. Ebd., S. 68. Ebd., S. 69. Ebd., S. 95. Zu John Hick vgl. Christian Heller: John Hicks Projekt einer religiösen Interpretation der Religionen. Darstellung und Analyse – Diskussion – Rezeption (Religion – Geschichte – Gesellschaft, Band 28), Münster u. a. 2001; Gerhard Gäde: Viele Religionen – ein Wort Gottes. Einspruch gegen John Hicks pluralistische Religionstheologie, Gütersloh 1998. Hick wird von Gäde als Vertreter einer „Relativierung der religiösen Wahrheitsansprüche“ identifiziert. Interreligiöser Dialog läge hier nur noch als „Informationsaustausch“ vor, der sich einer „Wahrheitsdiskussion“ entziehe. Das Ergebnis sei „eine totalitäre Toleranz“ (S. 186). Jesu Tod am Kreuz werde „auf eine moralische Vorbildfunktion“ reduziert und verlöre so seinen Status „als zentraler Ort im Heilsgeschehen“ (S. 282). Das Christentum werde zur „Selbstaufgabe“ (S. 283) gezwungen. Joseph Ratzinger: Glaube – Wahrheit – Toleranz (wie Anm. 44), S. 99 f. Vgl. auch Ratzingers Maßregelung des Jesuiten Jacques Dupuis, der auf der Basis
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Metaphysische zu erkennen, die Religion neu begründen wollten, und zwar in pragmatischer Weise „mit mehr ethischer oder mehr politischer Tönung“73. Joseph Ratzingers Überlegungen zur Religionstheologie haben sowohl eine interreligiöse als auch interkonfessionelle Stoßrichtung. Besondere Relevanz kommt dem Schlüsseltext „Dominus Iesus“ zu, der in seiner programmatischen Ausrichtung und Monumentalität weitaus wichtiger ist als die letztlich von ihm abhängenden Enzykliken „Deus caritas est“, „Spe salvi“ und „Caritas in veritate“. Die (Symbol-)Politik des Vatikans in Wort und Tat ist eine konsequente Durchführung des in „Dominus Iesus“ dokumentierten Konzepts – ob nun im Verhältnis zum Protestantismus, den Orthodoxen Kirchen oder zum Judentum und Islam. Ratzinger führt die alten kulturprotestantischen und liberal-theologischen Debatten weiter, die bereits Adolf von Harnack und Ernst Troeltsch ausgetragen hatten: sowohl hinsichtlich der Absolutheitsfrage des Christentums als auch im Hinblick auf die Relativität der Geschichte, der historischen Entwicklung. Mit seiner Betonung der absoluten Geltung des Heilsmysteriums Jesu Christi, für die nicht zuletzt die Präexistenzfrage von hohem Rang ist, stellt sich Ratzinger gezielt auf einen historische Kontingenzen durchbrechenden absoluten Standpunkt. „Dominus Iesus“ hat, gleichsam in Analogie zu den Auseinandersetzungen um den Zusammenhang von Glaube und Werken, den Charakter des Jakobusbriefes im Verhältnis zu den paulinischen Briefen: In der Erklärung wird eine Korrektur der eigenen katholischen Tradition vorgenommen. Ratzinger benennt und zitiert
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eines dialogisch ausgerichteten Inklusivismus argumentiert und über die Festlegungen des Zweiten Vatikanums hinaus eine christologische Zentrierung als zu einseitig ansieht, die nicht gleichberechtigte Wahrheitselemente in anderen Religionen anerkennt: Notifikation vom 24. Januar 2001 bezüglich des Buches von J. Dupuis „Toward a Christian Theology of Religious Pluralism“ (http://www.vatican.va/roman_curia/congregations/cfaith/documents/rc_ con_cfaith_doc_20010124_dupuis_ge.html; 11.01.2010). Siehe auch ders.: Christianity and the Religions. From Confrontation to Dialogue, Maryknoll, NY 2002. Vgl. dort, S. 263, die Selbstaussage zum „inclusive pluralism“: „while having nothing in common with the pluralistic paradigm of the ‚pluralist theologians,‘ [inclusive pluralism] would attempt to show how the Christian faith and doctrine can combine the faith-affirmation of the uniqueness of Jesus Christ as universal Savior and the theological understandig of a positive role and significance in the divine plan for humankind of the other religious traditions“. Joseph Ratzinger: Glaube – Wahrheit – Toleranz (wie Anm. 44), S. 102.
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ausführlich Dokumente des Zweiten Vatikanums zur interreligiösen Frage – wie insbesondere „Lumen gentium“, „Ad gentes“ oder „Nostra aetate“ –, interpretiert diese dann aber um. So ist „Dominus Iesus“ ein prägnantes Beispiel für den römisch-katholischen Umgang mit der Tradition: Durch die Quellen hindurch wird eine Richtungskorrektur eigener Qualität vollzogen. In religionstheologischer Perspektive wird deutlich, daß Ratzinger mit „Dominus Iesus“ eine Akzentverschiebung vollzogen hat: den Übergang vom Inklusivismus zum Exklusivismus. Nicht Teilhabe an vollkommener Religion dient als Ziel der Orientierung, sondern propagiert wird die Ausschließlichkeit des Heilsmysteriums Jesu Christi. Die zur kirchlichen Selbstfeier dienliche Revitalisierung der alten Tridentinischen Messe von 1570 und die Auseinandersetzungen um die Karfreitagsfürbitte zeigen, gerade auch in ihrer religionstheologischen Relevanz des Gegenübers von Judentum und Katholizismus, daß die Ergebnisse des Zweiten Vatikanischen Konzils einer scharfen Prüfung und Korrektur unterzogen werden. Es scheint hier darum zu gehen, einen festgefügten Traditionszusammenhang noch massiver zum Bollwerk in eskalierenden Heilskämpfen auszubauen. „Dominus Iesus“ ist ein religionstheologisches Paradigma für die Frage nach dem Verhältnis zwischen dem Christentum und anderen Religionen. Aber erkennbar wird gerade auch die religionstheologische Positionierung zwischen den christlichen Konfessionen. Somit ist Religionstheologie immer auch eine ökumenische und nicht nur interreligiöse Frage. Entsprechend muß „Dominus Iesus“ stets auch als eine Frage nach dem eigenen theologischen Standort begriffen werden. Gerade wer um die Überholbarkeit eigener Deutungsmuster und Einsichten weiß, wird die Notwendigkeit, sich gezielt zu positionieren, besonders scharf erkennen. Aus evangelischer Sicht läuft dies zwangsläufig auf einen deutlichen Widerspruch zu „Dominus Iesus“, insbesondere der Exklusivität des Kirchenbegriffs, hinaus. Statt einer Differenzhermeneutik kann hier eine Hermeneutik der Profile zum Tragen kommen, so daß erst das eigene Profil zu bestimmen wäre, um dann in einem zweiten Schritt zur Differenzbestimmung zu gelangen.74 Die Ergebnisse mögen 74
Die Idee einer Differenzhermeneutik wird in den Bahnen der Hinweise Tillichs konstruktiv vertreten von Christian Danz; vgl. nur ders.: Die Deutung der Religion in der Kultur (wie Anm. 43), S. 144–148; ders.: Theologie der Religionen als Differenzhermeneutik. Ihre religionstheoretischen und systematischen Voraussetzungen, in: ders., Ulrich H. J. Körtner (Hg.): Theologie der Religionen (wie Anm. 43), S. 77–103.
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sich im Wesentlichen entsprechen, aber die Schwerpunkte werden anders gesetzt, denn das „Profil“ ist zunächst an sich selbst interessiert.75 3. Religionstheologie als Reformprogramm 1973 präzisierte Wolfhart Pannenberg in seiner Verhältnisbestimmung von „Wissenschaftstheorie und Theologie“ auch die Gedanken zur Religionstheologie näher. „Die eigentliche Thematik der Religionen“, heißt es apodiktisch, „die in ihnen erfaßte Bekundung göttlicher Wirklichkeit, kann nur in einer Theologie der Religionen Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchung werden, nicht in einer bloßen Religionspsychologie, Religionssoziologie oder Religionsphänomenologie.“ Diese könnten nur als „Hilfsdisziplinen einer eigentlichen Religionswissenschaft“76 gelten. Eine Theologie der Religionen habe immer kritisch zu sein, weil es darum gehen müsse, die religiösen Lebensformen und Traditionen auf das ihnen eigene, spezifisch religiöse Thema zu untersuchen; dabei gehe es um die göttliche Wirklichkeit, die in Erscheinung trete und durch eine psychologische oder soziologische Perspektive nicht hinreichend zu erfassen sei. Notwendig gehöre zur einer Theologie der Religionen eine Religionsphilosophie, der die Aufgabe zukomme, einen allgemeinen Religionsbegriff zu entwickeln, in dessen Rahmen der Gedanke „Gottes als der alles bestimmenden Wirklichkeit“ einzuführen sei. Von der Religionspsychologie, -phänomenologie und -soziologie, die in der Mitte „zwischen Empirie und begrifflicher Systematik“ stünden, erhalte die Religionsphilosophie das religionskundliche Material in geordneter, vorbereiteter Form. Auf dem Wege religionsgeschichtlicher Theoriebildung werde der allgemeine, abstrakte Religionsbegriff, den die Religionsphilo75
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Ein ähnlicher Gedanke findet sich bei Jörg Lauster: Religion als Lebensdeutung. Theologische Hermeneutik heute, Darmstadt 2005, S. 186 f. Für eine ökumenische und eine interreligiöse Hermeneutik sei es entscheidend, sich vom romantischen „Empathie-Ideal“ zu verabschieden. Für erforderlich hält Lauster „eine fremdverstehende Konfessionskunde bzw. Religionskunde [. . .], die die Deutungsoptionen der anderen Konfession und Religion in dem ihr eigenen systematischen Zusammenhang beschreibt“. Nur durch die Distanznahme hindurch ist dann ein Verhältnis zum Anderen und Fremden möglich. Erst in einem dritten Schritt könne eine pluralitätsfähige Hermeneutik erreicht werden. Wolfhart Pannenberg: Wissenschaftstheorie und Theologie (wie Anm. 2), S. 368.
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sophie entwickle, „in die konkrete geschichtliche Wirklichkeit des religiösen Lebens“77 aufgehoben. Die Religionsgeschichte müsse das Ziel verfolgen, „Modelle des Entwicklungsprozesses der Einzelreligionen und schließlich auch der Weltgeschichte der Religion überhaupt zu entwerfen“, ohne allerdings „die Pluralität und Unabgeschlossenheit der Geschichte der Einzelreligionen [. . .] gewaltsam in ein Einheitsschema“ zu pressen. Auf diese Weise entstehe ein Bezugsrahmen, in den das Christentum einzuzeichnen sei. Wenn er seine Grundlinien einer Theologie der Religionen entfalte, orientiere er sich, gibt Pannenberg vor, an Friedrich Schleiermachers Begriff „philosophischer Theologie“, die „Grundlegung der gesamten Theologie“78 sein solle. Anders als Schleiermacher will Pannenberg nicht in der Ethik die Basis der Religionsphilosophie erkennen, sondern in der dieser zugrunde liegenden allgemeinen Anthropologie – und zwar im Sinne methodischer Priorität, nicht aber „der Sache nach“, wie Pannenberg später in seiner „Systematischen Theologie“ sichergestellt wissen will.79 Hinter den so unterschiedlichen Versuchen und Anläufen, die Komplexität einer Rede von „Theologie der Religionen“ zu fassen, steht weit jenseits gängiger Reduktionen, in denen die Religionstheologie vor allem als gehobene Form interreligiösen Dialogs verstanden wird, spezifisch systematisch die Grundsatzfrage nach dem Verhältnis von Theologie und Religion. Diese Perspektive hatte Falk Wagner im Blick, als er 1995 in seinem Aufsatz „Geht die Umformung des deutschen Protestantismus weiter?“ als große Leistung des Neuprotestantismus liberalen Zuschnitts die „Ersetzung der objektivistischen Dogmatik-Theologie durch eine Religionstheologie“ einstufte, „die die Individualität des christlichreligiösen Bewußtseins als Subjekt der Religion aufbaut“80. 77 78
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Ebd., S. 371. Ebd., S. 373. Vgl. bei Friedrich Schleiermacher: Kurze Darstellung des theologischen Studiums, 2. Aufl., Berlin 1830, §§ 32–68 (Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Kritische Gesamtausgabe, Band I/6, Berlin 1998). Wolfhart Pannenberg: Systematische Theologie (wie Anm. 20), S. 174 Anm. 120 (dort hervorgehoben). Falk Wagner: Geht die Umformung des deutschen Protestantismus weiter?, in: Journal for the History of Modern Theology/Zeitschrift für Neuere Theologiegeschichte 2 (1995), S. 225–254, hier S. 238. Vgl. ders.: Religion II. Theologiegeschichtlich und Systematisch-theologisch, in: Theologische Realenzyklopädie, Band XXVIII, Berlin, New York 1997, S. 522–545. – Vgl. dagegen das semantische Entlastungsmanöver von Reinhold Bernhardt: Ende des Dialogs?
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Darin, daß die Religion auf „die Kultur der Individuen“ zugeschnitten werde, komme „der positive Sinn der von der neuprotestantischen Religionstheologie durchgeführten Umformung des Christentums“ zum Ausdruck. In einer Gesellschaft, die sich als funktional differenziert und säkularisiert zeige, empfehle „sich die Religion als ein sozialer Ort, an dem die Interessen und Bedürfnisse der sich verselbständigenden Individualität des Menschen reflektiert und thematisiert werden können“81. In den neuprotestantischen Religionstheologien wird die „Individualität des Menschen“ zum „Definitionskriterium gelebter Religion“82 ernannt. Die Dominanz der „neuevangelische[n] Wort-Gottes-Theologie“ habe allerdings zum „Abbruch des Umformungsprozesses der neuprotestantischen Religionstheologien“ geführt. Die entstandenen Blockaden müßten beseitigt werden, um zu einem Neuansatz zu kommen, der jenseits des bloßen Rekurses auf biblisches Kerygma und kirchliches Dogma liege. Die „dogmatische Durchschnittsrechtgläubigkeit“ falle „schon deshalb steril und langweilig aus, weil sie außerhalb der geschlossenen Anstalten theologischer Fakultäten und kerngemeindlicher Milieus niemanden interessiert und nirgendwo sonst auf Resonanz stößt“83. Mit seiner Verzahnung von Religionstheologie, Kritik an der Geringschätzung „der Religionen“ im Gefolge Karl Barths und dem Verweis auf das das Individuum hochschätzende Konzept gelebter Religion entwirft Wagner einen eigenen reformorientierten religionstheologischen Ansatz, der die Leistungskraft sich liberal-theologischer Tradition verpflichteter Theo-
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Die Begegnung der Religionen und ihre theologische Reflexion (Beiträge zu einer Theologie der Religionen, Band 2), Zürich 2005, S. 167: „Religionstheologie ist von Religionstheorie zu unterscheiden. Es geht ihr nicht um die religionsphilosophische Erörterung des Religionsbegriffs als einer Abstraktionskategorie, sondern um die binnenchristlich systematisch-theologische Reflexion auf Wirklichkeit und Wahrheitsanspruch nichtchristlicher Religionen, aber auch umgekehrt: um die Reflexion des christlichen Wahrheits- und Heilsvermittlungsanspruchs im Lichte der Religionen, ihrer Offenbarungen und Traditionen.“ Falk Wagner: Geht die Umformung des deutschen Protestantismus weiter? (wie Anm. 80), S. 240. Ebd., S. 241. Zur „gelebten Religion“ vgl. ders.: Was ist Religion? (wie Anm. 4), bes. S. 478–492. Vgl. unter theologiegeschichtlicher Perspektive auch den innovativen Zugang von Markus Buntfuß: Die Erscheinungsform des Christentums. Zur ästhetischen Neugestaltung der Religionstheologie bei Herder, Wackenroder und De Wette, Berlin/New York 2004. Falk Wagner: Geht die Umformung des deutschen Protestantismus weiter? (wie Anm. 80), S. 248.
