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German Pages 443 [444] Year 2012
Monika Schmitz-Emans Literatur-Comics linguae & litterae
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linguae & litterae Publications of the School of Language & Literature Freiburg Institute for Advanced Studies
Edited by
Peter Auer · Gesa von Essen · Werner Frick Editorial Board Michel Espagne (Paris) · Marino Freschi (Rom) Erika Greber (Erlangen) · Ekkehard König (Berlin) Per Linell (Linköping) · Angelika Linke (Zürich) Christine Maillard (Strasbourg) · Pieter Muysken (Nijmegen) Wolfgang Raible (Freiburg) Editorial Assistant Aniela Knoblich
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De Gruyter
Monika Schmitz-Emans
Literatur-Comics Adaptationen und Transformationen der Weltliteratur In Zusammenarbeit mit Christian A. Bachmann
De Gruyter
ISBN 978-3-11-026528-6 e-ISBN 978-3-11-026676-4 ISSN 1869-7054 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 2012 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/Boston Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ⬁ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
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Vorbemerkung
Maßgeblich gefördert wurde die Arbeit am vorliegenden Buch durch ein Fellowship am Freiburg Institute for Advanced Studies (FRIAS), das mir die Möglichkeit gab, mich auf die Ausarbeitung der zentralen Kapitel zu konzentrieren. Dem FRIAS, seinen Angehörigen und insbesondere seinem Leiter, Werner Frick, sei hiermit herzlich gedankt. Das Buch entstand in enger Zusammenarbeit mit Christian A. Bachmann, dem ich viele Anregungen verdanke und der selbst eine Reihe von Kapiteln bzw. Abschnitten beigetragen hat. Es handelt sich um die folgenden: Kapitel I.4 (»Der Comic und seine Sprachen: Zum Comic als Medium«), III.2.7–9 (»Tim Vigils und David Quinns Faust als moderner (Super-)Antiheld«; »Christian Schieckels Faust als gezeichnetes Theater«; »Flix’ Faust-Komödie«) sowie Kapitel III.6 (»David Mazzucchellis, Paul Karasiks und Paul Austers City of Glass«). In Kooperation mit Christian Bachmann entstanden die Kapitel III.1.1 (»Popularisierung des Schulkanons: Classics Illustrated«) und III.1.4.3 (»Alice im Comicland«). Die übrigen Kapitel wurden von mir geschrieben. Mein Dank gilt ferner allen, die mit zur editorischen Betreuung und zur Gestaltung des Buches beigetragen haben, namentlich wiederum Christian Bachmann sowie Aniela Knoblich, Sylvia Kokot und Bernhard Stricker. Monika Schmitz-Emans
VI
VII
Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis Teil I: Der Comic als ›neunte Kunst‹ und die Literatur 1. 1.1 1.2 1.3 1.4 2. 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 3. 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 3.6 3.7 3.8 3.9 4. 4.1 4.2 4.3
Zur Einleitung. Der Comic und die Literatur . . . . . . . Genealogien des Comics . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Literaturwissenschaft und der Comic . . . . . . . . . Der Begriff des ›Literatur-Comics‹ als Arbeitsbegriff . . . Spielformen des Literatur-Comics . . . . . . . . . . . . . Der Comic als Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sind Comics überhaupt Kunst? . . . . . . . . . . . . . . Zur Idee einer ›neunten Kunst‹ . . . . . . . . . . . . . . Und was ist ›Kunst‹? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Konzepte des Künstlerischen . . . . . . . . . . . . . . . Impulse für die Auseinandersetzung mit Literatur-Comics Selbstverweise und Selbstbespiegelungen . . . . . . . . . Strategien der Autoreflexion I: Blicke in die Werkstatt des Zeichners . . . . . . . . . . . Strategien der Autoreflexion II: Selbstporträts oder Der Zeichner als gezeichnete Figur . Strategien der Autoreflexion III: Selbstwiederholung und Selbstparodie . . . . . . . . . . Strategien der Autoreflexion IV: Rahmungen . . . . . . . Strategien der Autoreflexion V: Comics im Comic . . . . Strategien der Autoreflexion VI: Mise-en-abyme-Strukturen Strategien der Autoreflexion VII: Zitate . . . . . . . . . Strategien der Autoreflexion VIII: Metacomics . . . . . . Strategien der Autoreflexion IX: Entfaltungen und Betonungen stilistischer Vielfalt . . . . Der Comic und seine Sprachen: Zum Comic als Medium Abriss einer Geschichte der Comics . . . . . . . . . . . . Die Sprachen des Comics . . . . . . . . . . . . . . . . . Rahmungsstrategien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Teil II: Der Comic im Spiegel anderer Darstellungsmedien und Künste 1. 1.1
Strategien der Autoreflexion X: Im Spiegel anderer Künste . . . 107 Bildende Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107
VIII 1.2 1.3 1.4
Inhaltsverzeichnis
Erzählen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Theaterspielen, Inszenieren, Varieté . . . . . . . . . . . . . . . Film und Zauberlaterne. Technische Medien der Bilderzeugung. . . . . . . . . . . . . . 1.5 Schriftzeichen als ästhetische Medien . . . . . . . . . . . . . . 2. Zur Selbstverortung des Comics im Kontext der Künste I: Der Zeichner als Dramaturg und Regisseur. Osamu Tezuka, Nanairo Inko und das Theater . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Ein gezeichneter Papagei auf dem Theater: Reinszenierungen und Paraphrasen dramatischer Weltliteratur . 2.2 Nanairo Inko als Metacomic . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Beispiele der Selbstbespiegelung des Comics im Drama . . . . 2.3.1 Kunst als Medium der Erkenntnis: Tezukas Hamlet-Version . . . . . 3. Zur Selbstverortung des Comics im Kontext der Künste II: Der Zeichner im Reich der Bildmedien: Stéphane Heuet, Prousts Recherche und die Entdeckung der Bilder . . . . . . . . 3.1 Poetik der Bilder bei Proust und Heuet . . . . . . . . . . . . . 3.2 Sehen (A): Das Auge als Protagonist. . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Sehen (B): Rahmen und Rahmendurchbrüche und die Bildgeschichte als Kunstkabinett . . . . . . . . . . . . 3.4 Sehen (C): Bildtypen, Bilderzeugungstechniken, Bildsequenzen. 3.5 Hommagen an ›lebendige‹ Bilder und ihre Erzeugungstechniken: Film und Zauberlaterne . . . . 3.6 Das Thema Imagination: Die Inszenierung der Madeleine-Episode . . . . . . . . . . . . 3.7 Konversationsstücke und gezeichnete Musik: Swanns Welt . . . 3.8 Zum Gesamtbild: Selbstbewusste Revisualisierungen . . . . . . 4. Kafka-Comics als mediale Verwandlungen: Reminiszenzen an Theater, Stummfilm, Literaturverfilmung, Filmreportage, Photoalbum – und den Jazz . . . . . . . . . . . 4.1 Kafka und die Schrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Kafka und der Film . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Kafka und seine Helden im Spiegel von Kafka-Comics . . . . . 5. Der Weg durch den Spiegel der Künste: Marc-Antoine Mathieus Comics, die Bibliothek und das Liebhaberkabinett . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Acquefacques’ Abenteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Die wichtigsten literarischen Ahnen: Kafka, Borges, Perec . . .
108 108 112 113
118 119 122 123 123
138 141 149 150 158 160 165 171 173
175 176 179 181
218 219 237
Inhaltsverzeichnis
IX
Teil III: Der Comic und die Weltliteratur 1. 1.1 1.2 1.3 1.4 1.4.1 1.4.2 1.4.3 1.5 1.6 2.
2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6 2.7 2.8 2.9 2.10 3. 3.1 3.2
Anschluss an den Kanon, Transformationen des Kanonischen: Der Literatur-Comic und die Kartierung der ›Weltliteratur‹ . . . Popularisierung des Schulkanons: Classics Illustrated . . . . . . . Unterhaltsame Vermittlung von Allgemeinwissen: Die Reihen Introducing … und … for Beginners . . . . . . . . . . Die Comic-Reihe als Darstellungsform des Kanons: Französische Bildgeschichten zu Gedichten und Dichtern . . . Comic-Anthologien als Darstellung von Weltliteratur in komprimierter Form. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Moga Mobos 100 Meisterwerke der Weltliteratur . . . . . . . . 50. Literatur gezeichnet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Alice im Comicland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Osamu Tezukas Nanairo Inko und die Weltliteratur . . . . . . . Eine Literaturgeschichte in Comic-Form: Cathérine Meurisses Mes hommes de lettres . . . . . . . . . . . . . Große Texte und Themen A: Vermittlung – Verwandlung – Vergleich: Faust-Comics im Dialog mit einem weltliterarischen Klassiker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Geschichte Fausts als Bildergeschichte . . . . . . . . . . . Kunst über Kunst: Zur Attraktivität des Faust-Dramas als Vorlage für Comic-Zeichner . . . . . . . . . . . . . . . . . Vermittlung – Verwandlung – Vergleich: Grundtypen der Beziehung des Comics zur literarischen Vorlage . . . . . . . . . Vermittlung: Goethe-Comics im Dienst des Wissens über einen weltliterarischen Klassiker . . . . . . . . . . . . . . Vergleich: Die Paragone von Hochliteratur und Zeichenkunst im Spiegel des Literatur-Comics . . . . . . . Verwandlung (A): Parodistische Kurzfassungen . . . . . . . . . Verwandlung (B): Tim Vigils und David Quinns Faust als moderner (Super-)Antiheld . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verwandlung (C): Christian Schieckels Faust als gezeichnetes Theater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verwandlung (D): Flix’ Faust-Komödie . . . . . . . . . . . . . … und der zweite Klassiker: Schiller-Comics . . . . . . . . . . Große Texte und Themen B: Heldentum und Helden-Comic: Adaptationen von Herman Melvilles Moby Dick . . . . . . . . . Heldenbilder in der Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . Helden-Comics . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
251 252 259 264 273 275 279 284 291 293
296 296 297 299 300 318 329 330 335 338 340 342 342 344
X 3.3 3.4 4. 4.1 4.2 4.3 4.4 5. 5.1 5.2 5.3 5.4 6. 6.1 6.2 6.3 6.4 7.
Inhaltsverzeichnis
Moby-Dick-Comics . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Heldenbilder: Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen . . . . Große Texte und Themen C: Wahlverwandtschaften: Dino Battaglia, Edgar Allan Poe und E.T.A. Hoffmann. . . . . Battaglias schauerromantische Sujets . . . . . . . . . . . . . . Stilistische Strategien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eingriffe in die stofflichen Vorlagen . . . . . . . . . . . . . . . Grenzüberschreitungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Große Texte und Themen D: Kulturübergreifende Totentänze: B. Traven zwischen den Sprachräumen . . . . . . . . . . . . . Rätselgestalt zwischen Kontinenten und Kulturen: B. Traven . . Die Geschichte des 20. Jahrhunderts im Spiegel eines Comic-Porträts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erzählung aus einer vielsprachigen Welt . . . . . . . . . . . . . Zeitkritik und Strategien der Autoreferenz . . . . . . . . . . . Große Texte und Themen E: David Mazzucchellis, Paul Karasiks und Paul Austers City of Glass . . . . . . . . . . . Der Bruch mit der Metaphysik des Kriminalromans . . . . . . »Ceci n’est pas une ville«: New York im Spiegel des Auster-Comics . . . . . . . . . . . . Die Kunst des Zitats . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beziehungen zu anderen Comics . . . . . . . . . . . . . . . . Bilanzen und Ausblicke: Ein neuer Orpheus: Dino Buzzatis Poema a fumetti. . . . . . . . . . . . . . . . . . .
345 360 361 361 362 364 366 369 369 371 374 382 385 385 388 399 404 408
Teil IV: Anhang 1. 1.1 1.2 2.
Literaturverzeichnis . . Primärliteratur . . . . . Sekundärliteratur . . . . Abbildungsverzeichnis .
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415 415 419 426
1
Teil I Der Comic als ›neunte Kunst‹ und die Literatur
2
Der Comic als ›neunte Kunst‹ und die Literatur
Zur Einleitung. Der Comic und die Literatur
1.
Zur Einleitung. Der Comic und die Literatur
1.1
Genealogien des Comics
3
Der Comic ist eine noch junge Kunst – so sehen es Kritiker, so sehen es Comic-Zeichner selbst. Allerdings werden manchmal lange Ahnenreihen in Erinnerung gerufen, wenn es darum geht, die Geschichte des Comics zu beschreiben. Die Erinnerung an Höhlenmalereien in prähistorischer Zeit gehört zu den Topoi des Diskurses über den Comic. So stellt zum Beispiel Andreas Knigge ein Kapitel eines seiner Bücher über den Comic unter den Titel »Von der Höhlenmalerei zum Comic«.1 Auch in dem Katalog Comic Welten setzt die Schilderung der Geschichte des Comics bei den Höhlenmalereien an.2 Einerseits ist es sinnvoll, den Comic im Kontext der langen Geschichte der Bilderzählung zu sehen, andererseits spricht auch vieles dafür, seine eigentliche Geschichte erst mit dem späten 19. Jahrhundert beginnen zu lassen.3 In dieser Zeit gehen die Verleger der großen Tages- und Wochenzeitungen dazu über, komische Bildgeschichten abzudrucken, die schnell das Interesse einer breiten Leserschaft finden. Für Andreas Platthaus liegen Comics erst vor, als die Verknüpfung von Bild und Text zum »bestimmende[n] Element« der Bildgeschichte wird und die Zeichner zudem für sich beanspruchen, ein neuartiges Genre des Erzählens mit Bildern geschaffen zu haben. 1
2
3
Andreas C. Knigge, Alles über Comics, Hamburg 2004, S. 89 ff. (vgl. dazu auch Kap. I.3.8 in diesem Band); Knigge führt eine Vielzahl von frühen Text-Bild-Kombinationen an, darunter ägyptische Papyri mit Hieroglyphentexten und Bildern, die Trajanssäule, den Teppich von Bayeux, Hogarths Bildgeschichten und Bilderzyklen zu religiösen Themen. Vgl. Comic Welten. Die Ausstellung. Hrsg. von Gerhard Habarta, Texte von Harald Havas, Wien 1992, S. 14. Vgl. dazu Lambert Wiesing, »Die Sprechblase. Reale Schrift im Bild«, in: Alexandra Kleihues (Hrsg.), Realitätseffekte. Ästhetische Repräsentation des Alltäglichen im 20. Jahrhundert, München 2008, S. 25–46. Wiesing differenziert zwischen zwei grundsätzlichen Thesen zum Comic: Der ersten zufolge hat dieser eine lange (Vor-)Geschichte, der zweiten zufolge ist er als eine »Bildform sui generis« erst am Ende des 19. Jahrhunderts entstanden (vgl. S. 25 f.). Als Vertreter der ersten These (»Kontinuitätsthese«) nennt Wiesing Scott McCloud (Understanding Comics), Andreas Platthaus (Im Comic vereint) und David Kunzle (The Early Comic Strip). Die Gegenthese vertritt u. a. David Carrier (The Aesthetics of Comics). Vgl. ferner ausführlich dazu: Jens Balzer/Lambert Wiesing, Outcault. Die Erfindung des Comic, Bochum, Essen 2010.
4
Der Comic als ›neunte Kunst‹ und die Literatur
Dieses Selbstverständnis haben die Zeichner der ersten »Funny Papers« oder »Comic Papers«, die als Zeitungsbeilagen erschienen. Ein prominenter früher Comic-Zeichner ist Richard F. Outcault, der die Sprechblase kreiert und insofern gelegentlich auch als eigentlicher Initiator des Comics bezeichnet wird.4 Helmut Heißenbüttel hat sich in einem Aufsatz über die Vor- oder Frühgeschichte des Comics auf kunsthistorische Forschungen bezogen, die die Karikaturen George Cruikshanks als wichtige Wegbereiter des Comics verstehen, weil hier das Strukturelement der Sprechblase vorweggenommen ist.5 Auch Wilhelm Busch wird zu den Ahnen der Comic-Zeichner gezählt; zum einen finden sich schon in seinen Geschichten Text- und Bildanteile kombiniert, wenngleich klar separiert; zum anderen hat er den Stil der frühen, teilweise deutschstämmigen Comic-Zeichner in Amerika beeinflusst.6 Ein anderer Vorläufer ist Rodolphe Töpffer. Bei diesem stehen die Texte noch unter den Bildern, haben allerdings einen engen Bezug zu ihnen. Auch viel spätere Bildgeschichten, die allgemein als ›echte‹ Comics gelten (wie Hal Fosters Prinz Eisenherz) sind entsprechend komponiert; um der Illusionistik der Zeichnungen willen wird auf Sprech- und Denkblasen verzichtet; der Text ist vom Bild getrennt, wenn er es auch begleitet. Zu Recht konstatiert Andreas Knigge einen fließenden Übergang zwischen Bildergeschichte und Comic sowie eine entsprechende Schwierigkeit, den Comic trennscharf zu definieren.7 In den ersten Jahrzehnten ihrer noch nicht allzu langen Geschichte bestehen Comics aus kurzen ›Strips‹. Erst später entsteht die Form des ComicHeftes. Noch jünger ist die sogenannte ›Graphic Novel‹, ein für ComicBücher verwendeter, dabei aber unterschiedlich interpretierter Begriff. Will Eisner, US-amerikanischer Comic-Pionier, führt ihn in den 1970er Jahren ein, um Formate zu bezeichnen, die durch ihren nicht festgelegten Umfang den künstlerischen Gestaltungsbedürfnissen der Comic-Zeichner besser entgegenkamen als die allzu homogenen Heftformate der Serienproduktion. 4
5
6 7
Die Erfindung der Sprechblase durch Outcault ist für Jens Balzer und Lambert Wiesing das Kriterium, diesem den Rang des Comic-Pioniers zuzusprechen (vgl. Balzer/Wiesing, Outcault). Auch der von Wiesing (»Die Sprechblase«, S. 26) als Anhänger der Kontinuitätsthese angeführte Andreas Platthaus bezeichnet Outcault als Erfinder des Comics (vgl. Andreas Platthaus, Die 101 wichtigsten Fragen. Comics und Manga, München 2008, S. 16 f. und S. 18 f.). Helmut Heißenbüttel, »Die Rache der Sprechblase. Das verachtete Medium«. Der Text findet sich in dem Band: Von fliegenden Fröschen, libidinösen Epen, vaterländischen Romanen, Sprechblasen und Ohrwürmern. 13 Essays, Stuttgart 1982, S. 99–110. Platthaus, 101 Fragen, S. 17–19. Knigge, Alles über Comics, S. 14.
Zur Einleitung. Der Comic und die Literatur
5
Bemerkenswerterweise sind viele der frühen Comics autoreferentiell. Die Arbeiten von George Herriman (Krazy Kat) mit seinen sich wiederholenden und sich insofern ständig selbst zitierenden Episoden und Lyonel Feininger, der sich als Marionettendirektor seiner Figuren vorstellt, sind prominente Beispiele dafür (siehe Kapitel I.3).
1.2
Die Literaturwissenschaft und der Comic
Für die Literaturwissenschaft gibt es mehrere Gründe, sich für den Comic zu interessieren: Die These, der Comic sei selbst Literatur, ist schon vor Jahrzehnten vertreten worden – unter anderem von Dichtern. H. C. Artmann schreibt 1964 in Das suchen nach dem gestrigen tag oder schnee auf einem heissen brotwecken, anknüpfend an Bemerkungen seines Kollegen John Steinbeck, in denen dieser sich ironisch über die (aus seiner Sicht typisch europäische) Differenzierung zwischen hoher und niedriger Kultur äußert: »Es wäre heute immerhin an der zeit [sic], sich bei uns zu bequemen, Comic Writing als das anzuerkennen, was es schon längst geworden ist, nämlich Literatur.«8 Artmann erwartet sich zu dieser Zeit gerade vom Comic wichtige Impulse für eine zukünftige Literatur und prognostizierte, auch die Wissenschaft werde sich mit dem bis dato verachteten Comic noch eingehend befassen. Helmut Heißenbüttel erinnert rund zwei Jahrzehnte später an Artmanns Prognosen und setzt sich selbst mit der Frage auseinander, welche comicspezifischen Stilmittel für die zeitgenössische Literatur anregend sein könnten.9 Hans Magnus Enzensberger hat mit seiner Anthologie Das Wasserzeichen der Poesie (unter dem Pseudoym Andreas Thalmayr) »hundertvierundsechzig Spielarten« des Gedichts vorgestellt.10 In derjenigen Abteilung des eigen8
9
10
H. C. Artmann, Das suchen nach dem gestrigen tag oder schnee auf einem heissen brotwecken. eintragungen eines bizarren liebhabers, Olten, Freiburg i. Br. 1964, S. 41 f., 14. Oktober [1964]. Helmut Heißenbüttel, »Versuch über Moebius«, in: Rowohlt Literaturmagazin 15: Die Aufwertung der Peripherie. Essays – Briefe – Porträts – Erzählungen – Gedichte – Prosa. Hrsg. von Martin Lüdke und Delf Schmidt, Reinbek bei Hamburg 1985, S. 100–112. Andreas Thalmayr [= Hans Magnus Enzensberger], Das Wasserzeichen der Poesie oder Die Kunst und das Vergnügen, Gedichte zu lesen, in hundertvierundsechzig Spielarten vorgestellt von Andreas Thalmayr, Frankfurt am Main 1997 (zuerst: Nördlingen 1985). Der Band gliedert sich in verschiedene Abteilungen, die poetischen Verfahren, rhetorischen Mitteln, meta- und paratextuellen Beziehungen, metrischen Formen und Reimschemata sowie anderen Aspekten des Lyrischen gewidmet sind.
6
Der Comic als ›neunte Kunst‹ und die Literatur
Abb. 1: »Großmutter Schlangenköchin« (Andreas Thalmayr (d.i. Hans-Magnus Enzensberger), Das Wasserzeichen der Poesie, S. 336)
willig systematisierten Bandes, welche verschiedenen Strategien visueller Darstellung poetischer Texte gewidmet ist, findet neben dem Kalligramm, dem Bildgedicht, dem Rebus und anderen Formen bildbezogener Poesie auch der Comic Berücksichtigung (Siebentes Hauptstück, CXII), und zwar in Gestalt eines als Comic dargestellten poetischen Textes.11 In eine Folge von vier Zeichnungen mit integrierten Sprechblasen übersetzt wurde das 11
Er wird – wie es heißt – vorgestellt in Gestalt einer »Ballade, die sich in eine Bildserie auflöst. Die Worte des Dichters werden zu Sprechblasen oder zu Bildlegenden« (Thalmayr, Wasserzeichen, S. XXI = kommentiertes Inhaltsverzeichnis; Angabe zum Siebenten Hauptstück, Kap. CXII, des Bandes). Der Text entstammt der Sammlung: Des Knaben Wunderhorn. Alte deutsche Lieder gesammelt von L. A. v. Arnim und Clemens Brentano. Erster Theil. 2. Aufl. Heidelberg 1819, S. 19 f. (zit. nach: Thalmayr, Wasserzeichen, S. 472). Der Comic von »Bernd Brummbär« ist eine Erstveröffentlichung; er besteht aus vier Zeichnungen im Stil von Leuchtreklamen.
Zur Einleitung. Der Comic und die Literatur
7
Gedicht Großmutter Schlangenköchin aus Arnims und Brentanos Sammlung Des Knaben Wunderhorn.12 Die einzelnen jeweils ganzseitigen Elemente der Bildsequenz sind aus gegenständlichen Darstellungen und Sprechblasen komponiert; die Textbestandteile geben das Schlangenköchin-Gedicht in der originalen Abfolge der Verse und als Ganzes wieder. Der Comic-Zeichner transferiert hier den volkstümlich klingenden Balladentext nicht allein in seine eigene dezidiert zeit- und kulturspezifische Bildsprache, sondern er legt den Bericht des Mädchens Maria über einen Besuch bei der Schlangenköchin zudem auf eine sehr pointierte Weise aus. Die Bilder präsentieren unmissverständlich pornographische Motive, und sie wirken wie Leuchtreklamen aus dem Rotlicht-Milieu, erstrahlend in aggressivem Grün, Gelb, Rot und Pink vor schwarzem Hintergrund. Das erste Bild zeigt eine Schlange: ein polyvalentes Symbol, das einerseits wie ein Zitat aus dem rätselhaft-vieldeutigen Balladentext des Wunderhorns wirkt, andererseits eine (erotische) Verführung assoziieren lässt, wie sie zur Bildsprache des Zeichners passt. Doch auch die Schrift-Linien auf den folgenden Bildern können als Umsetzungen des Schlangenmotivs gedeutet werden, so dass die Werkstatt des Zeichners sich selbst implizit als ›Schlangenküche‹ zu erkennen gibt. Und so ergeben sich mehrfache Spiegelungsbeziehungen: Die Bildgeschichte bietet ein verformtes, als solches aber erkennbares Spiegelbild des Ausgangstextes; das Rotlicht-Milieu wird zum zeitgenössischen Spiegelbild der Hexenküche, aber auch der Zeichner selbst präsentiert sich implizit als Schlangenbeschwörer und Hexenkoch. Im Motiv der Schlangenlinie als Sinnbild der Versuchung, aber auch als einer vielfältig semantisierten ästhetischen Grundfigur bespiegelt sich auf (allerdings mehrdeutige) Weise die Relation zwischen poetischer Vorlage und zeichnerischer Umsetzung: Wurde der Zeichner vom Text in Versuchung geführt – oder ist seine pornographische Bilderzählung selbst die Versucherin? Durch seine Berücksichtigung in der Wasserzeichen-Anthologie wird der Comic implizit als eine Spielform des Poetischen interpretiert – Anlass genug, über die Beziehung dieses Genres zum Literarischen nachzudenken. Wie das Schlangenküchen-Beispiel zeigt, ist diese Beziehung vielschichtig. Erstens bestehen fundamentale strukturelle Analogien zwischen der Darstellungsform des Comics als einer narrativen Form und den verschiedenen Gattungen literarisch-poetischen Erzählens; gerade die Spannung zwischen dieser strukturellen Analogie und medial bedingten Differenzen macht die zeichnerische Paraphrase literarischer Vorlagen für Produzenten und Rezipienten gleichermaßen reizvoll. Zweitens bedienen sich Comic-Zeichner 12
Thalmayr, Wasserzeichen, S. 336–343.
8
Der Comic als ›neunte Kunst‹ und die Literatur
vielfach solcher Bilder und Symbole, die auch in literarischen Texten verwendet werden, und das semantische Potential dieser Bildelemente ist von ihren literarischen Kontexten meist maßgeblich mitgeprägt. Drittens liegt bei der Visualisierung eines poetischen Textes in Comic-Form ein mehrschichtiger Fall von Intermedialität vor: eine Transformation der ursprünglich sprachlichen Vorlage ins Visuelle, aber auch eine Kombination verbaler und bildlicher Ausdrucksmittel. Grund 2 wäre damit schon klar: Der Comic als hybride Kunst bietet für Fragen der Intermedialitätsforschung besonders reichhaltiges Anschauungsmaterial. Von Interesse ist das Zusammenspiel, aber auch die vielfach eigens inszenierte Spannung zwischen Sprachlichem, Schriftlichem und Bildlichem. Zusammengesetzt aus Text- und Bildanteilen (zumindest in der überwiegenden Zahl der Fälle), ist der Comic als solcher eine ›intermediale‹ Kunst. Insofern kann er als Demonstrationsfall der These von der grundsätzlichen Intermedialität der Künste gelten. Martin Seel spricht von der »konstitutiven Intermedialität der Künste«13 und erinnert an Adornos Bemerkung über die moderne »Verfransung« der Kunstformen.14 Adorno hatte diese mit den avantgardistischen Montagen einsetzende Verfransung als subversiv betrachtet – bezogen auf tradierte Vorstellungen kanonischer Kunst, als Angriff auf »ein Ideal von Harmonie, das sozusagen geordnete Verhältnisse innerhalb der Gattungen als Bürgschaft von Sinn voraussetzt«; es sei, so Adorno, »als knabberten die Kunstgattungen, indem sie ihre festumrissene Gestalt negieren, am Begriff der Kunst selbst.«15 Diesem Befund gegenüber nehmen sich Ansätze wie der Scott McClouds, den Comic in ein ganz konventionelles Gefüge von Kunstgattungen zu integrieren, auffallend brav aus. Letztlich spielt die Frage nach einer Abgrenzbarkeit zwischen Kunst und Nicht-Kunst in Diskursen über den Comic aber eine weniger wichtige Rolle als die nach der Beschreibbarkeit seiner spezifischen Intermedialität. Denn es besteht, sofern dieser Punkt in theoretischen Ausführungen über den Comic berührt wird, Konsens darüber, dass die Text-Bild-Beziehung hier nicht einfach als additiv begriffen 13
14
15
Vgl. Martin Seel, Ästhetik des Erscheinens, Frankfurt am Main 2003 (zuerst 2000), S. 179: »In jeder Kunstart […] bestehen vielfache inhärente Beziehungen zu anderen Künsten, obwohl nicht jede Kunst sie zu allen Künsten unterhält. Diese Beziehungen sind nicht etwas, wodurch die jeweilige Gattung erweitert werden kann, sie sind grundlegend für ihre Verfassung als eine unter anderen künstlerischen Gattungen.« Vgl. Theodor W. Adorno, Ohne Leitbild. Parva Aesthetica, in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 10.1: Kulturkritik und Gesellschaft I, Frankfurt am Main 1967, Kap. »Die Kunst und die Künste«, S. 432–453, hier S. 433. Ebd., S. 179.
Zur Einleitung. Der Comic und die Literatur
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werden kann. Vielmehr stellt der Comic die Abgrenzung zwischen Schriftlichem und Bildlichem, damit aber auch zwischen Sprachlichem und Visuellem als solche in Frage. Damit kommt er einem bereits seit längerer Zeit leitenden theoretischen Interesse der Medientheoretiker und Ästhetiker in besonderem Maße entgegen.16 In die Diskussion, die im Zusammenhang mit dem vielfach proklamierten ›pictorial‹ oder ›iconic turn‹ über die Beziehung zwischen Sprachlichkeit und Bildlichkeit geführt worden ist, hat W. J. T. Mitchell sich mit seinem Konzept des Bild-Textes in einer Form eingeschaltet, die evidenterweise durch den Comic in hohem Maße plausibilisiert wird.17 Jedem Text inhäriert für Mitchell eine bildliche, jeder visuellen Darstellung eine sprachliche Dimension, und so gelte es nicht, angeblich reine Bilder mit angeblich reinen Texten zu vergleichen, sondern die Verschränkung von bildlicher und sprachlicher Dimension in ihren verschiedenen Spielformen nachzuvollziehen. Dies genau ist für Literatur-Comics von Belang, und hier bieten sie auch besonders vielfältiges und teilweise raffiniertes Anschauungsmaterial. Mitchell unterscheidet zwischen ›vernähten‹ (bruchlosen und daher unauffälligen) TextBild-Kombinationen sowie spannungsvollen oder sogar brüchigen. Er selbst tendiert dazu, den Comic unter den ›vernähten‹ Formen zu lokalisieren, hat dabei aber auch offenbar nur konventionelle Comics im Blick. Demgegenüber lohnt es sich, Bildgeschichten in Comic-Form auf die Inszenierung von Spannungen und Brüchen zwischen bildlicher und textueller Ebene hin zu betrachten. Comics zu literarischen Vorlagen sind hier wohl besonders ergiebig, weil die textliche Dimension nicht allein den in die Bilderzählung integrierten Text umfasst, sondern auch den Ausgangstext im Hintergrund. Eine für die Untersuchung von Comics besonders fruchtbare Frage lautet:
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Im Comic gibt es evidenterweise eine Vielzahl von Formen, Rede und andere Manifestationsformen von Sprache darzustellen (als Repräsentation, als Realie, als Prozess …) und darstellend zu interpretieren. Ein Pionier des Comics ist Walt Kelly, der in seiner Serie Pogo die einzelnen Figuren durch die für ihre Sprechblasen verwendeten Schrifttypen charakterisiert hat. Diese Idee haben viele spätere Zeichner aufgegriffen. Vgl. zum Thema die Abhandlungen, die in einem rezenten Sammelband wiederveröffentlicht wurden: W. J. T. Mitchell, Bildtheorie, hrsg. u. mit einem Nachwort von Gustav Frank, Frankfurt am Main 2008. Mitchell vertritt die Überzeugung, »daß wir einen großen Teil unserer Welt aus dem Dialog zwischen sprachlichen und bildlichen Darstellungen erschaffen […]« (ebd., S. 77). – »Alle Künste sind, kurz gesagt, ›komposit‹ (bestehen aus Text und Bild); alle Medien sind Mixed Media, die verschiedene Codes, diskursive Konventionen, Kanäle und sensorische und kognitive Modi kombinieren.« (Ebd., S. 152).
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Der Comic als ›neunte Kunst‹ und die Literatur
Wie wird Sprache zeichnerisch inszeniert?18 Dass gerade hier der Comic Darstellungsstrategien aufzuweisen hat, die für ihn allein spezifisch sind, hat Lambert Wiesing mit Bezug auf die Sprechblase dargelegt, die seiner Deutung zufolge einen eigentümlichen Sonderstatus besitzt, insofern sie eine in die bildliche Repräsentation hineincollagierte Realie ist.19 Im Medium der Schrift durchkreuzen sich visuelle und sprachliche Darstellungsformen; Mitchell spricht bezogen auf die Schrift von einer »Vernähung des Visuellen und des Verbalen«.20 Der Comic als ein ›gemischtes Medium‹ kann gleichsam als eine Art Meta-Schrift betrachtet werden, insofern er verschiedene Formen der »Vernähung« von Text und Bild demonstriert.21 Allerdings trennen manche Comics die Vernähung von bildlicher und sprachlicher Darstellungsebene auch wieder auf, stellen ihre Selbstverständlichkeit zumindest in Frage. So provozieren manche Literatur-Comics, die auf ein Vorwissen des Betrachters über kanonische literarische Texte setzen, zu der Frage, wie ernst sie die durch ihre Titel in Erinnerung gerufenen Textvorlagen überhaupt nehmen und inwiefern sich hier das Bild ostentativ von seinem Prätext (als bloßem Vorwand) distanziert.22 Comics entstehen vielfach als Dokumente der Rezeption literarischer Texte; das ist ein weiterer Grund für eine literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit ihnen. Literaturverfilmungen sind ein mittlerweile etabliertes Forschungsgebiet. Literatur-Comics sind mit Literaturverfilmungen in mehrerlei Hinsicht vergleichbar: Auch sie sind Visualisierungen von Texten, in der Regel Paraphrasen 18
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Mitchell hat auf die Implikationen unterschiedlicher Formen visueller Darstellung etwa von Sprechakten hingewiesen; eine aus dem Innern einer Figur austretende Sprechblase suggeriert über das Verständnis von Rede etwas anderes als eine gestisch dargebotene Schriftrolle in den Händen der Figur. »Die Schrift in einer Sprechblase ist kein Bild von Schrift! In einer Sprechblase wird nicht das Bild von Schrift gezeigt, sondern eine im Bild vorhandene Sprechblase ist eine wirkliche Sprechblase. Das Comic-Bild enthält einen realen Gegenstand; man kann ohne jede Einschränkung so weit gehen und jedes Comic-Bild aufgrund der Sprechblase als eine Collage bezeichnen.« (Wiesing, »Die Sprechblase«, S. 31). Mitchell, Bildtheorie, S. 153. Beispiele dafür bietet u. a. die Reihe … en bandes dessinées (vgl. dazu Kap. III.1.3.1). Eine andere Strategie der Reflexion über den Bezug zwischen bildlicher und sprachlicher Sphäre, die einerseits auf deren ›Vernähung‹ im Sinne Mitchells setzt, andererseits durch deren Ostension auf ironische Distanz rückt, liegt im Wörtlichnehmen geläufiger Redensarten oder individuell-prägnanter Ausdrücke. Robert Crumbs Kafka-Comic visualisiert wiederholt Wendungen Kafkas – wie die von der jeden Tag gegen das eigene Ich zu richtenden Zeile – in einer Weise, die die Befremdlichkeit des entsprechenden Sprachbildes betont (vgl. dazu Kap. II.4.3.1).
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von in Texten erzählten Geschichten. Auch sie vermitteln dabei zum einen Wissen über diese Texte, stellen zum anderen aber auch Verwandlungen, Verformungen, Verfremdungen dessen dar, worauf sie beruhen. In jedem Fall macht es Sinn, zwischen einer Vorlage und einer Umsetzung dieser Vorlage zu unterscheiden – und beide miteinander zu vergleichen. Eine andere Kunstform, mit der man den Literatur-Comic vergleichen könnte, ist die Inszenierung von geschriebenen Dramen auf der Bühne.23 Die Frage ist auch hier, was von dem der Inszenierung zugrundeliegenden Text anlässlich der Aufführung ›übrigbleibt‹, was sich verwandelt – und was hinzukommt. Während im Film und bei der Inszenierung der Vorlagentext, sofern er wiederholt wird, in der Regel die Gestalt gesprochener (hörbarer) Rede annimmt (Ausnahmen sind denkbar), bietet der Comic die Möglichkeit, ihn als Text zu zitieren. Allerdings kann der Ausgangstext natürlich auch verwandelt (umgeschrieben) werden. In jedem Fall handelt es sich bei der Produktion eines Literatur-Comics ebenso wie bei einer Literaturverfilmung und einer Drameninszenierung um Rezeptionsprozesse, in deren Verlauf ein neues Werk entsteht. Abgesehen vom jeweils eigenen Anspruch dieses neuen Werks auf die Wahrnehmung seiner Eigenart eröffnet es auch Perspektiven auf seine Vorlage: Es hebt an dieser das eine hervor, lässt das andere unberücksichtigt, setzt Akzente, verwandelt, verdeutlicht. Literatur-Comics lassen sich im Übrigen aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten: Wir können nach dem Bezug zum Ausgangstext fragen, wir können versuchen, das Interesse des Zeichners und des Szenaristen an diesem Ausgangstext zu erschließen, wir können nach dem Kunstcharakter des Comics selber fragen. Im vorliegenden Buch sollen Fallstudien präsentiert werden, um die Fülle der Perspektiven aufzuzeigen, unter denen Literatur-Comics literaturwissenschaftlich interessant sind.
1.3
Der Begriff des ›Literatur-Comics‹ als Arbeitsbegriff
Von einem Literatur-Comic soll im Folgenden dann die Rede sein, wenn sich ein Comic auf einen literarischen Text (oder mehrere) in einer Weise bezieht, die der Beziehung zwischen Hypertext und Hypotext im Sinne Gérard Ge23
Ob man bei der Übertragung einer literarischen Vorlage in einen Comic von einer ›Übersetzung‹ sprechen möchte, hängt davon ab, wie weit man den Übersetzungsbegriff fasst, ob man die Bildelemente des Comics als ›Sprache‹ bezeichnen, respektive, ob man ›Übersetzung‹ als ein Geschehen zwischen zwei Sprachen verstehen möchte.
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Der Comic als ›neunte Kunst‹ und die Literatur
nettes analog ist.24 Unter dem Begriff des Literatur-Comics lassen sich unter diesen Voraussetzungen nicht nur solche Comics subsumieren, die als bilderzählerische Darstellungen bestimmter Vorlagentexte zu beschreiben sind. Hinzuzurechnen wären noch andere ›literaturbezogene‹ Comics: (a) Bilderzählungen, die wie Pastiches auf Vorgaben verschiedener Provenienz beruhen, also etwa auf zwei oder mehreren Texten, (b) Bilderzählungen über die Verfasser literarischer Texte, (c) Bilderzählungen über die Entstehung und den Entstehungskontext literarischer Texte. Während manche Comics auf literarische Texte ganz offen Bezug nehmen, belassen andere es bei Anspielungen. Während es manchen darum geht, Wissen über ihren »Hypotext« zu vermitteln, treiben andere ein parodistisches Spiel mit ihm. Während die einen ihren »Hypotext« ganz oder teilweise zitieren, ersetzen ihn andere durch Paraphrasen oder verzichten ganz auf ihn. Steht in manchen Literatur-Comics der zugrundeliegende Text im Mittelpunkt des Interesses, wird er in anderen an den Rand gedrängt. In jedem Fall bedeutet die Bezugnahme auf einen literarischen »Hypotext« nicht, dass der Comic sich selbst darauf beschränkt, auf diesen hinzuweisen, ihn zu beschreiben, ihm zu dienen. In der Art des Umgangs der Zeichner und Szenaristen mit ihren Vorlagen kommt ihr eigenes künstlerisches Selbstbewusstsein zum Ausdruck. An dieser Stelle eine These, die im Folgenden an Beispielen plausibilisiert werden soll: Durch seine Kontaktaufnahme mit der Literatur profiliert sich der Comic als Kunstform (vgl. dazu Teil III: Der Comic und die Weltliteratur).
1.4
Spielformen des Literatur-Comics
Nacherzählungen oder Kurzdarstellungen literarischer Texte in ComicForm sind in sehr unterschiedlichen Formaten und Spielformen realisiert worden.25 Autoren-Comics setzen sich mit Texten und Autoren der Literatur zunehmend häufiger auseinander, knüpfen auf manchmal durchaus eigenwillige Weise an diese an, sei es in Form von Variationen über literarisch vorgegebene Stoffe, Motive und Themen, sei es in Form von Autoren24
25
Vgl. Gérard Genette, Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe, Frankfurt am Main 1993. – Der Begriff des ›Literatur-Comics‹ ist nicht als definitorischer Begriff konzipiert, der trennscharf zu bestimmen hilft, was unter diese Rubrik fällt und was nicht, sondern vielmehr als Arbeitsbegriff. Zum gegenwärtigen Boom an Comic-Adaptationen literarischer Texte vgl. Andreas Völlinger, »Guter Stoff ? Romanadaptionen erobern den Markt«, in: Comicgate Magazin 3 (2009), S. 22–31.
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porträts. Ganze Reihen mit Comics zu literarischen Werken sind entstanden und werden von Zeichnerkollektiven bedient. Das Spektrum der Spielformen von Reihenpublikationen reicht von der vereinfachenden und auf Eingängigkeit zielenden Nacherzählung literarischer Plots unter Verwendung konventioneller Darstellungsformen des Comics bis zur stilistisch eigenwilligen Adaptation literarischen Kanonwissens für die popkulturelle oder auch für eine spezifische Insiderszene von Lesern. Zu unterscheiden sind im Bereich der Reihen ganz verschiedene Formate, Konzepte und Intentionen: – Reihen von relativ einheitlicher Ausstattung stehen solche gegenüber, für welche der jeweilige Individualstil der Zeichner und Texter prägend ist. – Reihen von vorrangig informativem Charakter, die einen nicht spezifisch vorgebildeten Leserkreis mit literarhistorischem Wissen versorgen wollen, unterscheiden sich von solchen, die sich an ein bereits informiertes Publikum wenden, das Anspielungen versteht und gebotene Interpretationen zu kontextualisieren weiß. Im Bereich der konkreten graphischen Umsetzung von Texten ergeben sich die vielfältigsten Möglichkeiten: – von Bilderzählungen, die eine literarische Fabel unter radikaler Kürzung des Ausgangstextes durch Bildfolgen paraphrasieren, bis zu solchen, die den gesamten Ausgangstext mit Bildern verbinden und präsentieren, – von Text-Bild-Kombinationen, bei denen Zeichnungen den abgedruckten Text kommentierend und interpretierend umspielen, bis zu Bildarrangements, die ganz ohne Text auskommen und nur durch ihren Titel auf eine literarische Vorlage verweisen. Im Bereich der graphisch-narrativen Transformation von Einzelwerken bietet sich ebenfalls ein Spektrum von Gestaltungsmöglichkeiten. Zusätzliche Ausdifferenzierungen ergeben sich durch verschiedenartige paratextuelle Arrangements. Kommen manche Literatur-Comics ohne weitere Paratexte wie Einleitung und Apparat aus, so werden andere ausführlich gerahmt, und wieder andere integrieren Hinweise auf literarische Vorlagen in größere Erzählungen. Einen Sonderfall bieten Sammelbände mit Einzel-Comics verschiedener Autoren, die als Ensemble präsentiert werden. Nicht immer geht es im Literatur-Comic um bestimmte Einzeltexte. Neben Comic-Versionen einzelner, oft kanonisierter und entsprechend berühmter Werke stehen bei den Reihen- wie bei den Einzel-Comics Porträts literarischer Autoren (meist mit integrierten Hinweisen auf deren Werke) oder auch aus Einzelwerkporträts zusammengesetzte Autoren-Bände. Comics mit Autorenporträts kommen ebenso wie andere ›didaktische‹ Comics einem aktuellen Trend zur
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Der Comic als ›neunte Kunst‹ und die Literatur
Popularisierung von Wissen entgegen. Fließend sind die Übergänge zwischen Literatur-Comic und illustriertem Bilderbuch26 sowie zwischen Literatur-Comic und Comic-Erzählungen mit integrierten literarischen Anspielungen. Was immer als eine spezifische Kunst oder als ein künstlerisches Medium betrachtet und verhandelt wird, ist Produkt komplexer Ausdifferenzierungen gegenüber anderen Künsten bzw. Medien. Der Literatur-Comic als eine Bilderzählung ›über Literatur‹ erlaubt es, jenen Prozess einer ›wechselseitigen Erfindung‹ der Kunstformen exemplarisch zu beobachten. Und zwar aus doppelter Perspektive: Erstens modelliert (›erfindet‹) sich die Gattung des Comics im Prozess ihrer reflexiven und gestalterischen Auseinandersetzung mit der Literatur selbst. Zweitens reflektiert und modelliert sie dabei auch ›die‹ Literatur. Literarästhetische Konzepte fließen zumindest implizit, manchmal auch explizit in die Auswahl, die Darstellungsweise und die Interpretationsoder Transformationsstrategien ein. Dass solch implizite literarästhetisch-theoretische Implikationen in die Auseinandersetzung von Comic-Autoren mit Literatur einfließen, zeigt sich in zwei Bereichen besonders deutlich: – Als Autoren-Porträts angelegte Literatur-Comics nehmen Bezug auf den Diskurs über Autorschaft und beruhen auf einem zumindest impliziten Vorverständnis von Autorschaft. – Sammelbände und Comic-Reihen, die der Auseinandersetzung mit verschiedenen Werken oder Autoren gelten, stehen in impliziter Korrespondenz zu Prozessen der Kanonbildung. – Implizit, manchmal auch explizit, beruht die Auswahl der Ausgangstexte für Sammelbände und Reihen auf eingeflossenen Vorstellungen über ›Weltliteratur‹ (siehe dazu Kapitel III.1) – sei es, dass diese im qualitativen Sinn über ästhetischen Rang, Wirksamkeit oder konkrete Kanonisierungen (Schullektüren!) bestimmt wird, sei es auch, dass sie im Sinn des Interesses an internationalen und transnationalen kulturellen Phänomenen als eine Literatur der verschiedenen Nationen und Kulturen in den Blick rückt.
26
Bilderbücher und Bilderbuchreihen zu literarischen Autoren bedienen sich gern der Stilmittel des Comics; die Grenzen zwischen konventionellem Bilderbuch und Comic-Erzählung sind entsprechend offen.
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Abb. 2: Titelblatt des 1. Hefts der Reihe Classics Illustrated – Alexandre Dumas: The Three Musketeers. Die Idee, literarische ›Klassiker‹ zur Vorlage für Comic-Bücher zu nehmen, ist vor allem verbunden mit dem Namen Albert Kanters, eines russischen US-Einwanderers, der zum einen die wachsende Popularität der Comic-Bücher ökonomisch nutzen wollte, zum anderen aber auch hoffte, auf diese Weise das an Comics interessierte jugendliche Publikum für die Klassiker gewinnen zu können.27 Die Adaptationen der Comics verbanden sich daher mit der Ermahnung, dieser Lektüre die der adaptierten Texte selbst folgen zu lassen: »Now that you have read the ›Classics Illustrated‹ edition, don’t miss the added enjoyment of reading the original, obtainable at your school or public library.«28 Die Classics Illustrated unterstrichen ihren ›seriösen‹ Anspruch auch durch Verzicht auf die Integration von Reklame. Und wie Schulbücher wurden sie vielfach in mehreren Auflagen publiziert. Zudem war ihr Umfang größer als der ›konventioneller‹ Comic-Hefte, obwohl er nach einiger Zeit reduziert werden musste. Hatte der Verlag Gilberton Company die ersten adaptierten Klassiker noch unter dem Serientitel Classic Comics veröffentlicht, wurde dieser unter Kanters Einfluss 1947 in Classics Illustrated geändert. Den Anfang machte hier Nr. 34 der Reihe,
27
28
Vgl. Rocco Versaci, This Book Contains Graphic Language. Comic as Literature, London 2007, Kap. »Illustrating the Classics«. Charles Dickens, A Tale of Two Cities, New York 1967 (=Classics Illustrated Nr. 6), S. 47.
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Der Comic als ›neunte Kunst‹ und die Literatur
Mysterious Island. »The name ›Classics Illustrated‹ is the better name for your favorite periodical. It really isn’t a comic … it’s the illustrated, or picture, version of your favourite classics«.29 Die Klassifikation als ›Comic‹ erschien ihm also als abwertend, obwohl er auf die genuinen Mittel des Comics setzte – eine paradoxe Haltung, wie Versaci betont.30 Die Gilberton Company beschäftigte diverse bekannte Comic-Zeichner, darunter Louis Zansky und Jack Kirby. Dass deren Einsatz von comicspezifischen Mitteln in hohem Maß interpretatorische Effekte hatte – etwa durch die Entscheidung für spezifische Bildkompositionen, durch Perspektive und Figurendarstellung, durch den Wechsel von Panel-Größen und -formaten sowie die Auswahl zu übertragender Text- und Handlungsteile –, illustriert Versaci an diversen Beispielen (siehe auch das Kapitel III.1.1). Gleichwohl ging es den Produzenten der Classics Illustrated nicht darum, individuelle Stile zu entwickeln. Vielfach kollektiv produziert, hatten die Bände eher einen einheitlichen Stil. Uniform wirkten vor allem die Behandlung der Textelemente und das Layout als Ganzes;31 uniformierend erschien auch der bevorzugte ›realistische‹ Zeichenstil. Kanter bevorzugte diese Uniformität, um seine ›Klassiker‹-Adaptationen respektabler erscheinen zu lassen; das Comicspezifische sollte ja gerade nicht in den Vordergrund rücken. Versaci sieht darin eine Qualitätsminderung, die sowohl die zeichnerische Dimension als auch die Vermittlung der literarischen Werke als solche betraf: »the comic book is denied full expression of its signifying capabilities, and ›literature‹ loses its stylistic diversity as the unique features of each writer are downplayed in favor of consistency.«32 Nach der Schließung des Verlagshauses Gilberton übernahmen andere Verlage die Idee der Illustrierten Klassiker. 1976 erschien die erste Nummer der Marvel Classic Comics, ebenfalls länger als normale Comic-Hefte und wiederum ohne Werbeseiten. Zunächst handelte es sich bei den Marvel Classic Comics um Reprisen älterer Hefte, doch später wurden originäre Textadaptationen geschaffen, und namhafte Szenaristen und Zeichner wirkten daran mit. Gegenüber den älteren Illustrierten Klassikern kamen bei den insgesamt 36 Heften neue Stilmittel zum Einsatz; die Bildgeschichten ›dynamisierten‹ sich und nutzten die spezifischen Mittel des Comics gezielter.33 Allerdings uniformisierte sich auch diese Reihe. Versaci über die aus seiner Sicht dem Medium Comic gerade nicht adäquate Homogenität: […] the style of artwork from issue to issue is unnervingly consistent, again creating a false sense of stylistic consistency among the source material writers. So, while the Marvel Classic Comics embrace their ›comic bookness‹ more so than the Classics Illustrated, they still fail to fully explore the medium’s potential to create art.34
29
30 31 32 33 34
William B. Jones, Classics Illustrated. A Cultural History, Jefferson, NC 2002, S. 72, zit. nach: Versaci, Graphic Language, S. 186. Versaci, Graphic Language, S. 187. Ebd., S. 190 f. Ebd., S. 192. Ebd., S. 192 f. Ebd., S. 193.
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Mit drei Heften zu Shakespeare-Dramen griff 1982 (Macbeth), 1983 (Othello) und 1984 (King Lear) der Verlag Oval Projects das Konzept des Literatur-Comics auf. Hier allerdings enthielten die Bände jeweils den vollständigen Dramentext, und die Bände stellten insofern dessen zeichnerische Inszenierungen dar. Versaci kommentiert die Stilmittel der Zeichner Oscar Zarate (Othello) und Ian Pollack (King Lear): »In these two books, the art shares the stage, as it were, with the text of Shakespeare’s play.«35 Ab 1990 publizierte Berkley/First Publishing wieder eine Reihe mit dem Titel Classics Illustrated, die an den Erfolg der früheren gleichnamigen ComicBuch-Reihe aber nicht heranreichte und nur bis auf 29 Nummern kam. Die Formate der Bände sahen denen der konventionellen Comic-Hefte noch weniger ähnlich als die der Vorgänger. Darauf dürfte nach Versacis Vermutung auch die Genese des Genres der Graphic Novel in den späten 1980er Jahren von Einfluss gewesen sein.36 Für die Comic-Produzenten bot diese Reihe nicht nur mehr Gelegenheit zur künstlerischen Selbstentfaltung; sie wurden auch an deutlich besser wahrnehmbarer Stelle genannt (und als Künstler im Paratext vorgestellt). Zu den Zeichnern gehörten bekannte Comic-Künstler wie Bill Sienkiewicz und Peter Kuper. Wie Versaci hervorhebt, verschiebt sich zugleich das Selbstverständnis dieser Comic-Bände gegenüber den adaptierten literarischen Vorlagen. Sie waren nicht mehr als bloße Katalysatoren der Lektüre der ›richtigen‹ Klassiker konzipiert, sondern als ästhetisch eigenwertige Artefakte. Versaci: »[…] while the mission statement printed on the inside cover of each issue states that they are ›not substitutes for the original,‹ it also declares that the comic books could ›stand on their own merits.‹«37 Als vom jeweiligen Comic-Zeichner selbst abhängende ästhetische Qualität wurde vor allem der individuelle Stil betrachtet. Die Bildgeschichten, so hieß es, »›reflect those individual styles that made the original works great – not just the stories, but the nuances as well‹«.38 Tatsächlich setzten die Zeichner der einzelnen Bände auf stilistische Ausdifferenzierung; einen charakteristischen Reihenstil entwickelte man nicht. Als Sonderform der Graphic Novel wird der Literatur-Comic autonom. Versaci nennt als Beispiele Introducing Kafka von Robert Crumb (1993), die Adaptation von Paul Austers City of Glass durch Paul Karasik und David Mazzucchelli (1994), die von Barry Giffords Perdita Durango durch Bob Callahan und Scott Gillis (1995), den Beowulf von Gareth Hinds (2000) und die Kafka-Adaptation The Metamorphosis von Peter Kuper (2003). »By virtue of their attention to the creative use of visual art, these graphic novels celebrate the ability of comics to translate substantial works of literature«.39 – Auch die Serie Puffin Graphics bietet ästhetisch ambitionierte, auf stilistische Individualisierung und comicspezifische Darstellungsmittel setzende Adaptationen berühmter literarischer Texte.
35 36 37 38 39
Ebd., S. 196. Ebd. Ebd., S. 196. Zit. nach ebd., S. 197. Ebd., S. 199.
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Der Comic als ›neunte Kunst‹ und die Literatur
2.
Der Comic als Kunst
Scott McCloud, der in seinen Metacomics unter anderem auf die Geschichte des Comics und seiner öffentlichen Wahrnehmung eingeht, hat Will Eisner als denjenigen Zeichner genannt, welcher – auch und gerade gegen Widerstände aus den Reihen der Kollegen – als erster dezidiert den Comic als Kunstform verstanden und propagiert habe. In McClouds Metacomicbuch Reinventing Comics (Comics neu erfinden) findet sich zum Dissens über den Kunstanspruch der Bildgeschichte – deren Vertreter sich teilweise der Unterhaltungsbranche und dem Variété enger verbunden fühlten als der sogenannten Hochkunst – eine kurze Episode, welche die kontroversen Positionen auf den Punkt bringt: »We’re not artists!«, so Rube Goldberg1 – während Will Eisner den Comic für Kunst hält.
2.1
Sind Comics überhaupt Kunst?
Kulturkritiker betrachteten den Comic lange skeptisch, wenn nicht gar tief pessimistisch – im europäischen Raum vor allem als Reaktion auf die Verbreitung US-amerikanischer Comics und ihrer Adaptationen für die einheimische Leserschaft nach dem Zweiten Weltkrieg. Abfällige oder vernichtende Urteile über die Bildgeschichte als ›primitives‹ und jugendgefährdendes Unterhaltungsmedium verbanden sich mit Prognosen bevorstehender Analphabetisierung der jüngeren Generation. In Amerika fürchteten kritische Pädagogen im Übrigen Ähnliches. Bereits die Titel von Abhandlungen und Feuilletonpublikationen aus den 1950er Jahren, die Alfred Clemens Baumgärtner 1979 rückblickend auf die Geschichte der Comic-Kritik anführt,2 sprechen vielfach für sich.3 Die Kritik bezog sich vor allem auf die in Heft1 2
3
Scott McCloud, Reinventing Comics, New York 2000, S. 26. Alfred Clemens Baumgärtner, Die Welt der Abenteuer-Comics und andere Beiträge zu einem Massenmedium, Bochum 1979 (1965 hatte Baumgärtner in der gleichen Schriftenreihe Die Welt der Comics. Probleme einer primitiven Literaturform publiziert). Maria Klug, »Comics, eine sittliche Gefahr für unsere Jugend«, in: Katholische Frauenbildung 56 (1955), S. 195–198; G. Brinkmann, »Der Giftstrom der ComicBooks«, in: Der Katholische Erzieher, 8. Jg. 1955, S. 68–69; anon., »Verdummung durch Comics«, in: Jugendschriften-Warte 1956, Nr. 4, 26; Walter Rest, »Die Pest der Comic Books«, in: Die Kirche in der Welt, 7. Jg. 1954, Lfg. 3, S. 313–316; Wilhelm Hoppe, »Der Bildidiotismus triumphiert. Ergebnisse einer Schmökergrab-Aktion
Der Comic als Kunst
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chenform verbreiteten Helden- und Abenteuer-Comics; sie galt der Darstellung von Gewaltszenen und deren ideologischen Implikationen, aber auch der Bildersprache des Comics als Darstellungsform, der Stereotypie von Figurendarstellungen, der Knappheit der Textanteile, den vielen Interjektionen und Lautimitationen. Zu prägnantem Ausdruck kam dieses Argument gegen die populäre Bildgeschichte im Titel eines kurzen Artikels von Rolf Seeliger von 1958; der Comic-Kritiker sprach vom »Esperanto der Analphabeten«.4 Dieser Vergleich der Sprache der Comic-Hefte mit dem Esperanto ist natürlich keineswegs schmeichelhaft gemeint. Nicht Hoffnung auf eine transnationale Verständigung, wie sie im Namen dieser Kunst-Sprache an sich ja zum Ausdruck kommt, artikuliert sich darin, sondern die Idee, dass sich mit den Mitteln einer international verständlichen Bildzeichensprache allenfalls undifferenzierte, grobe, oberflächliche und ›primitive‹ Inhalte vermitteln lassen; »Esperanto« ist also Synonym für eine Rumpfsprache oder die Karikatur einer Sprache. Unterschiedlichste politische Lager übten sich im Nachkriegsdeutschland in Comic-Kritik; die eher konservative Fraktion der Verfechter bürgerlicher Bildung und die DDR-Pädagogik konvergierten in der Annahme, die Lektüre sprachlich schlichter, Verbales weitgehend durch Bilder ersetzender Geschichten schädige die allgemeine Lesefähigkeit und verhindere die Ausbildung höherer sprachlicher Kompetenzen. Dass ›Internationalität‹ dabei mit ›Primitivität‹ konnotiert war, blieb keine Ausnahme. Stefan Andres kritisierte nicht allein die Comics, sondern auch deren Verteidiger als »Missionare eines internationalen Infantilismus«5 und sah Finsteres voraus: »Die düstere Ahnung umsummt mich, daß in weniger als 100 Jahren der letzte Neger, Tunguse und Polareskimo seine analphabetische Unschuld verliert und – Komiks liest, während in den zivilisierten Ländern von tausend nicht einer mehr wirklich lesen kann.«6 Stereotyp wie viele der kritisierten Comic-Heft-Geschichten klingen im Rückblick die Argumente vieler Kulturkritiker. Der hohe Anteil des Bildlichen am Comic gibt (neben der Kritik an der trivialen und ›verdummen-
4
5
6
der Stadtbücherei Hagen«, in: Bücherei und Bildung, 1955, Nr. 11, S. 381–386; Georg Schückler, Jugendgefährdung durch Comics, Köln-Klettenberg 1954; Willi K. Cordt, »Der Rückfall ins Primitive«, in: Westermanns Pädagogische Beiträge, 6. Jg. 1954, H. 4, S. 61–181; Helmut Reinhardt, Schmutz- und Schundliteratur im Volksschulalter, Ratingen 1957. Rolf Seeliger, »Comics, Esperanto der Analphabeten«, in: Junge Gemeinschaft, 10. Jg. 1958, Nr. 10, S. 5; vgl. dazu auch Baumgärtner, Abenteuer-Comics, S. 81. Stefan Andres, »Die Komiks. Eine neue Art des Lesens«, in: Jugendschriften-Warte 1955, Nr. 3, S. 17 f.. Ebd., zit. nach Baumgärtner, Abenteuer-Comics, S. 83.
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Der Comic als ›neunte Kunst‹ und die Literatur
den‹) Sprache immer wieder Anlass zu profunden Bedenken und Sorgen, vielfach in Verbindung mit allgemeinen kulturkritischen Diagnosen zum Vordringen der Bilder und Bildmedien in den alltagskulturellen Raum. »Der Bildidiotismus triumphiert«, so heißt es ja beispielsweise bei Wilhelm Hoppe als Reaktion auf die Sichtung dessen, was Jugendliche zu lesen pflegen (s. o.). Solche Einschätzungen sind typisch für eine Zeit, in welcher die Sprache als ›Schlüssel zur Welt‹ gilt, nichtsprachliche Zeichensysteme hingegen bestenfalls als Sprachersatz, auch und gerade im internationalen Verkehr, als Notbehelf, als Ersatz- und Stiefmutter auf Terrains, wo einem die Muttersprache nicht beistehen konnte. Dass der Comic lange nicht als Kunst anerkannt wurde, hatte unter anderem praktische Konsequenzen für seine Produktion, insbesondere für das Selbstverständnis und die Gestaltung von Comic-Reihen und für den Umgang der Verlagshäuser mit den Druckvorlagen. Viele Zeichner, die an Reihen oder anderen Gemeinschaftsproduktionen mitwirkten, entwickelten keine eigene Handschrift. Und mit den gezeichneten Druckvorlagen wurde vielfach nachlässig verfahren – wie mit Gebrauchsobjekten, die zum Konsum bestimmt sind, nicht wie mit künstlerischen Arbeiten.7 Auch wenn einzelne Schriftsteller und Zeichner schon früh den Kunstcharakter oder doch die Kunstfähigkeit des Comics betont hatten, stand der Comic lange im Schatten des Verdikts über seine ›Primitivität‹ und seine rein unterhaltende Funktion. Dass der Status einer Kunst dem Comic noch nicht selbstverständlich zugestanden wird, belegt exemplarisch die Frage, die der Direktor des Comic-Museums in Angoulême (Frankreich) 1998 gestellt hat: »Why are Comics still in Search of Cultural Legitimization?«8 Während es nicht als Einwand gegen den potentiellen Kunstcharakter lyrischer Texte gilt, dass es auch viele schlechte Gedichte (und gereimte Werbesprüche) gibt, und während die Etikettierung vieler Groschenhefte als ›Roman‹ keinen Zweifel an der prinzipiellen Kunstfähigkeit der Romangattung aufkommen lässt, konnte die quantitative Dominanz ästhetisch unambitionierter Unterhaltungs-Comics den Blick für die Raffinesse vieler Bilderzählungen lange weitgehend verstellen. Eine Neubewertung des Comics vollzog sich parallel zur Etablierung neuer Disziplinen wie Semiotik, Medientheorie und Bildwissenschaft. Pro7
8
Vgl. dazu Andreas Platthaus, Im Comic vereint. Eine Geschichte der Bildgeschichte, Frankfurt am Main 2000 (zuerst Berlin 1998), S. 126 f. Vgl. Thierry Groensteen, »Why are Comics still in Search of Cultural Legitimization?«, in: Hans-Christian Christiansen/Anne Magnussen (Hrsg.), Comics & Culture, Kopenhagen 2000, S. 29–41.
Der Comic als Kunst
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klamationen eines ›medial turn‹ oder eines ›visual turn‹ bewirkten, dass bildliche und textbildliche Darstellungsformen wie der Comic im Zeichen neuer Fragestellungen wahrgenommen wurden, dass die visuelle (oder, je nach Akzentuierung: visuell-sprachliche) Narration nicht mehr per se als defizitär galt, sondern unter dem Aspekt ihrer eigenen Grammatik und ihrer Wirkungen analysiert wurde. Auch in semiologischen Analysen spielte das, was man die »Esperanto«-Dimension dieses Mediums nennen konnte, eine wichtige Rolle, allerdings nicht mehr in dem weitgehend abwertenden Sinn der 1950er und frühen 1960er Jahre. Dass die Auseinandersetzung mit Bildsprachen und Bildmedien in den letzten gut zwei Jahrzehnten sich stark vertiefte und ausdifferenzierte, dass ferner die Narrationsforschung der letzten Jahrzehnte auch nonverbale Strukturen und Darstellungsformen nachhaltiger zu berücksichtigen begann, bedarf keiner besonderen Betonung. Entsprechend gibt es inzwischen eine Comic-Forschung, die sich der Medienspezifik und der Geschichte des Erzählens mit Bildern widmet. Aber nicht nur die Fragestellungen der Forschung haben sich ausdifferenziert, sondern auch und vor allem das Medium der Comic-Bildgeschichte selbst. Seine stilistische Vielgestaltigkeit und ›Vielsprachigkeit‹ ist von Metacomic-Zeichnern wie Scott McCloud nachdrücklich hervorgehoben worden (siehe dazu Kapitel I.3.8).9 Wenn es einen Comic gibt, der dem Genre zu breitem Ansehen verholfen hat, so ist dies wohl Art Spiegelmans Maus gewesen, der 1992 den PulitzerPreis erhielt. In seinem zweiteiligen Comic über die Lebensgeschichte eines Holocaust-Überlebenden hat Spiegelman es geschafft, ein Thema darzustellen, das seit der Nachkriegszeit immer wieder Anlass gegeben hatte, die Grenzen der Darstellbarkeit und die Grenzen ästhetisch-literarischer Darstellung ganz grundsätzlich zu erörtern; erinnert sei an die Diskussion über Lyrik »nach Auschwitz«. Spiegelman stellt die Geschichte der Juden als Geschichten anthropomorpher Mäuse dar und präsentiert sein Thema so eindringlich wie einfallsreich.10 Sein Umgang mit den dargestellten Inhalten wurde als ebenso gelungen eingeschätzt wie sein strenger und doch differenzierter Stil. Die Erzählungen des Holocaust-Überlebenden sind in eine Rahmenhandlung eingebettet: Das mausgestaltige Alter Ego des Zeichners Spiegelman selbst befragt seinen Vater, einen Augenzeugen des Terrors, und gibt wieder, was es gehört hat. Spiegelman stützt sich nicht allein auf Augenzeugenberichte, er hat teilweise auch nach wiedererkennbaren Vorlagen gezeich9
10
Vgl. etwa Scott McCloud, Understanding Comics, New York 1994 (zuerst Northampton, MA 1993). Vgl. Knigge, Alles über Comics, S. 379 f.
22
Der Comic als ›neunte Kunst‹ und die Literatur
net und diese in seinen Zeichenstil übersetzt. Seine Zeichnungen sind einerseits Produkte gewollter und ostentativer Verfremdung (in der Tradition der literarischen Tierfabel wie der Comics mit tierischen Protagonisten), andererseits verweisen sie zurück auf dokumentarisch verbürgte historische Erfahrungen. Neben der Verwandlung historischer Figuren in Tierfiguren ist die Einbettung des Erzählerberichts in eine Rahmengeschichte prägend für Spiegelmans ästhetisches Verfahren. Rahmungen – dies gilt für rahmende Geschichten wie für gezeichnete Rahmen – verweisen jeweils auf die Darstellung als solche, besitzen also eine autoreferentielle Dimension und sensibilisieren den Rezipienten für das jeweils spezifische ästhetische Arrangement, die formal-strukturelle Dimension der literarischen oder bildkünstlerischen Werke. Spiegelman fügt Erinnerungen an erlebte Geschichte ebenso wie verwendete Bildvorlagen in Rahmen ein und unterstreicht damit, dass das Erzählen eine Kunst der Formgebung ist. Die Verwendung des Mediums Comic zur subjektiven Darstellung von Zeitgeschichte trägt also maßgeblich dazu bei, dass sich die Comic-Erzählung vom Image des bloßen Unterhaltungsgenres löst. Eine raffinierte, auf Stilvielfalt setzende Form der Auseinandersetzung mit Zeitgeschichte ist auch Spiegelmans Comic-Band In the Shadow of No Towers (2004), mit dem der 11. September 2001 thematisiert wird, vor allem aber seine politischen und diskursiven Rahmenbedingungen.11 Spiegelman macht sein kunterbuntes Comic-Buch zum Medium seiner satirischen und oft sarkastischen Einschätzung amerikanischer und globaler Politik. Im Spiegel des Buchs erscheint Geschichte als Geschichte von Gewalt, Terror und Katastrophen – als ein zeitgenössischer Totentanz, bei dem kleine Figuren mit Totenschädeln als Protagonisten agieren (S. 5). Dieser Figurentypus ist eindeutig ein Bildzitat aus der langen Tradition europäischer Todesdarstellungen. Auch die ostentative Verwendung von Zitaten ist – ähnlich wie die Verwendung von Rahmungsstrukturen – eine fundamentale Form des ästhetischen Selbstverweises. Und noch in einer weiteren Hinsicht gibt Spiegelman dem Band deutlich autoreferentielle Züge: Als Maus trifft man den Zeichner selbst unter den gezeichneten Figuren des Buchs an; er wird unter anderem bedroht von je einem Vertreter islamistischen und US-amerikanischen Terrors (S. 1). Das No-Towers-Buch ist voller Bildzitate, nicht zuletzt aus der Geschichte des Comic Strip, die Spiegelman ausführlich Revue passieren lässt – in ihrer Eigenschaft als integraler Bestandteil der US-amerikanischen Zeit- und Kultur-Geschichte.
11
Art Spiegelman, In the Shadow of No Towers, New York 2004; vgl. auch Ders., Breakdowns. Portrait of the Artist as a Young %@&q«!, London 2008.
Der Comic als Kunst
2.2
23
Zur Idee einer ›neunten Kunst‹
Lange Zeit als ästhetisch inferiores, wenn nicht sogar pädagogisch verdächtiges, subkulturelles Massenmedium abqualifiziert, als an halbe Analphabeten adressierter Inbegriff der Trivialkultur, erhebt der Comic seit einiger Zeit Anspruch auf den Status einer ›neunten Kunst‹.12 Anlass und Bekräftigung dieses steigenden Selbstbewusstseins ist vor allem die jüngere Entwicklungsgeschichte dieser Darstellungsform selbst seit den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, die Produktion ästhetisch ambitionierter Autoren-Comics, die Erkundung neuer, die vertrauten Codes überbietender Gestaltungsmittel.13 Hinzu kommen kulturelle Institutionalisierungen: Comic-Schulen (die Escola Joso in Barcelona ist die größte in Europa), Comic-Museen (Angoulême), Comic-Messen, Comic-Tagungen. Signifikante Indikatoren (und zugleich Impulse) für die Ausprägung eines solchen Selbstbewusstseins des Comics als Kunst sind Metacomics, also Bilderzählungen, in denen Eigenschaften, Spielformen, Produktions- und Rezeptionsprozesse des Comics mit dessen eigenen Mitteln dargestellt werden. Wie das Selbstverständnis und Selbstbewusstsein neuzeitlicher Malerei prägnant in Werken der Metamalerei zur Anschauung kommt, wie sich der poetologische Diskurs um 1900 zum Programm einer »Poesie der Poesie« verdichtet – so setzt auch der Metacomic auf eine autonomieästhetische Grundidee: In der Reflexion einer Kunst über sich selbst bekundet sich ihre Fähigkeit zur Selbstbegründung – oder negativ formuliert: ihre Freiheit von externen Vorgaben, Vorschriften, Regeln und Zwecksetzungen, ihre Autonomie auch gegenüber abstrakten Begriffen, welche das ästhetische Phänomen auf den Status bloßer Exemplifizierung eines Allgemeinen reduzieren. Einfacher gesagt: Wenn der Comic eine Kunst sein will, dann muss er dies auf selbstreflexive Weise mit seinen genuinen Mitteln sinnfällig machen (siehe dazu das Kapitel I.3.8).
12
13
Vgl. u. a. Francis Lacassin, Pour un neuvième art: La bande dessinée. Coll. Essai, Paris 1971. Jacques Tardi, der unter anderem die mit vielen anderen seiner Arbeiten vernetzte Serie (A suivre) geschaffen hat – der Titel allein macht das Projekt zum autoreferentiellen Unternehmen –, vertritt den Anspruch, als Comiczeichner ein Künstler zu sein (dazu Knigge, Alles über Comics, S. 316). Und er hegt zugleich eine Vorliebe für Literatur-Comics. (A suivre) enthält Paraphrasen zu zwei Kriminalromanen von Léo Malet sowie eine weitere Geschichte um den Malet’schen Detektiv Nestor Burma. Tardi schuf im Übrigen Illustrationen zu mehreren Texten Célines (Reise ans Ende der Nacht, Tod auf Kredit, Kanonenfutter).
24
Der Comic als ›neunte Kunst‹ und die Literatur
Die Erörterung der Frage, in welchem Sinn der Comic Kunst sei und ob er dies überhaupt sein wolle, spielt in der Diskussion über den Comic nach wie vor eine Rolle, wenngleich mittlerweile immerhin Konsens darüber zu bestehen scheint, dass der Comic im Prinzip ›kunstfähig‹ ist. Für Andrew Arnold etwa hat sich die Frage nach dem Kunststatus des Comics schlichtweg dadurch erledigt, dass es mittlerweile eine ganze Reihe ästhetisch anspruchsvoller Comic-Bücher gibt.14 Gleichwohl divergieren die Auffassungen in manchem. Während so etwa die einen den Comic schlechthin als (›neunte‹) Kunst neben die anderen Künste stellten, behandeln andere den ›Kunst‹-Comic als Sonderform.15 Nicht ganz einheitlich wird auch der Gebrauch des Begriffs ›Graphic Novel‹ gehandhabt, der allerdings an sich bereits auf den Anspruch der neueren Bilderzählung auf ›Literaturfähigkeit‹ hindeutet.16 Flankiert wird der Aufstieg des Comics zur anerkannten Kunstform durch mancherlei Allianzen mit der Literatur und mit den bildenden Künsten, neuerdings auch mit der Bühne,17 durch Orientierung literarischer Schreibweisen und malerischer oder graphischer Darstellungsverfahren an den Sprachen des Comics, durch Reflexionen der Literatur und der bilden14
15
16
17
Vgl. Andrew W. Arnold, »Comix poetics«, in: World Literature Today: Graphic Literature, März/April 2007, S. 12–15. Mit dem Aufkommen ästhetisch anspruchsvoller Comics werde der Weg frei für interessantere vergleichende Fragestellungen: »For example, can comics create poetry like the works of Shakespeare, T.S. Eliot, or Aleksandr Pushkin? […] In short, no, but not from lack of merit or ability. While comics have a similar delivery as poetry – books, paper, words, etc. the language, syntax, and meaning of comics spring primarily through the relationship between images rather than words. This is not just a different ballgame but a different sport. However, this does not exclude comics from achieving the same artistic ambitions as poetry. Practically since their inception, comics have shown their ability to achieve powerful artistry through the inspired use of condensed, musical, and highly structured language« (S. 12). Arnolds Ausführungen verstehen sich explizit als »a brief survey of some comic art that rivals the work of many a time traditional poet« (ebd.). In Buchhandlungen findet sich gelegentlich innerhalb der Comic-Abteilung eine eigene Unterabteilung für ›Kunst-Comics‹ reserviert. Vgl. Eddie Campbell, »What is a graphic novel?«, in: World Literature Today: Graphic Literature, März/April 2007, S. 13: Der Terminus ›Graphic Novel‹ werde unterschiedlich verwendet; hier bestehe Konfusion. Demgegenüber sei aktuell aber ein einheitlicher Trend zur Höherevaluierung des Comics zu beobachten. Mehrerlei komme zusammen: »a respect for the auctorial voice, the longing to establish a permanent bookshelf of great works in a popular art that was previously never more than ›throwaway‹, and a deeper sense of the medium’s history than previously prevailed« (ebd.). Vgl. dazu die Dokumentation des internationalen Festivals Comic Meets Theatre, hrsg. von Annegret Hahn und Berit Schuck, Eggersdorf 2006.