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riebildung betont.84 Somit ist erkennbar, daß die Frage nach dem Status der Religionstheologie weit über den interreligiösen Rahmen hinaus eine Grundsatzfrage des Theologie- und Religionsverständnisses ist, die mitten in die gegenwärtigen Selbstverständigungs- und Profilierungsdebatten hineinreicht. Die Theologie wird dabei von der pluralen Verfaßtheit des Religionsdiskurses nur profitieren, sie kann, wie es Jörg Dierken in einer Reflexion zur „‚Religion‘ als Thema Evangelischer Theologie“ prägnant herausgestellt hat, keinen Anspruch auf ein religionstheoretisches Monopol erheben, das verbietet sich schon allein aufgrund ihres „partikularen Zuschnitts“. Aber es muß ihr darum gehen, „die Erschließungskraft ihres von besonderer Warte aus gewonnenen Religionsverständnisses durch empirische Bewährung und Kritik zu erhärten oder zu modifizieren“85. Insofern ist die religionstheologische Fragestellung über einen bloßen Vergleich der Modelle hinaus immer auch eine Bewährungs- und Belastungsprobe für Argumentationskraft und Durchsetzungsfähigkeit des eigenen Systems.
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Vgl. v. a. auch Falk Wagner: Metamorphosen des modernen Protestantismus, Tübingen 1999. Hier wird die Religionstheologie in Reformperspektiven für die Evangelisch-theologischen Fakultäten und das Theologiestudium integriert (vgl. bes. S. 229 ff.). Es geht Wagner etwa um die „Umstellung der sowohl sachdominanten als auch text- und vergangenheitslastigen Theologentheologie auf eine die zeitlich-soziale Praxis der Religion berücksichtigende Religionstheologie“ (S. 237). Jörg Dierken: ‚Religion‘ als Thema Evangelischer Theologie. Zur religionstheoretischen Bedeutung einer konfessionellen Disziplin, in: Neue Zeitschrift für Systematische Theologie 43 (2001), S. 253–264, hier S. 261.
The Uses and Abuses of Troeltsch in American Debates over Religion, Social Theory, and Theology Lori Pearson
The Americanized Troeltsch has many faces. Consider the following long-standing and recent American portraits of him, both sympathetic and critical. On the one hand, he is a major figure in modern theology whose work continues to be relevant for current understandings of historical relativism and religious pluralism. He was also an important influence on those credited with shaping the discipline of Christian ethics in America in the twentieth century. He is a classic theorist of religion whose ideas are applicable to projects in a wide range of disciplines. On the other hand, he is an irretrievable representative of the outmoded liberalism and individualism of nineteenth-century German Protestant theology, and finally, he is a theologian whose theory of religion is hopelessly tied up with a project of European hegemony and Christian absolutism. We can make sense of these conflicting portraits and assessments of Troeltsch if we place them in the context of methodological and ideological debates in the field of religion. Indeed, in the American context, Troeltsch’s thought has been appropriated, synthesized, and evaluated in relation to a range of current scholarly questions about the status of contested terms such as religion and modernity, and the relation between religious and theological studies. In this essay I would like to draw a picture of the Americanized Troeltsch by placing the reception and use of his thought in the context of contemporary debates in the field. I will sketch this portrait by focusing primarily on four issues in relation to which Troeltsch’s thought has recently been appropriated or criticized by specialists and non-specialists alike: Understanding American Religious Movements; Defining Modernity, the Religious, and the Social; Re-thinking Identity and Tradition; and Assessing the Legacy and Value of the Category of Religion.
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1. Excursus: Troeltsch among the Specialists Because much of my essay will analyze uses of Troeltsch among those who do not see themselves primarily as Troeltsch scholars, but who use aspects of Troeltsch’s thought in the service of other projects, I would like to take a quick detour in order to note briefly some trends in the research among Troeltsch specialists in America over the past 30 years. As has long been the case, the Troeltsch specialists in the USA continue to be scholars of theology and theological ethics. But in recent decades the character and tone of this work has changed due to the shift away from the dominance of the Barthian interpretation of nineteenth-century theology and due to the renewal and growth of Troeltsch studies.1 Between 1960 and 1980, for example, Englishspeaking scholars published very few monographs on Troeltsch.2 And, as Brian Gerrish has noted, among the small number that appeared during that period, many advanced arguments and assessments of Troeltsch that were “strongly colored by what the English-speaking world calls ‘neo-orthodoxy’.”3 Since that time, however, new theological and historical analyses and assessments of Troeltsch’s thought have appeared in the USA in increasing number. It is a testament to this growth in Troeltsch studies that I could spend my entire essay discussing the monographs and other scholarly works and dissertations on Troeltsch that have been produced in the USA since 1980. Instead, I will outline a few of the larger theological and ethical issues toward which these studies have been directed. 1
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See Michael Aune’s three-part series on the ways in which recent work on the history of German Protestant theology in the early twentieth century challenges the previously dominant reading of that period – a reading deeply shaped by the theology of Karl Barth. Michael Aune: Discarding the Barthian Spectacles, in: Dialog 43 (2004), p. 223–32 (part I); 44 (2005), p. 56–68 (part II); 45 (2006), p. 389–405 (part III). In addition, for nearly 40 years prior to 1960, virtually no monographs on Troeltsch appeared in English. Brian Gerrish: Protestantism and Progress. An Anglo-Saxon View of Troeltsch, in: idem: Continuing the Reformation. Essays in Modern Religious Thought, Chicago 1993, p. 219–38, here p. 231. Those monographs that were particularly shaped by a neo-orthodox theological perspective include: Thomas W. Ogletree: Christian Faith and History. A Critical Comparison of Ernst Troeltsch and Karl Barth, Nashville 1965; and Benjamin A. Reist: Toward a Theology of Involvement. The Thought of Ernst Troeltsch, Philadelphia 1966.
The Uses and Abuses of Troeltsch in American Debates
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First, a number of works have focused on the question of the significance, nature, and place of the science of religion in Troeltsch’s thought, and especially in relation to his conception of theology. Scholars have analyzed Troeltsch’s efforts to craft a theology (and to defend a conception of faith) that could be fully relevant to and in dialogue with the intellectual and cultural developments of the modern world. They have also explored how Troeltsch used his conception of a science (or philosophy) of religion to develop a theological method for the articulation and defense of normative, metaphysical judgments.4 Second, many theologians have taken an interest in understanding and building upon Troeltsch’s conception of a robustly historical, or historicist, conception of systematic theology. Their questions have included: What kinds of claims can and should such a theology make about the relation between history and metaphysics, and about the validity of Christian doctrines in relation to those of other religious traditions? Can we gain norms, values, and truth from such a theology? If so, how?5 4
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Brent Sockness shows how Troeltsch rejected an isolationist conception of faith in the modern world and sought to craft a theology that could contribute positively to the values and ethos of the modern world. His conception of theology as grounded in a science of religion served this purpose. See Brent Sockness: Against False Apologetics. Wilhelm Hermann and Ernst Troeltsch in Conflict (Beiträge zur historischen Theologie, vol. 105), Tübingen 1998. Walter E. Wyman, Jr. analyzes Troeltsch’s conception of the relation between philosophy of religion and theology. He shows how Troeltsch articulates a historical theology that is compatible with a normative, metaphysical position and that is based on a comprehensive science of religion. See Walter E. Wyman, Jr.: The Concept of Glaubenslehre. Ernst Troeltsch and the Theological Heritage of Schleiermacher (American Academy of Religion Academy Series, no. 44), Chico 1983. In various ways, Garrett Paul has focused on the development and analysis of Troeltsch’s notion of the relation between theology and the science of religion. See, for example, his translation of and introduction to Troeltsch’s “Glaubenslehre”. Ernst Troeltsch: The Christian Faith. Based on Lectures Delivered at the University of Heidelberg in 1912 and 1913, translated by Garrett Paul, Minneapolis 1991. Much of Brian Gerrish’s important work on Troeltsch has been aimed at exploring the shape and promise of a theology of historicism. See Brian Gerrish: Continuing the Reformation. Essays on Modern Religious Thought, Chicago 1993; and idem: The Old Protestantism and the New. Essays on the Reformation Heritage, Chicago 1982. Sarah Coakley’s influential study of Troeltsch’s Christology attacks the question of the relation between faith and history, and analyzes the possibility of an incarnational theology in relation to historical re-
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Third, in the field of theological ethics and political theology, scholars have explored the following issues: (1) Troeltsch’s conception of national identity and its relation to religious identity;6 (2) Troeltsch’s efforts to defend a form of ethical monotheism as a guide and basis for modern German culture;7 and (3) the relevance and resources of Troeltsch’s conception of a cultural synthesis for current theoretical and practical problems in theological and political ethics.8 Finally, many scholarly works and translations in recent decades have participated in the larger effort (especially among German scholars) to deepen and complexify current understandings of the historical, political, and cultural context of Troeltsch’s thought. These efforts have included achieving a fuller and more balanced picture of the varieties of Protes-
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lativism, historical data, and religious pluralism. See Sarah Coakley: Christ without Absolutes. A Study of the Christology of Ernst Troeltsch, Oxford 1988. Toshimasa Yasukata’s work focuses on Troeltsch’s attempt to overcome the potential conflict between historical thinking and the articulation of normative values and metaphysical truths. See Toshimasa Yasukata: Ernst Troeltsch. Systematic Theologian of Radical Historicality (American Academy of Religion Academy Series, no. 55), Atlanta 1986. Robert Rubanowice traces the impact of historical consciousness on all dimensions of Troeltsch’s thought, focusing particularly on his philosophy of history and political writings. Robert J. Rubanowice: Crisis in Consciousness. The Thought of Ernst Troeltsch, Tallahassee 1982. See, for example, Joanne Miyang Cho: The Crisis of Historicism and Troeltsch’s Europeanism, in: History of European Ideas 21 (1995), p. 195–207, and eadem: The German Debate over Civilization. Troeltsch’s Europeanism and Jaspers’s Cosmopolitanism, in: History of European Ideas 25 (1999), p. 305–19. See also Aimee Burant: “A Metaphysical Attitude Towards Life.” Ernst Troeltsch on Protestantism and German National Identity, in: Zeitschrift für Neuere Theologiegeschichte / Journal for the History of Modern Theology 14 (2007), p. 81–100. See Wendell Dietrich: Cohen and Troeltsch. Ethical Monotheistic Religion and Theory of Culture (Brown Judaic Studies 120), Atlanta 1986; and idem: Troeltsch’s Treatment of the Thomist Synthesis in The Social Teaching as a Signal of His View of a Cultural Synthesis, in: The Thomist 57 (1993), p. 381–401. Kelton Cobb: Ernst Troeltsch and Vaclav Havel on the Ethical Promise of Historical Failure, in: Journal of Religious Ethics 22 (1994), p. 53–74; and William Schweiker: From Cultural Synthesis to Communicative Action. The Kingdom of God and Ethical Theology, in: Modern Theology 5 (1989), p. 367–87. See also the following collection of essays on the relevance of Troeltsch’s thought for questions in theological ethics: Max A. Myers and Michael R. LaChat (eds.): Studies in the Theological Ethics of Ernst Troeltsch, Lewiston 1991.
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tant theologies and liberal Protestantisms in early twentieth-century Germany. These examples only scratch the surface of the interest in Troeltsch among American theologians and ethicists who specialize to some extent in his thought. One could also mention projects on Troeltsch and interreligious dialogue,9 Troeltsch and theories of Christian identity and tradition,10 and Troeltsch and William James.11 For the most part these examples do not include the significant number of dissertations that are regularly produced on various aspects of Troeltsch’s theology and ethics. The point I would like to make in relation to the theme of this essay is that while much of the American work on Troeltsch participates in the larger project of Troeltsch interpretation, this work also touches on and makes Troeltsch’s thought relevant for a number of contested questions in the fields of religious studies and theology today. 2. Understanding American Religious Movements As Brian Gerrish has noted, in addition to being the most popular of Troeltsch’s books in the USA, “Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen”12 is also the work that has made Troeltsch a fami9
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Joseph Molleur: Divergent Traditions, Converging Faiths. Troeltsch, Comparative Theology, and the Conversation with Hinduism, New York 2000. Lori Pearson: Beyond Essence. Ernst Troeltsch as Historian and Theorist of Christianity, Cambridge, Mass. 2008. Mark Hadley: Religious Thinking in an Age of Disillusionment. William James and Ernst Troeltsch on the Possibilities of a Science of Religion, Ph.D. Dissertation, Brown University, 1995. Roger A. Johnson: Idealism, Empiricism, and “Other Religions”. Troeltsch’s Reading of William James, in: Harvard Theological Review 80 (1987), p. 449–76. Ernst Troeltsch: Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen (Ernst Troeltsch: Gesammelte Schriften, vol. 1), Tübingen 1912; trans. Olive Wyon: The Social Teaching of the Christian Churches, 1931, reprint Louisville 1992. Hereafter citations of this work offer first the page numbers from the English translation (abbreviated Social Teaching), followed by the page numbers from GS 1 (abbreviated Soziallehren). Note on translations: Throughout this essay, I follow (when available) the standard English translations of German sources. In all cases where no standard English translation of a German source exists (and where no English translation is therefore cited in my footnotes), I offer my own translations.
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liar and important figure in fields of religious studies beyond theology.13 Troeltsch’s typology of church, sect, and mysticism continues to be of interest to sociologists of religion, who use it to analyze a number of popular and growing movements that are part of the contemporary American religious landscape. The ideal types appear in recent works on American Protestant fundamentalism,14 Christian religious movements in the global South,15 and Mormonism in the USA.16 In recent decades, the ideal type of mysticism has received particular attention in relation to American religion. Scholars such as Robert Campbell and Robert Wuthnow have employed this type to illuminate the rise and significance of New Age spirituality movements.17 Insofar as New Age movements focus on the cultivation of individual spirituality, are anti-institutional in their organization, and non-dogmatic in their teachings, they conform roughly to Troeltsch’s definition of mysticism and spiritual religion. Wade Clark Roof uses Troeltsch’s category of mysticism to analyze a wider range of contemporary religious groups that emphasize inner freedom and personal experience, including not only New Age movements, but also evangelical and charismatic organizations.18 These analyses are interesting because they raise crucial questions about the adequacy of various ways of conceptualizing religion, modernity, and secularization. In the 1970s and 80s, sociologists of religion still 13
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Brian Gerrish: Protestantism and Progress. An Anglo-Saxon View of Troeltsch (see fn. 3), p. 227–28. José Casanova: Public Religions in the Modern World, Chicago 1994, see especially p. 47–54; and Hans G. Kippenberg: Religious History, Displaced by Modernity, in: Numen 47 (2000), p. 221–43. Philip Jenkins: The Next Christendom. The Coming of Global Christianity, Oxford 2002, see especially p. 135–39. Jan Shipps: The Genesis of Mormonism. The Story of a New Religious Tradition, in: David G. Hackett (ed.): Religion and American Culture. A Reader, New York 1995, p. 169–84. Shipps does not mention the work of Troeltsch or Max Weber specifically, but instead uses the ideal types of church, sect, denomination, and cult. Bruce Campbell: A Typology of Cults, in: Sociological Analysis 39 (1978), p. 228–40; Robert Wuthnow: Experimentation in American Religion. The New Mysticisms and Their Implications for the Churches, Berkeley 1978, p. 78–85. Wade Clark Roof: Modernity, the Religious, and the Spiritual, in: idem (ed.): Americans and Religions in the Twenty-First Century (Annals of the American Academy of Political and Social Science, vol. 558), Thousand Oaks 1998, p. 211– 24.
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tended to analyze these groups in relation to a theory of secularization defined as the decline of traditional religion.19 Or they saw the turn toward experiential religion, including evangelicalism, as a reaction against secular and rationalistic dimensions of modernity.20 More recent analyses especially related to conservative Protestant evangelicalism, however, tend to emphasize the compatibility between modern secular culture and popular evangelical groups, which thrive in competitive, differentiated, pluralistic cultures in which they can define, assert, and market a clear identity (often constructed in distinction to targeted out-groups) and where they can appeal instead to individual choices and consumer preferences. In “American Evangelicalism: Embattled and Thriving”, Christian Smith argues that evangelicalism “thrives on distinction, engagement, tension, conflict, and threat”.21 It is thus uniquely suited to and engaged in the pluralistic culture of American modernity. José Casanova makes a similar point in his analysis of public religions and the deprivatization of religion. The definition of secularization still operative and valid here is secularization as the differentiation of secular and religious spheres. But secularization as the necessary privatization, decline, or inward turning of religion is rejected.22 Scholars occasionally refer to Troeltsch’s typology of church, sect, and mysticism in these new analyses of American conservative evangelicals. More use, however, might be made of Troeltsch’s analyses of the relation between religion and modernity in his writings on the relation of Protestantism to the modern world.23 Two features of these writings are 19
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Colin Campbell makes this argument; see: The Secret Religion of the Educated Classes, in: Sociological Analysis 39 (1978), p. 146–56. See Casanova’s delineation of three definitions of secularization: (1) the differentiation thesis; (2) the decline of religion thesis; and (3) the privatization of religion thesis. José Casanova: Public Religions in the Modern World (see fn. 14), p. 19–39. Roof makes this argument. See Wade Clark Roof: Modernity, the Religious, and the Spiritual (see fn. 18), p. 216. Christian Smith: American Evangelicalism. Embattled and Thriving, Chicago 1998, p. 89. José Casanova: Public Religions in the Modern World (see fn. 14), esp. p. 6, p. 19–39, p. 215. See especially Ernst Troeltsch: Schriften zur Bedeutung des Protestantismus für die moderne Welt (1906–1913), edited by Trutz Rendtorff in collaboration with Stefan Pautler (Ernst Troeltsch: Kritische Gesamtausgabe, vol. 8), Berlin, New York 2001. Hereafter cited as KGA 8.
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particularly relevant. First, Troeltsch recognizes that certain groups are able to respond creatively to forces of modernization and secularization. Calvinism in particular has features that enable it to develop in ways compatible with modern sensibilities and social, political, and economic forms. Especially in its modern forms, Calvinism “essentially tends to the emphasizing of the individual and empirical, the renunciation of the conceptions of absolute causality and unity, the practically free and utilitarian individual judgment of all things”.24 These qualities, along with neo-Calvinism’s ability to assume organizational forms that are compatible with the structures of the modern world, enabled Calvinism to survive “the transition to the modern world and the break-up of the Corpus Christianum” and to “pass over to a free church”.25 Thus, Troeltsch states that “the industrial, professional, and business classes in [the] Calvinist countries [. . .] constitute perhaps – even in the purely numerical aspect – the most important body of Protestantism at the present day, while the more outward industrial, social, and political forces of modern culture are also mainly in their hands”.26 At the end of his essay on Calvinismus und Luthertum, Troeltsch writes that “Calvinism [. . .] saved Protestantism in the great world-historical crises, and is still summoned for a deeper progress and a tighter connection with the modern political-social developments of the leading peoples than is Lutheranism.”27 24
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Ernst Troeltsch: Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt, in: KGA 8 (see fn. 23), p. 290; 1911 edition translated into English in 1912 as: Protestantism and Progress. The Significance of Protestantism for the Rise of the Modern World, Philadelphia 1986, p. 83. Hereafter citations of this work offer first the page numbers from the English translation (abbreviated Protestantism and Progress), followed by the page numbers from KGA 8 (abbreviated Die Bedeutung). Ernst Troeltsch: Protestantism and Progress (see fn. 24), p. 47; Die Bedeutung, p. 239. Ernst Troeltsch: Protestantism and Progress (see fn. 24), p. 91; Die Bedeutung, p. 301. Ernst Troeltsch: Calvinismus und Luthertum, in: KGA 8 (see fn. 23), p. 101– 07, here p. 107. It is important to note that here Troeltsch is comparing Calvinism and Lutheranism broadly, and therefore emphasizes Calvinism’s closer relationship to modernity. Yet, it should be remembered that, for Troeltsch, original Calvinism is essentially a medieval form of religion. It is the newer religious movements (such as the sect and spiritualist groups) that truly stand in a close relationship to the modern world, according to Troeltsch. (Here Troeltsch is also engaged in a comparative project in which “Calvinism” stands [in part] for
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Notwithstanding his positive assessment of modern Calvinism’s ability to adapt to the major forms of the modern world (in particular, democracy and capitalism), Troeltsch nevertheless worried that modern Calvinism (or, more specifically, those modern religious groups classified under the broad category of ascetic Protestantism) lacked the spiritual resources to keep modernity from taking on increasingly destructive forms. Although various forms of Calvinism might have helped prepare the way for the rise of the capitalist spirit, modern capitalism itself, argues Troeltsch, tends to develop in ways that are increasingly hostile to the very values that are supposed to be central to the modern world – values related to individuality, freedom, and intrinsic worth. Troeltsch argues that the capitalist spirit has lost (or developed beyond) its affinities with the modern Calvinist spirit, and instead has become “a power directly opposed to genuine Calvinism and Protestantism”.28 Troeltsch worried that the very qualities that enabled Calvinism to survive the transition to modernity – its tendencies toward practical, rationalistic, and individualistic ideals – may also be what make it unable to curtail the excessive forms of individualism and rationalism that seem (in Troeltsch’s estimation) to characterize capitalism in its later developments. Thus, in his analysis of the relation between religion and modernity, Troeltsch raises the normative question of what shape Protestantism might best take in such a situation.29 This is the second feature of Troeltsch’s analysis of the relation between religion and modernity that I would like to hold up for consideration. Troeltsch investigated and compared the relation of various Christian groups to different dimensions of the modern world in order to explore and assess the possible contribution Protestantism might make to his own culture in his own time. He asked, which aspects of Protestantism might exacerbate or provide a corrective to the destructive dimensions of modern
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Anglo-American cultural and religious traditions, while “Lutheranism” characterizes the society, culture, and religiosity of Germany. By comparing Calvinism and Lutheranism, Troeltsch is able to reflect upon and assess [often much more critically than presumed] the heritage and possible future of German culture.) Ernst Troeltsch: Protestantism and Progress (see fn. 24), p. 74; Die Bedeutung, p. 277. Casanova makes a similar move at the end of his book on public religions, when he notes that modernity might be on a course of self-destruction, and that religion, ironically, might be in a position to help save it from this course. See José Casanova: Public Religions in the Modern World (see fn. 14), p. 233–34.
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culture? And, similarly which aspects of Protestantism might hinder or advance the positive aspects of modernity? Troeltsch’s historical works intentionally served this normative purpose. He focused on the analysis of Anglo-American religious groups primarily to understand better (through comparison and contrast) his own German Lutheran cultural context.30 Troeltsch helps us recognize that when scholars engage in these kinds of analyses of the nature and significance of current religious movements in America, for example, they are engaged not only in theoretical or explanatory projects, but also in normative questions about the shape and future of both religion and modernity. 3. Modernity, the Religious, and the Social In the first two or three decades after its publication, Troeltsch’s “Soziallehren” played a formative role in the development of two major classics in American social ethics: Walter Rauschenbusch’s classic work, “A Theology for the Social Gospel” (1917),31 and H. Richard Niebuhr’s “The Social Sources of American Denominationalism” (1929).32 We need, Rauschenbusch argued, “a social interpretation and application of Christianity”, and he cited Troeltsch’s “Soziallehren” as a model.33 Similarly, Niebuhr used Troeltsch and Weber in his analysis of how and why denominational divisions in American Christianity reflected and largely mirrored divisions of race and social and economic class.34 Again, Troeltsch’s “Soziallehren” receives special mention for showing, in a variety of ways, how much “the religious life is interwoven with social circumstances”.35 30
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See Friedrich Wilhelm Graf: Puritanische Sektenfreiheit versus lutherische Volkskirche. Zum Einfluß Georg Jellineks auf religionsdiagnostische Deutungsmuster Max Webers und Ernst Troeltschs, in: Zeitschrift für Neuere Theologiegeschichte / Journal for the History of Modern Theology 9 (2002) p. 42–69, here p. 56 and p. 64. Walter Rauschenbusch: A Theology for the Social Gospel, 1917, reprint Nashville 1978. H. Richard Niebuhr: The Social Sources of Denominationalism, 1929, reprint New York 1957. Walter Rauschenbusch: A Theology for the Social Gospel (see fn. 31), p. 3 , 28. H. Richard Niebuhr: The Social Sources of Denominationalism (see fn. 32), p. 25. Ibid., p. 16.
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Today, both specialists and non-specialists continue to turn to Troeltsch’s work, and in particular to the “Soziallehren”, for its complex and tension-filled portrait of the relation between the religious and the social. One particularly controversial and important work, John Milbank’s “Theology and Social Theory”,36 placed Troeltsch’s “Soziallehren” at the center of an argument that attacked the legacy and value of modern sociology and the forms of liberal theology that are allegedly tied up with it. Troeltsch’s conception of the relation between the religious and the social was at the center of Milbank’s attack. For Milbank, Troeltsch is part of a German sociological tradition that views the religious and the social as “always and forever categorically separate realms”.37 Religion, in this basically Kantian tradition, according to Milbank, is associated with “the private, the subjective, and the evaluative” and stands opposite a “public, natural or social realm of objective, but humanly meaningless fact”.38 This separation of the religious from the social makes religion both individualistic and subservient to the social in terms of its causal efficacy. Troeltsch’s “Soziallehren”, according to Milbank, gives “explanatory priority to social causation over religious organization”.39 In the “Soziallehren”, according to Milbank, Troeltsch portrays Christianity’s fundamental message in ways that mirror his definition of religion – it is an “individualistic ethical creed” that has no intrinsic organic or social dimension.40 Troeltsch sees Christianity as “usher[ing] in the modern world” and he therefore projects modern liberal values back onto Christianity’s origins,41 failing to see, for example, modern Christian individualism as a new and contingent development (and change) in classic Christian doctrine.42 Instead, “the history of the West is turned into the always-coming-to-be of liberal protestantism or its secular aftermath”.43 For Milbank, then, Troeltsch’s “Soziallehren” works with a strict separation of the religious from the social, and offers a modern, 36
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John Milbank: Theology and Social Theory. Beyond Secular Reason, Oxford 1990. Ibid., p. 76. Ibid., p. 76. Ibid., p. 89. Ibid., p. 94. Ibid., p. 93. Ibid., p. 93. Ibid., p. 93.
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liberal view of Christianity as individualistic and therefore as compatible with (and ultimately subject to) secular modernity. Notwithstanding the originality and boldness of many aspects of Milbank’s book, his treatment of Troeltsch is puzzling and confused. Further, Milbank attacks the areas of Troeltsch’s thought that are arguably among the most valuable for current reflection on the relation between Christian theology and society. First, contrary to Milbank’s account, Troeltsch offers a complex portrait of the relation between the religious and the social. The two are not “always and forever categorically separate realms”, as Milbank claims. Instead, both the religious and the social are part of a system of pluralistic and reciprocal causality, and therefore stand in a mutually influential relationship to each other. In the “Soziallehren”, Troeltsch gives no consistent answer to the question of what causes historical growth and change, and he presents no singular overarching conception of causality under which all events are explained and organized. Instead, he cites numerous sources for any given historical, social, or religious development. Far from giving social forces the upper hand in relation to religious ones, Troeltsch, throughout the “Soziallehren”, consistently attacks the conception of causality advanced by certain Marxist historians, who, according to Troeltsch, adhere to a “doctrinaire fanaticism” that wishes to reduce every historical event to one cause or origin.44 As he writes at the close of the “Soziallehren”, “Causality knows no hierarchy; no degree of greater or lesser importance”.45 Throughout the “Soziallehren”, Troeltsch attempts to narrate Christian history in a way that acknowledges continuity and discontinuity, logical development and novelty, and in a way that protects the integrity of Christianity without isolating it from the contingencies of history. For Troeltsch, the religious and the social are always intertwined in complex ways in each particular situation. Thus, as he writes in Religion, Wirtschaft und Gesellschaft, the relation between social and religious forces must always be judged “from case to case” and not simply credited to the singular influence of either social or religious factors.46 In judging, for example, the tendency of Calvinism to cultivate an openness to modern political and economic forces while maintaining the ideals and structures 44 45 46
Ernst Troeltsch: Social Teaching (see fn. 12), p. 466; Soziallehren, p. 432. Ernst Troeltsch: Social Teaching (see fn. 12), p. 1003; Soziallehren, p. 976. Ernst Troeltsch: Religion, Wirtschaft und Gesellschaft, in: idem: Aufsätze zur Geistesgeschichte und Religionssoziologie, edited by Hans Baron (Ernst Troeltsch: Gesammelte Schriften, vol. 4), Tübingen 1925, p. 21–33, here p. 32.