Der Comic als Kunst
25
den Künste über den Comic. Erinnert sei nur an Andy Warhols ins Riesenhafte vergrößerte Comic-Zeichnungen, an Rolf Dieter Brinkmanns Verfahren der Integration von Comics in seine literarischen Werke sowie an Italo Calvinos Cosmicomiche, für welche die Erinnerung an das Genre der graphischen Erzählung inhaltlich und strukturell prägend ist.18 Calvino stilisiert das interpretierende Zusammenlesen von Bilderfolgen zu Geschichten zum prototypischen Erzählprozess; seine Erzählzyklen Il castello dei destini incrociati und La taverna dei destini incrociati bewegen sich am Gerüst von Bildsequenzen entlang, die in ihrem Erscheinungsbild (es handelt sich um Reproduktionen alter Spielkarten) an Comics zumindest erinnern.19 H. C. Artmann hat den Comic schon in den 1960er Jahren als wegweisend für eine künftige Literatur betrachtet.20 Helmut Heißenbüttel hat sich in den 1980er Jahren über den Comic als möglichen Impulsgeber für neue literarische Schreibweisen Gedanken gemacht. Umberto Eco versammelt als Romanautor anlässlich der Thematisierung von Erinnerungsprozessen gerade die Comics unter die maßgeblichen Träger des kulturellen und des individuellen Gedächtnisses.21 18
19
20 21
Italo Calvino, Le Cosmicomiche, in: Ders., Romanzi e racconti. A cura di Claudio Milanini, Bd. II., Milano 1992, S. 79–221. Italo Calvino hat rückblickend auf seine Kinderzeit in der Betrachtung von Comics den ersten stimulierenden Impuls zur späteren schriftstellerischen Arbeit gesehen: Als frühe Ausübung seiner Erzählertätigkeit beschreibt er das Erzählen von Geschichten zu Bilderfolgen in Comic-Heften – wie es sich in diesem Fall kompensatorisch vollzog, da er die Texte noch gar nicht lesen konnte. »Bei mir waren schon die ersten prägenden Eindrücke die eines Kindes der ›Zivilisation der Bilder‹, obwohl diese noch in den Anfängen steckte, weit entfernt von der heutigen Inflation.« (Italo Calvino, Lezioni americane. Sei proposte per il prossimo millennio. Milano 1993. Dt.: Sechs Vorschläge für das nächste Jahrtausend. Harvard-Vorlesungen. Übers. von Burkhart Kroeber, München, Wien 1991, S. 128). »[Ich] erzählte mir die Geschichten im Geiste, wobei ich die Szenen auf verschiedene Art interpretierte, erzeugte Variationen, baute die einzelnen Episoden zu längeren Geschichten zusammen, entdeckte, isolierte und kombinierte Konstanten in allen Serien, kontaminierte eine Serie mit der anderen, dachte mir neue Serien aus, in denen Nebenfiguren zu Protagonisten wurden, und so weiter.« (Calvino, Sechs Vorschläge, S. 129) – Vgl. dazu Calvinos Erzählungszyklus Il castello dei destini incrociati (Das Schloß, darin sich Schicksale kreuzen). H. C. Artmann, »Das suchen nach dem gestrigen tag«, S. 33 f. Umberto Eco, La misteriosa fiamma della regina Loana. Romanzo illustrato, Milano 2004. Dt.: Die geheimnisvolle Flamme der Königin Loana. Illustrierter Roman. Aus dem Ital. von Burkhart Kroeber, München 2004. Über den Comic äußert sich Eco auch in Apokalyptiker und Integrierte. Zur kritischen Kritik der Massenkultur (Frankfurt am Main 1984) sowie in Lüge und Ironie. Vier Lesarten zwischen Klassik und Comic (München 1999, Kap. »Die unbestimmte Geographie des Corto Maltese«, S. 129–142).
26
Der Comic als ›neunte Kunst‹ und die Literatur
2.3
Und was ist ›Kunst‹?
Wer über den Kunst-Charakter des Comics spricht, kommt nicht an einer kurzen Auseinandersetzung mit dem Kunstbegriff selbst vorbei. Wann ist ein Artefakt ein Kunstwerk? Dann, wenn es als solches betrachtet wird – so die aus meiner Sicht treffende Antwort, die in jüngerer Zeit unter anderem Martin Seel gegeben hat. Ein Wahrnehmungsobjekt sei ein Objekt der Kunst, so Seel, […] wenn es für einige oder viele als ein solches zählt. Es gibt keine absolut bestehenden Merkmale, durch die sich Kunstwerke von anderen Objekten unterscheiden würden. Es gibt jedoch Charaktere, durch die sich Objekte der Kunst von anderen Objekten für eine Wahrnehmung unterscheiden, die sie als ein besonderes Medium der Erfahrung anerkennt.22
Seel spricht zum einen von einem »interdependente[n] Verhältnis von ästhetischer Wahrnehmung und ästhetischem Objekt«, betont andererseits aber auch, dass Objekte es ›verdienen‹ müssen, als Kunstwerke betrachtet zu werden.23 Die Vertreter der These vom Comic als Kunst argumentieren im Sinne dieses Verdienstes. Letztlich aber müssen die in Frage stehenden Artefakte ihre Leser selbst davon überzeugen, dass sie Kunst sind.
2.4
Konzepte des Künstlerischen
Was ist Kunst? Auf diese Frage sind in der Geschichte der Ästhetik wechselnde Antworten gegeben worden. Angesichts der Vielzahl und Inkompatibilität der Kunsttheorien und -konzepte liegt es nahe, auf die Frage, was Kunst sei, so zu antworten, wie etwa Martin Seel es tut: Kunst ist, was als Kunst von einer kulturellen Gemeinschaft anerkannt wird – eine Antwort, die sich zunächst einmal auf einzelne Artefakte und ihren Kunststatus bezieht. Allerdings müssen Artefakte sich ihre Anerkennung als Kunstwerke verdienen. Auch die Bemühungen der Kunstwerke respektive ihrer Produzenten um eine solche Anerkennung haben eine Geschichte – eine eigene Geschichte, die mit der der philosophischen Ästhetik viele Beziehungen unterhält, aber nicht auf sie reduziert oder mit ihr identifiziert werden kann. 22 23
Seel, Ästhetik des Erscheinens, S. 179. »Objekte der Kunst sind Objekte, die einer anderen ästhetischen Behandlung unterliegen als die anderen Arten ästhetischer Objekte. Sie sind überdies Objekte, die diese Behandlung verdienen oder nicht verdienen.« (Ebd., S. 180).
Der Comic als Kunst
27
Seit dem späteren 18. Jahrhundert sind die Ästhetik wie die künstlerischliterarische Praxis durch autonomieästhetische Ideen geprägt. Kunst unterscheidet sich dieser zufolge substantiell von Nicht-Kunst, vom Praktisch-Nützlichen, vom Bloß-Lehrreichen, vom Ökonomisch-Nutzbaren; ein Kunstwerk ist als Kunstwerk weder ein Gebrauchsobjekt noch ein Medium zur Förderung der Moral und zur Durchsetzung des moralisch Guten. Kunstwerke haben ihren Zweck in sich selbst und unterscheiden sich insofern von allen Artefakten, die um eines praktischen oder moralischen Zwecks willen geschaffen worden sind. Sie überschreiten nicht nur die Sphäre des Zweckmäßigkeitskalküls, sondern im Zusammenhang damit auch die der abstrakten Begriffe. Denn Begriffe zielen auf das Allgemeine, während das Kunstwerk stets etwas Besonderes ist. Das Zweckmäßige lässt sich in seiner Zweckmäßigkeit durch Begriffe darstellen, während das Kunstwerk diesen Bereich überschreitet, sich auf ihn nicht festlegen lässt. Die Vorgeschichte dieses autonomieästhetischen Kerngedankens datiert bis in die antike Ästhetik zurück.24 An den autonomieästhetischen Grund-Satz von der Differenz zwischen der Kunst und dem Zweckmäßigen – positiv formuliert: von der Zweckfreiheit der Kunst – schließen sich mehrere wichtige Folgesätze an. (a) Der erste Folgesatz ließe sich auf die Formel von der Kunst als ›Entautomatisierung‹ bzw. von der ›Subversivität‹ des Kunstwerks bringen. Insofern Kunst nicht im Zweckmäßigen aufgeht, ist das Kunstwerk Sand im Getriebe funktionaler Abläufe. Es sträubt sich gegen Nützlichkeitskalküle, aber auch gegen didaktische Funktionalisierungen, gegen Reglements aller Art, seien sie vom Verstand oder von der Moral diktiert. Kunst ist »Häresie« (Fricke), Abweichung von Lehren, Ausbruch aus Systemen, Verstoß gegen die Grammatik. Der Ansatz, poetische Formen des Sprachgebrauchs als Verstoß gegen die konventionellen Regeln des Sprachgebrauchs zu interpretieren, hat in der Poetik der Moderne vielfache Modifikationen und Bestätigungen erfahren. (b) Komplementär zu der (negativen) Bestimmung der Kunst als Abweichung, Subversion, Häresie oder Regelverstoß verhält sich die ebenso folgenreiche (positive) Bestimmung, derzufolge die Kunst respektive das Kunstwerk dem Rezipienten die Welt auf neuartige Weise eröffnet, ihn ein neues Sehen lehrt, ihm neue Perspektiven auf seine Wirklichkeit vorschlägt, neue Deutungsmöglichkeiten des Erfahrenen, neue Konstruktionsweisen von ›Welt‹ erschließt. 24
Dies hat rezent Harald Fricke in einem Vortrag auf der Konferenz der Deutschen Gesellschaft für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft in Münster 2008 unter dem Titel »Kunst als Abweichung« betont.
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Der Comic als ›neunte Kunst‹ und die Literatur
So wird die Malerei seit dem 19. Jahrhundert als eine Kunst beschrieben, die durch neuartige Weisen visueller Darstellung Neuartiges sichtbar werden lässt – und damit nicht zuletzt auf den Sehprozess als solchen aufmerksam macht. Poetischer Sprachgebrauch steht einer nicht minder erfolgreichen Leitthese zufolge im Zeichen der Suche nach neuen sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten, und auch diese zielen (ihrem Selbstverständnis nach) darauf ab, neue Dimensionen von Welterfahrung in die Sprache einzuholen. Bemerkenswerterweise impliziert übrigens die Bestimmung von Kunst über Negationsformeln wie Entautomatisierung, Abweichung oder Regelverstoß (a) als solche ebenso eine ›positive‹ These über Kunst, wie die zweite, ›positive‹ Bestimmung der Kunst als einer Entdeckung neuer Sehweisen und Darstellungsformen (b) eine gleichsam ›negative‹ Kehrseite hat. Denn mit der (›negativen‹) These von der Kunst als Regelbruch (a) verbindet sich – erstens – die (›positive‹) These, in der Produktion und Rezeption von Kunst finde die Freiheit des Menschen zur Realisation: Kunst ist zweckfreies Spiel, und nur wer spielen kann, ist frei – er ist frei nur, insofern er spielt: So die vor allem mit dem Namen Schillers verbundene Akzentuierung der Autonomieästhetik im Zeichen des Freiheitsbegriffs. (Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt – so Schiller –, weil nur der freie Mensch ›ganz‹ Mensch ist.) Zweitens lässt sich die (›positive‹) These von der Kunst als einer Lehrerin des neuen Sehens, einem experimentellen Einsatz neuer Darstellungsformen, einer Gestalterin neu aufgefasster Wirklichkeit (b) auch umformulieren: Kunst macht die Geschichtlichkeit, Variabilität, Nicht-Selbstverständlichkeit, kurz: die Kontingenz aller Erfahrungs- und Darstellungsweisen bewusst. Und dies ist insofern mit einer ›negativen‹ Vorstellung verknüpft, als Kontingenzerfahrungen, wie sie von der Kunst zum einen thematisiert, zum anderen sogar provoziert respektive erzeugt werden, jenen Effekt verursachen, der als Schattenseite der kopernikanischen Wende das Bewusstsein der Moderne geprägt hat: Das erfahrende Subjekt ist zwar vielleicht das Zentrum seiner Welt, aber ein absolutes Zentrum gibt es nicht mehr. Unsere Modi des Wahrnehmens und Erfahrens mögen zwar darüber bestimmen, als was die Welt erscheint, aber sie erschließen keine absolut gültigen Wahrheiten, ermöglichen kein unbedingt wahres Wissen. Wer auf ›neue Weise‹ zu sehen lernt, wird nicht an der Einsicht vorbeikommen, dass er auch ganz anders sehen könnte, als er es gerade tut: eine manchmal schwindelerregende Einsicht. Und wer neue Weisen des Sprachgebrauchs kennenlernt oder erprobt, wird notgedrungen einsehen, dass es keine ›wahre Sprache‹ gibt, an der sich der Sprachgebrauch des Einzelnen zumindest orientieren oder bemessen könnte.
Der Comic als Kunst
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(c) Ein dritter aus der autonomieästhetischen Kernthese von der Zweckfreiheit der Kunst abgeleiteter (respektive von ihr implizierter) Folgesatz lässt wiederum sowohl eine positive als auch eine negative Formulierung zu. Die negative Formulierung lautet: Kunst lässt sich nicht erschöpfend begrifflich darstellen; was ein Kunstwerk ausmacht, ist durch Begriffe allenfalls näherungsweise bestimmbar; Kunst lässt sich nicht erschöpfend begrifflich ableiten, nicht begründen. Die positive Komplementärthese besagt: Kunst hat ihren Grund in sich selbst und stellt sich selbst als Kunst dar. Während Begriffe ihr nicht erschöpfend beikommen, macht sie ihren Kunstcharakter an und durch sich selbst sinnfällig. Die Autonomieästhetik betrachtet das Kunstwerk als autoreflexiv, als selbstreferentiell. In Friedrich Schlegels Forderung, alle Poesie müsse zugleich »Poesie der Poesie« sein,25 wird dieser Gedanke einer reflexiven Selbstpotenzierung auf eine programmatische Formel gebracht. Nicht durch Begriffe und Theorien wird Kunst begründet (denn dies liefe auf ihre Unterordnung unter Begriffe und deren Logik hinaus), sondern sie begründet sich selbst. Dies geschieht, indem sie sich selbst bespiegelt und dadurch ihre Autonomie gegenüber Verstandes- und Moralbegriffen implizit deutlich macht.26 Selbstbegründung, Selbstbespiegelung, Selbstpotenzierung – dieses autonomieästhetische Konzept lenkt die Aufmerksamkeit auf künstlerische Verfahrensweisen seiner Konkretisierung. Wie begründen, bespiegeln, potenzieren Kunstwerke sich selbst? Eine Reihe von Grundstrategien ist hier zu nennen; zu ihnen gehören Wiederholung, Rahmung und reflexive Potenzierung (siehe dazu die Kapitel I.3.4 und I.4.3). Sie sind, wenn auch auf unterschiedliche Weisen, in verschiedenen Kunstgattungen anzutreffen und bieten damit (en passant) eine Basis für den Vergleich verschiedener Künste untereinander.
25
26
Friedrich Schlegel, 238. Athenäumsfragment, in: Ders., Charakteristiken und Kritiken I, Krit. Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Bd. II, hrsg. von Hans Eichner, München, Paderborn, Wien 1967, S. 204. Solche Selbstbespiegelung von ›Kunst‹ kann nur die des jeweils einzelnen und besonderen Kunstwerks oder Schöpfungsprozesses sein. Denn »die Kunst« (als Abstraktum) ist ja nur eine begriffliche Zusammenfassung (eine Art plurale tantum), eine Abstraktion – diskursiv zulässig, aber nicht identisch mit einem konkreten Kunstwerk.
30
Der Comic als ›neunte Kunst‹ und die Literatur
2.5
Impulse für die Auseinandersetzung mit Literatur-Comics
(a) Am Comic und an seiner Geschichte lässt sich die diskursive Genese einer ›neuen‹ Kunst besonders gut beobachten. Die Frage nach dem Kunstcharakter des Comics erschiene vielleicht weniger brisant, wenn sie nicht von Comic-Zeichnern selbst nachdrücklich aufgegriffen würde. Scott McCloud und Art Spiegelman etwa integrieren in ihre Comics narrative und theoretisch-diskursive Elemente, um sich mit dieser Frage auseinanderzusetzen. Unter den zahlreichen Comic-Zeichnern, die sich auf Anregung des Verlags Delcourt vor wenigen Jahren mit der Frage nach den Ursachen ihrer Liebe zur bande dessinée auseinandersetzten, stellte eine ganze Reihe den Kunstbegriff in den Mittelpunkt ihrer Antwort.27 Bei der Beschreibung von Literatur-Comics ergeben sich interessante Perspektiven, wenn man fragt, ob und inwiefern hier das Thema Kunst und Künste berührt wird. (b) Ist für ein Werk der Kunst der Bruch mit Codes, Regeln und Konventionen maßgeblich (seine »Häresie«, um es mit Harald Fricke als einem Repräsentanten dieses Ansatzes zu sagen),28 dann stellt es konventionelle und verfestigte Formen der Wahrnehmung in Frage und eröffnet neue Arten des Zugangs zur Welt – durch Verfremdung, Verzerrung, Verwandlung, durch Praktiken der Irritation des Blicks oder des Denkens, durch paralogische und paradoxe Darstellungsverfahren. Dieser Ansatz beschreibt gut das Werk Marc-Antoine Mathieus, dessen eigentümliche Bildergeschichten geläufige Vorstellungen über die Ordnungen des Raumes und der Zeit in Frage stellen und auf Wahrnehmungsgewohnheiten aufmerksam machen, indem sie diese subvertieren. Mathieu eröffnet Blicke in Räume, die mehr als die drei Dimensionen unserer cartesianisch modellierten Welt besitzen, und modelliert eine Zeit, die nicht linear verläuft, sondern zyklisch. Sein Werk gibt den Blick frei hinter den Spiegel – oder ins Nichts – und stellt die Frage nach der Identität des Ichs in den Spuren der Doppelgängerliteratur (siehe dazu Kapitel II.5). Eine im Folgenden leitende Arbeitsthese: Der Comic ist eine Kunst, die durch ein reiches Repertoire von Selbstbespiegelungsstrategien charakterisiert ist – und diese finden vor allem in solchen Comics vielfältigen Einsatz, die auf literarischen Texten beruhen, diese nacherzählen oder anderweitig auf diese Bezug nehmen. Das soll im Folgenden unter verschiedenen Aspekten anhand kommentierter Beispiele dargestellt werden. 27 28
Guy Delcourt (Hrsg.), Pourquoi j’aime la bande dessinée, Paris 2006. Vgl. etwa Harald Fricke, Gesetz und Freiheit. Eine Philosophie der Kunst, München 2000, S. 35: »[…] Literatur als Kunst ist strukturelle Häresie gegenüber der Orthodoxie der Sprache.«
Selbstverweise und Selbstbespiegelungen
3.
31
Selbstverweise und Selbstbespiegelungen
Ein zentrales Theorem moderner Kunstphilosophie akzentuiert die Autoreferentialität von Kunst. Selbstbezüglichkeit – die Verbindung von Darstellung mit der Reflexion über diese Darstellung – gilt als das entscheidende Kriterium für den Kunstcharakter eines Artefakts. So vertritt etwa Arthur C. Danto die Überzeugung, dass Kunstwerke »zusätzlich zu dem, dass sie über irgend etwas sind, auch darüber sind, wie sie über dieses Etwas sind –, dass sie sozusagen Inhalte erster und zweiter Ordnung haben«.1 Ein Kunstwerk hat nicht nur einen ›einfachen‹ Gehalt, sondern es ›verhält sich‹ zugleich zu diesem Gehalt, »präsentiert die Form, in der es seinen Gehalt präsentiert« – so formuliert es Martin Seel.2 Andreas Hetzel fasst diesen kunstphilosophischen Ansatz so zusammen: »Kunstwerke bilden nicht primär etwas in der Welt ab, sondern sich selbst, im Zuge einer internen Spiegelung.«3 Die Auseinandersetzung mit der Frage, ob und inwiefern der Comic eine künstlerische Gattung ist, lenkt insofern den Blick auf Strategien der Autoreferenz und der Autoreflexion. Comic-Zeichner haben von entsprechenden Ideen vielfachen Gebrauch gemacht. Ihre Verfahrensweise ist bezogen auf das eigene Medium dabei vielfach originell und innovatorisch. Die jeweils eingesetzten Strategien haben aber Vorläufer und Vorbilder in der Literatur und in der bildenden Kunst.
3.1
Strategien der Autoreflexion I: Blicke in die Werkstatt des Zeichners
Strategien des Selbstverweises finden sich im Comic auf verschiedenen Ebenen der Darstellung. Eine dieser Strategien besteht in der Ergänzung der eigentlichen Geschichte um paratextuelle Zugaben, in denen der zeichnerische 1
2 3
Arthur C. Danto, Die Verklärung des Gewöhnlichen. Eine Philosophie der Kunst, Frankfurt am Main 1984, S. 227. Martin Seel, Eine Ästhetik der Natur, Frankfurt am Main 1991, S. 148. Andreas Hetzel, »Das Unmögliche in der Poesie. Zum Verhältnis von Ästhetik und Poetik«, in: Gerhard Gamm/Eva Schürmann (Hrsg.), Das unendliche Kunstwerk. Von der Bestimmtheit des Unbestimmten in der ästhetischen Erfahrung, Berlin 2007, S. 59–87, hier S. 65.
32
Der Comic als ›neunte Kunst‹ und die Literatur
Arbeitsprozess selbst thematisiert wird. Dies geschieht etwa in Falk Nordmanns graphischer Paraphrase zu Goethes Faust (siehe auch Kapitel III.2): Auf die Geschichte selbst folgt (nach einem kurzen »Glossar«) ein »Skizzenbuch«, das »Einblick in das Entstehen des Faust-Comics« gibt. Wir sehen Studienblätter zur Figur des Faust, des Mephisto und zu Tierfiguren sowie eine Entwurfsseite zur Pakt-Szene; wir sehen, wie der Zeichner die Figur eines Schülers über mehrere Stufen entwickelt und wie er sich um die Darstellung der Hexe bemüht hat; zu letzterer heißt es: »Ein Zeichner diskutiert mit sich selbst: Überlegungen zur Konzeption der Hexe in Wort und Bild«. Einige weitere Studien gelten Figuren, dem Schluss-Panel und dem Cover des Comics. Der Nordmann’sche Faust-Band ist keine Ausnahme. Auch in Bände der (neuen) Reihe Classics Illustrated werden in manchen Fällen Informationen über den Zeichner und den Szenaristen eingefügt, so etwa in Bill Sienkiewicz’ Version von Melvilles Moby Dick. Scott McCloud stellt in seinen Metacomics immer wieder den Arbeitsprozess des Künstlers dar und lässt den Leser in die eigene Werkstatt schauen (siehe dazu Kapitel I.3.8). Marc-Antoine Mathieu lässt mehrere seiner AcquefacquesGeschichten aus der Werkstatt des Zeichners hervorgehen. Insgesamt kann die explizite Erwähnung des Zeichners, seines Arbeitsprozesses, seiner Vorstudien und der Rahmenbedingungen seiner Arbeit als wichtiger Indikator eines Selbstbewusstseins der Comic-Künstler gelten, das mit der diskursiven Aufwertung des Comics als Kunst zusammenhängt.
3.2
Strategien der Autoreflexion II: Selbstporträts oder Der Zeichner als gezeichnete Figur
Der Einfall, den Autor eines Textes auf der Ebene der Diegese mit seinen Figuren zusammentreffen oder ihn in anderweitige Kontakte zu diesen treten zu lassen, findet sich in der Geschichte der Literatur in verschiedensten Varianten durchgespielt.4 Zu den schon früh angewendeten Verfahren des ostentativen (und dabei höchst einfallsreich durchgespielten) Selbstverweises gehört die Darstellung der Person des Zeichners. Ein berühmtes Porträt von sich selbst als Comic-Zeichner hat Lyonel Feininger geschaffen, der sich zur Ankündigung der Serie Kin-der-Kids auf der Titelseite der Chicago Sunday 4
Vgl. dazu Achim Hölter, »Das Eigenleben der Figuren. Eine radikale Konsequenz der neueren Metafiktion«, in: Komparatistik. Jahrbuch der Deutschen Gesellschaft für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft 8 (2007), S. 29–53.
Selbstverweise und Selbstbespiegelungen
33
Tribune (29. April 1906) als Marionettenspieler darstellte, an dessen Fäden seine gezeichneten Figuren baumeln.5 Viele Comic-Zeichner haben sich in der Nachfolge Feiningers selbst dargestellt, darunter der Manga-Pionier Osamu Tezuka, der sich in seinen Bildgeschichten wiederholt unter die eigenen Figuren mischt. Nur ein Beispiel unter anderen: Auf den extremen Produktionsdruck, unter dem er normalerweise stand, wenn es darum ging, neue Folgen für seine Serien an die Zeitungsredaktionen zu liefern, verweist eine Episode, in der er darstellt, wie er sich heimlich davonmacht, während kettenrauchende Redakteure auf seine fertige Arbeit warten.6 Der Manga-Zeichner Akira Toriyama hat sein eigenes Studio mitsamt allen Möbeln und Arbeitsmitteln gezeichnet und dafür die Vogelflugperspektive gewählt. Er selbst ist auf dem Bild nicht dargestellt – schließlich suggeriert das Bild ja auch, dass er sich gerade über sein Zimmer wie über eine Puppenstube beugt, um es zu zeichnen –, aber die herumstehenden und -liegenden Objekte verweisen auf ihn und geben Auskunft über ihn.7 Auch Lewis Trondheim hat sich selbst am Zeichentisch porträtiert.8 Die französischen Bande-dessinée-Zeichner, die auf Guy Delcourts Nachfrage Auskunft über die Motive ihrer Liebe zum Comic gaben, stellten sich zu einem erheblichen Teil zeichnend respektive am Schreibtisch dar. Scott McCloud schließlich macht sich selbst zum Protagonisten einer mittlerweile mehrbändigen Serie von Metacomics (siehe Kapitel I.3.8).
3.3
Strategien der Autoreflexion III: Selbstwiederholung und Selbstparodie
Andere Formen des Selbstverweises stehen in engem Bezug zu dem humoristischen Grundcharakter, der zumindest in der Pionierzeit für Comics konstitutiv ist. Wiederholungen und Variationen zunächst etablierter Grundmuster (von Figuren und Abläufen) haben grundsätzlich einen zumindest latent komischen Effekt. Gerade für den Comic-Zeichner, der seine Geschichten als Fortsetzungsfolgen produziert und sein Publikum in regelmäßigen Abständen mit neuen Bildgeschichten bedienen muss, liegt es nun
5
6 7 8
Dazu Platthaus, Im Comic vereint, Kap. »Die Keimzelle der Kunst«, S. 116: »Die selbstbewusste Präsentation als ›Drahtzieher‹ aller Abenteuer der Kin-der-Kids war ein bis dahin im Comic unbekanntes selbstreferentielles Element.« Als Bildzitat in Knigge, Alles über Comics, S. 242. Vgl. Akira Toriyama, Arale-Attacke, Dr. Slump, Bd. 2., Hamburg 2000, S. 131. Vgl. Knigge, Alles über Comics, S. 394.
34
Der Comic als ›neunte Kunst‹ und die Literatur
nahe, auf diesen Effekt der Wiederholung zu setzen und variierend und zitierend an die eigenen früheren Darstellungen anzuknüpfen. Im Sich-selbstWiederholen liegt aber zugleich ein Moment des Selbstverweises, aus dem mit entsprechendem Einfallsreichtum erhebliches ästhetisches Kapital geschlagen werden kann. George Herrimans Geschichten über Krazy Kat und seine Gefährten nehmen in vielfältigen Varianten Bezug auf sich selbst: auf das eigene sehr beschränkte Figurenarsenal, auf die stereotypen Verhaltensweisen dieser Figuren, die sich selbst oft als an die comicimmanenten Regeln gebunden wahrnehmen, auf immer wiederkehrende Handlungsmuster, die für den einschlägig bewanderten Krazy-Kat-Leser schließlich bereits aus Andeutungen ablesbar werden, aber auch auf die medialen Darstellungsformen des Zeichners, auf Zeitverläufe, Raumdarstellungen, verwendete Materialien und Strategien der Bildregie. Das immer artifiziellere Spiel Herrimans mit den selbsterfundenen Charakteren und Szenarien illustriert zum einen exemplarisch, wie Wiederholung und Variation erfolgsträchtige Wiedererkennungseffekte garantieren und Komik erzeugen, zumal wenn es um Verzerrungen und Selbstparodien geht, zum anderen aber auch, in welchem Maße die lustige Bilderzählung zur medienbewussten Meta-Erzählung werden kann.9 Auch Herrimans Verfahrensweise des Selbstverweises ist wegweisend für viele Zeichner gewesen. Selbst- und Fremdzitate spielen im Comic eine wichtige Rolle, wann immer es um mehr geht als darum, nur eine Geschichte zu erzählen. Zu den tragenden Ideen von Scott McClouds Metacomics gehören ständige Selbstwiederholungen, verbunden mit Variationen und Verfremdungen der jeweiligen Ausgangsbilder und -szenen (siehe Kapitel I.3.8).
9
Vgl. dazu Platthaus, Im Comic vereint, S. 116. – Arnold attestiert George Herriman eine an das Sonett erinnernde poetische Leistung: »Herriman used the core dynamic of his three principal characters – lovesick Krazy kat, brick-throwing Ignatz mouse, and dutiful Offica Pup – like a sonnet form, endlessly riffing on the characters’ relationships […]« (»Comix poetics«, S. 13). Eine Seite von 1937 kommentiert er als exemplarisch für die Verwendung poetischer Strukturen durch Herriman: »In a single page, Herriman creates not a traditional poem but its comicart equivalent. It has playfulness about both the language (›dee dee diary‹, ›dokk, dokk night‹) and the images (the background changes from panel to panel though the foreground remains consistent). […] the essence of the work, called the ›gag‹ panel in this context but akin to a sonnet’s final couplet, appears at the end. […] here we see an example of cartoon poetry in its purest form.« (Ebd.).
Selbstverweise und Selbstbespiegelungen
3.4
35
Strategien der Autoreflexion IV: Rahmungen
»Keine Darstellung wird als Kunstwerk anerkannt, wenn sie nicht aus der großen und weiten Welt wie durch einen Rahmen abgeschnitten«:10 Diese Beobachtung Goethes weist auf die Signifikanz von Rahmungsstrukturen für die Selbstkonstitution und Selbstreflexion von Kunst hin. Rahmungsstrategien übernehmen in erzählerischen und dramatischen Texten wie auch in der bildenden Kunst vielfache und wichtige Funktionen. Sie dienen der besonderen Hervorhebung des dargestellten Themas, Gegenstandes oder Sujets; sie nehmen Einfluss auf die Wahrnehmung des Dargestellten durch den Leser, Zuhörer oder Betrachter, und sie fungieren als Selbstverweis der Darstellung – als Hinweis darauf, dass hier erzählt, gespielt, bildlich dargestellt wird. Solch selbstreflexiver Hinweis auf das Darstellen als solches wiederum lässt sich auf vielfältige und subtile Weisen in den Dienst ästhetischer Autoreflexion nehmen: Rahmenstrukturen reflektieren das Wie, Was, Warum des Erzählens, Spielens, Malens etc. – und sie verweisen natürlich auch auf die produktive Instanz selbst (den Erzähler, Autor, Maler etc.). Auf dem Weg über Rahmungen entwirft der Prozess ästhetischer Produktivität insgesamt ein Bild oder Modell seiner selbst – das dann natürlich nicht im simplifizierenden Sinn einer 1:1-Abbildung ›realer‹ Produktionsbedingungen oder ›realer‹ Autorschaft missverstanden werden darf: Ein Erzähler in der Erzählung und ein gemalter Maler sind Kunstfiguren. Ihre Rahmungen lassen sie in eine eigentümlich doppeldeutige Beziehung zur rahmenden Wirklichkeit treten. »[W]ährend der wirkliche Rahmen eines Tableau [sic] die Aufgabe hat, eine Zäsur zwischen ›Kunst‹ und ›Wirklichkeit‹ vorzunehmen, dient der gemalte Rahmen dazu, diese Grenze unkenntlich zu machen«.11 Ein Bild wird durch Abgrenzung gegenüber einem Außen zum »Bild«, es wird vom Rahmen zum Bild ›gemacht‹; dies gilt im Comic ebenso wie in der Malerei. Als Bild-Erzählung allerdings bietet der Comic neben der Möglichkeit rahmender graphischer Strukturen die zusätzliche Möglichkeit der Gestaltung von Rahmen-Erzählungen. Zudem sind Rahmungen für die Komposition von Comic-Seiten grundsätzlich konstitutiv; das Arrangement der Einzelbilder auf der Seite kann ja ganz unterschiedlich ausfallen. Wo da10
11
Johann Wolfgang v. Goethe, Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. 40 Bde. Hrsg. von Friedmar Apel, Hendrik Birus, Anne Bohnenkamp u. a., Frankfurt am Main 1993, I. Abt., Bd. 13: Sprüche in Prosa. Sämtliche Maximen und Reflexionen, S. 74, 1 499. Victor I. Stoichita, Das selbstbewußte Bild. Vom Ursprung der Metamalerei. Aus dem Franz. von Heinz Jatho, München 1998 (Orig.: L’instauration du tableau, Paris 1993), S. 77.
36
Der Comic als ›neunte Kunst‹ und die Literatur
bei von konventionellen, schematischen Panel-Kompositionen abgewichen wird, macht der Comic auf seine Bilder als Bilder aufmerksam. Für den Comic als ein aus sprachlich-narrativen und bildlichen Elementen bestehendes Medium ergibt sich auf beiden Ebenen die Möglichkeit des Einsatzes von Rahmenstrategien: Verschiedene Ebenen der Erzählung lassen sich ineinander schieben und verschiedene Ebenen der bildlichen Darstellung in Beziehung zueinander setzen. Durch seine Panel-Struktur hat der Comic ohnehin zum Strukturprinzip der Rahmung eine enge Beziehung. In den im Folgenden vorgestellten Literatur-Comics finden sich besonders vielfältige Beispiele für die Verwendung von Rahmenstrukturen, so etwa in Stéphane Heuets Adaptation von Marcel Prousts À la recherche du temps perdu (siehe Kapitel II.3).
3.5
Strategien der Autoreflexion V: Comics im Comic
Selbstreflexiv ist jede Form der Darstellung eines Kunstwerks in der Kunst selbst. Für Gemälde, die selbst Gemälde darstellen, hat sich der Begriff Metamalerei eingebürgert; analog dazu bezeichnet der Ausdruck Metaliteratur literarische Texte, die (auf welche Weise auch immer) literarische Texte enthalten. Ein entsprechendes Arrangement kann im Comic geschaffen werden, wenn (beispielsweise) gezeichnete Figuren Bild-Geschichten herstellen oder lesen. Auch andere Formen der Integration dargestellter Comic-Hefte oder Comic-Seiten in Comic-Erzählungen sind denkbar. Die Metacomics von McCloud arbeiten gerade mit diesem Strukturprinzip auf viele verschiedene Weisen. Besonders raffinierte Geschichten über Bilder, Bildbetrachter und die Folgen des Sich-Einlassens auf Bilder erzählt Marc-Antoine Mathieu. Art Spiegelman integriert in seine hochgradig selbstreferentiellen Comics wiederholt Comics, vor allem selbstgezeichnete. Scott McCloud präsentiert viele Comics anderer Zeichner in Auszügen. Stéphane Heuet integriert in seine Proust-Paraphrase zwar keine Comic-Darstellungen (die kommen in Prousts Roman ja auch nicht vor), wohl aber andere, ältere Formen der Bildergeschichte und damit Vorläufer des Comics (zu Proust siehe Kapitel II.3, zu Comics im Comic auch Kapitel I.4.3).
Selbstverweise und Selbstbespiegelungen
3.6
37
Strategien der Autoreflexion VI: Mise-en-abyme-Strukturen
Zugespitzt wird die Strategie des »Werks-im-Werk« durch mise-en-abymeStrukturen.12 Eine mise en abyme liegt dann vor, wenn eine Darstellung sich selbst als Bestandteil des Dargestellten enthält, ein Buch also in sich selbst vorkommt oder ein Bild sich selbst darstellt. (Ein bekanntes Beispiel sind die Schachteln von Rotkäppchen-Camembert, auf deren Deckel ein Mädchen zu sehen ist, das eine Schachtel mit Rotkäppchen-Camembert in der Hand hält.) Das Grundmodell lässt sich abwandeln: Von René Magritte stammt ein Gemälde, auf dem Magritte zu sehen ist, wie er gerade Magritte malt. Bekannter ist das Bild, auf dem ein Bild zu sehen ist, auf dem Magrittes berühmte Pfeife zu sehen ist.13 Eigengesetzliche, ihren eigenen Regeln und Maßstäben unterworfene ›Kunst‹ beginnt also damit, dass sie sich selbst thematisiert, reflektiert, darstellt, etwa durch Bild-im-Bild-Konstruktionen. Meta-Malerei markiert insofern den Anfang der Malerei als ›Kunst‹, das heißt als etwas, das um seiner selbst willen geschaffen ist. Ein besonders raffiniertes Beispiel bietet wiederum Marc-Antoine Mathieu mit seiner Erzählung L’Origine, deren Protagonist Julius Corentin Acquefacques in Umschlägen Seiten seiner eigenen Geschichte zugespielt bekommt, die in verkleinertem Maßstab dem entsprechen, was der Leser selbst als Geschichte in Händen hält. Der Protagonist liest die entsprechenden Seiten zeitversetzt und hat entsprechend Anlass, sich über die damit verbundene Verschlingung der Zeit zu wundern (siehe dazu auch Kapitel II.5).
3.7
Strategien der Autoreflexion VII: Zitate
Alle Künste sind Künste des Zitierens, woran ja in den vergangenen Jahrzehnten vor allem der Diskurs über Intertextualität und das Interesse an der 12
13
Den Terminus mise en abyme hat der französische Romancier André Gide in die literaturkritische Terminologie eingeführt; er übernahm ihn aus der Heraldik, wo verschachtelte Strukturen wie Wappen auf Wappen auf Wappen … gelegentlich vorkommen. Nahe verwandt mit mise-en-abyme-Strukturen sind solche Gemälde, bei denen zwar nicht das jeweilige Werk selbst im Werk vorkommt, wohl aber andere Werke – als Repräsentanten der Mal-Kunst selbst, also als Selbstverweis des Werks in seiner Eigenschaft als Ausprägung seiner Kunstform Malerei. Der Anfang dieser MetaMalerei fällt mit dem Beginn der neuzeitlichen Kunst zusammen und markiert historisch und diskursiv den Übergang zu einer Kunst, die sich in erster Linie als Kunst versteht und zur Autonomie drängt.
38
Der Comic als ›neunte Kunst‹ und die Literatur
intertextuellen Struktur literarischer Werke erinnert hat. In der Geschichte der Kunstgeschichte zielt die ikonographische bzw. ikonologische Methode darauf ab, die Abhängigkeit bildkünstlerischer Gestaltung von zitierbaren Bildmotiven und Bildvorlagen zu verdeutlichen. Bildzitate verdienen als Bestandteile von Comics besondere Aufmerksamkeit, besitzen sie doch wie alle Zitate eine (zumindest latent, oft explizit) autoreferentielle Dimension. Sofern es sich – wie häufig bei Heuets Proust-Comic – um Werke der bildenden Kunst handelt, bilden sie ein Scharnier zwischen der Comic-Geschichte und der Kunst-Geschichte, auf das vor allem jene Künstler besonderen Wert legen, die sich in der Nachfolge von Künstlern wie Hogarth, Masereel etc. sehen. Textzitate verknüpfen die Comic-Erzählung nicht allein mit dem jeweils zitierten Text selbst, sondern mittelbar mit der Gattung, welcher dieser Text angehört, dem Wissensdiskurs, dem er entstammt, respektive den Sprachund Textwelten, denen er zuzuordnen ist. Der Literatur-Comic in seinen diversen Spielformen ist in besonders evidenter Weise eine Kunst des Zitats – er zitiert Texte, textimmanente Welten und deren historisch-biographische Kontexte, im Zusammenhang damit aber auch Bilder, Bildmotive und ganze Bildwelten herbei.
3.8
Strategien der Autoreflexion VIII: Metacomics
Epochal für die Geschichte des Comics ist die Entstehung des Metacomics – einer Spielform des Comics, die explizit vom Comic selbst handelt und die eigene Medialität auf inhaltlicher wie auf darstellerischer Ebene bespiegelt. Eine mittlerweile verbreitete Untergattung des Metacomics besteht aus solchen Comics, die Anleitungen zum Zeichnen oder zum Lesen von Comics geben; so kann man etwa inzwischen das Mangazeichnen aus Mangas lernen. Demgegenüber rücken Bilderzählungen einer anderen Untergattung die historische Genese und die medienästhetischen Eigenarten des Comics in den Mittelpunkt ihrer Darstellung; sie setzen sich mit der Frage auseinander, welche Parameter für die Herausbildung der verschiedenen Spielformen des Comics maßgeblich waren, wie Comics sich zu anderen bild- und textmedialen Darstellungsformen verhalten, welche kulturellen Funktionen sie besitzen, wer sie produziert und wer sie liest. Kurz: Indem sie die eigene Darstellungsform als solche aus verschiedenen Perspektiven zum Objekt der Darstellung machen, widmen sie sich der autoreferentiellen Erfindung des Comics als Kunstpraxis.
Selbstverweise und Selbstbespiegelungen
39
Der Zeichner als Erzähler: Will Eisner Pionier des Metacomics ist Will Eisner. Seine Bände Graphic Storytelling & Visual Narrative und Comics & Sequential Art verbinden Informationen zur Geschichte der Bilderzählung mit medientheoretischen Erörterungen und vielfältigen illustrativen Beispielen und bieten insgesamt eine Einführung in die Ästhetik des Comics.14 Eine autoreferentielle Dimension besitzen sie nicht allein als Comics über den Comic, sondern auch als Berichte aus der individuellen künstlerischen Werkstatt. Eisner bedient sich als Theoretiker und Historiker des Comics derselben stilistischen Mittel, die er auch als ComicZeichner einsetzt, und er integriert Zitate eigener Bildgeschichten in die Darstellung. Konstitutiv für den Comic ist »Storytelling with graphics«.15 Und Eisner beschwört in mehrerlei Hinsicht die eigenen künstlerischen Vorfahren. So wird an verschiedene Vor-Formen des zeitgenössischen Comics erinnert: an die Graphiken Frans Masereels, Otto Nückels und anderer, die mit Bildern Geschichten erzählt haben. Als tragend für die im Comic erzählte Geschichte betrachtet Eisner die Bilder. »Comics are essentially a visual medium composed of images. While words are a vital component, the major dependence for description and narration is on universally understood images […]«.16 Doch die graphische Komponente darf sich nicht gegenüber der zu erzählenden Geschichte verselbständigen. »[…] the story is the most critical component in a comic«.17 Comicspezifische Bilder sind laut Eisner »crafted with the intention of imitating or exaggerating reality«,18 sie sind also mimetisch, setzen aber meist auf eine verfremdende Darstellung. Laut Eisner ist die Lektüre geschriebener Texte dadurch charakterisiert, dass sich im Kopf des Lesers die gelesenen Worte in Bilder verwandeln, dort also eine Art mentales Kino abläuft. Lesen bedeutet für Eisner also, eine Transformation von Sprachlichem ins Bildliche vorzunehmen. Der Comic, der selbst aus Bildern besteht, nehme dem Leser demgegenüber die Erzeugung von Bildern ab. Die den Text begleitenden Bilder seien eine Form des Kinos auf dem Papier, und im Idealfall werden sie auch so betrachtet. 14
15
16 17 18
Will Eisner, Graphic Storytelling & Visual Narrative, 5. Aufl. Tamarac, FL 2001 (zuerst 1996). Ebd., S. 1. In Eisners Darstellung der Gattung Comic und seiner Vorgeschichte stehen auch weiterhin die Bildhaftigkeit und der narrative Charakter im Zentrum (»The effort of artists to tell stories of substance with imagery is not new«, ebd.). Ebd., S. 1 f. Ebd., S. 2. Ebd.
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Der Comic als ›neunte Kunst‹ und die Literatur The reading process in comics is an extension of text. In text alone the process of reading involves word-to-image conversion. Comics accelerates that by providing the image. When properly executed, it goes beyond conversion and speed and becomes a seamless whole.19
Die im Comic verwendeten Bilder sind für Eisner sprachanaloge Ausdrucksmittel, Bestandteile einer graphischen Sprache: »the images are employed as a language«.20 Er spricht von »universally understood images«,21 welche der Comic-Zeichner verwende, bedient sich damit allerdings einer fragwürdigen Suggestion (die freilich zu seinem generalisierenden und universalisierenden Ansatz passt). In Graphic Storytelling & Visual Narrative wendet sich der Erzähler Eisner zunächst den Anfängen des Erzählens in prähistorischer Zeit zu. »The Story of Storytelling«22 erzählt von einer steinzeitlichen Horde von Höhlenbewohnern, die sich um eine Feuerstelle versammelt hat. Eine Figur steht aufrecht und deutet auf an die Höhlenwände gemalte Tier- und Menschenfiguren hin, die bekannten steinzeitlichen Höhlenmalereien gleichen. Offenbar spricht der Stehende zu den Sitzenden; unterstützt durch die Wandbilder. Eisners Text zu dieser zeichnerisch dargestellten Geschichte deutet diese als Darstellung einer sozialen Urszene. Er schlägt sprachlich wie zeichnerisch eine Brücke zwischen urtümlichen und gegenwärtigen Medien der narrativen Kommunikation, wobei deren funktionale Analogie betont wird: The telling of a story lies deep in the social behavior of human groups – ancient and modern. Stories are used to teach behaviour within the community, to discuss morals and values, or to satisfy curiosity. They dramatize social relations and the problems of living, convey ideas or act out fantasies. The telling of a story requires skill. In primitive times, the teller of stories in a clan or tribe served as entertainer, teacher and historian. Storytelling preserved knowledge by passing it from generation to generation. This mission has continued into modern times. The storyteller must first have something to tell, and then must be able to master the tools to relay it.23
Wenn sich die Medien wandeln, so bleibt doch das Geschichtenerzählen eine anthropologisch fundierte Konstante, so signalisiert auch eine weitere Zeichnung, auf der buchstäblich ein ›Querschnitt‹ durch die Mediengeschichte dargestellt ist, indem mehrere ›Ebenen‹ der Zeit graphisch als Schichten eines von oben nach unten zu lesenden Bildes repräsentiert werden. Die oberste Ebene des Bildraums stellt nochmals die urzeitliche 19 20 21 22 23
Ebd., S. 5. Ebd. Ebd., S. 2. Ebd., S. 7–8. Ebd., S. 7.
Selbstverweise und Selbstbespiegelungen
41
Abb. 3: Will Eisner thematisiert den Comic als Medium des Geschichtenerzählens (Graphic Storytelling, S. 7).
Gruppe und das mündliche Erzählen dar. Eine zweite Ebene zeigt eine Tanz-Darbietung als alternative mediale Darstellungsform; eine dritte gilt dem Theater, eine vierte der Schrift; hier sehen wir flankierend zu Lesern vor dem Hintergrund einer Buchreihe seitlich erstens einen schreibenden Mönch und zweitens den Benutzer einer Druckpresse, also die Repräsentanten der Hand- und der Druckschrift-Kultur. Eine fünfte Bildebene repräsentiert das historisch jüngere Medium des Films, die letzte und unterste das Lesen eines Comics. Dieser wird damit als ein narratives Medium präsentiert, das im historischen und medialen Verbund anderer Spielformen des Erzählens zu sehen ist – wobei Eisner das Zusammenwirken von Bild und Sprache im Erzählprozess besonders akzentuiert.24 Der folgende Abschnitt des Metacomics gilt der Frage »Was ist eine Geschichte?«. Akzentuiert wird die strukturelle Dimension von Narrationen 24
»The earliest storytellers probably used crude images buttressed with gestures and vocal sounds which later evolved into language. Over the centuries, technology provided paper, printing machines and electronic storage and transmission devices. As these developments evolved, they affected the narrative arts.« (Ebd., S. 8).
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Der Comic als ›neunte Kunst‹ und die Literatur
Abb. 4: Will Eisners Konstruktion einer Mediengeschichte (Graphic Storytelling, S. 8).
als »Folgen von Ereignissen«, deren Ordnung im Erzählprozess zustande komme und der Kontrolle des Erzählers unterliege. Weitere Abschnitte gelten den Zwecken des Geschichtenerzählens, den verschiedenen Gestaltungsoptionen sowie insbesondere dem Erzählen von Geschichten durch Bilder. Der Ur-Erzähler bleibt Protagonist. Auch in seinem Metacomic Comics & Sequential Art leitet Eisner schon die eigene Kunst von Grundprinzipien des Erzählens ab und betont transhistorische und transnationale Kon-
Selbstverweise und Selbstbespiegelungen
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stanten des Erzählens mit Bildern.25 Er schildert die Geschichte des Comics als die der dynamischen Entwicklung einer narrativen Bildsprache, die auf transkulturelle Verständlichkeit abzielt – und die Geschichte einer Expansion vom Randphänomen in Zeitungen und Zeitschriften hinein ins Buch.26
Der Zeichner als Fortsetzer der kunsthistorischen Tradition: Scott McCloud Scott McClouds Metacomics folgen den Spuren Eisners, beginnend mit Understanding Comics, und stellen die Stilmittel des Comics und seine spezifische Ästhetik mit dessen eigenen Mitteln dar. Dazu gehören eine synchrone und diachrone Einordnung des Comics in das System bzw. in die Geschichte verwandter Darstellungsformen, eine Vorstellung wichtiger Komponenten und Gestaltungsprinzipien des Comics und Anleitungen zur Lektüre von Comics. Durch das Buch führt als ›Lehrer‹ eine Comic-Figur, in der sich McCloud selbst porträtiert hat. Er hält seinen Lesern gleichsam Vorlesungen zu verschiedenen Themen, wobei sein Status als Comic-Figur es möglich macht, dass er mit seinen eigenen Gegenständen auf derselben ›Realitäts‹-Ebene steht.27 Selbstbewusst statuiert der gezeichnete Scott: »The world of comics is a huge and varied one. Our definition must encompass all these types –«.28 Der gezeichnete Scott spricht diesen Satz, indem er auf einen riesigen Globus deutet, auf dessen Fuß er steht. Auf dem Globus, in den einzelnen durch Längen- und Breitengrade gebildeten Feldern, sind bekannte Comic-Figuren von Zeichnern verschiedenster Provenienz zu sehen, also Bilder aus einer globalen Bildkultur. McCloud lässt seine Scott-Figur den Comic zunächst definieren, nämlich als »[j]uxtaposed pictorial and other images in deliberate sequence, intended to convey information and/or produce an aesthetic response in the 25 26
27 28
Will Eisner, Comics & Sequential Art, 24. Aufl. Tamarac, FL 2003 (zuerst 1985). »The first comic books (circa 1934) generally contained a random collection of short features. Now, after almost 50 years, the appearance of complete ›graphic novels‹ has, more than anything else, brought into focus the parameters of their structure. When one examines a comic book feature as a whole, the deployment of its unique elements takes on the characteristic of a language. The vocabulary of Sequential Art has been in continuous development in America. […] Comics communicate in a ›language‹ that relies on a visual experience common to both creator and audience. Modern readers can be expected to have an easy understanding of the image-word mix and the traditional deciphering of text. Comics can be called ›reading‹ in a wider sense than that term is commonly applied.« (Ebd., S. 7). Die Comic-Figur sei im Folgenden »Scott« genannt, der Autor selbst »McCloud«. McCloud, Understanding Comics, S. 4.
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Der Comic als ›neunte Kunst‹ und die Literatur
Abb. 5: Scott McCloud unterwegs auf dem ComicGlobus (Understanding Comics, S. 4).
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viewer«;29 dann widmet er sich der »Geschichte des Comics«.30 Der gezeichnete Scott reist auf dem Zeitstrahl zurück und entdeckt zunächst eine 1519 von Cortéz entdeckte präkolumbische Bilderhandschrift, ein mehr als zehn Meter langes Faltbuch, auf dem die Geschichte eines Herrschers in Bildern erzählt wird.31 Als Frühformen des Comics bringt er von seiner Zeitreise auch den Teppich von Bayeux mit32 sowie ferner Texte aus ägyptischen Hieroglyphen,33 einen frühen Druck mit einer Bildergeschichte von ca. 1460,34 Kupferstiche Hogarths aus dem 18. Jahrhundert35 und Zeichnungen Rodolphe Töpffers aus dem 19. Jahrhundert.36 Vorläufer des Comics sind für Scott auch die Trajanssäule, griechische Malereien und japanische Tuschmalereien.37 Und als dem Comic zumindest verwandte Werke werden verschiedene Beispiele moderner Kunst im 20. Jahrhundert genannt: Lynd Wards Holzschnitt-Romane38 sowie Bildfolgen Frans Masereels und Max Ernsts,39 comicaffine Bildmedien sind – wie Scott weiter ausführt – ferner Sequenzen von bemalten Fenstern, Monets Bildfolgen, ja sogar Bilder auf Gebrauchsanweisungen; entscheidend ist hier das Kriterium der Sequentialität.40 So gestaltet sich die Reise durch die Geschichte des Comics als eine Weltreise durch die Kunst- und Kulturgeschichte. Nicht nur die Bildsequenz als Gestaltungsform, sondern auch ihre Einzelelemente werden in einem transkulturellen Rahmen verortet. Basale Gestaltungsprinzipien des Comics werden vorgeführt und kommentiert, so vor allem die zunehmende Abstraktion, die aus Scotts Sicht einen universalisierenden Effekt hat. Er demonstriert, wie aus einem photorealistisch gezeichneten Gesicht allmählich ein Strichmännchengesicht wird, und erläutert die Funktion dieses Reduktionsverfahrens: Je ›cartoonhafter‹ ein Gesicht gezeichnet sei, desto mehr Menschen könnten durch dieses Gesicht dargestellt sein.41 Das ›Entziffern‹-Können von abstrahierenden Zeichnungen, wie sie für den Comic charakteristisch sind, betrachtet Scott als dem Menschen angeborene Fähigkeit. Komplementär erfolgen Ausführungen über sich ausdifferenzierende Zeichenstile und persönliche Handschriften von Zeichnern. In einer Pyramide werden Comic-Figuren verschiedene 29 30 31 32 33 34 41
35 Ebd., S. 16 f. Ebd., S. 8. 36 Ebd., S. 17. Ebd. 37 Ebd., S. 15. Ebd., S. 10. 38 Ebd., S. 18. Ebd., S. 12 f. 39 Ebd., S. 19. Ebd., S. 12–15. 40 Ebd. Ebd., S. 16. Scott betont anlässlich seines Strichmännchens explizit »the universality of cartoon imagery. The more cartoony a face is, for instance, the more people it could be said to describe.« (Ebd., S. 31).
46 35
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37
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35 36 37 38 Abb. 6: Frühe Formen der Bildgeschichte bei Scott McCloud 39 (Understanding Comics, S. 19). 40 41
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Provenienz zusammengestellt, um die Vielfalt der Stile, aber auch deren Zusammenhang visuell zu repräsentieren.42 McClouds zweiter Metacomic Reinventing Comics (Comics neu erfinden), ebenso gestaltet wie der erste, gilt einer medientheoretischen Erörterung des Comics unter historischen, medientechnischen, rezeptionssoziologischen und ökonomischen Aspekten; zudem geht es um die Zukunft des Comics. Scott erinnert erneut an die Vorgeschichte des Comics und legt wiederum Wert auf die Betonung des Kunstcharakters dieser bildmedialen Form. Ein eigener Abschnitt ist unter dieser Prämisse dem Stichwort ›Comics als Literatur‹ gewidmet; McCay und Herriman werden als Pioniere einer die massenmediale Unterhaltung überbietenden Zeichenkunst gewürdigt, Eisner als Visionär des großen Comic-Epos, Spiegelman als Ausnahmefall eines erfolgreichen und anerkannten Vertreters des Comics als Kunst. »A ›Low‹ Art Takes the High Road«, so ist ein Abschnitt betitelt, der der Kontroverse der Zeichner selbst um den Kunstcharakter ihrer Arbeit gilt.43 Scott stellt die verschiedenen Spielformen, Produzenten- und Rezipiententypen des Comics vor und verweist vor allem auf Arbeitsbedingungen der Zeichner sowie auf die technische Herstellung und Vermarktung von Comics. Schließlich skizziert er die technisch-medial bedingten Möglichkeiten, den Comic vom Buch zu lösen und ihn durch digitale Medien zu neuen Entfaltungsmöglichkeiten zu führen. Der Anspruch auf Anerkennung des Comics als Kunst ist bei all dem nachdrücklich im Spiel. Freilich hat Scott (und wohl auch McCloud) einen diffusen Kunstbegriff. Einerseits orientiert er sich – selbst ganz konventionell – an einem konventionellen Vorverständnis von ›Kunst‹ als einer gesellschaftlich anerkannten Praxis und protestiert gegen die simplifizierende und diffamierende Gleichsetzung von Comic und Graphic Novel mit billiger Unterhaltungsware, verlegt seine Argumentation also auf die Ebene der Frage nach gesellschaftlicher Akzeptanz – andererseits möchte er zumindest implizit den Kunstcharakter der als Pioniere gewürdigten Zeichner mit der ästhetischen Qualität ihrer Arbeiten begründet wissen. Bei einer solchen Akzentuierung des Kunstcharakters mancher Comics wäre es freilich plausibler, ästhetische Kriterien zu erörtern und ›kunstvollere‹ von weniger kunstvollen Arbeiten zu unterscheiden, statt pauschal vom Comic insgesamt zu handeln und diesen als ›Kunst‹ legitimieren zu wollen. In Ansätzen setzt er sich immerhin mit der Frage auseinander, was aus seiner Sicht den ästhetisch avancierten Comic auszeichnet.
42 43
Ebd., S. 52 f. McCloud, Reinventing Comics, S. 26.
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Der Comic als ›neunte Kunst‹ und die Literatur
Abb. 7: Der intradiegetische Scott als ›Logo‹ (Understanding Comics, S. 37).
Darauf, dass der Band Understanding Comics (Analoges gilt für die NachfolgerBände) vom Comic unter anderem als von einer (Bilder-)Schrift handelt, deuten schon die das Inhaltsverzeichnis begleitenden Logos hin, die im Band dann später auch immer wieder auftauchen: Zeichen, die zwischen Bild und Schriftzeichen changieren. Es geht um das ›Lesen‹ von Comics; immer wieder spricht McCloud von ›reading‹. Im dritten Band seiner Reihe über Comics (Making Comics), der dem Produktionsprozess gewidmet ist, heißt das erste Kapitel entsprechend: »Writing with Pictures«. Die gezeichnete Figur Scott, die als buchinterner Doppelgänger des Zeichners und Autors Scott McCloud den Leser durch das Buch begleitet, ist selbst eine Art Logo. Er ist stark stilisiert; das Karomuster seiner Jacke korrespondiert mit der Struktur der in Kästchen aufgeteilten Seiten; seine große Brille (hinter der man keine Augen sieht) akzentuiert das Sehen – er ist eine Art Logo des Comics.
Insgesamt erarbeitet Scott (bzw. sein reales Alter Ego Scott McCloud) eine Definition des Comics, die diesen als eine Art ›Schrift‹ erscheinen lässt: (1) Er betont, dass der Comic ein codifiziertes Zeichensystem ist, das sich in einzelne Subcodes ausdifferenziert wie die Schrift in diverse Schriftsysteme. Für ihn sind Comics aus ›bildhaften oder anderen Zeichen‹ zusammengesetzt. (2) Comics als Zeichensequenzen bestehen aus diskreten Elementen, die das Auge des Betrachters zu Kontexten zusammenliest. Entscheidend ist der
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Raum ›dazwischen‹, die Differenz zwischen den Zeichen. Im Comic wird er meist als die Fläche zwischen den Panels greifbar, die das Auge des Lesers kreativ überbrückt. Im dritten Kapitel behandelt Scott die Voraussetzungen, unter denen Bildsequenzen als Darstellungen zeitlich aufeinanderfolgender Momente decodiert, also als temporal interpretiert werden. Entscheidend ist für ihn der Zwischenraum zwischen den Bildern. Dieser ist das (negative) Zeichen für den Übergang von Zustand A in Zustand B. Er stellt verschiedene Typen der Sequenzbildung vor.44 Dieser Erklärung zufolge ist es für den Comic entscheidend, dass er aus diskreten (voneinander physisch unterschiedenen) Elementen besteht. Die Lektüre einer Bildsequenz als ›Geschichte‹ oder als Darstellung eines anderen ›Prozesses‹ funktioniert, weil man beim Betrachten die Einzelelemente als ein ›Erst dies, dann das‹ deutet, was aber voraussetzt, dass man sie als unterschieden wahrnimmt. Wiederum wird ein Strukturmerkmal von Schrift hervorgehoben: Schriftzeichen sind ebenfalls diskrete Elemente. Man liest Buchstaben oder Silbenzeichen zu Wörtern, Sätzen, Texten ›zusammen‹, an sich stehen sie aber als voneinander unterschiedene Einheiten auf der Schreibfläche. (3) Kulturgeschichtlich leiten sich Comic-Erzählungen und Bilderschriftsysteme aus denselben Vorformen (Hieroglyphenschriften, Bilderhandschriften) ab – bzw. sie haben dieselbe gemeinsame Geschichte. (4) Das Lesen von Comics erläutert Scott zwar nicht nur unter Bezugnahme auf die Anwendung erlernter Codes, sondern, weiter zurückgreifend, unter Verweis auf die Strukturen und Operationen unseres Wahrnehmungsvermögens. Aber es sind genau dieselben wahrnehmungsphysiologischen und -psychologischen Voraussetzungen, unter denen wir auch Buchstabenfolgen zu Wörtern und Texten zusammenlesen. Da Scott den Comic als Kunst verstanden wissen will, muss er erklären, was er unter Kunst versteht. Sein Ansatz ist autonomieästhetisch: Das Künstlerische ist für ihn zweckfrei. Die künstlerische Dimension von Objekten und Prozessen, welche an sich durchaus zweckgebunden sind, beruht darauf, dass hier das bloß Zweckmäßige überboten und um ein Moment der Zweckfreiheit angereichert wird. Im 7. Kapitel erklärt Scott, was er unter ›Kunst‹ versteht: Alles, was nicht zweckorientiert der Befriedigung vitaler Bedürfnisse dient. Kunst – so die im Ganzen autonomieästhetisch fundierte These – erwächst aus dem Müßiggang und dem Überfluss.45 Scott entwickelt seine These im Ausgang von einem basalen anthropologischen Theorem mittels einer Bildgeschichte. Die These besagt, der Mensch verfolge mit all 44 45
McCloud, Understanding Comics, S. 60–74. Ebd., S. 164 f.
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seinem Tun und Schaffen im Wesentlichen zwei praktische Zwecke: den der Selbsterhaltung als Individuum (insbesondere des Schutzes vor Feinden) und den der Arterhaltung (also der Fortpflanzung). Visualisiert werden diese beiden Grundimpulse durch die Geschichte eines ›prähistorischen‹ Strichmännchens, das zunächst eine Frau verfolgt (zum Zweck der Arterhaltung), dann aber vor einem plötzlich auftauchenden wilden Tier davon laufen muss (zum Zweck der Selbsterhaltung). Die bei der Flucht angewandte erfolgreiche List der Comic-Figur, sich kurzfristig an einem Baum hochzuziehen, so dass die verfolgende Bestie in einen Abgrund stürzt, ist noch ganz zweckorientiert. Wenn Scotts Comic-Figur dann aber dem stürzenden Untier eine Grimasse zieht – dann beginnt, Scott zufolge, hier die ›Kunst‹: Zweckfrei, überflüssig, redundant, entzieht sich das höhnische Mienenspiel des Urmenschen der Bemessung an Effizienz-Kriterien und ist (im Horizont Kantischer oder Schiller’scher Begriffe gedeutet) ein Ausdruck seiner Freiheit über die situationsbedingten Zwänge. Der Einfall, ›Kunst‹ programmatisch mit einer Grimasse beginnen zu lassen, ist im Übrigen bestens auf die (Selbst-)Darstellung einer Darstellungsform abgestimmt, die ihre frühe Geschichte als ›komische‹ und groteske Bilderzählung ja auch gar nicht verleugnen will, wenngleich sie mittlerweile andere Bündnispartner sucht als das Variété. Eine kurze Bilanz: Als Metacomic-Zeichner erfinden und deuten Eisner und McCloud den Comic als den Verwandten und Erben tradierter ästhetischer Darstellungsformen und kanonisierter Kunstwerke. Im Spiegel ihrer Auslegungen setzen die Bilderzählungen der Comic-Zeichner einen kulturen- und epochenübergreifenden Erzählprozess fort, dessen Ursprünge sich bis in prähistorische Zeiten zurückverfolgen lassen und der in verschiedenen Formen in allen Kulturen der Welt fortgesetzt wird. In seinen Metacomics konstruiert Eisner die eigene Kunst als Kunst des Erzählens, genauer als Fortsetzung des in anthropologischen Bedürfnissen fundierten Erzählens mit den Mitteln einer massenmedialen Darstellungsform. Betont Eisner mit der Erfindung seines prähistorischen Erzählers vor allem die narrative Grundstruktur des Comics und damit dessen Verwandtschaft zu sprachlich-literarischen Narrationen, so hegt McClouds ›Scott‹ ein ausgeprägtes Interesse an der Geschichte der bildenden Kunst – zu der bei ihm auch die Geschichte des Comics selbst schon gehört. Der gezeichnete Scott selbst jongliert ostentativ mit Bildern. Als Stationen auf dem Weg zum Comic werden verschiedene Bilderschriften, Wand- und Buchmalereien sowie einzelne künstlerische Werke vorgestellt. Bei Eisner erscheint der Comic zudem als Produkt einer mediengeschichtlichen Entwicklung, die zunächst
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von mündlichen zu schriftlichen Darstellungsformen und dann weiter vom Manuskript über das Druckwerk zum Film und zu den modernen Massenmedien führt. McCloud akzentuiert unter anderem die globale Präsenz des Comics und seine Ausdifferenzierung in kulturspezifische, regionale und individuelle Stile. Eisner und McCloud illustrieren exemplarisch, wie sich der Comic als ästhetisches Medium selbst erfindet: unter Bezug auf verschiedene Wissensdiskurse, etwa den anthropologischen und wahrnehmungspsychologischen, den semiotischen, medien- und technikgeschichtlichen, den kultursoziologischen und ökonomischen Diskurs, vor allem aber im Rekurs auf traditionelle Kunstformen. Er zieht sich wie Münchhausen am Zopf der eigenen Darstellungsmittel aus dem unfesten Boden der vermeintlichen Trivialkunst und gibt sich sein Profil – sei es als narratives Medium (durch Geschichten vom Geschichtenerzählen), sei es als dem Schauspiel affine Inszenierung von Spielhandlungen auf dem Papier46 – oder als Fortsetzung der Geschichte der bildenden Kunst.
Comic-Zeichner über den Comic. Ein Gemeinschaftsprojekt als Positionsbestimmungen und Sympathieerklärungen Der Verleger Guy Delcourt hat vor einigen Jahren Comic-Autoren mit der Frage konfrontiert, warum sie die bande dessinée (BD) lieben.47 Die Mehrzahl der Zeichner kleideten ihre Reaktionen in die Form der BD, vielfach mit kurzen Geschichten, in denen sie sich selbst als deren Protagonisten porträtierten. Damit verlagert sich einmal mehr die Reflexion über den Comic in den Comic selbst. Teilweise lässt sich den Bildgeschichten ein diskursiver Zug attestieren: BDs eignen sich offenbar durchaus dazu, zu begründen und zu argumentieren. Einen Extremfall bietet die Antwort von Sergio García: Sie enthält kein einziges Wort, sondern besteht aus einer Doppelseite mit Zeichnungen, deren Elemente auf das Medium Comic, seine Struktur, seine Herstellung und seine Vorgeschichte verweisen (Zeichensprachen, Höhlenbilder, Bild-Texte, Sequentialität etc.).48 In Gestalt reiner Texte, die dabei
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Im Französischen bezeichnet man die Transformation in einen Comic als »mise en BD«, analog zu »mise en scène« = Inszenierung. Guy Delcourt, »Avant-propos«, in: Ders. (Hrsg.), Pourquoi j’aime la bande dessinée, S. 5. Sergio Garcías zweiseitige Antwort auf Delcourts Frage trägt keinen Titel; Delcourt (Hrsg.), Pourquoi j’aime la bande dessinée, S. 36 f.
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allerdings teilweise durch formale Besonderheiten wie Wiederholungen, Variationen etc. auffallen, antworteten: Christoph Arleston, Guy Delcourt selbst, Jean-Pierre Dionnet, Fred Duval, Stéphane Heuet, Jean David Morwan. Gleich mehrere BD-Autorinnen und -Autoren boten als Reaktion auf Delcourts Frage Bildergeschichten, in denen sie darstellen, wie sie selbst auf die Frage reagieren: durch das Ausprobieren verschiedener möglicher Antworten, letztlich aber ratlos.49 Richard Guérineau stellt in einer Bildgeschichte dar, wie er als Gefangener von einer Art Inquisitor verhört wird, der ihn insistent immer wieder mit der ominösen Frage konfrontiert und mit keinem der schüchternen Antwortversuche zufrieden ist. Der Zeichner meint zuletzt, wenn er eines Tages die passende Antwort habe, werde er wohl mit der BD abgeschlossen haben. Ähnlich zeichnet sich Erwan Le Saëc als Untersuchungsgefangenen zwischen zwei brutalen Investigatoren, die unbedingt wissen wollen, warum er einem so nutzlosen Beruf nachgeht.50 Auch die Idee, sich selbst, respektive ihr gezeichnetes Double, mit Comic-Figuren zusammentreffen zu lassen, liegt den Antworten verschiedener Autorinnen und Autoren zugrunde, zum Beispiel derjenigen Thierry Coppées, der seine Ausflüge in die Welt verschiedener Comic-Figuren um eine explizite Antwort ergänzt: »Pourquoi j’aime la bande dessinée? C’est un bon moyen d’évasion, non?«51
3.9
Strategien der Autoreflexion IX: Entfaltungen und Betonungen stilistischer Vielfalt
Jeder Künstler, so will es ein geläufiges ästhetisches Theorem, entwickelt darstellend seine eigene ›Handschrift‹; in dieser manifestiert sich seine subjektive Künstlerschaft. Versuche zur Bestimmung dessen, was ästhetische Darstellungen von anderen Formen der Darstellung unterscheidet, haben bis in die jüngste Zeit hinein das Interesse am Begriff des Stils geweckt. Galt im Zeichen des Diskurses über den Autor als die das Werk bedingende und prägende Instanz der individuelle und persönliche Stil als Merkmal ästhetischer Originalität, und ist für Manfred Frank (der sich mit postauktorialen Textmodellen auseinandersetzt) die ›paralinguistische‹ Kategorie des Stils gerade diejenige Dimension von Texten, an der Unaussprechliches (und das 49 50 51
Zum Beispiel Virginie Augustin (ebd., S. 12), ähnlich »Espé« (ebd., S. 35). Ebd., S. 52 f. Vgl. Thierry Coppées Antwort (ebd., S. 15).
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Abb. 8: Cazas Antwort auf die Frage nach der Liebe zur BD (Pourquoi j’aime la bande dessinée, S. 16 f.). Die Frage nach dem Kunstcharakter der BD steht im Zentrum mehrerer Antworten. In der aus einem einseitigen Text und einer einzelnen Zeichnung bestehenden Antwort von Caza wird die Liebe zur BD damit erklärt, dass es sich um eine »art total« handele.52 Der anschließenden Erläuterung zufolge wendet sich diese Kunst gleichermaßen an die Sinnlichkeit und den Verstand, an die linke Gehirnhälfte, die einschlägigen Theorien zufolge für das Analytische und Geometrische, das Lineare und die Zahlen zuständig ist, »le domaine de la lecture de texte et de maths«, in ihrem Vorgehen systematisch, analytisch, hierarchisierend – und an die rechte Gehirnhälfte, zuständig für das Synthetische und Globale, das Symbolische, Traumhafte, Holographische; »le domaine de la perception des images«, durch schnelles, synthetisches Erfassen komplexer Zusammenhänge ausgewiesen.53 Die BD als Kombination aus Texten und Bildern setze beide Gehirnhälften gleichzeitig in Bewegung, sei dem Imaginären ebenso verbunden wie dem Rationalen und aktiviere damit eben das, was den Menschen zum Menschen mache. Die Erläuterung als solche argumentiert auf dem Niveau ästhetisch-psychologischer Modelle und Abstraktionen und ist insofern ihrerseits an die linke Gehirnhälfte adressiert. Das hinzugefügte Panel wendet sich dann wohl an beide Hälften: Der Zeichner am Schreibtisch, sein kleiner Sohn, der ankündigt, später auch BD-Zeichner werden zu wollen, und die Antwort des Vaters, der Junge 52 53
Delcourt (Hrsg.), Pourquoi j’aime la bande dessinée, S. 16. Ebd.
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solle keine Dummheiten reden. »J’aime […] la bande dessinée parce qu’elle échappe aux définitions et qu’elle cultive les paradoxes. Elle n’est ›casable‹ ni dans la littérature ni dans l’art. Elle continue, malgré son succès – a être largement incomprise […].«54 Jean-Claude Denis, dessen Beitrag aus einer Zeichnung (ein prähistorischer Höhlenmaler vor seinen Tierbildern) und einem Text besteht, attestiert der BD, zugleich »art mineur« (ein Begriff, der wohl in Erinnerung an das Konzept einer »littérature mineure« gewählt wird) und »art premier« zu sein. J’aime la bande dessinée, parce qu’elle est un art mineur, adolescent, en même temps qu’un art premier, à l’origine de beaucoup d’autres. La magie à l’œuvre dans le mariage du texte et du dessin ne date pas de l’apparition du phylactère, elle est aussi vieille que l’homme. Elle opérait déjà sur les parois des grottes il y a 35 000 ans, elle est toujours active dans la bande dessinée.55 Mit dem Hinweis auf eine Besonderheit der comicspezifischen Darstellung beantwortet »Algésiras« die Frage Delcourts: »… parce que tout se passe entre les cases«, weil sich alles ›dazwischen‹ abspielt. Die dazu gezeichnete Geschichte um eine junge Frau, zwei junge Männer und ein Sofa suggeriert zwar vieles, was sich abspielen könnte, verrät darüber aber nichts; die »Rinnen« zwischen den Panels verschweigen das Entscheidende.56 Ein Hinweis auf den Comic als eine grenzüberschreitende, ›globale‹ Kunst findet sich in der Antwort des Zeichners Alfred, der seine Comic-Figur über einen Globus laufen lässt. »Parce que …« (»weil …«) ist ansonsten die einzige Antwort.57 – Stéphane Heuet erklärt es zu seinem Ziel, BD-Lesern die Liebe zu Proust zu vermitteln. Er vergleicht die BD mit anderen Künsten und attestiert dieser Kunst, sie lasse dem Leser große interpretative Spielräume. J’aime le cinéma, l’audio-visuel, n’en doutez pas, mais je regrette le peu de liberté de création qu’il offre au spectateur. Écouter de la musique, c’est voir des images à soi, lire un livre, c’est imaginer ses personnages et ses décors. Et lire une bande dessinée, c’est entendre des bruits sur des ›toc toc‹, des ›boum‹ et des ›plouf‹, mais c’est surtout, et avant tout, créer l’inter-case, ce qui se passe entre deux images.58
heißt auch Individuelles qua Unaussprechliches) sich zeigt,59 so interessieren sich die Vertreter einer postauktorialen Ästhetik eher für das Spiel mit verschiedenen Stilen. Marcel Proust zufolge ist Stil eine spezifische Art, die Welt zu sehen. Aber kann man den Stil selbst sehen? Von theoretischer Seite 54 55 56 57 58 59
Ebd., S. 27. Ebd., S. 29. Ebd., S. 8 f. Ebd., S. 7. Ebd., S. 39. Vgl. Manfred Frank, »Wittgensteins Gang in die Dichtung«, in: Ders./Mario Soldati, Wittgenstein: Literat und Philosoph, Pfullingen 1989, S. 66–67.
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ist dies bestritten worden; schließlich ist ein Stil kein »Gegenstand«.60 Man könnte gleichwohl die Auffassung vertreten, Stil sei darstellbar, nämlich durch Nebeneinanderstellung und Kontrastierung differenter Stile. Diese Strategie spielt in Reflexionen über den Comic respektive in reflexiven Comics eine wichtige Rolle. Die Gegenüberstellung verschiedener Zeichenstile ist prägend für das Konzept verschiedener Sammlungen von Literatur-Comics, so für die Bände der Reihe … en bandes dessinées und ähnlicher Reihen. (Sind hier verschiedene Zeichner am Werk, so integrieren Künstler wie Art Spiegelman in ihre autoreflexiven autobiographischen Comic-Bücher eine Reihe eigener Zeichenstile.)
Stil als Thema in Metacomics Zu den Themen, die den Metacomic-Autoren besonders wichtig sind, gehört das der Vielfalt und Divergenz der Zeichenstile. Tatsächlich ist gerade der künstlerisch ambitionierte Autoren-Comic in besonderem Maße durch den Einsatz unverwechselbarer Zeichenstile geprägt, während dies für die Unterhaltungs-Comics in Heftchenform in der Regel nicht zutrifft. Scott McClouds Ausführungen zum Comic akzentuieren die Vielfalt der Gestaltungsmöglichkeiten von Bilderzählungen und thematisieren im Zusammenhang damit die Herausbildung differenter Stile. Damit schließen sie an den ästhetischen Diskurs über den Stil als bedeutsame Ausdrucksdimension künstlerischer Gebilde an, der mittelbar mit dem Autorschaftsdiskurs verknüpft ist. Kapitel 5 ist individuellen Zeichenstilen gewidmet. Kapitel 6 knüpft hier an. Dabei reicht die Achse von stark naturalistischen bis zu stark stilisierenden Stilen. Verschiedenste Zeichenstile werden an Beispielen verdeutlicht und kommentiert, unterschiedliche Erzählweisen miteinander verglichen.
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Vgl. Eva Schürmann, »Das Unsichtbare im Sichtbaren. Über den Zusammenhang von Einsicht und Blindheit bei Cézanne und Kentridge«, in: Gerhard Gamm/Eva Schürmann (Hrsg.), Das unendliche Kunstwerk, Berlin 2007, S. 179–207, hier S. 188: Aus kunsthistorischer Sicht ist Stil »die charakteristische Darstellungsart einer Zeit oder eines Künstlers, seine unverwechselbare Handschrift, die gleichsam alles, was er sieht und zeigt, einfärbt und überschreibt. […] Er ist gewissermaßen sichtbar und unsichtbar zugleich und er ist ebenso charakteristisch für die Darstellung wie für das Dargestellte. Er tritt gleichsam an der Oberfläche der Darstellung zutage, ohne selbst je zum Gegenstand der Darstellung gemacht werden zu können. Werden etwa der Rahmen oder die malerischen Mittel in reflexiver Malerei ihrerseits zum Thema gemacht, ist der Stil als Darstellungsart par excellence an sich selbst undarstellbar.«
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Abb. 9a und b: Interpretationsstile in poèmes de … en bande dessinées (hier am Beispiel des Bandes poèmes de Verlaine en bande dessinées (links: La lune blanche, S. 43; rechts: Nevermore, S. 47).
Auf Stilvielfalt setzen im Bereich des Comics insbesondere oft die Kompilatoren und Herausgeber von Sammelpublikationen. Dies gilt etwa dann, wenn eine ganze Gruppe von Zeichnern mit verschiedensten stilistischen Mitteln ein analoges Thema behandelt und (beispielsweise) jeweils ein Gedicht eines bestimmten Autors in eine Bildgeschichte verwandelt, wie es für die Reihe poèmes de … en bandes dessinées charakteristisch ist. Hier wird durch den Einsatz ganz unterschiedlicher Zeichenstile bei der Auseinandersetzung mit einem und demselben Autor die Individualität von Interpretationsprozessen sinnfällig gemacht – die Offenheit der zeichnerisch interpretierten Werke für alternative Lesarten und Auslegungen.