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of a strict Christian ethical community, Troeltsch asks: Did Calvinism develop this capacity because of “its own religious-ethical tendency, or was it forced in this direction by the actual situation of its lands and peoples? Or did both meet and reciprocally influence each other? The latter is the case [. . .].”47 Milbank dismisses any talk of the reciprocal relation between diverse spheres of culture as already guilty of a sharp split and opposition between the religious and the social. Yet, a model of relatively independent spheres that are always in dynamic and reciprocal relation arguably offers a more open-ended picture of the relation between the religious and the social than does Milbank’s rather closed and bounded model of Christianity as a self-contained and distinctive society of its own.48 Indeed, in the “Soziallehren”, Troeltsch can trace how certain features of Christianity (such as its basic ideals concerning the individual and the social, which Troeltsch calls, respectively, individualism and universalism) take on a wide range of new forms and new relationships to the larger society precisely because he recognizes that, in each situation, the religious and the social combine anew. This enables him to preserve some kind of continuity in Christianity while also leaving it open to new developments. Moreover, Troeltsch’s view of the relation between the religious and the social allows for a range of creative possibilities and combinations not just in the past, but also in the future. This leads to my second point. Troeltsch does not see Christianity (even liberal Protestant Christianity) and modernity as unambiguously compatible or essentially linked. In his well known essay, “Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt”, Troeltsch argues that Protestantism does not directly usher in the modern world at all. He writes, “There is no direct road leading from 47 48
Ernst Troeltsch: Calvinismus und Luthertum (see fn. 27), p. 102. Kathryn Tanner makes this important critique of Milbank’s conception of Christianity as an alternative social world, distinct from secular society. Her critique of Troeltsch is not altogether different. While Troeltsch does not construe Christianity as constituting its own social world, he does, according to Tanner, connect Christian identity with “what it means to be a member of [a particular] social group”, in this case, a member of European society. Tanner is referring to Troeltsch’s claim in his later works that European identity is tied up with Christian identity. In Tanner’s view, Milbank and Troeltsch rely on a distinctively modern (i. e. early twentieth century) conception of cultures as bounded wholes. See Kathryn Tanner: Theories of Culture. A New Agenda for Theology, Minneapolis 1997, p. 99 and p. 102.
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Protestant Church-civilization to the modern civilization independent of the church.”49 Instead, Protestantism’s significance for the emergence and quality of the modern world was indirect and involuntary. In most of his writings from this period, Troeltsch is eager to underscore just how distant confessional Protestantism is from modern society and ideals. In Die Kulturbedeutung des Calvinismus, Troeltsch explains one of the main goals of his writings on Protestantism and modernity in the following way: to “limit the [scholarly assessment of the] cultural significance of Protestantism for the formation of the modern state, modern society and economics, science and art”50. Troeltsch also often emphasizes just how novel modern Protestantism is as a development in Christianity. The modern Protestant sectarian, free-church, and spiritualist movements are quite distinct from confessional Protestantism. Unlike traditional Lutheranism and Calvinism, these movements actually do move away from dominant medieval ideals and toward modern ones in areas such as the family, church organization, democracy, and church state relations.51 In fact, with their ideal of a free-church form of Christianity, the Baptists and spiritualists, “have captured and fundamentally changed Calvinism”.52 Yet, notwithstanding its continuities with the structures and ideas of the modern world, even modern Protestantism stands in considerable tension with many features of modernity. The kind of tolerance exhibited in free-church Christianity, for example, is not the Enlightenment ideal of tolerance, but is just the mutual toleration of the co-existence of different churches. Within each group or church, however, a doctrinal strictness (and not tolerance) remains.53 Similarly, Troeltsch argues that contemporary Calvinism has 49
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Ernst Troeltsch: Protestantism and Progress (see fn. 24), p. 41; Die Bedeutung, p. 232–33. Ernst Troeltsch: Die Kulturbedeutung des Calvinismus, in: KGA 8 (see fn. 23), p. 146–81, here p. 161. See, for example, Ernst Troeltsch: Protestantism and Progress (see fn. 24), p. 36–37 and p. 57; Die Bedeutung, p. 226–27 and p. 251. Ernst Troeltsch: Die Kulturbedeutung des Calvinismus, in: KGA 8 (see fn. 23), p. 162. Similarly, in “Die Bedeutung”, Troeltsch states that “modern Protestantism as a whole, even when it carries on the orthodox dogmatic traditions, is in point of fact completely changed” (Protestantism and Progress [see fn. 24], p. 34; Die Bedeutung, p. 225). Ernst Troeltsch: Die Kulturbedeutung des Calvinismus, in: KGA 8 (see fn. 23), p. 167.
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no connection with humanism and the Enlightenment. “Modern Calvinism has rejected the impulses of the rationalism of the eighteenth century.”54 In making these distinctions, perhaps Troeltsch’s main goal is to underscore that Protestantism has no single relationship, but many relationships, to the modern world. Indeed, Troeltsch views neither Protestantism nor modernity as monoliths. Both are complex and internally pluralistic phenomena.55 Various forms of Protestantism take on widely divergent relationships to the modern world. Early Lutheranism and Calvinism remain essentially medieval forms of Christianity, even though the latter has significant features that tend, in certain circumstances, to develop in ways mildly compatible with modern ideals and structures. Similarly, the Lutheran conception of faith, while clearly marked by its medieval orientation, can nevertheless be viewed as an anticipation of modern religious individualism.56 The Baptist sects and free churches adopt structures that reflect and embrace certain aspects of the modern world, even though they remain hostile to Enlightenment rationalism and modern ideals concerning tolerance and scientific understanding. Only the Hugenots and English dissenters embrace ideals of “human rights and freedom of conscience”.57 Yet all of these groups maintain some distance from a modern rationalistic understanding of both the individual and the community.58 54 55
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Ibid., p. 167. Troeltsch makes this argument several times in “Die Bedeutung”. See, for example, Protestantism and Progress (see fn. 24), p. 41; Die Bedeutung, p. 233. Against the claims of Felix Rachfahl, Troeltsch insists that there is no “single unified Christian spirit” that existed either in the past or present. See Ernst Troeltsch: Die Kulturbedeutung des Calvinismus, in: KGA 8 (see fn. 23), p. 156. In “Luther und die moderne Welt”, Troeltsch argues that the emphasis on personal conviction in Luther’s conception of faith makes for a form of religious individualism that can still be felt and detected in the modern world. (Ernst Troeltsch: Luther und die moderne Welt, in: KGA 8 (see fn. 23), p. 59–97, here p. 73). He also grants that this religious individualism was very limited in old Protestantism (ibid., p. 84). In “Die Bedeutung”, Troeltsch argues that Luther laid the groundwork for a notion of faith as based on a “purely subjective inward foundation” (Protestantism and Progress [see fn. 24], p. 96; Die Bedeutung, p. 306–09). Ernst Troeltsch: Protestantism and Progress (see fn. 24), p. 66–67; Die Bedeutung, p. 266–67. Contrary to what Milbank claims, Troeltsch does indeed regard Christianity as
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Similarly, individualism itself ought not be spoken of in the singular. Instead, Troeltsch points to many forms of individualism, each of which has its own relation to Christianity and/or the modern world. The individualism underlying modern religiosity is distinct from the rationalistic individualism that is enshrined in the modern world’s social and economic structures. Similarly, while various forms of individualism can be observed in modern Protestant groups, Troeltsch also insists that it is erroneous to suggest that “Protestantism is essentially religious individualism. It is just as much churchly thought and thus the placing of the state and of the whole culture [. . .] under religious norms.”59 In the “Soziallehren”, Troeltsch is often quite ambivalent about the individualism that he sees as being at the root of some of modernity’s strongest features. Far from suggesting that modern individualism “grew up” in Christianity, he often takes pains to separate ancient forerunners of modern rationalistic individualism (such as Stoicism) from various forms of Christian individualism. This enables him to place certain Christian ideals in opposition with certain social ideals of the modern world, and to carve out a place from which he can bring Protestantism in critical dialogue with the social values of modernity. Granted, in “Die Bedeutung” and related writings, Troeltsch does make Protestant individualism the root of modern religious individualism. And indeed, he did see genuine continuities between certain kinds of Christian individualism and certain kinds of modern individualism. There is, for him, an affinity between Protestantism’s conception of faith (especially as defined by Luther) and modern religious faith, with its “purely subjective inward foundation”.60 When emphasizing this connection
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having an intrinsic social dimension. Troeltsch often calls this social doctrine “love patriarchalism”. It was present implicitly in Jesus’ idea of the family and in the Christian ideal of universalism. Love patriarchalism was first articulated by Paul and is carried on (in revised form) in many types of Christianity. At the end of the “Soziallehren”, Troeltsch contrasts Christianity’s love patriarchalism (which binds members together in hierarchical structures but according to an ethic of loving mutual service) with the rationalistic individualism of modernity (which defines human beings in abstract rationalistic terms and does not recognize the distinctiveness of personalities). See Ernst Troeltsch: Social Teaching (see fn. 12), p. 1005; Soziallehren, p. 978. Ernst Troeltsch: Die Kulturbedeutung des Calvinismus, in: KGA 8 (see fn. 23), p. 176. Ernst Troeltsch: Protestantism and Progress (see fn. 24), p. 96; Die Bedeutung, p. 308.
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of Protestantism to the modern world, Troeltsch speaks very strongly of the centrality of “religious personalism” for many aspects and ideals of the modern world.61 In particular, Troeltsch points to Protestantism’s “religious metaphysic of freedom” as being of great value for the future of the modern world, especially as a corrective to its destructive tendencies.62 Is Troeltsch here contradicting his more critical and negative assessments of the relationship between Protestantism and modernity? The key to understanding Troeltsch’s diverse assessments of the relationship of Protestantism to modernity is to remember that Troeltsch’s historical work was informed by his interest in addressing contemporary questions about the shape of modern society and the place of Christianity in it. He was fully aware of the constructive character of his historical work. Thus, by offering complex and many-sided portraits of modernity, Protestantism, and individualism, Troeltsch opens up many possibilities for a Christian criticism of and contribution to modern society. Emphasizing Protestantism’s distance from modernity enables him to articulate a Christian critique of certain features of modern society, while emphasizing Protestantism’s compatibility with modernity enables him to explore the place and positive role of Protestant groups and thought in modern society. These features of Troeltsch’s thought continue to make him a source of great interest for many American scholars interested in the relation between the religious and the social. Troeltsch’s pluralistic conception of modernity is of interest to sociologists such as Neil Smelser, who in a recent essay on globalization, modernity, and post-modernity, nodded once again to the importance of seeing modernity as “an amalgam of different historical experiences”, rather than as a “unitary force”.63 Modernity, he writes, “combines with local, national and regional variants according to context”.64 Here Smelser nods to Troeltsch’s important concept of compromise as a way of underscoring the dynamic and changing nature, form, and quality of religious groups “in the face of chan-
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Ernst Troeltsch: Protestantism and Progress (see fn. 24), p. 31–32; Die Bedeutung, p. 221–22. Ernst Troeltsch: Protestantism and Progress (see fn. 24), p. 101; Die Bedeutung, p. 316. Neil J. Smelser: Pressures for Continuity in the Context of Globalization, in: Current Sociology 51 (2003), p. 101–12, here p. 107. Ibid., p. 107.
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ging social, political and cultural circumstances”.65 Smelser then generalizes Troeltsch’s insight with respect to the present situation of religion and globalization. “Despite recurrent assertions of orthodoxy and fundamentalism, all the world religions will continue to evolve and become more internally diverse as they contend with their new religious environments in a world dominated by the ramifications of global change.”66 Within the field of theology and among Troeltsch specialists, Mark Chapman’s recent book on Troeltsch has argued that Troeltsch’s conceptions of modernity, Christianity, the religious, and the social were all shaped in ways that reflected Troeltsch’s desire to “bring theology into critical dialogue with contemporary culture”.67 In contrast to Milbank’s claim that Troeltsch simply privatizes and individualizes religion, Chapman underscores the ultimately public orientation of Troeltsch’s theology, which was deeply engaged and intertwined with cultural and social questions. Troeltsch, according to Chapman, neither turned away from modernity nor unambiguously embraced it, but placed his theology in dialogue with the structures and realities, strengths and weaknesses of the modern world. 4. Constructing Identity? Inventing Traditions? A number of creative projects in the field of religious studies today seek to problematize and gain new understandings of the nature of religious and cultural identity. Anthropologists of religion are reclaiming the category of syncretism as they unmask and contest its older pejorative connotations and claim it as a feature that in some way marks all religions.68 As scholars of Afro-Cuban religions, for example, tease out the ways new identities are forged and negotiated through creative combinations of beliefs, practices, and symbols from multiple traditions, they simultaneously question the boundedness and purity of all religious tra-
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Ibid., p. 108. Ibid., p. 108. Mark Chapman: Ernst Troeltsch and Liberal Theology. Religion and Cultural Synthesis in Wilhelmine Germany, Oxford 2001, p. 1. Charles Stewart, Rosalind Shaw (eds.): Syncretism/Anti-Syncretism. The Politics of Religious Synthesis, New York 1994.
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ditions.69 In a similar way, theorists of religion and culture draw on postmodern anthropological conceptions of culture, which emphasize the porosity or “flexible boundaries” of traditions, and which point to the ways in which participants in a culture borrow strategically from a variety of sources as they construct, contest, or improvise on a variety of identities. Scholars working in the field of history of Christianity employ a range of methodological tools and strategies in order to gain new and more complicated understandings of Christian history and to reveal the ways in which normative Christian identity is constructed in particular times and places. Scholars of earliest Christianity have worked to complicate the category of Christian origins. Some scholars emphasize diversity and debate in earliest Christianity and focus on the construction of orthodoxy and heresy as rhetorical strategies employed by the “winners” of early conflicts to discredit the “losers”.70 Others emphasize the extent to which categories of Christian, Jew, and pagan were more flexible and ambiguous than commonly assumed. Still others trace the ways in which Christian identity in the second century was crafted through strategies that simultaneously constructed Judaism as different from and other than Christianity.71 These and countless other projects that complexify the history of religions, rooting them in political, social, cultural, local and global contexts, beg for new theories of the nature of traditions themselves. Jonathan Z. Smith has recognized the need not only for a non-essentialist use of the category, “religion”, but also for a non-essentialist conception of individual religious traditions.72 Not surprisingly, a handful of Christian theologians have also taken up the task of constructing new theories of the identity of Christianity, 69
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David H. Brown: Santeria Enthroned. Art, Ritual, and Innovation in an AfroCuban Religion, Chicago 2003. Karen King: What Is Gnosticism? Cambridge 2005. Daniel Boyarin: Borderlines. The Partition of Judeo-Christianity, Philadelphia 2004. See Smith’s articulation of a polythetic model of tradition in Jonathan Z. Smith: Imagining Religion. From Babylon to Jamestown, Chicago 1982, p. 4–8. See the application of Smith’s theory for a non-essentialist definition of Judaism in Michael L. Satlow: Defining Judaism. Accounting for “Religions” in the Study of Religion, in: Journal of the American Academy of Religion 74 (2006), p. 837– 60.
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or theories of tradition. Kathryn Tanner, for example, draws on the insights of postmodern anthropological theories of culture to argue that Christian identity is not stable, unitary, or given but is constituted by a community of argument about what it means to live a Christian life of discipleship.73 Here there are no fixed elements of Christian identity – no norms, no criteria, no rules of grammar, no particular set of classics, and no highly specified doctrinal interpretations – that are self-evidently given and uncontested. Instead, statements of Christian identity are strategic, constructive proposals shaped by particular perspectives and interests and drawn from a creative mix of so called “Christian and nonChristian” sources. Another theologian, Delwin Brown, defines Christian tradition as creative play within the space of a canon.74 Brown rightly recognizes the continuity between contemporary discussions about the nature of traditions and late nineteenth-century reflection on the significance of historicism for Christian theology. Indeed, as these theologians articulate new models of Christian identity or tradition, they often explore Troeltsch’s conception of the relation between the religious and the social as a possible model or resource for defining traditions. But Troeltsch’s thought is much more relevant for contemporary efforts to conceptualize religious traditions than has generally been recognized by non-specialists. Troeltsch’s historical writings on Christianity and Protestantism contain, implicitly, a complex theory of tradition.75 Troeltsch rejects an essentialist definition of Christianity; he reflects critically on the category of Christian origins and presents earliest Christianity as internally diverse; he employs a complex model of historical development that immerses Christian history in social, political, and economic contexts. Troeltsch recognizes the constructive character of his portrayals of Christian history, and he sees statements about the identity of Christianity as strategic proposals, shaped by particular perspectives and interests. Surely not everything about Troeltsch’s conception of Christianity could or should be retrieved for contemporary use. But an examination of Troeltsch’s model of Christianity as a tradition helps us to see our own scholarly preoccupations in a longer historical view, and to examine the ways classic theorists dealt with very similar questions as those which still vex scholars of religion today. In addition, Troeltsch’s conception of 73 74
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Kathryn Tanner: Theories of Culture (see fn. 48). See Delwin Brown: Boundaries of Our Habitation. Tradition and Theological Construction, Albany 1994. I have made this argument in my book, Beyond Essence (see fn. 10).
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Christianity offers a model of tradition that could be seen as a corrective to certain trends today. While Troeltsch recognized that any conception of Christianity – including his own – was a construction, he also placed a strong emphasis on the past as a source of identity and orientation in the present. Thus, his thought stands in contrast with those scholars today who emphasize the invention of traditions. For Troeltsch, the identity of Christianity or the identity of Europe (or of any culture), is to be creatively crafted by means of a new synthesis of selected resources from the past – resources that represent the diversity of the tradition and that are combined anew in conversation with the needs of the present and future. These creative syntheses are not final, for Troeltsch, but are always open to revision in accordance with future experiences and needs. Troeltsch’s conception of Christianity combines constructive and historical moments, and thus resonates with a wide range of current theories of tradition in interesting ways. 5. The Legacy and Value of the Category of “Religion” In her analysis of the emergence and function of the discourses of world religions and religious pluralism, Tomoko Masuzawa places Troeltsch’s thought at the end of a long history of discursive practices that ultimately supported European universalism and hegemony. In “The Invention of World Religions”,76 Masuzawa sets out to unpack the hidden history and meanings of the term “world religions” in order to question its typical association with a spirit of tolerance and pluralism. In doing so, Masuzawa arrives at some very important insights about the hidden legacies embedded and carried on in pluralistic discourses that dominate the field of religion. Masuzawa argues that the term “world religions” emerges out of a “disorderly, confluent, and multifarious” history of nineteenthcentury European attempts to craft a modern science of religion and to distinguish among various kinds of religions.77 As scholars distinguished between national and world religions, or among religions rooted in socalled Semitic, Aryan, and Turanian language groups, they were often engaged – consciously or not – in a project that was centered around the promotion of European universalism, or the construction of European 76
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Tomoko Masuzawa: The Invention of World Religions. Or, How European Universalism Was Preserved in the Language of Pluralism, Chicago 2005. Ibid., p. 10.
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identity as Christian, modern, progressive, and at the height of human and cultural development. The discourse of world religions also “quickly became an effective means of differentiating, variegating, consolidating, and totalizing a large portion of the social, cultural, and political practices observable among the inhabitants of regions elsewhere in the world”.78 Masuzawa argues that the discourse of world religions even as it continues to be used today in classrooms, textbooks, religion departments, or scholarly monographs is not a triumph of a pluralist ethos that has risen above claims to Christian superiority, but is instead a discourse of othering and a discourse of European cultural superiority.79 Although the bulk of Masuzawa’s book contains rhetorical analyses of selected texts and theories concerning religion or world religions from the nineteenth century, the force of her argument, it seems to me, is directed toward the present shape and legitimacy of the field of religious studies.80 The main theoretical question at stake in her project is the status and value of the category “religion”. World religions discourse, she argues, is grounded in an assumption about “religion” as a category, namely that it is universal (i. e. found everywhere) and uniform.81 The field of religious studies, she argues, is composed of a shocking number of “unreconstituted religious essentialists”.82 They leave the category of religion unhistoricized,83 and fail to see how easily it changes over to a Christian and Eurocentric category. Masuzawa’s assessment of the category “religion” and the discourse of world religions is also tied up with a range of questions about the appropriate relation between theological and religious studies, or between normative and descriptive projects.84 78 79 80 81 82 83 84
Ibid., p. 20. Ibid., p. 28. Ibid., p. 7–10 and p. 324–28. Ibid., p. 1–2. Ibid., p. 7. Ibid., p. 2. Masuzawa argues that the religious essentialism that plagues the study of religion is due to the fact that “the field is populated, and by sheer number dominated, by the representatives, partisans, and sympathizers of various religions, or, more recently, by those who may be best described as advocates and sympathizers of ‘religion’ in general. For many of these religion-friendly scholars and teachers, the line between asserting the reality of religion(s) and asserting the legitimacy of religion(s) as a proper subject for study is at best ambiguous. Understandably, those who stand on the side of religion(s), in whatever sense of that
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Masuzawa closes her book with a brief, experimental reading of two short essays by Troeltsch. She portrays Troeltsch as a theologian-turnedtheorist of religion who makes a noble but ultimately unsuccessful and troubling effort to move beyond Christian absolutism and universalism. The three main objections Masuzawa makes to Troeltsch’s thought are central to issues of debate in the field of religion today. First, Masuzawa accuses Troeltsch of a form of religious essentialism that ultimately serves to protect Christianity’s validity and potential superiority. Masuzawa makes this attack on Troeltsch by examining his 1897 essay on Christianity and the History of Religion.85 In that essay, according to Masuzawa, Troeltsch attempts to grapple with the inescapable recognition that Christianity, like all other historical phenomena, is continually subject to the flux of history and is thus a mutable and non-absolute religion like all others. Troeltsch makes a fatal move, however, when he reflects not only on the implications of historicism for Christianity, but also for religion itself. Masuzawa points to the following statement: “Not only the truth and validity of Christianity but also those of religion itself, as a unique sphere of life, disappear in this maelstrom of historical diversity.”86 That Troeltsch equates the problems facing Christianity with the problems facing religion in general is proof for Masuzawa that discourse about religion is really about Christianity, or discourse modeled on a Christian worldview. According to her, Troeltsch here simply “conjures up, out of thin air” the category “religion itself ” as a way of avoiding the threat to Christian absolutism.87 Troeltsch looks to the field of history to demonstrate the reality of religious experience that underlies all religions. Thus, while a simplistic notion of Christianity’s absolutism will have to
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phrase, are not likely to feel an immediate need to interrogate the category that names, for them, a reality sui generis” (ibid., p. 7). Ernst Troeltsch: Christianity and the History of Religion, in: idem: Religion in History, essays translated by James Luther Adams and Walter Bense, Minneapolis 1991, p. 77–86; translated and excerpted from: Ernst Troeltsch: Christentum und Religionsgeschichte (1897), in: idem: Zur religiösen Lage, Religionsphilosophie und Ethik (Ernst Troeltsch: Gesammelte Schriften, vol. 2), Tübingen 1913, p. 328–63. Ernst Troeltsch: Christianity and the History of Religion (see fn. 85), p. 78; Christentum und Religionsgechichte, p. 337. Tomoko Masuzawa: The Invention of World Religions (see fn. 76), p. 313. This is a puzzling claim, as if the category “religion” had no history in German theology and philosophy before Troeltsch.
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be dispensed with (or at least confined to private conviction), the abiding reality and significance of religion as a permanent dimension of human experience is preserved. Masuzawa’s critique here misses both the significance and historical context of Troeltsch’s definition of religion. Indeed, Masuzawa fails to historicize Troeltsch’s conception of religion, and thus commits the same error as her “unreconstituted religious essentialist” colleagues in the field of religion. Masuzawa assumes that any appeal to the autonomy or reality of religion in general must be a form of essentialism.88 She also assumes that all forms or expressions of essentialism are the same and serve the same functions, regardless of historical context. But an understanding of the historical context and driving concerns of Troeltsch’s conception of religion leads to other insights and alternative assessments. Troeltsch’s conception of religion, as Friedrich Wilhelm Graf has shown, is directed toward the question of the possible cultural meaning and role of religion in a society experiencing rapid modernization.89 Especially during his years in Heidelberg (1894–1914), Troeltsch explored religion as a site and source of individual freedom and social cohesion in the midst of what he and others perceived as the potentially destructive dimensions of capitalism, bureaucracy, imperialism, and various forms of social fragmentation in German culture in the early years of the twentieth century. Protecting some measure of religion’s autonomy then becomes important, so that it can be explored as a sphere of culture capable of participating in and shaping the modern world. Troeltsch’s appeal to the category of “religion itself ” is not interested in asserting the sameness of all religions; nor is it a response to the threat of the loss of Christianity’s absoluteness, as Masuzawa charges. Troeltsch simply wants to show that religion is “real”, and is a relatively independent sphere of culture that cannot be reduced completely to some other phenomenon. Thus, in his essay on Wesen der Religion und 88
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Masuzawa does not offer a definition of religious essentialism. Based on the few places where the term is used in passing, it appears that Masuzawa associates essentialism primarily with any appeal to “religion itself ” as an autonomous or unique dimension of human life. See, for example, Tomoko Masuzawa: The Invention of World Religions (see fn. 76), p. 91 n, and p. 313. Friedrich Wilhelm Graf: Religion und Individualität. Bemerkungen zu einem Grundproblem der Religionstheorie Ernst Troeltschs, in: Horst Renz, Friedrich Wilhelm Graf (eds.): Protestantismus und Neuzeit (Troeltsch-Studien, vol. 3), Gütersloh 1984, p. 207–30, here p. 220.
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der Religionswissenschaft (1906; 1909; 1913),90 Troeltsch’s appeal to basic religious experiences at the root of all religions is aimed at this goal.91 If there are empirical or factual experiences we can call “religious”, then religion is a real and lasting element of culture and can therefore shape culture in a variety of ways. Demonstrating the relative autonomy of religion is crucial if religion is to participate in efforts to counteract the various crises of modernity, including the “technological alienation of capitalism”, which undermine human freedom and individuality.92 While Troeltsch indeed appeals to a unique and autonomous phenomenon called “religion itself ”, he also defends the empirical plurality of religions,93 insisting that there can and will be varied and novel religious 90
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Ernst Troeltsch: Wesen der Religion und der Religionswissenschaft, in: GS 2 (see fn. 85), p. 452–99; English translation: Religion and the Science of Religion, in: Robert Morgan, Michael Pye (trans. and eds.): Ernst Troeltsch. Writings on Theology and Religion, Louisville 1990, p. 82–123. Troeltsch sketches a program for the science of religion that begins with an exploration and cataloging of the most basic expressions or cases of “religiosity as a datum”: that is, expressions of what Troeltsch calls “naïve religion” (Religion and the Science of Religion (see fn. 90), p. 89; Wesen der Religion und der Religionswissenschaft, p. 463). These “direct” expressions of intense and all-consuming religious experience are generally found, according to Troeltsch, among “primitive” peoples studied by archaeologists and anthropologists, among the “founders” and “great personalities” and “prophets” of religious traditions, and among “one-sided or exclusively religious personalities, sects, and groups” (Religion and the Science of Religion, p. 90–91; Wesen der Religion und der Religionswissenschaft, p. 464–65). Such many and varied manifestations of naïve religion enable the scholar to “grasp the characteristic and essential features of this sphere of culture” (Religion and the Science of Religion, p. 92; Wesen der Religion und der Religionswissenschaft, p. 467). Ernst Troeltsch: Religion and the Science of Religion (see fn. 90), p. 120; Wesen der Religion und der Religionswissenschaft, p. 499. This is exactly how Troeltsch closes his essay on the science of religion. He appeals to the importance of religion as a potentially productive force in addressing the challenges of the modern world, such as the destructive dimensions of capitalism. He writes, “Given the huge extension, the variety, and the intimate character of the phenomenon [of religion], the task of psychology here is as rich in difficulties as it is in its possibilities of approach” (Religion and the Science of Religion [see fn. 90], p. 114; Wesen der Religion und der Religionswissenschaft, p. 492). He also notes that “religion in its own life is luxuriantly tangled up with scientific conceptions and interests and points of contact [. . .] Indeed, religion is crisscrossed with a wealth of other kinds of interest too, ethical, artistic, legal, politi-
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developments and expressions in the future, and that religion is not a singular but a varied phenomenon capable of shaping culture in many ways. Troeltsch’s various defenses of the autonomy of religion are often directed against positivists, who tend to see religion primarily as an erroneous claim of a “primitive mentality”, and against other methodologies that reduce religion to a by-product of something else.94 Moreover, these positivistic theories deny the changing and diverse quality of religion, and assume that all expressions of religion (in the past and future) are ultimately the same phenomenon. It is also noteworthy that Troeltsch casts doubt on the usefulness of categories such as the essence and origin of religions.95 The term “essence of religion”, he argues, carries with it a variety of meanings and methodological issues. It can therefore never have one definition.96 Dismissing Troeltsch as an essentialist does not really get us anywhere in assessing the significance and history of the term, “religion”, as it has been used (consciously or not) in specific historical and cultural contexts. While Masuzawa’s rhetorical method yields important insights and suggestions about the hidden power and function of discourse about “religion” and “world religions”, it needs to be supplemented with an historical-contextual method that relates discursive practices to actual political, social, and cultural arrangements and trends in specific contexts. Otherwise European identity is essentialized97 and one overlooks important details about the ways the category “religion” is indeed shaped by political, social, and cultural factors and interests.