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Abb. 10a und b: Heterogene Transformationsstile: Moga Mobos 100 Meisterwerke der Weltliteratur – links: Hawking/Schwieger, Eine kurze Geschichte der Zeit (S. 36), rechts: Hoffmann/Leowald, Die Elixiere des Teufels (S. 37).
Moga Mobos 100 Meisterwerke der Weltliteratur sowie andere Comic-Anthologien mit Comics verschiedener Zeichner bieten weitere Beispiele dafür, dass die Konfrontation verschiedener Stile als solche für die einzelnen Bildgeschichten bedeutungskonstitutiv ist. Denn auf die Vielfalt der zeichnerisch umgesetzten Werke wird hier mit einer Vielfalt von Stilen reagiert, in der implizit das Selbstbewusstsein der Comic-Zeichner zum Ausdruck kommt, dem Projekt »Weltliteratur« im Raum der eigenen Kunst etwas Analoges entgegensetzen zu können – wenngleich ein parodistisches und selbstironisches Moment dabei im Spiel ist (siehe Kapitel III.1.4 sowie die Beispiele unten).
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Zeichner, in deren Comic-Büchern sich die Stile mischen, behandeln den Stil nicht mehr als unverwechselbare persönliche Handschrift, sondern als Maskierung, die man mehr oder weniger beliebig wechseln kann. Es ist kein Zufall, dass Art Spiegelman, der in seinen Bänden In the Shadow of no Towers und Breakdowns eine Fülle von Stilen kombiniert, sich selbst gern mit einer Maus-Maske abbildet. – Die Pluralisierung von Stilen im Einzelwerk entspricht einer gewandelten Haltung gegenüber dem traditionellen Konzept der Autorschaft. Dem unverwechselbaren, individuellen, ›auktorialen‹ Autor korrespondierte die stilistische Einheitlichkeit, der charakteristische Stil. Einem Künstler, der sich zusammen mit seinen Figuren immer wieder neu entwirft, steht es an, dies zum Anlass häufiger Stilwechsel zu nehmen.
Raymond Queneau: Exercices de style – Matt Madden: 99 Ways to Tell a Story. Exercises in Style Raymond Queneaus Exercices de style (Stilübungen) sind ein literarisches Experiment zum Thema Stil. Motor des gesamten, immerhin 99 Texte produzierenden Unternehmens ist die Idee der stilistischen Vielfalt. Der KunstCharakter (der ästhetische Reiz) der Stilübungen resultiert weder aus der erzählten Ereignisfolge (dem ›Was‹ des Erzählens), denn sie ist denkbar trivial. Auch die Darstellungsform als solche (das 99fache ›Wie‹) ist nicht kunstvoll; es wirkt eher wie von einem rhetorischen Lehrbuch inspiriert, und manche der Textvariationen sind (absichtsvoll) Nonsense. Es ist die Differenz zwischen den 99 Texten, welche die Stilübungen zu einem literarischen Werk macht. Der Stil präsentiert sich als Individuationsprinzip – und letztlich ist es der Stil als solcher, der sich hier darstellt, als etwas nur in seiner Differentialität Greifbares. In den Exercises tritt gleichsam der Stil selbst in die Rolle des ästhetischen Subjekts, des Autors, ein. Dass Queneaus TextVariationen unter anderem den Dialog mit der Literaturtheorie und Rhetorik suchen, kommt vor allem darin zum Ausdruck, dass sich viele der Variationen an rhetorischen, gattungs- und texttheoretischen Kategorien orientieren, etwa wenn auf die Form des Anagramms oder auf Gattungen wie Lyrik und Drama verwiesen wird. Hier wird die Ausgangsgeschichte mit einer texttheoretischen Kategorie ›gekreuzt‹, und so entsteht die neue Variation.61 61
An Queneaus literarisches Experiment mit differenten Spielformen des Schreibens ist im Bereich der Zeichenkunst mittlerweile angeknüpft worden. Sind Queneaus Stilübungen Selbstdarstellungen sprachlicher Verfahrensweisen in ihrer vom Rhetorisch-Begrifflichen zwar ausgehenden, mit diesem aber auch spielen-
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Der amerikanische Comic-Zeichner Matt Madden hat Queneaus Idee auf besonders originelle Weise aufgegriffen: Mit seinem Buch 99 Ways to Tell a Story. Exercises in Style (2005) präsentiert er einen Metacomic zum Thema Stil, in dem das Interesse der Comic-Ästhetiker an dieser Kategorie besonders klar zum Ausdruck kommt. Wie Queneau stellt Madden eine Alltagsszene immer wieder, mit stark differenten stilistischen Mitteln dar. Für die Idee bedankt er sich einleitend bei Queneau.62 Die Ausgangsszene lässt, wie bei Queneau, wegen ihres unspektakulären Charakters verschiedenste Variationen zu: Ein Mann verlässt seinen Computer-Arbeitsplatz und geht in einen anderen Raum zum Kühlschrank. Aus dem darüberliegenden Stockwerk erkundigt sich eine Frau nach der Uhrzeit. Er gibt Auskunft über die Zeit – und hat beim Öffnen des Kühlschranks vergessen, was er dort sucht. Die beiden Akteure sind offenbar ein ComicZeichner-Paar; auch durch die Wahl der Protagonisten ist das Buch also autoreferentiell.
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den Vielfalt, so wird diese Idee durch das Bilderbuch Raymond Queneau: Exercices de style (Paris 2002) aufgegriffen und auf eine andere Ebene transponiert. Begleitet von den 99 Stilübungen Queneaus im französischen Original finden sich hier zudem ebenso viele bildlich-graphische Variationen über die Ausgangsgeschichte in ganz unterschiedliche Mal- und Zeichenstile eingesetzt. Vor dem Inhaltsverzeichnis heißt es: »The author would like to acknowledge his debt to Raymond Queneau, whose influence extends well beyond the inspiration for this book.« (Matt Madden, 99 Ways to Tell a Story. Exercises in Style, New York 2005, unpag.).
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Abb. 11a–d: Vier Beispiele aus Matt Maddens 99 Ways to Tell a Story (S. 5, S. 7, S. 21, S. 111).
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Das Spektrum an Variationen, die Madden auf zeichnerischer und sprachlicher Ebene schafft, beruht unter anderem auf einem Wechsel der Darstellungsperspektiven. Entsprechend zeigt die Variation »Monologue« (Abb. 11a) eine Bildsequenz mit einem Mann, der die Basisgeschichte bei einem Kaffee erzählt; sie steht nun in seinen Sprechblasen. Die Variation »Subjective« (Abb. 11b) stellt die Ereignisse so dar, als beobachte der Betrachter alles mit den Augen des Protagonisten. In »Upstairs« sehen wir als Pendant zur Basisgeschichte die der Frau im oberen Stockwerk. Auch wird die zeichnerische Darstellung als solche thematisiert. Die Variation »How-to« zeigt die einzelnen Panels in den Aggregatzuständen, die eine Comic-Geschichte bei ihrer Entstehung durchläuft: vom ›script‹ bis zum fertigen Produkt (Abb. 11c). »Welcome to ›Exercises in Style‹« zeigt, wie eine als Matt Madden gezeichnete Figur (die des Protagonisten) den Leser in ihrer Geschichte begrüßt und diese dann erzählt. Auf verschiedene Comic-Stile, die teilweise von einzelnen Zeichnern entwickelt wurden, teilweise auch gattungsspezifisch sind, verweisen etwa die Variationen mit folgenden Titeln: »After Rodolphe Töpffer (English Bootleg Version)«, »A Newly Discovered Fragment of the Bayeux Tapestry«, »What Happens When the Ice Truck Comes to Hogan’s Alley (after Richard F. Outcault)«, »Exorcises in Style«, »Ligne Claire«, »Superhero«, »Exercises of a Rarebit Fiend (after Winsor McCay)«, »Esk Her Size end Style (after George Herriman)«, »Hommage to Jack Kirby«. Eine Variation mit dem Titel »Cento (David Mazzucchelli, Ben Katchor, Chester Brown, Marc-Antoine Mathieu, Daniel Clowes, Art Spiegelman, Julie Doucet, Gary Panter)« (Abb. 11d) kombiniert jeweils einzelne Bilder im Stil der genannten Zeichner mit einer die Ausgangsgeschichte erzählenden Bildfolge. (Auf dem Panel, das Mathieu zugeordnet ist, steht M. Acquefacques) Die Variation »Two-in-One (Madden/Queneau)« kreuzt die Basisgeschichte Maddens mit der Basisgeschichte in Queneaus Exercises de style. Die »Exercises in Closure (after Scott McCloud)« zitieren nicht allein den Zeichenstil McClouds, sondern imitieren durch den Aufbau der Seite – welche einzelne Elemente der Basisgeschichte zwar verwendet, aber verschiedene Typen von Kombinationsmöglichkeiten zeigt und benennt, die McCloud’schen Metacomic-Bücher. Die Vorlage findet sich in McClouds Understanding Comics. Ferner gibt es eine kartographische Version (»Map«), eine digitale Version (»Digital«), eine Verlaufskurve (»Graph«) und andere Variationen, die sich auf Grundtypen graphischer Darstellung beziehen; vgl. auch die an Annoncenseiten erinnernde Variation »Brought to you by«. Die Vor-Geschichte gezeichneter Geschichten – wie sie auch bei Mc Cloud thematisiert wird – schildert die Variation »Storyboard«. Die Variation »Dynamic Constraint«, betitelt »The Exercise that made a Man out of ›Matt‹« imitiert die Struktur einer Magazinseite. In der rechten unteren Ecke findet sich ein ausschneidbarer Coupon, zu adressieren an »Ray Queneau«, mit der Aufschrift »Dear Ray Queneau: Here’s the kind of Comic I want:« und der Möglichkeit, verschiedene der im Buch selbst enthaltenen Variationstypen anzukreuzen.
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4.
Der Comic und seine Sprachen: Zum Comic als Medium
4.1
Abriss einer Geschichte der Comics
Bezüglich der Entwicklung der Comics gibt es zwei Positionen. Einerseits werden die als ›Comics‹ bezeichneten Bildergeschichten als nahtlose Fortsetzung der Tradition früherer mit Bildern operierender Erzählverfahren verstanden, denen der Comic zwar neue Ausdrucksmöglichkeiten an die Seite stellt, von denen er aber historisch abhängt. Andererseits wird die Annahme vertreten, beim Comic handele es sich um eine genuine Kunstform, deren Erscheinen als Bruch mit vorhergegangenen Formen bildlichen Erzählens zu verstehen ist. Abhängig davon, welche Haltung eingenommen wird, muss eine historische Darstellung des Comics entweder bei den Höhlenmalereien der Jungsteinzeit oder um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert beginnen. Die Kriterien (Publikationsform, Verbreitung, Leserschaft usw.), die erfüllt werden müssen, um eine Bildergeschichte als Comic gelten zu lassen, spielen dabei eine entscheidende Rolle. Für unseren Zusammenhang genügt die Betrachtung eines kleineren Zeitraums. Seit dem zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts veröffentlicht der Schweizer Rodolphe Töpffer (1799–1846) einige Bildergeschichten, darunter eine von Goethe geschätzte Parodie des Faust unter dem Titel Voyages et aventures du Dr Festus (1829). Töpffers Erzählungen weisen viele der Gestaltungsmittel auf, die man gewöhnlich mit dem modernen Comic verbindet. Sie setzen sich aus Einzelbildern zusammen, die in Reihen angeordnet und jeweils von einer dünnen Linie gerahmt sind. Unter den Bildern steht in der Regel ein kurzer Text, der sie erklärt. Zu seinem Werk zählt auch der von Ernst Gombrich fruchtbar rezipierte Essai de Physiognomonie (1839), in dem Töpffer grundlegende Beobachtungen zur zeichnerischen Gestaltung von menschlichen Gesichtern macht. Gombrich hat Töpffer attestiert, »die Bildgeschichte, den ›comic strip‹, erfunden zu haben«.1 Bereits 1842 erscheint in 1
Ernst. H. Gombrich, Kunst und Illusion. Zur Psychologie der bildlichen Darstellung, 2. Aufl. Berlin 2004 (zuerst als Art and Illusion, Princeton 1960), S. 286. Gombrich postuliert das Töpffer’sche Gesetz: »Sobald wir in dem starren Auge oder offenen Mund einer unbelebten Form Ausdruck entdecken, tritt das, was ich das Toepffersche Gesetz nennen möchte, in Aktion. Wir sehen nicht mehr einfach ein Gesicht, sondern ein Wesen mit eigenem Charakter und eigenem Leben […].«
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den Vereinigten Staaten Töpffers Histoire de M. Vieux Bois aus dem Jahre 1827 (veröffentlicht 1837) als Raubdruck unter dem Titel The Adventures of Obadiah Oldbuck. In England und Frankreich erfreuen sich zeitgleich illustrierte Zeitschriften mit satirischen und humoristischen Inhalten großer Beliebtheit (etwa »La Caricature« und »Punch«). Ähnliche Zeitschriften gibt es in Spanien, Italien, den Niederlanden, Russland und zahlreichen anderen europäischen Ländern. William Hogarth (1697–1764), dessen Karikaturen und Bilderzählungen in ganz Europa gelesen wurden – in Deutschland vor allem vermittelt durch Georg Christoph Lichtenberg –, sei hier als Pionier genannt. In Deutschland veröffentlicht Heinrich Hoffmann 1845 den bekannten Struwwelpeter, der verschiedene Arten von Bildgeschichten enthält, darunter Simultanbilder und sequentielle Bildfolgen. Eine erste englischsprachige Übersetzung wurde 1848 publiziert. Zusätzlich zu den deutschen Satire-Zeitschriften, beispielsweise Die Fliegenden Blätter oder Kladderadatsch, finden seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert Tausende von Bilderbogen mit großen Auflagen weite Verbreitung. Die Neuruppiner Bilderbogen von Johann Bernhard Kühn (1750–1826) und die Münchener Bilderbogen des Verlags Braun & Schneider bringen lehrreiche Geschichten in Bildern, die zunächst vor allem der Lebenswelt der Bauern und Kleinbürger entstammten. Auch Aufstellspielzeuge zum Ausschneiden2 sowie Märchen und Legenden fanden Aufnahme. Von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zur Jahrhundertwende sind diese besonders beliebt. Für Braun & Schneider zeichnet auch Wilhelm Busch (1832–1908); hier veröffentlicht er unter anderem sein wohl bekanntestes Werk: Max und Moritz (1865). In der Presse-Metropole New York beginnt kurz vor der Jahrhundertwende eine Verkaufsschlacht zwischen den beiden Medien-Mogulen William Randolph Hearst (1863–1951) und Joseph Pulitzer (1847–1911). Pulitzer besitzt seit 1883 neben anderen Zeitungen die New York World, die er zu einer der angesehensten Zeitungen entwickelt. Der Pulitzer-Schüler Hearst erwirbt 1895 das New Yorker Morning Journal und tritt damit in direkte Konkurrenz zu seinem Lehrherrn. Um Abonnenten dauerhaft zu binden und neue Käufer zu gewinnen, bringen Pulitzer und Hearst in ihren Sonntagsbeilagen Unterhaltsames: darunter Zeichnungen, Cartoons und die ersten Comic Strips. Besonders für die verschiedenen Einwanderergruppen, die ge-
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Vgl. Rodolphe Töpffer, Essai de Physiognomonie/Essay zur Physiognomonie. Mit einem Nachwort von W. Drost und Karl Riha, Siegen 1980. Zur Verwandtschaft von Bilderzählungen und dem »Papiertheater« vgl. Dietrich Grünewald, Comics, Tübingen 2000.
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rade in New York zahlenmäßig stark vertreten sind, bilden die Strips eine attraktive Ergänzung zu den Tageszeitungen, denn sie sind auch mit geringen Englischkenntnissen leicht verständlich. Zunächst handelt es sich um kurze Bildfolgen und Bildwitze, die in einem einzelnen Bild eine Pointe bringen. Richard F. Outcaults (1863–1928) Serie Hogan’s Alley (später McFadden’s Row Flats), die oft als der erste Comic bezeichnet wird, beginnt 1895 mit an Wimmelbilder erinnernden Einzelbildern, allerdings ersetzt Outcault Ende 1896 die Einzelbilder durch Bildfolgen und stellt seinen Text, der zuvor nahezu jede freie Fläche füllt, insbesondere das Nachthemd der Hauptfigur Yellow Kid, in Sprechblasen.3 Ein Jahr später bittet Hearst den immigrierten deutschen Zeichner Rudolph Dirks (1877–1968) eine ähnliche Serie wie Hogan’s Alley zu entwerfen, sie aber an Buschs Max und Moritz anzulehnen, dessen Bildgeschichten Hearst in seiner Kindheit in Deutschland kennengelernt hatte. Dirks verwandelt Max und Moritz in Hans und Fritz, die Katzenjammer Kids. Es folgt eine Vielzahl von Strips mit ähnlich gag-orientierten Inhalten: etwa Buster Brown von Outcault, Happy Hooligan von Frederick Burr Opper (1857–1937) und Bringing up Father von George McManus (1884–1954), um nur drei besonders beliebte Strips zu nennen. Sprechblasen und konventionalisierte Zeichen, wie Bewegungslinien oder über den Köpfen der Figuren kreisende Sterne für Benommenheit und schwebende Herzchen für Verliebtheit, etablieren sich mit diesen und anderen Comics als festes Zeichenrepertoire. Die ausschließlich kommerzielle Ausrichtung der frühen Comics führt Anfang des 20. Jahrhunderts zu einer Standardisierung der Inhalte. Experimentelleren Comics ist dagegen wenig Erfolg beschieden. Die Serien Kinder-Kids (1906) und Wee Willie Winkie’s World (1906/7) des späteren BauhausKünstlers Lyonel Feiniger (1877–1956) beispielsweise, die ästhetisch zum Interessantesten zählen, was in dieser Zeit publiziert wird, werden bereits nach wenigen Monaten abgesetzt. Eine Ausnahme bildet der Strip Little Nemo in Slumberland von Winsor McCay (1871–1934), der zwar beim zeitgenössischen Publikum nur begrenzte Aufmerksamkeit fand, immerhin aber von 1905 bis 1914 wöchentlich erschien und heute als einer der einflussreichsten Klassiker gilt. Mit Bud Fishers (1885–1954) Mutt and Jeff erscheint 1909 erstmals ein an sechs Tagen der Woche gedruckter Comic-Strip mit fortlaufender Handlung. In diesen Jahren kommen auch in Europa erste Comics in die Zeitungen. 1918 entwickelt Frank King (1883–1969) aus seinem One-Panel-Gag Gaso3
Zu Outcault vgl. insges. Balzer/Wiesing, Outcault.
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line Alley einen täglich erscheinenden Strip, dessen hervorstechendes Merkmal ist, dass seine Figuren in Echtzeit altern und sich generationsweise ablösen. Dem Strip eignet dadurch und durch die Einbeziehung des meist tagesaktuellen Zeitgeschehens ein hohes Maß an Dynamik. Eine ganz eigenwillige Dynamik zeichnet dagegen den einflussreichen Strip Krazy Kat von George Herriman (1880–1944) aus. Über dreißig Jahre lang variiert Herriman eine atomare Handlung: Die Maus Ignatz wirft der Katze Krazy einen Backstein an den Kopf, was diese fälschlich für einen Liebesbeweis hält. Im Spiel mit dieser uniformen Handlung setzt sich Herriman sehr früh selbstreferentiell mit den medialen Bedingungen des Zeitungsstrips auseinander, der auf die ewige Wiederholung immer gleicher Handlungsmuster setzt. In den 1920er Jahren setzt sich der Standardisierungsprozess fort und bringt mit Little Orphan Annie von Harold Gray (1894–1968) und Blondie von Murat Bernard ›Chic‹ Young (1901–1973) Comics hervor, die zeitgenössische amerikanische Werte und Normen – Nationalismus und Antikommunismus, Leistungs-, Aufstiegs- und Konkurrenzdenken – wesentlich stärker als ihre Vorgänger vertreten. Die 1930er Jahre sind geprägt von der Etablierung neuer Genres. Durch Zufall erscheinen am 7. Januar 1929 gleich zwei Comics, die je ein neues Comic-Genre begründen: Hal Fosters Tarzan erschließt dem Comic die Abenteuergeschichte und Dick Calkins’ Buck Rogers die Science-Fiction. Zwar hatte es erste Versuche, abenteuerliche Stoffe in Comics zu erzählen, bereits seit Mitte der 1920er Jahre gegeben, doch erst diese beiden Comics geben den Startschuss für zahllose weitere AbenteuerComics. Interessanterweise handelt es sich bei beiden Neuerscheinungen um Adaptationen literarischer Vorlagen. Die Geschichte um Tarzan, den König der Affen, entstammt der Feder Edgar Rice Burroughs’, und Buck Rogers Abenteuer basieren auf Philip F. Nowlans Armageddon 2419 A.D. Im gleichen Jahr beginnt Georges P. Remi unter dem Pseudonym Hergé die Reihe Tim und Struppi. 1931 folgt mit Chester Goulds Dick Tracy das Genre der Detektivgeschichte. Hal Fosters Prince Valiant (Prinz Eisenherz) greift 1937 den Ritterroman nach dem Vorbild Walter Scotts auf. Mit Flash Gordon (Alex Raymond), Terry and the Pirates (Milton Caniff) und Secret Agent X-9 (geschrieben von Dashiell Hammett) setzen sich die Abenteuer-Comics Mitte der 1930er Jahre endgültig durch. In Deutschland erleben in dieser Zeit zwei auch heute noch populäre Comic-Figuren ihre ersten, bürgerlich-harmlosen Abenteuer: Vater und Sohn gezeichnet von e.o. plauen (d.i. Erich Ohser). 1910 werden die Tagesstrips um Mutt and Jeff erstmals in Heften nachgedruckt. Den eigentlichen Durchbruch erreicht die heute für die US-amerikanischen Comics typischste Publikationsform durch Walt Disneys Mickey Mouse Magazine von 1933 und das Heft Famous Funnies, das 1934 erscheint.
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Der Comic als ›neunte Kunst‹ und die Literatur
Die Zahl der Serien, die in Heften nachgedruckt werden, steigt, und der Absatz der billigen Hefte floriert. Neben Nachdrucken von Zeitungsstrips kommen bald auch exklusive Neuschöpfungen hinzu. Comic-Hefte, die mehrere Serien mit verschiedenen Helden zusammen vertreiben, lösen Stück für Stück die Zeitungsstrips in ihrer wirtschaftlichen Bedeutung ab. 1939 schlägt die große Stunde der Superhelden-Comics und mit ihnen die der Comic-Hefte. Zuvor waren kostümierte Helden von Lee Falk (Mandrake the Magician, 1934; The Phantom, 1936) und Mel Graffs (The Adventures of Patsy) als Comic-Protagonisten etabliert worden, doch erst der außerirdische Superman alias Clark Kent hat bei den Lesern eine so einschlagende Wirkung, dass unzählige Helden nach seinem Vorbild geschaffen werden. Superman ist dann auch der erste Comic-Held, dessen kommerzieller Erfolg es ermöglicht, seine Geschichten in einem eigenen Heft anzubieten. Ein Zeitungsstrip, eine wöchentlich ausgestrahlte Radioserie und eine ZeichentrickAdaptation folgen binnen nur zweier Jahre. Noch im gleichen Jahr betritt Batman im gleichen Verlag die Bühne der Comic-Verbrechensbekämpfung; langfristig übertrifft er Supermans Einfluss auf die Comic-Branche noch. Die Vielzahl von Figuren aufzuzählen, die in den folgenden Jahren die Reihen übermenschlicher Verbrechensbekämpfer füllen, würde zu weit führen. Erwähnenswert ist Joe Simons und Jack Kirbys Captain America, der ab 1941 gegen Hitler-Deutschland in den Krieg zieht. An Captain America entwickelten Simon und Kirby eine vom Film inspirierte, bewegungsbetonte Erzähldynamik. Sie variieren Größe und Form der Einzelbilder, lassen die handelnden Figuren Umrandungen der Einzelbilder durchbrechen und entdecken Seite und Doppelseite als Gestaltungselemente. Vor allem Letzteres ist erst durch den kommerziellen Erfolg der Comic-Hefte möglich; es handelt sich dabei um einen bedeutenden Entwicklungsschritt, der Erzähltechnik und das Medium Heft eng aneinander bindet. Gerade Superhelden-Comics sind in den Kriegsjahren im Gepäck vieler US-Soldaten zu finden. Deshalb ziehen einige andere Comic-Figuren Seite an Seite mit Captain America und den Truppen an der Front in den Propagandakrieg gegen die Achsenmächte. Daraus resultiert, dass am Ende des Zweiten Weltkriegs die Superhelden vielleicht nicht am Ende sind, zumindest aber in eine Krise mit schweren Umsatzeinbrüchen geraten. Sehr deutlich wird das am Fighting Yank, »America’s Bravest Defender«, der mit Dreispitz, Umhang und Schnallenschuhen an die für das nationale Selbstbewusstsein bedeutsame Zeit des Unabhängigkeitskriegs erinnern soll. Ringt er während des Krieges mit den »Todesstrahlen« verrückter deutscher Wissenschaftler, befreit gefangene Soldaten und rettet amerikanische Blondinen vor lüsternen Japanern, so kämpft er nach dem Krieg gegen Kinderräuber,
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den Ku-Klux-Klan und sogar Haie. Hier zeigt sich deutlich die Beliebigkeit der Bekämpfung des ›Bösen‹, die den Superhelden konzeptuell in Frage stellt. Einen Anteil Kriegspropaganda hat auch die Reihe Classic Comics, später umbenannt in Classics Illustrated (siehe Kapitel III.1.1), in der seit 1941 verschiedene Zeichner kurze Fassungen kanonischer Werke der Weltliteratur ad usum delphini entfalten. Bis 1971 erscheinen sukzessive 169 Hefte. Die Reihe ist an jugendliche Leser gerichtet, was sich in der Wahl der drei ersten Titel – Die drei Musketiere und Der Graf von Monte Christo von Alexandre Dumas sowie Sir Walter Scotts Ivanhoe – andeutet. Es folgen insbesondere kanonische Werke der US-amerikanischen Literatur von James Fenimore Cooper, Harriet Beecher Stowe, Mark Twain, Herman Melville und anderen, aber auch Adaptationen von Werken nichtamerikanischer Autoren wie Erich Maria Remarques Im Westen nichts Neues, Dostojewskijs Verbrechen und Strafe oder Goethes Faust. Comic-Darstellungen populärer Nationalmythen – Robin Hood, Jeanne d’Arc, Buffalo Bill usw. – reihen sich gleichberechtigt ein. Wegen des Eintritts der USA in den Zweiten Weltkrieg und der daraus resultierenden Papierverknappung und -verteuerung schrumpfen die Hefte schrittweise auf 48 Seiten Umfang. Davon sind je Heft einige Seiten für ein Portrait des Autors und seiner Zeit reserviert sowie während des Krieges für wehrertüchtigende und moralisch aufbauende Geschichten über die Helden an der Front. Nachdem sich Superhelden-Comics seit 1945 schlechter absetzen lassen, werden zunächst Comics mit spannenden Stoffen beliebt. Sie richten sich an ein erwachsenes Publikum, was schon an der unmetaphorischen Darstellung von Gewalthandlungen ersichtlich ist. Anfang der 1950er Jahre entwickelt sich daraus das Genre des Horror-Comics, unter das sich Gruselgeschichten mit nicht selten extremen Gewaltdarstellungen subsumieren lassen. Mitte der 1950er Jahre kommt es in den Vereinigten Staaten vor allem wegen dieser Comics zu einer wahren Hexenjagd auf die Produzenten vermeintlich jugendgefährdender Comics, die dazu führt, dass einige Comic-Verlage ihre Produktion einstellen müssen und bankrottgehen. Besonders der Verlag E.C.-Comics (Entertaining Comics, ehemals Educational Comics) wird schwer beschuldigt. Nur die heute noch erhältliche Comic-Satirezeitschrift Mad rettet E.C. vor dem Aus. Im Mittelpunkt dieser Hetze steht der Psychologe Frederic Wertham, der in Radio- und Fernsehinterviews und vor allem in seinem Buch mit dem aussagekräftigen Titel The Seduction of the Innocent am Beispiel verschiedener Comics zu belegen versucht, dass die Bildgeschichten auf direktem Wege zur Verdummung der Jugend, zu Jugendkriminalität und Homosexualität führen. In Deutschland fallen Werthams Ideen auf fruchtbaren Boden.
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Der Comic als ›neunte Kunst‹ und die Literatur
Die Einführung des Comics Code 1954, eines Katalogs von Auflagen, an denen sich die Comic-Verlage im Sinne einer Selbstzensur orientieren, schränkt die Comic-Produktion in den USA inhaltlich und gestalterisch weitgehend ein. ›Ungebührliche‹ Darstellungen von Politik, Religion und Familie werden kritisch auf ihre Übereinstimmung mit den gesellschaftlichen Normen der McCarthy-Ära überprüft. Dass Comics auch heute noch weitgehend als Unterhaltungsliteratur für Kinder gehandelt werden, hängt direkt mit diesen inhaltlichen Einschränkungen zusammen, die viele Comics für anspruchsvolle Leser uninteressant machen. Dennoch gelingt Anfang der 1960er Jahre eine Neubelebung des Superhelden-Genres, das nach dem zweiten Weltkrieg in eine Absatzkrise geraten war. Stan Lee erfindet zusammen mit Jack Kirby die Fantastic Four (1961) und mit Steve Ditko Spider-Man (1962) – Superhelden, die ganz normale Menschen mit ganz normalen Problemen sind, so die Idee. Die Geschichten bleiben – schon wegen des Comics Code – im Wesentlichen stereotyp, die Charaktere erhalten aber mehr Tiefe. Anfang der 1970er beginnt das allmähliche Aufweichen des Comics Code. Besonders markant ist eine Spider-ManGeschichte, die eine Anti-Drogen-Botschaft enthält und dazu Drogenmissbrauch zeigt – bis dahin ein absolutes Tabu, was der Comics Code erst durch eine nachträgliche Änderung der Statuten gestattet. Seit den 1980er Jahren verliert der Comics Code zunehmend an Bedeutung, er ist aber weiterhin in Kraft, wird allerdings auch von großen Publikumsverlagen inzwischen ignoriert. Das Entstehen und die Verbreitung der sogenannten ›Underground Comix‹ der zweiten Hälfte der 1960er Jahre sind direkt diesen Zensurmaßnahmen geschuldet. Insgesamt lassen sie sich so beschreiben, dass sie jede Regel des Comics Code gezielt brechen: »Profanity, obscenity, smut, vulgarity, or words or symbols which have acquired undesirable meanings are forbidden«, heißt es im Comics Code 4 – gerade deshalb wird von den Zeichnern der Underground Comix auf dieses Repertoire zurückgegriffen. Aus diesem Grunde konnten diese Comics nicht von Verlagen professionell vermarktet werden, sondern wurden von den Zeichnern in kleinen Auflagen selbst hergestellt und unter der Ladentheke oder von Leser zu Leser gehandelt. Die Underground Comix beziehen viele ihrer Stoffe und Motive aus dem Leben 4
Der Volltext des Comics Code kann unter http://en.wikisource.org/wiki/ Comic_book_code_of_1954 (Stand: 10. 01. 2010) eingesehen werden. Eine deutsche Übersetzung findet sich in Detlev Hoffmann/Sabine Rauch (Hrsg.), Comics. Materialien zur Analyse eines Massenmediums, Frankfurt am Main, Berlin, München 1975, S. 27–29.
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der Autoren, weshalb es nicht verwundert, dass Anfang der 1970er Jahre in diesem Umfeld erste umfangreiche autobiographische Comics entstehen. Während in den Vereinigten Staaten und Deutschland den Comics kaum Freiraum bleibt, wird in Frankreich 1959 von sechs Comic-Zeichnern und -Autoren – Jean-Michel Charlier, François Clauteaux, René Goscinny, Jean Hébrard, Raymond Joly und Albert Uderzo – die Zeitschrift Pilote gegründet, eine bedeutende Experimentierplattform. In Pilote erscheinen neben vielen anderen Asterix, Lucky Luke, Blueberry, Isnogoud und Valerian et Veronique. 1967 veröffentlicht der Comic-Autor Hugo Pratt (1927–1995) in Italien, wo Comics, Fumetti genannt, schon Anfang der 1960er Jahre breite gesellschaftliche Akzeptanz haben und sich, im Gegensatz zu der nordamerikanischen Produktion, auch an erwachsene Leser richten, den Comic Una Ballata del Mare Salato (Südseeballade), in der die Figur des Corto Maltese erstmals auftritt. Fortsetzungen der Geschichten des Malteser Kapitäns ohne Schiff erscheinen ab 1970. Corto Malteses Abenteuer, die in den ersten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts angesiedelt sind, führen ihn von Sibirien bis zum sagenhaften Kontinent Mu. Auf seinen Reisen trifft er zeitgenössische Literaten wie Ernest Hemingway und Jack London. Hermann Hesse, William Butler Yeats und Thomas Morus sind andere literarische Ankerpunkte des Vielgereisten. Hugo Pratt, der auch Adaptationen literarischer Werke hervorgebracht hat, schafft mit der Ballata den ersten umfangreichen europäischen Comic-Roman. Mitte der 1970er Jahre erscheint die erste Ausgabe der ebenso einflussreichen Zeitschrift Métal hurlant, in der unter anderem Arbeiten von Jean Giraud (Mœbius), Phillippe Druillet, Enki Bilal und Richard Corben veröffentlicht werden, die von den gängigen stilistischen und narrativen Paradigmen weit entfernt sind. Beginnend mit den 1980er Jahren setzten sich zunehmend lange, abgeschlossene Geschichten durch. Spiegelmans Maus ist für diese Entwicklung sicherlich als Meilenstein zu sehen. Auch Will Eisner, der schon in den 1950er Jahren mit The Spirit und anderen seriellen Comics bekannt wird, veröffentlicht einige einflussreiche längere Arbeiten, darunter A Contract with God (1978), The Building (1987), die autobiographische Geschichte To the Heart of the Storm (1991) und zuletzt The Plot (2005), über die sogenannten »Protokolle der Weisen von Zion«. Die 1980er Jahre bringen eine erneute Umwertung der SuperheldenComics mit sich. Besonderen Anteil hat daran der Autor Alan Moore, der sich mit V for Vendetta, Watchmen, The League of Extraordinary Gentlemen und anderen Comics kritisch mit dem Genre auseinandersetzt. Die Comics richten
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Der Comic als ›neunte Kunst‹ und die Literatur
sich vermehrt an eine erwachsene Leserschaft mit literarischer, politischer und kultureller Vorbildung – und mit den Vorkenntnissen eines erfahrenen Comic-Lesers. Besonders evident wird dies an The League of Extraordinary Gentlemen, wo außer zahlreichen Protagonisten aus der Geschichte der Literatur auch Zeichenstile aus allen Jahrhunderten zitiert werden. Auf erwachsene Leser zielt auch Art Spiegelmans zweiteiliger Comic Maus, die Geschichte über den Holocaust-Überlebenden Vladek, Art Spiegelmans Vater. Wegen der von Spiegelman verwendeten Tiermetaphorik (Mäuse für Juden, Katzen für Deutsche usw.), die eine Comic-Tradition von Krazy Kat bis Mickey Mouse fortsetzt, hat Maus für heftige Diskussionen gesorgt. Seit kurz vor der Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert schöpft die USamerikanische Filmindustrie verstärkt aus dem Stoffangebot der Comics und zeugt damit von deren Demokratisierung. Insbesondere die Superhelden finden sich in den letzten Jahren in einer zunehmenden Zahl von Kinofilmen wieder. Superman hat seit 1978 fünf Verfilmungen erlebt, Batman seit 1966 sieben. Eine erstaunliche Zahl von jüngeren Filmadaptationen verschiedener, selbst randständiger Comic-Helden schließt sich an. Daneben findet das Genre der Autobiographie in den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts verstärktes Interesse bei Autoren und Zeichnern aus allen Kulturkreisen. In den letzten Jahren macht sich ein zunehmendes öffentliches Interesse an Comics bemerkbar. Die Zahl von Zeitungsartikeln über Comics und ihre Macher hat stark zugenommen. Ein deutlicher Indikator dafür ist auch die Häufigkeit von Fernsehinterviews mit Comic-Autoren oder Ausstellungen über Comics. Auch die Verwendung comicspezifischer Darstellungstechniken in anderen Kontexten findet immer weitere Verbreitung.
4.2
Die Sprachen des Comics
Der kleinste gemeinsame Nenner der Comic-Forschung ist wohl der, dass es Comics gibt. Was Comics sind und wie sie als Ganzes und ihre Bestandteile im Einzelnen zu bezeichnen, zu bewerten und ins Verhältnis zu setzen sind, ist dagegen umstritten. Die pauschale Aussage, dass Comics das sind, was gesellschaftlich als Comic angesehen und benannt wird, hilft nur bedingt weiter. Die prinzipielle Unmöglichkeit einer für alle Comics gültigen, universell akzeptierten und alle Zeiten überdauernden Definition soll nicht davon abhalten, zumindest einen Versuch zu wagen, konstitutive Elemente des Comics, die als unverzichtbarer Bestandteil das Medium organisieren und bestimmen, von akzessorischen, meist konventionellen Elementen zu unterscheiden, die zwar für das Medium typisch, aber nicht zwingend erforderlich
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sind. Die Bestimmung dessen, was genau ein Comic eigentlich ist, hat sich erst in den letzten Jahren zunehmend als schwierig herausgestellt. Herrschte bis in die 1980er Jahre noch weitgehend Einigkeit über die formalen und sozialen Gegebenheiten, die zutreffen müssen, damit von einem Comic die Rede sein kann, ist die Frage seitdem von kontroverseren Positionen aus diskutiert worden, was nicht zuletzt mit der stilistischen, publikationstechnischen und inhaltlichen Ausdifferenzierung der Comics selbst zusammenhängt. Am Anfang der Comic-Forschung stand eine recht konkrete Vorstellung davon, was Comics sind: Eine auf Endlosigkeit angelegte, auf einfachen Mustern basierende Handlung mit unveränderlichen Figuren, die in mehreren Einzelbildern, mit oder ohne begleitenden Text – oft in Sprechblasen – anspruchslose Geschichten (für Kinder) erzählt und in serieller Form, in Zeitungen oder Heften abgedruckt erscheint. So oder ähnlich ließe sich das Comic-Bild zusammenfassen, das auch heute noch das gesellschaftliche Bewusstsein bestimmt. Lediglich aus taxonomischen Gründen wurden die Comics, entweder nach der Publikationsform in Zeitungs-›Strips‹, Hefte und Alben gruppiert, oder nach dem Inhalt, zum Beispiel in Abenteuer-Comics – etwa Burne Hogarths Tarzan – oder ›Funnies‹ wie George Herrimans Krazy Kat. Außerhalb des Fachdiskurses, der sich aus verschiedenen Spezialdisziplinen und -diskursen speist, ist die allgemeinsprachliche Verwendung des Begriffs ›Comic‹ nämlich völlig unzweideutig: Comics sind Geschichten über Mickey Maus und Donald Duck, über Asterix und Superman – Geschichten mit Bildern und Sprechblasen größtenteils für junge und jüngste Leser. Diese Vorstellung hat sich in der breiten Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten kaum verändert. Seit Comics auch außerhalb der Sammler- und Insiderkreise merklich an Wertschätzung gewonnen haben, sind neue Begriffe – ›Illustories‹ (Charles Biro), ›Picto-Fiction‹ (Bill Gaines) und ›Sequential Art‹ (Eisner, McCloud)5 – vorgeschlagen worden, die das Problem der typologischen Bestimmung verschärfen. Der Begriff ›Comic‹ wird in der Regel in zwei Bedeutungen verwendet. Zum einem in der engeren Bedeutung einer Form der Bildergeschichte aus den Vereinigten Staaten, insbesondere seit Richard Felton Outcaults Down Hogan’s Alley mit der charakteristischen Figur des Yellow Kid6 in Abgrenzung zu belgischen und französischen ›bandes dessinées‹, italienischen ›fumetti‹, japanischen ›Mangas‹ und anderen nationalen Ausprägungen. In der weiteren Bedeutung, wie sie auch hier verwendet wird, umspannt der Begriff als Gattungsbezeichnung alle diese Formen. 5 6
Vgl. Paul Gravett, Graphic Novels. Stories to Change your Life, London 2005, S. 8. Vgl. z. B. Knigge, Alles über Comics, S. 18–21, vgl. hierzu auch insges. Balzer/Wiesing, Outcault.
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Der Comic als ›neunte Kunst‹ und die Literatur
In Anbetracht der vielfältigen Ausprägungen, die Comics hinsichtlich des Zeichenstils, der Publikationsform etc. haben können, kann kaum von einer einzigen Sprache des Comics die Rede sein. Vielmehr sind es wohl verschiedene Sprachen, die unter dem Oberbegriff Comic versammelt werden. Es bleibt eine Anzahl von Elementen, die meistens anzutreffen sind und daher als Orientierungspunkte dienen können, ohne absolut trennscharfe Kriterien zu sein. Es ist Konsens, dass Comics mit Bildern operieren, sei es, um Geschichten zu erzählen oder um Sachverhalte zu vermitteln (wie zum Beispiel McCloud es vorgeführt hat).7 In den Bildern sind Räume auf verschiedene Weise in Szene gesetzt, und in diesen Räumen agieren Figuren. Wo es ein Bild gibt, muss es begrenzt sein, daher sind Rahmen von besonderer Relevanz (siehe dazu Kapitel I.4.3). Keine Einigkeit herrscht darüber, ob Schrift ein integraler Bestandteil der Comic-Ästhetik sein müsse und in welchem Verhältnis Schrift und Bild zueinander stehen. Zunächst wurde das Bild, nicht selten pejorativ, als der gewichtigere Bestandteil gesehen und der Text lediglich als Begleitinformation, immer dann nötig und punktuell prominenter als das Bild, wenn Konzepte formuliert werden müssen, die für eine bildliche Darstellung zu abstrakt sind, oder temporale und lokale Sprünge der Handlung überbrückt werden sollen. Zur Zeit herrscht die Meinung vor, Bild und Text seien gleichwertige Hälften einer sich gegenseitig bedingenden binären Beziehung. Bernd Dolle-Weinkauff dagegen erkennt ein »heimliches Regiment der Sprache«, während Hans Holländer von einer Dominanz des Bildes spricht.8 Eine universell zutreffende Aussage kann darüber nicht getroffen werden, die Frage ist vielmehr am einzelnen Comic zu verhandeln. Es gibt sowohl schriftlose Comics wie auch solche, die mit einer großen Menge Text operieren. Wenn Bild 7
8
Eine zunächst trivial erscheinende, aber wesentliche, damit verbundene Frage ist, wie viele Bilder mindestens notwendig sind. Unter anderem McCloud (Understanding Comics) geht davon aus, dass Comics aus Bildsequenzen bestehen müssen, denn nur zwischen den Bildern können seinen Überlegungen nach die gezeigten Bilder im Kopf des Lesers zu einer Handlung ergänzt werden, deshalb sind minimal zwei Bilder nötig. Dietrich Grünewald (»Das Prinzip Bildgeschichte. Konstitutiva und Variablen einer Kunstform«) u. a. fordern dagegen als Mindestkriterium ein einzelnes Bild, in dem eine Handlung ersichtlich wird, und vereinigen so Cartoon (verstanden als ›Einbildwitz‹) und Comic. Vgl. Bernd Dolle-Weinkauff, »Das heimliche Regiment der Sprache im Comic«, in: Hans Jürgen Kagelmann (Hrsg.), Comics zwischen Lese- und Bildkultur, München 1991, S. 66–78; Hans Holländer, »Zeit-Zeichen der Malerei«, in: Michael Hein/ Michael Hüners/Torsten Michaelsen (Hrsg.), Ästhetik des Comic, Berlin 2002, S. 103–124.
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und Text vorhanden sind, kommt mal dem Bild ein größerer Anteil an der Narration zu, mal der Schrift – zuweilen ist der Anteil ausgeglichen. Eine generelle Dominanz eines der beiden ›vernähten‹ semiotischen Systeme lässt sich meines Erachtens nicht feststellen. Historisch betrachtet bilden Comics ohne Schrift die Ausnahme. In der Regel tritt Schrift – außerhalb des Paratextes, in dem sie immer anzutreffen ist – in vier Funktionen auf: (1) Als in der im Bildraum dargestellten Welt physisch vorhandene Schrift, zum Beispiel auf Schaufenstern, Werbetafeln, Zeitungen und ähnlichen Schriftträgern; (2) in Erzählerkommentaren (sogenannten captions), die oft in einem vom Bildfeld abgegrenzten Bereich stehen; (3) in Sprech- und Gedankenblasen und (4) in Onomatopoetika. Letztere sind auf besondere Weise eigentümlich für den Comic, denn sie verschränken die symbolische Funktion der Schrift, wie sie in Sprechblasen vorkommt, das heißt außerhalb des eigentlichen Bildraums, mit der räumlichen Anordnung der Zeichen im Bild. Weitere übliche, aber keineswegs verbindliche Elemente der Comic-Sprachen sind konventionalisierte symbolische Zeichen wie die über dem Kopf schwebende Glühbirne, die eine Idee anzeigt.9 Die sogenannten speed lines (Bewegungslinien), die Bewegungen von Figuren im Raum evozieren, lassen sich ebenso in diesen Bereich einordnen wie gänzlich schwarze Panels und Ähnliches mehr. Gerne und häufig genannt werden außerdem als ComicMerkmale das periodische Erscheinen und die damit zusammenhängende ›stehende Figur‹, zwei Kriterien, die nur auf Comics bestimmter Publikationsformen zutreffen, auf abgeschlossene Geschichten aber nicht.10 Ebenso lässt sich der Comic nicht an bestimmten Genres festmachen, wie es in der Vergangenheit versucht wurde. Ein besonders interessantes und dem Comic eigentümliches Zeichen sind Sprechblasen. Auch sie eignen sich nur bedingt als Ausschlusskriterium, obwohl sie gerne dazu herangezogen werden, denn es existiert eine Vielzahl von Comics, die ohne sie auskommt (das häufigstgenannte Beispiel ist Hal Fosters Prinz Eisenherz) oder auf Varianten setzt (bspw. indem auf die typische Umrandung verzichtet wird). Wiederum historisch betrachtet lässt sich aber konstatieren, dass Sprechblasen im Großteil der Comics seit ihrer vor allem durch Outcault und Rudolph Dirks (The Katzenjammer Kids) um die Jahrhundertwende vorangetriebenen Konventionalisierung verwendet werden. Bemerkenswert ist dabei, dass sie im Bild Leerstellen markieren, in de9
10
Eine Liste ohne Anspruch auf Vollständigkeit findet sich z. B. in dem sonst mit Vorsicht zu betrachtenden Band: Hoffmann/Rauch (Hrsg.), Comics, S. 19. Vgl. hierzu z. B. Hans Jürgen Kagelmann, Comics. Aspekte zu Inhalt und Wirkung, Bad Heilbrunn/Obb. 1976, S. 9 f.
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Der Comic als ›neunte Kunst‹ und die Literatur
nen Schrift als Schrift, wie sie im Buchdruck eingesetzt wird, das heißt unter weitestgehender Verdrängung ihrer Bildhaftigkeit, in ein Bild integriert wird.11
4.3
Rahmungsstrategien
Rahmenkonstruktionen gehören zu den ältesten Gestaltungsmitteln des Erzählens; zahlreichen einflussreichen Werken der Literaturen aller Sprachen und Epochen liegen sie als Gerüst zugrunde: Homers Odyssee (8. Jahrhundert v.u.Z.) und Boccaccios Decamerone (1348–1351) genauso wie Shakespeares The Taming of the Shrew (1593/94), Storms Schimmelreiter (1888) und Calvinos Se una notte d’inverno un viaggiatore (1979) – die Liste ließe sich beliebig erweitern. Indem sie einen fiktiven Erzähler einer fiktiven Zuhörerschaft gegenüberstellen, verweisen Rahmenhandlungen auf den Anbeginn des Erzählens überhaupt, denn sie modulieren die prähistorische (und prä- wie proliterarische) Erzählsituation des am Lagerfeuer stehenden Stammeserzählers, der seiner Sippe durch wahre und erfundene Geschichten tradierte Werte und überliefertes Wissen vermittelt. Es ist kein Zufall, dass Will Eisner in Graphic Storytelling den Comic auf eben diese Ausgangssituation zurückführt. Eisner stellt das (Höhlen-)Bild dem mündlichen Erzählen aber nicht nur als Ergänzung zur Seite, sondern interpretiert es als visuelle Grundlage eines präverbalen Erzählens mit »gestures and vocal sounds which later evolved into language«.12 Dass die Bilder der Sprache vorangegangen sein könnten, zu ihrem Entstehen beigetragen, es gar ausgelöst haben könnten, ist für Eisner als Comic-Autor naturgemäß eine spannende Vorstellung, dient sie doch nicht zuletzt der Legitimierung des Comics als kulturell wertvoller Ausdrucksform, der die Legitimität lange Zeit selbst von führenden Comic-Zeichnern abgesprochen wurde.13 Vorkommen und Funktionen von Rahmenerzählungen in Epen, Romanen und Dramen sind gut dokumentiert, wenn auch bisher keine umfassende Rahmentheorie existiert.
11 12 13
Vgl. hierzu ausführlich Balzer/Wiesing, Outcault. Eisner, Graphic Storytelling, S. 8. McCloud zitiert in Reinventing Comics die frühen Cartoon- und Comic-Größen George Herriman (1880–1940), Pulitzer-Preisträger Rube Goldberg (1883–1970) und Milton Caniff (1907–1988), um die gängige Einstellung der Comiczeichner zum Comic zu illustrieren – Milton Caniff: »It was a communication form rather than an art form. I don’t think I ever heard anybody use the phrase ›art form‹ as such.« (McCloud, Reinventing Comics, S. 26 f.).
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Eine zweite Ebene von Rahmung machen gezeichnete ›Bilderrahmen‹ aus. Der Schweizer Comic-Insider und Popliterat Christian Gasser hat in seiner 2007 erschienenen Sammlung von Comic-Erzählungen unter dem Titel Die wahre Linie den Panel-Rahmen ein Denkmal gesetzt. Gasser lässt in einem Expertengespräch eine fiktive Runde von Comic-Fachleuten über die überragende Arbeit eines fingierten Zeichners von Rahmen reflektieren, der die Kunst des Panel-Rahmens zu ungeahnten Höhen getrieben habe: Es gibt nur eine Form, in der Ross Wilkinsons Arbeit gewürdigt werden kann. Die unsichtbare Kunst muss endlich sichtbar gemacht werden. […] Nur die Einzelbildrahmen. Keine Bilder. Kein Text. Seine Rahmen allein erzählen die ganze Geschichte, vermitteln Atmosphäre, Emotionen und alles andere. Das ist die reinste Form der Comics; Kunst, reduziert auf das Essentielle. Die wahre Linie.14
Gassers ironisch-wissenschaftskritischer Text offenbart in überspitzter Weise die eigentliche Bedeutung der Panel-Rahmen. Die zwei Dimensionen von Rahmungen in Comics, visuelle und narrative, erfordern es, unabhängig voneinander untersucht zu werden. Das folgende Kapitel ist deshalb in zwei große Abschnitte unterteilt. Im ersten Abschnitt werden die Beziehungen zwischen Panel und Panel-Rahmen beleuchtet, da diese keine reinen Verzierungen sind, sondern einen gewichtigen Teil zum Kommunikationspotential beitragen. Im zweiten Abschnitt werden anhand ausgewählter Beispiele Rahmungskonstruktionen, die mit denen in literarischen Texten verwandt sind, erläutert und auf ihre Funktion hin befragt.
Visuelle Rahmen Bilderrahmen werden im 16. Jahrhundert zunehmend als Dekoration und Verschönerung des Bildes beliebt. Als steinerne Fassungen von Wandmalereien hatte es sie zuvor schon in der Architektur gegeben. In Material und Herstellung unterscheiden sie sich von dem Werk, das sie rahmen, denn in der Regel wird für ein Werk der bildenden Künste erst nach seiner Fertigstellung ein Rahmen nach einer subjektiv bestimmten ästhetischen Wirkung ausgewählt – Bild und Rahmen finden also eher zufällig zueinander. Dagegen sind Rahmen und Bild im Comic »aus einem Guss«, sie entstehen im 14
Christian Gasser, »Die wahre Linie«, in: Ders., Blam! Blam! und du bist tot, Berlin 2007, S. 195–222, hier S. 222.
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Der Comic als ›neunte Kunst‹ und die Literatur
kreativen Prozess und sind ein integraler Bestandteil des Zeichensystems. Mit der Erfindung des Holzschnitts um 1400 u.Z. finden Rahmen als Stilmittel ihre Umsetzung in die erste technisch reproduzierbare, graphische Kunst und sind damit den modernen Comics schon sehr nah. Zwei Funktionen kommen ihnen zu: eine strukturelle, die sie auch im Mittelalter schon haben, und eine narrative, die in älteren Ausdrucksformen nicht oder noch nicht in voller Ausprägung vorhanden ist.
Seite, Panel, Rahmen: Die strukturelle Funktion des Rahmens Im Hinblick auf Rahmen sind als Ahnherren der Comic-Zeichner wohl am ehesten die mittelalterlichen Buchillustratoren zu nennen, deren Zeichensprache den gemalten Rahmen bereits als festen Bestandteil kannte. Für die Künste hatte das Buch insofern Folgen, als fortan die einzelnen Pergamentseiten als selbständige Bilder angelegt werden konnten. […] Gerade die Verbindung von Bild und Text war die Voraussetzung dafür, daß sich der Buchillustrator über alles Verbale und Schriftliche hinaus zu einer eigenen Vorstellung vorwagen konnte. […] Am Beginn dieser Geschichte stehen Buchillustratoren des 5. und 6. Jahrhunderts, die bereits den Typus der Bildseite festlegten.15
Die strukturelle Funktion der Seite sowie des Rahmens im Comic ist derjenigen der Buchillustration sehr ähnlich. Will Eisner nennt folglich auch die Seite als die Konstante in Comic-Erzählungen: »Pages are the constant in comic book narration. […] The page as well as the panel must therefore be addressed as a unit of containment although it too is merely a part of the whole comprised by the story itself.«16 Die Pause, die durch das Umblättern entsteht, kann beispielsweise zur effektvollen Platzierung von Cliffhangern genutzt werden. Durch eine abweichende Farbgebung der Seite lässt sich eine andere Realitätsebene aufbauen, wie es zum Beispiel Alan Moore und Dave Gibbons in der Superman-Geschichte For the Man Who Has Everything17 (1985, dt.: Das Geschenk) mit zwei parallelen Handlungssträngen, die seitenweise kontrastierend nebeneinander stehen, vorführen. Das Format der Seite und ihre Kolorierung sowie die Verteilung der Panels auf ihr wirken sich prägnant auf die Wirkung des Comics aus. Dank moderner Techniken 15
16 17
Heinrich Klotz, Geschichte der deutschen Kunst, Bd. 1: Mittelalter 600–1400, München 1998, S. 114. Ebd., S. 63. Alan Moore/Dave Gibbons, For the Man Who Has Everything, in: Superman Annual Nr. 11, New York 1985.
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ist der Comic aber nicht mehr auf das Papier beschränkt. Die Funktion, die der unbedruckte Raum einbringt, kann gleichwertig von anderen Trägern übernommen werden. Anders als bei gedruckten Texten ist er kein semantischer Leerraum.18 Nach der Seite ist das Panel die kleinste komplexe Einheit des Zeichensystems ›Comic‹. Die konstitutiven Bestandteile des Panels sind die visuelle Darstellung eines Raums, einer Figur, eines Objekts (usw.), mit anderen Worten: ein ›Bild‹, und im Regelfall ein Rahmen, der dieses Bild umgibt. Wenn mit Comics Geschichten erzählt werden, müssen Räume erzeugt werden, in denen Akteure operieren können. Der Rahmen erschafft diese Handlungsräume, indem er sie vom umgebenden Raum absetzt, in ihm liegt insofern eine welterzeugende Kraft. Der Kunsthistoriker Hans Holländer hat in einem Aufsatz über Tafelbilder, illuminierte Bücher und Kathedralen einige Annahmen über Rahmungen vorgebracht, die sich ohne Sinnverschiebung auf Comics übertragen lassen. Er formuliert: »Der Rahmen begrenzt etwas, das nach außen fortgesetzt erscheint, über das, was gezeigt wird, hinaus«.19 Im Hinblick auf das implizierte Draußen weist er auf Die Hochzeit der Arnolfini20 von Jan van Eyck hin. Das bekannte Gemälde zeigt an der Wand hinter dem Ehepaar Arnolfini einen gewölbten Spiegel, in dem neben den Eheleuten noch zwei weitere Figuren zu erkennen sind. Van Eyck, der sich zuvor bei der Gestaltung des Genter Altars ausführlich mit Rahmen auseinandergesetzt hat,21 wählt die Perspektive für das Hochzeitsbildnis so, dass der Betrachter die Szene durch die Augen des Künstlers sieht. Im Spiegel zeigt sich, dass der Raum, den der Blick des Betrachters erfasst, nur ein Ausschnitt aus einem größeren impliziten Raum ist. Das Bild lässt sich als Fenster zu dem Raum verstehen, der Rahmen begrenzt zwar das Fenster, nicht aber den
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In lyrischen Texten ist der vermeintliche Negativraum nicht selten semantisch aufgeladen, besonders evident ist dies bei Formen visueller Dichtung, und auch bei machen Erzähltexten kann er nicht vernachlässigt werden. Hans Holländer, »Bild, Vision und Rahmen«, in: Joerg O. Fichte/Heinz Göller/ Bernhard Schimmelpfennig (Hrsg.), Zusammenhänge, Einflüsse, Wirkungen. Kongressakten zum ersten Symposium des Mediävistenverbandes in Tübingen 1986, Berlin, New York 1986, S. 71–94, hier S. 72. Jan van Eyck, Die Hochzeit der Arnolfini. 1434, Öl auf Holz, 82 × 59,5cm, National Gallery, London. Van Eycks Genter Altar (Kathedrale St. Bavo, Gent), der sich aus einer Reihe einzeln gerahmter Bilder zusammensetzt, entstand 1432, zwei Jahre vor dem Arnolfini-Gemälde. Er weist kaum weniger selbstreflexive Züge auf als das Bildnis der Arnolfini, so stellt das Hauptbild des Altars einen Altar zur Schau, und einige Nebenbilder zeigen verschiedene Rahmungen (Fenster, Rundbogenarkaden).
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Raum; er teilt den gezeigten Raum in einen sichtbaren (expliziten) und einen unsichtbaren (impliziten) Teil.22 Die so erschaffenen Räume sind Fiktionen, sie verweisen auf eine eigene Wirklichkeit: »Die Selbstdefinition des Bildes [durch den Rahmen] ist die Abgrenzung zu jeder anderen Realität, einschließlich derjenigen anderer Bilder […]«.23 Der Rahmen ermöglicht es dem Leser, einzelne Momente der Handlung voneinander zu unterscheiden, »er [ist] eine Art von Definition des Bildes und mehr als eine bloße Begrenzung mit dekorativer Funktion […].«24 Indem zwei nebeneinander stehende Bilder durch Rahmen voneinander abgegrenzt werden, werden sie im Comic als Panels, als bedeutungstragende Zeichenkomplexe, lesbar. Bei Tafelbildern ohne Rahmen fallen die äußere Begrenzung des Bildes und der Rahmen zusammen. Diese Begrenzung ist aber der Rahmen in seiner unscheinbarsten Form. Das Bild erzeugt seinen Rahmen selbst. Es kann nicht anders, denn es ist notwendigerweise in seiner physischen Ausdehnung durch Trägermedium, Herstellungstechniken und Lebenszeit des Künstlers begrenzt. In Comics verhält es sich etwas anders, da gleich mehrere Bilder auf einer Seite stehen. Nur in Ausnahmefällen stimmt die Panel-Begrenzung mit dem Seitenrand überein. Bleibt ein Panel ungerahmt, bricht der Comic mit der Lesererwartung. Paul Karasik und David Mazzucchelli nutzen diesen Effekt in ihrer Adaptation von Paul Austers City of Glass gezielt aus. Von den fast 900 Panels der Haupthandlung sind nur drei ungerahmt. Jede dieser drei Stellen markiert eine Krise des Protagonisten, einen punktuellen Moment höchster Ungewissheit und Verzweiflung und zugleich eine Wende in der Erzählung. Der Anflug fundamentaler Unsicherheit wird im Wechsel vom gerahmten zum rahmenlosen und zurück zum gerahmten Panel visuell kommuniziert. Die Abwesenheit des gezeichneten Rahmens unterstreicht seine Funktion, denn in der Leerstelle manifestiert sich die Abweichung von der Lesererwartung, wodurch die Bedeutung des Rahmens unversehens aktualisiert wird. Andere Comics kommen ganz ohne Rahmen aus. Hier dient die Einheit des Handlungsraums der Kenntlichmachung der Handlungsausschnitte und 22
23 24
Eine Ausnahme stellen ungerahmte trompe l’oeil-Malereien dar, die darauf abzielen, den empirischen Raum zu vergrößern. Aber auch sie sind »die Affirmation eines anderen Raums«, denn die »pikturale Darstellung der Nische, des Fensters oder der Tür gehört einem metaartistischen Mechanismus an, der einen Dialog zwischen dem existenziellen und dem imaginären Schnitt herstellt« (Stoichita, Das selbstbewußte Bild, S. 74). Holländer, »Bild Vision und Rahmen«, S. 73. Ebd., S. 72.
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Abb. 12: Rahmenloses Panel in: Karasik/Mazzucchelli, City of Glass, S. 97.
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Abb. 13: Apokalypse. Kampf mit der Bestie (Paris, Bibliothèque Nationale MS lat. 10 474, fol. 4IV (zit. nach Lewis, Reading Images, S. 181).
erzeugt gleichermaßen eine Begrenzung, die funktional dem Rahmen gleichkommt. »Immer dann, wenn mit dem Bildrahmen besondere Kunststücke angestellt werden, verweist das auf eine durch den Rahmen gesicherte unterschiedliche Beschaffenheit der dargestellten Realitäten.«25 Dass derartige ›Kunststücke‹ eine lange Tradition haben, zeigt beispielhaft der Kampf mit der Bestie aus dem 13. Jahrhundert, in dem der Rahmen mit dem weltlichen Diesseits und dem postapokalyptischen Jenseits ebenfalls zwei Ebenen voneinander trennt.26 McCloud bezeichnet dieses verbreitete Phänomen, unter Rückgriff auf die theaterwissenschaftliche Terminologie, als »breaking the fourth wall«.27 In Comics dient diese Technik vor allem der Lenkung der Leseraufmerksamkeit, weil mit ihr, sparsam verwendet, einzelne Handlungsmomente akzentuiert werden können, indem gegen die angenommene Unverletzlichkeit des Rahmens verstoßen wird. Die Intensität, mit der ein (bildliches oder schriftliches) Zeichen beim Lesen wahrgenommen wird, korrespondiert mit der 25 26
27
Ebd., S. 71. Vgl. Suzanne Lewis, Reading Images. Narrative discourse and reception in the thirteenthcentury illuminated apocalypse, Cambridge, MA 1995, S. 21. Vgl. Scott McCloud, Making Comics, New York 2006, S. 33, S. 45.
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Bedeutung, die es innerhalb der Fiktion hat. Durchbrechen Onomatopoetika etwa die ›vierte Wand‹, erregen sie besonders viel Leseraufmerksamkeit, in der Fiktion wird das Geräusch von den Figuren besonders intensiv, also als ›sehr laut‹ oder ›erschütternd‹ wahrgenommen. Neben der Überlappung von Panel-Rahmen und Bildinhalt gibt es weitere Spielarten. George McManus lässt den unfreiwilligen Emporkömmling ›Jiggs‹, Held des Strips Bringing Up Father (1913–2000), im zweiten Weltkrieg auf humoristische Weise für Kriegsanleihen werben, indem er ihn einen Panel-Rahmen über mehrere Einzelbilder aufwickeln und mit den Worten »Now to wrap up my war bonds and start buying some more« davon tragen lässt:
Abb. 14: George McManus, Bringing Up Father vom 21. 06. 1943 (zit. nach Knigge, Alles über Comics, S. 154).
Die spielerische Beschäftigung mit den medialen Ausdrucksmitteln hatte Anfang des 20. Jahrhunderts bereits Winsor McCay in seiner Serie Little Sammy Sneeze (1904–1906) vorgemacht. Der kleine Junge, ewig gepeinigt von (für ihn) unvorhersehbaren Niesanfällen, legt mit einem solchen ein Panel in Scherben, womit McCay explizit das Panel als Fenster definiert. Thomas Ott treibt in seiner Bearbeitung von Oscar Wildes The Picture of Dorian Gray (1890/91) auf subtile Weise ein ähnliches Spiel. Ott nimmt den Titel des Romans wörtlich und reiht entsprechend, als pars pro toto für die Handlung, neun Zeichnungen des besagten ›Bildnisses‹ nebeneinander. Der Zeichner erlaubt damit einen Blick hinter den Vorhang, mit dem Dorian das Bild aus Abscheu verhängt. Jedes Panel zeigt das gerahmte Bildnis Dorians in einem anderen Stadium. Analog zur Romanhandlung verändert sich das Äußere des Abgebildeten kontinuierlich vom Gefälligen zum Monströsen, bis es im letzten Panel, von einem Messer durchstoßen, zum Ausgang zurückkehrt. Der Rahmen des Bildnisses und der Rahmen des Panels sind eins. Das Messer steht dadurch in einem hybriden Verhältnis zu Panel und Panel-Inhalt, denn »[b]ei jedem Bild begründet der Rahmen die Identität der Fiktion«, »[e]inem Bild zusätzlich zu einem wirklichen einen gemalten Rahmen zu geben, heißt die Fiktion zu potenzieren. Das Bild mit gemaltem Rahmen affirmiert sich zweifach als Darstellung: es ist das Bild eines Ge-
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Abb. 15: Ausschnitt aus Thomas Otts Adaptation von Das Bildnis des Dorian Gray (Alice im Comicland, S. 4).
mäldes.«28 Der Rahmen ist als Bilderrahmen Teil der Fiktion, als Panel-Rahmen aber auf einer außerfiktionalen Ebene. Dadurch wird auch der PanelInhalt, das Bild, das ja fest mit dem Bilderrahmen verbunden ist, in eine Ebene mit dem Panel-Rahmen gebracht – Fiktion und Struktur verschmelzen. Das Messer steckt also zugleich im Bild und im Panel, denn es ist ein Teil des dargestellten Inhalts, durchstößt aber auch seinen Raum und ragt unsichtbar durch die ›vierte Wand‹ aus dem Panel heraus. Der Rahmen stellt sich als Diaphragma dar: Er schafft ein Innen und ein Außen und grenzt das eine vom anderen ab, erlaubt dabei aber Innen und Außen, in eine teils hybride, teils regelrecht paradoxe Beziehung zu treten. So erzeugt er das Bild – von dem er im gleichen Moment selbst hervorgebracht wird – und konstruiert die Handlung als lesbare Reihe von miteinander in einem Zusammenhang stehenden Handlungsmomenten.
Der Rahmen als Zeit-Zeichen: Die narrative Funktion des Rahmens Rahmen erfüllen nicht nur die Funktion, das Panel als solches zu definieren und einen Handlungsraum zu schaffen, »die Art der Begrenzung ist auch ein Hinweis auf die Bedeutung dessen, was im Bilde zu sehen ist, ein Bestandteil der ikonographischen Struktur«.29 Die Arten der Begrenzung, also die Formen, die Panel-Rahmen annehmen können, und die Art, wie sie gezeichnet sind, unterliegen im Zeichensystem ›Comic‹ einer gewissen Konventionalisierung. Eisner betont, »the panel border itself can be used as part of the
28 29
Stoichita, Das selbstbewußte Bild, S. 75. Holländer, »Bild, Vision und Rahmen«, S. 72.
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non-verbal ›language‹ of sequential art«.30 Er meint damit vornehmlich die Bedeutung des Rahmens als ›Metronom‹ der Comic-Erzählung: »The act of framing separates the scenes and acts as a punctuator. Once established and set in sequence the box or panel becomes the criterion by which to judge the illusion of time«.31 Michael Hein dagegen weist in einem Essay über die »Suche nach der ausgelassenen Zeit«32 auf Differenzen zwischen Aspekten der Erzählung in literarischen Texten und in Comics hin. Er sieht in der Zeit als Maß der Schriftsprache den ausschlaggebenden Unterschied zwischen den beiden Ausdrucksformen. Zeit sei »die Dimension verbaler Repräsentation«: »Was als Erzählung verstanden wird, beruht im Ausdruck auf der vereinbarten Funktion verbaler Sprache, Zeitwerte und Strukturen von Zeitlichkeit zu repräsentieren«.33 Für Comics gelte dies nicht: »Es gibt kein Zeitwort im Panel […]. Entsprechend folgen die Panels nicht aufeinander mit der chronologischen Eindeutigkeit von Sätzen«, und er fährt fort: Die Panel-Folge »[…] überläßt es dem Vorstellungsvermögen des Betrachters, Zusammenhang herzustellen […]«.34 Dem ließe sich entgegnen, dass auch Satzfolgen keinen a priori-Sinnzusammenhang haben, sondern dieser vom Leser interpretierend hergestellt werden muss. Sätze sind nur in ihrem satztechnischen Auftreten chronologisch angeordnet, also in der Reihenfolge, in der sie gelesen werden sollen. Das gilt aber in gleichem Maße für Comics. In einem elementaren Punkt unterscheiden sich aber die beiden Erzählformen: Das Tempus der schriftsprachlichen Erzählung ist das ›epische Präteritum‹. Daß in einer Erzählung Geschehnisse »überwiegend im Lichte der Vergangenheit zur Darstellung gebracht« werden, sei [nach Roman Ingarden, Anm. d. Verf.] in erster Linie der semantische Ausdruck für den ontischen Unterschied zwischen dargestellter und realer Welt.35
Im Comic dagegen gibt es, außerhalb der nicht immer präsenten captions, so Hein, keine explizite Erzählzeit. Eisner weist allerdings plausibel auf die Funktion der Panel-Rahmen hin, die Erzählzeit zu determinieren: »rectangular panels with straight edged borders […], unless the verbal portion of the narrative contradicts this, usually are meant to imply that the actions contain30 31 32
33 34 35
Eisner, Comics & Sequential Art, S. 44. Ebd., S. 28. Michael Hein, »Zwischen Panel und Strip. Auf der Suche nach der ausgelassenen Zeit«, in: Ders./Michael Hüners/Torsten Michaelsen (Hrsg.): Ästhetik des Comic, Berlin 2002, S. 51–58. Ebd., S. 54. Ebd., S. 56. Franz K. Stanzel, Typische Formen des Romans, 2., durchges. Aufl. Göttingen 1965, S. 34.
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ed therein are set in the present tense«.36 Dies deckt sich mit der menschlichen Wahrnehmung: Mit den Augen Wahrgenommenes hat (wie alles sinnlich Wahrgenommene) immer den Charakter des Präsentischen, des JetztVorhanden-Seienden. Menschen können nicht (in) die Vergangenheit oder (in) die Zukunft ›sehen‹, diese Kategorien zeitlicher Wahrnehmung sind vornehmlich sprachlich vermittelbar. Ein Panel, das etwas nicht Gegenwärtiges zeigen soll, bedarf daher einer zusätzlichen Codierungsebene. Entweder muss der Abstand zum ›Jetzt‹ sprachlich codiert werden, wie bei Eisner angedeutet, oder es muss auf andere Ausdrucksmittel zurückgegriffen werden. Inhaltlich kann das etwa geschehen, indem die gezeigten Handlungsräume und Akteure den zeitgenössischen Vorstellungen von Zukünftigem oder Vergangenem entsprechen; Kleidungsstile und Architektur sind sehr verbreitete Mittel. Wenn ein Comic durchgehend derartige Darstellungsweisen verwendet, um einen Handlungsraum in der Zeit zu bestimmen, erhält die gezeigte Handlung aber insgesamt wieder eine Gegenwärtigkeit. Die PanelRahmung kann die Funktion zeitlicher Differenzierung zwischen zwei Momenten der Handlung tragen und so ein ›Jetzt‹ von einem ›Früher‹ oder ›Später‹ trennen, sie übernimmt dann die Funktion der Tempusmarkierung, die Hein vermisst. So seien, nach Eisner, wellen- oder wolkenförmige Rahmen ein verbreitetes Zeichen für eine Handlung, die in der Vergangenheit liegt.37 Zeit und Zeitlichkeit schreiben sich in die Comic-Erzählung also durchaus ein, wenn auch auf andere Weise als in Texte: Sie hinterlassen ihre Spuren in den Rahmen. Der Rahmen trägt damit eine für den Comic als Erzählform eminent wichtige narrative Funktion.
Narrative Rahmungen Grundsätzlich können alle Kontexte, in die ein Text gestellt wird, als Rahmungen beschrieben werden, insofern sie die Rezeption beeinflussen. Paratexte etwa evozieren eine besondere Einstellung des Lesers zum Text, konstituieren also einen Rahmen, innerhalb dessen der Text als Ganzes rezipiert wird. Im Vordergrund stehen hier aber die Funktionen, die verschiedene Formen von narrativen Rahmungen übernehmen können. Comics erzählen. Wann immer eine Geschichte erzählt wird, stellt sich unwillkürlich die Frage: Wer erzählt? Diese Frage ist für Comics nicht immer 36 37
Eisner, Comics & Sequential Art, S. 44. Vgl. ebd.
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leicht zu beantworten. Erzählpositionen – in Comics wie in ›Textliteratur‹ – geben Anlass für eine ausführliche Auseinandersetzung, die hier nicht geleistet werden kann. Für das Verstehen von verschachtelten Erzählsituationen ist ein grundlegendes Verständnis für die Art und Weise, in der Comics erzählen, aber von Bedeutung. Wenn es im Comic einen Erzähler gibt, der sich schriftlich manifestiert, hat er seinen Platz gewöhnlich in den captions. Meist durch eine Umrandung, ein anderes Schriftbild oder andere visuelle Techniken von den Panels abgegrenzt, enthalten captions Fließtext, der Erzähltexten gleicht, wenn er auch meist kürzer und pointierter ist. Im einfachsten Fall gibt es einen autodiegetischen Erzähler, der in captions explizit erzählt. Beispiele dafür sind der gerade in einen Zeichentrickfilm transponierte, zweibändige, autobiographische Comic Persepolis (2000/2002) von Marjane Satrapi. Ein anderes Beispiel ist die Adaptation von Melvilles Moby Dick für die Reihe Classics Illustrated,38 in der Ishmael getreu der Vorlage als Ich-Erzähler auftritt. Nur wenige Comics lassen in eine metadiegetische Haupthandlung durch eine Erzählerfigur einführen, die auch außerhalb von Texten, das heißt bildlich in Erscheinung tritt. Das bekannteste Beispiel dürfte der ›Crypt Keeper‹ sein, der Geschichten in der E.C.-Heftreihe Tales from the Crypt (1950, zuerst als The Crypt of Terror) mit herausfordernden, an den Leser gerichteten Worten eröffnet. Schwieriger gestaltet es sich, die Erzählposition zu bestimmen, wenn es keinen manifesten Erzähler gibt, wie in ›Pantomimenstrips‹, Comics, die ohne Worte, nur durch die Differenzen benachbarter Bilder ›erzählen‹. In ihrem Erzählgestus des ›Zeigens‹ sind sie dem Theater ähnlicher als geschriebenen Texten, wie Grünewald aufzeigt: Die literarische Bildgeschichte […] basiert, gleich um welche Art von Bildgeschichte es sich handelt, auf der Darstellung eines äußeren wie inneren Prozesses. Dieser Prozeß wird dem Betrachter/Leser […] gezeigt, nicht beschrieben. So ist die Bildgeschichte dem Theater wie dem Licht-Theater, dem Film, ähnlich. In ihrem Zentrum stehen die Akteure, die sich auf einer visuell präsentierten ›Bühne‹ bewegen und das Geschehen tragen.39
Andreas Jäggi, der sich um eine prägnante Definition der Rahmenerzählung bemüht, formuliert in seiner Dissertation, der ein umfangreiches Korpus zugrunde liegt, treffend: »Die primäre erzähltechnische Funktion des Rahmens
38
39
Herman Melville, Moby Dick. Classics Illustrated, New York, 1942 (=Classics Illustrated Nr. 5). Dietrich Grünewald, Vom Umgang mit Comics, 2. durchges. Aufl. Berlin 1996, S. 30; vgl. auch Ders., Comics, S. 18–27, sowie Ders., »Das Prinzip Bildgeschichte. Konstitutiva und Variablen einer Kunstform«, in: Ders. (Hrsg.): Struktur und Geschichte der Comic. Beiträge zur Comicforschung, Bochum, Essen 2010, S. 11–31.
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besteht in der Konstituierung der für die Rahmenerzählung charakteristischen Zweischichtigkeit«.40 Seiner Ansicht, Rahmungen dienten »der Einführung eines Binnenerzählers«,41 kann mit Blick auf die Comics allerdings nicht gefolgt werden, denn sie schließt eine Reihe von strukturell und funktionell affinen Strategien aus, bei denen nicht im engeren Sinne von einem Erzähler die Rede sein kann. Zum Beispiel die für das Theater relevante Form des ›Spiels im Spiel‹, die keinen Binnenerzähler aufweist, lässt sich mit Jäggis Definition nicht fassen. Gerade diese Form der Schachtelung ist aber für den Comic von besonderer Wichtigkeit. Statt der engen Beschreibung Jäggis, die sich ausschließlich auf schriftsprachlich erzählende Texte anwenden lässt und daher den Comic ausklammert, der (größtenteils) erzählt, indem er Handlung zeigt, sollen hier unter dem Begriff ›Rahmung‹ alle diejenigen Textstrategien versammelt werden, die eine Vermehrung von Fiktionsebenen und eine Verschachtelung dieser Ebenen bewirken. Darunter fallen auch Formen gerahmter Erzählungen, in denen die Binnenhandlung einen geringeren Anteil am kommunikativen Potential des Texts hat. Zudem darf die rahmende Funktion, die Binnenhandlungen für die Haupthandlung übernehmen, nicht außer Acht gelassen werden. An einer exemplarischen Auswahl von vier Comics werden im Folgenden die Funktionen von rahmenden Verschachtelungen erläutert, ohne dass damit Anspruch auf Vollständigkeit oder eine erschöpfende Betrachtung erhoben wird.