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cal and social” (Religion and the Science of Religion, p. 89; Wesen der Religion und der Religionswissenschaft, p. 463). Ernst Troeltsch: Religion and the Science of Religion (see fn. 90), p. 84–85; Wesen der Religion und der Religionswissenschaft, p. 458–59. Ernst Troeltsch: Religion and the Science of Religion (see fn. 90), p. 111–14; Wesen der Religion und der Religionswissenschaft, p. 488–92. Troeltsch actually states that the concept of the “origin of religion” is “unclear and worthless” (Religion and the Science of Religion, p. 113; Wesen der Religion und der Religionswissenschaft, p. 491). Ernst Troeltsch: Religion and the Science of Religion (see fn. 90), p. 111; Wesen der Religion und der Religionswissenschaft, p. 488–89. Leigh Schmidt suggests that, notwithstanding the strengths of Masuzawa’s argument, she ultimately commits many of the errors she is seeking to uncover and avoid. Schmidt writes, “By the end of [Masuzawa’s] book, one has the distinct impression that it is Masuzawa herself who cannot resist the universalizing gesture of containing the multitudinous worlds of European and American thought in a flattened totality, her own ‘enormous apparition, the essential identity of the
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Second, Masuzawa objects to the relation between religions and cultures that Troeltsch advances when he links Europe and Christianity in his 1923 essay on The Place of Christianity among the World Religions.98 Masuzawa argues that, although Troeltsch has by now given up on any idea of universality within history (and has instead embraced the idea of the radical individuality and particularity of all historical phenomena), he nevertheless allows absoluteness to remain as a private matter of personal conviction. Worse, Troeltsch has now embraced a definition of religion that fuses it with culture and nation, so that history presents a diversity of religions, each of which comes to be deeply linked to a particular culture or race. Christianity is now bound up with Europe, and vice versa. Other world religions are bound up with their distinctive cultures, and the so-called lesser religions will eventually be taken up into those of widespread cultural significance. By relativizing both European culture and Christianity as one among many such large-scale particulars or historical individualities, Troeltsch – in Masuzawa’s assessment – has set up a situation in which each universalistic religion or discrete culture may now reflect upon and affirm its unique value and validity. This, according to Masuzawa, is one step away from an image of global competition and battle. Troeltsch is therefore “investing in the continuing prosperity of the European expansion project”.99 Once again, the shortcomings of a method relying almost exclusively on rhetorical readings and discourse analysis become apparent. While Masuzawa points to important tensions and ambiguities in Troeltsch’s essay, her reading remains blind to the driving concerns and historical context of Troeltsch’s reflection on European identity around the time he wrote the essay in question. Masuzawa suggests that, in this essay, Troeltsch is battling against the threat of secularization,100 and the loss of
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West’.” See Leigh Schmidt: Review of: The Invention of World Religions, by Tomoko Masuzawa, in: Journal of the American Academy of Religion 74 (2006), p. 229–32, here p. 232. Ernst Troeltsch: The Place of Christianity among the World Religions, in: idem: Fünf Vorträge zu Religion und Geschichtsphilosophie für England und Schottland. Der Historismus und seine Überwindung (1924) / Christian Thought. Its History and Application (1923), edited by Gangolf Hübinger in collaboration with Andreas Terwey (Ernst Troeltsch: Kritische Gesamtausgabe, vol. 17), Berlin, New York 2006, p. 134–48. Tomoko Masuzawa: The Invention of World Religions (see fn. 76), p. 323. Ibid., p. 29.
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European (and Christian) superiority. Such accusations ignore the postwar context of Troeltsch’s lectures prepared for his trip to England. Indeed, the essay in question was part of a lecture series that Troeltsch was invited to deliver in England (but was unable to do so because of his untimely death). These lectures do indeed have a profound political significance, but not of the sort suggested by Masuzawa’s reading.101 In both his lectures prepared for England and in his work on “Der Historismus und seine Probleme”,102 Troeltsch was addressing pressing and immediate concerns related to the cultural situation in Germany and in Europe as a whole in the aftermath of World War I. In face of cultural fragmentation within Germany and among European nations, Troeltsch used the concept of a European cultural synthesis to work out a sense of European identity and cultural cohesion that nevertheless incorporated and respected the radical diversity of philosophical and cultural traditions within Europe.103 In these writings, Troeltsch appeals to a Europe that is unified but internally diverse, with each culture making its unique contribution to the whole, and with a complementary (instead of antagonistic) view of the relation between Germany and Western Europe.104 It is also noteworthy that Troeltsch calls for harmony and respect among all nations, and not just those of Europe, when he speaks of a moral demand to work toward “a community of all mankind in which the national groups are morally bound to each other in the same way as the single so101
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For a detailed account of the development of Troeltsch’s conception of England and his evolving views concerning the relation between England and Germany, see Gangolf Hübinger in collaboration with Andreas Terwey: Einleitung, in: KGA 17 (see fn. 98), p. 1–32. Ernst Troeltsch: Der Historismus und seine Probleme. Erstes Buch: Das logische Problem der Geschichtsphilosophie (1922), edited by Friedrich Wilhelm Graf in collaboration with Matthias Schloßberger (Ernst Troeltsch: Kritische Gesamtausgabe, vol. 16), Berlin, New York 2008. Hereafter KGA 16. See Friedrich Wilhelm Graf: Einleitung, in: idem (ed.): Ernst Troeltschs “Historismus” (Troeltsch-Studien, vol. 11), Gütersloh 2000, p. 9–22, here p. 13. Graf notes that even during the war Troeltsch resisted a purely national (or national-philosophical) perspective on the search for cultural normativity, but instead sought to work out a broader conception of European identity. See Friedrich Wilhelm Graf: Philosophisch reflektierte Kriegserfahrung. Einige Überlegungen zu Ernst Troeltschs “Kaisergeburtstagsrede”, in: idem (ed.): “Geschichte durch Geschichte überwinden”. Ernst Troeltsch in Berlin (TroeltschStudien, New Series, vol. 1), Gütersloh 2006, p. 231–52, here p. 250.
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cial groups within the several nations”.105 As Austin Harrington argues, in the years after the war, Troeltsch was among a group of intellectuals and public figures in various European nations who “sought to grapple with the question of Europe’s place in the world, its notions of reason and democracy, and its legacy of imperialism”.106 He was working against nationalism and Eurocentrism,107 and was advancing a non-essentialist conception of Europe. Troeltsch’s appeal to Europe’s particularity (and his rejection of its universality) is part of his effort to counteract what he calls “naïve or refined European arrogance”, which too often claims universal representation or validity for what are actually particular European ideals and concepts.108 Troeltsch’s appeal to Europe’s particularity, however, is read by Masuzawa as a protective strategy aimed at preserving the possibility of European superiority. Finally, Masuzawa’s critique of Troeltsch seems to be grounded in a basic objection to the presence of any normative judgments or commitments in the field of religious studies. She is bothered by the fact that Troeltsch, after rejecting the universality and absoluteness of Christianity, nevertheless allows that individual Christians and cultures may indeed assert the truth of Christianity as a “truth for Christians”, if not a universally demonstrable or applicable one. Here we come to an impasse between Masuzawa and various other scholars, on the one hand, who reject the category of religion because of its inevitable link to normative issues that look too much like Christian theological issues, and Troeltsch, on the other hand, who did indeed see a place for normative judgments and tasks in the science of religion. He by no means affirmed what he called dogmatic theories of religion that see all non-Christian religions as oriented toward Christianity. He did, however, believe that the science of religion should influence religion itself, and should seek also to make a positive contribution to culture. This brings me to my conclusion. In each of the four areas of contemporary inquiry and debate that I have focused on in this essay, Troeltsch consistently raises normative questions, both by refusing a sharp distinction between the descriptive and the normative, and by insisting that the 105
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Ernst Troeltsch: The Morality of the Personality and of Conscience, in: KGA 17 (see fn. 98), p. 149–62, here p. 157. Austin Harrington: Ernst Troeltsch’s Concept of Europe, in: European Journal of Social Theory 7 (2004), p. 479–98, here p. 482. Ibid., p. 492. Ernst Troeltsch: KGA 16 (see fn. 102), p. 1025.
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study of religion be directed toward issues of contemporary relevance and diagnosis. For this reason, in the USA Troeltsch has never been easily placed on one side of the theology vs. religious studies debate. His preoccupation with normative concerns (and his refusal to separate theological from religious studies) is also what makes his thought so important and provocative for some, and so problematic for others. Given the contested nature of the field of religious studies and the deep ambivalence about questions of value and truth among scholars of religion in the USA, chances are that we will continue to see even more versions or faces of the Americanized Troeltsch than I have outlined here.109
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I would like to thank Aimee Burant for her comments on an earlier draft of this essay.
Personenregister
Aal, Anathon 39 Abdalwahhab, Muhammad b. 140 Abd-el-Lateef 168 Abid al-Jabiri, Muhammad 200 Abu l-Fida, Isma il b. Ali 106 Ackermann, Andreas 78 Adams, James Luther 353 Adelung, Johann Christoph 92, 115 Adler, Lazarus 125 f. Albert, Gert 53, 289 Albinus, Lars 34 Albrecht, Christian 5, 7, 173, 286, 308 Albrecht, Renate 213 Alemann, Ulrich von 231 Almond, Gabriel 232 Althaus, Paul 306 f. Anderson, John 237 Ankermann, Bernhard 68, 176 Antes, Peter 201 Appadurai, Arjun 78 Aristoteles 58, 132 Arkoun, Mohammed 200 Arnold, Gottfried 275 Asad, Talal 33, 48 Ascherson, Ferdinand 120 Ascoli, Graziadio Isaia 93 al- Attar, Hasan 142 Audi, Robert 233 Auffarth, Christoph 207, 275 Augustinus 84, 223, 240 Aune, Michael 332 Aveline, Jean-Marc 190 Babinger, Franz 188–190, 192
Bachofen, Johann Jakob 65 Bader, Veit 235 f., 238, 240 Baker, Wayne E. 253 Ballenstedt, Johann Georg Justus 109 Bally, Charles 199 Banton, Michael 73 Barbier, Maurice 227, 234 Bargatzky, Thomas 132 Baron, Hans 342 Barth, Christian Karl 95 Barth, Hans-Martin 318 Barth, Jacob 152 Barth, Karl 308, 316, 322, 328, 332 Barth, Roderich 313 Barth, Ulrich 55 Barthel, Carl 88 Batunsky, Marc 152 Baubérot, Jean 234 Baudissin, Wolf Wilhelm Graf von 178 Bauer, Bruno 117 Bauer, Dieter R. 271 Bauer, Georg Lorenz 102 Bauer, Johannes 216 Baumgartner, Walter 12 Baumotte, Manfred 311 Baur, Ferdinand Christian 22 f., 88, 96–98, 100 f. Bauschulte, Manfred 188 al-Baydawi, Umar b. Abdallah 106, 128, 131, 137 Bayly, Christopher A. 289 Bebbington, David B. 251 Becker, Carl Heinrich 138, 151 f., 157–164, 167, 170, 176, 179 f., 183–
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Personenregister