Beispiel 1: Einfache Rahmenhandlungen: Will Eisners To the Heart of the Storm Autobiographische Werke geben Künstlern nicht nur Anlass zu einer Auseinandersetzung mit sich selbst und dem eigenen Leben, sondern auch und gerade mit dem bisherigen Werk und ihrem Medium. Der erste längere autobiographische Comic, Justin Greens Binky Brown Meets the Holy Virgin Mary (1972), gab den Anstoß für eine Serie von Comics, die bis heute anhält. Comic-Pionier Will Eisner (1917–2005) befasst sich 1992 in To the Heart of the Storm mit seinem eigenen Leben und dem seiner Eltern – besonders mit dem seines Vaters. Shmuel Eisner, der sich nach der Immigration in Amerika Sam nennt, arbeitete als Bühnenmaler am Theater und brachte seinen Sohn Will schon in jungen Jahren mit der Bühne in Berührung. Eisners Comic40
41
Andreas Jäggi, Die Rahmenerzählung im 19. Jahrhundert. Untersuchung zur Technik und Funktion einer Sonderform der fingierten Wirklichkeitsaussage, Bern u. a. 1994, S. 223. Ebd.
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Ästhetik lässt sich auf diese frühen Erfahrungen zurückführen. Vom Theater übernimmt er die expressive Gestik und Mimik seiner Figuren und ein besonderes Interesse an Rahmen, dass sich in einem freien und spielerischen Umgang mit ihnen zeigt. Alle Arten von Öffnungen werden ihm zu potentiellen Panel-Rahmen: Fenster, Türen, Hochhausschluchten usw. To the Heart of the Storm setzt im Kriegsjahr 1942 ein, in dem Eisner zur Armee eingezogen wurde. Auf dem Weg zum Trainingscamp beobachtet der 25-jährige ›Willie‹ durch das Fenster des fahrenden Zugs die Umgebung. Ein Prolog, bestehend aus zwei Absätzen Fließtext und vier ›gezeichneten Photos‹, welche die Musterung zeigen, ist der Erzählung vorangestellt: For these young people it was an unforgettable journey to a new life. Behind them were the years of their youth and the time of growing up. Aboard the trains that snaked along the riverbeds, somber recruits stared out of grimy windows. It was a time to reflect, to take inventory […]42
Die Zugfahrt ›zum Herzen des Sturms‹ – der Zweite Weltkrieg selbst wird nicht thematisiert – bildet den Rahmen für diese Reise durch die Vergangenheit. Die Fenster des Waggons werden ›Willie‹ zu Panels, durch die er sein bisheriges Leben gleich einem Comic, aufgelöst in Einzelbilder, an sich vorüberziehen sieht. Kindheit und Jugend Eisners werden episodenweise geschildert. In unregelmäßigen Abständen unterbricht die Rahmenhandlung die Binnenerzählung. Unterhaltungen mit seinen Mitreisenden, ebenfalls Rekruten, und von Willie vom Fenster aus beobachtete Szenen aktivieren Erinnerungen, die in einem Kontext zur Gesprächssituation stehen. So denkt der jüdische Willie, von einem Mitreisenden nach seiner Religion gefragt, und ob er es angesichts dessen, »[…] what Hitler is doin’ to your people over there […]«43 noch erwarten könne, an die Front zu kommen, an seine erste Liebe Helen zurück. Deren Vater, ebenfalls immigrierter Jude, verlor durch einen antisemitischen Brandanschlag fast seinen Bootsbaubetrieb. Er beeindruckt Willie mit feurig vorgetragenen sozialistischen Überzeugungen, in denen die sozialistische (eigentlich kommunistische) Revolution beschworen wird, die mit allen Religionen aufräumen und damit Antisemitismus endgültig obsolet werden lassen soll. In sieben weiteren Episoden werden ähnliche Schlüsselerlebnisse erzählt. Gesteigert findet sich das Prinzip der Verschachtelung von Erzählsträngen etwa in der Mitte des Comics. Der Erzähler zweiter Ordnung, der intradiegetische Eisner, installiert seinen Vater als Erzähler dritter Ordnung
42 43
Will Eisner, To the Heart of the Storm, New York, London 2008 (zuerst 1991), S. 2. Ebd., S. 19.
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Abb. 16: Will Eisner benutzt unter anderem in To the Heart of the Storm Fenster in Analogie zu Panel-Rahmen (S. 20).
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und lässt ihn die Geschichte seiner Jahre in Wien, das heißt kurz vor seiner Emigration, schildern. Rahmenerzählung und Binnenerzählungen bewegen sich in der gleichen Richtung durch die Zeit, dabei nähert sich diese an jene an. Beide Handlungsstränge verschmelzen am Ende der Erzählung und kulminieren im letzten Panel, das Eisner als einen von anderen ununterscheidbaren Soldaten zeigt, die in Richtung einer bedrohlichen Gewitterwolke marschieren – zum ›Herzen des Sturms‹. Kurz davor wird Eisner noch von einem Mitreisenden allegorisch mit einem Weisen aus einer kleinasiatischen Legende verglichen, der rückwärts auf einem Esel ritt, um zu sehen, wo er war, weil das Ziel der Reise in den Händen Allahs liegt, also nicht absehbar ist. Diese kurze Erzählung spiegelt die basale Struktur des Comics. Die Rahmenerzählung spielt in Eisners To the Heart of the Storm im Hinblick auf den Inhalt der Erzählung eine untergeordnete Rolle, erfüllt aber eine substantielle narrative Funktion, denn sie koppelt die erinnerten Fragmente aus dem ›Früher‹ an das erzählerische ›Jetzt‹, und sie verbindet die isolierten Ausschnitte aus Eisners Leben zu einer Geschichte.
Quellenfiktionen: Paul Karasiks und David Mazzucchellis City of Glass Manuskript- und Herausgeberfiktionen sind verbreitete rahmende Textstrategien. Sie folgen unterschiedlichen Traditionen und können verschiedene Funktionen tragen. Die naheliegendste und historisch älteste Funktion ist wohl die der Authentifizierung des Texts durch Berufung auf überlieferte Quellen, wie sie in Antike und Mittelalter üblich ist. Dichter stellen sich als Wieder-Holer überlieferten Wissens und ihre Texte als Wieder-Holungen dieses Wissens in die Tradition belegter Quellen: Wichtiger als irgendeine Selbstdarstellung ist dem Autor, daß sein Werk durch die Tradition – eine Quelle, eine Vorlage – verbürgt sei. Die Quellenberufung und -fiktion ist gewiß seit der Antike oft nur ein Topos der Beglaubigung, doch kann sie dies nur sein, weil die ›Wahrheit‹, die Gültigkeit des Werks nicht auf einer persönlichen Autorität oder auf empirischen erhobenen Fakten beruhen, sondern darauf, daß sein Inhalt in der Überlieferung verbucht ist. Das ›buoch‹, aus dem ein Erzähler schöpft, ist für ihn und den Hörer fast soviel wie die Wahrheit selbst.44
In Moderne und (sogenannter) Postmoderne rücken das Buch und sein Inhalt in den Blickpunkt zahlreicher Schriftsteller. Das ›verbuchte‹ Wissen 44
Max Wehrli, Literatur im deutschen Mittelalter. Eine poetologische Einführung, Stuttgart 1984, S. 100 f.
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wird von ihnen zu einem fingierten Wissen transformiert, das im fiktionalen Raum seine Gültigkeit einfordert. Zur gleichen Zeit schaffen bildende Künstler Buchobjekte und Objektbücher, die ein Bewusstsein für das Material ›Buch‹ auch über die Literatur hinaus bekunden. Gerade die Literatur der ›Postmoderne‹, mit ihrem geschärften Blick für rhizomatische (Deleuze/ Guattari) Beziehungen und Interdependenz von Texten und Wissensstrukturen, hat die zum Topos gewordenen Authentifizierungsstrategien – freilich mit fingierten Quellen – als gleichwohl illusionsbildendes wie selbstreferentielles Spiel aufgegriffen.45 Ein Beispiel hierfür ist Umberto Ecos bekannter Roman Il nome della rosa (1980), dem der Autor bezeichnenderweise das ironische Motto »Naturalmente, un manoscritto« voranstellt.46 Auch in Comics wurde dieser Trend aufgegriffen. Die in Deutschland von 1974 bis 2006 vom Bastei Lübbe Verlag vertriebene Heftreihe Gespenster Geschichten beispielsweise beendete viele ihrer Gruselgeschichten mit den bedeutungsschwangeren Worten »Seltsam? Aber so steht es geschrieben …«, die aber wohl mehr einer Mystifizierung als einer Authentifizierung der Geschichten über Geister, Monster und merkwürdige Ereignisse dienten. Visuell wird der Anschluss an überlieferte Quellen in den Gespenster Geschichten und in vielen anderen Comics durch die Gestaltung der captions als Pergament oder Schriftrolle gesucht. Ein anderes Beispiel für einen ›postmodernen‹ Text, dem eine Manuskriptfiktion zu Grunde liegt, ist Paul Austers 1985 erschienener Roman City of Glass, der von Paul Karasik und David Mazzucchelli 1994 in einen Comic transformiert wurde. Daniel Quinn, der Protagonist des Romans, lernt unter den bekannten skurrilen Umständen einen Schriftsteller namens ›Paul Auster‹ kennen, der an einem Essay über Cervantes’ Don Quijote (1605/1615) arbeitet – ein Text, der ebenfalls eine Manuskriptfiktion aufbaut. Die Quintessenz des Essays ist, dass Don Quijote seinen eigenen Wahnsinn und seine Abenteuer inszeniert hat, um auf der Grundlage dieser Ereignisse von seinem Diener Sancho Pansa ein Buch schreiben zu lassen, mit dem er seine Leser prüfen wolle: 45
46
Als ein moderner Vorläufer kann Jorge Luis Borges (1899–1986) gelten, der in den 1940er Jahren über labyrinthartige Bibliotheken, fiktive Bücher und Bücher als Objekte der Suche und der Begierde geschrieben hat. Borges verbindet die Leidenschaft für das Buch mit dem Interesse an wissenschaftlicher Arbeit; er erfindet Theorien, stellt sie auf ein Fundament realer und erfundener Vorarbeiten, lässt sie von fingierten Wissenschaftlern diskutieren und nicht selten widerlegen – Wissenschaft wird ihm zum Spiel, in dem auch Quellenfiktionen ihren zwingenden Platz haben. Umberto Eco, Il nome della rosa, Mailand 1984, S. 10.
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Would it be possible, he [=Don Quijote, Anm. d. Verf.] wondered, to stand up before the world and with the utmost conviction spew out lines and nonsense? To say that windmills were knights, that a barber’s basin was a helmet, that puppets were real people? […] In other words, to what extent would people tolerate blasphemies if they gave them amusement?47
City of Glass spiegelt das fiktive Komplott des genialen Ritters zum einen inhaltlich – hat Peter Stillman jun. einen Schriftsteller auf die Fährte seines Vaters gesetzt, um ihn einen Text produzieren zu lassen?48 – zum anderen strukturell, indem die Fabel im Rahmen einer Manuskriptfiktion erzählt wird.49 Die Rahmenhandlung hat insofern für den Text eine tragende Bedeutung, die Transformierung und Übertragung muss daher ein vorrangiges Ziel einer Adaptation sein.50 Für die Comic-Adaptation des Romans mussten Karasik und Mazzucchelli entsprechend eine Möglichkeit finden, um die dem Roman zugrundeliegende Manuskriptfiktion bildlich umzusetzen.51 Der Großteil der Comic-Erzählung ahmt mit schlichten Schwarz-WeißZeichnungen und einer ruhigen, wenig variierten Wahl von Blickwinkeln den nüchtern-distanzierten Erzählgestus des Romans nach. Die Handlung ist dazu in die klassische Aufteilung von drei Zeilen pro Seite und drei Panels pro Zeile aufgebrochen, die je nach narrativer oder gestalterischer Notwendigkeit mit ihren Nachbar-Panels verschmelzen können. Der Comic beginnt mit einem fast ganzseitigen schwarzen Panel, das nichts zeigt als drei Zeilen maschinengetippten Text: »It was a/wrong number that/started it …«, die gleichen Worte also, mit denen auch Austers Roman beginnt. Auf der zweiten Seite wird der Satz fortgeführt: »… the telephone ringing three times in 47
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49
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51
Paul Auster, City of Glass, in: Ders., The New York Trilogy. City of Glass. Ghosts. The Locked Room, London 1992, S. 1–132, hier S. 100; Paul Karasik/David Mazzucchelli, City of Glass, the Graphic Novel, New York 2004, S. 92 f. Der Gedanke ist nicht unbegründet, liegt dieses Konzept doch dem zweiten Teil der New York Trilogy, Ghosts, zugrunde (vgl. Paul Auster, Ghosts, in: Ders., The New York Trilogy, S. 135–196). Die in dieser spielerischen Wissenschaftsfiktion angelegte Reflexion über AutorText-, Autor-Leser- und Leser-Text-Verhältnisse können hier nicht im Einzelnen erläutert werden. Als Beispiel für eine weitgehend misslungene Adaptation einer Quellenfiktion kann man die Classics Illustrated-Adaptation von Washington Irvings kanonisierter Erzählung Rip van Winkle (1819) sehen (1944 als Nr. 12 der Reihe erschienen). Sowohl Cartwright, der fiktive Herausgeber der Werke Diedrich Knickerbockers, als auch Knickerbocker selbst, der einigen Aufwand betreibt, um den Ursprung seiner Erzählung zu verschleiern – ironischerweise indem er ihn preisgibt – fallen in dieser Adaptation ersatzlos weg. Zur Entstehungsgeschichte des Comics vgl. Art Spiegelman, »Picturing a GlassyEyed Private-I«, in: Karasik/Mazzucchelli, City of Glass, unpag.
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the dead of night …«,52 jetzt aber in den handgezeichneten Versalien, in denen alle captions erscheinen und in denen auch die meisten SprechblasenTexte gesetzt sind.53 Die Vermischung von Bild und Text in Comics, zum Beispiel durch im Bild dargestellten Werbeplakate oder Leuchtschriften, verweisen auf die immanente Bildhaftigkeit von Schriftzeichen, die in ›Textliteratur‹ und im Alltag nur in Ausnahmefällen wahrgenommen wird. Beim interpretierenden Lesen von Comics muss diese Dimension der Schriftzeichen aber unbedingt berücksichtigt werden. Dass sich hinter der Schreibmaschinenschrift eine Manuskriptfiktion verbirgt, wird erst geklärt, wenn der Erzähler zum ersten Mal kommentierend eingreift und so den durch den Wechsel des Schriftschnitts erzeugten Bruch auflöst.54 Um diese bis dahin im Hintergrund gebliebene Erzählinstanz abzugrenzen, sind ihre Kommentare als getippte Schreibmaschinentexte auf eingespannten Bogen dargestellt.55 Dass das Format der ›regulären‹ Panels des Comics, also die des einfachen Neuner-Rasters, ziemlich exakt das Seitenverhältnis des nordamerikanischen Papierformats ›Ledger/Tabloid‹56 hat, korrespondiert mit den Schreibmaschinenbogen und deutet darauf, dass die gesamte Erzählung an der Schreibmaschine des namenlosen Erzählers entsteht. Ebenso, dass sich am Ende der Binnenerzählung das Panel-Raster auflöst und die Panels wie Papierbogen in einer wirbelnden Bewegung in den schwarzen Hintergrund flattern, wo sie im Nichts verschwinden. Das letzte Blatt ist wiederum mit Maschinenlettern beschriftet.57 Deutlich unterscheiden sich die letzten drei Seiten des Comics vom Rest der Erzählung. Sie berichten über die Auffindung von Quinns Notizbuch durch den Erzähler und den fiktiven Paul Auster. Dieser Teil der Erzählung, 52 53
54 55
56
57
Karasik/Mazzucchelli, City of Glass, S. 1 f. Ausnahmen bilden die Sprechblasen der beiden Stillmans, deren individuelle Sprechweisen von eigenen Schriftschnitten typographisch wiedergegeben werden. Vgl. Karasik/Mazzucchelli, City of Glass, S. 89. Man mag in dieser Schreibmaschine eine Anspielung auf den empirischen Schriftsteller Paul Auster sehen, was mit dem spielerischen Konzept des Texts korrespondieren würde. Auster bekennt in einem Interview, dass er (wie Quinn) ausschließlich in Notizbücher schreibt und seine fertigen Geschichten auf einer Olympia, Modell SM9, tippt (Paul Auster – Mein Leben. Deutschland, ZDF 2006. Regie: Victor Grandits/Jessica Krauss). Austers Schreibmaschine ist inzwischen selbst Gegenstand einer ästhetischen Auseinandersetzung geworden (vgl. Sam Messer/Paul Auster, The Story of My Typewriter, New York 2001). Papierbogen des Formats ›Ledger/Tabloid‹ werden durch den Standard ANSI X3.151–1987 definiert. Karasik/Mazzucchelli, City of Glass, S. 127–133.
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Abb. 17: Ausschnitt aus dem Epilog von Paul Karasiks und David Mazzucchellis City of Glass-Adaptation.
die erst in diesem Moment vollständig offenbarte Rahmenhandlung, ist visuell völlig anders gestaltet als die Binnenhandlung. »Die harte Realität des zuvor gepflegten klaren Strichs weicht dem süßlichen Stil des Aquarells, der der Unheimlichkeit der Geschichte ein Ende setzt.«58 In literarischen Texten können Rahmen- und Binnenhandlungen effektiv an der Textoberfläche markiert werden: durch explizite Erzählerwechsel, Änderungen der Erzählperspektive, Tempuswechsel usw. Comics haben zwar wie alle narrativen Formen eine Erzählerinstanz, mit der literarischer Texte ist sie aber nur bedingt vergleichbar. Rahmenhandlungen müssen deswegen von Binnenhandlungen auf andere Weise unterscheidbar gemacht werden. Eine mögliche Art, dies zu tun, demonstrieren Karasik und Mazzucchelli in ihrer Adaptation von City of Glass: »Diese Infragestellung des gesamten Buchs ist allein der Bildgeschichte vorbehalten.«59
58 59
Platthaus, Im Comic vereint, S. 84. Ebd., S. 84.
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Der Comic als ›neunte Kunst‹ und die Literatur
Beispiel 3: Das ›Spiel im Spiel‹/Der Comic im Comic: Art Spiegelmans Maus Art Spiegelmans autobiographischer60 Comic Maus – A Survivor’s Tale zählt zweifellos zu den bekanntesten Comics überhaupt. Auch außerhalb der Comic-Szene und des ›üblichen‹ Leserpublikums ist er ausführlich und kontrovers rezipiert worden.61 Spiegelman erzählt zwei gleichwertige, ineinander verschachtelte Geschichten. Die erste, in der Rezeption vorrangig beachtete, berichtet vom Überleben von Spiegelmans Vater Vladek in Auschwitz. Der zweite Erzählstrang legt die Entstehungsgeschichte des Comics dar. Jedes der elf Kapitel beginnt mit einer Begegnung zwischen Art und Vladek, in deren Verlauf der Vater seiner Überlebensgeschichte ein Stück hinzufügt. Das Grundgerüst der Erzählung – auch ein Rahmen – ist der zweite Erzählstrang, in den der erste eingebettet ist – dies soll aber hier nicht weiter interessieren. Etwa nach der Hälfte des ersten Teils entspinnt sich eine Unterhaltung zwischen Vladeks Ehefrau Mala und Art, in der zur Sprache kommt, dass Vladek einen Comic gefunden und gelesen hat, den Art lieber vor seinem Vater verheimlicht hätte. Mit Prisoner on the Hell Planet – A Case Study hatte Spiegelman sehr früh, bereits 1972, auf Justin Greens autobiographischen Impuls reagiert. Der Comic erschien damals »in an obscure underground comic book«.62 In dem vierseitigen Comic verarbeitete er den Tod seiner Mutter, Vladeks erster Frau Anna, die sich vier Jahre zuvor (1968) das Leben genommen hatte. Dieser Comic wird nicht bloß erwähnt, sondern vollständig zitiert. Spiegelman wählte für den Comic »eine am deutschen Expressionismus geschulte Bildsprache, in der er sich […] bemühte, die Zeichnungen wie Holzschnitte aussehen zu lassen«.63 Die erste Seite der Prisoner-Geschichte wird zunächst verkleinert innerhalb eines Panels gezeigt, in dem Art das aufgeschlagene Heft in der Hand hält 60
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Im Folgenden »Spiegelman« für den empirischen Autor des Comics, »Art« für dessen intradiegetisches Alter Ego. Zur Publikations- und Rezeptionsgeschichte des Comics vgl. Kai-Steffen Schwarz, Maus. Der Holocaust-Comic und die Reaktion des amerikanischen Publikums, 3. Aufl. Gießen 1993 (= Schriftenreihe der AG Populäre Kultur, Bd. 1); Oliver Näpel, Auschwitz im Comic – die Abbildung unvorstellbarer Zeitgeschichte, Münster 1998; Platthaus, Im Comic vereint, Kap. »Comics nach Auschwitz«. Ferner: Axel Dunker, »›Time Flies‹. Mediale Selbstreflexivität in Art Spiegelmans HolocaustComic Maus«, in: Matías Martínez (Hrsg.), Der Holocaust und die Künste. Medialität und Authentizität von Holocaust-Darstellungen in Literatur, Film, Video, Malerei, Denkmälern, Comic und Musik, Bielefeld 2004, S. 79–98. Art Spiegelman, Maus. A Survivor’s Tale, [New York] 1997, S. 101. Prisoner of the Hell Planet erschien zuerst in Short Order Comix Nr. 1. Platthaus, Im Comic vereint, S. 273.
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Abb. 18: Der intradiegetische Art hält den Comic, in dem es um ihn selbst in jungen Jahren geht (Spiegelman, Maus, S. 101).
(Abb. 18). Ein zweites Mal wird sie auf der folgenden Seite gezeigt, wiederum von Arts Hand gehalten, diesmal nimmt sie die ganze Seite ein.64 Die drei folgenden Seiten zeigen keine individuellen Hinweise darauf, dass der Leser die reproduzierte Version eines Comic-Hefts, das heißt eine Erzählung höherer Fiktionsordnung, vor Augen hat. Die vom Rest der Erzählung stark abweichende Bildsprache aber, die Abbildung des Comics als Heft, die relative Größe des Hefts und die schwarzen Außenränder, welche dem Abschnitt eine zusätzliche Düsterkeit verleihen, die den Inhalt des Comics reflektiert, kennzeichnen den Comic eindeutig als Binnenerzählung, »als […] Fremdkörper«.65 Strukturell und funktionell weist Prisoner on the Hell Planet große Ähnlichkeit mit dem ›Spiel im Spiel‹ auf, weshalb sich der Begriff metaphorisch auf ihn übertragen lässt.66 Das ›Spiel im Spiel‹ ist eine in dramatischen Texten verbreitete narrative Einschaltung, die verschiedenen Funktionen dienen kann. Es lässt sich von Calderón und Shakespeare über Andreas Gryphius und Ludwig Tieck bis zum modernen Drama, beispielsweise bei Luigi Pirandello und Heiner Müller, verfolgen. Es wird meist von den Figuren des Hauptstücks aufgeführt, die dazu in andere Rollen schlüpfen. Der PrisonerComic kann als Rückblick verstanden werden, er zeigt die ›Rollen‹, die Art und Vladek in der Vergangenheit ›gespielt‹ haben.
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Vgl. Spiegelman, Maus, S. 102 f. Platthaus, Im Comic vereint, S. 274, Bildunterschrift. Die terminologische Problematik mit dem Begriff ›Spiel im Spiel‹ und verwandten Termini (›Theater auf dem Theater‹ etc.) kann hier nicht erläutert werden, muss aber mitgedacht werden. Vgl. hierzu Schmeling, Das Spiel im Spiel. Ein Beitrag zur vergleichenden Literaturkritik, Gütersloh 1977, S. 5–24.
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Der Comic als ›neunte Kunst‹ und die Literatur
Inhaltlich ergänzt der Comic-im-Comic die Erzählung um ein Bild des Gemütszustands Arts nach dem unvorhergesehenen Tod seiner Mutter. Gleichzeitig wird die Beziehung zu seinem Vater weiter beleuchtet, der Fokus verschiebt sich dabei etwas in Richtung Art. Es […] wird auch die Besonderheit für die jüdische Generation nach der Verfolgung durch die Nationalsozialisten deutlich, da Artie [in Prisoner on the Hell Planet] als kleiner Junge schon mit Lagerkleidung im Bett liegt und sich eine Geschichte vorlesen läßt. Hier wird darauf verwiesen, daß ihre Jugend sich fundamental von der anderer Kinder unterscheidet, da sie von klein auf mit dem Genozid und seinen Konsequenzen konfrontiert worden sind.67
Für die Erlebnisse seines Vaters kann Spiegelman, in der Terminologie Agambens,68 nur als testis (Zeuge) auftreten. Der Selbstmord seiner Mutter macht ihn zum super-stes, zum ›Über-stehenden‹ des Verlusts seiner Mutter – Spiegelman, sein intradiegetisches Ich und mit ihm die ganze Generation von Kindern der Überlebenden der Judenvernichtung werden so als indirekte Opfer der Shoah reflektiert. In der Zeit zwischen den Interviews, die Art mit seinem Vater führt, stellt sich heraus, dass es zwischen Vater und Sohn unüberbrückbare Differenzen gibt. Art flieht regelmäßig vor ihm und beklagt sich über ihn bei seiner Frau Françoise. Bei Art löst Vladeks Bericht aus der Vergangenheit eine Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit aus. Deutlich macht dies schon die dem ersten Band prologhaft vorangestellte Kindheitserinnerung Arts, in der es um Freundschaft, genauer, um die Zuverlässigkeit von Freunden geht. Vladek, geprägt von seinen Erfahrungen in den Lagern Auschwitz und Dachau, versetzt dem niedergeschlagenen jungen Art: »If you lock them together in a room with no food for a week …/… then you could see what it is, friends!«69 Es geht in dieser Episode, die scheinbar den Anstoß zu dem Comic gegeben hat, einerseits um Vladeks Bitterkeit, andererseits um Art Spiegelman selbst, für den die Reaktion des Vaters als Kind unverständlich gewesen sein muss: Sie ist gleichzeitig Auslöser des Interesses an der Vergangenheit der Eltern und Produkt der Beschäftigung mit ihr. Sie führt letztlich 67
68
69
Näpel, Der Holocaust im Comic, S. 61 f.; vgl. die ausführliche Diskussion des eingefügten Comics im Hinblick auf seine vergangenheitsbewältigende Funktion ebd., S. 60–64. – Zu den Implikationen, die der Abdruck dieses Comic-im-Comic im Hinblick auf die autobiographischen Anteile von Spiegelmans Maus mitbringt, vgl. Ole Frahm, Geneaologie des Holocaust. Art Spiegelmans Maus – A Survivor’s Tale, München 2006, S. 102–113. Vgl. Giorgio Agamben, Was von Auschwitz bleibt. Das Archiv und der Zeuge (Homo sacer III). Aus dem Ital. von Stefan Monhardt, Frankfurt am Main 2003, S. 14 f. Spiegelman, Maus, S. 5 f.
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zu der Frage: »Wer bin ich?«, obschon sie nicht explizit im Comic geäußert wird. Damit verbunden ist die Frage: Warum bin ich Künstler? Spiegelman wurde, so sagt Art im Comic, Künstler, um mit seinem dominanten Vater, der an künstlerischer Betätigung nur ein begrenztes, an Comics gar kein Interesse hat, nicht konkurrieren zu müssen.70 Eine dritte Funktion der Einbettung des Comic-im-Comic in die Handlung liegt in der Brechung der Ästhetik von Maus. Maus wurde bisher hauptsächlich als Holocaust-Comic betrachtet, in diesem Sinne sind auch Elemente und Passagen der Autoreflexion behandelt worden.71 Dies ist sicherlich kein falscher Ansatzpunkt, doch ist Maus nicht ausschließlich der Comic über den Holocaust, als der er Geschichte geschrieben hat, er ist auch ein Comic, der seine Entstehungsbedingungen ostentativ thematisiert, er ist ein Comic über den Comic – ein Metacomic. Indem er die Ästhetik der Primärhandlung bricht, thematisiert er verschiedene Darstellungsmodi und richtet damit die Frage, wie sich die Shoah medial mitteilen lässt, an sich selbst.
Beispiel 4: Die Binnenerzählung als allegorische Verdoppelung: Alan Moores und Dave Gibbons Watchmen Mitte der 1980er Jahre setzt sich eine neue Generation von Comic-Künstlern, die mit den bahnbrechenden Arbeiten der ›Underground Comix‹ der 1960er Jahre aufgewachsen war, sich aber in ihrem Beruf weiterhin mit frustrierenden Beschränkungen klischeehafter Superheldengeschichten konfrontiert sieht, kritisch mit ihnen auseinander. Es entstehen Comics, die den Mythos des unbesiegbaren, übermenschlichen Helden nach dem Vorbild ›Supermans‹ bzw. des unbesiegbaren, menschlichen Helden nach der Art ›Spider-Mans‹ dekonstruieren. Unter diesen Versuchen nimmt Alan Moores (Autor) und Dave Gibbons (Zeichner) epischer Comic Watchmen72 (1986/87) eine exponierte Stellung ein.
70 71 72
Vgl. Spiegelman, Maus, S. 99. Vgl. Dunker, »Time Flies«, S. 79–98. Der Titel zitiert Juvenals Satiren an, wo es heißt: »[…] quis custodiet ipsos custodes?« (Juvenal (d.i. Decimus Iunius Iuvenalis), satura VI, in: Ders., Satiren. Lateinisch-Deutsch. Hrsg., übers. und mit Anm. vers. von Joachim Adamietz, München, Zürich 1993, S. 347 f.), die Frage findet ihre Entsprechung in dem Graffito ›Who watches the Watchmen‹, das an vielen Stellen in Moores Comic Hausfassaden ziert. In der pessimistischen Grundhaltung gleicht Watchmen Juvenals Satiren, auch thematisch gibt es Parallelen, z. B. prangern beide Autoren Eliten an.
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Der Comic als ›neunte Kunst‹ und die Literatur
Watchmen erzählt, was passiert wäre, wenn 1938 – im Geburtsjahr73 ›Supermans‹ und damit dieses Heldentypus – einfache Menschen selbst geschneiderte Verkleidungen angelegt hätten und zu maskierten Verbrechensbekämpfern geworden wären, also genau das, was in vielen SuperheldenComics geschieht. Nach anfänglichen Erfolgen tritt in den 1970er Jahren dieser Welt die Polizei in einen Streik: Sie verlangen das Verbot der Vigilantes, der ›maskierten Abenteurer‹. Die Bevölkerung schließt sich aus Angst vor Chaos und Plünderungen der Forderung an. Die Superhelden werden verboten, einige treten in den Dienst der Vereinigten Staaten, andere ziehen sich in ihr Privatleben zurück. Adrian Veidt alias ›Ozymandias‹,74 der intelligenteste Mensch der Welt,75 gründet ein Unternehmen und kommt durch die Vermarktung seines Namens zu Reichtum. Veidt, sein Konzern und seine Produkte sind in den Vereinigten Staaten der Watchmen-Welt omnipräsent. Mittels eines vorgetäuschten Angriffs durch Außerirdische, bei dem ein Großteil der Bewohner New Yorks und der Figuren des Comics sterben, versucht er einen kurz vor dem Ausbruch stehenden Weltkrieg zu verhindern. Andere ehemalige Helden – darunter einer mit dem sprechenden Namen ›Rorschach‹ – versuchen vergeblich dieses gleichermaßen humanistische wie barbarische Bestreben zu verhindern. Moores Comic ist wesentlich von Rahmungen verschiedenster Art geprägt. Der Comic, der zunächst als zwölfteilige Heftreihe (jedes Heft entspricht einem Kapitel) erschien, wird als Ganzes gerahmt von einer atomaren Erzählung: der Bewegung des Minutenzeigers von elf Minuten vor Zwölf auf Mitternacht; jedem Kapitel ist die Abbildung einer Uhr vorangestellt, und mit jedem Kapitel rückt der Zeiger eine Minute vor. Darüber hinaus wird jedes Kapitel von den ersten Worten eines Gedichtverses oder einer Liedzeile unterschiedlicher Provenienz eingeleitet und mit dem vollständigen Vers beendet. Das intertextuelle Zitat ist das Prinzip des Comics; Moore bedient sich ostentativ bei den verschiedensten Quellen – Bob Dylan, El73
74
75
Siegel und Shuster hatten Superman bereits 1936 erfunden, aber erst 1938 kaufte der Verlag Detective Comics den Comic und druckte ihn erstmals in der Eröffnungsnummer der Reihe Action Comics. Schon 1939 erhielt Superman ein eigenes Heft. »Ozymandias« ist das gräzisierte Pseudonym Pharao Ramses’ II. (13. Jh. v.u.Z.). Der Name ist v. a. durch Percy Bysshe Shelleys gleichnamiges Sonett aus dem Jahre 1817 (publ. 1818) geläufig. Das 11. Watchmen-Kapitel wird gerahmt von den bekanntesten Versen des Gedichts: »My name is Ozymandias, king of kings: Look on my works, ye mighty, and despair!« (Alan Moore/Dave Gibbons, Watchmen, New York 1987, Kap. I, S. 1 u. S. 28). Vgl. ebd., Kap. I, S. 17.
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vis Costello, Albert Einstein, William Blake, Friedrich Nietzsche, W. S. Burroughs und C. G. Jung, um nur einige zu nennen.76 Der Comic offenbart sich insofern als Kind seiner ›postmodernen‹ Zeit. Dass sich auch unzählige Anspielungen auf andere Comics finden lassen, verwundert daher nicht. Das dritte Kapitel führt zwei Nebenfiguren ein: den Verkäufer Bernard, der einen Zeitungs- und Zeitschriftenstand betreibt, und den jugendlichen Comic-Leser Bernie.77 Die Straßenkreuzung, an der Bernards Stand steht, ist ein zentraler Handlungsort des Comics. In gewissen Abständen kehrt der Comic zu den beiden Figuren zurück. Bernard führt Quasimonologe, in denen er die aktuelle politische Lage reflektiert und so einen wichtigen Beitrag zur Vermittlung des Settings und zum Spannungsaufbau leistet. Bernie liest unterdessen das jeweils neueste Heft einer Comic-Reihe mit dem Titel The Tales of the Black Freighter, in der in Fortsetzung eine Geschichte mit dem Titel »Marooned« erscheint.78 Bis zur Erfindung ›Supermans‹ durch Siegel und Shuster ist die Watchmen-Welt identisch mit der Realität. Da es in der Watchmen-Welt aber nach 1938 ›echte‹ Superhelden gibt, so Moores und Gibbons Idee, konnten sich Superhelden-Comics nicht im gleichen Maße etablieren, wie sie es in der Realität getan haben: Piraten-Comics, die in der Realität nie eine nennenswerte Käuferschaft hatten, treten an ihre Stelle.79 »Marooned« erzählt von einem Seemann, der, auf einer abgelegenen Insel gestrandet, von der Furcht ergriffen wird, dass das Geisterschiff ›Black Freighter‹ seine Heimatstadt ansteuert, um ihre Bewohner, in untote Piraten verwandelt, zu versklaven. Aus dieser Angst heraus baut er ein Floß aus den Leibern seiner toten Kameraden und fährt damit heimwärts, um die Ahnungslosen zu warnen. Um unerkannt in die gefallen gewähnte Stadt zu gelangen, begeht er einen Mord. Am Haus seiner Familie angekommen, erkennt er seinen fatalen Irrtum: Das Piratenschiff hatte vor der Stadt geankert, »to wait until they could collect the only prize they’d ever valued, claim the only soul they’d ever truly wanted«.80 Der Comic endet mit dem Beitritt des Seemanns zur Crew der ›Black Freighter‹. 76
77 78
79 80
Zu den intertextuellen Verweisen in Watchmen vgl. insges. Hans-Joachim Backe: Under the Hood. Die Verweisstruktur der Watchmen, Essen, Bochum 2010. Vgl. Moore/Gibbons, Watchmen, Kap. III, S. 1. Moore weist in einem Interview darauf hin, dass sich die Piratenerzählung an Brechts Dreigroschenoper (1928 uraufgeführt) anlehnt, ein Text, der selbst aus der Übertragung eines englischen Stücks hervorgegangen ist; vgl. Barry Kavanagh, »The Alan Moore Interview. Watchmen, microcosms and details«, 17. 10. 2000, http://www.blather.net/articles/amoore/alanmoore.txt (Stand: 6. 11. 2007). Vgl. Kavanagh, »The Alan Moore Interview«. Moore/Gibbons, Watchmen, Kap. XI, S. 13.
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Der Comic als ›neunte Kunst‹ und die Literatur
Das signifikante Merkmal von Rahmenerzählungen ist, dass auf verschiedenen Fiktionsebenen erzählt wird. Im Comic können diese Ebenen aber anders als in (den meisten) Schrifttexten gleichzeitig81 nebeneinander stehen oder sich gar überlappen, was Moore und Gibbons ausnutzen. Der PiratenComic wird in die Haupthandlung geschickt eingeflochten: captions, die zur Binnenhandlung gehören, erscheinen in Panels, welche die Haupthandlung weiterspinnen, und umgekehrt. Die Haupthandlung wird, auch durch die Abgrenzung vom Binnen-Comic, als ›reale‹ Wirklichkeit konstruiert. Dazu ist zusätzlich jedem der zwölf Kapitel mit Ausnahme des letzten ein NichtComic-Teil angefügt, beispielsweise fingierte Auszüge aus der Biographie eines der Superhelden, Teile aus der psychiatrischen Akte ›Rorschachs‹, Werbebroschüren und interne Kommunikation der von ›Ozymandias‹ gegründeten Firma und ähnliche Versatzstücke mehr. Die Autoren betreiben ein Stück weit ›Science-Fiction‹ – Wissenschafts-Mimikry –, um der Fiktion Kredibilität zu verleihen und sie so zu authentifizieren. Das Ende des fünften Kapitels markiert ein fiktiver Artikel zu The Tales of the Black Freighter aus »[…] chapter five of the Treasure Island Treasury of Comics (Flint Editions, New York, 1984) […]«.82 Der fingierte Artikel berichtet auf über drei Seiten vom Erfolg der Serie, ihren verschiedenen Zeichnern und ihrem Szenaristen. Teilweise sind die Informationen ironische Umkehrungen von tatsächlichen Ereignissen oder sonstwie modifizierte Fakten, teilweise sind sie ›erfunden‹ – in jedem Fall setzen sie spezifische Leserkenntnisse voraus.83 Auch über Rahmen spricht der Artikel: In that first story [=im ersten Black-Freighter-Heft, Anm. d. Verf.], three men with different paths through life have all been led to the same dockside tavern in search for work. The place is deserted save for a shadowy innkeeper who serves them ale in silence and the large, dark figure of a sea captain who sits at the next table and listens to them recount their stories to each other. The stories are recounted as 81
82
83
In literarischen Texten sind derartige Erscheinungen zwar die Ausnahme, kommen aber durchaus vor. Erinnert sei beispielhaft an Arno Schmidts mehrschichtigen Roman Zettels Traum (1970). Moore/Gibbons, Watchmen, Kap. V, S. 29. »Treasure Island« ist der Name einer fiktiven Kette von Comic-Fachgeschäften (vgl. ebd., Kap. I, S. 10) – offenkundig eine Anspielung auf Robert L. Stevensons kanonisierte Abenteuererzählung (1881/82). Der Verlag »Flint Editions« spielt ebenfalls auf Stevensons Geschichte an. Der Verlag E.C. (zunächst ›Educational Comics‹, später ›Entertaining Comics‹), populärer Vertrieb von Horror-Comics, musste wegen der Anti-Comic-Propaganda der McCarthy-Ära beinahe schließen. Moore und Gibbons kehren dies um, bei ihnen geht E.C. als Gewinner aus der Misere hervor (vgl. Moore/Gibbons, Watchmen, Kap. V, S. 29).
Der Comic und seine Sprachen: Zum Comic als Medium
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small, selfcontained tales within the larger narrative that frames them, and are all effective if predictable twist-ending yarns that reveal the various tellers to be utterly capable of almost any act of treachery.84
Die Stelle enthält ein Moment ironischer Selbstbespiegelung, schließlich sind auch Moore und Gibbons »tellers«. Der Absatz unterstreicht aber vornehmlich die allegorische Funktion der Binnenhandlung, denn ›Ozymandias‹ stellt sich in einem »twist-ending« als »capable of almost any act of treachery« heraus, der dem Verrat des Matrosen in der Binnenhandlung ähnlich ist: »Noble intentions had led me to atrocity. The righteous anger fueling my ingenious, awful scheme was but delusion.«85 Dass selbst der fiktiven ersten Geschichte einer fiktiven Reihe (sie selbst ja auch ein Rahmen!) innerhalb eines fiktiven Artikels eine Rahmenerzählung hinterlegt ist, betont die Bedeutung, die Moore und Gibbons ihr zumessen. Wo in Spiegelmans Maus die Auseinandersetzung mit der Einschaltung der Binnenhandlung die Identität des Autors und der Comic als Ausdrucksmittel thematisiert werden, steht in Watchmen eine kommentierende Funktion der Binnenhandlung im Vordergrund. Vermittelt wird die allegorische Beziehung durch inhaltliche Parallelen zur Haupthandlung und visuelle Anspielungen. So häufen sich in den letzten Kapiteln Anspielungen auf die Seefahrt. Watchmen kommentiert die Wirklichkeit der 1980er Jahre auf dreifache Weise: Erstens wirft er, typisch für dystopische Texte, ein kritisches Licht auf die zeitgenössische weltpolitische Situation zu einem Zeitpunkt, als der Rüstungswettkampf der Parteien des ›Kalten Kriegs‹ seinen Höhepunkt erreicht hatte und ein globaler Atomkrieg als unmittelbare Bedrohung erschien. Zweitens wird das Genre des Superhelden-Comics autothematisch und so kritisch bespiegelt und dekonstruiert.
Rahmungsstrategien Wir haben es in Comics also mit zweierlei Rahmungen zu tun, den spezifisch bildnerischen und den spezifisch literarischen. Auf den ersten Blick sichtbar sind die Panel-Rahmen, die für das Funktionieren des Zeichensystems von elementarer Bedeutung sind. Sie sind nicht direkt ein literaturwissenschaftliches, sondern in erster Linie ein kunsthistorisches Problem. Für das Verständnis der Ausdrucksform ›Comic‹ als Ganzes ist das Verständnis aller Einzelteile aber unerlässlich. Dass dazu die Grenzen der Disziplinen über84 85
Moore/Gibbons, Watchmen, Kap. V, S. 29. Moore/Gibbons, Watchmen, Kap. XI, S. 13.
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Der Comic als ›neunte Kunst‹ und die Literatur
schritten werden müssen, liegt in der hybriden Medialität von Bildgeschichten begründet. Darin liegt auch der Grund dafür, dass die Comic-Lektüre spezielle Anforderungen an den Leser stellt, die sich nur teilweise mit denen der ›Textliteratur‹ decken. Die Strukturierung von Kommunikationshandlungen entsprechend syntaktischer Konventionen gewährleistet den Erfolg der Kommunikation. Den syntaktischen Konventionen unterliegen zum Beispiel das Vorhandensein und die Gestaltung von Panel-Rahmen, denn gerade sie haben ja eine unmittelbare Bedeutung für die Lesbarkeit der Comics. Sie sind deshalb eine Notwendigkeit des Zeichen- und Kommunikationssystems Comic. Die literarischen Rahmungen, Verschachtelungen von Fiktionsebenen, können als Vertextungsstrategien ebenso notwendig sein, wenn sie, wie am Beispiel von To the Heart of the Storm zu sehen ist, dazu dienen, eine lose Sammlung von Erinnerungsfragmenten zu einer zusammenhängenden Geschichte zu fügen, wenn sie also eine ›einfache‹ narrative Funktion erfüllen. Der spielerische Umgang mit Konventionen, wie ihn George McManus in Bringing up Father zeigt, ist in erster Linie ein humoristisches Mittel zur Erzeugung von Amüsement. Der Panel-Rahmen gilt als unverletzlich, die Verletzung dieses Gesetzes kann witzig sein. Die Infragestellung des Codes durch ›Verfremdung‹ (Sklovskij) seiner Konstituenten, durch Bruch mit den Konventionen, kann aber auch eine Strategie sein, um ein anderes Ziel zu verfolgen: Indem »[…] Dichtung mit Dichtung sich auseinandersetzt, appelliert sie zugleich an das Ereignis- und Prozeßhafte als eine Seinsweise von Kunst schlechthin.«86 Und »[…] was früher Mittel der Darstellung war […] [wird] jetzt selbst dargestellt […] oder [bleibt] doch um seiner selbst willen stehen […]. Eben dadurch kommt zweifellos eine Steigerung des Gebildecharakters des Werkes zustande […].«87 Die Kunst wird Thema ihrer selbst, und sie bespiegelt sich in sich selbst. Der zur Tel Quel-Gruppe zählende Lucien Dällenbach teilt solche autothematischen Reflexionen in drei Typen: réflexions de l’énoncé, réflexions de l’énonciation und die Reflexionen des artistischen Codes.88 McManus’ eskapistischer Strip thematisiert den Code der Comics, die Zeichen, die zur Verfügung stehen, und die Art, in der sie verwendet werden. Bei Alan Moore steht der Code im Hintergrund, es sind die überkommenen Inhalte, die thematisch werden. Liest man Will Eisners To the Heart of the Storm als 86
87
88
Manfred Schmeling, »Autothematische Dichtung als Konfrontation. Zur Systematik literarischer Selbstdarstellung«, in: LiLi, 8. Jg., H. 32 (1978), S. 77–97, hier S. 79. Arnold Gehlen, Zeit-Bilder. Zur Soziologie und Ästhetik der modernen Malerei, Frankfurt am Main, Bonn 1960, S. 189, zit. nach Schmeling, »Autothematische Dichtung«, S. 77; Herv. i. Orig. Vgl. Schmeling, »Autothematische Dichtung«, S. 79.
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autoreflexiven Comic, drängt sich die Reflexion der Rahmenerzählung als Technik der énonciation auf. Der Einsatz einer Rahmenhandlung kann aber auch dazu dienen, den Inhalt der Erzählung zu spiegeln, wie in der Adaptation von Paul Austers City of Glass. Ein weiterer Aspekt zeigt sich in Art Spiegelmans Maus. Die Einfügung des Comics in den Comic verändert schlagartig die Position des Lesers. Er ist nicht mehr länger der Betrachter einer ihm präsentierten Handlung, sondern wird zum Betrachter einer Lesehandlung, die er im gleichen Augenblick vollzieht. Durch Arts Augen liest er den ihm präsentierten Comic, dabei muss aber mitgedacht werden, dass Art das Heft zeitgleich auch liest. Der Leser beobachtet Art also durch dessen eigene Augen, was eine paradoxe Potenzierung zur Folge hat, die die Distanz zu Art verringert und im gleichen Moment vergrößert. Durch die Augen Arts lesen wir eine Geschichte, deren Erzähler Art ist – die Binnenhandlung wird zu einer Reise in das Ich Arts und lanciert gleichzeitig die Reflexion über das Comic-Lesen an sich.89 Manfred Schmeling differenziert zwei Gruppen autothematischer Dichtung: solche, die sich durch banale fiktionale Verdoppelungsstrategien gegenüber bestehenden Strukturen affirmativ verhalten, und solche, die auf Konfrontation mit ihren Vorgängern gehen und diese dekonstruieren: »Im Kunstwerk spiegelt sich der Prozeß seiner eigenen Hervorbringung. Es besitzt eine Ablösefunktion in Bezug auf solche Formen, die sich im Laufe literaturgeschichtlicher Entwicklung überlebt, automatisiert haben.«90 Zu bewussten Konfrontationshandlungen seitens der Autoren kommt es immer dann, wenn, wie Holländer bezüglich Bildkunstwerken konstatiert, »[…] bestimmte Bildformeln kanonisch werden«, denn »dann wird die Zeit angehalten und Kunst wird in engem Kreis nur sich selbst reproduzieren.«91 Das heißt, wenn Konventionen – unabdingbar für kommunikative Handlungen – erstarren. Automatisierte Selbstproduktion löst, so Schmeling, einen Entwicklungsprozess aus, der sich in der Beschäftigung der Dichtung mit sich selbst verwirklicht.92 In diesem Sinne sind Watchmen, Maus und City of Glass ambitionierte, auf mediale Erneuerung bedachte Werke.93 89
90 91 92 93
Die Potenzierung dürfte ihre höchste Stufe erreichen, wenn der empirische Autor Art Spiegelman den Comic liest. Ebd., S. 81; vgl. auch S. 80, S. 89. Holländer, »Rahmen, Bild und Vision«, S. 74. Vgl. Schmeling, »Autothematische Dichtung«, S. 84. Zu Watchmen vgl. Iain Thomson, »Deconstructing the Hero«, in: Jeff McLaughlin (Hrsg.), Comics as Philosophy, Jackson, MS 2005, S. 100–129, bzgl. Maus: Dunker, »Time Flies«, zu City of Glass: Platthaus, Im Comic vereint, Kap. »Hinter den Linien. David Mazzucchellis ›Stadt aus Glas‹«.
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Der Comic als ›neunte Kunst‹ und die Literatur
In autothematischen Texten wird explizit, was den meisten literaturwissenschaftlichen Methoden als gesicherte Erkenntnis gilt: daß jeder Text eingebettet ist in eine seine Eigenstruktur transzendierende Dialektik von System und Prozeß und letztlich nur verstehbar wird in seiner Bezogenheit auf den »historischen Wandel«.94
Autothematische Verfahren markieren den Wandel insbesondere für die ›Moderne des Comics‹, denn »das […] oft geradezu obsessive Interesse an der Frage, wie Literatur entsteht (nebst aller […] Implikationen) kann […] als ein konstitutiver Zug insbesondere der modernen Literatur gelten«.95 Für die Moderne der Comic-Literatur, die mit den ›Underground Comix‹ Mitte der 1960er Jahre einsetzt, gilt dies in besonderem Maße, denn kaum eine andere Ausdrucksform war vom Marktgeschehen so repressiv darauf ausgerichtet worden, sich selbst zu reproduzieren, wie die Comics.
94 95
Schmeling, »Autothematische Dichtung«, S. 86. Monika Schmitz-Emans, »Operation Münchhausen oder: Wie entsteht Literatur?«, in: Rüdiger Zymner (Hrsg.), Allgemeine Literaturwissenschaft – Grundfragen einer besonderen Disziplin, 2. Aufl. Berlin 2001, S. 11–22, hier S. 11.
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Teil II Der Comic im Spiegel anderer Darstellungsmedien und Künste
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Der Comic im Spiegel anderer Darstellungsmedien und Künste
Strategien der Autoreflexion X: Im Spiegel anderer Künste
1.
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Strategien der Autoreflexion X: Im Spiegel anderer Künste
Der Anspruch des Comics auf Anerkennung seines Kunst-Charakters (auf seinen Rang als ›neunte Kunst‹) kommt nicht zuletzt darin zum Ausdruck, dass sich die Comic-Erzählung auf die anderen Künste bezieht, sie thematisiert, reflektiert und ihre eigene Verwandtschaft mit ihnen hervorhebt. Am Beispiel des Comics lässt sich wegen seiner noch eher kurzen Geschichte im Überblick und gleichsam idealtypisch zeigen, dass sich die einzelnen Künste gegenseitig ›erfinden‹ und eine jede ihr (wandlungsfähiges) Profil durch Analogisierung mit anderen Künsten oder durch Abgrenzung gegen diese erhält.
1.1
Bildende Kunst
Theoretische Darstellungen zum Comic und Metacomics heben gern die Einbettung dieser Kunstform in die Geschichte der bildenden Kunst hervor. Als Vorläufer des künstlerisch ambitionierten Comics gelten Frans Masereel (1889–1972), insbesondere mit seinem Stundenbuch (1926), sowie Lynd Ward (1905–1985) mit God’s man (1929). Aber gern wird auch weiter ausgegriffen: auf Hogarth, auf erzählende Bildfolgen in der Sakralkunst, auf Buchmalereien, auf antike Vasenmalereien etc. McCloud lässt Vertreter der modernen Avantgarden, aber eben auch Hogarth, als ästhetische Vorfahren in seinen Metacomics auftreten. Auf ein prominentes Beispiel der Metamalerei nimmt Scott programmatisch Bezug, wenn in Kapitel 2 von Understanding Comics das berühmte ›Pfeifenbild‹ René Magrittes, La trahison des images (»Ceci n’est pas une pipe«), zum Ausgangspunkt genommen wird, um Text-Bild-Bezüge zu erklären.1 In Literatur-Comics werden vielfach Bezüge zur bildenden Kunst und zu wichtigen ihrer Vertreter, aber auch zu fiktiven Bildern und Malern hergestellt. Bilder im Bild sind auf evidente Weise autoreflexiv. Stéphane Heuets Proust-Comic widmet den Darstellungen der im Roman genannten bildkünstlerischen Werke sowie der Schilderung des Ateliers des Malers Elstir erhebliche Aufmerksamkeit (siehe Kapitel II.3). Eine Vielzahl medial verschiedener Bilder findet sich dargestellt: Gemälde, Skulpturen, Druck1
McCloud, Understanding Comics, S. 24 f.
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Der Comic im Spiegel anderer Darstellungsmedien und Künste
graphiken, Kirchenfenster etc. Bill Sienkiewiczs Moby Dick-Comic knüpft an die Schilderung eines Gemäldes durch Herman Melville an (siehe Kapitel III.3).
1.2
Erzählen
Es liegt nahe, die Bildgeschichte als Spielform der Erzählung mit anderen Formen des Erzählens zu vergleichen. Für Will Eisner ist der Comic-Künstler vor allem Erzähler; er stellt die Kunst des Comics als Weiterentwicklung jener Erzählpraxis dar, die bereits in prähistorischer Zeit von Höhlenbewohnern kultiviert wurde: eines Erzählens, bei dem sich sprachliche und visuelle Komponenten verbinden. Auch für Scott McCloud ist das Thema Erzählen zentral, wenn es darum geht, den Comic als Medium und Kunstform zu erläutern. Entsprechende Aufmerksamkeit verdienen – als Beiträge zur Selbstreflexion des Comics – Darstellungen von Erzählsituationen im Medium des Comics. In Literatur-Comics sind verschiedene Strategien der Darstellung des ›Erzählens‹ selbst anzutreffen. So können Erzählerfiguren auftreten, aber auch die Verschachtelung differenter Geschichten ineinander, also Kompositionen von Geschichten in der Geschichte, sind Selbstverweise des Erzählens.
1.3
Theaterspielen, Inszenieren, Varieté
William Hogarth, der vielfach als Vorläufer des Comics genannt wird, vergleicht seine Bildgeschichten mit dramatischen Inszenierungen. Mein Ziel war, meinen Stoff zu bearbeiten wie ein Dramatiker. Mein Bild ist meine Bühne und Männer und Frauen sind meine Schauspieler, die durch gewisse Gesten und Stellungen ein stummes Spiel vorführen.2
Comic-Zeichner präsentieren sich selbst manchmal als Regisseure, die ihre Figuren auf dem Papier zum Leben erwecken, ihnen eine Bühne zum Agieren bereitstellen und sie ihre Parts spielen lassen. Tezuka leitet den Comic insofern aus einer bereits bestehenden Kunstform ab, als er ihn in eine Spie2
William Hogarth, »Ansichten über das Kunststudium, über zeitgenössische Künstler und Kunstinstitute«, in: William Hogarths Aufzeichnungen. Seine Abhandlung Analyse der Schönheit ergänzt durch Briefe und autobiographische Erinnerungen. Übertr. und hrsg. von M. Leitner, Berlin 1914, S. 1–57, hier S. 12 f.
Strategien der Autoreflexion X: Im Spiegel anderer Künste
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gelungsbeziehung zur Bühnenkunst setzt. Seine zunächst als FortsetzungsManga in einem japanischen Magazin erschienene Serie Nanairo Inko (Der regenbogenfarbige Papagei) verdient in diesem Zusammenhang besonderes Interesse. Sie thematisiert in einer Vielzahl von (letztlich allein über diese Thematik miteinander verknüpften) Episoden das Theaterspielen (siehe dazu Kapitel II.2). Die meisten Episoden spielen auf Bühnen oder in deren Umfeld. In die Episoden eingebettet finden sich Nacherzählungen der Plots einer Fülle dramatischer Texte aus der westlichen wie aus der östlichen Welt; oft gehören Inszenierungen maßgeblich mit zur Handlung, so dass der Comic-Leser eine gezeichnete dramatische Aufführung geboten bekommt. Chronologisch spannt sich der Bogen der solcherart umgesetzten Stücke von der Antike bis in die Gegenwart. Die Protagonistenfigur ist ein Dieb, der als perfekter Verstellungskünstler zwar nicht hauptberuflich als Schauspieler arbeitet, aber immer wieder als Ersatzdarsteller für andere einspringt und sich auch in Abenteuern, die nicht auf dem Theater spielen, seiner Kenntnisse der dramatischen Weltliteratur gern bedient. Er spielt als regenbogenfarbener Papagei potentiell alle Rollen, schlüpft in alle Kostüme, trägt, metaphorisch gesagt, alle Farben, und seine Repertoirekenntnisse umspannen wie ein Regenbogen verschiedene Territorien. Als Papagei spricht er die Worte anderer nach – die Rollentexte dramatischer Figuren. In der Gestalt des Papageis, der nachspricht, was andere gesagt haben, bespiegelt sich nicht zuletzt die Kunst des Zeichners selbst, der die Geschichten anderer reinszeniert. Die Analogie zwischen der Kunst des Comic-Zeichners und der des Theatermachers wird nicht nur durch Selbstinszenierungen des Zeichners unterstrichen, sondern auch durch sein spezifisches Verfahren mit eigenen Figuren, die er behandelt wie die Mitglieder einer Schauspielertruppe: Er lässt sie in ihren jeweils eigenen Stücken agieren, aber auch in Gastrollen auftreten. Die Affinität Tezukas zum Theater, wie sie sich in seiner NanairoInko-Serie, aber etwa auch in der dreimaligen Nacherzählung des FaustDramas bezeigt, ist – unabhängig von inhaltlich-thematischen Interessen an den jeweiligen Dramenstoffen – durch das Interesse an der eigenen Kunst motiviert. Auch in den Metacomics von Scott McCloud erfolgen Hinweise auf den ›inszenatorischen‹ Charakter von Comic-Darstellungen. Das Papier erscheint als Bühne, auf der gezeichnete Figuren agieren. Insofern lassen sich Darstellungen von Theater im Comic als autoreferentielle Darstellungen interpretieren. Immer wieder tritt der gezeichnete Zeichner als Protagonist auf – und er porträtiert sich selbst vor allem als eine Art VarietéZauberer, ausgestattet mit den klassischen Attributen: Hut, Zauberstab, Kaninchen. Diese Rahmenfiktion passt zu seiner Auslegung des Comics
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Der Comic im Spiegel anderer Darstellungsmedien und Künste
Abb. 19: Scott McCloud lässt sein intradiegetisches Double auf einer Bühne auftreten und erinnert damit an die Beziehung zwischen Comic und Varieté (Understanding Comics, S. 7, Ausschnitt).
als einer illusionistischen Kunst, welche den Leser in den fiktionalen Raum der erzählten Geschichten hineinzieht, ihn an den Figuren Anteil nehmen lässt, ihn den dort herrschenden Gesetzen von Raum und Zeit unterwirft. Der Zeichner muss sich wie der Varieté-Künstler auf entsprechende Tricks verstehen, um die intendierten Effekte zu erzeugen. Diese Tricks aber lassen sich zumindest prinzipiell erklären, lehren bzw. lernen. Die Frage einer besonderen Begabung zum Zeichnen tritt bei McCloud zurück. Betont wird das – freilich raffinierte und auf Training beruhende – Spiel mit Formen der Illudierung. In der Analogisierung von Comic und Varieté-Darbietung liegt, zumindest bei McCloud, zudem auch eine Anspielung auf jene Phase in der Geschichte des Comics, als dieser selbst von seinen eigenen Vertretern noch zu den Unterhaltungsformen und nicht zur Kunst gerechnet wurde; McCloud erinnert in einer gezeichneten Episode an dieses Selbstverständnis der alten Comic-Zeichner als Nachfahren der VarietéArtisten. In Neil Gaimans Sandman-Comics nehmen ästhetische Reflexionen einen breiten Raum ein, und wenn dabei vor allem die Kunst des Dramatikers im Mittelpunkt steht, so darf dies als implizite Selbstaussage gewertet werden. Gaimans Figuren tragen Namen von psychischen Zuständen und von die Psyche affizierenden Dimensionen der Realität, und sie treten als deren allegorische Repräsentanten auf: Destiny, Death, Desire, Despair, Delirium, Destruction, Dream. Ein leitendes Thema der Sandman-Serie ist das Erzählen
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von Geschichten.3 Dream erklärt in Sandman Nummer 19 (1990) die spezifische Wahrheitsdimension von Imaginationen, Träumen und Fiktionen; der Gedanke ist nicht originell, aber dass er zum Leitthema einer Comic-BuchSequenz wird, erscheint bemerkenswert: »Things need not have happened to be true. Tales and dreams are the shadow-truths that will endure when mere facts are dust and ashes, and forgot«.4 Neben Mythen, Legenden und Figuren des Volksglaubens ist Shakespeare eine zentrale Bezugsgröße, auf welche in den Bänden immer wieder rekurriert wird. Der Dichter selbst taucht unter leicht verfremdetem Namen (Shaxberd) im 13. Band des Sandman auf und schließt dort mit der Figur Dream ein Abkommen: Dream verleiht dem Dramatiker besondere Fähigkeiten, und dieser soll für Dream als Gegenleistung dafür zwei Stücke schreiben.5 Diese entstehen dann auch; es handelt sich mit A Midsummer Night’s Dream und The Tempest um zwei Werke Shakespeares, die selbst die (weltkonstitutive und schicksalsträchtige) Macht des Traums und der Imagination in den Mittelpunkt stellen. In Nummer 19 der Sandman-Reihe wird der Mittsommernachtstraum in Szene gesetzt; mit der letzten Sandman-Nummer (1996) geht es um die Schöpfung von The Tempest. Im 19., dem Mittsommernachtstraum gewidmeten Heft wird die Bedeutung der dramatischen Kunst zum Kernthema: Diese erscheint als die Instanz, welche der für die Welt zunächst unsichtbaren Existenz imaginärer Wesen eine sichtbare Erscheinung verleiht und durch ihre eigene Tradierbarkeit die Erinnerung an diese Dimension der Welt ermöglicht und befestigt. Nochmals: Die Poetik Gaimans ist konventionell; neu ist die Art, wie er sie auf dem Papier in Szene setzt: als in eine Comic-Erzählung gekleidete Apologie des im Grenzbereich zwischen Wachen und Traum oder ganz in der Traumsphäre spielenden Dramas, das als Gleichnis der Inszenierung auf dem Papier gelten darf. Shakespeare soll – so wird erzählt – mit seiner Truppe vor King Auberon und Queen Titania seinen Midsummer Night’s
3 4
5
Vgl. dazu Versaci, Graphic Language, S. 202. Hier zitiert nach der Ausgabe: Neil Gaiman, »A Midsummer Night’s Dream«, illustriert von Charles Vess, in: Dream Country, The Sandman, Bd. 3, New York o. J., S. 62–86, hier S. 83 (die Seitenzählung folgt der Paginierung des Bandes, nicht der der Einzelhefte). Hier zit. nach: Neil Gaiman, »Men of Good Fortune«, in: The Doll House, The Sandman, Bd. 2, New York 1995, S. 115–138, hier S. 127 – »Gaiman’s achievement in these issues is really quite radical: he uses the themes of a timeless play for his comic book character, and, what is more, he recasts these themes so that they partially emanate from this character. In effect, Gaiman appropriates the most sacrosanct figure in English literature to serve the needs of his comic book.« (Versaci, Graphic Language, S. 203).
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Der Comic im Spiegel anderer Darstellungsmedien und Künste
Abb. 20: Neil Gaiman stellt in seinen Shakespeare-Adaptationen auch Bühnenaufführungen dar (»A Midsummer Night’s Dream«, S. 69).
Dream aufführen. Dream schuldet den beiden etwas und trägt diese Schuld durch die Anregung der Inszenierung ab. Auch in anderen Bänden verflechten sich Personal und Handlung der Sandman-Geschichten mit denen der Shakespeare-Dramen.
1.4
Film und Zauberlaterne. Technische Medien der Bilderzeugung
Nicht nur als Bildsequenzen sind Comic und Film einander verwandt, sondern sie entstehen historisch auch zur selben Zeit und sind mit ähnlichen sozialhistorischen und mediengeschichtlichen Kontexten konnotiert: mit der Welt der Massenmedien und der Massenunterhaltung, mit Helden- und Abenteuergeschichten. Scott McCloud unterstreicht darum auch die Analogien zwischen Comic und Film. Autoreferentiell sind also auch Anknüpfungen von Comic-Erzählungen an den Film, wie sie durch Figuren, Szenerien, aber auch durch die PanelGestaltung und die Strukturierung der Bildgeschichten hergestellt werden können. Die gezeichnete Adaptation von Franz Kafkas Amerika-Romanfragment (Der Verschollene) durch Casanave und Cara bietet ein Beispiel für die Kombination dieser Mittel: Die Figuren wirken wie Slapstick-Charaktere, die Interieurs erinnern an die Kulissen mancher Stummfilme – und die Panels, mit denen die einzelnen Kapitel eröffnet werden, an das runde ›Auge‹
Strategien der Autoreflexion X: Im Spiegel anderer Künste
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(die Irisblende) der Filmkamera. Mit diesem Einfall verbindet sich zugleich eine Auslegung des paraphrasierten Romans selbst, der verschiedentlich mit alten Kinofilmen verglichen worden ist. Gern betonen Comic-Zeichner die Verwandtschaft ihrer bilderzeugenden Kunst mit technischen Medien der Erzeugung von Bildern und Bildsequenzen. Stéphane Heuet nimmt in seinem Proust-Comic die Episode um die Laterna Magica zum Anlass einer Hommage an dieses altertümliche Gerät. Es erscheint als ein Medium des Erzählens von Geschichten in Bildern, das in dieser Eigenschaft durchaus zu den Vorläufern des Comics gehört.
1.5
Schriftzeichen als ästhetische Medien
Insofern Comics (normalerweise) aus Text- und Bildelementen bestehen, ist die jeweilige Weise, in der beide miteinander kombiniert werden, für das einzelne Werk besonders signifikant. Die Sprechblase verdient hier besondere Aufmerksamkeit.6 Auch Rahmungen der Bilderzählungen durch geschriebene paratextuelle Anteile sind bedeutungskonstitutiv, und sie können als Anlässe der (Selbst-)Darstellung von Schrift in den Dienst ästhetischer Autoreflexion treten. Dies zeigen etwa die Bände der Reihe poèmes de … en bandes dessinées. Auf dem vorderen Buchumschlag findet sich jeweils ein gezeichnetes Porträt des Dichters. Hinter diesem ragt meist ausschnitthaft eine reproduzierte Seite des Comic-Bändchens selbst hervor, die vom Faksimile eines handschriftlichen Textes überlagert ist.7 Die mit handschriftlichen Texten verbundene Suggestion des Authentischen und Verbürgten wird dabei implizit zitiert – nicht zu parodistischen 6
7
Auf die jeweils spezifischen Implikationen der Form, in der Sprache im (Comic-) Bild visualisiert wird, hat u. a. W. J. T. Mitchell hingewiesen: Die normalerweise als besonders comictypisch betrachtete Sprech- oder Denkblase suggeriert, die dargestellte Rede komme aus dem Inneren der Person; Mitchell spricht von einem postcartesianischen Cartoon (Bildtheorie, S. 149) und spielt damit natürlich auf die Grunddistinktion zwischen res cogitans und res extensa an. Demgegenüber findet sich in mittelalterlichen Bildern oft die visualisierte Rede auf Schriftrollen angebracht – als etwas, das nicht aus dem Mund, sondern aus der gestikulierenden Hand kommt (ebd.) – und Mitchell kommentiert dies so: »[…] statt als geisterhafte, aus einem unsichtbaren Inneren kommende Emanation verbildlicht zu werden, scheint die Sprache – als Handschrift, die aus einem Gestus der Hand austritt – im selben bildlich-schriftlichen Raum zu koexistieren« (ebd.). – Zur Sprechblase vgl. auch Wiesing, »Die Sprechblase«. Dies gilt nicht für die neuen Auflagen.
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Der Comic im Spiegel anderer Darstellungsmedien und Künste
Abb. 21: Das Cover des Baudelaire-Bandes der Reihe poèmes de … en bandes dessinées.
Zwecken, sondern als Bestandteil eines Gesamtarrangements, das auf dem Gedanken beruht, in den Gedichten indirekte Lebensspuren der Dichter zu sehen. Bekräftigt wird die Bedeutung der Handschrift als des Inbegriffs einer solchen Spur durch die jeweils ersten und letzten Doppelseiten (Vorsatz und Nachsatz) im Buch, die man aufschlägt, nachdem man es gerade geöffnet hat und bevor man es schließt: Doppelseitig ist hier wiederum das Faksimile eines handschriftlichen Textes des jeweiligen Dichters zu sehen. Eben dieser faksimilierte handschriftliche Text ist dann drittens auch den Angaben des inneren Titelblattes unterlegt.8 Der wiederholte Anblick scheinbar mit der Hand beschriebener Seiten lässt ein Notiz- oder Tagebuch oder einen Brief assoziieren, in jedem Fall Persönliches und Privates; er verheißt eine nur durch die Handschrift selbst als Spur körperlicher Bewegung vermittelte Kommunikation zwischen Dichtern und Lesern, die freilich als Arrangement durchaus evident ist. (Sofern der Titelseite ein Inhaltsverzeichnis folgt, ist auch dieser das entsprechende Faksimile unterlegt, allerdings haben nicht alle Bände ein Inhaltsverzeichnis.) Betont schon das paratextuelle Arrangement das Medium der (Hand-)Schrift, so geht es in einzelnen Geschichten auch auf inhaltlicher Ebene um Geschriebenes. Eine solche Geschichte wird anlässlich eines Baudelaire-Gedichts erzählt: »L’invitation au voyage«. 8
Ich beziehe mich auf die Bände zu Rimbaud, Baudelaire, Verlaine. In anderen (etwa in dem über Maupassant) sehen wir stattdessen die gezeichnete Figur des Dichters selbst. In den Bänden zu La Fontaine und Jules Verne stehen die Angaben des Titels allein.
Strategien der Autoreflexion X: Im Spiegel anderer Künste
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Abb. 22: Die Doppelseite zu dem Gedicht »L’invitation au voyage« von Baudelaire (poèmes de Baudelaire en bandes dessinées, S. 4 f.) Die gezeichnete Baudelaire-Interpretation zu »L’invitation au voyage« handelt von imaginären Reisen, die ein lyrisches Ich mit einem Du unternimmt, Reisen an exotische und verlockende Orte, die in ihrer Schönheit nicht von dieser Welt sind und zu denen das Ich und sein (vielleicht gleichfalls imaginäres) Du eine innere Beziehung unterhalten. François Duprat (Zeichnungen) und Ceka (Szenario) erzählen zu dieser Sequenz von Reiseträumen eine Geschichte: Ein Clochardpärchen findet auf einer Müllkippe den Prospekt eines Reisebüros. Beim Blättern stoßen die beiden auf mit Titeln versehene Bilder attraktiver Reiseziele: Mit »Escapade à Deauville« betitelt ist die Darstellung einer Küstenlandschaft mit vertrautem Paar; »Mille et une nuit à Bagdad« steht über dem Bild eines luxuriösen orientalischen Interieurs, »Un week-end à Venise« über dem Bild einer Gondelfahrt. Auf allen Katalogabbildungen ist ein Paar zu sehen, und die beiden Clochards träumen sich in die Rollen dieser Reisenden hinein. Über den Prospekt gebeugt, entdecken sie schließlich einen Gutschein für eine Reise, offenbar ein weggeworfenes Werbeangebot des Reisebüros (»Bon pour un voyage autour du monde tout compris. offert par: Top Vacances«). Auf dem letzten Bild brechen beide auf – mutmaßlich, um den Gutschein einzulösen. – Der Text des Baudelaire’schen Gedichts ist in die Sequenz der Bilder komplett integriert; zeilenweise findet er seinen Platz in klar abgegrenzten rechteckigen und weiß unterlegten Textfeldern, die durch Farbe und Form an beschriebenes Papier erinnern. Den beiden Clochards werden keine Sprech- oder Denkblasen zugeordnet. Allerdings suggerieren Gesten eine intensive Kommunikation, die
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Der Comic im Spiegel anderer Darstellungsmedien und Künste
aber – wenn sie denn auch in Worten stattfindet – durch Gebärden ersetzt ist; so deutet die männliche Figur, analog zu ihrer Sprecherrolle im Gedicht, wiederholt auf Dinge hin, die sein Gegenüber offenbar sehen soll. Dieses Sehen-Lassen geschieht jeweils im Ausgang von und unter Bezugnahme auf Schrift. Erstens zeigt der Mann der Frau die Seiten des Prospekts, auf denen ja die Schriftelemente den Ort nennen, an den sich die beiden dann in ihren Imaginationen versetzen – wobei die Bilder den Projektionsraum bereitstellen. Und zweitens tritt er für sie selbst als Schreibender, ja sogar als Schrift-Träger in Erscheinung: In falscher Orthographie macht er ihr dreimal ein schriftliches Liebesgeständnis. Ein erstes Mal schreibt er am imaginären Strand von Deauville die Worte »Je tème« (für »Je t’aime«) in den Sand;9 ein zweites Mal, im orientalischen Salon, hat er sich diesen Satz auf die Haut seiner Brust geschrieben;10 ein drittes Mal taucht der Schriftzug, diesmal gleich mehrfach, auf den Segeln eines Schiffs in der Lagune des imaginären Venedig auf.11 Ein Sehen-Lassen signalisiert schließlich auch die Geste, mit der er seiner Partnerin den gelben Reisegutschein zeigt. – Schrift werden verschiedene Funktionen zugewiesen: (a) Sie stellt – als zitierter Gedichttext Baudelaires – die Sequenz von Reiseträumen dar, in welche sich das lyrische Ich respektive die gezeichneten Figuren aus ihrer tristen und erbärmlichen Alltagswelt flüchten. (b) Sie steht für die liebende Kommunikation der an imaginäre Schauplätze versetzten Figuren, die auf gesprochene Worte verzichten zu können scheinen, dafür aber die Erde und den eigenen Körper als Schriftträger verwenden: Überall kann geschrieben werden. (c) Und sie steht – als Reisegutschein – für die Verheißung der Möglichkeit einer Reise ins Utopische. In allen Rollen – dies sei nochmals betont – stehen die geschriebenen Elemente der Panel-Komposition nicht etwa als Repräsentanten gesprochener Sprache; diese Repräsentationsfunktion übernehmen allein die Gesten der Figuren. Was an Sprachlichem in die Bilderzählung integriert ist, ist eindeutig SchriftSprachliches. Dadurch wird nicht zuletzt die Schriftlichkeit des BaudelaireGedichtes selbst betont und die Schrift als genuines Medium poetischer Kommunikation reflektiert. Imaginationen gehen aus Schrift hervor: Dies gilt für den Zeichner, der seine Bildgeschichte im Ausgang von einem Text komponiert, es gilt für seine Figuren, die einen Reiseprospekt lesen, und es gilt für Leser des Baudelaire-Gedichts. Auf die Bedeutung der Schrift als der sichtbaren Manifestationsform des Sprachlichen verweisen nicht zuletzt die Finger des Mannes, die auf Geschriebenes zeigen, wie um seine Sichtbarkeit gestisch und rahmend zu unterstreichen. – Spannungsvoller, als es auf den ersten Blick scheinen mag, stellt sich die Beziehung zwischen den Textanteilen und den Bildanteilen der Comic-Erzählung dar. Zum einen bewirken die innerhalb der erzählten Clochardgeschichte erfolgenden Blicke auf die Prospektseiten einen plötzlichen Szenenwechsel: Es scheint, als habe die Lektüre auf magische Weise die Welt transformiert; die Figuren finden sich an schönen, hellen, freundlichen Orten.
9
10 11
François Duprat/Ceka, »L’invitation au voyage«, in: Poème de Baudelaire en bandes dessinées, Darnétal 2001, S. 2–7, hier S. 4. Ebd., S. 5. Ebd., S. 6.
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Die Bilder scheinen insofern zu bekräftigen, was der gelesene Text verspricht (sowohl der Gedichttext Baudelaires über die imaginäre Reise als auch der Prospekttext mit seinen lakonischen Titeln). Zum anderen weckt das letzte Bild – die Darstellung des Aufbruchs der beiden geisterhaft hellen Gestalten ins Offene, vor dramatisch beleuchtetem, aber keineswegs strahlendem Himmel – Skepsis hinsichtlich der Einlösbarkeit des Gutscheins. Eine unaufgelöste Diskrepanz besteht zwischen dem insgesamt düster wirkenden Bild (das an Totentanz-Motive erinnert und die beiden Figuren auf einem abwärts führenden Weg zeigt) und den letzten Versen des Gedichts, die dem Bild beigefügt sind: »La, tout n’est qu’ordre et beauté/luxe, calme et volupté.«
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2.
Der Comic im Spiegel anderer Darstellungsmedien und Künste
Zur Selbstverortung des Comics im Kontext der Künste I: Der Zeichner als Dramaturg und Regisseur. Osamu Tezuka, Nanairo Inko und das Theater
Mit seinem nach dem Zweiten Weltkrieg einsetzenden graphischen Œuvre revolutioniert der ausgebildete Mediziner Osamu Tezuka die Sprache des japanischen Comics, vor allem, indem er sich an erzählerischen Verfahren der Nachbarkünste Literatur und Film orientiert. Die Auseinandersetzung mit Literatur hat im Œuvre Tezukas besondere Bedeutung: Sein erstes ( ! ) Werk, Shintakarajama, Die neue Schatzinsel, ist eine Bildgeschichte, in der Tezuka Elemente aus verschiedenen literarischen Vorlagen kombiniert: aus der Schatzinsel, aus Tarzan und aus Robinson Crusoe.1 Zwischen 1946 und dem Todesjahr 1989 entsteht ein umfangreiches, thematisch wie graphisch abwechslungsreiches zeichnerisches Werk, darunter diverse Bildgeschichten, die von literarischen Texten inspiriert sind. Adaptiert werden so berühmte Werke der Weltliteratur wie Verbrechen und Strafe, Manon Lescaut (1947), Faust (1950), Pinocchio (1952), Cyrano (1953). Das Werkverzeichnis Tezukas belegt insgesamt dessen über die Jahrzehnte hin kontinuierliches Interesse an der Umsetzung respektive der Transformation weltliterarischer Stoffe. Bei seinem Tod ließ der Zeichner einen unvollendeten Neo-Faust (1988–89) zurück. Neben gedruckten Comics, die vielfach als Fortsetzungsserien in Zeitschriften erscheinen, bevor sie später zu Bänden in Taschenbuchformat zusammengefasst werden, realisiert Tezuka auch diverse Zeichentrickfilme, denen ebenfalls von Seiten der Kritik neue und schulbildende Qualitäten zugeschrieben werden. Tezuka hat sich von verschiedensten Quellen anregen lassen – zeichnerisch unter anderem von der Bildsprache des Disney-Imperiums, inhaltlich von Werken und Figuren der japanischen, europäischen und amerikanischen Literatur, von Gestalten der östlichen wie der westlichen Märchen-, Mythen- und Legendenwelten, von Science-Fiction-Stoffen und Abenteuererzählungen sowie von den Geschichten historischer Gestalten (mit denen er aber gern sehr frei verfährt). Diverse Werke Tezukas sind – teilweise in größerem Umfang – in verschiedene andere Sprachen übersetzt worden; man findet aber auch die 1
Dazu Platthaus, 101 Fragen, S. 91.
Zur Selbstverortung des Comics im Kontext der Künste I
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japanischen Originale zunehmend häufiger in europäischen Buchhandlungen.2
2.1
Ein gezeichneter Papagei auf dem Theater: Reinszenierungen und Paraphrasen dramatischer Weltliteratur
Tezukas Manga-Serie Nanairo Inko3 präsentiert einen weltliterarischen Kanon. Nanairo Inko erschien ursprünglich in der Wochenschrift Weekly Shonen Champion. In den Jahren 1981 und 1982 entstanden hierfür 46 Episoden, die später zu einer fünfbändigen Integralausgabe zusammengefasst wurden. Ins Französische übersetzt liegt diese unter dem Titel L’Ara aux sept couleurs (Der siebenfarbige Papagei) vor; angespielt ist auf die Farben des Regenbogens.4 Die einzelnen Folgen sind untereinander durch die Protagonistenfigur verknüpft: einen jungen Mann, der nur unter einem Künstlernamen auftritt und unter diesem bekannt ist. Er nennt sich ›siebenfarbiger Papagei‹ oder ›Ara‹ (da in der französischen Übersetzung stets vom Ara die Rede ist, sei Tezukas Figur im Folgenden so genannt). Untereinander verbunden sind die vielen Ara-Episoden aber auch durch ihre jeweilige Beziehung zur Welt des Theaters: Sie tragen fast alle Titel, die auf bekannte dramatische Werke verweisen. Inhaltlich geht es in den erzählten Geschichten immer wieder um Schauspielerei, Theater und dramatische Inszenierungen; vor allem ist es dabei der Ara selbst, der sich auf immer neue Weisen in Szene setzt – und zwar im wörtlichen wie im übertragenen Sinn. Die Rahmenkonstruktion, von der die Episoden ihren Ausgang nehmen, die teilweise explizit narrativ dargestellt, teilweise (vor allem in den späteren Episoden) aber auch als bekannt vorausgesetzt wird, ist folgende: Der Ara ist ein hochbegabter Schauspieler, der sich den Rollen, die er übernimmt, so perfekt anzupassen vermag, dass er völlig in der dargestellten Figur aufgeht. Dies gilt sowohl für Rollen innerhalb von ›echten‹ Theaterstücken als auch für die Rollen des Alltagslebens. Tezukas Held verkörpert nämlich nicht al-
2
3
4
Die folgenden Ausführungen stützen sich auf eine französische Übersetzung. In deutscher Sprache erschien rezent (vermutlich als Vorläufer weiterer deutscher Tezuka-Mangas) die Geschichte Adolf (5 Bde., Hamburg 2005 f.) aus den Jahren 1983–1985. Osamu Tezuka, L’Ara aux sept couleurs/Nanairo Inko. Le meilleur d’Osamu Tezuka, übers. von Clélia Delaplace, 5 Bde., Paris 2004. Der englische Titel der Serie ist The Rainbow Parakeet; vgl. Rodolphe Massé, »Postface«, in: Tezuka, Nanairo Inko, Bd. 5, unpag. [S. 304 f.].
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Der Comic im Spiegel anderer Darstellungsmedien und Künste
lein dramatische Charaktere durch Investition seiner ganzen Person in diese Charaktere mit großer Überzeugungskraft, nämlich so, als seien die gespielten Figuren leibhaft gegenwärtig. Sondern es gelingt ihm auch immer wieder, andere aufs Täuschendste zu doubeln. Über Identität, wahren Namen, tatsächliches Aussehen und Vorgeschichte des Aras selbst erhält man keine Auskunft: Er tritt, sofern er nicht in ein anderweitiges rollenbedingtes Kostüm schlüpft, nur mit Brille und (mutmaßlicher) Perücke auf. Andeutungsweise wird gelegentlich suggeriert, dass er sich aus Trotz gegenüber familiären (väterlichen) Zwängen der Schauspielerei ergeben und damit die Zuordnung zu einer anderen Rolle unterlaufen hat. Selbst der Schauspielerrolle verweigert er sich genau genommen. Denn er verdient sein Geld als Dieb. Beide Tätigkeiten hängen insofern zusammen, als der diebische Ara sein schauspielerisches Talent zur Täuschung anderer ausnutzt – etwa, indem er sich eine erfundene Identität zulegt oder die Erscheinung anderer imitiert. Er ist an keinem bestimmten Theater tätig und sträubt sich auch gegen ein festes Engagement. Stattdessen lässt er sich gern und willig dann zu Hilfe rufen, wenn eine geplante Inszenierung aus Personalgründen zu scheitern droht, wenn also beispielsweise der Hauptdarsteller krank geworden ist oder sich zu spielen weigert, wenn es für den eigentlichen Rolleninhaber zu gefährlich ist zu spielen oder wenn sich noch kein professioneller Akteur für die Rolle gefunden hat. Als vielfach der Erstbesetzung überlegene Zweitbesetzung bedingt er sich anstelle einer Gage von den Regisseuren oder Intendanten aus, den bevorstehenden Theaterabend nutzen zu dürfen, um das juwelengeschmückte Publikum zu bestehlen.5 Dass der Ara kein festangestellter und (insofern er sich selbst als Dieb ausgibt) nicht einmal ein professioneller Schauspieler ist, macht ihn gleichsam zum Meta-Schauspieler – zu einem, der bei jeder Übernahme einer Rolle selbst das Schauspielen noch spielt. Eine erhebliche Zahl der Episoden folgt dem skizzierten Grundmuster; andere – vor allem spätere – setzen ein einschlägiges Wissen der Leser
5
»Près d’une cinquantaine de classiques du théâtre deviennent ainsi la base d’une intrigue mettant en scène l’Ara aux sept couleurs, le plus grand acteur du monde, comédien sans diplôme spécialisé dans le remplacement de dernière minute, qui se rétribue en volant de riches spectateurs le soir de la représentation. Sur la scène, tour à tour défilent Shakespeare, Molière, Gorki, Camus, Beckett, Tennessee Williams, Giraudoux ou des classiques du Kabuki …« (Ebd., [S. 305]) – »Bien sûr, nul besoin de connaître le Théâtre pour apprécier Nanairo Inko. Ce manga sera sans aucun doute une révélation pour les lecteurs qui ignorent tout ou presque des pièces proposées par Tezuka, et il le sera assurément plus encore pour ceux qui les connaissent déjà.« (Ebd., [S. 304]).
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voraus.6 In die Ara-Geschichten einmontiert sind nun immer neue Informationen über Weltliterarisches, und zwar vor allem anlässlich von handlungsrelevanten Theaterabenden. Werke europäischer, asiatischer und amerikanischer Dramatiker tauchen nicht nur als Gegenstände von Inszenierungen in den Geschichten auf, sondern manchmal auch als Gegenstände von Erzählungen, etwa wenn der Ara einer anderen Figur durch den Vergleich mit dem Stoff eines solchen Stücks etwas begreiflich machen möchte. Diese sprachlich und graphisch dargestellten Werke aus dem internationalen Dramenrepertoire sind in die jeweilige Manga-Episode integriert wie ein Spiel im Spiel bzw. wie Bilder im Bild. Ihre Hervorhebung erfolgt sowohl zeichnerisch (durch Wahl eines anderen Zeichenstils) als auch durch Verwendung einer sich vom rahmenden Kontext abhebenden Schrifttype. Die einzelnen Episoden werden unter dem Titel der in ihnen thematisierten dramatischen Werke präsentiert; ihnen sind zudem stets kurze Erläuterungen zum jeweiligen Stück, zu seinem Autor und seiner Thematik vorangestellt. So ist es auch dem literarisch nicht gebildeten Manga-Leser möglich, zu verstehen, was im Folgenden gespielt wird. Häufig werden innerhalb der Episode Beziehungen zwischen den Schicksalen und den Charakteren der dramatischen Figuren jener Stücke einerseits, der Situation der Darsteller, des Publikums oder des Aras andererseits hergestellt. Die Stücke-im-Manga fungieren in solchen Fällen als Illustrationen, Kommentare oder Deutungsmuster, welche auf die rahmende diegetische Welt beziehbar sind. Ihre Stoffe, Figuren und Probleme erscheinen auch über große historische und kulturelle Abstände hinweg aktuell. Dass die Thematisierung des Theaters im Manga als autoreflexives Verfahren zu deuten ist, unterstreicht schon der Verfasser des französischen Postface zur Nanairo-Inko-Serie.7
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Für eine Manga-Reihe bedurfte es einer eher einfachen Rahmengeschichte, die den Lesern neuer Folgen ja bekannt sein musste. Als Figur und Plot dann bekannt sind, kann sich Tezuka leisten, mit der Rahmenkonstruktion zu spielen. »En mariant Théâtre et Manga, en inscrivant un rapport entre la profondeur thématique de ses propres histoires et celle de ces classiques du Théâtre, Tezuka débusque souvent l’essence même de ces œuvres, celle de l’acte créateur, du jeu de la fiction et du jeu de la ›réalité‹: fiction à l’intérieur d’une autre fiction présentée comme ›réelle‹, jeu à l’intérieur d’un autre jeu, comédie humaine au sein d’une autre comédie, personnages incarnant d’autres personnages, mise en scène elle-même representée …« (Ebd., [S. 304 f.]) »Nanairo Inko ou la mise en abîme d’un grand jeu d’images dérisoires, qui jette des reflets impertinents et si riches de sens, sur un autre grand jeu de rôles et de mots. Certaines épisodes se révèlent particulièrement vertigineux, comme dans le chapitre consacré au Malentendu d’Albert Camus: en une vingtaine de pages, Tezuka joue avec son
122
2.2
Der Comic im Spiegel anderer Darstellungsmedien und Künste
Nanairo Inko als Metacomic
Nicht nur, dass Tezukas Protagonist ein Schauspieler ist, nicht nur, dass die Episoden sich immer wieder an Werke der dramatischen Literatur anlehnen; es gibt auch immer wieder explizite Erläuterungen zum Thema Theater und Schauspielerei, und im öffentlichen und privaten Leben – außerhalb des Theaters – wird zudem ebenso reichlich ›Theater gespielt‹. Als Comic über das Theater ist die Serie ein Metacomic; der Comic bespiegelt sich selbst im Theater. Autoreflexiv sind Tezukas Mangas in ihrer Eigenschaft als Theater-Comics unter verschiedenen Aspekten. Sie setzen auf strukturelle Gemeinsamkeiten zwischen Theater und Bilderzählung, um der jungen Kunstform des Manga eine Vor-Geschichte und eine ästhetische Fundierung zu verschaffen. Auf dem Theater findet die Vorgeschichte jener Darstellung von Figuren und Handlungen statt, die der Manga-Zeichner aufs Papier verlagert: Bühne und Zeichenpapier sind Schau-Plätze, an denen körperliche und visuelle, gestische, mimische und verbale Mittel zusammenwirken, um Ereignisse zur Darstellung zu bringen, zu unterhalten und vielleicht sogar zu belehren. Wichtigster Repräsentant der theatralen Repräsentation ist mit dem ›Papagei‹ jemand, der die Worte anderer spricht – der, genauer gesagt, in Tezukas Konstruktion die Worte anderer spricht, die die Worte anderer sprechen – also der Ersatzschauspieler, der eben darum ein Meta-Schauspieler ist. Dass die Wahl eines regenbogenfarbigen Papageien als Zentralfigur auf eine international verständliche Symbolik Bezug nimmt, bedarf kaum der Erläuterung: Ist der Regenbogen doch zum einen Sinnbild der gebändigten Vielfalt, des Farbenreichtums, zum anderen aber auch Symbol des Übergangs zwischen differenten Welten. Nicht minder symbolträchtig, steht der Ara als sprechender Papagei für eine ›künstlich‹ – durch Imitation – erlernte Redekompetenz, aber auch für die Idee der Wiederholung (als Voraussetzung möglicher Erinnerung, als Erinnerungsspeicher), der Imitation, der Sprach-Spielerei – und schließlich auch für die der Vielsprachigkeit: Papageien kennen keine Sprachgrenzen. Gerade die Kopplung der Motive Regenbogen und Papagei bekräftigt, was jedes einzelne der beiden Motive bereits andeutet: Das von Osamus Bildgeschichten umspielte Themenfeld ist das des Übergangs (der Grenzüberschreitung) und der Kommunikation. Wo die Schauspielkunst in
lecteur et retourne par trois fois le sens de son intrigue et la portée de son histoire. Les exemples sont nombreux … Parfois, Tezuka choisit aussi volontairement une pièce moins signifiante […].« (Ebd., [S. 304]).
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Nanairo Inko explizit thematisiert wird, geht es auf autoreferentielle Weise um den Comic, der sich hier als eine Kunst des Zitats und der Reinszenierung präsentiert.
2.3
Beispiele der Selbstbespiegelung des Comics im Drama
Die Gesamtkonstruktion der Serie um den schauspielernden Dieb ist schon deshalb dazu disponiert, Reflexionen über das Theater anzustellen, weil sie aus einer Rahmenhandlung und Binnenhandlungen besteht; dies legt es nahe, dass die Figuren der Rahmenhandlung sich über die Binnenhandlungen äußern. Die Bemerkungen von Tezukas Figuren über Theatralisches (Figuren, Stücke, Spielweisen, Requisiten, Kulissen etc.) sind – wie angedeutet – nicht nur Reflexionen des Comics über das Theater, sondern zugleich Reflexionen des Comics über sich selbst, da er sich im Theater ja bespiegelt. Die Perspektive, unter der jeweils das Theater in den Blick gerückt wird, gilt implizit stets auch der Inszenierungskunst des Zeichners. Das autoreflexive Interesse des Zeichners am Theater führt unter anderem dazu, dass metatheatralische Werke ihn besonders interessieren, also Stücke, in denen das Theater sich selbst auf struktureller oder inhaltlicher Ebene bespiegelt – Stücke, in denen das Theater von sich selbst spricht, sich selbst darstellt, sich selbst potenziert. Das Spiel im Spiel ist eine Form, die zu vielfältigen Strategien metatheatralischer Reflexion einlädt.8
2.3.1 Kunst als Medium der Erkenntnis: Tezukas Hamlet-Version Das Globe Theatre, Shakespeares 1599 eröffnete Wirkungsstätte, stand im Zeichen der Gleichung von Weltgeschichte und Theater; seine Dramen entfalten deren Bedeutungspotentiale. In As you like it baut die Figur des Jaques den Vergleich der Welt mit einer Bühne zu einer berühmten Rede aus: »All the world’s a stage«. Die Gleichsetzung von Welt und Bühne ist von zwei Seiten zu lesen. Einerseits impliziert sie eine Abwertung der Welt als »bloßes« Spiel. Andererseits wertet sie das Theaterspiel auf: Dieses wird zum Modell des Lebens und der Geschichte selbst. Damit geht es um den Wahrheitswert und um die Erkenntnisfunktion dramatischer Kunst. Diese insistiert darauf, der Menschheit und der Geschichte einen Spiegel
8
Vgl. dazu Manfred Schmeling, Das Spiel im Spiel.
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vorhalten zu können – einen getreuen Spiegel, der das Bespiegelte im Bild erkennbar werden lässt, auch wenn Verfremdungen und Verzerrungen damit verbunden sein mögen. Shakespeares Hamlet verdeutlicht diesen vom Theater selbst erhobenen Anspruch auf programmatische Weise, und zwar durch Verwendung des Strukturmodells vom Spiel im Spiel. Der Protagonist erfährt von dem Verbrechen seiner Mutter und seines Stiefvaters Claudius, die Hamlets Vater ermordet und den Thron usurpiert haben. Daraufhin verfasst Hamlet ein Schauspiel, das ein erkennbar ähnliches Verbrechen schildert, und lässt dieses Stück durch eine Schauspielertruppe auf die Bühne bringen. Die wirklichen Verbrecher erkennen sich in diesem gespielten Spiegel wieder und fühlen sich durchschaut, was sie durch ihre Reaktionen zu erkennen geben. So trägt das gespielte Stück – ein Stück Fiktion und als solches eine Binnenspiegelung des Theaters – maßgeblich zur Aufdeckung der Wahrheit bei. Die Episode um Hamlet eröffnet Tezukas ganze Fortsetzungsserie. Sie dient unter anderem und zunächst dazu, die Rahmenbedingungen der folgenden Episodensequenz zu verdeutlichen: Vorgestellt wird der Ara als Dieb und als schauspielerisches Multitalent; vorgestellt wird auch seine Gegenspielerin, die ehrgeizige Polizistin Inspecteur Senri, die sich hier und im Folgenden vergeblich bemühen wird, den Ara zu überführen. Dieser springt im Rahmen einer großangelegten Hamlet-Inszenierung für den unfallbedingt ausgefallenen Hauptdarsteller ein. Er spielt die übernommene Rolle mit großer Bravur. Über Shakespeares Stück wird knapp in einer Dialogszene zwischen Inspecteur Senri und einem ihrer Bekannten informiert, denn Letzterer muss der ungebildeten Senri erzählen, worum es geht. Der Akzent liegt auf dem Konflikt zwischen Hamlet und König Claudius, auf der von Hamlet intendierten Rache und auf dem Untergang seiner Gegenspieler. In der stark verkürzten und simplifizierenden Zusammenfassung wird die Problematik und innere Zerrissenheit der HamletFigur gänzlich übergangen; dieser erscheint wie ein rächender Märchenheld, der einen bösen Gegner – seinen mächtigen Stiefvater – zur Strecke bringt9. Der Ara nutzt den Theaterabend nun nicht nur aus, um nebenher auf Diebeszug zu gehen, sondern er macht sich seine Hamlet-Rolle vor allem zunutze, um öffentlich seine Vorwürfe an einen mächtigen Mann, M. Kuwagata, im Publikum zu adressieren, dessen korrupten, vom Elend anderer zehrenden und skrupellosen Charakter er mit Hamlets Worten vor dem gesamten Auditorium bloßstellt – wie einst Hamlet seinen Stiefvater
9
Tezuka, Nanairo Inko, Bd. 1, S. 35.
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Abb. 23: Tezukas Ara als Hamlet (Nanairo Inko, Bd. 1, S. 22).
Die anklagende Geste des Aras hat etwas Programmatisches: Tezuka hat selbst zur politischen Lage seines Landes und zu politischen Themen immer wieder Stellung bezogen, hat sich für Umwelt und Abrüstung eingesetzt und das kapitalistische Wirtschaftssystem kritisch beobachtet. Die Figur eines Schauspielers, der öffentlich einen korrupten Vertreter der Macht bloßstellt, verweist auf plakative, eingängige, auch einem breiten Publikum verständliche Weise auf das Selbstverständnis eines Künstlers, dem es ebenfalls darum geht, seine exponierte Stellung – der Ara spricht vor einem großen Theaterpublikum, so wie Osamu eine große Öffentlichkeit erreicht – zur Artikulation seiner Kritik und seiner Anklagen gegenüber Machtmissbrauch, Gewissenlosigkeit und heimlichen Verbrechen zu nutzen. Der Ara erfüllt seine Rolle als Künstler, indem er – scheinbar – aus der Rolle fällt. Als Hamlet-Darsteller kann er freilich niemals völlig ›aus der Rolle fallen‹, da er ja einen Charakter verkörpert, für den es seinerseits konstitutiv ist, aus der Rolle zu fallen.
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Claudius.10 Demnach entspräche die Beziehung des Hamlet-Stücks zur Geschichte des Schauspielers Nanairo Inko der Beziehung zwischen Hamlets Spiel im Spiel bei Shakespeare und der Hauptspielhandlung: Durch spielendtheatralisch erzeugte Analogien wird eine verborgene Wahrheit ans Licht gebracht. Die einfache, aber eben darum plakative Botschaft lautet: Was die Bildgeschichte erzählt, ist keine zweckfreie Fiktion, sondern etwas, das den Leser betrifft. Kunst besitzt auch in Gestalt des Manga ein zeit- und gesellschaftskritisches Potential. Sie spricht aus, wo etwas im Argen liegt, sie erzählt Geschichten von fiktiven Übeltätern, um die wirklichen Übeltäter bloßzustellen.
Zwischen gezeichneter und wirklicher Welt. Tezukas Figur in den Spuren Pirandellos Pirandellos Stück Sei personaggi in cerca d’autore ist das neben Hamlet vermutlich berühmteste Beispiel einer Selbstbespiegelung des Theaters mit theatralischen Mitteln. Der Grundeinfall, auf dem das ganze Stück beruht, ist origi-
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Im Rollentext des Aras heißt es anklagend: »Le roi gras du monde financier et le mendiant maigre ne sont qu’un service différent, deux plats pour la même table. Voilà le fin.« Auf die irritierte Zwischenfrage des Darstellers von König Claudius: »Que veux-tu dire par là?« antwortet »Hamlet«, der Loge mit dem gemeinten Theaterbesucher zugewandt: »Ja! Il s’agit de cet homme placé quelque part à un poste élevé! Un sinistre veuf fortuné qui séduit les femmes«, und: »A cause de cet homme combien ont dû se sacrifier? Pourtant, lui, il vit dans l’insouciance … et continue d’engraisser!« Es ist unentscheidbar, ob und gegebenenfalls wo der Akteur hier vor versammeltem Publikum aus der Rolle fällt. Denn gerade zur Darstellung der Hamlet-Rolle gehört es ja, aus der Rolle zu fallen. Und so wie bei Shakespeare die von Hamlet arrangierte Inszenierung eines Stücks im Stück dazu dient, den anwesenden Zuschauern und ihrer Wirklichkeit den Spiegel vorzuhalten – einen Spiegel, dessen Bilder umso prägnanter sind, als sie hinter der Verfremdung und Verzerrung das Eigene deutlich genug sichtbar machen –, so bedient sich der Ara der Hamlet-Figur als eines in den Zuschauerraum hineingewandten Spiegels. Dem von ihm gemeinten (analog zu König Claudius ›bösen‹ und ›schuldigen‹) Zuschauer ist, wie das nächste Bild zeigt, bereits der Schweiß ausgebrochen, und als der Hamlet-Darsteller dann endgültig aus seiner Rolle fällt, indem er auf einen Minister und 3000 Millionen Yen, also offenbar auf ein Korruptions- oder sonstiges Delikt anspielt, bricht der Attackierte in den Ruf aus: »Ça suffit« – ›das reicht‹; er verlässt schließlich unter Protest die Vorführung (ebd., Bd. 1, S. 58 f.). In einem anschließenden Gespräch wird angedeutet, dass der im Theater bloßgestellte Mann der Vater des Aras ist, aus dessen Haus dieser als Junge, schon damals theaterversessen, geflohen ist.
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nell und dramatisch sehr ergiebig. Die sechs Personen sind – charakterisiert man sie bezogen auf die Ebene der dramatischen Fiktion – keine normalen Menschen, sondern auch im Kontext der drameninternen Realitätsebene nur Rollen. Sie sind das Personal eines Stücks, das sie selbst unbedingt spielen möchten, weil die Zugehörigkeit zu diesem Stück ihre Existenzgrundlage ist: In ihrer Eigenschaft als Dramenfiguren können sie eben nur auf der Bühne leben. Ein Theaterschriftsteller – so erzählen sie im Stück selbst – hat diese Personen erdacht, sich dann aber geweigert, das zu ihnen gehörige Drama zu schreiben, was jedoch die Bedingung dafür wäre, dass sie das sein können, was sie wirklich sind. Da sie schon zu lebendig sind, um wieder ins Nichts versinken zu können, machen sie sich auf eigene Faust auf, um eine Bühne zu finden, auf der das zu ihnen gehörige Stück gespielt werden könnte. (Sie sind eher noch auf der Suche nach einer Realisierungsmöglichkeit für ihr Stück als nach einem Autor – oder jedenfalls nicht nach einem bestimmten Autor; wer immer ihr Stück auf die Bühne brächte, könnte ihr Autor werden.) So erreichen sie das Theater, wo die zweite Personengruppe, das Ensemble von Schauspielern mit Direktor und technischem Personal, gerade mit den Proben zu einem anderen Stück beschäftigt sind, und sie unterbrechen diese Probe mit ihrem eigenen Ansinnen: Sie wollen, dass ihr Stück gespielt wird. In seinem nachträglich verfassten Vorwort hat Pirandello von Begegnungen zwischen sich selbst in der Rolle des ›Autors‹ und dramatischen Figuren erzählt, die ihm seine Magd, die Phantasie, ins Haus zu schleppen pflegte. Dass Tezuka, der sich selbst gern innerhalb der eigenen Mangas als Nebenfigur auftreten lässt, Pirandellos Stück schätzt, ist keine Überraschung. Eine Episode zu Pirandellos Sei personaggi in cerca d’autore durfte in den AraGeschichten also nicht fehlen; sie wird zum Anlass eines ironischen Selbstporträts des Zeichners in seiner Beziehung zur eigenen Figur des Aras. Ist der Rückzug des Autors bei Pirandello nicht zuletzt dadurch motiviert, dass es auf dem Welttheater der Moderne gar keinen Autor im emphatischen Sinn mehr gibt, so bleibt von der existentiellen Tragik der autor-, vaterund orientierungslosen Figuren in Tezukas Manga insgesamt wenig übrig; der Ara ist, seiner psychosomatischen Störung zum Trotz, keine Figur mit psychologischem Tiefgang, und der Zeichner Tezuka ist keine verantwortungslose Vaterfigur; stattdessen wird das Zeichenpapier, von dem der Ara sich erhebt, zum Austragungsort eines eher pragmatischen Interessenkonflikts. Dennoch ist Tezukas Pirandello-Reminiszenz mehr als eine komische Spielerei mit einem Theaterklassiker. Denn die Vermischung der Wirklichkeitsebenen, die hier stattfindet, schließt die fingierte Welt des Aras an die rahmende Welt an, zu der der Zeichner Tezuka gehört. Und die Vorstellung,
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Abb. 24: Tezukas Ara in Luigi Pirandellos Sei personaggi in cerca d’autore (Nanairo Inko, Bd. 5, S. 43). Der Ara leidet plötzlich unter Lähmungserscheinungen der Hand; sein Arzt diagnostiziert psychosomatische Störungen. Obwohl er als Schauspieler untragbar geworden ist, bietet man ihm aus einer Notsituation heraus an, kurzfristig bei einer Pirandello-Inszenierung mitzuwirken; die Grundidee der Sei personaggi wird ihm vom Theatermanager aus diesem Anlass skizziert. »C’est une pièce singulière qui de [sic] déroule sans rideau, ni scène.«11 »Les personnages qui apparaissent dans la pièce se rassemblent peu à peu./Ils ne savent pas dans quelle intention l’auteur les a créés. Mais comme celui-ci a disparu, ils se mettent à confronter leurs inquiétudes au sujet de leur propre rôle.«12 Diese Information bringt den Ara auf den Gedanken, den eigenen Autor aufzusuchen, um Aufschluss über sich selbst zu gewinnen. Er erklärt sich bereit, sich von seinem Arzt hypnotisieren zu lassen – »Mais pas pour vérifier ma véritable identité, ou mon
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Tezuka, Nanairo Inko, Bd. 5, S. 39. Ebd., S. 40.
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passé. Je veux rencontrer l’auteur!«13 Auf die verblüffte Rückfrage des Arztes, wovon er rede, erklärt der Ara mit einer bemerkenswert ›aufgeklärten‹ selbstreferentiellen Wendung: »Ce Manga, ›L’Ara aux sept couleurs‹ paraît en série le magazine Shônen Champion … Et vous devez savoir que nous en sommes les personnages, professeur.«14 Ins Panel einmontiert ist an dieser Stelle ein Exemplar des Magazins. Auch wenn der Arzt, der die Botschaft von der eigenen Existenz als Manga-Figur erst einmal verkraften muss, einwendet, im Zustand der Hypnose werde der Autor wohl kaum erscheinen (»L’auteur n’apparaîtra grâce à l’hypnotisme«15), wird ein Versuch gewagt. Der Ara sinkt einschlafend in die Tiefe eines Meeres und findet sich auf dem Zeichenpapier des eigenen Autors wieder, der ihn mit Tezukas Gesicht überrascht anstarrt, als der Ara ihn anschreit und ihm die Schuld an seinem Unglück gibt. »C’est vous, l’auteur!! L’homme qui m’a créé, moi et ce manga!!«16 Warum, so schreit er den Zeichner an, habe er ihm eine psychosomatische Krankheit angehängt und ihm damit Arbeit und Leben ruiniert? »Silence«, so brüllt der Autor zurück; er sei als Autor frei, zu tun, was er wolle. Und was er mit ihm als seiner Hauptfigur vorhabe, so fragt der Ara. Auf seinem Recht zur beliebigen Behandlung seiner eigenen Figuren insistierend, erklärt Tezuka dem zwergenhaft auf seinem Schreibpapier stehenden Ara, warum er ihm eine Krankheit zu-geschrieben habe: Er wolle seinen Manga, der langweilig zu werden drohe, damit interessanter für das Publikum gestalten, das ›dramatischere‹ Charaktere schätze. Der Ara droht darauf hin, über das frisch gezeichnete Blatt, das schnell in die Druckerei muss, ein ganzes Tintenfass auszuleeren, und, solcherart erpresst, verspricht der Autor, die psychosomatische Erkrankung zurückzunehmen. Im selben Moment weckt der Arzt den hypnotisierten Schläfer, der sich geheilt fühlt und sich eiligst in seine Theater-Aktivitäten stürzt. Noch sei die Fortsetzung seiner Geschichte nicht in Druck gegangen, und bei einem Autor wie Tezuka müsse man alles erwarten.17 Die Figur kehrt in ihre Welt zurück – was weiter geschehen wird, bleibt offen.
dass gezeichnete Figuren sich aus dem Zeichenpapier erheben und in die Wirklichkeit einmischen, die die unsere ist, kann ebenso wie die Idee von dramatischen Figuren, welche sich gegen ihre Autoren auflehnen und etwa die Bühne verlassen, als indirekter Hinweis auf die Wirkungspotentiale von Kunst, von erfundenen Figuren und Geschichten gelten. Aus dem gezeichneten Rahmen heraus wirkend verdeutlicht Nanairo Inko besonders klar die Erwartungen, die Tezuka der Kunst entgegenbringt.
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Ebd., S. 41. Ebd. Ebd. Ebd., S. 43. Ebd., S. 45.
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Zauberkunststücke à la Giraudoux: Tezukas Ondine Jean Giraudoux’ Ondine, auf der Basis von Fouqués Erzählung Undine erfasst, bietet ein raffiniertes Beispiel des modernen Metatheaters; die Spielhandlung wird mehrfach unterbrochen; der Wasserkönig tritt nämlich als Regisseur auf, der die Figuren des Stücks nach Belieben lenken und ihre Handlungen vor- oder zurückspulen kann. Er erscheint in der Maske eines Zauberkünstlers, der nicht nur Tricks vorführt, sondern wirklich zaubert. Zu den Proben seiner Kunst gehört das Herbeizaubern eines Wasserreichs.18 Unter seiner Regie besteht zwischen dem Wirklichen und dem Imaginären, zwischen Sein und Schein keine Differenz. Wenn Giraudoux seinen Wasserkönig souverän in die Spielhandlung eingreifen und diese gestalten lässt, so reflektiert dessen Zauberei mit Theaterfiguren das Geschäft des Dramatikers, der Personen zusammenführt, wieder auseinanderbringt, ihr Handeln lenkt und leitet. Insbesondere erscheint die Macht des Zauberers als Macht über die Zeit (wiederum analog zur Kunst des Dramatikers). In Giraudoux’ Spiel-im-Spiel-Szenen repräsentiert sich die Bühnenkunst selbst, die auf ihre Weise eine Art Zeit-Zauber ist – und ein Spiel, bei dem die Alltagswelt von mythischen Gestalten besucht wird. Schon weil Giraudoux’ Figuren die Grenze zwischen dem Realen und dem Mythischen überschreiten, sind sie Repräsentanten der Kunst. Tezukas Nixe und ihr mysteriöser Vater übernehmen diese Rolle und spielen sie auf der Bühne des Zeichenpapiers weiter. Zu Erholungszwecken fährt der Ara mit seinem Hund Tamasabur¯o auf eine einsame Insel, die dem Komponisten und Musiker Masashi Sada gehört; dieser hat hier unter anderem ein kleines Theater errichtet. Der Ara, der sich mit Tamasabur¯o alleine glaubt, ahnt bald die Gegenwart einer dritten Figur auf der Insel und entdeckt im Bett des Ferienhauses ein nacktes junges Mädchen, das sich ihm als die Wasserfrau Ondine vorstellt. Er kennt das Stück von Giraudoux, das er an dieser Stelle kurz zusammenfasst. Dass das Mädchen eine Wasserfrau ist, bezweifelt er jedoch. Die pummelige Mädchenerscheinung entspricht seiner Vorstellung von einer verführerischen Wasserfrau wohl nicht. Ondine möchte ihn, wie sie erklärt, heiraten und mit ihm (unter häufigem Duschen) zusammenleben. Ein Unwetter bricht aus; laut Ondine tobt ihr Vater, weil sie sich einem Menschen angeschlossen hat. Das Ferienhaus wird vernichtet, der Ara und sein Hund fliehen. Ondine kommt 18
Vgl. Jean Giraudoux, Ondine. Pièce en trois actes d’après le conte de Frédéric de la Motte Fouqué, in: Ders., Théâtre, Paris 1959, Bd. III, S. 245–353, hier 2. Akt, 1. Szene, S. 285–288.
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in den Trümmern des einstürzenden Hauses ums Leben. Als sie zugedeckt vor dem bestürzten Ara liegt, erscheint ein älterer Mann, der sich als ihr Vater und als Trickkünstler (Jongleur) vorstellt und sie abholt. Dass sich in seiner Gegenwart natürliche Lebewesen ungewöhnlich verhalten (eine Muschel öffnet sich wie von selbst), lässt den Auftritt des Mannes mysteriös erscheinen. Nachträglich erinnert sich der Ara daran, dass in Giraudoux’ Stück der Wasserkönig ebenfalls als Jongleur aufgetreten ist; diese Figur beherrscht dort allerlei Kunststücke.
Potenziertes Spiel: Tamasabur¯o Immer wieder geht es in Tezukas Serie um Aspekte des Nachahmens und Zitierens zwischen bloßer Kopie und kreativer Interpretation. Dies gilt auch für die Episode, in welcher der Ara einen Begleiter bekommt, der ihn seinerseits imitiert, nämlich das Hündchen Tamasabur¯o. Als Hund kann Tamasabur¯o nicht sprechen, ist dafür aber ein höchst talentierter Pantomime. Gestisch und mimisch ahmt er seinen Herrn nach, dessen Verwandlungskünste und dessen Dreistigkeit. Bei aller Niedlichkeit ein ausgesprochen subversiver Charakter, fernseh- und trunksüchtig, ist das Hündchen ein Zerrbild seines Herrn, eine parodistische Übertragung ins Animalische. Der Name Tamasabur¯o erinnert an einen berühmten Schauspieler der traditionellen japanischen Theaterkultur, der sich auf Frauenrollen spezialisiert hat und zu dessen Besonderheiten die Fähigkeit gehört, in einem und demselben Bühnenstück mehrere Rollen zu übernehmen. In der Episode Le singe acrobate (Nr. 25),19 die auf ein Stück des traditionellen japanischen Theaters Bezug nimmt, spielt Tamasabur¯o die wichtigste Rolle. Auch die Episode um das Auftauchen des Hundes wird übrigens mit einem dramatischen Werk in Beziehung gesetzt: Von dem Hündchen, das er gar nicht haben will, beharrlich belagert, erinnert sich der Ara an die Szene in Goethes Faust I, als Mephisto in Gestalt eines Pudels die Nähe des Doktor Faust sucht. (Damit stellt sich gerade über Tamasabur¯o eine Verbindung zwischen der Ara-Serie und Tezukas Faust-Paraphrasen her.)
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Vgl. die Erläuterung in Tezuka, Nanairo Inko, Bd. 3, S. 149: »Kotobuki Utsubo Zaru (Le Singe acrobate), pièce traditionelle de Kyôgen, la plus antique forme de théâtre parlé au Japon. Le Kyôgen se jouait à l’origine en entracte, entre deux pièces de Nô, pour détendre l’atmosphère. Il abordait le même thème sous un angle parodique.« (Herv. i. Orig.).
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Abb. 25: Tamasabur¯o als Schauspieler (Tezuka, Nanairo Inko, Bd. 3, S. 156). Eines Tages entdeckt der Ara, dass Tamasabur¯o sich Sendungen mit traditionellen japanischen Aufführungen des Kabuki-Theaters ansieht und die Rollen nachspielt; er hat sich auf weibliche Rollen spezialisiert. Als der Ara seinen Hund mit ins Kabuki-Theater nimmt, um ihm dieses zu zeigen, befreit sich Tamasabur¯o aus der Tasche, in der er versteckt ist, und beginnt im Zuschauerraum das Spiel des eine Frau spielenden Kabuki-Schauspielers auf groteske Weise zu imitieren – eine freche, wenn auch nicht ganz freiwillige Parodie. Das Theater wird mehrfach potenziert und reflektiert: Der Hund spielt einen Menschen, der als Schauspieler Rollen spielt, hält einem der Vorbilder seines Spiels parodistisch einen Spiegel vor und ambiguisiert so das Parodierte. Der Schauspieler lässt den Ara verklagen, und dieser hat die Wahl zwischen einer unerschwinglich hohen Geldstrafe und der Option, den Hund zu töten. Schweren Herzens entschließt er sich für Letzteres, springt Tamasabur¯o aber sofort nach, als er ihn ins Meer geworfen hat. Er bietet dem beleidigten Schauspieler jede andere Form der Genugtuung an, wenn Tamasabur¯o nur nicht sterben muss, und jener legt eine Strafe für den Hund fest: Zur Strafe für seinen parodistisch wirkenden Auftritt muss
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der Hund des Aras die Rolle des Affen in einer traditionellen Theaterproduktion spielen, eben im Stück vom akrobatischen Affen. Wie der Hund im Stück den Schauspieler im Stück spiegelt, so spiegelt Tezukas Geschichte ein Stück Theaterwirklichkeit. Das Motiv des Affen – also des sprichwörtlichen Imitators menschlicher Handlungen – betont diese Imitationsbeziehungen. Tamasabur¯o ist eine Inkarnation des Übersetzens: Aus einem prominenten Vertreter des traditionellen japanischen Theaters wird eine Manga-Figur in Hundegestalt, eine Hybridgestalt, in die natürlich auch die Erinnerung an Snoopy, den weltbekannten Gefährten von Charlie Brown, eingeflossen ist. Tamasabur¯o ist, da er nicht sprechen kann, ein Pantomime. Von seiner Sprachlosigkeit abgesehen, erweist er sich aber bald als begabter Imitator eines berühmten Schauspielers.20 Er ahmt diesen öffentlich so treffend nach, dass es zum Skandal kommt; der Schauspieler ist durch diese Imitation seiner Kunst seitens eines Hündchens tief beleidigt und fordert Rache. Man könnte in der Beziehung zwischen dem stummen, aber ausdrucksstarken Pantomimen-Hund zu seinen schauspielernden Vorbildern ein Gleichnis der Beziehung zwischen gedrucktem (und insofern ›stummem‹) Comic und Bühnenkunst sehen.
Ein Ausflug in die Welt des Films: Tezukas Medea Tezukas zeichnerische Travestie der euripideischen Medea-Tragödie gehört zu den längsten Episoden des ganzen Zyklus.21 Sie ist in eine komplizierte, hochgradig abstruse, vor allem aber wieder einmal metatheatralische Rahmenhandlung gefasst.22 Die Fabel, in der Tezuka auf mutwillige Weise Ver20
21
22
Tamasabur¯o, der es nur durch große Hartnäckigkeit schafft, vom Ara aufgenommen zu werden, wird mit dem Pudel Mephisto in Faust verglichen: Ein weltliterarisches Deutungsmuster bringt die beiden also zusammen. Vgl. ebd., Bd. 2, S. 41. In der wie üblich vorangestellten kurzen Erläuterung des Bezugsstücks wird die Figur der Medea pointiert gewürdigt: Nicht nur als Fremde, sondern auch als Magierin, als Künstlerin also – und in dieser Eigenschaft als Komplementärfigur zur Gestalt des Orpheus, der seine tote Gefährtin zu den Lebenden zurückführen möchte, während Medea es darauf anlegt, lebendige Menschen ins Totenreich zu schicken. Man mag dieser (vielleicht durch Interpretationen anderer inspirierten) Deutung gegenüberstehen, wie man will: Sie verdeutlicht, dass Osamu sich für das symbolische Potential seiner Figuren interessiert (ebd., Bd. 3, S. 223). Und sie illustriert exemplarisch, dass Tezuka für ein heterogenes Publikum schreibt: zum einen zweifellos für eine Leserschaft, die von Folge zu Folge (Medée erschien zwischen dem 20.11. und dem 4. 12. 1981 im Weekly Shonen Champion) durch Überraschungseffekte und spektakuläre Einfälle in Spannung gehalten werden muss, zum anderen für ein Publikum, das verschlüsselte Anspielungen versteht und sich auf das parodistische Spiel mit kulturellen Erbschaften gern einlässt.
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satzstücke aus der Medea-Tragödie, einem Theaterkrimi und einer ScienceFiction-Erzählung kreuzt, wirkt in ihrer Schrillheit selbstparodistisch. An einem Theaterabend in Paris ereignet sich ein spektakulärer Zwischenfall: Der Hauptdarsteller André Clivier fällt einem Brandanschlag zum Opfer. Er hinterlässt eine Tochter, Catherine, und einen Schwiegersohn. Inspecteur Eroica (der aussieht wie Beethoven und sich gelegentlich darüber beschwert, wie Tezuka ihn gezeichnet hat),23 verdächtigt den Schwiegersohn, Robert Guiné; der Ara, neugierig, macht sich daraufhin mit Robert bekannt, der verfolgt wird – unter anderem von ›Außerirdischen‹ und von einem riesigen »Arabe«. Voller Angst heuert Robert den Ara als Double an. Auch Catherine wird ermordet. Auf den Ara – in Roberts Rolle – wird ein Mordanschlag mit Giftschlangen verübt. Von einer in seine Tasche geschmuggelten Tonbandkassette hört er eine Frauenstimme, die ihn (also Robert) um Gehör bittet und die Vorgeschichte erzählt, die motivierend im Hintergrund der Anschläge steht. Es handelt sich um eine an Medea erinnernde Geschichte: Robert hatte sich als noch unbekannter Schauspieler einer Wandertruppe in einem fernen, nicht genauer genannten Land mit der Sprecherin auf der Kassette verbunden; ihr mächtiger Vater (eine Art ›Tartarenfürst‹) hatte Robert gezwungen, auf den Koran zu schwören, dass er seine Tochter glücklich machen werde. In der Fremde – in Paris – hatte er seine junge, als Fremde ohnehin isolierte Frau dann wegen einer anderen Frau (Catherine) verlassen, und dies noch dazu vor allem aus Ehrgeiz, da Catherines Vater als berühmter Schauspieler seiner Karriere förderlich sein konnte. Hasserfüllt hatte die als Ausländerin wiederholt gedemütigte, von einem Anwalt ihres Mannes zur Scheidung gedrängte Fremde mit ihrem neugeborenen Kind Paris verlassen. Die Morde an Clivier und Catherine sind, wie die Tonbandstimme weiter erklärt, Rachemorde auf Betreiben ihres Vaters gewesen; er, Robert, schwebe nun selbst in Lebensgefahr. Solcherart in Bedrängnis, wird der Ara (als Robert) nun auch von Inspektor Eroica bedrängt, der ihn des Mordes an Clivier bezichtigt. Ausgerechnet Eroica wird von dem Säbel des herannahenden »Arabe« durchbohrt; der Ara flieht vor seinen Verfolgern, dem Araber und den Außerirdischen, auf eine Bühne, wo er dem geballten Ansturm seiner Verfolger erliegt. Im Moment seiner völligen Niederlage erweist sich das Ganze als Inszenierung. Es hat gar keine Ermordeten und keine Vorgeschichte à la Medea gegeben. Alle Morde waren gespielt, alle Akteure Rollenspieler, Inspektor Eroica und der Tartarenfürst inbegriffen. Man hat den Ara in die Thrillerhandlung verwickelt, weil der
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Vgl. Tezuka, Naniro Inko, Bd. 3, S. 232.
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Schauspieler und Theaterbesitzer Clivier einen Thriller drehen will, in dem der Ara die Hauptrolle innehaben soll, und man hat ihn – der einer Mitwirkung an diesem Spielfilm freiwillig nie zugestimmt hätte – in den nötigen Spielszenen gefilmt, ohne dass er darum und um den Plan zu einem Film gewusst hätte. Der Film wird den Ara durch die unwürdige Rolle des Flüchtenden zum weltweiten Gespött machen. Es gelingt dem Ara aber zuletzt, sich das Filmmaterial zu beschaffen und es zu verbrennen. Die Medea-Episode ist hochgradig abstrus. Bedeutung hat sie gleichwohl als autoreferentielle Episode, wenn man an die metaphorische Spiegelungsbeziehung zwischen Theater und Manga denkt, die der ganzen AraKonstruktion zugrunde liegt. Tezukas Manga interpretiert sich im Bild des Theaters und des Spielfilms als ein Medium, für das kulturelle Bestände heterogenster Herkunft letztlich nur ein Requisitenfundus sind, mit dem sich ein Spiel treiben lässt – ein Spiel, in dem die Differenz zwischen dem Eigenen und dem Fremden unterlaufen und außer Kraft gesetzt wird.24
Leben und Sterben für die Bühne: Tezukas Cyrano de Bergerac Welche Bedeutung die Welt des Theaters für Tezuka hat und inwiefern er gerade den Schauspieler als eine Figur begreift, in der sich wichtige Aspekte des menschlichen Lebens bespiegeln lassen, ließe sich etwa an der Nanairo Inko- Episode um das Stück Cyrano de Bergerac von Edmond Rostand zeigen, 24
Auffällig auch an der zeichnerischen Gestaltung ist die Durchdringung heterogener Elemente. Als Kulissen sichtbar werden Paris (ebd., S. 224), das antike Griechenland (ebd., S. 225), eine Kreuzung aus beiden in Gestalt eines klassizistischen Pariser Theater-Gebäudes (ebd., S. 226), später dann eine exotisch anmutende vorderasiatische Welt, die ›tartarisch‹ wirkt (z. B. ebd., S. 259), und der Ara selbst kommt ja aus Japan, wie immer. Erscheinungen, die einer ›außerirdischen‹ Science-Fiction-Welt entstiegen zu sein scheinen, durchkreuzen das Geschehen (z. B. ebd., S. 276) – und die Figur des französischen Kriminal-Inspektors Eroica hat ihre Gestalt bei Ludwig van Beethoven entliehen. Ausgerechnet und kaum zufälligerweise wird die Medea-Episode zum Anlass zeichnerischer Inszenierung von kultureller Diversität; im Manga treffen auf programmatische Weise Figuren zusammen, die verschiedene Kulturen und Zeitalter repräsentieren. Allerdings erweist sich manches ›Fremde‹ dann als Teil einer Inszenierung (die ›Außerirdischen‹ sind ebenso unecht wie die ›Tartaren‹, und ›Beethoven‹ hat eine Rolle gespielt), aber dies bestätigt ja gerade die Idee vom Theater als einem ästhetischen Medium, in welchem kulturelle Diversität im doppelten Sinn ›aufgehoben‹ ist. Und auch in dieser Eigenschaft spiegelt das Theater die Kunst des Manga, der durch Figurendarstellung und Kulissengestaltung eine Montage hybridkultureller Welten erzeugt.
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wo gar nicht der Ara selbst, sondern ein anderer Schauspieler im Mittelpunkt steht.25 Ein ehemaliger Spitzenschauspieler, Herr Kozuki, hat sich wegen der Entstellung seiner Nase durch Furunkel von der Bühne zurückgezogen und wirkt jetzt als passionierter Theaterkritiker, der sich wegen seiner harten Kritiken viele Feinde gemacht und sogar Morddrohungen zugezogen hat. Dem Ara, der Herrn Kozuki verehrt, gelingt es, den verbitterten und verarmten Schauspieler für die Übernahme der Rolle des Cyrano de Bergerac zu gewinnen, der ja bekanntlich eine riesige Nase hatte. Kozukis Feinde nehmen dessen Auftauchen in der Öffentlichkeit nach einer Probe zum Anlass eines Mordanschlags. Der Schauspieler kommt zunächst ins Krankenhaus, flieht aber von dort, um seine Rolle doch noch zu spielen. Er stirbt auf der Bühne an seinen Verletzungen, zeitgleich mit dem im Szenario vorgesehenen Tod der Figur Cyrano. So opfert er sich nicht allein buchstäblich für das Theater, er verkörpert zudem den Mut, öffentlich die Wahrheit zu sagen, auch und gerade unbequeme Wahrheiten. Die Bühne ist der Ort des wahren Heldentums, das in erster Linie darin besteht, sich selbst treu zu bleiben – und dies kann man paradoxerweise am ehesten, wenn man (sich) spielt: So die Botschaft der Geschichte, die also durchaus ästhetische und psychologischanthropologische Implikationen miteinander verbindet. Als ein Held der Bühne stellt Kozuki dem Ara übrigens eine sehr kritische Diagnose: Dieser sei ein sehr talentierter Schauspieler, habe aber keine Persönlichkeit, denn er kopiere bloß den Darstellungsstil anderer berühmter Akteure wie ein nachplappernder Papagei. In dieser Kritik wird via negationis der Anspruch deutlich, den Tezuka an die Vertreter des Schauspielerstandes stellt. Zugleich reflektiert sich darin aber auch ein Anspruch des Künstlers Tezuka an sich selbst: einen eigenen Stil zu entwickeln, in den die von anderen aufgenommenen Anregungen und Vorgaben übertragen werden. Wenn in der Episode um Cyrano/Kozuki die Bedeutung des ›Charakteristischen‹, des eigenen Stils auch und gerade bei der Darstellung von Figuren und Geschichten anderer Verfasser betont wird, so hebt Tezuka damit indirekt eine wichtige Tendenz in der Geschichte des Comics auf dem Weg von der Unterhaltungsbeilage zur Kunstform hervor: Stilistische Ausdifferenzierung wird hier zum vielleicht wichtigsten Indikator ästhetischen Gestaltungswillens. Tezuka deutet Comic-Geschichten als Inszenierungen auf dem Papier – als Inszenierungen mit einem zuvor festgelegten Figurenarsenal, die einer anlass- und intentionsspezifischen Bildregie unterliegen, deren Ästhetik keiner verbindlichen Regulierung unterliegt, die vor allem aber Freude am Spiel 25
Ebd., Bd. 2, S. 177.
Zur Selbstverortung des Comics im Kontext der Künste I
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voraussetzen, bei den Zeichnern wie beim Publikum. Wer ein Drama inszeniert, lässt seine Akteure Rollentexte nachsprechen (›papageienhaft‹), muss allerdings auch damit rechnen, dass seine Figuren eine Art Eigenleben entwickeln. Solche Inszenierungen auf dem Papier können sich mehr oder weniger deutlich in den Spuren geschriebener Geschichten bewegen, sie können geschmackvoll oder vulgär, leicht überschaubar oder chaotisch sein, simpel oder raffiniert; sie können sich an ein Insiderpublikum oder an eine stark heterogene Öffentlichkeit wenden. Das Versprechen, die Kunst trage zu (Selbst-)Erkenntnisprozessen bei, wird immer wieder bekräftigt. Immer wieder hilft den Figuren von Tezukas Serie die Erinnerung an ein bestimmtes Theaterstück dabei, eine gegenwärtige Situation zu interpretieren, darzustellen, zu kommentieren, zu kritisieren – sie zu meistern oder mit einer Geste humorvoller Selbstdistanzierung zu scheitern. Dies gilt auch dann, wenn die Beziehung zwischen erinnertem Stück und zu interpretierender Gegenwartssituation im Zeichen der Verkehrung oder Verschiebung steht.26 Was sich auch dabei bestätigt, ist das ›aufklärerische‹ Potential, das in den Theaterstücken steckt: Sie stellen soziale Modellsituationen dar, bieten damit Auslegungsmuster für eine komplexe und verrätselte soziale Wirklichkeit an – und gestatten es dem Leser oder Zuschauer, sinnvolle Hypothesen über die Probleme zu bilden, die ihn selbst gerade beschäftigen, in Analogie zur Literatur oder im Kontrast zu ihr.
26
So hilft in der Episode, die sich auf Reginald Roses Stück Douze hommes en colère/ Twelve Angry Men (Zwölf Geschworene) bezieht, die Erinnerung an dieses Stück dem Ara dabei, eine gegenwärtige Situation zu begreifen und verborgene Zusammenhänge aufzudecken, die sich der Situation in Roses Stück genau entgegengesetzt verhalten. Im Manga ist es zwar keineswegs so, dass ein aufrechter, gerechter Geschworener sich dem aus Bequemlichkeit befürworteten Schuldspruch seiner elf Gefährten widersetzt und so zuletzt die Unschuld des Angeklagten nachgewiesen werden kann. Vielmehr ist, wie der Ara aufdeckt, eben dieser eine Geschworene, der für einen Freispruch des Angeklagten votiert, von dessen Familie bestochen worden; der Angeklagte ist schuldig, und der Ara kann ihm seine Schuld nachweisen.
138
3.
Der Comic im Spiegel anderer Darstellungsmedien und Künste
Zur Selbstverortung des Comics im Kontext der Künste II: Der Zeichner im Reich der Bildmedien. Stéphane Heuet, Prousts Recherche und die Entdeckung der Bilder
Stéphane Heuets zeichnerische Interpretation von Marcel Prousts Roman À la recherche du temps perdu ist ein work in progress, das mit Blick auf seinen vorgesehenen Umfang nicht seinesgleichen hat. Erschienen die ersten drei Bände, welche der Jugendgeschichte des Ich-Erzählers gewidmet sind, in recht dichter Folge, so dauerte es danach einige Jahre mehr, bis der vierte und der fünfte Band erschienen, die von Swanns Liebe zu Odette erzählen.1 Schon die Cover-Illustrationen der über einen Abstand von zehn Jahren (1998–2008) erschienenen Bände verdeutlichen die Kohärenz des Projekts. Die vorderen Cover-Illustrationen zeigen verschiedene Szenen: einen älteren Mann, der, wie in sich selbst versunken, vor einem landschaftlichen Hintergrund einherschreitet (I), einen jungen Mann, der auf ein Pier hinausblickt (II), einen Heranwachsenden, der in einem Maleratelier der Arbeit des Künstlers zusieht (III), einen Mann, der aus der Dunkelheit in ein erleuchtetes Fenster hineinblickt (IV), eine Frau verlässt eine gerahmte Szene, während ein Mann ihr nachschaut (V). Aus der anfänglichen Selbstversenkung (I) 1
Der erste Band, Combray (Adaptation und Zeichnung: Stéphane Heuet, Kolorierung: Véronique Dorey, Paris 1998), folgt dem Verlauf der Romanhandlung, wie er im ersten Teilband der Recherche dargestellt wird. Berichtet wird über die Kindheit in Combray von den Ritualen des allabendlichen Zubettgehens bis zum ersten literarischen Versuch, einem Essay über die beiden Kirchtürme von Martinville. Die Bände 2 (Adaptation: Stanislas Brézet und Stéphane Heuet, Zeichnung und Kolorierung: Stéphane Heuet, Paris 2000) und 3 (Adaptation: Stanislas Brézet und Stéphane Heuet, Zeichnung und Kolorierung: Stéphane Heuet, Paris 2002) erzählen den Teilband À l’ombre des jeunes filles en fleurs in zwei Teilen nach. Band 2 beginnt mit dem Aufbruch des Erzählers und seiner Großtante nach Balbec und endet mit Szenen, in denen Marcel der kleinen Schar junger Mädchen um Albertine begegnet. Band 3 setzt ein mit der Schilderung des Lebens im Hotel zu Balbec und stellt den Verlauf der sich anbahnenden Liebesgeschichte zwischen Marcel und Albertine dar, zu dem auch die Geschichte der Bekanntschaft mit Elstir gehört. Ein erster Teil der Parallelgeschichte um Swann und Odette (Un amour de Swann, Adaptation und Zeichnung: Stéphane Heuet) erschien 2006, der zweite 2008 (Adaptation und Zeichnung: Stéphane Heuet). Im Folgenden werden die Bände unter dem Namen Heuet verzeichnet.
Zur Selbstverortung des Comics im Kontext der Künste II
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Abb. 26: Hintere Cover-Zeichnung eines Bandes der Proust-Adaptation von Heuet (hier Band I). Auf dem hinteren Cover sehen wir stets ein gezeichnetes Porträt des Autors Proust, im Bett sitzend bei der Schreibarbeit: vor sich ein transportables Schreibpult, Heft und Tinte, neben sich eine Lampe, eine Schale mit einer dampfenden Flüssigkeit (der Proust-Leser identifiziert sofort den berühmten Lindenblütentee) sowie einige weitere Hefte (beschriftet: »Cahiers«). Ein Zitat aus der Recherche spricht vom ›Flug der Erinnerung‹: »Et comme un aviateur qui a jusque-là péniblement roulé à terre, ›decollant‹ brusquement, je m’élévais lentement vers les hauteurs silencieuses du souvenir.«
entwickeln sich Szenen des Sehens (II, III, IV) und Gesehenwerdens (V). Zusätzliche Kohärenz erhalten die Titelbilder durch das durchgängig eingesetzte Mittel der Rahmenüberschreitung. Jede der gezeichneten Figuren passiert eine Schwelle der dargestellten Welt und gehört dieser demnach nicht vollständig an. Das Strukturmodell des Rahmendurchbruchs, das innerhalb der Bände eine tragende kompositorische Funktion übernimmt, hat in der Literatur- und Kunstgeschichte vor allem zwei wesentliche Funktionen übernommen: Zum einen dient es der Reflexion über differente Ebenen der Wirklichkeit und deren Übergänglichkeit; zum anderen dient es dem Selbstverweis von Kunst.2 Bei Heuet übernimmt es beide Funktionen. 2
Vgl. dazu insgesamt: Stoichita, Das selbstbewußte Bild, Kap. III.
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Der Comic im Spiegel anderer Darstellungsmedien und Künste
Abb. 27a–c: Vordere CoverIllustrationen der Bände I (Combray), II (À l’ombre des jeunes filles en fleurs I) und III (À l’ombre des jeunes filles en fleurs II).
Zur Selbstverortung des Comics im Kontext der Künste II
3.1
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Poetik der Bilder bei Proust und Heuet
Kernthemen in Marcel Prousts Roman À la recherche du temps perdu sind die Zeit und die Erinnerung. Im Prozess der Erinnerung schafft sich das Ich eine Wirklichkeit, in der Gegenwärtiges und Vergangenes einander durchdringen; das erinnernde Ich erlebt gleichsam eine mehrschichtige Zeit. Miteinander verknüpft sind das Vergangene und das Gegenwärtige insbesondere durch ein Spiel der Ähnlichkeiten: Durch die Entdeckung von Ähnlichkeiten zwischen Früherem und Späterem schafft das Ich Zusammenhänge. Darauf spielen bereits die Cover-Bilder an. Die Recherche ist angelegt als ein autobiographischer Bericht des Ich-Erzählers, der abwechselnd aus der Perspektive eines Kindes, eines Heranwachsenden und eines Erwachsenen spricht. In die Geschichte des Erzählers hinein verwoben sind zudem die Geschichten vieler anderer Figuren, mit denen er über kürzere oder längere Abschnitte seines Lebens direkt oder indirekt zu tun hat. Dargestellt wird nicht die äußere und lineare Chronologie eines Lebens und einer Epoche, sondern die Chronologie des subjektiven Erinnerungsprozesses. Im Erzählerbericht rücken immer wieder entfernte Zeitabschnitte zusammen, überlagern einander und verschmelzen miteinander. Analogien verbinden das Einst und das Jetzt; ein Netz von Ähnlichkeiten spannt sich über die erinnerten Dinge. Proust entwickelt eine Form des Erzählens, welche dieser vielschichtigen Struktur des Erinnerns entspricht. Konstitutive Bedeutung besitzt die Verwendung von Leitmotiven. Organisierend wirken auch sich wiederholende Handlungsmuster wie das der Eifersuchtsgeschichte. Die narrativ dargestellte Erinnerung, in der sich das Gegenwärtige und eine vielfältig aufgefächerte Vergangenheit durchdringen, unterliegt keineswegs allein dem Willen des Ichs. Das besondere Interesse des Erzählers gilt Momenten der ›mémoire involontaire‹, also solchen Augenblicken, in denen eine konkrete sinnliche Impression plötzlich frühere Erlebnisse und Zeiten revoziert. Die berühmte ›Madeleine‹, ein in Lindenblütentee getauchtes Stück Gebäck, lässt so einen ganzen Lebensabschnitt lebendig werden und die zu ihm gehörige Welt wieder auferstehen. Wie eine Folge von Bildern ziehen die erinnerten Erfahrungen und Lebensabschnitte mit ihren Figuren, Ortschaften und Ereignissen am Leser vorbei. Ähnlich wie die Malerei des Impressionismus durch ihre Darstellungstechniken die Entstehung visueller Gebilde durch den Blick bespiegelt,3 the-
3
Zum Thema Proust und der Impressionismus vgl. die Bemerkungen des Zeichners Heuet in einem Interview: Eric Chaurin, »Entrevue avec Stéphane Heuet,
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matisiert Proust die Gestaltung erinnerter Zeit durch die Bedingungen des Erinnerungsprozesses. Das Erinnerungs-Bild spielt dabei eine Hauptrolle. In hohem Maße auf Visualität hin orientiert, erzählt der Roman zudem aber auch aus vielfachen Anlässen von konkreten Bildern, von Seh-Erfahrungen, von optischen Darstellungs- und Reproduktionstechniken.4 Bilder werden aber nicht nur zu Medien der Erinnerung, sondern sie sind auch selbst wichtige Gegenstände des Erinnerns.
Prousts Interesse an Bildern und Bildmedien In Prousts Roman geht es mit dem Diskurs über Bilder darum, das eigene poetische Darstellungsverfahren zu bespiegeln. So wird etwa die Darstellungstechnik des Malers Elstir zum Gleichnis sprachlicher Metaphorik: Beide sind charakterisiert durch die Überblendung verschiedener Bildfelder, so dass das jeweils eine ›durch‹ das andere sichtbar wird. Sprachliche wie malerische Metaphern dienen analog der perspektivischen Modellierung von Welt. Elstirs Malstil wird explizit mit dem Stil eines Schriftstellers verglichen.5 Jedem wahrnehmenden Einzelnen erscheint Proust zufolge die Welt ein wenig anders, und vor allem an den verschiedenen Stilen der einzelnen Künstler wird dies ablesbar. Durch seine jeweils individuelle Art der Darstellung leitet der Künstler den Rezipienten zu einem neuen Sehen der Dinge an und
4
5
auteur de BD sur Proust«, 01. 11. 1998, http://www.rfi.fr/francais/languefr/ articles/072/article_241.asp (Stand: Mai 2004). Vgl. dazu den Katalog: Marcel Proust – l’écriture et les arts. Sous la direction de JeanYves Tadié avec la collaboration de Florence Callu, Paris 1999. Hier: Valérie Sueur: »Impressions et réimpressions«, S. 89–102, insbes. S. 99. »[…] le style pour l’écrivain, aussi bien que la couleur pour le peintre, est une question non de technique mais de vision. Il est la révélation, qui serait impossible par des moyens directs et conscients, de la différence qualitative qu’il y a dans la façon dont nous apparaît le monde, différence qui, s’il n’y a pas l’art, resterait le secret éternel de chacun.« (Marcel Proust, À la recherche du temps perdu. Edition publiée sous la direction de Jean-Yves Tadié, Paris 1987–1989, Bibliothèque de la Pleiade, 4 Bde., hier Bd. 4, S. 474) – Übers. von Eva Rechel-Mertens: »[…] der Stil ist für den Schriftsteller wie die Farbe für den Maler nicht eine Frage der Technik, sondern seine Art zu sehen. Er bedeutet die durch direkte und bewußte Mittel unmöglich zu erlangende Offenbarung der qualitativen Verschiedenheit der Weise, wie uns die Welt erscheint, einer Verschiedenheit, die, wenn es die Kunst nicht gäbe, das ewige Geheimnis jedes einzelnen bliebe.« (Marcel Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Frankfurter Ausgabe, hrsg. von Luzius Keller, Bd. 7: Die Wiedergefundene Zeit. Aus dem Franz. übers. von Eva Rechel-Mertens; revidiert von Luzius Keller, Frankfurt am Main 2004, S. 301).
Zur Selbstverortung des Comics im Kontext der Künste II
143
macht so darauf aufmerksam, wie abhängig die erfahrene Welt von ihrer Sichtweise ist.6 Bedingt durch die Thematik der Imagination und Erinnerung, kommt Innenräumen als Metaphern des Psychischen eine besondere Bedeutung zu. Proust knüpft damit an eine weitläufige sowohl literarische als auch bildkünstlerische Tradition an; Heuet folgt seinen Vorschlägen. Die einzelnen Künste bespiegeln sich bei Proust wechselseitig; Malerei und Gemälde nehmen entsprechend breiten Raum ein.7 Doch nicht nur Prousts Auseinandersetzung mit der bildenden Kunst verschiedener Epochen hat sein literarisches Werk geprägt. Er interessierte sich für BildProduktionsmaschinen aller Art: für Stereoskope, Kinetoskope, Teleskope, Mikroskope und Röntgenapparate. Prousts ganzes Zeitalter stand im Zeichen der Faszination durch Bilder und visuelle Erfahrungen, bedingt nicht zuletzt durch die schnelle und vielseitige Entwicklung technischer Medien zur Erzeugung und Speicherung von Bildern. Vor allem mit der Verbreitung der Photographie und der Erfindung des Films expandierte die Bilderwelt auf folgenreiche Weise: Man gewöhnte sich daran, anders und anderes zu sehen. Zudem thematisierte ja auch die Malerei des Impressionismus auf neuartige Weise den Sehprozess als solchen und seine produktive Auseinandersetzung mit Sinnesdaten. Ein Bildmedium, mit dem das Thema Erinnerung eng assoziiert ist, ist die Photographie. Proust war fasziniert von photographischen Bildern. In seinen Briefen findet sich eine Fülle von Bitten um Photos und von Danksagungen für entsprechende Zusendungen, und in der Recherche wird die Photographie zum Medium – und insofern nicht zuletzt zum Sinnbild der 6
7
»Par l’art seulement, nous pouvons sortir de nous, savoir ce que voit un autre de cet univers qui n’est pas le même que le nôtre et dont les paysages nous seraient restés aussi inconnus que ceux qu’il peut y avoir dans la lune. Grâce à l’art, au lieu de voir un seul monde, le nôtre, nous le voyons se multiplier, et autant qu’il y a d’artistes originaux […].« (Marcel Proust, À la recherche du temps perdu, Bd. 4, S. 474) – »Durch die Kunst nur vermögen wir aus uns herauszutreten und ebenso uns bewußt zu werden, wie ein anderer das Universum sieht, das für ihn nicht das gleiche ist wie für uns, und dessen Landschaften uns sonst ebenso unbekannt geblieben wären wie die, die es möglicherweise auf dem Monde gibt. Dank der Kunst verfügen wir, anstatt nur eine einzige Welt – die unsere – zu sehen, über eine Vielheit von Welten, das heißt, über so viele, wie es originale Künstler gibt […].« (Marcel Proust, »Erzählen: Marcel«, in: Ders., Das Thema der Kunst in Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Eine Textauswahl in der Übers. von Eva Rechel-Mertens. Zusammengest., eingel. und mit einem Essay von Rolf Günter Renner, Mainz 1992, S. 144–214, hier S. 190). Vgl. dazu ebd., S. 11 f.
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Funktionen, die das Erzählen selbst übernehmen soll.8 Proust vergleicht insbesondere die ›mémoire involontaire‹ mit einem Reservoir photographischer Negative, die nicht entwickelt und deren Bilder daher nicht sichtbar wurden. Allerdings können die Negative nachträglich entwickelt werden; unbewusste Erinnerungen können geborgen werden; es ist nur ungewiss, ob und wann dies geschieht.9 Und im einleitenden Kapitel werden die durcheinander wirbelnden Erinnerungsbilder, die den Erzähler an der Grenze zwischen Schlaf und Wachzustand heimsuchen, mit den dicht aufeinander folgenden Bildern eines Kinetoskops verglichen.
Auf der Suche nach dem passenden Bild: Heuets Visualisierungsprojekt Knüpft Proust mit seiner Thematisierung von Zeit und Erinnerung an eine lange Metapherngeschichte der Bilder und Bildmedien an, so steht eine zeichnerische Umsetzung des Romans nicht zuletzt vor der Aufgabe einer Visualisierung eben dieser Metaphern – also einer Rückübersetzung von sprachlichen Bildern in sichtbare Bilder. »J’ai eu la révélation que Proust était d’abord un homme d’image, que ›La Recherche‹ était une œuvre très visuelle«, so bemerkt der Comic-Zeichner Stéphane Heuet in einem Interview mit Eric Chaurin, in dem es um Heuets großangelegtes Projekt einer Comic-Version von À la recherche du temps perdu geht.10 Dass es bei Proust immer wieder um Werke der bildenden Kunst, um Bilder, Bilderzeugungsverfahren und die Wahrnehmung von Bildern geht,11 ist für Heuets Interesse an diesem Roman maßgeblich. Ihm geht es um eine Visualisierung der von Proust narrativ dargestellten Abenteuer des Blicks und der Imagination.
8
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10 11
»[…] la photographie«, so schreibt er etwa 1920, »immobilise et arrête la beauté de la femme. Mais n’est-il pas précisément beau d’immobiliser, c’est-à-dire d’éterniser un moment radieux.« (Marcel Proust – l’écriture et les arts, S. 97). Vgl. Aleida Assmann, Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 1999, Sonderausgabe 2003, S. 17. Chaurin, »Entrevue avec Stéphane Heuet«. Zu den Erinnerungen des Erzähler-Ichs gehören insbesondere solche an Begegnungen mit bildkünstlerischen Werken. Diese haben teilweise leitmotivische Funktion. In vielfältiger Weise wird auf Werke der verschiedenen visuellen Künste Bezug genommen: auf die Malerei, auf die Plastik, auf die Architektur. Verschiedene Personen, die der Ich-Erzähler beschreibt, werden mit Kunstwerken verglichen, als Gegenstände von Porträts beschrieben, ja förmlich als lebendig gewordene Bildwerke wahrgenommen.
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Nicht-lineare Narrationen wie die Recherche stellen den paraphrasierenden Zeichner vor eine besondere Herausforderung: Wie stellt man im Rahmen einer (Bild-)Geschichte Zeitliches so dar, dass die verschiedenen Zeitstufen der Vergangenheit und der Gegenwart keine lineare Reihe, sondern ein komplexes Geflecht bilden? Einerseits kommt das Medium der Bildgeschichte einer solchen Entlinearisierung entgegen, lassen sich doch gerade durch bildliche Repräsentationen zeitlich entfernte Momente aneinanderrücken, Erinnerungs- und Imaginationsprozesse durch entsprechende bildkompositorische Verfahren visualisieren. Andererseits stellt gerade Prousts Roman den Zeichner vor das Problem, das dichte Netzwerk der romanimmanenten Teilgeschichten beschneiden zu müssen, damit kein Ensemble aus einzelnen Bilderbögen entsteht. Die für die literarische Narration zentrale Instanz des Ich-Erzählers – als gezeichnete nur eine Figur unter anderen – muss in der Bilderzählung funktional durch Struktur und Anordnung der Panels ersetzt werden. Heuet reduziert die Komplexität der Romanerzählung erheblich; er erzählt in Teil I–III im Wesentlichen die Geschichte des Erzählers »Marcel«, in Teil IV die Swanns.12 Seine Bildsprache erinnert an die Winsor McKays und dessen Comics über Little Nemo, der allnächtlich ins »Slumberland« aufbricht, wo er immer neue Abenteuer erlebt; sie bedient sich bei der Figurendarstellung geläufiger Stilisierungen, greift konsequent, aber dezent auf comicspezifische ikonische und symbolische Zeichen zurück und erzeugt räumliche Effekte durch abwechslungsreiche Ausnutzung perspektivischer Darstellungstechniken. Leitmotive stiften Querverbindungen zwischen den einzelnen Panels und korrespondieren dem Strukturmodell der Wiederholung und wiederholenden Variation, wie es für den Roman selbst prägend ist.13
12
13
Vgl. dazu das Interview Chaurins mit Heuet: »Je suis obligé de couper beaucoup de textes parfois très beaux. Ils sont même parfois plus beaux que d’autres que je dois conserver pour les besoins de la narration. Je vous jure qu’il y a des moments où je hais les contraintes techniques de mon éditeur. Cela dit, les lecteurs de la bd savent que c’est plus court quand ils l’achètent. Si j’avais dû conserver le texte intégral, l’album aurait l’épaisseur d’un annuaire. Pour autant, ce n’est pas un digest, une sorte de Proust facile. Mais il est certain que celui qui aura lu la bd n’aura pas lu À LA RECHERCHE DU TEMPS PERDU …« (Chaurin, »Entrevue avec Stéphane Heuet«). Solche Leitmotive sind Tür, Tor, Brücke, Treppe und Weg; sie alle tauchen in vielfacher Modifikation auf.
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Bildzitate Der Comic stützt sich auf ein teils privates, teils öffentliches Bild-Archiv, ganz so, wie Proust selbst es getan hat. Dessen Darstellungen der einzelnen Figuren, Objekte, Landschaften und Innenräume gehen vielfach auf identifizierbare Bildvorlagen zurück. Hierzu gehören vor allem Photos aus dem Leben Prousts, aus der Alltagswelt seiner Zeit, aber auch aus der Welt der Kunst. Heuet transferiert die von Proust verwendeten, literarisierten Bilder ins Visuelle zurück. Die Darstellung des Protagonisten, der im Comic ja eine sichtbare Physiognomie bekommt, nimmt Photoporträts von Proust zum Vorbild, sofern es um den erwachsenen Marcel geht. Schauplätze (Paris, Venedig, die nordfranzösische Küstenlandschaft), Requisiten (Kleider, Interieurs, Gebrauchsobjekte) und andere Figuren sind ebenfalls mit erheblicher Detailversessenheit nach Photographien gezeichnet. Die graphische Darstellung von Erinnerungsprozessen, bei denen es um Bilder geht, spielt eine besonders wichtige Rolle. Nicht allein, dass sich natürlich die Erinnerung an Bilder besonders gut visuell darstellen lässt – Heuet lässt seine eigenen graphischen ›Wiederholungen‹ von Bildern, die der Leser kennt, in eine Analogiebeziehung zu Marcels Suche nach den Bildern seiner Vergangenheit treten. Das ›wiederholte‹ Bild, das innerhalb des Comics die Erinnerungen Marcels visualisiert, stellt als auch vom Leser wiedererkanntes Bild ein Bindeglied zwischen den Erinnerungen Marcels und denen des Comic-Lesers dar: Unsere Erinnerungen – so Prousts von Heuet affirmierte These – sind ein Bildarchiv.14 Die hier gespeicherten inneren Bilder sind teilweise auf der Basis sinnlicher Eindrücke zustande gekommen, teilweise auch von Erzählungen abgeleitet. Sie befinden sich in einem Prozess ständiger Bewegung und Transformation. Unter den äußeren Bildern, auf deren Grundlage die Bilderproduktionsmaschine des imaginierenden Ichs in Gang gehalten wird, nehmen die der Kunst eine besonders prominente Stellung ein, da sie – laut Proust – in buchstäblichem Sinn ›prägnant‹ sind: Sie repräsentieren eine spezifische, vom Betrachter erlernbare Art, die Welt zu sehen.
14
Vgl. Hans Belting, »Der Ort der Bilder«, in: Ders./Lydia Haustein (Hrsg.), Das Erbe der Bilder. Kunst und moderne Medien in den Kulturen der Welt, München 1998, S. 34–53.
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Abb. 28: Darstellung des Hotels zu Balbec bei Heuet (À l’ombre des jeunes filles, Bd. I, S. 20). Lichteffekte, vor allem Reflexionen, spielen eine zentrale Rolle in Heuets Arrangement. Die Szenen im Hotel zu Balbec illustrieren exemplarisch die Semantisierung von Farben und Farbtönen. Die innerhalb des Gebäudes tafelnde gute Gesellschaft erstrahlt in festlichem Glanz, die von außen durch die Scheiben spähenden einfachen Leute sind in Grauwerten porträtiert, auf die durch das Licht von innen ein hellgelber Schein fällt. Das Hotel selbst in seiner Lage am nächtlichen Meer und von einem Feuerwerk überstrahlt, erinnert an Filmbilder der »Titanic« auf nächtlicher Fahrt. Aber diese Bildsequenz ist nicht nur ein Zitat der verschiedenen »Titanic«-Filme, sondern sie erinnert auch an diverse impressionistische Gemälde, die Proust kannte und die auf seine Bewertung der zeitgenössischen Malerei wie auf seinen Darstellungsstil Einfluss genommen haben.