189, 191–193, 195, 197–200 Becker, Hubert Karl Philipp 112 Becker, Karl Josef 322 Beer, Georg 175 Behr, Hartmut 223, 228 Behringer, Wolfgang 271 Bein, Alex 130 Bekker, Ernst Immanuel 199 Bell, Frederik Willem Bernard van 138 Bellamy, Edward 251 Benedict, Ruth 70, 74 Benedikt XVI. 311–313, 316, 320, 322–325 Benfey, Theodor 95 Bense, Walter 353 Benz, Ernst 308 Berger, Immanuel 14 f. Berger, Peter L. 226, 279 Berg-Schlosser, Dirk 232 Bergsträsser, Gotthelf 192 Berlin, Isaiah 52 Bernhardt, Reinhold 38, 193, 316 f., 319, 327 Beyerhaus, Peter 310 Beyme, Klaus von 244–246 Bianchi, Ugo 33 Bielefeldt, Heiner 224, 234 Biester, Björn 173, 308 Biezen, Ingrid van 246 Birgivi, Mehmed Pir Ali 84, 141 Blair, Tony 250 Blaschke, Olaf 272 Blavatsky, Helena P. 272 Bloch, Marc 284, 289 Blumenbach, Johann Friedrich 92 f. Boas, Franz 66, 70 Bochinger, Christoph 204 Böckenförde, Ernst-Wolfgang 235 Boeckh, August 119 f. Boehm, Max Hildebert 192 Bolz, Norbert 297 Bopp, Franz 93, 95, 106
Bouma, Gary 253 Boxhorn, Marcus Zuërius van 93 f. Boyarin, Daniel 349 Brauer, Jerald C. 309, 311 Braun, Otto 216 Braune, Walther 189–192, 197 Braunschweig, Johann Daniel 92 Brentano, Clemens 95 Brockelmann, Carl 188 Brocker, Manfred 223, 228 Brown, David H. 349 Brown, Delwin 40, 350 Bruch, Rüdiger vom 156, 169 Brück, Michael von 308 Brumberg, Daniel 237 Bruno, Giordano 266 Buckle, Henry Thomas 121 Budge, Ian 245 Bücher, Karl 156 Bultmann, Rudolf 323 Bunsen, Christian Karl Josias von 95, 104 Buntfuß, Markus 328 Burant, Aimee 334, 360 Burckhardt, Jacob 122, 124, 283 Burger, Rudolf 224, 234, 256 Burke, Peter 278 Burnouf, Émile-Louis 103, 106–108 Burnouf, Eugène 106 f. Burnouf, Jean-Louis 106 Buttigieg, Joseph A. 247 Bynum, Caroline Walker 284 Byrnes, Timothy A. 256 Cabanel, Patrick 26, 31 Cady, Linell E. 40 Calvin, Johannes 160 Campbell, Bruce 336 Campbell, Colin 337 Campbell, Robert 336 Cancik, Hubert 10 Cann, David E. 241 f. Caron, Richard 267
Personenregister
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Carus, Friedrich August 102, 115 Casanova, José 243, 249, 256, 336 f., 339 Cassirer, Ernst 60, 62–64, 288 Castles, Francis G. 243, 245, 249, 253 Caussin de Perceval, Armand Pierre 131 Chantepie de la Saussaye, Pierre Daniël 31, 35–37, 126 Chapman, Mark 348 Chaves, Mark 241 f. Chebel d’Appollonia, Ariane 255 Chickering, Roger 156 Christophersen, Alf 7 Clanton, Gordon 279 Clayton, John 317 Clemens von Alexandria 98 Clooney, Francis X. 319 Coakley, Sarah 333 f. Cobb, Kelton 334 Cochran, Clarke E. 257 Comte, Auguste 91 Conway, Martin 247 Conze, Werner 287 Cox, James L. 43 Creuzer, Georg Friedrich 96 f., 133 Cromwell, Oliver 58
Derenbourg, Hartwig 140 Derenbourg, Joseph Naftali 140 Descartes, René 91, 94 Deth, Jan van 231 Deuser, Hermann 63 Deventer, Jörg 277 Dewey, John 52 Diamond, Larry 237 Dierken, Jörg 7, 215, 220, 329 Dietrich, Wendell 334 Dijk, Rjik van 78 Dilthey, Wilhelm 116, 305 Döllinger, Johann Joseph Ignaz von 117 Dozy, Reinhart Pieter Anne 109, 111, 138–140 Drehsen, Volker 33, 286 Drewes, Gerardus Willebrordus Joannes 139 Droysen, Johann Gustav 281, 283 Dubnow, Simon 150 Duda, Herbert Wilhelm 189 Dülmen, Richard van 260 Dumais, Alfred 190 Dupuis, Jacques 323 f. Durkheim, Émile 9, 52, 65, 67, 70, 156, 164, 166 f., 224
Dabashi, Hamid 137 Dalton, Russell J. 230, 244, 248 Danz, Christian 311, 316 f., 325 Danz, Johann Traugott Leberecht 84 Darmesteter, James 141 Daub, Carl 117 Dauxois, Jacqueline 278 Davaney, Sheila Greeve 40 Davidson, Andrew Bruce 143 Davie, Grace 227 Daxelmüller, Christoph 274 D’Costa, Gavin 317 Dekker, Kees 94 Delbrück, Hans 169 Demerath III., Nicholas Jay 221
Easton, David 231 Eckermann, Karl 88 Edsman, Carl-Martin 27 Eichhorn, Johann Gottfried 88, 94, 101 f. Eisenstadt, Shmuel N. 223, 289 Elert, Werner 29 f. Eliade, Mircea 44, 200, 310 f. Elichmann, Johann 93 f. Ellinger, Ekkehard 83, 192 Emersleben, Lars 173, 308 Emmerick, Anna Katharina 176 Engel, David Joshua 130 Enyedi, Zsolt 227 f., 234, 238, 240, 242
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Personenregister
Esping-Andersen, Gøsta 249 Ess, Josef van 148, 152 Essner, Cornelia 152, 160 Ettemeyer, Ilke 318 Eubank, William L. 222 Evans-Pritchard, Edward E. 65, 67, 74 Ewald, Heinrich Georg August 95, 100 f., 109, 140 f., 143 Faber, Richard 128 Faivre, Antoine 267 f., 276, 282 Fechtner, Kristian 297 Feil, Ernst 33 Felde, Paul van der 139 Feldkeller, Andreas 204 Fermor, Gotthard 297 Ferrari, Silvio 236 Fetscher, Iring 229 Fetzer, Joel 227, 238 f., 242, 253 f. Feuerbach, Ludwig 146, 309 Fichte, Johann Gottlieb 111 Fischer, August 152 Fish, Michael Stephen 237 Fitzgerald, Timothy 27, 34 Fix, Birgit 250 Fleischer, Heinrich Leberecht 90, 105 f., 128, 131 f., 137, 140–142, 151 f., 162, 178 Flügge, Christian Wilhelm 14–16, 116 Forndran, Erhard 231 Fortlage, Carl 90 Foucault, Charles de 152 Fox, Jonathan 240 Frazer, James George 9, 65 f., 144 Fredericks, James L. 319 Fresnel, Fulgence 142 Freud, Sigmund 9, 66 Freytag, Bruno Baron von (gen. Löringhoff) 192 Freytag, Wilhelm 90 Frishman, Judith 46
Frobenius, Leo 68, 70, 176 Fuchs, Dieter 231 Fück, Johann 82 Gabler, Johann Philipp 88 Gäde, Gerhard 323 Gätje, Helmut 186, 192 f. Gall, Lothar 202 Gams, Pius B. 98 Ganz, Peter F. 122 Garcin de Tassy, Joseph Héliodore 141 f. Geertz, Clifford 33, 72–75, 77 Gehler, Michael 246 Gehrig, Georg 171 Geiger, Abraham 84, 100 f., 105, 110, 140, 145 Gennep, Arnold van 65 George, Henry 251 Gerrish, Brian 332 f., 335 f. Gesenius, Wilhelm 95 Geyer, August 162 f. Geyer, Michael 288 Gibbins, John 230 Giese, Friedrich 189 Giesen, Bernhard 288 Gill, Anthony 228 Giugni, Marco 254 Gladigow, Burkhard 10, 207, 263 f., 266, 276, 282, 288 Glaser, Johann Carl 121 Gleichen-Rußwurm, Heinrich Freiherr von 192 Gobineau, Joseph Arthur Comte de 147 Godwin, Joscelyn 267 Goeje, Michael Jan de 111, 138 Goethe, Johann Wolfgang von 113 Goldinger, Heiner 79 Goldschmidt, Lazarus 153 Goldziher, Ignaz 101, 103, 125, 128– 132, 135–138, 142, 144–146, 153 f., 158, 162, 167, 177, 179–184, 186,
Personenregister
198, 200 Gosche, Richard 133 f. Gothein, Eberhard 1 Gottowik, Volker 72 Gotzmann, Andreas 262–264 Graebner, Fritz 68, 176 Graetz, Heinrich 103, 105 Graf, Friedrich Wilhelm 2, 4, 30, 38, 61, 156, 164, 169, 184, 214, 218, 226, 260–262, 264, 273 f., 282, 285, 289, 291, 299, 301, 313, 317, 340, 354, 358 Graf, Karl Heinrich 109 Gramberg, Jan Simon Gerardus 139 Gregor I. 86 Griaule, Marcel 67 Griffiths, Paul J. 46 Grimm, Gerhard 192 Grimm, Jacob 94 Grimm, Wilhelm 94 Grimme, Hubert 153 Grohmann, Adolf 190 Grønbech, Vilhelm 27 Grün, Karl 146 f. Grünschloß, Andreas 315 Grunberg, Gérard 247 Grundmann, Reiner 182 Grunebaum, Gustav von 195 f. Gürtler, Johann Daniel 144 Guizot, François 120 f. Haarmann, Ulrich 150 Habermas, Jürgen 226, 235, 297 Hackett, David G. 336 Haddon, Alfred Cort 69 Hadley, Mark 335 Haeckel, Ernst 156 f. Hafiz, Muhammad Shams ad-Din 133 Hahn, Udo 313 Hanegraaff, Wouter J. 267 f., 270 Hanisch, Ludmila 82 f., 153–155, 176, 182, 187
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Hanke, Edith 179 Hanley, David 245–248 Hansen, Joseph 270 Harant, Martin 190 Hardtwig, Wolfgang 275, 278 Hardy, Edmund 83 Haridi, Alexander 152, 161 Harnack, Adolf von 35 f., 42, 154 f., 175 f., 178 f., 182, 193, 202, 206, 312, 324 Harrington, Austin 359 Hart, Darryl G. 41 f. Hartlich, Christian 88 Hartmann, Jürgen 232 Hartmann, Martin 151, 153–158, 161–166, 176, 182, 186, 188, 197– 200 Hartmann, Nicolai 192 Hartmann, Richard 152, 188 f., 192 Hastie, William 127 Hatala, Péter 146 Haus, Michael 235 Hauschildt, Friedrich 313 Havemann, Axel 160 Haynes, Jeff 228 Heclo, Hugh 227 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 24, 29, 85, 87–90, 112, 115 f., 147–149, 216 Hegewisch, Dietrich Hermann 114 Heiber, Helmut 192 Heiler, Friedrich 41 Heine, Peter 152 Heinrich, Klaus 197 Heitmeyer, Wilhelm 224 Heller, Christian 323 Helm, Christoph 82 Helmolt, Hans F. 185 f. Herder, Johann Gottfried von 65, 91, 94, 105, 112, 118 f., 148 f. Herle, Anita 69 Hermann, Gottfried 102 Heron, Emma 251
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Personenregister
Hervieu-Léger, Danièle 47 f., 227 Hess, Johann Jakob 88 f. Heyne, Christian Gottlob 88, 102 Hick, John 317 f., 323 Hilberath, Bernd Jochen 322 Hildebrandt, Mathias 223, 228 Hinneberg, Paul 33, 183 Hinz, Walther 193 Hirscher, Johann Baptist von 99 Hjelde, Sigurd 4, 9, 16, 18, 22, 31 Höhn, Hans-Joachim 223, 226, 230 Hölderlin, Friedrich 88 f. Hölscher, Lucian 261, 277, 279, 288 Hoenerbach, Wilhelm 196 Hörschel, Michael Carl 149 Hofferbert, Richard 245 Hoffmann, Andreas Gottlieb 126 Holtzendorff, Franz von 162 f. Holtzmann, Heinrich Julius 110 Holzhausen, Friedrich August 98 f. Homer 144, 223 Horstmanshoff, Herman Frederik Johan 264 Horten, Max 152 Htun, Mala 228 Hübinger, Gangolf 7, 56, 61, 156, 164, 169, 281, 357 f. Hüls, Peter 176 Hüttenhoff, Michael 303, 306, 316 Humboldt, Wilhelm von 91, 93, 105 Hume, David 85 Huntington, Samuel P. 222, 236 f., 256 Hutton, Ronald 272 Iannaccone, Laurence 241 f. Ibn Umar, Abdallah 168 Ihle, Alexander 13 Inglehart, Ronald 230, 253, 286 Introvigne, Massimo 34 Isenbiehl, Johannes Lorenz 87 Jacob, Georg 151, 189
Jaeger, Friedrich 276 Jaeger, Wilhelm 160 James, Robinson B. 311 James, William 52, 54–56, 59, 62, 335 Janeczek, Andrzej 277 Janowski, Nicole 76 Jarvie, Ian C. 70 Jaspers, Karl 223 Jelen, Ted G. 225, 228, 243, 257 Jellinek, Georg 1, 154 Jenisch, Daniel 115 Jenkins, Philip 336 al-Jilani, Hakim Ali ibn Kamal al-Din Muhammad 189 Joas, Hans 6, 51–53, 57, 59, 289, 297 Jodl, Friedrich 120 f. Johannes Paul II. 221, 255 Johansen, Baber 82, 150, 160, 184 Johnson, Roger A. 335 Jones, Marjorie G. 266 Jones, William 93 f. Jordan, Louis Henry 31, 83 Jüngel, Eberhard 314 f. Jung, Matthias 63 Junginger, Horst 100 Kaase, Max 231 Kähler, Martin 199 Kahle, Paul 152 Kaiser, Wolfram 246 Kallscheuer, Otto 255 Kalmar, Ivan 102, 147 Kampffmeyer, Georg 152, 192 Kant, Immanuel 24, 55, 60–64, 216 Kaplan, Jeffrey 222 Katzenstein, Peter J. 256 Kaufman, Gordon D. 318 Kaufmann, Franz-Xaver 244, 249– 251 Kautzsch, Emil Friedrich 178 Keane, John 226 Kellstedt, Lyman A. 227 Keman, Hans 232
Personenregister
Kennedy, John F. 230 Kerr, Malcom H. 148 Kersbergen, Kees van 225, 244, 246 f., 249 f., 253 Khaldun, Ibn 123, 165 Khoury, Axel Theodor 312 Kidd, Colin 106 King, Karen 349 King, Martin Luther 230 Kippenberg, Hans G. 3, 42 f., 45 f., 73, 83, 207, 263, 270, 272 f., 279, 289, 292, 298, 336 Kirste, Reinhard 318 Kittel, Martin Balduin 112 Klaproth, Heinrich Julius von 93 Kleger, Heinz 235 Klemm, Gustav 119 Klingemann, Hans-Dieter 231, 245 Knitter, Paul F. 318, 323 Knoblauch, Hubert 203, 207 f. Knutsen, Oddbjørn 248 Kochwasser, Friedrich H. 150 Köppe, Manuela 147 Körtner, Ulrich H. J. 316, 325 Kohl, Karl-Heinz 7, 10, 27, 32, 72, 75–77 Koltun-Fromm, Ken 100 Koningsveld, Pieter Sjoerd van 236 Koopmans, Ruud 254 Kosegarten, Johann Gottfried Ludwig 90, 121 Kraemer, Jörg 187, 192 Krafft, Fritz 278 Kramer, Martin 153, 163, 166 Kramers, Johannes Hendrik 164 f. Kraus, Paul 190 Krause, Karl Christian Friedrich 90 Krech, Volkhard 2, 128, 207, 285 Krehl, Ludolf 131, 133, 140, 142 Kremer, Alfred von 123–125, 137 Kristensen, William Brede 41 Kropp, Sabine 232 Krueger, Brian S. 248
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Kselman, Thomas 247 Kuenen, Abraham 109 Kuhn, Franz Felix Adalbert 95, 103, 129 Kuper, Adam 69 Kymlicka, Will 234 LaChat, Michael R. 334 Lagarde, Paul de 143, 178, 191 La Grasserie, Raoul Guérin de 166 Lamberth, David C. 55 Lamprecht, Karl 154, 156, 164 Laroui, Abdallah (al- Arawi) 200 Lasaulx, Ernst von 122 Las Casas, Bartolomé de 65 Lasswell, Harold 231 f. Latour, Bruno 79 Laube, Martin 299 Laubscher, Matthias 10 Lauster, Jörg 326 Lauth, Hans-Joachim 232 Lazarus, Moritz 102, 111, 147 Le Chatelier, Alfred 165 f., 187 Leege, David 227, 248 Lehmann, Edvard 26 f. Lehmann, Hartmut 182, 261, 264– 267, 271 f., 275, 284, 287 Lehmann, Karl Kardinal 312 Lehmbruch, Gerhard 231 Leibniz, Gottfried Wilhelm 91, 94 Lentz, Carola 71 Lessing, Gotthold Ephraim 100 Leuze, Reinhard 23, 85, 305 Levi, Carlo 285 Lévi-Strauss, Claude 71 Lichtenberger, Frédéric Auguste 127 f. Lipset, Seymour M. 245 Littmann, Enno 152 Lloyd George, David 250 Locke, John 233 Löhr, Gebhard 204 Lopez Jr., Donald S. 33
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Personenregister