Schrift-Bilder Auf den Anteil der Schrift an gezeichneten Erzählungen legt Heuet besonderen Wert: »Tout d’abord, la bande dessinée est aussi une bande écrite. A l’inverse du cinéma, elle permet de conserver l’écriture de Proust, son style, son esthétique, avec ses mots, ses métaphores qu’il faut lire et relire à son rythme.«15 Die Gestaltung der Textanteile der Comic-Erzählung ist 15
Zu den grundsätzlichen Möglichkeiten, einen literarischen Text in einen Comic zu transponieren, bemerkt der Zeichner: – »Enfin, la mise en images des descriptions
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Abb. 29: Der Text über Martinville im Rahmen der Bildseite (Heuet, Combray, S. 70).
dabei betont konventionell und dezent: Die Textflächen sind entweder als abgegrenzte, gelb unterlegte Felder in die Bildfelder einkomponiert; dann repräsentieren sie den Erzählerbericht – oder sie haben die Form von Sprechoder Denkblasen, welche die Figurenrede wiedergeben. Die ›Erzähler‹Texte in den gelben Feldern sind allesamt Zitate aus Prousts Roman, welche beim Transfer in die Panels allenfalls kleinen Modifikationen unterzogen de Proust me permet de gagner beaucoup de texte. S’il décrit un immeuble en détail, cela peut prendre quatre pages, là un dessin suffit. Je gagne du texte sans perdre d’information.« (Chaurin, »Entrevue avec Stéphane Heuet«).
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wurden.16 (Heuet hat aber natürlich keineswegs den kompletten Text der Recherche in seinen Comic übernommen, sondern nur ausgewählte Passagen.) So wichtig Bilder und Bildtypen verschiedener Art als Themen und Ausdrucksmedien innerhalb der gezeichneten Paraphrase sind – die Schrift kann als eine weitere Protagonistin gelten, welche den Gang der gezeichneten und getexteten Geschichte bestimmt. Dafür nur ein Beispiel: Die Initiation des Romanprotagonisten und Erzählers Marcel in die Schriftstellerei – und damit eine wichtige Selbstthematisierung der Literatur innerhalb des Romans – verbindet sich mit einem Ausflug, dessen Impressionen Marcel schreibend festhält – in einer Prosaskizze über die Glockentürme von Martinville. Heuets Bilderzählung paraphrasiert den Ausflug und Marcels Schreibprozess (mit dem Proust selbst die Spiegelungsbeziehung zwischen von beweglichen Beobachterstandorten abhängiger visueller Wahrnehmung und ›perspektivischer‹ sprachlicher Darstellung bekräftigt). Marcels Beschreibung der Türme ist – ergänzend zu eher skizzenhaft wirkenden zeichnerischen Darstellungen – als ›handschriftlich‹ gestaltete Textfläche in das Panel integriert.17 (In die gezeichnete Szene ist übrigens das Leitmotiv der Laterne integriert, das bei Proust wie bei Heuet autoreferentielle Funktion besitzt, s. u.) Signalfarben des Erinnerungsprozesses sind insbesondere verschiedene Blautöne, wie sie vorzugsweise bei der zeichnerischen Darstellung des Erinnerns zum Einsatz kommen. Die Wahl der Farbe Gelb für die narrativen Textfelder des Comics (die Sprech- und Denkblasen sind weiß unterlegt) indiziert als solche bereits ein Komplementaritätsverhältnis zwischen bildhaftem Erinnern und Erzählerbericht: Blau- und Grauwerte sind den Erinnerungs-Bildern zugeordnet, das die Erinnerungen revozierende Gelb der Sprache des Erzählers. Fast ausnahmslos bleiben die Bilder der einzelnen Panels präzise gerahmt. Dies mag als Erinnerung an die Buchseiten der literarischen Vorlage, an die buchtypische rechteckige Rahmung alles dargestellten Geschehens gedeutet werden.
3.2
Sehen (A): Das Auge als Protagonist
Das Auge ist Protagonist bei Heuet, wie die erste und die letzte Seite des ersten Bandes zeigen: Das Motiv des verselbständigten Augenpaars wird als Leitmotiv eingesetzt. Parallelmotiv zum Auge ist das des Fensters (Metapher 16
17
Vgl. das Interview mit Chaurin: »J’ai défini une sorte de ›charte graphique‹: dans les cases de couleur beige, en »voix off«, il s’agit, hormis les coupes, intégralement de Proust; dans les bulles, il y a du Proust et du Heuet. Là encore, pas d’erreur possible: quand c’est Proust, c’est beau; quand c’est moi, ça l’est beaucoup moins.« (Ebd.). Heuet, Combray, S. 70.
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des Auges) – ein Hinweis auf die Bedeutung sprachlicher Metaphern für den Zeichner.18 Über das Spiel mit dem doppelten Leitmotiv von Auge und Fenster geht es immer wieder um die Beziehung von Außen und Innen, von Erfahrung und Imagination. Als Sequenz visualisieren die Bilder des ersten Panels die in der Einleitung zur Recherche erörterten Prozesse der Ich-Entgrenzung und der Verwandlung. Aus realistisch gezeichneten Elementen zusammengesetzt, stellen sie keine realistischen Szenen dar, sondern sie illustrieren jeweils die Komposition von Wirklichkeit aus heterogenen Elementen – im Übergang von bewusstlosen zu bewussten Zuständen. Eine Pointe, die nur der Leser des vollständigen Proust’schen Textabschnitts erfasst, liegt darin, dass die Zeichnung auch das visuell darstellt, was sie nicht zitiert: das Erzählen. Im Text Prousts folgt nämlich die von Heuet nicht mehr zitierte Bemerkung, Gegenstände der Erinnerung an verschiedene Orte seien sowohl solche Dinge gewesen, die der Erzähler selbst gesehen, als auch solche, von denen man ihm erzählt habe.19 Das sich unterhaltende Paar als Bildmotiv auf der ersten Seite ersetzt den nicht explizit zitierten Satz Prousts – als Darstellung des ›Erzählens‹.
3.3
Sehen (B): Rahmen und Rahmendurchbrüche und die Bildgeschichte als Kunstkabinett
Nicht nur aus gemalten Bildern steigen manche Figuren Prousts scheinbar heraus, sondern auch aus Bildern anderer Art. So trifft der phantasiebegabte Marcel Madame de Guermantes, die er zuvor auf einem Kirchenfenster abgebildet gesehen und dann in die Figur einer erdachten Szene verwandelt hat, schließlich im Schlosspark.20 Sehprozesse an rahmenden Schwellen ver18
19 20
Der Combray-Band (S. 72) endet programmatisch mit einem Fensterbild, À l’ombre des jeunes filles en fleurs (Bd. I, S. 5) wiederholt die Motive des geschlossenen Fensters und des Auges. Vgl. Proust, Recherche, Bd. I, S. 7. Heuets Panels werden häufig zu Rahmen für zitierend dargestellte Werke von Malern; zugleich bedienen sie sich solcher Strukturmuster aus der Geschichte der Malerei, die mit dem Konzept des Rahmens spielen. Die Darstellung von Gemälden auf Gemälden und allgemeiner noch die Darstellung von Rahmen ist in der Malerei eine wichtige Strategie der Selbstthematisierung. In diesem Kontext verweist insbesondere das Motiv des aufbrechenden, überschrittenen oder zur Schwelle umfunktionierten Rahmens auf ein autoreflexives Spiel mit der Dichotomie von Bild und Wirklichkeit, mit einem Eigen-›Leben‹ der Bilder oder mit der Idee eines ›Einstiegs‹ ins Bild.
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Abb. 30a und b: Das Sehen wird von Proust und von Heuet vielfach thematisiert (Combray, S. 3, S. 72). Prousts Roman selbst setzt mit einer Reflexion über das Erinnern ein, das als Blick in die Vergangenheit modelliert wird. Rückblickend schildert der Erzähler Zustände zwischen Schlaf und Wachen, in denen er zunächst weder den Ort seines Aufenthalts noch sich selbst zu identifizieren vermochte.21 In solchen Zuständen scheitert die Abgrenzung des Ichs gegen die Welt, und das Bewusstsein verschmilzt mit den Räumen seiner Umgebung und mit denen der Erinnerung. Erst allmählich tasten sich die Sinne an die realen Gegenstände wieder heran; Wahrgenommenes und Erinnertes entdifferenzieren sich. Wenn sich das Ich beim Erwachen immer erst selbst wiederfinden, sich in einem zunächst ungeordneten Diffusionsraum von Erinnerungen und Sensationen neu konstituieren muss, so spiegelt dieser Prozess in komprimierter Form die Genese jedes Individuums wie auch die jeder Gattung durch Ausdifferenzierung. Prousts Erzähler spricht explizit von Erinnerungsbildern, akzentuiert also vor allem die visuelle Dimension dieser fluktuierenden Materie, aus denen an der Grenze zwischen Traum und Wachen ein Ich entsteht, und vergleicht die durcheinanderwirbelnden Bilder der Erinnerung mit denen eines Kinetoskops.22 (Angespielt ist 21
»[…] et quand je m’eveillais au milieu de la nuit, comme j’ignorais où je me trouvais, je ne savais même pas au premier instant qui j’étais;« (Proust, Recherche, Bd. I, S. 5) »[…] und wenn ich mitten in der Nacht erwachte, wußte ich nicht, wo ich mich befand und deshalb im ersten Augenblick nicht einmal, wer ich war […]« (Proust, Suche nach der verlorenen Zeit, Bd. 1, S. 10).
22
»Ces évocations tournoyantes et confuses ne duraient jamais que quelques secondes; souvent ma brève incertitude du lieu ou je me trouvais ne distinguait pas mieux les unes des autres les diverses suppositions dont elle était faite, que nous n’isolons, en voyant un cheval courir, les positions successives que nous montre le kinétoscope.« (Proust, Recherche, Bd. I, S. 7) »Diese verworrenen, ineinanderkreisenden Erinnerungsbilder hielten mich jeweils nur ein paar Sekunden an; meine kurze Unsicherheit über den Ort, an dem ich mich befand, unterschied ebenso wenig die einzelnen Vermutungen, aus der sie bestand, wie wir die einander ab-
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Der Comic im Spiegel anderer Darstellungsmedien und Künste
hier auf ein photographisches Verfahren, bei dem verschiedene Momente eines Bewegungsablaufs so kurz nacheinander aufgenommen werden, dass die Bilderfolge den Bewegungsablauf darstellt. Heuet zeichnet gelegentlich solche Bewegungsabläufe – als eine weitere Hommage an ein spezifisches Bildproduktionsverfahren.)
Abb. 31: Marcel im Bett (Heuet, Combray, S. 3). Lange, so beginnt der Erzähler seinen Bericht, sei er früh schlafen gegangen. Wir sehen die Zeichnung eines geschlossenen Fensters, dargestellt von außen, als Bestandteil einer Hausfassade. Visualisiert wird dadurch die Idee eines herzustellenden Einblicks in einen Innenraum – in den der Psyche des Erzählers, die sich auch bei Proust vielfach in Interieurs spiegelt. Bespiegelt Proust den Erinnerungsprozess als eine Bildfolge, so enthält komplementär dazu Heuets Zeich-
lösenden Stellungen eines laufenden Pferdes isolieren, die das Kinetoskop uns zeigt.« (Proust, Suche nach der verlorenen Zeit, Bd. 1, S. 12 f.).
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nung eine versteckte Hommage an die Suggestionskraft von Wörtern. Wir sehen einen im Bett sich aufrichtenden kleinen Jungen; seine Silhouette ist wie der ganze Raum Projektionsfläche von Lichtstreifen, welche von einer Jalousie zu kommen scheinen: eine Anspielung auf die ›jalousie‹ (Eifersucht) als wichtiges Thema des Romans. Die Zeichnung ist zugleich Revokation des Little Nemo, dessen phantastische Traumabenteuer damit zu enden pflegen, dass er erwacht. – Auch der dritte ins Bild gesetzte Satz gilt dem Thema Erinnerung, die hier als Voraussetzung dafür erscheint, dass das Ich überhaupt aus dem Nichts auftaucht. Heuet zeichnet mehrere einander überblendende Interieurs, in deren Mitte ein Augenpaar schwebt; Blau- und Blaugrüntöne verweisen symbolisch auf Traum und Imagination. (Die Augen erinnern an Porträts von Proust, sind anders als dort aber blau.) Als Visualisierung der Suche des Erwachenden nach sich selbst zitiert Bild 4 das Hauptmotiv erneut: Ein Augenpaar durchdringt auch hier das Bild, wobei die Augenfarbe vom Traum-Blau zum Braun gewechselt hat. Der erinnerte Raum hat sich ausgeweitet. Statt der Interieurs sehen wir Elemente von Landschaften: ein Meer, über dessen Horizont sich als Elemente anderer Kontexte der Eiffelturm, ein Zeppelin und ein Doppeldeckerflugzeug erheben, das Tor einer Kaserne (das Motiv verweist antizipatorisch auf die Freundschaft mit Saint-Loup) und das Grand Hotel von Balbec, das später noch mehrfach dargestellt wird – schon hier übrigens in der Schieflage eines im Meer versinkenden Schiffs. Das im ersten Bild gezeigte Fenster wiederholt sich ebenfalls, und zwar als Fenster ohne Läden, platziert in der rechten oberen Ecke des Bildes, einer Briefmarke ähnlich. Wiederum in das Blau der Imagination getaucht, zeigt das fünfte Bild skizzenhaft eine typische Venedig-Vedute: San Giorgio Maggiore von der Piazetta aus gesehen, Gondeln, ein Stück Lagune. Neben den Gondeln tauchen – auf andere Kontexte verweisend – weitere Fortbewegungsmittel im Bild auf: eine Pferdekutsche, ein Kanu, ein Automobil. Links unten, relativ weit vorne im Bild, sieht man ein Taubenhaus, das zum einen an die ländlichen Stätten der Kindheit des Erzählers erinnert, zum anderen aber auch assoziativ mit der Idee des Briefverkehrs verknüpft ist. Das Thema des Transports, des Transfers, des Übergangs wird also auf verschiedenen Ebenen und mittels mehrerer Motive ins Bild gesetzt. Nicht zuletzt durch Darstellung eines Dialogs: Rechts unten, im Vordergrund unterhält sich ein festlich gekleidetes Paar.
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Der Comic im Spiegel anderer Darstellungsmedien und Künste
Abb. 32: Die Kirche von Balbec im Vergleich mit Darstellungen in einem illustrierten Reiseführer (Heuet, À l’ombre des jeunes filles, Bd. I, S. 8).
weisen so stets auf den konstitutiven Anteil von Imaginationen und Interpretationen an der Wirklichkeit. Heuet erzählt die Rahmendurchbrüche der Proust’schen Figuren nach: Das Mädchen Albertine, das Marcel im Umfeld des Malers Elstir kennenlernt, erscheint dem Helden bei Heuet zunächst gerahmt durch ein Fenster,23 und dies deutet die Künstlichkeit des Bildes an, das er sich im Folgenden von dem Mädchen machen wird. Der Zeichner platziert seine Figuren immer wieder vor Rahmen, lässt sie Bilder betrachten, stellt Bühnen-Räume als Schauplätze dar, visualisiert die Vogelflugperspektive, zeigt seinen Figuren das eigene Spiegelbild, lässt sie aus Fenstern heraus- oder in Fenster hineinschauen etc. Motive wie Fenster, Spiegel und Photo werden wiederholt auch gekoppelt, so etwa in der Episode um Mademoiselle Vinteuil, welche selbst das Photo ihres Vaters betrachtet und sich ihrerseits von diesem beobachtet fühlt, sich im Spiegel betrachtet und mit ihrer Freundin Schatten auf einen Vorhang wirft – bei all dem von Marcel beobachtet. Heuet lässt seine Hauptfigur die Kirche von Balbec besichtigen und mit der Darstellung in einem illustrierten Buch vergleichen24 – eine Selbstthematisierung des zeichnerischen Darstellungsprozesses, der vor allem das Miteinander von Bild und Text ins Bild setzt. Analoges gilt für eine frühere Szene, die darstellt, wie der Maler Elstir dem Helden von Balbec erzählt; Elstirs Gesten stehen hier für die verbale Bildbeschreibung. 23 24
Vgl. das Titelbild von Heuets À l’ombre des jeunes filles, Bd. II. Ebd., Bd. I, S. 8.
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Abb. 33: Der Maler Elstir schildert die Kirche von Balbec (Heuet, À l’ombre des jeunes filles, Bd. II, S. 16).
Geht es bei Proust darum, dass Werke der bildenden Kunst den interpretierenden Blick auf die sich ihnen im Wahrnehmungsprozess assimilierende Welt erschließen und lenken, so inszeniert der Zeichner die Analogie zwischen künstlerischer ›Vorahmung‹ und sich assimilierender Wirklichkeit durch Bildparallelen: Hier das Kunstwerk als ›Urbild‹, dort das außerkünstlerische Objekt als ›Abbild‹.
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Der Comic im Spiegel anderer Darstellungsmedien und Künste
Abb. 34: Elstirs Seestücke (Heuet, À l’ombre des jeunes filles, Bd. II, S. 15). Wie bei Proust ist der Maler Elstir auch bei Heuet eine zentrale Gestalt. Sein Atelier ist auf dem Cover des zweiten Bands von À l’ombre des jeunes fille und innerhalb des Bandes auf einer ganzen Folge von Seiten dargestellt und dabei Schau-Platz in dem doppelten Sinn, dass wir dem Protagonisten jeweils beim Schauen zuschauen;25 es wird also in einer Weise dargestellt, die dem autoreflexiven Bildgenre des Kunstkabinetts entspricht. Durch komplexe Kompositionen aus Bildern, Bilderrahmen und Fensterrahmen schafft hier die durch ihre Rahmungsstrukturen geprägte Gattung der Bilderzählung in Anspielung auf malerische Selbstthematisierungen eine mise en abyme ihrer selbst. Elstirs Malstil, insbesondere seine Meerbilder (»images de la mer«26) erfahren durch rahmende Hervorhebung und durch den Einsatz eines spezifischen Zeichenstils (der als Zitat Elstir’scher Malweise gelesen werden soll) eine besondere Hervorhebung, welche der in Prousts Roman entspricht, wo es ja um den spezifischen Stil dieses Malers geht. Elstir, der in der Lage ist, die Sphäre des Meeres so darzustellen, als handle es sich um das Land, das Land hingegen wie die See, ist Meister der künstlerischen Transformation (»métamorphose«27) und in dieser Eigenschaft ein zentraler Repräsentant der Kunst im Roman. Zugleich ist sein Malstil – von dem sich Heuet bemüht, dem Betrachter einen Eindruck zu verschaffen, so schwer dies ist – Inbegriff eines metaphorischen Überblendungsverfahrens, bei dem jeweils das eine durch das andere (das Meer durch das Land als seine Metapher, das Land durch das Meer als seine Metapher) in den Blick gerückt wird.
25 26 27
Vgl. ebd., Bd. II, S. 4 f., S. 14–18, S. 35. Ebd., S. 4 f. Ebd., S. 15.
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Abb. 35: Die »Caritas« von Giotto und das Dienstmädchen (Heuet, Combray, S. 34 f.).
Prousts Welt ist von ›lebendigen Bildern‹ bevölkert. Ein schwangeres Küchenmädchen, das für die Familie des Erzählers arbeitet, wird wegen ihres sich bauschenden Gewandes, aber auch wegen ihrer eckigen und maskulin wirkenden Physiognomie mit der allegorischen Darstellung der Caritas von Giotto verglichen; namenlos bleibend, heißt sie im Roman entsprechend auch nur Charité. Der Erzähler erinnert sich anlässlich ihrer Gesichtszüge an die allegorischen Darstellungen der »Tugenden und Laster von Padua«, jene »männlich wuchtigen Jungfrauen oder besser Matronen, die in der Arenakapelle die Tugenden personifizieren«.28 (Proust hatte eine photographische Reproduktion der »Charité« an den Anfang seines Aufsatzes über John Ruskin in der Gazette des BeauxArts gestellt.29) Eine solche Interpretation der erfahrenen Wirklichkeit durch ein ästhetisches Modell erscheint als charakteristisch für die Gesamtanlage des Romans: Die Figur des Dienstmädchens wird beschrieben, als sei sie ein Abbild der Kunstwerke – in Verkehrung des platonischen Konzepts ästhetischer Mimesis. Charakteristisch für den Roman ist aber auch, dass mehrere Bildmedien miteinander interferieren, wo dem Betrachter ein Muster angeboten wird, an dessen Vorgabe er sich bei der interpretierenden Wahrnehmung der Wirklichkeit orientiert. Denn der Erzähler kennt die allegorischen Figuren von Padua nicht aus eigener direkter Anschauung, sondern nur durch das Medium von Photographien, die Swann ihm geschenkt hat. Proust selbst hat sich bei der Konzeption der Szene von solchen Photos anregen lassen. Und Heuet, der ihnen ein ganzes Panel widmet, zeichnet die allegorischen Figuren nach entsprechenden Photographien ab. Es folgt, begleitet von Zitaten aus dem Roman über allegorische Figuren, die Zeichnung von sechs steinernen Allegorien, in drei Fällen unter Einbeziehung des Schriftzugs, der die entsprechenden Allegorien benennt.30 Die Struktur allegorischer Darstellung als Kombination zwischen
28 29 30
Proust, Suche nach der verlorenen Zeit, Bd. 1, S. 120. Vgl. Marcel Proust – l’écriture et les arts, S. 83. Vgl. Heuet, Combray, S. 35.
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Der Comic im Spiegel anderer Darstellungsmedien und Künste
Bildnis und interpretierendem Schriftzug ähnelt der des Comics selbst, dessen Bilder durch Textpassagen ebenso ergänzt und kommentiert werden wie das allegorische Bildwerk durch seine Inscriptio. So beschwört der Comic seine eigenen medialen Vorläufer.31
3.4
Sehen (C): Bildtypen, Bilderzeugungstechniken, Bildsequenzen
Abb. 36: Eine Sequenz von Kirchenfenstern als Bilderzählung (Heuet, À l’ombre des jeunes filles, Bd. I, S. 7).
Kirchenfensterbilder haben den Charakter von Erzählungen, sind zu narrativen Folgen angeordnet oder stellen jeweils für sich selbst eine Geschichte dar. Damit sind auch sie Vorläufer des Comics. Ausführlich schildert schon Prousts Marcel die Kirche des Heimatortes Combray. Auf deren Glasfenstern fanden sich neben Szenen religiösen Inhalts auch Episoden aus der Geschichte der Region dargestellt – Episoden um Angehörige des Geschlechts der Guermantes, deren Nachfahren Marcel später kennenlernt – so als habe er das zunächst nur betrachtete Fenster passiert. Die Bedeutung des Kirchenfenstermotivs ergibt sich nicht zuletzt aus dem Proust’schen Vergleich des eigenen Romans mit einer Kathedrale. Bei Proust ist die Kirche, die vom Erzähler als ein von der umgebenden Welt abgeschlossener, gänzlich anders gearteter Raum charakterisiert wird, ein Gleichnis des Romans selbst. Die in dieser Kirche befindlichen Bilder, darunter ein Gobelin, der eine Krönungsszene zeigt, bei welcher die gerade gekrönte Es31
Im Fall der gezeichneten Allegorien geht es primär um den selbstreferentiellen Hinweis auf die Kombination von Bild und Wort. Die autoreflexive Dimension der Sequenz mit Allegorien der »Tugenden und Laster« betont der Zeichner durch die Verwendung eines analogen Farbtons für die Textfelder und für die Bildfelder. Abweichend von der sonstigen Farbgebung taucht er die Sequenz insgesamt ins ›Erzählergelb‹.
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Abb. 37: Kirchenfenster und Tapisserie einander gegenübergestellt (Heuet, Combray, S. 66). Von den Abenteuern des Sehens handelt besonders nachdrücklich der Bericht des Proust’schen Erzählers über die Kirche von Combray. Ausführlich beschrieben werden die Lichteffekte, welche durch unterschiedliche Beleuchtungsverhältnisse und durch das Farbenspiel der Kirchenfenster erzeugt werden. Die Kirchenfenster, als Fenster transparent für das wechselnde Licht und zugleich auch eigene Bilder enthaltend, sind als solcherart changierendes Medium bei Proust ein Gleichnis der literarischen Narration, bei Heuet aber zugleich eines für die Bilderzählung. Das Medium Comic beschwört hier seine Vorläufer: Die bunten Bildfelder der Kirchenfenster mit ihren klaren Untergliederungen in rechteckige Teilbilder formen als Bilder im Bild ein weiteres »Kunstkabinett«.
ther angeblich Züge einer früheren Angehörigen der Familie Guermantes trägt, stehen für die einzelnen Episoden des Romans, in dessen Gesamttableau Bilder in kleinerem Maßstab integriert sind. Heuet greift das mise-en-abyme-Modell auf. Er stellt nicht nur Bilder im Bild (Kirchenfenster, Gobelin) dar, sondern auch Räume des Übergangs: Treppen, von denen nicht absehbar ist, wohin sie führen. – Nicht nur die Tapisserien und Kirchenfenster von Combray stehen – als Beispiele einer erzählenden Bild-Kunst – für die Vorgeschichte der bandes dessinées. Auch die mehrfach dargestellten Plastiken in der Kirche von Balbec sind zu Sequenzen angeordnet (wobei sie als allegorische Darstellungen oder Heiligenporträts auch jeweils einzeln Geschichten erzählen können). Dass es sich bei den mit Plastiken geschmückten, bild-erzählerischen Kunstwerken um Kirchenportale handelt, verleiht ihnen eine zusätzliche Bedeutungsdimension: Sie markieren Schwellen, Orte des Übergangs nicht nur zwischen erfahrener und imaginierter Wirklichkeit, sondern auch zwischen Gegenwart und Vergangenheit. Schattenriss-Zeichnungen, die mehrfach vorkommen,32 erinnern teilweise 32
Zum Beispiel Heuet, À l’ombre des jeunes filles, Bd. 2, S. 12.
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Der Comic im Spiegel anderer Darstellungsmedien und Künste
ebenfalls an Formen sequentieller Bild-Narrationen – insbesondere an das Kinetoskop, das Proust als Metapher für die Mechanismen des Erinnerns erwähnt.
3.5
Hommagen an ›lebendige‹ Bilder und ihre Erzeugungstechniken: Film und Zauberlaterne
›Filmisch‹ wirken viele Erzählsequenzen bei Proust und bei Heuet schon deshalb, weil sie Objekte und Schauplätze in einer Weise ins Bild setzen, die wechselnden Kameraeinstellungen entspricht, und dabei viele Überblendungen arrangieren. Aber die Geschichte der Bildprojektionen wird noch weiter zurückverfolgt – bis zur Laterna Magica als der Vorläuferin des Filmprojektors. Die mittels einer Lichtquelle von der Zauberlaterne auf die Wand geworfenen Bilder sind auf transparenten Trägerplatten fixiert – ähnlich wie die später erfundenen Dias. Durch bewegliche Bildstreifen, welche es ermöglichen, schnell nacheinander wechselnde Bilder zu projizieren, lässt sich die Suggestion von Beweglichkeit und Lebendigkeit der projizierten Gestalten erzeugen.33 Proust selbst besaß eine Zauberlaterne. Zu den Bildstreifen aus seinen Beständen gehört die Darstellung der Geschichte der Geneviève de Brabant. Die Beschreibung der Lichtspiele einer Laterna Magica auf den ersten Seiten der Recherche Prousts ist eine Modellierung des Romans im verkleinerten Maßstab, abgestimmt auf die Thematik imaginativer Bildproduktion, auf die ›projektiven‹ Effekte der Erinnerung. Die Zauberlaterne des kleinen Jungen erzeugt Bilder aus Licht, welche in seinem Zimmer wie eine fremde Welt erscheinen. Seine Einstellung zu diesen Bildern changiert zwischen Faszination und Angst. Die abendlichen Vorführungen, die ihn von seinem Kummer über den Ausschluss aus der Erwachsenengesellschaft ablenken und trösten sollen, verschaffen ihm zwar intensive Eindrücke, doch zugleich empfindet er die Verfremdung seines vertrauten Zimmers durch die Bilder der Laterna Magica als beängstigend, ja als verstörend – was plausibel erscheint, wenn dieses Zimmer als Sinnbild für den Innenraum der Psyche fungiert. 33
Wegen ihres illudierenden Effekts war die Laterna Magica, die sich im 17. und 18. Jahrhundert großer Beliebtheit erfreute und noch im 19. Jahrhundert vielfach zum Einsatz kam, ebenso beliebt wie umstritten. Dass sie eingesetzt wurde, um die Erscheinung übernatürlicher Mächte zu simulieren, geht aus zeitgenössischen Berichten, aber auch aus literarischen Erzählungen (wie etwa aus Schillers Geisterseher) hervor. Bei romantischen Autoren wie Hoffmann und Bonaventura erscheint die Zauberlaterne als Sinnbild des poetischen Prozesses und steht daher in enger Beziehung zum Projekt ästhetischer Autoreflexion.
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Abb. 38: Die Laterna Magica (Heuet, Combray, S. 4).
Unmittelbar anschließend an die von Panel 1 visualisierten Reflexionen gelten die Erinnerungen des Erzählers den abendlichen Vorführungen mittels einer Laterna Magica. Die Passage des Romans, in der von deren Bildern erzählt wird, erscheint im Comic in stark gekürzter Form. Insbesondere die Empfindungen des Erzählers bei der irritierenden Verwandlung seines Zimmers in eine Projektionsfläche der Laterna-Magica-Bilder werden nicht explizit zur Sprache gebracht. Doch sie werden in den Darstellungen des kleinen Jungen visualisiert, dessen Gesicht – ohnehin durch die aufgerissenen Augen dominiert – Irritation, Angst, aber auch Faszination ausdrückt. In einem einleitenden Textfeld wird jener Satz Prousts zitiert, in dem sich die Erinnerung an die schmerzliche Zeit vor dem Zubettgehen als Zeit der bevorstehenden Trennung von Mutter und Großmutter artikuliert. Das erste Bild zeigt, wie der kleine Junge sich zu Bett begibt. Eine Dienerin (Françoise) zieht die Vorhänge zu und bereitet die Laterna Magica vor. Während der Junge die Bilder verfolgt, lauscht er der von seiner Großmutter verlesenen Geschichte, die auszugsweise in Sprechblasengestalt in die Bilder integriert ist. Die Bilder der Laterna Magica haben eigene, von den Farben des Zimmers abstechende Farbwerte – und so wird schon durch die
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Der Comic im Spiegel anderer Darstellungsmedien und Künste
kontrastive Kolorierung zwischen einer Wirklichkeit ersten und einer zweiten Grades unterschieden. Durch die zeichnerisch dargestellte Überblendung von Außen- und Innenraum erinnert die Bildsequenz an die visuelle Darstellung von ›Erinnerung‹ im ersten Panel. Dass die Bilder mit dem Text der verlesenen Erzählung unterlegt sind und beide zusammen die Geschichte ausmachen, deutet schon bei Proust auf das Komplementaritätsverhältnis von verbaler und bildlicher Erzählung hin. Grenzüberschreitungen zwischen Realität und Imagination vollziehen sich auf gleich mehreren Ebenen, denn auch innerhalb der vorgespiegelten Szenerie liegt Genoveva auf einer Heide und träumt. Golo hält – wie Prousts Erzähler berichtet – hier einen Moment an, um mit kummervoller Miene die Legende anzuhören, die meine Großtante vortrug und die er [=Golo] völlig zu verstehen schien, paßte er doch – mit einer Gefügigkeit, die eine gewisse Würde nicht ausschloß – seine Haltung den Angaben des Textes an. Dann entfernte er sich auf die gleiche ruckartige Weise. Und nichts vermochte seinen langsamen Ritt aufzuhalten. Wurde die Laterne verschoben, so gewahrte ich Golos Roß, wie es sich über die Vorhänge des Fensters hin weiterbewegte und sich in ihrem Faltenspiel hinaufwölbte und hinunterkrümmte.34 Diese (die Grenze zwischen zwei differenten Wirklichkeitsebenen) überschreitende Ergebenheit des bösen Golo in die Worte der lesenden Großmutter suggeriert eine Unterordnung des Bildmediums (Golo) unter den Erzähltext (Vorleserin): Das Bild tut, was die vorlesende Stimme ihm vorspricht. In Heuets Panel wird die Passage zwar nicht explizit zitiert, doch der Zeichner spielt auf sie zweifellos an, indem er die Bilder der Laterna Magica wie durch die Sprechblasen regiert erscheinen lässt. Hierin liegt eine implizite autoreflexive Aussage, da ja die Bilder des Zeichners ihrerseits dem Text Prousts gehorchen – und einen Bewegungsrhythmus besitzen, der nicht stetig ist, sondern ruckartig fortschreitet, Bild für Bild. – Das Eindringen fremder Bilder, welche den Innenraum völlig verwandeln und fremde Figuren in ihm agieren lassen, erscheint als Gleichnis einer Irritation, die aus der Unmöglichkeit einer sicheren Abgrenzung zwischen dem Inneren und der Außenwelt resultiert. Gleichzeitig verweisen diese Bilder aber auch auf die Möglichkeit einer Okkupation des (psychischen) Innenraums durch Bilder. Um diesen ihre Fremdheit zu nehmen, müsste der Betrachter sie dirigieren und ihr Spiel kontrollieren können. Stattdessen wird seine Seele, deren Metapher das vertraute Zimmer ist, zur Projektionsfläche abenteuerlicher Bildgeschichten. Die Verstörung Marcels drückt sich im Roman darin aus, dass sich 34
Proust, Suche nach der verlorenen Zeit, Bd. 1, S. 16 f. Orig.: »Golo s’arrêtait un instant pour écouter avec tristesse le boniment lu à haute voix par ma grand’tante et qu’il avait l’air de comprendre parfaitement, conformant son attitude avec une docilité qui n’excluait pas une certaine majesté, aux indications du texte; puis il s’éloignait du même pas saccadé. Et rien ne pouvait arrêter sa lente chevauchée. Si on bougeait la lanterne, je distinguais le cheval de Golo qui continuait à s’avancer sur le rideaux de la fenêtre, se bombant de leurs plis, descendant dans leurs fentes.« (Proust, Recherche, Bd. I, S. 10).
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für ihn die Genoveva-Legende vor allem auf die Figur des bedrohlichen Golo reduziert. Als die Vorführung beginnt, sehen wir zunächst das Gesicht des kleinen Jungen mit seinen aufgerissenen Augen, dann die Laterna Magica mit ihrem aus farbigen Nebeln bestehenden Schein, schließlich in drei Bildern Szenen der Genoveva-Legende, auf die Zimmerwand projiziert. Im ersten Bild ist das projizierte Bild noch gerahmt durch dunkle Bezirke, die zum ›richtigen‹ Zimmer gehören und die bunte Bilderwelt der Zauberlaterne begrenzen. Im zweiten haben die projizierten Bilder vom ganzen Raum Besitz ergriffen und füllen ihn ganz aus – passend zur Schilderung im Roman, wo von der Bewegung des reitenden Golo durch den Raum erzählt wird und von Golos hochgradiger Absorptionsfähigkeit, welche darin besteht, dass seine projizierte Licht-Gestalt alles schluckt und zu einem Stück seines eigenen Körpers macht, was zum Zimmer gehört, etwa den Türknauf, der plötzlich aus Golos Brust herauswächst. Der Zeichner verzichtet zwar auf die Umsetzung dieser Idee, doch er lässt die projizierten Bilder den Raum so intensiv erfüllen, dass die Zimmerwände sich nur noch als Striche in Erinnerung bringen, die von den Bildern der Laterne überspielt werden. Im dritten Bild dann steigt Golo aus dem Rahmen: aus seiner Bild-Sphäre in die Welt des kleinen Jungen. Visualisiert wird dieser Eindruck des Jungen zeichnerisch dadurch, dass die Golofigur mit einer Hand nach dem Jungen greift und in der anderen ein Messer hält; darstellungstechnisch befindet sie sich mit ihm auf einer Ebene. Sie sprengt mit Hand und Messerspitze sogar den Rahmen der Zeichnung, so dass deren Rand überschritten wird – und dies ist ein von Heuet extrem selten eingesetztes Stilmittel. Wiederum inszeniert der Zeichner also einen Prozess der Entgrenzung – wobei sich die Wände von Marcels Zimmer (die ja Sinnbilder seines psychischen Innen-Raums sind) diesmal nicht auf eigene Erinnerungen öffnen, sondern auf die fremde Welt einer mittelalterlichen Geschichte. Und wieder ist die Bildfolge als eine zeichnerische Reflexion über das Sehen angelegt: Der kleine Junge, dessen Gesicht buchstäblich fast nur aus Augen besteht, wird beim Sehen zunächst beobachtet, und dann sieht der Betrachter mit ihm, was das Licht der Zauberlaterne an Gestalten schafft. Auch innerhalb der kurzen Genoveva-Episode geht es um das Sehen, das Gesehenwerden und das Nichtsehen: Genoveva und ihr Kind verstecken sich hinter einem Gebüsch und beobachten zwei Reiter, welche die versteckten Figuren ihrerseits nicht sehen. Der natürliche Schutzraum um Genoveva variiert das Motiv des umhüllenden Zimmers.35
35
Dass die Geschichte Genovevas in Marcels Erinnerungen eine so tragende Rolle spielt, ist schon bezogen auf den Roman selbst damit erklärbar, dass die im Wald verborgene Heldin zum Sinnbild der verlorenen und wiedergeholten Erinnerung werden kann. Zugleich korrespondiert die mit ihrer Geschichte (auch in der Comic-Version) verbundene Mutter-Kind-Konfiguration dem leitenden Gedanken des kleinen Marcel an seine Mutter. Dass er in Genoveva ein Bild der eigenen Mutter sieht, wird im Roman selbst explizit deutlich, als er berichtet, die Mama sei ihm unter dem Eindruck des Verfolgers Golo nur noch teurer geworden.
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Der Comic im Spiegel anderer Darstellungsmedien und Künste
Dem ersten Band des Heuet-Comics ist die Laterna Magica als Emblem vorangestellt. Dies korrespondiert der Bedeutung, welche dieses optische Instrument im Kontext der Proust’schen Reflexionen über den Erinnerungsprozess besitzt. Im Bild dieses Apparats reflektiert die graphische Erzählung sich zugleich aber selbst in ihren medialen Eigenarten. Denn die Laterna Magica ist mit dem Comic durch grundlegende Gemeinsamkeiten verbunden: Hier wie dort sind es Bildfolgen, welche eine Geschichte erzählen, hier wie dort erzeugen die Bilder der erzählten Geschichte eine imaginäre Welt, die mit den Bildern der Alltagswelt konkurriert, hier wie dort geht es darum, verschiedene Dimensionen der Wirklichkeit aufeinander zu projizieren. Indem der Zeichner die Laterna Magica vor sein gesamtes zeichnerisches Unternehmen stellt, setzt er nicht zuletzt die Tradition fort, in die sich Proust selbst dezidiert eingereiht hatte: die der Bespiegelung der eigenen Darstellungsform in verwandten Medien, die zusammen mit ihren Bedingungen und Effekten ›ins Bild gesetzt‹ werden.36
36
Zur Verfahrensweise vgl. das Interview Heuets mit Chaurin: »Mon parti pris de départ, c’est de considérer l’ouvrage, en l’occurrence ›Combray‹, sous forme de scènes, de sketches successifs. Avant de traiter l’une de ces scènes, j’en isole les métaphores, afin de les préserver et de les intégrer tout au long de la scène telle qu’elle sera découpée dans la bd. Ensuite, je referme le livre et je réinvente, je réinterprète la scène de mémoire pour la faire vivre. J’effectue en fait une lecture impressionniste d’un livre lui-même impressionniste. Pour les besoins de la mise en scène, je transforme en style direct, ce qui est le plus souvent en style indirect. Par exemple, lorsque Proust écrit: ›Ma mère me dit d’aller me coucher‹; j’inscris ›Va te coucher‹ dans la bulle. En l’occurrence, je suis obligé de créer du dialogue, mais en restant le plus près possible du texte. Cela me permet aussi d’attirer l’attention du lecteur. Ce sont les seuls changements entre le texte original et celui de la bd.« – »J’ai essayé de faire du ›Tintin‹. Comme pour la typographie ou la mise en couleur, j’avais la volonté que tout ait l’air simple. Pour que le lecteur puisse se dire: ’Tiens. Ce Proust là, c’est facile comme du Tintin.’ J’ai essayé de mettre beaucoup de détails dans les décors, mais pas dans les personnages qui sont presque abstraits, épurés. Ainsi, le personnage principal du narrateur enfant fait-il plus penser à une sorte de Little Némo ou Françoise, la bonne, à Bécassine, qu’à des personnages de la bd contemporaine parfois très fouillés. Il y a bien sûr des dessins que j’aimerais redessiner parce que je les trouve moches, mais si c’était à refaire je referais la même chose. Même si certains peuvent penser que Proust mérite un traitement graphique très fouillé, je revendique la simplicité de mon dessin pour sa lisibilité.« (Chaurin, »Entrevue avec Stéphane Heuet«).
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3.6
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Das Thema Imagination: Die Inszenierung der Madeleine-Episode
Die vielleicht berühmteste Episode in der Recherche gilt dem Genuss eines Stücks Gebäck. Der Genuss des in Tee getauchten Sandkuchens, der ›Madeleine‹ genannt wird, löst im Erzähler jenen Prozess der Erinnerung aus, den er – an einen keltischen Aberglauben anknüpfend – mit dem Wiederfinden von in materielle Objekte gebannten Geistern vergleicht: Aus dem Duft und Geschmack des kleinen Kuchenstücks steigt die ganze Kindheitswelt von Combray auf. Über dieser ausdrücklichen Analogie zwischen animistischen Vorstellungen über wiedergefundene Geister und evozierten Erinnerungen könnte eine andere, nicht minder bedeutsame Analogie zunächst übersehen werden: die zwischen Marcels an den Genuss der Madeleine geknüpften Erinnerung und der Eucharistie.37 Lindenblütentee und Madeleine evozieren die Welt von Combray, weil der kleine Marcel ihren Geschmack von seinen Besuchen bei Tante Léonie kennt, die das lebendige Gedächtnis des ganzen Ortes ist, weil sie alles und jeden kennt und beobachtet. In der Comic-Version wird Marcel zunächst zu Tante Léonie zurückversetzt, bevor sich, von hier ausgehend, die Welt von Combray für ihn öffnet.38 Heuets Zeichnungen visualisieren den Erinnerungsprozess als einen ›Übergang‹, als Schwellenerfahrung. Das Motivfeld um Tore, Pforten und Transportvehikel dominiert das erste Panel:39 Durch ein geöffnetes Gittertor sieht man auf den Arc de Triomphe, also durch ein Tor auf ein weiteres; von der Seite nähert sich die Kutsche des Erzählers, der im folgenden das Haus betritt, einen Korridor durchschreitet, um dann in Panel 240 von seiner Mutter jenen Lindenblütentee mit Madeleine serviert zu bekommen, der auch im Roman zum Auslöser eines komplexen Erinnerungsprozesses wird. Auch in der gezeichneten Geschichte erstehen die Bilder von Combray aus jenem Duft, der durch das Eintauchen der Madeleine freigesetzt wurde. Allerdings verzichtet der Zeichner darauf, die japanischen Faltpapiere darzu37
38
39 40
Wenn der Genuss von Brot und Wein als Leib und Blut des Herrn von Christus selbst institutionalisiert wurden, so um der Erinnerung willen: »Tut dies zu meinem Angedenken« (Luk. 22, 17–19). Der Zeichner erhält Gelegenheit, das Zimmer der Tante auszustatten – und er nimmt diesen Anlass wahr, um anspielungsweise Analogien zu visualisieren. Auf dem Nachttisch der Tante steht unter anderem eine Madonnenfigur, mit der das Mutter-Kind-Motiv variiert wird; über ihrem Bett aber hängt ein Bild, winzig und erst auf den zweiten Blick erkennbar: eine Abendmahlsszene. Ebd., S. 14. Ebd., S. 15.
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Der Comic im Spiegel anderer Darstellungsmedien und Künste
Abb. 39: Die berühmte Madeleine-Episode bei Heuet (Combray, S. 15).
Heuet hat die Madeleine-Episode sorgfältig inszeniert. Für den Erzähler – so zitiert er aus Prousts Roman – reduziert sich Combray rückblickend lange Zeit auf wenige Räumlichkeiten; im Comic werden die entsprechenden Bemerkungen zitiert: »C’est ainsi que, pendant longtemps, quand, réveillé la nuit, je me ressouvenais de Combray, je n’en revis jamais que cette sorte de pan lumineux découpé au milieu d’indistinctes ténèbres.«41 – »Comme si Combray n’avait consisté qu’en deux étages reliées par un mince escalier, et comme s’il n’y avait jamais été que sept heures du soir.«42 – »De Combray, je n’aurais jamais en envie de songer à d’autres choses et à d’autres heures. Tout cela était en réalité mort pour moi.« – »Mort à jamais? C’était possible.«43 Das folgende große Bild zeigt die beiden Etagen und die sie verbindende Treppe im Haus zu Combray; der Über-
41 42 43
Heuet, Combray, S. 13, zwischen dem zweiten und dritten Panel. Ebd., zwischen dem dritten und vierten Panel. Ebd., beide nach dem vierten Panel.
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gang zwischen Ober- und Untergeschoss wird aber durch ein Textzitat gebildet: »C’est peine perdue de chercher à évoquer notre passé. Tous les efforts de notre intelligence sont inutiles. Il est caché hors de son domaine et de sa portée, en quelque objet matériel que nous ne soupçonnons pas.«44 Nicht der Wille, sondern der sinnliche Eindruck des Gebäcks ruft die Erinnerungen ab; sie gehören zu jener Sorte geheimnisvoller, weil verschüttete Erinnerungen bergender Objekte, von denen zuvor die Rede war – was zeichnerisch dadurch angedeutet wird, dass die Bilder, welche Tee und Gebäck zeigen, zunächst textfrei bleiben. In den folgenden Bildern begreift der Erzähler, dass durch den Geschmack der Madeleine Erinnerungen in ihm evoziert werden, und er beschreibt reflektierend diesen Evokationsprozess »… Un plaisir délicieux m’avait envahi, isolé, sans notion de sa cause.« – »D’où avait pu me venir cette puissante joie?« »Je sentais qu’elle était liée au goût du thé et du gâteau, mais qu’elle le dépassait infiniment, ne devait pas être de même nature.« – »Il est clair que la vérité que je cherche n’est pas en lui, mais en moi. Il l’y a éveillée …«/»Dix fois il me faut recommencer …« – »Certes, ce qui palpite au fond de moi, ce doit être l’image, le souvenir visuel, qui, lié à cette saveur, tente de la suivre jusqu’à moi.« »Arrivera-t-il jusqu’à la surface de ma claire conscience, ce souvenir, l’instant ancien …«45 Explizit wird das Evozierte hier als ›Bild‹, als visuelle Erinnerung charakterisiert. – Das zehnte Panel zeigt aus großer Nähe das Gesicht des Erzählers, der die Augen geschlossen hat, damit sich die inneren Bilder besser entfalten können. Wie aus der Vergangenheit herbeizitierte Gesprächsfetzen überlagern sich in seinem Gesicht gesprochene Worte: Stimmen aus der Kinderzeit, ein Gruß – »Bonjour, tante Léonie« –, Abb. 40: Detail der Madeleineein »Ruf« der verborgenen Erinnerungen. Episode (Heuet, Combray, S. 15).
44
45
Ebd., nach dem fünften Panel. – Die Seite endet mit dem Zitat: »Cet objet, il dépend du hasard que nous le rencontrions avant de mourir, ou que nous ne le rencontrions pas.« (Ebd.). Ebd., S. 15
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Der Comic im Spiegel anderer Darstellungsmedien und Künste
Abb. 41: Erinnerung bildlich in Szene gesetzt (Heuet, Combray, S. 16). Die folgende Seite stellt den Übergang von der Pariser Gegenwart ins Zimmer der Tante Léonie und nach Combray dar; jedem der drei Orte gilt je ein Bild. Das nächste Panel ist eine ganzseitige Darstellung von Combray, die schon durch ihre seitenfüllende Größe signalisiert, dass der Erzähler nun ganz in die Welt seiner Kindheit eingetaucht ist.46 Die Romanpassagen, welche diese Darstellung einer Reise in die Vergangenheit begleiten, enthalten unter anderem den Vergleich der sich entfaltenden Erinnerungen mit der Auseinanderfaltung kunstvoller japanischer Papierobjekte im Wasser, also eine weitere visuelle Metapher für die Erinnerung.47 Heuet schätzt das Bild von den sich entfaltenden japanischen Papierobjekten besonders.48 46 47
Ebd., S. 17. »Et tout d’un coup le souvenir m’est apparu./Ce goût c’était celui du petit morceau de madeleine que, le dimanche matin à Combray, ma tante Léonie m’offrait après l’avoir trempé dans son infusion de thé ou de tilleul …/… Et comme dans ce jeu où les Japonais s’amusent à tremper dans un bol de porcelaine rempli d’eau, de petits morceaux de papier jusque-là indistincts qui, à peine y sont-ils plongés,
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stellen, obwohl sie als plastische und sichtbare Objekte zu einer Zeichnung hätten einladen können. Aber es ist die Sequenz der Comic-Zeichnungen selbst, welche die Funktion der sich entfaltenden Papiere übernimmt und die Erinnerungen zurückholt. (Das Motiv der ›Entfaltung‹ ist bereits im Bild der Madeleine angelegt. Durch ihre Muschelform lässt diese die Möglichkeit assoziieren, in ihrem Inneren könne etwas Kostbares verborgen sein, das bei ihrer Öffnung zutage trete, und als Jakobsmuschel verweist sie zudem auf die Idee der Pilgerschaft, der Suche, des Unterwegsseins. Proust selbst hat als Auslöser des magischen Erinnerungsprozesses also durchaus ein Objekt gewählt, dessen visuelle Erscheinung für seine Bedeutung konstitutiv ist.)
48
s’étirent, se contournent, se colorent, se différencient, deviennent des fleurs, des maisons, des personnages consistants et/reconnaissables, de même maintenant toutes les fleurs de notre jardin et celles du parc de M. Swann, et les nymphéas de la Vivonne, et les bonnes gens du village et leurs petits logis et l’église et tout Combray et ses environs, tout cela qui prend forme et solidité, est sorti, ville et jardins, de ma tasse de thé.« (Heuet, Combray, S. 16 f.). Vgl. das Interview mit Chaurin: »Proust disait: ›L’image seule peut donner une sorte d’éternité au style‹. Les métaphores sont les phrases les plus évocatrices du style de Proust. Il s’en est servi pour exprimer des choses très complexes, en utilisant des termes simples et usuels afin de les rendre compréhensibles. Tout ça pour nous faire comprendre les mécanismes très complexes inhérents aux relations humaines, sans en ajouter pour autant. Lui qui a écrit des dizaines de milliers de pages aurait dû en écrire des centaines de milliers, s’il n’avait pas eu recours aux métaphores. J’ai voulu les sauvegarder, et j’y suis parvenu à 90 %, parce qu’on ne peut faire mieux. Illustrer les métaphores aurait été stupide, puisque ce sont les plus belles images de cette bande dessinée. Les plus belles images de cette bd, ce sont les textes. […] Ainsi, pour le fameux épisode de la madeleine, et les souvenirs que celle-ci fait lentement remonter en lui: ›… Et comme dans ce jeu où les Japonais s’amusent à tremper dans un bol de porcelaine rempli d’eau, de petits morceaux de papier jusque-là indistincts qui, à peine y sont-ils plongés s’étirent, se contournent, se colorent, se différencient, deviennent des fleurs, des maisons, des personnages consistants et reconnaissables, de même maintenant toutes les fleurs de notre jardin et celles du parc de M. Swann, et les nymphéas de la Vivonne, et les bonnes gens du village et leurs petits logis et l’église et tout Combray et ses environs, tout cela qui prend forme et solidité, est sorti, ville et jardins, de ma tasse de thé.‹ Nous sommes probablement des millions sur cette terre à la trouver magnifique.« (Chaurin, »Entrevue avec Stéphane Heuet«).
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Der Comic im Spiegel anderer Darstellungsmedien und Künste
Abb. 42: Ansicht von Combray (Heuet, Combray, S. 17). Die Gesamtansicht von Combray ähnelt im Bildaufbau einem Postkartenbild. Aber eben damit deutet sie die Abhängigkeit des Erinnerungsvermögens von ›Bildern‹ und deren prägende Kraft an. Über die drei aufeinanderfolgenden Panels, welche ausgehend vom dem Genuss der Madeleine die Evokation von Combray darstellen, ziehen sich verbindend, also seitenübergreifend, Wellenlinien, welche den Duft darstellen, der Marcel nach Combray zurückversetzt; sie durchziehen gleichsam die Pariser Wohnung, Tante Léonies Zimmer und die Landschaft um Combray. Wie eine Fortsetzung einer dieser Wellenlinien nimmt sich der Kreisel des kleinen Jungen auf dem Marktplatz zu Combray aus. Obwohl die Passage über die japanischen Faltpapier-Objekte zitiert wird, wird gerade dieses visuelle Sinnbild der Erinnerung nicht durch eine Zeichnung entsprechender Objekte visualisiert. Dies ist aber auch gar nicht nötig, denn die Stelle der sich ent-faltenden Papierobjekte nehmen ja die Zeichnungen selbst ein. Nachdem sich die Kinderwelt von Combray im Comic selbst solcherart entfaltet hat, spielen die nächsten Szenen, parallel zum Roman, bei Tante Léonie. Wie zuvor schon die Szenen am abendlichen Familientisch mit Swann als ver-
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trautem Gast, so sind auch die Szenen um Tante Léonie und Françoise gesprächig, redselig, von Sprechblasen erfüllt. Bei der anschließenden Darstellung der Kirche von Combray dominieren wieder die Bilder, keine Sprechblase stört die Andacht – wobei teilweise selbst die begleitende Erzählerstimme aussetzt. Die Kirche von Combray ist für Marcel eine architektonische Konkretisierung der Vergangenheit selbst mit ihren Wundern, und zugleich ist sie Sinnbild des Übergangs zwischen dem Natürlichen und dem Übernatürlichen (»… je m’avançais dans l’église, quand nous gagnions nos chaises, comme dans une vallée visitée des fées, où le paysan s’émerveille de voir …«/»… dans un rocher, dans un arbre, dans une mare, la trace palpable de leur passage surnaturel«.49 – »Tout cela faisait d’elle pour moi quelque chose d’entièrement different du reste de la ville: un édifice occupant, si l’on peut dire, un espace à quatre dimensions – la quatrième étant celle du Temps –, déployant à travers les siècles son vaisseau qui, de travée en travée, de chapelle en chapelle, semblait vaincre et franchir, non pas seulement quelques mètres, mais des époques successives d’où il sortait victorieux […]«.50
3.7
Konversationsstücke und gezeichnete Musik: Swanns Welt
In Band IV, der mit einer Wiederaufnahme des Augenmotivs beginnt,51 und in Band V tritt Swann als Protagonist auf; geschildert wird seine Eifersucht anlässlich des Liebesverhältnisses mit Odette de Crecy, die er später heiratet. Ein wichtiger Schauplatz der Geschichte ist der Salon des Ehepaars Verdurin, wo sich regelmäßig eine ausgewählte Gruppe von Gästen trifft, um über allerlei zu sprechen, sich sprechend selbst darzustellen, in Worten die Welt gemäß den eigenen Vorstellungen und Vorlieben zu deuten und zu erfinden. Besteht die Geschichte dieser Gesellschaft zu weiten Teilen aus Reden und Dialogen, so wird die zeichnerische Umsetzung notwendig zum Konversationsstück. Ganze Seiten bestehen fast ausschließlich aus Gesichtern und Sprechblasen. Ist schon die zeichnerische Darstellung eines weitgehend sprachlichen Geschehens eine Herausforderung, so gilt dies noch mehr für die Darstellung von Musik. Im Salon der Verdurins hört Swann ein Stück des Komponisten Vinteuil, das er schon einmal gehört hat und nun wiedererkennt. Dieses Wiedererinnern ist eine der vielen Modellierungen des Erinnerungsprozesses im Roman. (Für Swann konfiguriert sich die Musik zur graphischen Struktur, und erst so wird sie trotz ihrer Flüchtigkeit erinnerbar.) Heuets Ge49 50 51
Heuet, Combray, S. 20. Ebd., S. 22. Vgl. Heuet, Un Amour de Swann, Bd. 1, S. 3.
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Der Comic im Spiegel anderer Darstellungsmedien und Künste
Abb. 43: Heuet unterstreicht den Ritualcharakter der Konversation dadurch, dass die Figuren aus dem Verdurin-Kreis in ausgeprägter Weise an konventionelle ComicFiguren erinnern (Heuet, Un Amour de Swann, Bd. 1, S. 29).
staltung des Hörerlebnisses visualisiert Musik in doppelter Weise graphisch: durch Notenlinien und durch eine Landschaft, wobei diese einander überblenden und jeweils für sich ebenfalls im Zeichen des Übergangs stehen: Ein Park wird zum See und die Notenschrift zur Piano-Tastatur. Zentral ist aber auch in Band IV das Thema Sehen, verbunden mit Blicken in Fenster und über Schwellen, begonnen bei der Umschlagzeichnung. Wiederum komponiert der Zeichner Bildzitate ein, um zu visualisieren, wie Swann selbst die Welt wahrnimmt – erinnern ihn doch Gestalten aus sei-
Abb. 44: Musik- und Bildkomposition verbinden sich auf dieser Doppelseite (Heuet, Un Amour de Swann, Bd. 1, S. 18 f.).
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Abb. 45: Odettes Skizzen im Stil Jean-Antoine Watteaus (Heuet, Un Amour de Swann, Bd. 1, S. 36).
nem eigenen Bekanntenkreis an berühmte Porträts, wobei sogar seine Neigung zu Odette erheblich davon zehrt, dass sie ihn an ein Gemälde erinnert.52 Wie eine Hommage an die Zeichenkunst nimmt sich insbesondere die Umsetzung einer Paraphrase aus Prousts Roman aus, in der vom nur skizzenhaften Wissen Swanns über das Leben seiner Geliebten die Rede ist; die skizzenhaften Bilder, die er sich von Odette macht, werden hier mit Übungsblättern von Watteau verglichen. Heuet fügt dem Zitat dieser Passage eine Sequenz von Skizzen Odettes im ›Watteau‹-Stil bei.
3.8
Zum Gesamtbild: Selbstbewusste Revisualisierungen
Heuets Version der Recherche, so lässt sich bilanzieren, beruht auf einer Transformation, welche mit den gattungsspezifischen Mitteln der Bilderzählung sehr bewusst und mit Blick auf die eigene mediale Vorgeschichte arbeitet. Dem Projekt einer zeichnerischen Umsetzung des Romans kommt es sehr entgegen, dass dieser zu weiten Teilen in einer Bilder-Welt spielt. Zeichnerisch umgesetzt werden neben im Roman geschilderten Bildern auch geläufige Metaphern, etwa die vom Auge als Fenster oder von der Psyche des erinnernden Ichs als einem Bildarchiv. Besteht das Bildproduktionsprinzip der Laterna Magica wie das des Kirchenfensters darin, dass latente, aber un52
Ebd., S. 28.
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Der Comic im Spiegel anderer Darstellungsmedien und Künste
sichtbare Bilder durch Beleuchtungstechniken sichtbar gemacht werden, so verfährt Heuet genau so mit den den Romantext prägenden Bildern, visuellen Strukturen und Darstellungsverfahren. Er verwandelt insbesondere Metaphern zurück in etwas Sichtbares.53 Seine gezeichneten Metaphern und Gleichnisse setzen auf eigene Weise das für Prousts Roman charakteristische Spannungs- und Komplementaritätsverhältnis zwischen sprachlicher Erzählung und Bildmedien in Szene.
53
Heuet: »J’ai eu la révélation que Proust était d’abord un homme d’image, que ›La Recherche‹ était une œuvre très visuelle. […] Avant de traiter l’une de ces scènes, j’en isole les métaphores, afin de les préserver et de les intégrer tout au long de la scène telle qu’elle sera découpée dans la bd. Proust disait: ›L’image seule peut donner une sorte d’éternité au style‹. Les métaphores sont les phrases les plus évocatrices du style de Proust. Il s’en est servi pour exprimer des choses très complexes, en utilisant des termes simples et usuels afin de les rendre compréhensibles. Tout ça pour nous faire comprendre les mécanismes très complexes inhérents aux relations humaines, sans en ajouter pour autant. Lui qui a écrit des dizaines de milliers de pages aurait dû en écrire des centaines de milliers, s’il n’avait pas eu recours aux métaphores. J’ai voulu les sauvegarder, et j’y suis parvenu à 90 %, parce qu’on ne peut faire mieux. Illustrer les métaphores aurait été stupide, puisque ce sont les plus belles images de cette bande dessinée. Les plus belles images de cette bd, ce sont les textes. […]« (Chaurin, »Entrevue avec Stéphane Heuet«).
Kafka-Comics als mediale Verwandlungen
4.
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Kafka-Comics als mediale Verwandlungen: Reminiszenzen an Theater, Stummfilm, Literaturverfilmung, Filmreportage, Photoalbum – und den Jazz
Kafka hat sich gelegentlich als einen Augen-Menschen bezeichnet, und seine Texte stehen zur Welt der Bilder in vielfältigen und komplexen Beziehungen. Von bildenden Künstlern wurden sie vielfach als Anregungen zu eigenen Werken wahrgenommen, wie Wolfgang Rothes Monographie über Kafka in der Kunst dokumentiert.1 Kafka hat auch selbst gezeichnet; seine Zeichnungen haben mit Comic-Zeichnungen große Ähnlichkeit: Sie zeigen Strichmännchen in durch wenige Kürzel groß und abstrahierend umrissenen, teilweise grotesk wirkenden Situationen; diese Figuren nehmen sich dynamisch und mobil aus und scheinen auf Vorgänge hinzuweisen, obwohl es sich um Einzelbilder handelt. Damit aber nicht genug: Zwischen einigen Kafka-Texten und Wilhelm Buschs Œuvre als einem Wegbereiter der Comic-Erzählung bestehen deutliche Affinitäten; dies gilt vor allem für die Erzählungen In der Strafkolonie und Die Verwandlung. Die 1865 veröffentlichte Bildergeschichte Max und Moritz dürfte Kafka gekannt haben; eine Dramatisierung wurde 1916 in Prag gezeigt.2 Die 1879 gezeichnete Geschichte über Fipps den Affen weist Parallelen zum Bericht für eine Akademie auf. Aber es sind nicht nur Figuren und Motive, die Kafka und Busch verbinden, sondern vor allem die gemeinsame Neigung, Redensarten beim Wort zu nehmen.3 Viele Zeichner von Bildgeschichten haben auf die Herausforderung »Kafka« reagiert, sei es begleitend zum jeweiligen Ausgangstext (so zeichnete Pedro Nora 2001 eine Serie von Illustrationen zur Verwandlung, die einer portugiesischen Textausgabe beigefügt sind),4 sei es in Form von Comic-Erzählungen, sei es in Form von Trickfilmen (die kanadische Trickfilmzeichnerin Caroline Leaf erzählt Kafkas Verwandlung in einem Kurzfilm nach). Dass gerade das »ungeheure Ungeziefer« Gregor Samsa zu visuellen Darstellun1 2
3 4
Wolfgang Rothe, Kafka in der Kunst, Stuttgart, Zürich 1979. Astrid Lange-Kirchheim: »Zur Präsenz von Wilhelm Buschs Bildergeschichten in Franz Kafkas Texten«, in: Claudia Liebrand/Franziska Schößler (Hrsg.): Textverkehr. Kafka und die Tradition, Würzburg 2004, S. 161–204, hier S. 164. Vgl. ebd. Franz Kafka, A Metamorfose. Ilustrações: Pedro Nora, Versão: Augusto do Carmo Vaz, Lissabon 2001.
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Der Comic im Spiegel anderer Darstellungsmedien und Künste
gen provoziert, lässt sich unter anderem mit dem Reiz erklären, den das Monströse auf die visuellen Künste ausübt. Aber auch das Verwandlungsthema als solches reizt zur Erfindung von Geschichten, für die Kafka als der zentrale Repräsentant moderner Verwandlungsgeschichten katalysatorisch wirkt. Der Strip Good ol’ Gregor Brown von R. Sikoryak entsteht aus einer Hybridisierung der Gestalt Gregor Samsas und Charlie Browns als des typischen Helden eines amerikanischen Serien-Comics. Sikoryak verwendet zitathaft Darstellungstechniken von Schulz (so spielt eine Episode ganz im Kopf des Helden, man sieht nur Gregors Denkblasen, wie es bei Charlie Browns Geschichten häufiger geschieht), und er stiftet eine spielerische Analogie zwischen Charlie, dem ewigen Pechvogel, und dem unglücklichen Gregor. Art Spiegelman lässt in seinem autobiographisch-autoreflexiven Comic-Buch Breakdowns Kafka als eine Art Leitfossil auftreten – als Repräsentanten der für die eigene Künstlerbiographie prägenden modernen Literatur. Neben umfangreichen gezeichneten, epischen Kafka-Paraphrasen schufen Comic-Autoren verschiedener Länder extrem minimalistische Comic-Versionen zu Kafka-Texten. Werden in Anthologien gezeichneter ›Weltliteratur‹ (siehe dazu Kapitel III.1) kanonische Autoren als solche identifiziert, so gehört Kafka zu den unverzichtbaren Beständen des Kanons.
4.1
Kafka und die Schrift
Kafkas Strichmännchen wirken wie Schriftzeichen, wie (schein-)lebendig gewordene Repräsentanten der Schrift, von der in Kafkas Texten so oft die Rede ist. Die in Kafkas Texten dargestellte Welt scheint oft aus einer Bilderschrift zu bestehen, deren Zeichen sich bewegen, wandern, marschieren, kreiseln – von rätselhafter Solidität und dabei im buchstäblichen wie im übertragenen Sinn unfasslich.5 5
Der Prosatext Ausflug ins Gebirge etwa (in: Franz Kafka, Drucke zu Lebzeiten, Hrsg. von Wolf Kittler, Hans-Gerd Koch und Gerhard Neumann, Frankfurt am Main 1994, S. 20) lässt sich als eine solche Reflexion über das Schreiben und die Schriftzeichen deuten (vgl. dazu Detlef Kremer, Kafka. Die Erotik des Schreibens, Bodenheim 1998, S. 61). Ein Ich meldet sich zu Wort, das klanglos ruft und mit einigen Gefährten einen Ausflug machen möchte; dieser Ausflug ins Gebirge sei – so Detlef Kremer – ein »Ausflug in die Schrift«. Allesamt schwarz gekleidet, sind die Teilnehmer »Buchstaben, die über das Papier reiten« (ebd., S. 63). »Wie sich diese Niemand aneinander drängen, diese vielen quer gestreckten und eingehängten Arme, diese vielen Füße, durch winzige Schritte getrennt!« (Kafka, Ausflug) »Wir gehen so lala, der Wind fährt durch die Lücken, die wir und unsere Gliedmaßen offen lassen. Die Hälse werden im Gebirge frei! Es ist ein Wunder, daß wir nicht singen.« (Ebd.).
Kafka-Comics als mediale Verwandlungen
Abb. 46 (oben links): Woitek Wawszcyks Adaptation des Process (Moga Mobos 100 Meisterwerke der Weltliteratur, S. 103). Abb. 47 (oben rechts): Robert Mareschs Der Prozess. Frei nach Kafka (50. Literatur gezeichnet, Bd. 1, Nr. 6). Abb. 48 (rechts): Michael Wittmanns Erzählungen (50. Literatur gezeichnet, Bd. 1, Nr. 28).
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Der Comic im Spiegel anderer Darstellungsmedien und Künste
Woitek Wawszcyks Kafka-Sequenz in der Literatur-Comic-Anthologie 100 Meisterwerke besteht aus einem einzigen Panel mit acht Segmenten: Im ersten sehen wir ein neugeborenes Kind, im zweiten ein angstvoll geöffnetes Auge, im dritten einen Mann im Bett, der von zwei anderen Männern aufgesucht wird. Die Erinnerung an Kafkas Process legt es nahe, den nackten Mann als Josef K. zu identifizieren. Lakonisch wird erzählt, wie dieser Mann fortgebracht und erstochen wird. Der fortfliegende riesige Vogel muss aus einem anderen Kafka-Text in die Bildsequenz hineingeflogen sein, sei es aus Kafkas Version des »Prometheus«-Mythos, sei es aus der Erzählung Der Geier. Eine parodistische Kurzversion des Process-Romans bietet der Zeichner Robert Maresch, der seinen Ein-Seiten-Comic auch Der Prozess. Frei nach Kafka nennt. Die Nacherzählung bezieht sich nur auf den letzten Romanteil. Die Hauptfigur wird durch zwei Männer verhaftet, für verurteilt erklärt und von Passanten beschimpft. Als er erstochen wird, erhält er auf die vorherige Frage, was er getan habe, die Antwort: »Nichts!«, und fortgehend erklärt der eine Henker dem anderen, bei dem Hingerichteten habe es sich um einen arbeitslosen Comic-Zeichner gehandelt. Als Nr. 28 findet sich im selben Band ein Ein-Seiten-Comic von Michael Wittmann zu Kafkas »Erzählungen«: Ein Mann eilt über einen Friedhof, offenbar, um Anschluss an einen Trauerzug zu bekommen. Als er diesen erreicht, stürzt er ins Grab und wird von diesem verschlungen; über der Stelle wird ein Stein mit der Inschrift »Josef K.« errichtet. Da zu den Mitgliedern des Trauerzugs ein Affe, ein Insekt, ein hundeähnliches Wesen sowie in Mann mit den Zügen von Kafkas Vater gehören, dürfte es sich um das Personal der Kafka’schen Erzählungen handeln; ein Hungerkünstler und die zwei Gehilfen K.s lassen sich auch wiedererkennen.
Zudem finden sich in Kafkas Schriften viele Hinweise auf seine Sensibilität für das Materiale und Konkrete an Texten, und oftmals erscheint Geschriebenes in seinen Imaginationen als etwas Physisch-Sinnliches, das sich zudem ständig verwandelt. Gerade diese Neigung Kafkas, Sprachliches als sinnlichkonkrete körperliche Realität zu imaginieren, bietet Anschlussstellen für den Comic. Denn gerade hier wird die Schrift ›materiell‹, wie unter anderem Will Eisner betont hat;6 Comic-Zeichner behandeln Wörter als graphische Elemente, formen und deformieren Sätze, Wörter und Buchstaben, stellen sie dar wie körperliche Objekte. Betont wird die Schriftbildlichkeit von Texten im Comic auch durch Techniken der Fragmentierung und Dekomposition. Die Schrift lebendig und beweglich erscheinen zu lassen, ist ein für viele 6
»The visual treatment of words as graphic art forms is part of the vocabulary./ TEXT READS AS AN IMAGE/Lettering, treated graphically, and in the service of the story, functions as an extension of the imagery.« (Eisner, Comics & Sequential Art, S. 10).
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Abb. 49: Beispiel für Kafkas Zeichnungen (zit. nach: Franz Kafka, Tagebücher, hrsg. von Hans-Gerd Koch, Michael Müller und Malcolm Pasley, Frankfurt am Main 1990, S. [12]).
Comics konstitutiver Einfall. Insofern liegt es nahe, bei Umsetzungen Kafka’scher Texte in Comic-Erzählungen besondere Formen der Schriftpräsentation zu erproben und an den Topos einer physisch-sinnlichen, ›körperlichen‹ und metamorphotischen Schrift anzuknüpfen.
4.2
Kafka und der Film
Im Januar 1911 notiert Kafka selbst im Tagebuch über Kinobilder, diese hätten es an sich, »dem Angeschauten die Unruhe ihrer Bewegung« mitzuteilen.7 Körpersprache und Gestik vieler seiner Figuren auch nach dem Erst7
Franz Kafka, Tagebücher. Hrsg. von Hans-Gerd Koch, Michael Müller und Malcolm Pasley, Frankfurt am Main 1990, S. 937.
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Der Comic im Spiegel anderer Darstellungsmedien und Künste
lingsroman ähneln denen von Stummfilmakteuren. Wolfgang Jahn zufolge ist die »funktionale Symbolik« der Dinge und Gebärden bei Kafka »mit der visuellen Dramaturgie besonders des Stummfilms vergleichbar«.8 Die Dominanz optischer Eindrücke ist prägend für Kafkas ersten Roman, Der Verschollene. Dieser wurde aus inhaltlichen wie aus erzählerisch-darstellungstechnischen Gründen mit dem Kino verglichen. Diverse Episoden, vor allem die Szenen mit den dubiosen Gefährten Delamarche und Robinson und um die dicke Diva Brunelda, erinnern an Slapsticks. Und im Asyl-Kapitel gibt es Massenszenen, wie sie der frühe Film zu zeigen pflegte. Für Kafkas Darstellung des modernen New York mit seinem hektischen städtischen Verkehr dürften entsprechende Film-Szenen anregend gewesen sein. (Analoges gilt für die Beschreibung einer Straße in der letzten Fassung der Hochzeitsvorbereitungen und mehrere Stücke aus dem Landarzt.) Der Protagonist Karl Roßmann findet sich in Amerika in eine Welt schnell bewegter und wechselnder Bilder versetzt. Inhaltlich und erzähltechnisch spielen der Gesichtssinn und visuelle Wahrnehmungen eine zentrale Rolle.9 Der Bedeutung visueller Eindrücke entspricht die Makrostruktur des Romans dadurch, dass die einzelnen Kapitel wie relativ separate Bilderbögen aufeinanderfolgen. Schon Max Brod erinnert im Nachwort zu dem Roman, den er unter dem Titel »Amerika« herausgab, an Chaplin-Filme, (die Kafka zur Zeit der Arbeit an diesem Roman aber nicht gekannt haben könne).10 Auch Klaus Mann assoziiert mit der Welt des ersten Kafka-Romans die des Stummfilms und erinnert an Chaplin; er akzentuiert vor allem das Verwirrende an der Neuen Welt Amerika, die Karl Roßmann mit den Augen eines ahnungs- und orientierungslosen Heranwachsenden aus Europa betrachtet. Karl – so suggeriert Manns Schilderung – gerät in das Getriebe dieser atemberaubend schnellen, kom8
9
10
Hartmut Binder (Hrsg.), Kafka-Handuch in zwei Bänden. Unter Mitarbeit zahlreicher Fachwissenschaftler hrsg. von Hartmut Binder. 2 Bde. Bd. 1: Der Mensch und seine Zeit. Bd. 2: Das Werk und seine Wirkung, Stuttgart 1979, Bd. 2, S. 414. – Bodo Plachta zitiert zur Plausibilisierung des Zusammenhangs zwischen Darstellungsverfahren des frühen Films und des Erzählers bei Kafka u. a. Sätze, in denen die ausdrucksvolle Gebärdensprache von Figuren auffällt (Bodo Plachta, »Der Verschollene«, in: Franz Kafka, Erzählungen. Interpretationen. Hrsg. von Michael Müller, Stuttgart 1994, S. 75–97, hier S. 88). Zum Thema Kafka und Kino: Wolfgang Jahn, »Kafka und die Anfänge des Kinos«, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 6 (1962), S. 353–368. – Hanns Zischler, »Maßlose Unterhaltung. Franz Kafka geht ins Kino«, in: Freibeuter 16 (1983), S. 33–47. Vgl. Max Brods »Nachwort zur ersten Ausgabe« des »Amerika«-Romans in: Franz Kafka, Gesammelte Werke. Hrsg. von Max Brod, Frankfurt am Main 1953: Amerika, S. 356–369, hier S. 359.
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plexen und hochtechnisierten Welt wie der Protagonist in Chaplins Modern Times ins Räderwerk einer riesigen Maschine.11
4.3
Kafka und seine Helden im Spiegel von Kafka-Comics
Diverse Kafka-Comics akzentuieren durch Aufbau und Motive Prozesse der Visualisierung, des Bildermachens; als Auseinandersetzungen mit Bildgebungsverfahren sind sie autoreferentiell. In Anknüpfung an jene KafkaInterpreten, die auf die Affinitäten des Verschollenen und anderer Texte zum Film hingewiesen haben, erinnern mehrere Kafka-Comics insbesondere an die Welt des Kinos und an filmische Darstellungsmittel. Neben der Affinität diverser Texte Kafkas zur Welt des Films dürfte im Übrigen noch ein weiterer Grund im Spiel sein, wenn die Rezeption Kafkas durch Comic-Autoren im Zeichen der Anspielung auf den Film steht. Denn das Kino ist für die breite Kafka-Rezeption von prägender Bedeutung: Mancher kennt Kafka nur aus den Verfilmungen seiner Texte. So hat insbesondere Orson Welles’ Verfilmung The Trial ein breites Publikum erreicht, und ihre Bilder haben sich den Szenen des Romans als einprägsame Visualisierungen unterlegt. Ein zweiter Kafka-Film von vergleichbarer Breitenwirkung ist Söderbergs Kafka, in dessen Fabel sich Elemente und Motive aus dem Schloß, dem Process und aus Kafkas Biographie zu einer phantastischen Alptraumgeschichte synthetisiert finden. Die für Kafka charakteristische Verbindung aus Plastizität und Vieldeutigkeit seiner Bilder, die Verschmelzung von Realistischem mit (Alp-)Traumhaftem, provoziert zur Erkundung neuer Formen des Erzählens mit Bildern.12 Die im Folgenden vorgestellten Kafka-Comics sind durch ihr hohes Maß an Reflexivität geprägt. Malerei, Photographie und Film bieten konkrete Vorlagen für Bildzitate und Muster für die Organisation der Panels. Zudem werden vielfach auch sprachliche »Bilder« – Metaphern, Gleichnisse, 11
12
Vgl. Klaus Mann, »Vorwort zu Franz Kafkas Roman ›Amerika‹«, in: Ders., Zweimal Deutschland. Aufsätze, Reden, Kritiken. 1938–1942, hrsg. von Uwe Naumann und Michael Töteberg, Reinbek bei Hamburg 1994, S. 207–217, hier S. 214 f. Vgl. Andreas Platthaus, »Weltlektüre. Eine Geschichte des Comics, des demokratischsten Mediums«, in: Weltliteratur. Vom Nobelpreis zum Comic. Hrsg. von Thomas Böhm u. Martin Hielscher, Köln 2001, S. 212–223, hier S. 223: Während Joyce und Proust »in ihren Riesenromanen ganze Welten entstehen lassen, die bis in die kleinsten Details ausgemalt werden, erlauben Kafkas skizzenhafte Texte dem Leser weitgehende Freiheit bei der Imagination. Er ist damit ein geradezu idealer Szenarist, der dem Zeichner Raum für seine eigenen Vorstellungen läßt.«
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Der Comic im Spiegel anderer Darstellungsmedien und Künste
bildhafte Wendungen – zeichnerisch in einer Weise umgesetzt, welche die Affinität der graphischen Darstellungsform zur literarischen betont.
Crumb/Mairowitz: Introducing Kafka Robert Crumbs und David Zane Mairowitz’ Kafka-Comic-Buch Introducing Kafka (dt.: Kafka kurz und knapp)13 ist zum Kultbuch geworden und zählt heute insofern mit zur Kafka-Ikonographie, als Zeichnungen Crumbs neben den bekannten Kafka-Photos mittlerweile zu den Bildbeständen gehören, aus denen geschöpft wird, wenn es um Kafka geht. Crumb und Mairowitz verknüpfen ein biographisches Porträt des Schriftstellers Kafka mit einer Vorstellung seiner wichtigsten Werke. Der Verlauf der Bilderzählung ähnelt hinsichtlich der Inhalte, der Bildsprache und Bildregie filmischen Autorenporträts. Wenn das Comic-Buch an die Form des Film-Porträts anknüpft, so unter Betonung einer dort vielfach genutzten Darstellungsstrategie: der Verwendung von Photoalben. So wie sich Photosammlungen oftmals als Basismaterial in biographischen oder historiographischen Filmdokumentationen eingesetzt finden, so beruht auch das Kafka-Buch von Crumb und Mairowitz erkennbar auf einer Kollektion von Photos. Der Leser kennt die meisten bereits. In die reportageartige Rahmenerzählung über Kafkas Leben sind bildliche Paraphrasen ausgewählter Werke als Episoden eingefügt; sie werden durch unterschiedliche Mittel zu den dargestellten Lebensabschnitten in Beziehung gesetzt. Kafkas Texte werden auf Kafkas Leben bezogen; sie wirken wie verfremdende Darstellungen von Lebenssituationen. Die häufigen Bildund Text-Zitate werden oft explizit als solche markiert, vor allem durch Rahmenstrukturen und ähnliche Strategien der Ausdifferenzierung verschiedener Darstellungsniveaus – wie Sprech- und Denkblasen oder eine collagenartige Kombination von Bild- und Schrift-Elementen. Mit all dem verweist der Darstellungsprozess auf sich selbst als eine intertextuelle und interpikturale Kompilation vorgefundener Materialien. Vor allem die Bildmedien Photographie, Plakat und Film werden vielfach zitierend einbezogen; begin13
David Zane Mairowitz (Text)/Robert Crumb (Zeichnung), Introducing Kafka, Cambridge 1994 (zuerst New York 1993). Die deutsche Version des Buchs (Kafka kurz und knapp, Dt. von Ursula Grützmacher-Tabori, 6. Aufl. Frankfurt am Main 2001, zuerst 1995) unterscheidet sich von der englischen Originalversion nur im Text. Der Szenarist David Zane Mairowitz hat einen analogen Band über Wilhelm Reich for Beginners geschrieben und verfasst neben Comics vor allem Hörspiele. Die Übersetzungen der Kafka-Passagen stammen von ihm selbst; es handelt sich jeweils um Auszüge aus größeren Kontexten.
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Abb. 50: Kafka begrüßt den Leser (Mairowitz/ Crumb, Introducing Kafka, S. 3). Zu Beginn des Buchs stellt der Protagonist Kafka sich vor – mit einem Zitat: »›Immerfort die Vorstellung eines breiten Selchermessers, das eiligst und mit mechanischer Regelmäßigkeit von der Seite her in mich hineinfährt und ganz dünne Querschnitte losschneidet, die bei der schnellen Arbeit fast eingerollt davonfliegen.‹«14 Das Bild stellt dar, wie ein solches aus dem ›Off‹ geführtes Hackebeil den Kopf Kafkas in Scheiben schneidet, bis das Blut spritzt – ein typisches Beispiel für die Visualisierung von Sprachbildern. Die folgende Seite stellt eine weitere Todesvision dar: wieder durch Überführung einer stark visuell geprägten Kafka-Passage in ein konkretes Bild. Die Gestaltung der Schrift erinnert an expressive Zwischentitel im Stummfilm. »Durch das Parterrefenster eines Hauses an einem um den Hals gelegten Strick hineingezogen und ohne Rücksicht wie von einem der nicht Acht gibt, blutend und zerfetzt, durch alle Zimmerdecken, Möbel, Mauern und Dachböden hinaufgerissen werden, bis oben auf dem Dach die leere Schlinge erscheint, die meine 14
Mairowitz/Crumb, Kafka kurz und knapp, S. 3; »›The images of a wide pork butcher’s knife, swiftly and with mechanical regularity chopping into me, shaving off razor-thin slices which fly about due to the speed of the work.‹« (Mairowitz/ Crumb, Introducing Kafka, S. 3).
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Reste erst beim Durchbrechen der Dachziegel verloren hat.«15 In drei Zeichnungen wird das grausame Geschehen dargestellt. Die Bildfelder sind dabei so angeordnet, dass sie einander zu überlagern scheinen wie die Stockwerke eines Gebäudes, nur dass die Anordnung der Teilbilder sich als Umkehrung der Etagenfolge darstellt: Oben das Erdgeschoss, unten das Dach. Dies allerdings passt zu Kafkas eigener Praxis, konventionelle Bilder umzukehren (etwa mit der Wendung »Wir graben den Schacht von Babel.«). Die optische Umsetzung des Textzitats besteht aus Bildzitaten: Die Straßenszene im ersten Panel erinnert an die Prager Altstadt, die Darstellung des geschundenen Körpers (dessen Kopf jenseits des Bildfeldes liegt) an Zeichnungen Alfred Kubins.
nend mit dem Buchumschlag, der eine Porträtzeichnung Kafkas nach einem Photo zeigt. Crumb und Mairowitz versuchen nicht nur, dem Leser Kafkas Themen nahezubringen, sondern auch dessen Stil – durch die Visualisierung von Sprach-Bildern, Gleichnissen und anschaulichen Wendungen, oft im Zeichen verzerrender Übersteigerung. Wo das naturalistische Setting um eines phantastischen Effekts willen zeichnerisch verfremdet wird, da geschieht dies jeweils in Korrespondenz zu Texten Kafkas: als Umsetzung von Szenen, Vergleichen, Metaphern. Crumbs Bildregie wirkt filmisch; Schnitte und Überblendungen stehen zwischen den jeweils aufeinanderfolgenden Segmenten der Bildgeschichte. Die Biographie Kafkas ist grob chronologisch strukturiert, überlagert durch ein zweites Ordnungsprinzip: Das Buch gliedert sich in mehrere thematische Abschnitte. Strukturell ähnelt es dadurch Heinz Politzers ebenfalls nach thematischen Aspekten gegliedertem Kafka-Buch von 1965.16 (Viele Kafka-Forscher sind der Beziehung zwischen Leben und Werk nachgegangen; auch die außerwissenschaftliche und vor allem die filmische Rezeption Kafkas orientieren sich gern an Biographischem.) So scheint Kafkas Leben seine Werke zu ›rahmen‹. Rahmende und gerahmte Bilder und Episoden stehen dabei zeichnerisch in komplexen Korrespondenzen. Rahmendurchbrüche und Grenzüberschreitungen suggerieren ebenso wie Motivparallelen innere Analogien zwischen Kafkas Texten und seinem Leben. 15
16
Mairowitz/Crumb, Kafka kurz und knapp, S. 4; »›To be dragged in through the ground-floor window of a house by a rope tied around my neck and then to be yanked upwards, bloody and mutilated, as if by someone not paying attention, with no consideration, through all the ceilings, furniture, walls and attics, until the last torn-off bits of me drop from the empty noose as it crashes through the tiles and comes to rest on the roof.‹« (Mairowitz/Crumb, Introducing Kafka, S. 4). Vgl. Heinz Politzer (Hrsg.), Franz Kafka. Eine innere Biographie in Selbstzeugnissen, Frankfurt am Main 1989; zu Heinz Politzers Kafka-Bild vgl. die treffende Zusammenfassung von Peter U. Beicken in: Binder (Hrsg.): Kafka-Handbuch, Bd. 2, S. 795.
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Abb. 51: Der Golem (Mairowitz/Crumb, Introducing Kafka, S. 12). Crumbs Erzählung beginnt mit einem Blick auf den Schauplatz und einem Zitat aus der Filmgeschichte. Die Panels erinnern an Paul Wegeners Verfilmung von Gustav Meyrinks Golem. Für den Anschluss der Szene an die Filmgeschichte sorgt die erklärende (zu Kafka in keinerlei Beziehung stehende) Bemerkung: »Golem is, in effect, the Jewish Frankenstein monster […].«17 – In diesem ersten Teil taucht Kafka nur gelegentlich und dann eher als Statist auf. Seine dargestellte Welt besteht aus Bildzitaten aus der jüdischen Welt Prags: Wir sehen zuerst ein Panorama der Stadt, dann Kafka vor einem Plan seines altstädtischen Wohnviertels, eine Straße in der Altstadt, drei Zeichnungen zur Gestalt des Rabbi Judah Loew, die Reproduktion der Titelseite einer kabbalistischen Schrift. Eine Kurzfassung der Golem-Legende, Gustav Meyrink, das Prager Ghetto und dessen Abriss sind mit Kafkas Leben nur assoziativ verknüpft. Crumb zeichnet nach, welche Bilder man als Filmrezipient mit ›Prag‹ assoziiert.
17
Mairowitz/Crumb, Introducing Kafka, S. 12.
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Abb. 52: Kafkas Vater auf der Weltkarte (Mairowitz/Crumb, Introducing Kafka, S. 28). Die Darstellung der Beziehung Kafkas zu seinem Vater visualisiert – im Kontrast zu der vorangegangenen Abbildung Kafkas vor einer Karte Prags mit dem Zitat »›This narrow circle encompasses my entire life.‹«18 – die von Kafka empfundene Übermacht des Vaters und macht die Zusammenhänge zwischen dieser und Kafkas Minderwertigkeitsgefühlen sinnfällig. Wiederum setzt Crumb auf die immanente Logik seiner Bilder. Während Mairowitz’ Text konstatiert, Franz Kafka habe sich daran gewöhnt, sich selbst durch die Augen seines Vaters zu sehen, lassen die Zeichnungen komplementär hierzu den Vater durch die Augen des Sohnes sichtbar werden: physisch hyperpräsent und gewalttätig. Ganz konkret macht sich der Zeichner die Perspektive des Sohnes zu eigen, als er dessen Vision eines über einen Atlas ausgebreiteten, also die ganze Welt dominierenden Vaters zeichnet. Durch diesen biographischen Bericht gerahmt, schließt sich die erste Nacherzählung einer Kafka-Erzählung an: The Judgment (Das Urteil; S. 19–35). Knapp paraphrasiert wird die Geschichte um Georg Bendemann, dessen dominanten Vater und die väterliche Verurteilung des Sohnes zum Ertrinken, die der Sohn akzeptiert und selbst umsetzt. Dargestellt wird die letzte Etappe der Geschichte, die besonders große Affinitäten zum Theater respektive zum Stummfilm aufweist, da hier die Figuren eine expressive Körper- und Gebärdensprache entwickeln. Der vermeintlich gebrechliche Vater Georgs erweist sich als beklemmend vital, tanzt ums Bett, ahmt die angebliche Verführerin des Sohnes gestisch nach und wird zum erbarmungslosen Richter. 18
Ebd., S. 8.
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Die ausgeprägte Mimik und Gestik von Crumbs Comic-Figuren erinnert an den Stummfilm, aber auch an Kafkas Texte selbst. Diese wiederum verdanken dem volkstümlichen Theater viele prägende Anregungen, vor allem einer expressiven Spielform des Theaters, die Kafka besonders schätzte und gut kannte. Ab 1911 interessierte er sich lebhaft für das jiddische Theater, das er durch eine Lemberger Schauspielertruppe unter Jizchak Löwy kennenlernte, mit dem er sich auch befreundete. Kafka verpasste kaum eine Aufführung, die die Truppe bei ihrem Prager Gastspiel bot. Die Annäherung an die ostjüdische Theaterkultur führte biographisch zu Konflikten mit dem Vater, vor allem aber hat sie sich nachhaltig auf Kafkas Texte ausgewirkt. Gestik und Körpersprache dieser Theaterkultur haben gerade das nicht lange nach dem Gastspiel entstandene Urteil wohl beeinflusst.19 (Neben inhaltlichen Parallelen gibt es auch strukturelle Analogien, vor allem die stark kontrastiven Szenenwechsel.) Es sind gerade die theatralischen Szenen im Urteil, die in Crumbs Darstellung in den Mittelpunkt rücken. Ihre Bilderlogik greift dann auch auf die Fortsetzung des biographischen Berichts aus. So sehen wir diesen vor verschiedenen Vehikeln möglicher Selbsttötung, umgeben von Gleichnissen seiner unglücklichen Existenz und insbesondere als mickrigen Jungen an der Hand seines massiv gebauten Vaters, der ihn zum Sport zerrt. (Gezerrt wird im nächsten Bild in analoger Darstellung auch der erwachsene Kafka: Eine Prostituierte führt ihn an der Hand eine Treppe hoch.) Kafkas Leben wird von Crumb mit einer Theatralik inszeniert, wie sie der Stummfilm vom Theater übernommen hatte und wie sie sich auch in Kafka’schen Szenendarstellungen prägend ausgewirkt hat. Mehr noch: Crumb stellt seinen Helden so theatralisch dar, wie dieser sich den eigenen autobiographischen Texten zufolge dargestellt – im Sinne von ausgestellt – gefühlt hatte. Die Comic-Figur Kafka muss bei Crumb über die Buchseiten laufen, um sich beobachten zu lassen – so wie sich das autobiographische Ich Kafkas von anderen beobachtet und ›vorgeführt‹ fühlte: als Held einer tragikomischen Geschichte, die sich zur Stoffgrundlage eines tragikomischen stummen Films eignet. Crumbs Comic stellt gleichsam zeichnerisch den Stummfilm dar, den man auf der Basis von Kafkas Selbstdarstellungen über sein Leben hätte drehen können, und er verwendet unter anderem passend gestaltete Zwischentitel. In Bilder physischer Bedrängnis gekleidet wird auch das Thema Schreiben und Schriftstellerexistenz, ausgehend von der Kafka’schen Stilisierung sei19
Vgl. dazu Hartmut Binder, Kafka-Kommentar zu sämtlichen Erzählungen. München 1975, S. 132 f., sowie Evelyn Torton Beck, Kafka and the Yiddish Theater. Its Impact on His Work, Madison, WI 1971, S. 30 f.)
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Abb. 53: Der Vater zwingt den jungen Kafka zum Sport (Mairowitz/Crumb, Introducing Kafka, S. 37).
ner selbst als eines Schreibenden, der zwischen nächtlicher literarischer Arbeit und den Ansprüchen der bürgerlichen Sozialsphäre zerrissen und zerrieben wird. Kafkas Beziehung zu Felice Bauer fand ihren Ort vor allem auf dem Schreibpapier und wurde weniger konkret gelebt als in Briefen imaginiert. Zeichnerisch wird dies durch die Integration phantasmagorischer Bilder in Szenen der Alltagswelt umgesetzt. Diverse Seiten stellen, ausgehend von der Vision eines Rabbiners, der den erschreckten Kafka zur Ehe mahnt, die Geschichte der Beziehung zu Felice Bauer dar. Entsprechend der Bedeutung, die der Schriftverkehr dabei spielte, zeigen zwei Bilder gezeichnete Briefe. Zitiert werden Photos (von Felice allein und mit Franz), zitiert wird der Alptraum Kafkas von den Klauen einer nach ihm greifenden Sirene, verschlüsselter Ausdruck seiner Bindungsangst.
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Abb. 54: Kafkas Selbstwahrnehmung bei Crumb und Mairowitz (Introducing Kafka, S. 39). Der Bericht über Kafkas gestörtes Verhältnis zum eigenen Körper ist als Bilderzählung zu Kafkas Die Verwandlung in Szene gesetzt (S. 39–55), wobei die literarische Vorlage wiederum komprimiert wurde. Die quasi-biographistische Lektüre der Verwandlung als Darstellung der psychischen Verfassung ihres Autors ist weder besonders originell noch unproblematisch. Im Kontext des gezeichneten Kafka-Porträts ist sie jedoch deshalb interessant, weil es mit der impliziten These, Gregor Samsa sei eine Selbstdarstellung des Autors, um die Thematik der Konstitution von Bildern geht. Die Idee literarisch verschlüsselter Selbst-Bilder bekräftigt eine Bemerkung über Kafkas Präferenz für Tierfiguren (S. 56), mit denen das Thema Körperlichkeit variiert wird. Wir sehen Porträts des forschenden Hundes, des an eine Akademie berichtenden Affen, der Sängerin Josephine sowie jenes maulwurfähnlichen Tiers aus The Burrow (Der Bau, S. 57–58,). Auch Bilder des embryonal in sich eingerollten Kafka (S. 59) visualisieren dessen Angstvorstellungen.
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Abb. 55: Kafkas Beziehung zu Felice Bauer als Akt des Schreibens (Mairowitz/Crumb, Introducing Kafka, S. 72).
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Traumbilder und Bilder aus dem Alltag durchdringen sich in rascher Folge: das Selbstporträt als ein eheunwürdiger ›Wurm‹, ein Bild der Demütigung durch den Vater, der auf die Überreichung des publizierten Landarztes gleichgültig reagiert, Bilder aus der Arbeiterunfallversicherung,20 Kafkas Befassung mit Arbeitsunfällen und Verstümmelungen.21 Wir sehen den von Lärm und Unruhe gepeinigten Kafka und seine Versuche, sich ganz ins nächtliche Schreiben zurückzuziehen.22 Das Büro ist Vorraum zur Strafkolonie; diese Erzählung wird zusammengefasst, unter Verwendung von Bildzitaten. Der Vorgesetzte aus dem Büro23 leiht dem Kommandanten seine Gesichtszüge. Und Zeitgeschichte erscheint pointiert als Schriftgeschichte, ablesbar an Schriftzügen und an der Beziehung des Einzelnen zu einer Welt der Texte. Neben Photos aus einem imaginären Kafka-Album legt Crumb seinen Bildern andere Ausgangsbilder zugrunde – darunter Kunstwerke aus den 1920er Jahren. Einem Selbstkommentar Kafkas zufolge sah er sich wie ein ewiger Jude durch eine undurchschaubare, sinnlose, obszöne Welt wandern. Die zeichnerische Umsetzung dieses Gedankens lässt sich leicht als ein Bildzitat von George Grosz identifizieren, dem der Zeichner auch ausführlich seine Reverenz erweist.24 Es folgen gezeichnete ›Photos‹ aus einem imaginären, anderen Leben: Kafka als Farmer und als Handwerker in Palästina, vorgestellt bei der Betrachtung einer Palästina-Karte. Zu den Aufnahmen aus dem wirklichen Leben, die als Schwellen ins Imaginäre fungieren, gehört auch ein gezeichnetes Photo von Kafkas letzter Lebensgefährtin Dora Diamant, mit der er eine Auswanderung nach Palästina erwog. Crumb und Mairowitz fügen ein ganzes Album zitierter Bilder zur Sequenz zusammen. Auf die Bilder aus dem Familienalbum und das Archiv der Träume folgen Bilder aus der historischen Welt. Eine Doppelseite25 ist der 20 21 22
23 24 25
Mairowitz/Crumb, Introducing Kafka, S. 69 f. Ebd., S. 70 f. Ebd., S. 72 f. – Vgl. den Tagebucheintrag von 1914: »15. August. Ich schreibe seit ein paar Tagen, möchte es sich halten. So ganz geschützt und in die Arbeit eingekrochen, wie ich es vor zwei Jahren war, bin ich heute nicht, immerhin habe ich doch einen Sinn bekommen, mein regelmäßiges, leeres, irrsinniges junggesellenmäßiges Leben hat eine Rechtfertigung. Ich kann wieder ein Zwiegespräch mit mir führen und starre nicht so in vollständige Leere. Nur auf diesem Wege gibt es für mich eine Besserung.« (Franz Kafka, Tagebücher 1910–1923. Hrsg. von Max Brod, Frankfurt am Main 1986 (zuerst 1973), S. 263). Mairowitz/Crumb, Introducing Kafka, S. 74. Ebd., S. 134. Ebd., S. 140 f.
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Abb. 56a und b: Aufmarsch tschechischer Nationalisten vor der Arbeiter-UnfallVersicherungsanstalt (links, Mairowitz/Crumb, Introducing Kafka, S. 85) und eine Szene aus Vor dem Gesetz (rechts; ebd., S. 89). In gedrängter Form werden Individualgeschichte, Zeitgeschichte und literarische Imaginationen ins Bild gesetzt. Dabei thematisiert Crumbs Comic das Sehen als solches: Durch Perspektivik und Montagetechnik ist der Beobachterstandpunkt zumindest implizit, manchmal explizit mit ins Bild gesetzt. Kafka beobachtet eine Straßenszene, die den tschechischen Nationalismus visualisiert (S. 85), von hier wird der Blick auf ein aufmarschierendes Heer auf dem Weg in den Ersten Weltkrieg gelenkt – sowie auf Kafka, der abgewandt am Schreibtisch sitzt und doch zu sehen scheint, was geschieht (S. 86–87). Als literarische Umsetzung seiner Vision von der Zeitgeschichte erscheint Der Process (The Trial), begonnen 1914 (S. 88–95), insbesondere die Parabel Vor dem Gesetz (Before the Law) sowie die Episode um die Hinrichtung Josef K.s. Die folgende Bildsequenz (S. 96–99) zeigt in schneller Folge einen offenbar erkrankten (hustenden) Kafka am Kriegsende 1918, seinen Arbeitsplatz in der Versicherungsanstalt, der als symbolischer Ausdruck für die Gründung der Tschechischen Republik mit einem tschechischen anstelle eines deutschen Schildes versehen wird, Szenen der Judenverfolgung und Bücherverbrennung im Zeichen des eskalierenden Nationalismus, Juden, die nach Palästina auswandern, und Kafkas Visionen von einer Auswanderung.
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Abb. 57: Grosz-Zitat (Mairowitz/Crumb, Introducing Kafka, S. 134).
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zeitgeschichtlich-politischen Situation von 1923 gewidmet: Menschen stehen Schlange vor einem Lebensmittelgeschäft; Nationalisten und Kommunisten kämpfen gegeneinander, Hitler taucht als Plakatbild auf, Kafka hat sich heftig hustend in die Reihe der Wartenden eingereiht. Die Vision eines von Phantomen gemarterten Kafka, der zum Schreiben gezwungen scheint,26 leitet über zum todkranken Kafka im Hospital.27 Eine letzte Verwandlung der eigenen Erfahrung in literarische Bilder wird zeichnerisch paraphrasiert: Als gleichnishafte Darstellung der tödlichen Krankheit liest und zeichnet Crumb Ein Hungerkünstler von 1924.28 Anstelle von Kafkas eigenem Tod sehen wir den des Kafka’schen Artisten. Wie im ganzen Band macht sich hier der biographische Ansatz Heinz Politzers, also ein von der Forschung auf spezifische Weise modellierter ›Kafka‹ geltend. Ein Nachbericht beschließt die Bilderzählung; Crumb imaginiert eine Gerichtsverhandlung der kommunistischen Regierung der Tschechoslowakei gegen Kafka, erinnert dann an dessen politische ›Rehabilitierung‹ 1963. Hat zeitweise Kafka neben Marx und Lenin den Status einer offiziellen Leitfigur, so wird er nach dem Einmarsch der Sowjetarmee in Prag in dieser Rolle verdrängt (durch Breschnew, dessen Porträt an das Hermann Kafkas erinnert). Die 1990er Jahre visualisieren Kafka auf eigene Weise: als metamorphotische Figur auf einem T-Shirt-Aufdruck. Das Finale des Buchs bildet eine episodische Nacherzählung von Der Verschollene.29 (Der Roman wird als Kafkas ironische Version einer neuen Welt interpretiert und gezeichnet; auf das Thema Repräsentation verweist vor allem das Motiv des Naturtheaters von Oklahoma.) Die letzte Doppelseite zeigt ein ›touristisiertes‹, und das heißt amerikanisiertes Prag. Reklametexte und Aufdrucke werben für McKafka Hamburgers, den Metamorphosis Beauty Salon, für Ghetto Pizza und eine »Kafkateria«. Kafka ist in der Welt der zeitgenössischen Bilder angekommen.
Will Eisners Variation der Geschichte K.s Will Eisner hat unter dem Titel The Appeal eine Variation der Process-Fabel in einen seiner Metacomics integriert; schon dadurch gewinnt sein KafkaComic eine autoreflexive Dimension.30 Eisner verfährt mit Kafkas Stoff wie eine freie Verfilmung mit Motiven einer Romanvorlage: Er denkt sich eine 26 27 28 29 30
Ebd., S. 142. Ebd., S. 143. Ebd., S. 144–153. Ebd., S. 166–173. Eisner, Comics & Sequential Art, S. 228–229.
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Fortsetzung der Romanhandlung aus, in welche er eine Handlungsskizze des eigentlichen Romans als Rückblende einfügt. Kafkas Process endet für den Angeklagten damit, dass er von zwei Herren abgeholt, in eine verlassene Gegend am Stadtrand gebracht und dort von ihnen erstochen wird. Kurz vor seinem Ende – schon völlig kraftlos – sieht er in der Entfernung ein Haus, ein Fenster und an diesem eine Gestalt. Kafkas letzte Sätze im Roman sprechen von K.s Empfindungen angesichts des eigenen Todes. »›Wie ein Hund!‹ sagte er, es war, als sollte die Scham ihn überleben.«31 Die Idee dieses »Überlebens« bildete wohl den Anstoß für Eisners Kafka-Paraphrase. Diese wird durch eine Art Titelblatt eingeleitet, das der Erinnerung an Kafka gewidmet ist und Schwellenfunktion besitzt. (Eisner hat in seinen Comics über den Comic die Möglichkeiten der Realisierung von Bild-im-Bild-Strukturen ausführlich erörtert und exemplifiziert.32 Er selbst sieht in ihnen vor allem ein kompositorisches Mittel, um den Prozess der Erzählung als solchen zu visualisieren.) The Appeal erzählt, wie ein alter Mann in seine Wohnung heimkehrt und dort unversehens vier Fremde vorfindet und als Angeklagter apostrophiert wird. Man teilt ihm mit, es handle sich um eine Sitzung des Berufungsgerichts des zehnten Gerichtshofs von Prag, Kläger sei Mr. K., einer der Anwesenden, der nackt am Tisch sitzt. Mr. K. ist tot; er wurde erstochen, und darauf bezieht sich die Anklage. Dem jetzigen Angeklagten wird vorgehalten, er sei 1916 Mitglied eines Gerichts gewesen, das Anklage gegen K. erhoben habe. Daraufhin beginnt K., seine Geschichte zu erzählen – es ist die stark gekürzte und schon dadurch verfremdete, aber wiedererkennbare Fabel des ProcessRomans. Aus dem Advokaten Huld wird dabei ein »Jurist namens Fuld«. Paraphrasiert wird nur die Hinrichtungsgeschichte – unter Modifikation der Episode mit der Erscheinung am Fenster. Als den Mann am Fenster identifiziert K. nun den Wohnungsbesitzer, der nun eingesteht, er sei der Richter gewesen, zugleich aber behauptet, von der Anklage habe er nie etwas gehört. Er wird verurteilt, sich fortan um den gespenstischen Angeklagten zu kümmern, der ihn nicht mehr verlässt. Die Idee der Einquartierung eines Fremden, der sich im Haus eines anderen einnistet und ihn zu verdrängen sucht, erinnert an die Fabel in Dostojewskijs Doppelgänger-Roman. Nahe liegt aber auch die Erinnerung an Herman Melvilles Bartleby, der sich ebenfalls in den Räumen eines anderen einquartiert und nicht mehr fortgeht. Doch der Einfall Eisners signalisiert dem Comic-Leser vor allem die Übertragbarkeit Kafka’scher Szenarien in die Gegenwart. Literarische Klassiker können umgeschrieben und erweitert, transformiert und umarrangiert werden; darin liegt ihre Stärke. 31 32
Franz Kafka, Der Proceß. Hrsg. von Malcolm Pasley, Frankfurt am Main 1990, S. 312. Vgl. Eisner, Comics & Sequential Art, S. 48, S. 71.
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Abb. 58: Die erste Seite von Eisners Appeal. Hier wird das Entstehungsjahr des ProcessRomans falsch angegeben und eine unzutreffende Angabe zu Kafkas Beruf gemacht (offenbar als Folge eines Übersetzungsfehlers).33 Die auf den Process-Roman gemünzte Behauptung »The Czech author […] never intended the case to be concluded« ist unsinnig, denn der Fall wurde ja mit der Hinrichtung K.s abgeschlossen. Allerdings hat Kafka sich mit Plänen zu weiteren Kapiteln beschäftigt (Eisner, Graphic Storytelling, S. 116). 33
Der Process, 1925 von Max Brod aus dem Nachlass Kafkas herausgegeben, entstand vom Sommer 1914 bis zum Januar 1915 und nicht, wie der Comic behauptet, 1916, und Kafka war nicht »Regierungsbeamter mit juristischen Würden«, sondern Angestellter bei einer Unfallversicherung. Übrigens war er auch kein ›tschechischer Autor‹, sondern ein deutscher.
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Kafka-Arrangements bei Peter Kuper Peter Kuper hat seiner Adaptation von Kafkas Verwandlung34 eine Einleitung vorangestellt, in der er die Verwandtschaft der Kafka’schen Imagination mit in Comics gestalteten Phantasien hervorhebt. Kafkas »angst-ridden characters in reality-bending scenarios« seien, so heißt es, »ideally suited to this medium«; gemeint ist der Comic, der sich demnach in der Geschichte Samsas selbst darstellt, weil diese eine seiner spezifischen Grundstimmungen ausformuliert hat. Kupers Überlegungen zu gemeinsamen thematischen Interessen Kafkas und des Zeichners Winsor McCay verdeutlichen die Motive für Kupers Interesse an Kafka: Es ist das Interesse am Alptraumhaften. […] Franz Kafka never allowed his characters to enjoy the relief of awakening to normalcy from their disturbing dreams. Still, the two artists have much in common, including a shared genius for rendering the anxious intersection of reality and dreamscape.35
Kuper montiert in seine zeichnerischen Paraphrasen zu Kafka’schen Texten als Textbausteine ausschließlich (übersetzte) Kafka-Zitate. In Give it up! werden einige kurze Texte vorgestellt, Die Verwandlung erschien als Einzelpublikation. Indem er in Give it up! Texte aussucht, die sich vollständig reproduzieren lassen, tritt der Zeichner in einen Dialog mit diesen Texten; er vermittelt kein Wissen über Kafka, sondern zitiert diesen ohne kürzenden oder paraphrasierenden Eingriff in dessen Texte herbei, und so kommt es zur Gegenüberstellung je einer sprachlichen und einer gezeichneten Auslegung dessen, was Kuper als Kafkas Themen interpretiert. Der Band Give it up! enthält zeichnerische Umsetzungen von Eine kleine Fabel, Die Brücke, Gib’s auf!, Ein Hungerkünstler, Ein Brudermord, Der Steuermann, Die Bäume, Der Kreisel und Der Geier.36 Mehrere dieser Texte sind keine Erzählungen im engeren Sinn; sie entwerfen Denk-Bilder, schildern statische oder doch entwicklungslose Situationen und Figuren. Geschichte ist für Kafka kein Fortschreiten, sondern eine allenfalls zyklische Bewegung, oft ein Nicht-Vorwärtskommen, ein ›stehender Sturmlauf‹. Dieser Gedanke ist für Kupers Bildregie offenbar prägend. Die Titelerzählung Give it up! (Gib’s auf!) ist ein Text, der mit dem ›großen Schwung‹ einer Gebärde endet – ein ausgeprägt gestischer Text. Kupers Zeichnungen haben selbst etwas vom 34
35 36
Franz Kafka, The Metamorphosis. Adaptation von Peter Kuper, Übers. von Kerstin Hasenpusch, New York 2003. Ebd., S. 5. Franz Kafka, Give it Up! and other short stories. Illustrated by Peter Kuper, New York 1995.
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Abb. 59: Die Katze aus Kafkas Kleine Fabel bei Kuper (Give it up!, S. 10).
schwungvollen Gestus des Kafka’schen Schutzmanns mit seinem rätselhaften Lachen, nicht zuletzt, da sie eine eigene sarkastische Form von Komik besitzen. Ein Beispiel dafür ist die Zeichnung der Rückansicht jener Katze, die in der Kleinen Fabel gerade die Maus verschlungen hat. Zentral ins Bild gesetzt wird der ›Hinterausgang‹ der Katze als der einzige ›Ausweg‹ für die Maus. Kuper wählt vorzugsweise solche Texte als Vorlage, die sich gegenüber einer konventionellen Visualisierung sperrig verhalten, weil sie ihre eigenen Bilder auflösen. Genau diese Auflösung wird ins Bild gesetzt. Die Bäume (The Trees) beruht auf einem Gleichnis, das Kafka einerseits erfindet, andererseits dekonstruiert: »For we are like tree trunks in the snow. In appearance they lie sleekly and a little push should be enough to set them rolling. No, it can’t be done, for they are firmly wedded to the ground. But see, even that is only appearance.«37
37
The Trees, in: ebd., S. 49–52.
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Abb. 60: Peter Kuper: The Trees (Give it up!, S. 49).
Im ersten Bild von Kupers Paraphrase sehen wir Wolkenkratzer, die durch gigantische Lettern gebildet werden: Schrift und körperliche Realität sind hier zur Deckung gekommen. In die Zeichnungen hinein schieben sich Textzeilen – so, als wären sie die im Text erwähnten Baumstämme im Schnee. Kuper möchte Kafka keineswegs einfach illustrieren. Das sprachliche Ausgangsbild erfährt eine gründliche Transformation: Statt eines Waldes ist eine Großstadt mit Passanten, einem Obdachlosen und einem Polizisten zu sehen. Der Obdachlose wird mit dem ›Baumstamm im Schnee‹ analogisiert; der Polizist versucht vergeblich ihn von der Stelle zu bewegen, da der Mann ja »fest mit dem Boden verbunden« ist. Doch da auch dies »nur scheinbar« so ist, gelingt es einem vom Polizisten gerufenen Krankenwagen, den Mann fortzutransportieren.
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Vielfach ebnet Kuper die Differenz zwischen Schrift und Bild ein; Bilder werden zu Lettern, Sätze gewinnen Bild-Qualität. In Abstimmung auf den konstruktivistisch wirkenden Zeichenstil dominieren architektonische Bildmotive wie Labyrinth, Wolkenkratzer und Brücke. Im ersten Panel der Hungerkünstler-Nacherzählung wird Schrift besonders nachdrücklich materialisiert: Wir sehen den Hungerkünstler in einem Käfig, dessen Gitter aus den Lettern des Wortes HUNGER gebildet wird.38 So visualisiert das Bild zugleich die Idee des Verhungerns durch die Schrift wie die der Gefangenschaft in der Schrift – beides in Korrespondenz zur Thematik der Erzählung Kafkas. Dem Verweis des Comics auf seinen eigenen Kunstcharakter dienen Rahmungsstrukturen, insbesondere die ›Begrüßung‹ des Lesers an der Schwelle zum Buch durch eine anthropomorphe melonetragende Maus, die wie ein Schatten durch die ersten Seiten und anschließend durch ein Labyrinth läuft. Sie signalisiert, dass die Vorstellung beginnt, leitet über zur Kleinen Fabel und erscheint aufgrund ihrer Ähnlichkeit mit Mickey Mouse geradezu als Emblem der Gattung Comic Strip. Kupers Figuren sind wie die Helden Kafkas in ausweglos-statische Situationen gebannt, auch wenn sie sich hektisch bewegen. Das Geschehen kreiselt ziel- und entwicklungslos in sich selbst; als idealer Schauplatz dafür erweist sich das Panel. Kupers Panels suggerieren durch ihre Komposition aus unterschiedlich geformten und gegeneinander verschobenen Bildfeldern den Blick in vieldimensionale Räume. Gern verwendet Kuper eine ›Zooming‹-Technik, die an filmische Darstellungsverfahren erinnert. Und der Zeichner arrangiert ›Schnitte‹, bei denen der Betrachterstandpunkt wechselt und sich übergangslos ein anderer Blick auf die Episode ergibt. Zwischen den einzelnen Episoden finden sich schwarze Seiten, die den Eindruck einer Reihung von Filmszenen unterstreichen und an den Stummfilm erinnern. Kafkas Texte werden nicht nur gekürzt, sondern zudem in Streifen geschnitten, welche den Zeichnungen als klar abgegrenzte Papierstreifen beigegeben sind: als eine Sprach-Spur, welche die Bildkompositionen begleitet, als Anspielung auf den ›Strip‹ als Grundstruktur der Comic-Erzählung – aber auch als Reminiszenz an die Spruchbänder vieler mittelalterlicher Allegorien. Durch die Verwendung von Text-Streifen (schwarz auf weiß und weiß auf schwarz) werden der Zitatcharakter der verbalen Elemente und der Collage-Charakter des jeweiligen Gesamtarrangements hervorgehoben. Kuper experimentiert mit visuellen Darstellungsformen; hier liegt sein eigentliches Interesse – und nicht etwa in der Vermittlung von Informationen über Kafka und sein Werk. Gleichwohl – oder gerade als Folge davon – gibt es bemerkenswerte struk38
Vgl. The Hunger Artist, in: ebd., S. 25–34, hier S. 25.
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Abb. 61: Peter Kupers Adaptation von Der Kreisel (The Top, in: Gib’s auf!, S. 55).
In der Episode The Top löst sich die Zentralfigur selbst in kreiselnde Bewegungen auf. Diese »kreiselnde« Struktur der Bildsequenzen ist für den Verfasser des Vorworts, Jules Feiffer, ein Anlass, die Bildkompositionen des Zeichners mit Jazz-Improvisationen über Kafka-»Themen« zu vergleichen. »[…] Kuper […] does […] Jazz. This book is a series of riffs, visual improvisations on short takes by the old master [=Kafka].«39
39
Jules Feiffer, »Introduction«, in: Kuper, Give it up!, S. 3.
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turelle Korrespondenzen zwischen Kupers Panels und den paraphrasierten Kafka-Texten. Die Zeichnungen suggerieren ein Geschehen ohne Fortschritt, stellen Vorfälle dar, ohne im engeren Sinn etwas zu erzählen; passend zum Modell des ›stehenden Sturmlaufs‹. Charakteristisch für Kafkas Stil ist insbesondere die Verwendung einschränkender, relativierender Konjunktionen und anderer verbaler Mittel zur Erzeugung von Ambiguitäten und einander widersprechenden Perspektivierungen. Scheinbare Mitteilungen lösen sich auf in Deutungshypothesen. In den von Kuper paraphrasierten Texten Kafkas findet diese Eigentümlichkeit ein Pendant – als Folge der spezifischen ›Schnitttechnik‹ des Zeichners. Kupers Panels sind polyperspektivisch und wirken, als seien sie aus Fragmenten von Bildern zusammengesetzt. In der Paraphrase zur Kleinen Fabel wird nicht allein ein Labyrinth dargestellt, sondern die Panels als solche wirken labyrinthisch, indem sie sich einer Entschlüsselung am Leitfaden konventionellen perspektivischen Sehens entziehen. In Die Brücke wird die Figur dessen, der sich im Text als Brücke vorstellt, wie eine Brücke diagonal über das erste und das letzte Panel gelegt. Die Paraphrase zu Der Kreisel enthält auf den einzelnen Panels beweglich wirkende, gleichsam durcheinander hüpfende Bildelemente. Die Zeichnungen zu Gib’s auf! werden durch Schriftbalken durchkreuzt, die den Blick des Betrachters behindern, sich ihm in den Weg stellen.40 Immer wieder demonstriert die Schrift ihre eigene Materialität, aber auch das Papier, auf dem geschrieben und gezeichnet wird. Kupers Comic-Version der Verwandlung korrespondiert stilistisch dem Bändchen Give it up! Auf 79 Seiten (von denen die letzten beiden wie zur ironischen Signalisierung der Zeitlosigkeit des dargestellten Glücksmoments nicht mehr paginiert sind) wird Kafkas Text nacherzählt. Die Ausgangserzählung ist in Kupers Buch diesmal nicht vollständig übernommen worden, wobei allerdings keine Episode fehlt. Anstelle herausgekürzter Textpassagen übernehmen Bilddetails erzählerische Funktionen. Der Anteil direkter Rede der Figuren ist bei Kuper größer als bei Kafka; manches ist aus dem referierenden Erzählerbericht in Sprechblasen transformiert worden. Der strenge und kontrastreiche Stil der Schwarz-Weiß-Graphiken ist aus Gib’s auf bekannt, und wie dort experimentiert Kuper mit vielfältigen Strukturierungsformen der Panels.
40
Vgl. insges. Give it up!, in: Kuper, Give it up!, S. 19–22.
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Abb. 62: Hintere Umschlagklappe von Kupers Metamorphosis. Ähnlich wie Crumb und Mairowitz suggeriert auch Kuper, dass nicht nur Gregor Samsa sich in einen Käfer, sondern auch der Autor Kafka sich in Gregor verwandelt habe. Zwar trägt Gregor dort, wo in Rückblenden seine Vorgeschichte rekapituliert wird, in der er noch Menschengestalt besitzt, ein Allerweltsgesicht, doch auf dem hinteren Umschlagbogen des Bandes findet sich ein suggestives Doppelporträt von Kupers Hand und in dem für ihn charakteristischen Stil: Das eine zeigt Franz Kafka, das zweite Kafka und Kuper in Personalunion als schreibenden Käfer. Die Geschichte des in seinem Zimmer herumkriechenden Käfers wird vor allem zum Anlass, unkonventionelle räumliche Effekte zu erzeugen. Mit Gregor wechselt der Betrachter die Perspektive, mit ihm blickt er aus neuen Blickwinkeln in die Welt und auf sich selbst, mit ihm erfährt er eine – durch die Panel-Struktur versinnbildlichte – verwirrende und fragmentierte Realität. Neben der Fragmentierung der Welt wird die des Ichs ins Bild gesetzt. Anlässlich der Reflexionen Gregors über seine Laufbahn als Handelsvertreter, den ständigen Kampf um das Geld und gegen die Zeit zeichnet Kuper eine seitenfüllende Sanduhr, in deren oberer Hälfte Gregors Oberkörper zu sehen ist, wie er im Sand verschwindet, während in der unteren Hälfte der Uhr diejenigen Geldscheine zu Boden flattern, in welche sein Leib sich offenbar partiell schon aufgelöst hat.
Casanave/Cara: Kafkas Amerika-Roman als Slapstick Daniel Casanave und Robert Cara haben eine dreiteilige Comic-Nacherzählung zu Kafkas erstem Roman geschaffen. Teil 1, Une villa aux environs de New-York (2005), stellt die Geschichte Karls vom Beginn des Romans bis zum Verlassen des Landhauses von Herrn Pollunder dar. Teil 2, Sur la route de Ramsès (2007), schildert Karls Weg zum Hotel Occidental und die dort ge-
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Abb. 63: Kreisrunde Bilder in Daniel Casanaves und Robert Caras Adaptation des Verschollenen (Bd. 1, S. 62).
machten Erfahrungen; Teil 3, Le théâtre de la nature de’Oklahoma (2008) ist den darauf folgenden Episoden des fragmentarischen Romans gewidmet.41 Abgesehen von den roten Einbänden der beiden Teile sind die Bilderzählungen ganz in Schwarzweiß gehalten. Schwarzweiß-Kontraste spielen bei der Bildregie eine wichtige Rolle.42 Der Zeichenstil Casanaves orientiert sich an filmischen Darstellungsmitteln. So erinnert seine Dynamik an ›bewegte Bilder‹. Die Panels wirken wie flink hingestrichelt; die gezeichneten Bilder werden gleichsam zum Laufen gebracht. Zugleich enthalten sie viele Bilddetails, vor allem die ganzseitigen; Stadt- und Landschaftspanoramen sowie Interieurs sind teilweise sehr sorgfältig gezeichnet. Die Bilder entsprechen so der Realistik filmischer Darstellungsformen. Die Kapitel beginnen jeweils mit kreisrunden Zeichnungen, welche auf das folgende Kapitel Bezug nehmen und wie Blicke durch ein Kameraobjektiv wirken. Am Ende der Bände wird dieses Motiv des Kamerablicks aufgegriffen. Die optisch repräsentierte Welt zieht sich zu einem runden Linsenbild zusammen – wie am Ende vieler Filme aus der Pionierzeit des Kinos.
41
42
Franz Kafka/Daniel Casanave/Robert Cara, L’amérique, Frontignan 2006–2008, Bd. 1: Une villa aux environs de New-York, Bd. 2: Sur la route de Ramsès, Bd. 3: Le théâtre de la nature de’Oklahoma. Neben der Romanparaphrase selbst gibt es einen dreiseitigen ergänzenden Informationsteil über Kafka und sein Werk. Die Bildgrößen variieren. In der Regel besteht eine Buchseite aus drei horizontalen Blöcken, die meist aus je zwei Zeichnungen bestehen; hinzu kommen ganzseitige Bilder, welche panoramatisch Überblick über Gesamtsituationen geben.
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Abb. 64: Der Heizer in Casanaves und Caras L’Amerique (Bd. 1, S. 4).
Der Zeichner bedient sich einer ganzen Reihe von Bildzitaten. Der Heizer ähnelt einer von Kafka selbst gezeichneten grotesken Figur. Die Erzählung des Onkels über Karls Verhältnis mit dem Dienstmädchen verlegt die Ereignisse nach Prag; man sieht die Karlsbrücke und eine Silhouette der Umgebung.43 Durch die Anspielungen auf die Filmgeschichte interpretiert die gezeichnete Nacherzählung der Romanhandlung diese bereits – als eine Geschichte, die enge Affinitäten zu filmischen Darstellungsmitteln aufweist, wie es ja auch bereits von frühen Interpreten konstatiert worden war. Die Film-Anspielungen dienen aber auch der Selbstinterpretation der Bildgeschichte: Diese weist implizit auf ihren Inszenierungscharakter hin – sie versteht sich selbst als eine mediale Form, die an die Filmgeschichte anknüpft, und zwar an die frühe. Tatsächlich sind gezeichnete Figuren ja auch Stummfilmfiguren ähnlicher als Tonfilmfiguren, da sie nur durch Schrift ›sprechen‹ und durch ihre Gestik vieles von dem ausdrücken, was sich unter anderen medialen Rahmenbedingungen akustisch darstellen ließe. Das Schwarz-Weiß und seine Möglichkeiten der sinnbildenden Kontrastierung bilden ebenfalls ein Bindeglied zwischen Comic und frühem Film. Und stilistisch treffen sich beide Kunstformen in ihrer Affinität zum Grotesken, Possenhaften, Überzeichneten.
43
Vgl. ebd., S. 15.
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Passend zu Inhalt und Figuren in Kafkas Roman, erinnert die zeichnerische Nacherzählung an die Welt des Stummfilms, aber auch an andere Filmgenres, etwa den Horrorfilm. Karl Roßmann ist eine Slapstickfigur, dünn, beweglich, mit ausdrucksvoller Gestik. Auch die übrigen Figuren sind (auf teils groteske, teils schreckenerregende Weise) weitgehend komisch bis zum Karikaturhaften. Einzelne Anspielungen auf die Filmwelt kommen als Formen indirekter Autoreferentialität hinzu: So sieht Karl bei der Fahrt durch New York ein Kino, in dem gerade The Birth of a Nation von D. W. Griffith gespielt wird.44 Die Darstellung des dunklen und weitläufigen Landhauses bei New York erinnert an Szenarien aus Abenteuer- und Horrorfilmen.45 Bei Karls Abschied präsentiert sich das Haus als ein typisches ›Gothic Castle‹;46 auch das Hotel Occidental wirkt von außen ähnlich.
Montellier/Mairowitz: The Trial. A Graphic Novel David Zane Mairowitz, der schon als Szenarist an Introducing Kafka mitgewirkt hatte, hat auch das Szenario einer Adaptation des Process-Romans geschaffen, die 2008 erschien.47 Schon dass im Untertitel von Montelliers und Mairowitz’ Kafka-Adaptation das neue Genre sich selbst beim Namen nennt (»A Graphic Novel«), deutet die autoreflexiven Interessen an, die sich mit der Nacherzählung des Romans verbinden. Ein der Bildgeschichte vorangestelltes Vorwort ist der Vielfalt von Interpretationsansätzen gewidmet, die Kafkas Roman bietet. Betont wird die Unerschöpflichkeit des Textes, das Residuum an Unentschlüsseltem, das bei jedem Deutungsversuch am Ende doch bleibt und die eigentliche Faszinationskraft des Romans begründet. Das Vorwort als solches, aber auch sein Inhalt, verbinden Kafka’s The Trial mit Introducing Kafka, wo ja gleichfalls einleitend auf die Vielzahl der Deutungsversuche hingewiesen wird und die entschlüsselungsfreudigen Interpreten in ironischem Licht erscheinen. Unterschwellig besitzt die Stellungnahme der ›Graphic Novel‹ zur Geschichte der Kafka-Exegesen einen selbstreflexiven Zug: Auch Zeichnerin und Szenarist interpretieren, aber sie bieten keinen Entschlüsselungsversuch.
44 45 46 47
Casanave/Cara, L’amérique, Bd. I, S. 32. Vgl. ebd., S. 42 f. Vgl. ebd., S. 61. Franz Kafka’s The Trial. A Graphic Novel. Illustr. von Chantal Montellier, adapt. u. übers. von David Zane Mairowitz, London 2008.
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Abb. 65: Erste Seite von Franz Kafka’s The Trial (Montellier/Mairowitz, The Trial, S. 7).
Anders als in Introducing Kafka werden Protagonist und Autor des Romans zu einer Person verschmolzen: Die erste Seite, deren Textanteil aus dem Romananfang in englischer Übersetzung besteht, präsentiert ein gezeichnetes Porträt des Josef K., das deutlich durch die Physiognomie Kafkas geprägt ist. Die Widmung »To you, dear K.!« lässt sich entsprechend auf Josef K. wie auf Franz Kafka beziehen. Sie ist motiviert durch das Geburtstagsmotiv – Kafkas Romanhandlung setzt mit dem 30. Geburtstag K.s ein – über das beide K.s zusätzlich verknüpft werden: Zwei Kerzen zeigen die Daten 1883 (Kafkas Geburtsjahr) und 1913 (dementsprechend das Jahr, in dem Kafka 30 wird; übrigens nicht das ›Geburtsjahr‹ Josef K.s, denn die Arbeit am Roman beginnt Kafka erst 1914. Allerdings endet die Romanhandlung, als K. 31 Jahre alt wird, also so alt ist wie sein Autor bei Beginn der Niederschrift).
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Wie in Introducing Kafka das Bild Kafkas leitmotivische Funktion hat, so hier das Bild K.s. Es taucht immer wieder auf: als Bildzitat, das der gesamten graphischen Erzählung einen collageartigen Charakter verleiht. Gelegentlich wird der gezeichnete K. seinem Autor auch ähnlicher. Dadurch wie durch den Wiederholungscharakter des Porträts macht die graphische Darstellung auf sich aufmerksam. Demselben Zweck dient ein zweites Leitmotiv, das bereits als Rahmenmotiv zusammen mit dem Vorwort aufgetaucht war: das des Gerippes. Montellier inszeniert die Geschichte K.s als Totentanz. Dass der Tod (der K. am Ende seiner Geschichte erwartet) damit bereits zu Beginn der Erzählung gegenwärtig ist, korrespondiert einer Besonderheit in der Entstehungsgeschichte des Romans: Kafka hatte das letzte Kapitel, in dem K. hingerichtet wird, zusammen mit dem Romananfang konzipiert und geschrieben. (Ein weiteres leitmotivisches Memento-mori-Motiv ist das der herunterbrennenden Kerze.) Die Rahmung des ersten Bildes weist eine Besonderheit auf, die auch viele spätere Panels noch prägt: Sie ist nicht intakt, wirkt wie zerbrochen, wie gewaltsam zerstört. Etwas scheint – buchstäblich – aus den Fugen zu gehen, angenagt von kleinen Gerippen.48 In manchen Panels bestimmt das Schwanken und Zerbrechen des gezeichneten Rahmens das ganze Bild: Als sich Josef K. in einer späteren Episode mit Leni auf eine Liebesbeziehung einlässt, beginnt der um die erotische Szene gelegte Rahmen ein gespenstisches Eigenleben zu führen; ihm wachsen Köpfe wie einer Hydra und Greifklauen, die an Lenis Hände mit Schwimmhäuten zwischen den Fingern erinnern.49 Rahmendurchbrüche und Entgrenzungen finden auch auf der Ebene der erzählten Geschichte statt: Nicht nur, was Josef K. zustößt, ist Gegenstand der Darstellung, sondern auch seine Imaginationen, Hypothesen und Ängste – etwa der Einfall, bei der unerwarteten Verhandlung könne es sich um einen Scherz seiner Arbeitskollegen anlässlich des 30. Geburtstags handeln.50 Die das alltägliche Szenario unterwandernde Sphäre der Imaginationen und Tagträume wird durch surreale Bilder wiedergegeben. Über das Motiv des Rahmens und vielfältige Rahmungsstrategien wird von der ersten bis zur letzten Szene die Thematik von Blick und Sehen visualisiert. Der Leser sieht, wie sich die Figuren gegenseitig ansehen, wobei die ›Bildregie‹ sich erkennbar an filmische Schnitttechniken anlehnt, vor allem, wenn es darum geht, die Szenerie mit den Augen einer bestimmten Figur sehen zu lassen. Mehrfachrahmungen steigern die Komplexität der dargestellten Szenen. 48 49 50
Ebd., S. 9. Ebd., S. 63. Ebd., S. 11.
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Abb. 66: Beispiel für die Rahmenstruktur in The Trial; offenkundig ist hier auch die Thematik des Sehens und Gesehenwerdens (Montellier/Mairowitz, S. 13).
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Neben dem Rahmen ist das Auge ein Leitmotiv, das die Erzählung strukturiert. In Kafkas Roman selbst finden sich dafür bereits viele Anlässe: Josef K. betrachtet mehrfach Bilder und sucht aus ihnen Informationen über die Sphäre des Gerichts zu gewinnen. Die entsprechenden Szenen – unter anderem K.s Besuch beim Maler Titorelli – sind auch in Kafka’s The Trial Anlässe zu komplexen Arrangements von mehrfach geschachtelten oder sich wiederholenden Bildern. Die Bildmotive Fenster und Spiegel (zumindest ersteres auch in Kafkas Text ein wichtiges Sinnbild) werden – wie auch das des Auges und des Rahmens – eingesetzt, um den Sehvorgang als solchen zu markieren. Die Erinnerung an Velázquez’ Meniñas liegt mehr als einmal nahe. So lässt Montellier den Leser aus K.s Fenster hinaus und ins Fenster der Nachbarn hineinblicken, die ihrerseits in K.s Fenster schauen und dort vielleicht den Leser erblicken; an der rückwärtigen Wand der Nachbarwohnung hängt ein Spiegel, der allerdings kein Gesicht zeigt.51 Die wechselseitige Beobachtungssituation zwischen K. und seinen Nachbarn korrespondiert der eigentümlichen Perspektivik der Romannarration, die die Ereignisse weitgehend (aber nicht ganz konsequent) aus K.s Perspektive darstellt, ihn dabei aber in der dritten Person in den Blick rückt – also zugleich von ›innen‹ und von ›außen‹ zeigt. Seine von Kafka wiedergegebenen Überlegungen zu dem Bild, das er selbst in den Augen anderer macht, korrespondieren den komplexen Verspiegelungen bei Montellier. Gelegentlich ist unentscheidbar, ob der Leser selbst die Ereignisse in einem Spiegel sieht. Diese Möglichkeit wird zumindest suggeriert, wenn er K. zusammen mit dem verhaftenden Beamten zweimal in derselben Position zu sehen bekommt, einmal allerdings so, dass das Bild durch seine Rahmung klar als Spiegelbild ausgewiesen ist.52 Auch die wiederholten Spiegelungen der Hauptfigur in der dunklen Brille eines der Beamten53 bekräftigen den Zusammenhang von Blick und Spiegel. Die Welt des Slapstickfilms kommt über die Gestalt des Onkels vom Lande ins Spiel, der Josef K. in Kontakt zum Advokaten Huld bringt: In einem zu engen Jackett und zu weiten Hosen, mit Stock und Hut ausgestattet und insgesamt wie ein Tramp wirkend, ist der Onkel eine unverkennbar chaplineske Figur.54 Der Anwalt Huld weist – sieht man von seinem Bart ab – physiognomische Ähnlichkeiten zu Orson Welles auf, der in seiner Verfil-
51 52 53 54
Ebd., S. 10. Ebd., S. 10. Ebd., S. 13. Ebd., S. 52 f.
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Abb. 67: Zitat Robert Crumbs in The Trial (S. 50).
Auch Kafka’s The Trial arbeitet mit zahlreichen Bildzitaten. Josef K. wird dabei nicht nur im Rückgriff auf Photographien Kafkas gezeichnet, sondern auch in Anlehnung an Darstellungen Robert Crumbs in Introducing Kafka,55 wie denn überhaupt mehrfach Bildzitate aus diesem früheren Kafka-Comic-Buch verwendet werden. Ausdrücklich auf Crumb hingewiesen wird anlässlich der Übernahme seiner Zeichnung von Kafka inmitten labyrinthisch verschlungener Schriftlinien, die bei Montellier anlässlich der Prüglerszene zitiert wird.56 Dieselbe Vorlage wird später nochmals in anderem Kontext verwendet und als Nachzeichnung aus Crumbs Buch ausgewiesen.57 Hier entwickelt Montellier das zitierte Ausgangsbild weiter: Dreimal sehen wir K. am Schreibtisch, in zunehmend verstörter wirkender Haltung.58
mung The Trial die Rolle des Advokaten gespielt hatte.59 Die Türhüterlegende ist in ihrer Darstellung durch Montellier ein verfremdetes (aber gut wiedererkennbares) Zitat der entsprechenden Darstellung bei Crumb.60 Die Figuren und ihre Anordnung ähneln einander auffällig. Das ist mehr als eine 55 56 57 58 59 60
Vgl. Mairowitz/Crumb, Introducing Kafka, S. 103. Vgl. ebd., S. 50. Vgl. ebd., S. 65. Vgl. ebd., S. 66 f. Vgl. ebd., S. 56 f. Ebd., S. 103–106; Crumb, Introducing Kafka, S. 89–91.
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Hommage an Crumb: Es korrespondiert der Mahnung des Geistlichen gegenüber Josef K., er möge den Buchstaben der Schrift (also den Text der Legende) nicht antasten, sondern respektieren. Wie es in der Diskussion zwischen K. und dem Geistlichen in Kafkas Roman um die Überlieferung als Bezugspunkt geht, so deklariert Montellier Crumbs Kafka-Comic zu ihrem Bezugspunkt. Auch in der Hinrichtungsszene wird – allerdings freier – zitiert, was die Gestaltung der Szenen angeht.61 In gewissem Sinn übernimmt Crumbs Comic für Montelliers und Mairowitz’ Kafka-Buch die Funktion, die der Film für Crumb gehabt hatte: die eines Reflexionsmodells und eines Hilfsmittels zur Strukturierung der eigenen Narration.
Martin Freis dystopische Phantasien: Gregor Ka in einer SF-Welt Der Protagonist der in den Gregor Ka-Heften von Martin Frei (Gregor Ka im 21. Jahrhundert, Bd. 1: Das Gutachten, Bd. 2: Der Plan, Bd. 3: Das Projekt ) erzählten Geschichten trägt zwar einerseits einen Namen, der eindeutig auf Kafka anspielt (genauer gesagt, auf Gregor Samsa und die beiden Hauptfiguren im Process und im Schloß, von deren Nachnamen ja nur die Initiale K. bekannt ist), und insbesondere ähnelt die gezeichnete Figur Gregor Ka unverkennbar dem Schriftsteller Kafka selbst. Andererseits handelt es sich bei den Gregor Ka-Geschichten keineswegs um – und seien es noch so freie – Paraphrasen zu Kafka-Texten, und ebenso wenig haben sie den Charakter eines Autorenporträts. Stattdessen erzählen sie aktionsreiche Geschichten, die in beklemmenden Szenarien einer totalitären und lebensfeindlich wirkenden Welt spielen. Die Ereignisse sind, vom Erscheinungsjahr der Bände gerechnet, in der nahen Zukunft situiert (Band 1, 1997 erschienen, erzählt eine Geschichte, die mit dem Jahr 1998 einsetzt) und simulieren, die deutsche Zeitgeschichte hätte einen anderen Verlauf genommen. Aus dieser Ausgangskonstellation entwickelt Frei eine Geschichte, die an dystopische Romane und Filme (wie Orwells 1984 und Huxleys Brave New World ) erinnert, aber auch an Spionage- und Science-Fiction-Erzählungen. Deren Motivik und Bildsprache werden zitiert und in eine schrille Mischung gebracht, die ans Parodistische – oder Selbstparodistische – zumindest angrenzt. Dass sich die Fabeln und Situationen in Variationen wiederholten, bestärkt diesen Eindruck des Parodistischen. Der zweite Band, Der Plan,
61
Crumb, Introducing Kafka, S. 94 f.; Montellier/Mairowitz, Kafka’s Trial, S. 118 f.
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Abb. 68: Titelseite des ersten Bands von Gregor Ka im 21. Jahrhundert (Ausschnitt).
Wie der Leser im 1. Band (Das Gutachten) erfährt, haben angesichts einer drohenden Übernahme der Regierungsgewalt durch eine anhängerstarke neonazistische Bewegung zehn Wirtschaftskonzerne die Macht in Deutschland übernommen. Dadurch wird nach außen zwar der Anschein eines demokratischen Staates gewahrt, tatsächlich aber sind die politischen Verhältnisse totalitär. Zudem ist der Regierungsantritt der »Zehn« nicht demokratisch, sondern durch gewaltsame Machtübernahme erfolgt. Die Volkspolizei hält die öffentliche Ordnung unter strenger Kontrolle, und die Grenzen zum Ausland sind geschlossen worden. Gregor Ka, Sachbearbeiter bei einer Versicherungsgesellschaft, bemüht sich um korrekte Erfüllung seiner Pflichten. Seine Geliebte und Vermieterin, »Frau Bauer«, trägt ihren Namen in Anspielung auf Franz Kafkas Verlobte Felice Bauer, stellt in ihrer Rolle als erotisch attraktive Vermieterin aber eher eine Kreuzung aus den Romangestalten der Vermieterin Frau Grubach und der Mieterin Fräulein Bürstner in Kafkas Process dar. Frau Bauer agiert im politischen Untergrund und ist zusammen mit anderen darum bemüht, das Ausland über die totalitären Verhältnisse in Deutschland zu informieren. Gregor Ka soll dafür funktionalisiert werden. Heikel ist die Situation für Ka deshalb, weil man ihm, wie allen Angestellten, einen Computer implantiert hat, der dazu dienen soll, eine technisch avancierte computergestützte Kommunikation zu ermöglichen (die Individuen sind durch ihr Gehirn an eine Datenzentrale angeschlossen), dabei aber auch seine Gehirntätigkeit beeinflusst und kontrolliert. Ka, der ahnt, dass er sich auf politisch brisantem Gelände bewegt, leidet offiziell an »Wahrnehmungsstörungen« und ist darum zu einer psychologischen Untersuchung genötigt; er braucht ein Gutachten, um sich der Gefahr zu entziehen. Seinem Psychiater gegenüber muss er sich verstellen.
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geht von einer analogen politischen und privaten Ausgangssituation aus: Eine revolutionäre Guerilla bedroht das oligarchische totalitäre Regime. Gregor Kas Geliebte, Felice Bauer, führt ein Doppelleben und unterstützt dabei die Revolutionäre. Ka wird in die politischen Auseinandersetzungen hineingezogen. Dass mit Motiven dystopischer Zukunftsvisionen eher spielerisch verfahren wird, zeigt sich vor allem, wenn auf der Seite des Bösen neben den totalitären Machthabern und ihren Exekutivorganen auch phantastische Monstren agieren: im Gutachten eine Art Killer-Alien, im Plan ein Riesen-Krake aus dem Bodensee. Stilistisch setzt der Comic auf grelle Farben, dramatische Kontraste und plakative Codes. Erotische Motive und Gewaltszenen machen einen erheblichen Teil der Handlung aus. Wenn die Gregor-Ka-Geschichten von Rezensenten als ›kafkaesk‹ bezeichnet worden sind, so hat dies nichts mit konkreten Kafka-Reminiszenzen zu tun, die abgesehen von den Namen Bauer und Ka und dem Motiv undurchsichtiger Behörden eher spärlich und vage sind. Der bis zum Parodistischen plakative Bildstil ist nicht durch Kafka’sche Texte motiviert; stattdessen verweist er auf die Genres von SF-, Spionage und Dystopie-Geschichten, aus deren Bild- und Vorstellungsarsenalen sich der Zeichner bedient – und damit auf ein bestimmtes Subgenre der Comic-Erzählung. Gemeint ist mit der Bezeichnung ›kafkaesk‹ wohl die ganz allgemeine Darstellung einer total verwalteten Welt, und die Gregor Ka-Bände bedienen in diesem Sinne allerdings klischeehafter Vorstellungen über ›Kafkaeskes‹. Eine Zwischenbilanz: Die vorgestellten Kafka-Comics bestätigen die reflexiven Potentiale des Literatur-Comics insgesamt, wenngleich aus verschiedenen Perspektiven. (1) In der Auseinandersetzung mit Kafka erkunden Comic-Autoren die für den Comic prägende Verwandtschaft mit anderen Darstellungsformen: (a) mit dem expressiven volkstümlichen Theater, das stark auf Gestik und Mimik der Akteure setzt, (b) mit dem Stummfilm, der die Expressivität von Körpern und Gesichtern aus dem Theater seiner Zeit entlehnt, die Spielhandlung zudem aber durch Zwischentitel, also durch Schriftzüge ergänzt; diese werden graphisch oft der Thematik oder Grundstimmung dessen angepasst, wovon die Rede ist. Die Form der Lettern und die Gestaltung der Schriftflächen im Film werden zum Experimentierfeld einer neuen Spielform ästhetisch-medialer Darstellung. (2) Der Transfer von Ausdrucksmitteln vom Theater in den Stummfilm wiederholt sich gerade anlässlich von Kafka-Comics als Transfer von theatralischen und stummfilmspezifischen Mitteln in die Bildgeschichte. Ein-
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zelne Kafka-Comics (Casanave, Montellier) unterstreichen durch Bildmotive, Stil oder Layout, dass es sich um einen Transfer handelt. (3) Besonders akzentuiert wird in diversen Kafka-Comics das gestische Potential der Schriftzeichen, ihre Formbarkeit und Expressivität. Die (aus Comic-Perspektive autoreferentielle) Entdeckung der Schrift-Körper stiftet eine Verbindung zwischen Stummfilm und Comic, aber auch zu Kafkas Texten, in denen es vielfach um Imaginationen körperlich präsenter Schriftzeichen und beschrifteter Körper geht. (4) Zur Bildkörper-Schrift geworden, erscheint die Schrift bei Kafka wie bei einigen seiner Comic-Adaptatoren als Protagonistin der erzählten Geschichten. Kafkas mit der Sprache des Comics in manchem verwandte Zeichnungen stilisierter Strichfiguren machen die latente Verwandtschaft zwischen gezeichneten Körpern und Schriftzeichen auf ihre Weise ebenfalls sinnfällig.
Ex-Libris: Kafka als Repräsentant der deutschen Literatur im Ausland Unter dem Reihentitel Ex-Libris erscheinen im Delcourt-Verlag ComicAdaptationen zu weltliterarischen Klassikern. Kafka ist – als bislang einziger deutschsprachiger Autor – bereits doppelt vertreten: mit jeweils einer Adaptation von Die Verwandlung62 und von In der Strafkolonie (Dans la colonie pénitentiaire).63 Die Bände sind sorgfältig gezeichnet, die Geschichten einfallsreich inszeniert. So werden zur Darstellung der Orientierungsschwierigkeiten des in einen Käfer verwandelten Gregor Samsa die Bildelemente wie die Partikel einer Collage arrangiert. Vielfach nur Details zeigend, überlagern und überlappen sie einander und erscheinen schon durch ihre häufig schräge Positionierung auf den Bildseiten als visuelle Äquivalente von Gleichgewichtsstörungen. »La métamorphose« ist in düsteren Farben gehalten, und Helles – die hellen Gesichter der Personen, die Gregor Samsa beobachten, die glänzenden Knöpfe an der Uniformjacke seines Vaters, wirken eher bedrohlich. Die Titelseite suggeriert durch die Platzierung eines winzigen Kafka-Porträts innerhalb der Umrissfigur eines Käfers einen Zusammenhang zwischen Autor und Figur. 62
63
Franz Kafka, La métamorphose, Szenario: Corbeyran, Zeichung und Kolorierung: Horne, Paris 2009. Franz Kafka, Dans la colonie pénitentiaire, Szenario: Sylvain Ricard, Zeichnung: Maël, Kolorierung: Albertine Ralenti, Paris 2007.
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Abb. 69: Die Strafkolonie in der Reihe Ex-Libris (Richard/Maël, Dans la colonie pénitentiaire, S. 24).
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Anders als in La métamorphose sind die Seiten des in einem exotischen heißen Land spielenden »colonie pénitentiaire« durch verschiedene helle Gelbund Beigetöne als Hintergrund charakterisiert, vor dem die eher düsteren Figuren der Kafka’schen Geschichte agieren. Ein auffälliges Stilmerkmal ist die häufige Verwendung symbolträchtiger Schlagschatten. Die Szenaristen haben die Erzählungen Kafkas in Dialoge aufgelöst (wobei gerade die Strafkolonie ja selbst schon einen erheblichen Anteil an wörtlicher Rede aufweist). Wie auch bei anderen Bänden der Reihe informiert die hintere Umschlagseite nicht nur über den Text, sondern auch über den zugleich zeichnerisch informierten Autor. Das Kafka-Porträt des Bandes zur Strafkolonie weist dabei eine gewisse Ähnlichkeit zur Gestalt des Kommandanten auf. Die Vorsatzblätter der Bände sind in Abstimmung auf das Thema der Texte graphisch gestaltet: Der Verwandlungs-Band zeigt hinten und vorn die anatomische Zeichnung eines Käfers, dessen Körperteile wissenschaftlich kommentiert werden. Der Strafkolonie-Band zeigt unkommentiert Zeichnungen der Maschinenteile, die zu einem Apparat gehören könnten, wie er in der Geschichte als Bestrafungsmaschine kommentiert wird.
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Der Weg durch den Spiegel der Künste: Marc-Antoine Mathieus Comics, die Bibliothek und das Liebhaberkabinett
Marc-Antoine Mathieu erzählt in seinen Comic-Büchern seltsame Geschichten, die er meist selbst erfunden hat (gelegentlich greift er auf Erzählungen seines Bruders Jean-Luc zurück).1 Charakteristisch für die Bildergeschichten Mathieus ist ihre Selbstbezüglichkeit: Immer wieder geht es um Bilder, Blätter, Rahmungen, um Abenteuer des Sehens, um Repräsentationen – und um Grenzüberschreitungen zwischen rahmender und gerahmter, repräsentierter und repräsentierender Welt.2 Nicht zufällig trägt ein Band den Titel Le Dessin (2001/2002 bei Delcourt, Tournai). Mathieus Figuren erleben traumartige, oft alptraumhafte Abenteuer. Ein in diversen Bildergeschichten auftretender Protagonist heißt Julius Corentin Acquefaques und wird von seinem Erfinder als »prisonnier des rêves« charakterisiert.
1
2
Zu Mathieu vgl. u. a. Mélanie Lamarche-Amiot: »Spirales et anneaux de Möbius dans ›Le processus‹ et ›Le début de la fin‹ de Marc-Antoine Mathieu«, in: Tangence 68 (2002), S. 33–49; Frank Leinen, »Spurensuche im Labyrinth. Marc-Antoine Mathieus Bandes dessinées zu Julius Corentin Acquefacques als experimentelle Metafiktion«, in: Ders./Guido Rings (Hrsg.): Bilderwelten – Textwelten – Comicwelten. Romanistische Begegnungen mit der neunten Kunst, München 2007, S. 229–263; Isabelle Martin, »Comment la bande dessinée de Marc-Antoine Mathieu, L’Origine, renouvelle le concept de mise en abyme déjà présent dans la littérature?« http://www.er.uqam.ca/merlin/kc291 575/origine.htm#toc (Download: 26. 04. 2010); Rolf Lohse, Ingenieur der Träume. Autoreflexive Komik bei Marc-Antoine Mathieu, Essen/Bochum 2008. Leinen nennt eine ganze Reihe intertextueller Anspielungen auf andere Comics bei Mathieu: Das plötzliche Aufwachen, mit dem Acquefacques’ Abenteuer zu beginnen pflegen (und sei es ein geträumtes Aufwachen), ist eine Anspielung auf die Little Nemo-Serie von Winsor McCay (Leinen, »Spurensuche im Labyrinth«, S. 243). McCay kommt auch in der spiraligen Bibliothek in Le Processus vor. Ähnliche Übergänge zwischen Traum- und Wach-Sphäre sieht Leinen in Töpffers Voyages et aventures de Docteur Festus und in der anonym publizierten Bildgeschichte Le voyage de M. Blandureau autor du monde (Leinen, »Spurensuche im Labyrinth«, S. 243).
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5.1
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Acquefacques’ Abenteuer
Marc-Antoine Mathieus Comic-Erzählungen3 über die Abenteuer des Herrn Acquefacques sind in hohem Maße autoreflexiv. Wichtigste Strategien der Selbstthematisierung sind Binnenspiegelung und Medienreflexion. Seine Figur des Monsieur Acquefacques ist ein Abkömmling literarischer Figuren, er ›stammt aus der Bibliothek‹, wie sein Schöpfer auch ausdrücklich zu erkennen gibt. Die Geschichten über Acquefacques sind als autoreferentielle Geschichten zugleich Literatur-Comics; beides hängt eng zusammen. Die Selbstverweise dieser Comic-Bücher gelten zwar in ostentativer Weise der eigenen Medialität (Schwarzweiß, Farbe, Zweidimensionalität, Buchstruktur, Gezeichnet-Sein …), aber sie erfolgen im Kontext von Geschichten, mit denen Mathieu autoreferentielle literarische Texte zitiert bzw. an diese anknüpft. Eine Acquefacques-Episode heißt übrigens in Anspielung auf Proust »À la recherche du rêve perdu«. Die Begegnung des gezeichneten Acquefacques mit seinem eigenen skizzenhaft gezeichneten Entwurf und einer Reihe von dreidimensionalen Doubles erinnert an Pirandellos Einfall, den Autor mit den eigenen Figuren zusammentreffen zu lassen. Julius Corentin Acquefacques, ein bürgerlich gekleideter, bebrillter und aktentaschentragender Mann mittleren Alters, erlebt als ›Gefangener der Träume‹ (prisonnier des rêves) seltsame Abenteuer;4 für ihn gibt es keine 3
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Marc-Antoine Mathieu, Julius Corentin Acquefacques, prisonnier des rêves, 4 Bde., Tournai, Bd. 1: L’Origine (1991; dt.: Der Ursprung, aus dem Frz. von Harald Sachse, Hamburg 1992); Bd. 2: La Qu… (1991; dt.: Die vier F …, Hamburg 1993); Bd. 3: Le Processus (1993; dt.: Der Wirbel, Hamburg 1994); Bd. 4: Le Début de la Fin/La Fin du Début (1995); Bd. 5: La 2,333e Dimension (1993; dt. Die 2,333. Dimension, Berlin 2004). Ferner: Mémoire morte, Paris 2000; Le Dessin, Paris 2001; L’Ascension … et autres récits, Text: Marc-Antoine und Jean-Luc Mathieu, Zeichnung: Marc-Antoine Mathieu, Paris 2005; Les Sous-sols du Révolu. Extraits du journal d’un expert, Paris 2006. Laut Mathieu ist Acquefacques »un personnage transparent, absolument creux« (Thierry Groensteen, »Julius Corentin et moi. Entretien avec Marc-Antoine Mathieu«, in: Neuvième Art 4 (Januar 1999), S. 62–70, hier S. 66, zit. nach Leinen, »Spurensuche im Laybrinth«, S. 243) bzw. »une coquille vide, un être plutôt veule et sans grande personnalité […], un non-personnage« (Pierre Dharréville, »BD. »Toucher le fond de la forme«, in: L’Humanité (29. 5. 2004, http://www.humanite. presse.fr/journal/2004–05–29/2004–0529–394571 (Stand: 14. 5. 2010); vgl. Leinen, »Spurensuche im Labyrinth«, S. 243.) – für Leinen ein Anlass zur Erinnerung an den Mann ohne Eigenschaften. Die Maskenhaftigkeit des Gesichts von Acquefacques bezieht Leinen auf das Motiv der Maske in Pirandellos »Maschere nude«Werkkomplex und bei anderen Werken des italienischen »teatro grottesco« (ebd., S. 244).
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Welt außerhalb dieser Träume. Angedeutet wird aber wiederholt, dass eine andere Welt existiert, nämlich die des Szenaristen und Zeichners, der Acquefacques’ Welt hervorbringt. Acquefacques lebt in ›La Cité‹, diese liegt in einer Wüste, genannt ›Le Rien‹, das Nichts. In La Cité wohnen nur Männer, die Stadt ist überfüllt. Wohnraum ist knapp. Verschwendung von Raum wird behördlich geahndet. Die Stadtbewohner werden penibel überwacht. Und überwacht werden auch die Träume: In La 2,333e Dimension gerät Acquefacques in Kontakt mit Vertretern der entsprechenden Dienststelle, die bestimmte Träume nicht zulassen möchte und Träumer, die über die Grenzen des Erlaubten hinaus träumen, entsprechenden Behandlungen unterzieht. Auch der Humor wird von einer Behörde verwaltet; Acquefacques arbeitet im Ministerium für Humor.5 Die Traumthematik stiftet eine enge Verbindung der Mathieu’schen Geschichten zu surrealistischen Phantasien und einem Autor wie André Breton.6 Auch Mathieus Schauplätze sind teilweise surrealistisch inspiriert.7 Die Abenteuer Acquefacques’ handeln allesamt von dem Darstellungsmedium, in dem der Held existiert: Sie kreisen darum, dass Acquefacques eine gezeichnete Gestalt in einem Buch, Held in einer Bildergeschichte ist; sie thematisieren, woraus Comic-Bücher gemacht werden und wie sie gestaltet sind.