Lorenz, Sönke 271 Lorig, Wolfgang 230 Loth, Otto 131 Lowie, Robert H. 68 Luchesi, Brigitte 77, 263 Ludwig XIV., König von Frankreich 277 f. Lübbe, Hermann 299 f. Lüttke, Moritz 135 Luther, Martin 111, 160, 345 f. MacDonald, Duncan Black 151, 182 Madeley, John 227 f., 233 f., 238, 240, 242, 251 al-Magribî, Alî b. Mejmûn 138 Maier, Bernhard 143 Mair, Peter 246 Makrides, Vasilios N. 262–264 Malik, Jamal 262–264 Malinowski, Bronislaw 65, 69 f., 74 Malte-Brun, Conrad 93 Mangold, Sabine 83, 150 Manow, Philip 250 f. Margoliouth, David Samuel 106, 151 Markwart (bis 1922 Marquart), Josef 191 Marquand, David 226 Marschall, Wolfgang 66 Marsden, George M. 41 Martin, David 251 Marx, Karl 251 Massignon, Louis 152 Masuzawa, Tomoko 351–354, 356– 359 Mattes, Wenzeslaus Martin 148 Mauss, Marcel 65, 67 Maximilian I., Kaiser 278 McClay, Wilfred M. 227 McCutcheon, Russell T. 34, 206 McLennan, John Ferguson 143 Meckenstock, Günter 96 Meinecke, Friedrich 283 Meiners, Christoph 12 f., 87
Melville, Gert 285 Menger, Carl 156, 199 Mensching, Gustav 83 Menzel, Theodor 189 Merk, Otto 88 Merkel, Rudolf Franz 12, 14 f. Meyer, Birgit 76 Meyer, Christian 76 Meyer, Heinz-Dieter 223, 228, 251 Mez, Adam 153 Michaelis, Axel 66 Middell, Matthias 289 Mikuteit, Johannes 56 Milbank, John 59, 341–343, 345, 348 Mill, John Stuart 233 Minkenberg, Michael 6, 223, 225, 228–230, 232–235, 237 f., 240, 242, 245, 248, 250 f., 253, 255 Mittwoch, Eugen 153, 188, 197 Miyang Cho, Joanne 334 Möhler, Johann Adam 98 Moeller van den Bruck, Arthur 192 Moen, Matthew 228 Molendijk, Arie L. 3 f., 26, 31, 34, 38, 42, 47, 193 Moll, Anthonij 109 Molleur, Joseph 335 Monsma, Stephen 225, 238 f., 242 Montaigne, Michel de 65 Montesquieu, Charles de 224 Moore, R. Laurence 47 Morgan, Robert 355 Morse, Sydney H. 129 Moxter, Michael 63 Müller, Alois 235 Müller, August 137 Müller, Friedrich Max 9, 23, 26, 32, 35 f., 41, 93, 96, 106–108, 128–131, 134, 141, 177, 206 Müller, Gerhard Ludwig 309, 318 Müller, Guido 152 Müller, Johann Daniel 100 Müller, Julius 84
Personenregister
Mueller, Paul D. 248 Müller-Rommel, Ferdinand 232 Münkler, Herfried 222 Münsterberg, Hugo 180, 182 Muhammad 107, 111, 119, 121, 135, 139 f., 168–171, 173 Muhlack, Ulrich 120 Muir, William 111, 139 Mulder, Martin Jan 109 Mussmann, Johann George 99 Myers, Max A. 334 Myle, Abraham van der 93 Nägeli, Hans Georg 147 an-Nasafi, Abdallah ibn Ahmad 84 Nettler, Ronald L. 226 Neugebauer-Wölk, Monika 6, 30, 259 f., 262, 264, 267 f., 270, 273– 275, 277 f., 281 f., 285 f., 288 f. Neuner, Peter 22 Newton, Kenneth 231 Niebuhr, H. Richard 340 Nietzsche, Friedrich 52, 199 Niewöhner, Friedrich 130 Noack, Ludwig 85–87, 115 f., 146 Nöldeke, Theodor 111, 138, 162 Noll, Mark A. 251 Norris, Pippa 231, 286 Nowak, Kurt 178 Nyberg, Henrik Samuel 193–195 Oelsner, Konrad Engelbert 113 Oexle, Otto Gerhard 178 Ogletree, Thomas W. 332 Ohlidal, Anna 260 Orelli, Hans Konrad von 178 Osiander, Johann Ernst 131 Osthövener, Claus-Dieter 178 f. Ostner, Ilona 223, 228, 251 Ostwald, Wilhelm 156, 164 Otten, Willemien 46 Otterspeer, Willem 109 Otto, Rudolf 41, 52, 213
369
Paley, William 90 Palgrave, Gifford 168 f. Palmer, A. Smythe 106 Palmer, Gesine 128 Panikkar, Raimundo 318 Pannenberg, Wolfhart 304, 307–310, 321, 326 f. Paret, Rudi 195 f. Passy, Florence 254 Pasture, Patrick 247 Paul, Garrett 333 Paulus 306 Pautler, Stefan 4, 36, 154, 177, 286, 337 Pearson, Lori 5, 335 Peiter, Hermann 17 Perlitt, Lothar 98 Perrineau, Pascal 247 Petermann, Werner 67 Petersohn, Carl 112 Petzina, Bettina 192 Pfleiderer, Georg 38, 193 Pfleiderer, Otto 22–26, 181 Pijnenburg, Joyce 268 Pinkerton, John 94 Plant, Johann Traugott 84 f. Plattner, Marc F. 237 Platvoet, Jan G. 34, 47 Poelchau, Harald 191 Pohl-Patalong, Uta 297 Pollack, Detlef 242 Popper, Julius 109 Poulat, Émile 26 Poulat, Odile 26 Powell, George Bingham 232 Poya, Abbas 83, 184 Pross, Wolfgang 105 Prym, Eugen 153 Puschner, Uwe 272 Pye, Michael 355 Race, Alan 317 Rachfahl, Felix 345
370
Personenregister
Radcliffe-Brown, Alfred 70 Rahner, Karl 322 f. Rainer, Michael J. 314 Ranke, Leopold von 283 Raphael, Lutz 281 Rask, Rasmus Christian 93 Ratschow, Carl Heinz 303, 309, 311, 318 Ratzel, Friedrich 68, 156 Ratzinger, Joseph Kardinal siehe Benedikt XVI. Raulff, Ulrich 284 Rauschenbusch, Walter 340 Rawls, John 233 Rawlyk, George A. 251 Reagan, Ronald 221, 229 f. Reich, Simon 255 Reidlinger, Albert 199 Reimarus, Hermann Samuel 100 Reinhard, Wolfgang 285, 288 Reinkowski, Maurus 83, 184 Reist, Benjamin A. 332 Reland, Adriaan 139, 141, 181 Rémond, René 288 Renan, Ernest 103, 106 f., 129 f., 133 f., 143 Rendtorff, Trutz 4, 36 f., 154, 177, 286, 299, 337 Renz, Horst 38, 182, 282, 354 Reuss, Eduard 109 Réville, Albert 127 Richard, Jean 190 Rickert, Heinrich 179 f. Rida, Muhammad Rashid 163 Riegelmann, Hans 278 Rieger, Frank 230 Ritschl, Albrecht 146, 178 Ritter, Gerhard 283 Ritter, Hellmut 187 f., 196 Rivers, William H. R. 68 f. Robbers, Gerhard 239 Robbins, Thomas 238 Robertson, Roland 238
Roemer, Hans-Robert 189 Rössig, Karl Gottlob 94 Röth, Eduard 95 Rogers, Howard J. 180 f. Rohling, August 150 Rohls, Jan 22 Rokkan, Stein 245 Rollmann, Hans Josef 182 Rooden, Peter van 46 Roof, Wade Clark 336 f. Rose, Carl 135 Rose, Sandra 69 Rosenkranz, Karl 147 f. Rosenzweig, Franz 89 Rossbach de Olmos, Lioba 78 Roth, Guenther 182 Rousseau, Jean-Jacques 235 Rouwhorst, Gerard 46 Royce, Josiah 52 Rubanowice, Robert J. 334 Rudelbach, Andreas G. 112 Rudolf II., Kaiser 278 Rudolph, Kurt 10, 27, 33, 83, 172 Rübner, Tuvia 89 Rückert, Friedrich 149 Rückert, Heinrich 149 Rühs, Friedrich Christian 116 f. Rüpke, Jörg 207, 262–264 Rüsen, Jörn 276, 281 Sachau, Eduard 187, 189 Sachs, Walter 88 Sachs, William L. 250 Sacy, Silvestre de 90, 105 f., 140–142 Sahagún, Bernardino de 65 Salmasius, Claudius 93 f. Salvador, Joseph 97 f. Sammler, Steffen 289 Sarason, David 47 Satlow, Michael L. 349 Saussure, Ferdinand de 199 Scarbrough, Elinor 231 Schacht, Joseph 167, 189
Personenregister
Schäbler, Birgit 184 Schaeder, Grete 161 Schaeder, Hans Heinrich 161, 184, 188, 191–193 Schäfer, Rolf 21 Schafhausen, Nikolaus 76 Schatzmann, Niklaus 271 Scheel, Helmut 189 Scheiber, Alexander 136 Scheler, Max 52, 56, 164 Scheliha, Arnulf von 85 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von 24, 88–90, 97, 102, 112, 133 Schencke, Wilhelm 9 Schenkel, Daniel 110 Scherr, Johannes 132 Schieder, Wolfgang 260 Schiller, Friedrich von 91 f. Schilling, Heinz 285, 288 Schimmel, Annemarie 200 Schlegel, Friedrich von 88 Schlegel, Gottlieb 118 Schlegel, Johann Carl Fürchtegott 113 f. Schleier, Hans 114, 120 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst 11, 16–22, 28 f., 62, 96, 216, 317, 327 Schlette, Heinz Robert 307 Schlögl, Rudolf 288 Schlözer, August Ludwig von 94 Schloßberger, Matthias 52, 61, 184, 218, 358 Schluchter, Wolfgang 56, 167, 180, 182 Schmid, Dirk 17, 173, 308 Schmidt, Jürgen Michael 271 Schmidt, Leigh 356 f. Schmidt, Manfred G. 236, 245 Schmidt, Nathaniel 166 Schmidt, Wilhelm 65 Schmidt-Leukel, Perry 316–320 Schmitt, Carl 235
371
Schmitt, Leonhard Clemens 99, 101 Schmitz, Rudolf 278 Schmitz du Moulin, Muhammad Adil 175 f. Schmoller, Gustav von 199 Schnabel, Franz 283 Schneider, Ute 281 Schneller, Franz Julius Borgias 115 Scholten, Johannes Henricus 139 Scholz, Heinrich 216 Schopenhauer, Arthur 122 Schröckh, Johann Matthias 84 Schroeter-Wittke, Harald 297 Schüßler, Werner 311 Schultze, Fritz 108 Schulze, Reinhard 7, 202, 207 Schurtz, Heinrich 186 Schwager, Raymund 318 Schwally, Friedrich 138, 152 Schwan, Gesine 312 Schwandt, Hans-Gerd 318 Schwarz, Friedrich Heinrich Christian 18 Schwarz, Paul 167 Schweiker, William 334 Schweitzer, Albert 111, 154 Schwelling, Birgit 230 f. Schwerhoff, Gerd 279 Schwöbel, Christoph 303 Sechehaye, Albert 199 Seckler, Max 306 Segers, Mary 257 Seidenstücker, Johann Heinrich Philipp 102 Seiler, Daniel 245 Sengler, Jakob 99 f. Serretti, Massimo 309, 318 Seybold, Christian 151 Shadid, Wasid A. R. 236 Sharpe, Eric J. 12, 41 Shaw, Rosalind 348 Shayda, Amanat Allah 142 Shipps, Jan 336
372
Personenregister
Siebeck, Paul 56 Siedler, Dirk Christian 311 Siemens, Andreas 313 Simmel, Georg 52, 154 Simon, Róbert 138 Simon-Ritz, Frank 276 Singor, Hendricus Wilhelm 264 Sloterdijk, Peter 297 Smelser, Neil J. 347 f. Smith, Adam 242 Smith, Christian 337 Smith, Elliot 68 Smith, Jonathan Z. 44–46, 349 Smith, Reginald Bosworth 134 f. Smith, Wilfred Cantwell 33, 41 Smith, William Robertson 65, 143 f., 169 f., 177 Snouck Hurgronje, Christian 126, 136, 138–141, 144, 146, 162, 165 Sockness, Brent 333 Söderblom, Nathan 9, 27, 41 Sombart, Werner 154, 182 Sonne, Heinrich Daniel Andreas 118 Soper, J. Christopher 225, 227, 238 f., 242, 253 f. Spencer, Herbert 168 f. Spindler, Lore 164 Spinoza, Baruch de 90 Sprenger, Aloys 110 f., 128, 139 Spyer, Patricia 79 Stade, Bernhard 152 Stäudlin, Carl Friedrich 13–16 Stammler, Rudolf 199 Stapfer, Philipp Albert 114 Stark, Rodney 241 Statham, Paul 254 Stausberg, Michael 128, 264 Stein, Ludwig 147 Steiner, Heinrich 132 Steinmetz, Sebald Rudolf 166 Steinschneider, Moritz 105, 130 Steinthal, Chajim Heymann 100, 105, 129
Steltzer, Theodor 192 Stepan, Alfred 234–236 Stephan, Heinrich 306 Stephenson, Gunther 14 f., 83 Steppat, Fritz 191, 197 Stewart, Charles 348 Stolz, Fritz 206, 273 Stosch, Klaus von 316, 319 Straten, Folkert T. van 264 Strausberg, Michael 191 Strauß, David Friedrich 22 f., 88, 97 f., 101, 110, 135, 139 Strauss, Ludwig 89 Streck, Bernard 66 Strothmann, Rudolf 152 Strubbe, Johan H. M. 264 Stuckrad, Kocku von 42 f., 45 f., 73, 77, 207, 263, 270, 272–274, 279, 292, 298 Stuhr, Peter Feddersen 94 Sturm, Erdmann 190, 311 Süssheim, Karl 189 Synesius von Cyrene 99 at-Tabari, Abu Ja far Muhammad ibn Jarir 144 at-Taftazani, Mas ud ibn Umar 84 at-Tahtawi, Rifa a Rafi i 142 Tanner, Kathryn 343, 350 Tawney, Richard Henry 250 Taylor, Charles 52, 54 Telle, Joachim 278 Terwey, Andreas 61, 357 f. Teuffenbach, Alexandra von 322 Thomas, Scott M. 255 Thorbecke, Heinrich 131 Tiele, Cornelis Petrus 31, 35, 37, 41, 108 f., 126, 171 Tillich, Paul 190 f., 213, 306, 309– 311, 325 at-Tirmidhi, Muhammad ibn Isa 168 Tocqueville, Alexis de 227, 235, 242
Personenregister
Tönnies, Ferdinand 154, 182 Toorn, Karel van der 44 Trepp, Anne-Charlott 266–269 Troeltsch, Ernst 1, 3–5, 8, 29, 32 f., 36–38, 46 f., 51–64, 154, 160, 171– 181, 183–186, 190–193, 195, 199 f., 202, 206, 208, 213, 215–218, 224, 282 f., 286–289, 299, 306, 308 f., 324, 331–348, 350 f., 353–360 Tück, Jan-Heiner 314, 322 Turner, Victor 65 Tylor, Edward Burnett 9, 66, 147 Tyrell, Hartmann 2, 207 Üner, Elfriede 156 Vámbéry, Ármin (Hermann) 136 f. Vater, Johann Severin 92 Vattimo, Gianni 297 Veer, Peter van der 33 Versnel, Hendrik S. 264 Veth, Pieter Johannes 139 Vieillard-Baron, Jean-Louis 267 Voegelin, Eric 230 Voigt, Christian Gottlob 113 Voigt, Friedemann 4 Vollers, Karl 151 Voltaire (François-Marie Arouet) 141 Voltmer, Rita 274 Vossius, Gerardus Joannes 93 Vries, Jan de 88 Waardenburg, Jean Jacques 150, 165, 201, 207 Wach, Joachim 10, 198 f., 201, 213, 307 Wachsmuth, Wilhelm 121 f. Wagenmann, Julius August 149 Wagner, Christoph 232 Wagner, Falk 305, 327–329 Wahrmund, Adolf 149 f. Walch, Christian Wilhelm Franz 87 Wald, Kenneth D. 248
373
Walzer, Michael 235 Warburg, Aby 282 Weber, Max 1 f., 9, 51, 53, 56–58, 154, 156, 159, 164, 171, 179 f., 182, 184, 191, 199, 208–211, 218, 224, 227, 238, 287 f., 336, 340 Weber, Wolfgang 283 Weil, Gustav 90, 101, 110 f., 132 Weinberg, Leonard B. 222 Wellhausen, Julius 109, 131, 143, 162, 178 f. Welte, Benedikt 148 Weltecke, Dorothea 279 Wende, Erich 152 Wenz, Gunther 22, 314 Wenzel, Herbert 13 Wenzel, Knut 313 Wette, Wilhelm Martin Leberecht de 88, 98, 112 f. Wetzer, Heinrich Joseph 148 Wiegandt, Klaus 57, 289 Wilcox, Clyde 225, 228, 243 Willems, Ulrich 223, 225, 228 f., 234 f., 238, 245, 255 Willoweit, Dietmar 202 Winckelmann, Johannes 2, 287 Windelband, Wilhelm 179 Windischmann, Friedrich 95 Winkelhane, Gerd 152, 160 Winkler, Heinrich August 53 Wohlleben, Ekkehard 316, 319 Wokoeck, Ursula 83, 150 Wolf, Friedrich August 144 Woltersdorff, Nicolas 233 Wünsch, Thomas 259, 277 Wundt, Wilhelm 156 Wuthnow, Robert 336 Wyman Jr., Walter E. 333 Wyon, Olive 335 Yasukata, Toshimasa 334 Yates, Frances A. 266 Young, Thomas 93
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Personenregister
Ysmal, Colette 247 az-Zahiri, Jamal ad-Din wa-d-Dawla Iqbal 124 az-Zamakhshari, Abu al-Qasim Mahmud ibn Umar 106
Zander, Helmut 272, 276 Zinkeisen, Johann Wilhelm 117 Zinser, Hartmut 72 Zippelius, Reinhold 239 f. Zunz, Leopold 87, 105, 145