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Zur Charakteristik der Welt, in der Acquefacques lebt, vergleicht Leinen diese mit dem Staat in Orwells 1984 und mit Fritz Langs Metropolis; er erinnert ferner an andere Filme: Terry Gilliams Brazil und 12 Monkeys, David Lynchs Lost Highway und Orson Welles’ Verfilmung von Der Process. Acquefacques ist nach Leinen die »Inkarnation von Bretons ›rêveur définitif‹, ein Wanderer zwischen zwei miteinander verschmelzenden Welten des Traumes und des Wachens. Zwar verheißt der leitmotivisch in Erscheinung tretende Augenblick des Erwachens das Ende des Träumens, doch beginnt gerade hiermit paradoxerweise immer wieder ein neuer Traum. […].« (Leinen, »Spurensuche im Labyrinth«, S. 235) Leinen betont den Surrealismus-Bezug der Mathieu’schen Fabeln. Als »prisonnier des rêves« lebe A. »in einem surrealistisch anmutenden Kosmos jenseits der Antinomien von Traum und Realität, wahr und falsch, Sein und Nicht-Sein, erzählter und erlebter Welt, Innen und Außen […]«. Der Bahnhof in La Qu… erinnert an Dalís Bild Estación de Perpignan. Vgl. zum surrealistischen Erbe Mathieu in Groensteen 1999, 68: »J’ai un peu lu Freud et Jung, mais je n’ai pas approfondi mes recherches dans ce domaine. En revanche, je crois complètement à la psychanalyse […] Dans l’histoir des connaissances, Freut me paraît aussi important que Newton ou Einstein …« In der Traumfabrik gibt es einen Wegweiser zur »Entrée Breton« (Mathieu, Le Processus, S. 18).
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L’Origine (1991) Monsieur Acquefacques, angestellt im »Ministère de l’humour«, erhält einige Seiten aus einer Comic-Erzählung zugeschickt, die einem Band mit dem Titel L’origine zu entstammen scheinen; jedenfalls ist dieses Wort handschriftlich auf einen Seitenrand gesetzt worden. Zu Acquefacques’ Verblüffung ist in der Bilderzählung offenbar seine eigene Geschichte dargestellt: Man sieht, was sich zuvor abgespielt hat, wie er auf Seite 118 seine Geschichte mit einem irritierten »C’est moi!« erkennt. Das Wort ›origine‹ (Ursprung) kennt er allerdings nicht, und so sucht er es in einem Wörterbuch – wo er es nicht findet. Sein Ursprung ist also ein Rätsel. Diesem Ursprung geht er im Folgenden nach – um schließlich an den Ort seines Ursprungs zurückzufinden: auf den Arbeitstisch seines Zeichners.9 In einer Druckerei teilt man Acquefacques mit, er gehöre einer zweidimensionalen Welt der bande dessinée an, die aus einer ebenfalls existierenden dreidimensionalen Welt hervorgegangen sei, wo alle Erklärungen für die Existenz der zweidimensionalen Welt zu finden seien: »Nous faisons partie d’un projet dont l’explication se trouve dans le monde tri-dimensionnel«.10 Durch die Verschränkung von Haupthandlung – Acquefacques findet die Blätter mit der Darstellung seiner Geschichte – und eingebetteten Szenen (vergangene, gegenwärtige, zukünftige Momente) präsentiert sich Acquefacques als Figur, die simultan in verschiedenen Zeiten lebt.11 Das erinnert an Borgesianische Gedankenexperimente, angestellt unter anderem in Der Garten der Pfade, die sich verzweigen, an die Tlönistische Lehre von der Idealität der Zeit (Tlön, Uqbar, Orbis tertius) sowie an Borges’ paradoxal betitelte
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In L’Origine sind die Seiten doppelt paginiert: Mathieu nummeriert sie, der Verlag ergänzt eine Seitenpaginierung, die die Zählung mit der 1. Seite des Buches beginnt, S. 1 nach Mathieu ist entsprechend S. 5 im Album. Die Seitenzählung folgt hier der von Mathieu in die Bildseiten integrierten Paginierung. In L’Origine, so Leinen, müsse Acquefacques lernen, »dass er als Wesen aus Papier Teil eines durch die Gesetze der Bande dessinée definierten Universums ist« (Leinen, »Spurensuche im Labyrinth«, S. 239). Mathiue, L’Origine, S. 40. Wenn Acquefacques die eigene Geschichte in die Hand bekommt, so erinnert dies auch an Don Quijote, der im zweiten Teil des Romans darüber spricht, wie er sich in einer falschen Fortsetzung des ersten Teils seiner Abenteuer porträtiert gefunden hat. Eine ganze Reihe von literarischen Figuren liest im Buch die eigene Geschichte. Im Heinrich von Ofterdingen von Novalis etwa findet der Protagonist ein Buch, das sein eigenes Leben, dargestellt als Bildgeschichte, enthält.
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Abb. 70: Mise en abyme in Mathieus L’Origine (S. 29). In der vom Helden gelesenen Bildgeschichte sind auch zukünftige Ereignisse dargestellt: Auf Seite 23 erfährt Acquefacques, dass er in eine Buchhandlung gehen wird (der Comic im Comic zeigt dies auf seiner Seite 27). Dort wird er einen Déjà-vu-Eindruck haben (logischerweise) und ein Gespräch mit einem gewissen Edmond Dalenvert führen. Acquefacques, der sich kritisch gefragt hat, ob und wie er in die gezeichnete Geschichte hineinkommen wird (wie sich beide Ebenen also berühren sollen), weicht Bibliotheken und Buchläden zunächst aus und unterhält sich mit zwei Freunden über die Frage der Determination seiner weiteren Geschichte. Die Freunde sehen einander zum Verwechseln ähnlich, bilden also das visuell-simultane Pendant zur Handlungsverdoppelung auf der Ebene der Geschichten. Zudem wohnen sie in einem Aufzugschacht, was auf die Durchlässigkeiten zwischen verschiedenen ›Stockwerken‹ der Handlung hindeutet. Acquefacques erhält einen Comic-Band, in dem aber nur die 29. Seite der erzählten Geschichte zu sehen ist. Dargestellt ist genau der gegenwärtige Moment: wie Acquefacques die Seite entdeckt, auf der er gerade diese Seite liest – etc.: eine klassische mise en abyme also. Der auf eine Seite reduzierte Band scheint, wie In-
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dizien zeigen, 42 Seiten besessen zu haben. War auf den fehlenden Seiten dargestellt, wie es mit Acquefacques notgedrungen weitergehen muss? Kann dieser sich nur so verhalten, wie es schon vorgeschrieben ist? Dass er sich damit auseinandersetzt, was er ab jetzt unausweichlich tut, muss dann ebenfalls Bestandteil seiner folgenden Geschichte sein. Und was erwartet ihn in dem Moment, der auf der (noch fehlenden) 42. Seite dargestellt war? Im Lager der Buchhandlung trifft Acquefacques einen gewissen Igor Ouffe, der eine Forschungsabteilung leitet; diese geht der Frage nach der Erklärbarkeit der Welt dadurch nach, dass alle Mitarbeiter Comics zeichnen. Man versucht, den Schöpfungsprozess von Comics als Rekonstruktion des Weltschöpfungsprozesses zu beschreiben – was einerseits logisch erscheint, da wir es ja mit einer Comic-Welt zu tun haben, andererseits unlogisch, da die Figuren das ja eigentlich nicht wissen können. (An der Wand hängen Reproduktionen einer Seite von Acquefacques’ bisheriger Geschichte.) Ouffe hält die Bildgeschichte L’Origine für ein Abbild der Welt. Er hat sie zufällig gefunden und ihrem Protagonisten Acquefacques die Seiten, die dieser erhielt, zugespielt, um die Kongruenz des Dargestellten mit Acquefacques Erlebnissen zu überprüfen. Aus der bisherigen Kongruenz beider Geschichten (der im Buch und der Acquefacques’) zieht er die Folgerung, der Ablauf der Dinge sei determiniert. Das klingt einerseits plausibel, ist andererseits aber als ›Folgerung‹ paradox, weil dann ja auch die Entdeckung Ouffes schon determiniert gewesen sein muss und folglich keine ›Entdeckung‹ ist. Gerade wenn er glaubt, etwas über die Welt als determiniertes Ganzes aussagen zu können, ist Ouffe seiner eigenen Theorie gemäß in dieser Welt befangen, als Teil ihres Mechanismus. Statt auf den Abstand gehen zu können, den ein kritisches Urteil voraussetzt, wiederholt er seiner eigenen Theorie entsprechend nur ein Programm. Acquefacques wird von Ouffe durch eine Druckerei geführt, wo dieser erfährt, wie zweidimensionale Welten entstehen; man erklärt ihm den Herstellungsprozess von Comic-Büchern. Wiederum ergibt sich eine paradoxe Konstellation: Die Bildgeschichte suggeriert durch den Zeichenstil, sie stelle eine dreidimensionale Welt dar, während sie zugleich als zweidimensionale Welt erläutert wird. Das Gespräch kommt unter anderem auf den gedachten Schöpfer zweidimensionaler Welten, der selbst einer dreidimensionalen Welt angehören müsste. Dieser könnte das Fehlen der letzten Seiten im Welt-Buch bewirkt haben, so wie er diese Welt insgesamt als Papier behandeln, zerreißen, knicken oder durchlöchern kann. Passend zu diesem Gespräch über die mögliche Durchlöcherung der Welt weisen die Seiten 36 und 37 (Vorder- und Rückseite eines Blattes) in der Mitte ein rechteckiges Loch auf. Dies ermöglicht unter anderem, einen Blick in die auf der von Seite 36 aus gesehen übernächsten Seite dargestellte Zukunft zu tun. Umgekehrt ergibt sich von Seite 38 aus ein Blick zurück in die Vergangenheit, der als Element der Gegenwart sichtbar wird (als durch das Loch freigegebener Bildausschnitt). Wiederum an einer Schnittstelle von Vergangenheit und Zukunft angekommen, erhält Acquefacques von einem Fahrradboten einen Umschlag, der Seite 43 seiner Geschichte enthält. Die Figuren sehen sich auf Seite 42 an, was Seite 43 zeigt. Mathieus Buch selbst hat aber keine Seite 43 – bzw. die fragliche Seite ist ganz schwarz. Dafür bietet Seite 42 in Form der dort als Binnenseite dargestellten Seite 43 eine Erklärung: Auf dieser (gleichsam vorgezogenen) Seite sieht Ouffe mit Erschrecken, dass er sich auf Seite 43 befindet. Er ist die
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Abb. 71: ›Durchlöcherte‹ Seite in L’Origine (S. 36 f.).
gezeichnete Figur eines Comic-Künstlers, der sich gerade über sein Zeichenbrett beugt. Unzufrieden mit der entstehenden Geschichte, ist der Zeichner gerade an dem Punkt angekommen, an dem er mit der Geschichte unzufrieden ist etc.; wiederum ergibt sich eine unendliche Binnenspiegelung der Darstellung eines Blicks auf das Blatt, um das es gerade geht. Der Zeichner zerstört daraufhin die Seite, indem er sie anzündet. Auf der gezeichneten Seite 43 (die gerade verbrennt) sieht man, wie gerade Seite 43 verbrennt. Ouffe und Acquefacques hoffen gleichwohl, dem Feuer zu entgehen; so besteht Ouffe darauf, dass man sich ja noch auf Seite 42 befinde (während ja die Zerstörung erst auf Seite 43 erfolgt; sie liegt also immer in der Zukunft). Die Schwärze der folgenden Seite (der wirklichen Seite 43) lässt mehrere Auslegungen zu: Die Figuren könnten mit ihrer Welt verkohlt, sie könnten aber auch entkommen sein.
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Essay Neue Widerlegung der Zeit.12 Auch die durch den Titel und die ZeichnerFigur aufgeworfene Frage nach dem ›Ursprung‹ der Acquefacques-Welt – als eine Frage, die Acquefacques sich zuvor nie gestellt hat, weil er das Wort ›Ursprung‹ nicht einmal kennt – korrespondiert Borgesianischen Visionen. In der Bibliothek von Babel suchen die Bibliothekare nach einem solchen Ursprung, ohne ihn jemals fassen zu können.
La Qu… (1991) In La Qu…13 geht es vor allem um einen bestimmten Aspekt der Konstitution von Comic-Welten: um die Alternative Schwarzweiß oder Farbe. Hier fliegt Acquefacques zunächst durch einen weißen Raum, wiederum also scheint es um eine Ursprungssuche zu gehen, und der Text erwähnt denn auch einen Urknall, eine Lichtexplosion. Unterwegs trifft der Held seinen Bekannten Hilarion Ozéclat. In den Blick gerät der (photographisch dargestellte) Arbeitsplatz eines Comic-Zeichners, unter dessen Papieren nicht nur der Umschlag des Vorgängerbandes L’Origine zu sehen ist, sondern auch die (zerstörte) 43. Seite dieses Bandes. Entweder befinden wir uns in einer Parallelwelt, oder der durch den Urknall ausgelöste Flug Acquefacques’ durch den Raum steht mit der Zerstörung der Welt aus L’Origine in Beziehung. Ist er aus der alten Welt des ersten Bandes in die des zweiten katapultiert worden? Aber wie ist erklärbar, dass die S. 43 des ersten Bandes hier noch liegt, während er schon fliegt? 12
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Borges greift hier Theoreme des erkenntnistheoretischen Idealismus auf und radikalisiert diesen: Wenn die räumliche Welt nur als Gegenstand unserer Vorstellungen existiert, dann ist es – so die Argumentation – nur konsequent, auch die zeitliche Dimension der Realität als etwas ausschließlich Vorgestelltes zu betrachten. Demnach ›gibt‹ es die Zeit nicht, sondern wir stellen sie uns bloß vor. Aber jeder stellt sich eine andere Zeit vor, so dass es unabsehbar viele ›Zeiten‹ gibt. Die Form des Essays korrespondiert dem Thema: Der Leser bekommt die Argumentation in zwei Versionen geboten, deren Beziehung zueinander als ein Sich-Verzweigen beschrieben werden kann. Borges hätte sich für eine Version entscheiden können (wir lesen ja keine kritische Ausgabe), aber er geht gleichsam ›in der Zeit zurück‹ und beginnt nach Teil A mit Teil B erneut. Diese strukturelle Entscheidung lässt ahnen, dass die »Neue Widerlegung« nicht als philosophische Abhandlung im engeren Sinn zu lesen ist. Sie ist Dokument eines gedanklichen Experiments, innerhalb dessen die idealistischen Lehren verschiedener Philosophen die Ausgangsbasis und das Spielmaterial bilden. Wie auch L’Origine ist La Qu… doppelt paginiert, die Seitenzählung folgt hier wiederum Mathieus Nummerierung.
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Abb. 72: Mathieus Arbeitsplatz mit der Seite 43 des ersten Bandes der BD-Reihe (La Qu…, S. 5). Die Verdrehung konventioneller Raum-Zeit-Verhältnisse wird unterstrichen durch ein unkonventionelles Nummerierungsverfahren: Auf Kapitel 2 folgt ein Kapitel 21⁄2.
Auch in La Qu… ist Acquefacques unter Beobachtung eines Kontrollapparats: Er wird vor Gericht gebracht, nachdem Behördenvertreter bei einer »contrôle d’espace vital« eine offene Schublade bei ihm entdeckt haben; dies gilt als Verschwendung von Lebensraum. (Die Szene erinnert an die Verhaftungsszene bzw. die Exekutionsszene in Kafkas Process, wo der Held zugleich beobachtet wird. Man sieht auch bei Mathieu zugleich mit der Handlung, wie eine Gruppe von Männern an Bildschirmen das Geschehen überwacht.) Die Gerichtsverhandlung gegen Acquefacques verläuft abstrus, was wiederum an Kafka, aber auch an Lewis Carroll erinnert; man erfährt die Anklage nicht recht, die Urteilsverkündung erfolgt durch Gesang. Acquefacques träumt von einer Exekution, gleitet dann aber in einen anderen Traum hinüber (Kapitel 21⁄2 ). Schließlich erwacht er (Kapitel 3: »Le rien«) vor einem Stadttor, vom Torhüter durch die zwei Ohrfeigen geweckt, die man ihm als Strafe angekündigt hatte. Er soll zum Bahnhof gehen, doch die Strecke dorthin scheint unermesslich. Acquefacques macht Station in einem Gasthaus, träumt von einer merkwürdigen Vernehmung auf einer Art Theater und von einer dahinter steckenden Verschwörung. Erwachend kann er seinen Weg
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fortsetzen und erreicht den riesigen Bahnhof, der, wie der Wirt ihm sagt, inzwischen seinerseits angekommen ist. Acquefacques besteigt einen offenbar für ihn allein vorgesehenen Zug; der Kontrolleur trägt allerdings eine Liste bei sich, auf der sich die verschlüsselten Namen von Borges, Sartre und Rimbaud finden. Acquefacques erreicht einen riesigen Leuchtturm (Kapitel 5), erklettert ihn und betrachtet ein verkleinertes Modell der Welt von oben: Sie ist eine Scheibe, über der sich der Himmel als Halbkugel wölbt. Innerhalb dieses Weltmodells entdeckt er ein Modell seiner selbst in analoger Position zu der, die er gerade einnimmt. Durch einen Phonographen in einem Maschinenraum erhält er Instruktionen; schließlich passiert er eine Luke – und landet in einer Welt leuchtender Farben, die sofort in seinen Leuchtturm eindringen. An dieser Stelle erwacht er und entdeckt, dass seine Lebenswelt bunt geworden ist. Das »Qu…« im Titel stand bzw. steht für ›Quadrichromie‹ – für den Vierfarbendruck der wenigen Seiten, die im Band selbst farbig sind, für eine Darstellungsdimension der Bilderzählung also. Er selbst ist jedoch schwarzweiß geblieben, wie er und sein Bekannter Hilarion entdecken. Und von ihm scheint ein Kontaminationseffekt auszugehen, der zuletzt die ganze Acquefacques-Welt auflöst und den Helden sowie seinen Nachbarn ins Nichts der weißen Seite stürzen lässt.
Le Processus (1993) Mit der folgenden Acquefacques-Geschichte wird an die früheren Abenteuer angeknüpft; standen dort Bilder paradoxaler Raum-Konstruktionen, aber auch bereits nicht-lineare Kausalitätsketten im Mittelpunkt, so geht es nun schwerpunktmäßig um nicht-lineare Zeitabläufe, die freilich in Bildern heterotoper Räume bespiegelt werden. Der Held bzw. die Geschichte schafft es sogar, sich vorübergehend in die Dreidimensionalität zu erheben – ein selbstironischer Hinweis der Comic-Erzählung darauf, dass sie eigentlich an flächige Darstellungen gebunden ist und Räumlichkeit nur vorspiegelt. Der Titel bezieht sich aber nicht nur auf temporale Strukturen (auf ›Prozesse‹ im Sinn von ›Vorgängen‹), sondern auch auf Gerichtsprozesse. Eines Morgens erwacht Monsieur Acquefacques und bemerkt, dass ein schlafanzugtragender Doppelgänger sich in seinem Zimmer aufhält. Er selbst, bereits fertig angekleidet, soll sich in eine Traumfabrik (»usine à rêves«) begeben, um sich einer Untersuchung zu unterziehen; der Doppelgänger möchte ihn daran jedoch hindern und spricht warnend von einem »processus«, der so unglaublich wie schwer erklärbar sei. Doch Acquefacques macht sich auf den Weg. Im Gespräch mit Acquefacques’ Untermieter stellt der Doppelgänger fest,
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die Uhr gehe 26 Minuten vor; nun werde Acquefacques 26 Minuten zu früh ankommen. Der Doppelgänger folgt Acquefacques, um ihn vielleicht noch einzuholen. Acquefacques erreicht sein Ziel jedoch noch schneller als erwartet. In der Traumfabrik, einer Art Krankenhaus, verwechselt man ihn mit einem von Visionen geplagten unheilbaren Patienten, und man versetzt ihn in einen Traum, den »cauchemar du plafond«. In diesem Traum nimmt Acquefacques sich in seinem Zimmer wahr, dessen Decke aber verschwunden ist. Über die Mauern sieht er jemanden laufen und begibt sich gleichfalls nach oben, um dort zu entdecken, dass sich bienenwabenartig unermesslich viele Räume aneinander lagern, die dem seinen alle ähnlich sind und in denen sich Szenen abspielen wie die, die zuvor dargestellt wurden.14 Das vierte Kapitel trägt den Titel »À la recherche du rêve perdu«: Acquefacques sucht seinen verlorenen Traum und nähert sich dabei Zimmern, in denen Szenen aus seiner vorangegangenen Geschichte stattfinden. Er trifft einen Mann mit Schubkarre (einen ›Sandmann‹), der ihn an einen Archivar verweist; von diesem erhält er merkwürdige topographische und chronologische Angaben sowie Hinweise auf einen »Vortex-Wirbel«, und während man sich noch unterhält, stürzt ein weiterer Doppelgänger Acquefacques’ von der Seite her ins Bild. Er erzeugt ein Durcheinander unter den Dokumenten des Archivars und verschwindet dann wieder aus dem Bild, den Bildrahmen als Stütze gebrauchend. Acquefacques gerät in den »Vortex-Wirbel«: auf eine spiralige Bahn, die im Buch selbst von einem zwei- in ein dreidimensionales Gebilde verwandelt wird, wenn man die entsprechende Seite umblättert. Die Spirale besteht nämlich aus spiralig zugeschnittenem Papier, das zwischen zwei Blättern befestigt ist und sich beim Blättern ausfaltet. Acquefacques passiert die Spirale und gerät in einen photographisch dargestellten, dreidimensional wirkenden (wenngleich natürlich zweidimensionalen Raum), von dem er sich dadurch abhebt, dass er als zweidimensionale Figur gezeichnet ist. Er irrt durch die ›dreidimensionale‹ Welt, in der er selbst in Form von Plastiken dargestellt ist, und stürzt schließlich in eine andere Szene. Diese entspricht der Szene des Gesprächs mit dem Archivar, das durch das Hereinbrechen einer Doppelgängerfigur gestört wurde. Das anschließende sechste Kapitel (»La bouce se boucle«, Der Kreis schließt sich) trägt die Ordnungszahl 5. Acquefacques findet sich selbst nun in der Rolle des schlafanzugtragenden Doppelgängers, der sein zeitversetztes, bereits angekleidetes Double warnen möchte. Es ist davon auszugehen, dass sich alle Ereignisse ins Unabsehbare wiederholen und immer schon wiederholt haben. Acquefacques’ Geschichte ist insofern zirkulär, es gibt 14
Vgl. Mathieu, Le Processus, S. 22.
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Abb. 73: Die unendlich anmutende Zimmerlandschaft in Le Processus (S. 33). Die zeichnerisch dargestellte Zimmerlandschaft wirkt wie eine unendliche Comic-Seite mit den Zimmern als Panels. Beim vergeblichen Versuch, den anderen Wanderer über die Mauern einzuholen, verläuft Acquefacques sich. Sein Doppelgänger, mittlerweile in der Traumfabrik eingetroffen, erklärt dort die Verwechslung, man beobachtet auf einer Art Bildschirm den traumwandelnden Acquefacques, doch dieser kann offenbar nicht zurückgerufen werden: Er habe, so heißt es, seinen Traum verloren. Insgesamt sind nun drei Acquefacques ins Geschehen verwickelt: der Träumer im Bett, der im Traum über die Wände spazierende und derjenige, der Acquefacques Zuhause aufgesucht hatte, um ihn zu warnen. Der spazierende Acquefacques wird allerdings durch seine Darstellung auf zwei Bildschirmen nochmals verdoppelt.
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Abb. 74: Acquefacques’ Rückkehr in die Vergangenheit (Le Processus, S. 39). Acquefacques hat Mühe, in der erreichten Welt nicht zu versinken, und es gelingt ihm nach vier Bildern schließlich freizukommen. Er ist offenbar in eine zweite Episode hineingeraten, sowie der Doppelgänger in seine Episode – letztlich also in eine andere (zeitverschobene) Phase seiner eigenen Geschichte. Und der Doppelgänger stammt aus dieser Phase; es ist Acquefacques zu einem anderen Zeitpunkt. Insgesamt müssen ganze Reihen von Doppelgängern unterwegs sein, deren einer vor und deren anderer nach dem Passieren des Vortex unterwegs ist. Der erste Doppelgänger, der Acquefacques’ Zuhause aufgesucht hatte, hatte ihn offenbar (vergeblich) warnen wollen. Acquefacques befreit sich aus der photographisch dargestellten Welt und findet sich vor einem Sortiment unordentlich herumliegender Comic-Seiten seiner eigenen Geschichte wieder. Obwohl der verlorene Traum nicht wieder auffindbar ist, entdeckt Acquefacques doch immerhin die Zeichnung seines Zimmers, eines Raums seiner eigenen Vergangenheit. Und so steigt er in dieses Bild ein und geht schlafen.
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Abb. 75: Die SpiralBibliothek in Le Processus (S. 29). Mathieus Protagonist bewegt sich in Spiralen durch eine immense Bibliothek, bis er einen Kuppelraum erreicht, wo ihn jemand darüber aufklärt, in welcher Traumzone er sich gerade befinde und dass es auch noch andere gebe. Eine spiralig zugeschnittene Seite, mit der nächsten durch einen Klebepunkt verbunden, wird beim Öffnen selbst zu einer Art Wendeltreppe, deren einzelne Abschnitte die Kammern des von Acquefacques zuvor erkundeten Traumarchivs sind. Die Buchseite als Trägermedium der Geschichte wird vorübergehend dreidimensional; die Bildersprache verwandelt sich parallel dazu vom üblichen Zeichenstil zur photographischen Darstellung eines plastischen Acquefacques. Dieser tritt insgesamt in drei medialen Darstellungsformen auf: als photographisch repräsentierte dreidimensionale Figur, als gezeichnete Figur, die sich durch den Raum bewegt, obwohl sie aus Linien besteht, sowie als auf dem Papier in Form einer Skizze oder auch als Comic dargestellte Figur.
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aber eine Modifikation zwischen Episode und Episode, als der Protagonist wechselt; es handelt sich jeweils um einen neuen Doppelgänger. Das räumliche Pendant zu den unabsehbar vielen, gleichartigen, aber zeitversetzten Geschichten sind die unabsehbaren parallelen Zimmer, die zunächst schachbrettartig und dann spiralig den Buchraum füllen.
Le Début de la Fin/La Fin du Début (1995) Der folgende Band gilt paradox verschlungenen Raum- und Zeitstrukturen. Le Début de la Fin/La Fin du Début ist durch seinen Titel, seinen Inhalt und seinen Aufbau als ein Buch über Spiegel (und ein Spiegel-Buch) ausgewiesen. Auch dies setzt die Acquefacques-Serie in eine Beziehung zu Borges, dessen Texte das Motiv des Spiegels vielfach mit dem des labyrinthischen Raums und der durch Doppelgänger in Frage gestellten Identität koppeln. Das Buch ist selbst sein eigener, durch Spiegelung erzeugter Doppelgänger: Es lässt sich von hinten und von vorn lesen; sein Ende ist ein anderer Anfang und umgekehrt.15 Die beiden gegenläufigen Geschichten sind nicht identisch, aber in vielem parallel angelegt, teilweise ergänzen sie einander auch. Aus beiden Richtungen gelesen, beginnt die Handlung damit, dass Acquefacques über eine spiegelnde Wasseroberfläche rudert und dann ein Gespräch mit dem Mann im Mond führt, das sich um die Frage nach der Möglichkeit einer freien Wahl dreht. Im zweiten Kapitel (»la logique de l’absurde«) erwacht Acquefacques (in einen Traum hinein): Es gelingt ihm nicht, sich ordnungsgemäß für den Arbeitstag zurechtzumachen, da er alles Mögliche in verkehrter Ordnung tut respektive vorfindet. Nach dem Rasieren hat er einen Bart (das erinnert an einen analogen Einfall in Lewis Carrolls Spiegelland-Buch). Auf einer Schienenbahn durch den Raum zur Arbeit unterwegs, wird Acquefacques aus der Bahn geworfen und in eine Möbiusschleife geschleudert. Er weiß nun nicht mehr, ob er zu früh dran ist oder zu spät – oder beides, denn immerhin lässt sich ja jede Umkehrung umkehren. So begibt er sich zu einem Spezialisten namens Evariste Etsirave, dessen palindromischer Name bereits andeutet, dass es sich um einen Spiegel-Spezialisten handelt. Dessen These zufolge befindet sich Acquefacques in einem Traum, wofür unter anderem spricht, dass er kein Spiegelbild wirft. Evariste Etsirave dreht die Figur 15
Die Struktur des Debut/Fin-Buchs erinnert, so Leinen (»Spurensuche im Labyrinth«, S. 246), an Gustave Verbeeks The Upside-Downs of Little Love-Lady Lovekins and Old Man Muffaroo (1903–1905, 64 Folgen); hier gab es zunächst eine Sechserbildsequenz in konventioneller Anordnung, dann musste man das Blatt drehen.
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Abb. 76: Acquefacques’ Durchgang durch den Spiegel (Le Début de la Fin, S. 25). Die beiden Teilgeschichten respektive ihre Figuren verhalten sich im Mittelteil, wo jeweils einer Seite 5 eine Seite –5 entspricht etc., punktsymmetrisch zueinander. Die Spiegelepisode erinnert mittelbar zudem an die Beziehung zwischen »Akfak« und »Kafka«.
Acquefacques komplett um, indem er ihn an einem verborgenen Reißverschluss öffnet und umstülpt wie einen Strumpf. Acquefacques, der offenbar innen leer war, wird von einem schwarz-weißen zu einem weiß-schwarzen Helden. Auch erhält er von Etsirave die Visitenkarte eines Spiegelhändlers für den Fall einer notwendigen Nachbehandlung. Acquefacques begibt sich zu dem Spiegelspezialisten, in dessen Atelier er einen freistehenden Kippspiegel entdeckt. Als er sich auf den Spiegel zubewegt, nähert sich simultan aus der Gegenrichtung ein rückwärts gehender Doppelgänger, das Negativ zu Acquefacques. Beide verhalten sich zueinander wie an einer Achse von 180 Grad gedrehte Figuren; beide haben offenbar kein Spiegelbild (sie sind einander ja spiegelbildlich zugeordnet). Beide werden von entgegengesetzten Seiten her von der Spiegelfläche verschluckt und tauchen an deren Hinterseite wieder auf. Der eine gleitet so in die Geschichte des anderen und umgekehrt. Der Leser kann entweder eine rückwärts sich entwickelnde Geschichte lesen, die auf dem Kopf steht – oder er muss das Buch drehen und die Gegengeschichte von der anderen Seite her lesen. Die Seitenzahlen sind doppelt
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eingetragen: Man bewegt sich in den Bereich negativer Ordnungszahlen hinein. Analoges gilt für die Kapitelnummerierung. Der Band verweist wie die vorangegangenen auf die Genese von ComicWelten. Hier steht, bedingt durch den Einfall, einen doppelten Acquefacques als Positiv- und als Negativ-Figur auftreten zu lassen, das für den Comic vielfach konstitutive Schwarzweiß im Mittelpunkt. Die letzten Seiten des Buchs sind die ins Negative gespiegelten Pendants zu den ersten Seiten.
La 2,333e Dimension (2004) In der Episode mit dem rätselhaften Titel geht es wiederum um konstitutive Eigenschaften von Comic-Welten – diesmal um ihre fingierte Räumlichkeit, genauer: um eine imaginäre mathematische Dimension, die zwischen Flächigkeit und Räumlichkeit liegt. Damit verweist die Geschichte auf die Bedeutung illusionistischer Verfahren von Zeichnern, die zweidimensionale Bilder so gestalten, dass die intradiegetische Welt dreidimensional erscheint. Die Geschichte von Acquefacques’ Ausflug in die 2,333te Dimension ist mehrfach gerahmt; sie wird wiederum als Traumgeschichte ausgegeben, aber auch die Rahmenereignisse wirken (alp-)traumhaft, und sie zielen inhaltlich wie strukturell darauf ab, die Grenze zwischen Erleben und Träumen durchlässig erscheinen zu lassen. Mathieu knüpft einmal mehr an die literarische Tradition der Traumerzählung an, wobei die Traumthematik vor allem der Reflexion über Illudierungsprozesse dient. Alptraumhaft gestalten sich die Ereignisse, weil die Bedingungen, unter denen gezeichnete Welten normalerweise die Illusion von Räumlichkeit erzeugen, einer Störung unterliegen. Die Figuren in Acquefacques’ Welt haben, wie er erfährt, einen der beiden Fluchtpunkte verloren, die normalerweise dafür sorgen, dass man Gezeichnetes als räumlich wahrnimmt. Als Folge davon wirkt die gezeichnete Welt nicht mehr plastisch. Architekturen und Figuren wirken abgeflacht – was die Figuren selbst registrieren. Ihr Zwischenstatus zwischen Plastizität und Flächigkeit entspricht einem Dasein in der 2,333ten Dimension. Acquefacques, so wird suggeriert, könnte an dieser Störung schuld sein. Er hat in einem anderen, früheren Traum den ›Fluchtpunkt‹ aus der Hand verloren, um den ihn ein (Traum-)Ingenieur gebeten hatte. Die fast flächigen Angehörigen der 2,333ten Dimension fordern Acquefacques auf, sich auf die Suche nach dem verlorenen Fluchtpunkt zu machen, und da er sich schuldig fühlt, übernimmt er diese Aufgabe. Man faltet einen Papierflieger aus seiner ebenfalls fast ganz flächigen Gestalt und schießt diesen in den Weltraum. Acquefacques umkreist einen Globus, auf dessen Oberfläche die
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Episoden seiner eigenen (Traum-)Geschichte in Panel-Form eingetragen sind. Auch trifft er seinen ebenfalls den Raum durchreisenden Bekannten Hilarion. Beide stürzen zeitweilig in eine andere Welt hinein, deren Angehörige nach ihrer eigenen Wahrnehmung einen gegenüber Acquefacques und Hilarion reduzierten Realitätsstatus haben: Es handelt sich um die Welt der unrealisiert gebliebenen Entwürfe zu Comics. Es kommt zu einer Interaktion zwischen Acquefacques, Hilarion und den entworfenen Figuren, dann fliehen die beiden Weltraumreisenden wieder. Sie passieren weitere Plane-
Abb. 77: Acquefacques bei den Entwürfen (La 2,333e Dimension, S. 39). Mathieus Geschichten sind in analogem Sinn Meta-Zeichnungen wie die berühmte Zeichnung Albrecht Dürers, auf der dargestellt ist, wie ein Zeichner, durch ein geometrisches Raster blickend, eine Frauengestalt perspektivisch zeichnet. Nur dass bei Mathieu das perspektivische Zeichnen sich selbst in Frage stellt, während es bei Dürer als Konstitution eines Bildes in den Blick gerückt wird. Acquefacques, seine Gefährten und seine Räume sind Produkte einer zu Illudierungszwecken eingesetzten Geometrie – bis die Illusion gebrochen und als solche thematisiert wird. Reflexionen über die Konstitution von Comic-Welten sind vor allem Reflexionen über optische Illusionen – die aber an ihre Grenzen herangeführt und subvertiert werden.
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Abb. 78: Acquefacques im karierten Anzug (Le 2,333e Dimension, S. 32).
Schon Acquefacques’ karierter Anzug verweist darauf, dass dieser in Zeichenheften entsteht und insofern ein Mann aus Zeichenpapier ist. Mathieus Welten und Figuren wirken geometrisch konstruiert; das Papier, aus dem sie gemacht sind, ist gelegentlich konkret, im übertragenen Sinn aber stets Rechenkästchenpapier. Diverse Szenen spielen in solchen rechenkästchenpapiernen Räumen. Als Papier-Mann kann Acquefacques in La 2,333e Dimension zum Papierflieger gefaltet werden. Auch wenn er in Le Début de la Fin an einem Reißverschluss geöffnet und wie ein Kleidungsstück umgestülpt wird, erscheint er als Rechenkästchen-Figur: aus einer mit schwarzem Gitternetz auf weißem Grund wird eine mit weißem Gitternetz auf schwarzem Grund.
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ten, die für die Welten anderer Comic-Zeichner stehen.16 Schließlich landen sie in einer Sphäre, die der Betrachter mittels einer 3D-Stereo-Brille (dem Comic-Buch beigelegt) betrachten muss. Dadurch gerät der Leser selbst zwischen die Dimensionen. Alle fünf Abenteuer des Julius Corentin Acquefacques stehen also in Beziehung zur Herstellung von Bandes Dessinées in Buchform. Die entsprechenden Bände sind auf sehr evidente Weise autoreflexiv – auf der Ebene der erzählten Geschichte wie auf der der PanelGestaltung: L’Origine thematisiert das Zeichnen und Gezeichnetwerden. La Qu… inszeniert das vorübergehende Eindringen von Farbe (Quadrochromie) in die SchwarzweißWelt des Helden. In Le Processus geht es bereits um die Differenz zwischen Zwei- und Dreidimensionalität. Le Début de la Fin/La Fin du Début rückt die konkrete Materialität des Buches, in dem die Geschichte spielt, ins Zentrum der Aufmerksamkeit, indem es sich als ein Doppel-Buch präsentiert. La 2,333e Dimension verweist durch die Thematisierung des Unterschieds zwischen Zwei- und Dreidimensionalität wiederum auf die Differenz der Ebenen von Darstellung und Dargestelltem. Aus unterschiedlichen Perspektiven präsentieren sich die Figuren, allen voran der Träumer Acquefacques, als Figuren zwischen Sein und (Noch-)Nichtsein.
5.2
Die wichtigsten literarischen Ahnen: Kafka, Borges, Perec
Akfak und Kafka Viele Eigenschaften des Helden, der übrigen Figuren, der Räume und Regeln in Acquefacques’ Welt erinnern an die Figuren und Welten Franz Kafkas. Das gesamte Szenario erinnert an die in dessen Romanen geschilderten Behörden, Büros und Kanzleien, an die betriebsame Firmenzentrale von Karl Rossmanns Onkel im Verschollenen, die auf engen Dachböden und in großen Wohnhäusern ansässigen Gerichtsbehörden im Process, die unzugänglichen Kanzleien des Schlosses und die von Schlossbeamten genutzten Flure und Zimmer des Herrenhofs im Schloß. Mathieus Topographien werden nur von Männern bewohnt, die auf ihren Wegen oft massenweise in eine Richtung streben wie eine Herde, die dabei mit anderen Herden kollidiert. Für den Einzelnen ist vielfach kaum ein Durchkommen – aber Acque-
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Dargestellt sind Bildzitate aus François Schuitens und Benoît Peeters La fièvre d’Urbicande und aus Lewis Trondheims La Mouche (vgl. Leinen, »Spurensuche im Labyrinth«, S. 257).
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facques schafft es dann doch immer wieder; er übersteht seine Erlebnisse als Einzelner. Typisch für die Räume, in denen Acquefacques’ Geschichten spielen, sind labyrinthartige Gebäude von immensen Ausdehnungen, mit unerwarteten architektonischen Besonderheiten, Verschachtelungen, sich plötzlich öffnenden Durchgängen. Treppenhäuser, vor allem Wendeltreppen, spielen eine wichtige Rolle. Neben Räumen, die eng und verwinkelt, durch Mehrfachnutzung auch gelegentlich übersemantisiert erscheinen, gibt es solche, die durch ihre Offenheit, Weite und Unbestimmtheit befremden. Teilweise wohnen die Figuren auf Fluren, in Treppenhäusern, in Fahrstuhlschächten oder in Schränken. Komplex und weitläufig sind die Verkehrswege in Acquefacques’ Welt, die man nicht nur zu Fuß, sondern auch mit eigentümlichen Transportvehikeln nutzt; zu letzteren gehören Fahrradkuriere und gondelartige Sammeltaxen, die über achterbahnartige Schienenwege eilen. Ständig scheinen die Männer kontrolliert zu werden, wenn auch nicht klar ist, durch wen. Die Orte, an die sie – und unter ihnen Acquefacques – eilen, um dort offenbar ihrer Tätigkeit nachzugehen, wirken wie gigantische Behörden, Kanzleien oder ähnliche Büros; auch Archive und Registraturen sind typische Wirkungsstätten. – In L’Origine stellt Acquefacques sich als Mitarbeiter im Ministerium für Humor vor; seine Aufgabe sei es, »das Glossar der Witze und Schimpfwörter auf den neuesten Stand zu bringen«.17 Wenn die Abenteuer des Helden jeweils damit beginnen, dass er sich über etwas zu wundern hat, so erinnert dies an die plötzlichen und befremdlichen Entdeckungen, denen Kafkas Figuren beim Erwachen oder bei der Ankunft an einem neuen Ort ausgesetzt sind.18 Der Band Le Processus enthält zudem schon im Titel eine Kafka-Allusion. Und der Name »Acquefacques« erweist sich, wenn man ihn in Lautschrift schreibt – ›Akfak‹ – als Palindrom zu ›Kafka‹. (Die Verfremdung des Namens Kafka findet sich vorweggenommen in Borges’ Erzählung La lotería en babilonia, wo die »letrina sagrada« den
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Mathieu, L’Origine, S. 7. Wie Josef K. bei seiner Verhaftung zunächst an einen Kollegenstreich zu glauben versucht, denkt auch Acquefacques in L’Origine beim Auffinden des merkwürdigen Blattes mit einer Szene aus seiner eigenen Geschichte an einen solchen Streich aus dem Kollegenkreis. Und er bespricht die Angelegenheit mit zwei zum Verwechseln ähnlichen Brüdern, die als groteske Zwillinge ein Pendant zu den Gehilfen Arthur und Jeremias im Schloß darstellen. Auch diese beiden tauchen in dem Comic-im-Comic auf; sie und Acquefacques haben beim Durchleben der gezeichnet vorgefundenen Szenen ein »Gefühl des Déja-vu«, das sicher auch damit zusammenhängt, dass sie wie aus einem Kafka-Text herausgestiegen sind (vgl. ebd., S. 23).
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Namen Qaphqa trägt.) Auf Kafka verweist indirekt auch das Schwarzweiß der BD-Geschichten, denn Mathieu zufolge sind Kafkas Romane selbst in Schwarzweiß gehalten.19
Borges oder Die Bibliothek Bibliotheken sind bei Borges multiple Universen, Räume, an denen sich verschiedene imaginäre Welten kreuzen – wobei zwischen Realem und Imaginärem kein Unterschied besteht. Mathieu gestaltet das Bibliotheksmotiv in analogem Sinn – vor allem als Hommage an die imaginären Welten der Autoren, Maler und Regisseure, die ihn inspiriert haben.20 (In einem Archiv spielt auch die ebenfalls an Borges’ Bibliothek von Babel erinnernde Kurz-BD La Mutation, 1995, dt. Die Mutation, 2000). Borges’ Bedeutung für Mathieu ist evident.21 Von ihm lässt sich der Zeichner vor allem zur Darstellung verschachtelter und labyrinthischer
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Vgl. Mathieus Aussage hierzu in Groensteen, »Julius Corentin et moi.«, S. 68 (zit. nach Leinen, »Spurensuche im Labyrinth«, S. 243): »Quant à Kafka, il n’est sans doute pas étranger au fait que je dessine en noir et blanc. On ne peut pas imaginer le ›Château‹ autrement qu’en noir et blanc …« Der spiralförmige Teil des Traumarchivs, den Acquefacques in Le Processus durchläuft, enthält Regalabteilungen, die mit Ziffern und Buchstaben beschriftet sind. Ersetzt man die dabei verwendeten Ziffern durch die Buchstaben, die im Alphabet an der entsprechenden Stelle stehen (also die 1 durch ein A, die 6 durch ein F usw.), dann werden Namen von künstlerischen Bewegungen, bildenden Künstlern, Zeichnern, Filmemachern und literarischen Autoren lesbar, deren Werke offenbar zu den Beständen des Traumarchivs gehören. Darunter sind Dada (4141), Breton (BR5TON) Magritte (M17R9TT5), Reeves (R55v5S), Crevel (3R5V5L), Bunuel (2UNU5L), Chirico (389R930), Dali (41Li und 41L9), Borges (2oR75S), Mac-Kay bzw. McCay (M13-K1y) und Kafka (K16K1); das letztere Schild wird sogar zweimal sichtbar (Le Processus, S. 29). Im »Préface« zu L’Ascension werden Borges und Kafka als Anreger der Imaginationen Mathieus genannt: »Borges pour les jeux de miroirs et de labyrinthes, Kafka pour la satire de la bureaucratie envahissante aux protocoles absurdes«. – An die Erzählung über Tlön, Uqbar, Orbis tertius erinnert es, wenn Acquefacques in dieser Geschichte zunächst vergeblich in einer Enzyklopädie nach einem bestimmten Lemma sucht (nach dem Begriff Ursprung bzw. Origine, der als Titel über jenem Comic steht, in dem sein (Acquefacques’) eigenes Leben erzählt zu werden scheint (S. 11). – Leinen stellt der Abhandlung über Mathieu als Motto ein Zitat aus Borges’ Gedicht, Sueño Alonso Quijano, voran, in dem davon die Rede ist, dass Cervantes und Quijote sich wechselseitig geträumt haben (Leinen, »Spurensuche im Labyrinth«, S. 220).
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Räume inspirieren,22 aber auch zu Geschichten mit ausgeprägt darstellungsreflexivem Charakter. Die Bild-Erzählung L’Ascension in dem Band L’Ascension & autres récits erzählt von einem Aufstieg, der sich über viele Jahre zieht. Ein namenloser Mann, ein Nichts (»un rien«), arbeitet in der Hölle (»L’enfer«, so auch der Titel des 1. Kapitels), einem unterirdischen Gewölbe im allertiefsten Keller, wo ein großer Brennofen steht; seine Aufgabe ist das Verbrennen von apokryphen, lügenhaften und blasphemischen Büchern. Er ist selbst Analphabet, aber die Buchstaben in den Büchern flüstern ihm vor ihrer Verbrennung gleichwohl etwas zu, nämlich dass man sich, wenn man auf dem untersten Niveau lebt, durch einen Aufstieg nur verbessern kann. Eines Tages entdeckt der Analphabet eine Türe, hinter der eine Wendeltreppe nach oben führt (Kapitel II; »L’architecte«), und er entdeckt einen Architekten, der sich verlaufen hat. Dieser informiert ihn darüber, dass man sich in einer gigantischen Kathedrale befindet, deren Größe kein Mensch je ermessen hat. Auf jeder Ebene gibt es ein Architektenbüro; es existiert eine Vielzahl von Plänen der Kathedrale, aber kein Gesamtplan. Vom Architekten erhält der Namenlose ein leeres Buch, in dem er seinen Weg durch die Kathedrale aufzeichnen soll.23 Die folgenden Kapitel führen ihn auf immer höhere Ebenen des labyrinthischen Gebäudes, wo er auf Vertreter verschiedener Metiers trifft: nach dem Architekten (Kapitel II) auf den Glöckner (»Le sonneur de cloche«, Kapitel III), eine Gruppe von Naturgelehrten (»Les physiciens«, Kapitel IV), einen Steinmetzen (»Le tailleur de pierres«, Kapitel V), einen Maler (»Le peintre«, Kapitel VI) und einen Kirchenfensterputzer (»Le laveur de vitraux«). Diese Episoden geben unter anderem Anlass zur Darstellung derjenigen Künste, aus denen die zeitgenössische Bildgeschichte hervorgegangen ist: der Steinmetzkunst mit ihren plastischen Bildgeschichten und der Glasmalerei mit ihren narrativen Darstellungen. Der Maler und der Kirchenfensterputzer deuten dem Namenlosen an, dass er seit langem der Erste ist, der es so weit geschafft hat, dass man auf ihn gewartet hat. Auf dem Dach der Kathedrale trifft der Wanderer niemanden; er ist allein mit seinen Aufzeichnungen, der »mémoire de son cours de la cathédrale«.24 Auf der Dachplattform der Kathedrale ausgelegt, erweisen sich die Blätter, auf denen der Protagonist seinen Weg durchs Kathedralen-Labyrinth aufgezeichnet hat, als
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Mathieu in Groensteen, »Julius Corentin et moi«, S. 68 (zit. nach Leinen, »Spurensuche im Labyrinth«, S. 247): »Je relis Borges périodiquement, il est quasiment entré dans mon inconscient. Il fut que je fasse gaffe, car je suis capable de sortir une idée en la croyant originale alors qu’elle viendrait de Borges […]«. Mathieu, L’Ascension, S. 11. Ebd., S. 23.
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Abb. 79: Selbstreferentielle Steinmetzarbeiten in L’Ascension (S. 17).
Die Fraktalstruktur stellt eine Abwandlung der mise-en-abyme-Struktur dar, die Mathieu gern einsetzt. Bilder im Bild sind für die Erzählung insgesamt strukturell prägend. Die gezeichneten Steinmetzarbeiten mit ihren Szenen und Figuren sind als Bestandteile der Zeichnung dabei kaum von der Darstellung der Kathedrale und ihrer Bewohner unterscheidbar. Die Bemerkungen des Glasfensterpflegers deuten darauf hin, dass der namenlose Protagonist selbst zur Figur des Fensterbildes werden könnte. Damit wäre das Fensterbild dann ein Spiegel der BD, wo der Namenlose eine entsprechend (zentrale) Rolle spielt. Die Steinmetzarbeiten, die den Kathedralenbau darstellen, antizipieren die Schlusssequenz der BD. Offenkundig sind die Beziehungen der Bilderzählung zu Jorge Luis Borges’ Erzählung La biblioteca de Babel, was die hochkomplexe und weitläufige Topographie des Schauplatzes angeht. Borges beschreibt und Mathieu zeichnet ein architektonisches Labyrinth, dessen unermesslich viele Räumlichkeiten durch Treppen, Galerien und Gänge miteinander verbunden sind, das man als Ganzes aber nicht überschauen kann – ein Labyrinth, in dem sich Kabinette mit Büchern und Schriften befinden und dessen Bewohner vielfach ihr Leben mit diesen Schriften zubringen. Auch die Erinnerung an Umberto Ecos Roman Il nome della rosa, der
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in vielem auf Borges anspielt, sowie an die Verfilmung des Eco-Romans durch Jacques Annaud mag Anregungen geboten haben. Während Borges’ Erzählung in einer labyrinthischen Universalbibliothek spielt, verlagert Eco das Bibliothekslabyrinth in einen Sakralbau, und auch Mathieus Topographien erinnern an Sakralbauten. Die labyrinthische Kathedrale erinnert auch an M. C. Eschers Architekturbilder; zudem weist sie fraktale Bildstrukturen auf, die an Darstellungen aus dem Bereich der Chaostheorie erinnern. Es geht um die visuelle Darstellung einer Idee von Unendlichkeit. Wie bei Borges die Universalbibliothek das Universum ist, so stellt bei Mathieu die Kathedrale die Gesamtheit der bekannten Welt dar. Der Steinmetz erzählt ihm, wie diese aus einem zunächst kleinen Kirchenbau entstand, der immer größer wurde und in den die Bewohner der Stadt alles investierten, was sie hatten, auch offenbar allen verfügbaren Raum, sodass die Kathedrale die große Stadt, in der sie zunächst als ein Teilbau stand, verschluckt hat. Allerdings weiß man darüber nichts Genaues; wie in Borges’ Bibliothek ist das Wissen der Kathedralenbewohner über ihr Universum ungesichert und spekulativ. Die »Physiciens« tauschen, vergleichbar mit den Bibliotheksbewohnern bei Borges, Auffassungen über die Beschaffenheit der Kathedrale respektive des Universums aus. Diese Dispute haben zugleich theologisch-metaphysischen Charakter wie auch die Hypothesen, die die Bibliothekare von Babel entwickeln. (Mathieus Vorliebe für Anagramme führt dazu, dass er seine Physiciens verschiedene Autoritäten zitieren lässt: Palnck=Planck, L. Palace=Laplace, M. Wellax=Maxwell). Die Physiciens beschäftigen sich mit einem »glossaire«, das sie offenbar verfassen wollen; sie sind gerade bei den »définitions de dieu«, zu denen sie die fraglichen Physiker zitieren.
Mosaiksteine, die sich zu seinem Porträt fügen, das seinerseits zu einer unendlichen fraktalen Architektur gehört, die dem Leser über einige Stufen hinweg gezeigt wird. Auf jedem der Türme könnte ein anderes Gesicht zu sehen sein. Wie die Bibliothekare bei Borges ist auch der Analphabet Mathieus namenlos. Und was er von seinen Gesprächspartnern über die Kathedrale erfährt – insbesondere über ihre unermessliche Erstreckung – erinnert an die Lehren der Borgesianischen Bibliothekare von Babel über die Universalbibliothek. Das Fehlen eines Plans der Gesamtkathedrale in Mathieus Geschichte korrespondiert der vergeblichen Suche nach einem Katalog des unfasslichen Bibliotheksuniversums bei Borges. Der Bericht des Steinmetzen darüber, wie die Bewohner der Stadt ihre immer größer werdende, schließlich die Stadt selbst absorbierende Kathedrale erbaut haben, lässt den Bau des Turms zu Babel assoziieren; einzelne Bauphasen sind zeichnerisch auch – als Sujets der Skulpturen in der Kathedrale – dargestellt. Aber nicht nur die Bibliothek von Babel bildet einen Prätext zu Mathieus Geschichte. Die abschließende Idee, die vom Protagonisten angefertigte Karte seines Wegs durch die Kathedrale zu seinem Porträt werden zu lassen, findet sich bei Borges bereits
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in nur leicht abgewandelter Form. Borges schreibt im Nachwort zu Borges und ich: Wollte Gott, die wesentliche Eintönigkeit dieser Miszellensammlung (deren Kompilator die Zeit ist, nicht ich, und die zurückliegende Stücke zuläßt, die ich nicht auszubessern gewagt habe, weil ich sie mit einer anderen Auffassung von Literatur geschrieben habe) spränge weniger in die Augen als die geographische und historische Mannigfaltigkeit der Themen. Von allen Büchern, die ich drucken ließ, ist, glaube ich, keines so persönlich wie diese zusammengelesene und ungeordnete ›silva de varia lección‹, gerade weil sie an Reflexion und Interpolation so überreich ist. Wenig ist mir widerfahren, aber viel habe ich gelesen. Besser gesagt: wenig ist mir begegnet, was in höherem Maße der Erinnerung wert gewesen wäre als die Gedankenwelt Schopenhauers oder die Wortmusik Englands. Jemand setzt sich zur Aufgabe, die Welt abzuzeichnen. Im Laufe der Jahre bevölkert er einen Raum mit Bildern von Provinzen, Königreichen, Gebirgen, Buchten, Schiffen, Inseln, Fischen, Behausungen, Werkzeugen, Gestirnen, Pferden und Personen. Kurz bevor er stirbt, entdeckt er, daß dieses geduldige Labyrinth aus Linien das Bild seines eigenen Gesichts wiedergibt. […]25
Borges vergleicht sein eigenes, aus Einzelteilen bestehendes Œuvre mit einer Karte, die sein Gesicht zeigt (ohne dass dies vorhersehbar oder gar geplant gewesen wäre); analog dazu zeigen die Zeichnungen des Namenlosen bei Mathieu sein Gesicht. Borges, der über den sich in seinen Werken mosaikartig porträtierenden Borges spricht, ist aber ein anderer als dieser – einer, der um den Porträtcharakter des Werkes weiß. Und entsprechend hat auch der Zeichner Mathieu es bewusst so arrangiert, dass seine Figur ihr eigenes Porträt als großes Mosaik gezeichnet hat. Auf den zahllosen anderen Türmen – so teilt das letzte Bild der Geschichte mit – gibt es ebenso zahllose andere Gesichter. Als allegorische Geschichte gelesen, erzählt L’Ascension vom Aufstieg eines Zeichners aus dem tiefsten Niveau der Kultur bis zu deren höchster Ebene. Der Herkunft nach Analphabet – vielleicht eine humoristische Anspielung auf die Vorwürfe an die Adresse der BD, der Analphabetisierung Vorschub zu leisten – gerät der Zeichner in Kontakt mit Architekten, Wissenschaftlern, Künstlern und Repräsentanten eines kulturellen Archivs. Von allen lernt er etwas, alles fließt in seine Zeichnungen ein. An der Spitze der allegorisch die Gesamtkultur repräsentierenden Kathedrale hat er Gelegen25
Jorge Luis Borges, Borges und ich. Gedichte und Prosa, mit einem Nachwort von Claudio Magris, München, Wien 1982 (= Gesammelte Werke 6), S. 127. – Der Einfall, aus dem aufgezeichneten Parcours eines labyrinthischen Wegs eine Figur entstehen zu lassen, erinnert auch an Paul Austers City of Glass, wo die Route einer Figur die Lettern des Ausdrucks »[T]ower of Bab[el]« bilden, die ja ihrerseits u. a. auf die Borges-Erzählung anspielen.
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Abb. 80: L’Ascension und das Zeichnen (S. 24).
Erzählt wird die Geschichte eines Zeichners, dessen Zeichnung ein subjektiver Plan der unüberschaubaren Kathedrale und zugleich ein Selbstbildnis ist; auch L’Ascension ist als Erzählung über das Zeichnen eine Meta-BD. Unter diesem Aspekt erscheinen die einzelnen Informationen, die man über das Zeichnen erhält, signifikant. Der Protagonist hat die ganze, viele Jahre umfassende Zeit gezeichnet, und zwar seinen eigenen Weg durch das kulturelle Archiv. Es ist die Gesamtheit seiner Aufzeichnungen des eigenen Wegs durch die Kultur, die sein Selbstporträt ausmacht. Eingeflossen sind Informationen und Aufzeichnungen, an denen die Naturgelehrten und Wörterbuchschreiber sowie die Vertreter verschiedener Künste einen maßgeblichen Anteil hatten: vor allem Vertreter der bildenden Künste (Maler, Steinmetz, Architekt und Glasfensterputzer). Der Glöckner könnte als Repräsentant der Tonkunst gedeutet werden, allerdings hört man den Klang der Glocken nicht, weil sie zu weit entfernt sind.
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heit, alles kulturelle Wissen als Riesenzeichnung auszubreiten. Das Ensemble der ausgebreiteten Blätter erinnert an eine gigantische BD. Ist La biblioteca de Babel vor allem eine Erzählung über die Schrift (die Bibliothek besteht aus endlosen Bücherbeständen), so ist Mathieus Geschichte vor allem den bildnerischen Künsten gewidmet. Der Zeichner nimmt mit, was ihm die bildenden Künste, die Architektur und die Naturwissenschaft zu bieten haben. Die strukturell an Bandes dessinées erinnernden Steinmetzarbeiten an den Kapitellen der Säulen und Glasfenster werden in der Bildgeschichte auch als Bilder im Bild – quasi als BD in der BD – gezeigt; das Bild des Malers nicht, es wird aber durch den Text beschrieben: Es enthält Details, die unendlich erscheinen, und alle Farben, die auf dem Bild versammelt sind, warten auf das Licht. Thierry Groensteen hat im Vorwort zu L’Ascension auf die Nähe Mathieus zu Borges und zu den mise-en-abyme-Spielen der Oulipo-Gruppe hingewiesen; für Mathieus Metacomics schlägt er in Anlehnung an das »Ouvroir de littérature potentielle« die Bezeichnung »Oubapo« (»Ouvroir de bande dessinée potentielle«) vor.26
Perec oder Das Kunstkabinett Georges Perecs Roman Un cabinet d’amateur von 1978 handelt von einem Gemälde, das eine Gemäldesammlung abbildet. Der auf einen bestimmten Gemäldetypus verweisende Titel des Romans Un cabinet d’amateur ist zugleich der Titel jenes Gemäldes, das im Zentrum der Romanfabel steht.27 Dieses stellt genau die Sammlung dar, der es selbst angehört – und daher auch sich selbst als Stück der Sammlung, damit aber auch immer wieder alle auf ihm abgebildeten Gemälde, sich selbst inbegriffen, und so weiter ad infinitum. 26
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Mathieu ist ein BD-bewusster Zeichner: »J’invente des récits qui ne se racontent qu’en bédé.« (Mathieu in Eric Libiot, »L’imagination (délirante) au pouvoir«, in: L’Express (24. 01. 2002, http://www.lexpress.fr/culture/livre/l-imagination-delirante-au-pouvoir_817620.html; vgl. Leinen, »Spurensuche im Labyrinth«, S. 229). Ziel Mathieus ist die Erneuerung der BD, ein Anliegen auch des Oubapo, dem Mathieu aber nicht direkt angehört. Zum Genre des Kunstkabinetts vgl. Stoichita, Das selbstbewußte Bild, der die Affinität des Kunstkabinetts zur Paradoxie hervorhebt. In bestimmten Bildern »thematisiert die Paradoxie die Technik der Paradoxie selbst. Man hat es zu tun mit Bildern in ›trompe-l’œil‹-Manier, die sich als fingierte Wirklichkeit darstellen. Diese Gemälde enthüllen sich als bloße ›Materie‹ (Leinwand, Keilrahmen, Farben, usw.), aber diese Enthüllung ist in Wirklichkeit eine Lüge, denn ›dargestellt‹ wird diese Enthüllung eben durch ein Gemälde.« (Ebd., S. 304).
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Irritierenderweise ist die Darstellungsweise des Malers unermesslich präzise; mit Lupen entdecken die Betrachter in den gemalten Bildern immer wieder neue Bilder mit gemalten Bildern etc. Man zoomt sich in das Kunstkabinett hinein und findet kein Ende. Der Text Perecs, angelegt als ein rahmender (fiktiver) Tatsachenbericht, entspricht strukturell einem Kunstkabinett: Wie das Gemälde ›enthält‹ er eine Vielzahl von Bildern, genauer: von kurzen Bildbeschreibungen, in sich. Das Prinzip der Binnenspiegelung, die mise-en-abyme-Struktur, erweist sich bei Mathieu wiederholt als Weg in die Unendlichkeit – auch in der Bilderzählung Les Sous-sols du révolu. Extraits du journal d’un expert. Der Band erzählt ebenfalls vom Weg der Figuren durch eine labyrinthisch wirkende Architektur; er enthält zudem diverse Bildzitate, die abschließend entschlüsselt sind: Bildvorlagen und Architektur sind Hommagen an den Pariser Louvre. Bild-im-Bild-Strukturen dominieren die labyrinthische Erzählung. In einer Episode (»La Réserve du Tableau«) sehen wir zunächst, wie drei Figuren ein »cabinet d’amateur« betrachten – ein Bild, auf dem eine Gemäldegalerie dargestellt ist;28 eine der Figuren bemerkt, es handle sich um ein schönes Beispiel von Metamalerei (»un bel exemple de peinture qui se regarde ellemême«) – und damit hält sich ja auch die Zeichenkunst Mathieus mit ihrer Vorliebe für Bilder im Bild und mise-en-abyme-Strukturen einen Spiegel vor. Auf dem nächsten Bild, das die Figuren in gegenüber dem ersten Bild kleinerem Maßstab zeigt, wird erkennbar, dass das betrachtete »cabinet d’amateur« Bestandteil eines Cabinet d’amateur ist: Es hängt neben vielen anderen Bildern, darunter solche, die ihrerseits weitere Darstellungen von Gemäldegalerien sind, und die Betrachter stehen auf einer Leiter. Das nächste Bild zeigt die wiederum verkleinerten Figuren auf einer sich als eminent groß herausstellenden Leiter; die größere Galerie, die das betrachtete Galeriebild umfasst, erweist sich ebenfalls als gemalte. Dann vergrößert sich der Maßstab nochmals, ein weiterer Rahmen um den Rahmen wird sichtbar – und wenn der Leser die fragliche Seite aufklappt (sie ist gefaltet), entdeckt er, dass die Betrachter selbst Bestandteil eines Gemäldes sind, das eine Galerie zeigt, die Galerien zeigt etc. Nur – dass die Betrachter bei dieser Enthüllung gerade dabei sind, die Leiter zu verlassen; das Bild ›lebt‹ also. Weitere Hinweise auf Perec bestätigen dessen Bedeutung:29 In La Qu… gibt es unter den Straßen, die die Bahnhofsbesucher auf den Boden zeichnen, eine »Rue Georges Perec« (36). In La 2,333e Dimension spricht Ozéclat 28 29
Mathieu, Sous-Sols du révolu, S. 32. Leinen (»Spurensuche im Labyrinth«, S. 246) nennt La disparition und La vie mode d’emploi, aber nicht das Cabinet d’amateur als Bezugstexte Mathieus.
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Abb. 81: Das Kunstkabinett in Les Sous-sols du révolu (S. 33).
Die Ausstellungsbesucher in Perecs Roman verfallen der Faszination dieses MetaBildes – und sie untersuchen es ähnlich akribisch wie die leiterbenutzenden Betrachter bei Mathieu. Insbesondere aber suggerieren auf dem von Perec beschriebenen Bild die kleinen Abweichungen zwischen den Bildern der gemalten Sammlung und ihren Abbildern (und deren Abbildern), dass auch in diesem Bild Bewegung herrscht, dass es nicht stillsteht bzw. dass es kein ›getreues‹ Bild des Abgebildeten ist.30
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Der Maler Kürz hat bei der immer wieder verkleinerten Reproduktion der Gemälde an deren Bildinhalten gelegentlich Verfremdungen vorgenommen und manchmal sogar auf einzelnen Reproduktionsstufen die falschen Bilder ins Ensemble eingefügt.
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über eine »mode d’emploi« für das Leben (36) – eine Anspielung auf Perecs La vie mode d’emploi. Perecs Held in Un homme qui dort sowie ›Grégoire Simpson‹ in La vie mode d’emploi erinnern ihrerseits an Gregor Samsa, also an Kafka.31 Somit hat Perec Mathieu auch mit seiner Anspielungstechnik angeregt. Einige zusammenfassende Beobachtungen zu Mathieu: (1) Charakteristisch für die Bildergeschichten Mathieus ist ihre Selbstbezüglichkeit: Immer wieder geht es um Bilder, Blätter, Rahmungen, um Abenteuer des Sehens, um Repräsentationen – und um Grenzüberschreitungen zwischen rahmender und gerahmter, repräsentierter und repräsentierender Welt. Nicht zufällig trägt ein Band den Titel Le Dessin (2001/02). (2) Obwohl Mathieu keines seiner Comic-Bücher als Paraphrase einer literarischen Vorlage angelegt hat, können seine Arbeiten als LiteraturComics betrachtet werden, denn ihnen liegen erkennbar literarische Texte – »Hypotexte« im Sinne der Intertextualitätstheorie Genettes – zugrunde.32 (3) Mathieu erkundet wie vor ihm Borges immer wieder neue Möglichkeiten der Verknüpfung und Vernetzung unterschiedlicher Ebenen intradiegetischer Wirklichkeit, wobei er diese durch Hinweise auf den eigenen Arbeitsprozess zumindest punktuell an die extradiegetische Wirklichkeit ankoppelt. Die Acquefacques-Geschichten sind wie andere Comic-Erzählungen auch raffinierte Variationen über das Konzept der Metalepse. (4) Dieses Projekt der Ebenenvernetzung hat (mindestens) zwei Bedeutungsdimensionen: (a) Es suggeriert eine konstruktivistische Konzeption von Wirklichkeit,33 und (b) es dient dem Selbstverweis des Mediums ComicBuch, also der autoreflexiven Selbstdarstellung der BD. 31 32
33
Vgl. Leinen, »Spurensuche im Labyrinth«, S. 246 f. Dabei ist es nicht einmal ausschlaggebend, ob Mathieu bestimmte Borges-Texte aus einer vorherigen Lektüre kannte oder erst nachträglich die Konvergenzen zwischen diesen und seinen eigenen künstlerischen Interessen entdeckt hat. Borges hat auf so viele Autoren und bildende Künstler gewirkt, dass man sich bei einschlägigem thematischem Interesse seinem Einfluss nicht entziehen kann. – Leinen erinnert anlässlich der Bibliothek in »Le Processus« an die Borges’sche Bibliothek von Babel (Leinen, »Spurensuche im Labyrinth«, S. 247). Die Reihe mit der Signatur R55V5S ist ein Hinweis auf Hubert Reeves, einen Astrophysiker. Während die anderen Bände der Bibliothek namenlos sind, steht in diesem Regal ein Buch mit dem Namen La Tour, eine Geschichte von Schuiten und Peeters. Leinen, »Spurensuche im Labyrinth«, S. 252: »Die Inszeniertheit von Realität wird durch ihre Dekonstruktion als ›case‹, als geformte Illusion, sichtbar«. Mathieu sei konstruktivistisch geprägt, so Leinen.
Der Weg durch den Spiegel der Künste
Teil III Der Comic und die Weltliteratur
249
250
Der Comic und die Weltliteratur
Anschluss an den Kanon, Transformationen des Kanonischen
1.
251
Anschluss an den Kanon, Transformationen des Kanonischen: Der Literatur-Comic und die Kartierung der ›Weltliteratur‹
Sehr grob differenzierend, ließe sich (wie einleitend bereits gesagt) zwischen solchen Literatur-Comics unterscheiden, die in erster Linie Wissen über einen literarischen Text oder ein ganzes schriftstellerisches Œuvre vermitteln möchten – in der Regel durch gezeichnete und durch Textanteile ergänzte Inhaltsparaphrasen –, und solchen, die ein entsprechendes Wissen voraussetzen.1 Denn der Comic-Leser muss wissen, von welcher Vorlage der oder die Comic-Gestalter ausgehen, wenn er (a) deren Verwandlung des Ausgangssubstrats als solche erkennen oder (b) die Gestaltung des Comics als einen medienbewussten Dialog, einen inszenierten autoreflexiven Vergleich zwischen literarischem Text und Comic wahrnehmen und ästhetisch würdigen soll. Dass Vermittlung, Verwandlung und autoreferentieller Vergleich einander nicht ausschließen, sei nochmals betont. Viele Literatur-Comics machen entsprechend komplexe Angebote, die sich an unterschiedliche Lesertypen richten. So lässt sich Crumbs Kafka-Comic zum einen als Einführung in Biographie und Werk Kafkas lesen, aber auch als Transformation von (manchem Leser bekannten) Vorlagen oder ästhetisches Spiel zwischen einem Zeichen- und einem Schreibstil. Die sich als wissensvermittelnd verstehenden Literatur-Comics bilden vielfach Reihen. Diese sind nicht nur unterschiedlich ausgestattet, sondern ihnen liegen auch unterschiedliche Konzepte dessen zugrunde, was da jeweils zu vermitteln ist – unterschiedliche Konzepte von Literatur. Zu differenzieren ist etwa zwischen solchen Literatur-Comics, die als Autorenporträts angelegt sind und damit implizit die Beziehung zwischen Autor und Werk betonen – und solchen, die dem einzelnen Text gelten. Die Transformation eines literarischen Textes in einen Literatur-Comic hat einen implizit oder explizit kanonisierenden Effekt – ähnlich wie die Aufnahme eines Textes in eine Anthologie.2 1
2
Zum Thema ›Literatur-Comic‹ vgl. allgemein: Versaci, Graphic Language, S. 182–211, Kap. 6: »Illustrating the Classics. Comic Books vs. ›Real‹ Literature«. Vgl. Christoph Bode, »Kanonisierung durch Anthologisierung«, in: Gerhard R. Kaiser/Stefan Matuschek (Hrsg.): Begründungen und Funktionen des Kanons. Beiträge aus der Literatur- und Kunstwissenschaft, Philosophie und Theologie, Heidelberg 2001, S. 89–106.
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Der Comic und die Weltliteratur
Darstellungen bestimmen darüber, was zu einem national-, was zu einem weltliterarischen Kanon gezählt wird – und ob ›Weltliteratur‹ überhaupt über einen Kanon definiert wird.3 Die große Zahl aktueller Literatur-ComicPublikationen macht es plausibel, dass der Comic an der Verhandlung von ›Weltliteratur‹ inzwischen aktiv teilnimmt. Dazu gehört auch der Anspruch, selbst ›Weltliteratur‹ zu sein. »[…] was könnte eine mutigere Absicht sein, als Weltliteratur zu Weltlektüre zu machen? Und nichts anderes ist Comic«,4 so meint der Comic-Theoretiker Andreas Platthaus, indem er – etwas pauschal – auf die didaktisch-vermittelnde und popularisierende Funktion des Literatur-Comics hinweist.
1.1
Popularisierung des Schulkanons: Classics Illustrated
»Getting Smart Has Never Been So Easy, with Classics Illustrated« – so heißt es in einer Verlagsanzeige der populären US-Comic-Reihe Classics Illustrated.5 Unter diesem Reihentitel, der mit seinem Versprechen der Vermittlung von ›Klassikern‹ unmissverständlich Bezug auf die Idee des Kanonischen nimmt, gibt der Acclaim Books Verlag seit Jahrzehnten illustrierte Geschichten in Comic-Form heraus, in denen Werke der Weltliteratur nacherzählt werden.6 Die englischsprachige Literatur ist (erwartungsgemäß) hochproportional vertreten. Der zitierte Werbespruch über ›smarte‹ Leser der Reihe deutet auf einen intendierten und wohl auch realistisch eingeschätzten Verwendungszweck hin: Wer darüber Bescheid wissen möchte, welche Geschichten in den Werken der Weltliteratur dargestellt werden, kann zu den entsprechenden Reihentiteln greifen, die damit eine vergleichbare Funktion erfüllen wie Schauspiel- oder Romanführer. Der Schwerpunkt liegt auf Darstellungen des 3
4
5
6
Vgl. Gerhard R. Kaiser, »Anthologie: Kanon und Kanonskepsis«, in: Kaiser/ Matuschek (Hrsg.), Begründungen und Funktionen des Kanons, S. 107–138. Andreas Platthaus: »Weltlektüre. Eine Geschichte des Comics, des demokratischsten Mediums«, in: Thomas Böhm/Martin Hielscher: Weltliteratur. Vom Nobelpreis bis zum Comic. Köln 2001, S. 212–223, hier S. 223. In Johann Wolfgang von Goethe, Faust, New York 1962 (= Classics Illustrated Nr. 167). Der Start der Serie fällt ins Jahr 1941. Bände der Serie wurden in verschiedenste Sprachen übersetzt; die erste deutsche Übersetzung (1956) liegt mittlerweile ein halbes Jahrhundert zurück. Englischsprachige Werke dominieren in der OriginalSerie quantitativ, aber auch Werke anderer Literaturen werden umgesetzt, wobei diese unter ihren englischen Titeln geführt werden, wie denn die Classics Illustrated grundsätzlich auf Englisch verfasst sind.
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jeweiligen Plots. Unumgänglich sind dabei jeweils Reduktionen, Vereinfachungen, Schematisierungen; unumgänglich auch interpretatorische Entscheidungen, bei denen aber nicht Innovation und Experiment, sondern Erprobtes und Geläufiges maßgeblich sind. Stilistisch lehnen sich die Comic-Zeichner an den massenmedialen Comic an. Die Lektüre der Classics Illustrated setzt keine literarische Bildung und nur wenig an kulturellem Wissen voraus. Mit der Vermittlung inhaltlichen Wissens über die kanonisierten Texte ist zwar teilweise auch die Vermittlung historischer und kulturspezifischer Informationen verbunden, die Darstellungen zielen aber insgesamt eher auf Standardisierung als auf Markierung von Differenzen. Dass es mit der Konzeption der Classics Illustrated-Reihe um die Bereitstellung von Informationen über die ›Klassiker‹ und so um ein im weiteren Sinn populärdidaktisches Anliegen geht, bestätigen vor allem die Paratexte, die den eigentlichen Bilderzählungen beigegeben sind. Diese Paratexte bekräftigen den (im wertneutralen Sinn) kulturkonservativen und didaktischen Charakter der Bände und tragen Weiteres zur Vermittlung nicht nur literaturbezogenen Wissens, sondern auch eines spezifischen Konzepts von Literatur als einer transnationalen Kunst bei. Beiträge der Classics Illustrated sind in verschiedene andere Sprachen übersetzt worden. Durch die Kopplung von Gegenständen nationalkultureller Provenienz mit US-amerikanischen ComicZeichnungen, die von (übersetzten) Texten in anderen Sprachen ergänzt werden, ergeben sich eigentümliche Hybridgebilde – so wenn Don Quijote durch eine im US-Stil gezeichnete Welt reitet und dabei neugriechische Sprechblasen absondert oder wenn Shakespeares Figuren Romeo und Juliet in einem ›amerikanisch‹ gezeichneten Renaissance-Italien neugriechische Dialoge führen. Goethes Faust, von einem amerikanischen Zeichner vor der Kulisse eines im Comic-Stil dargestellten ›mittelalterlichen‹ Deutschland gezeichnet, kehrt mit seiner Rückübersetzung ins Deutsche nicht heim, sondern bewohnt eine kulturell und historisch hybride Welt. Man mag von einer solchen Transposition literarischer Werke in Bilderzählungen enttäuscht sein, wenn man sie mit den Vorlagen vergleicht – zumal da die Bildersprache der Reihe Classics Illustrated meist recht simpel und ästhetisch wenig ambitioniert ist. Doch eine kulturkritische Klage über Existenz und Erfolg von ›Light‹-Versionen literarischer Klassiker anzustimmen wäre wohl verfehlt. Die Vorstellung, jemand werde durch einen Classics Illustrated-Band dazu verleitet, Comics statt weltliterarischer Originale zu lesen, geht vermutlich an den Tatsachen vorbei; wer Goethes Faust lesen will, wird sich nicht von einer Comic-Version verführen lassen, Surrogate zu konsumieren. Allenfalls berechtigt erscheint die Sorge, durch die simplifizierenden
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Der Comic und die Weltliteratur
Versionen würden bei der Leserschaft falsche Vorstellungen vom Inhalt und gar keine Vorstellungen von der Form und der semantischen Komplexität der Originale erzeugt. Wollte man dies als kritisches Argument gegen die Berechtigung von ›Illustrierten Klassikern‹ nehmen, so müsste man allerdings auch auf viele andere gängige Hilfsmittel verzichten, die ein kondensiertes, damit aber unausweichlich reduktives Wissen über Literatur vermitteln.
Beispiel 1: Washington Irvings Rip van Winkle (1944) Die 1944 als 12. Nummer der Reihe erschienene Comic-Adaptation von Washington Irvings Erzählung Rip van Winkle. A Posthumous Writing of Diedrich Knickerbocker (1819) ist nach den Adaptationen von James Fenimore Coopers The Last of the Mohicans (Heft Nr. 4) und Herman Melvilles Moby Dick (Heft Nr. 5) erst die dritte Bearbeitung eines kanonischen Texts der US-amerikanischen Literatur und bildet den Auftakt zu einer Periode mit einer größeren Frequenz anglo-amerikanischer Vorlagen. Neben der Geschichte über den gutmütigen Faulenzer Rip enthält das Heft die ebenso bekannte Erzählung The Legend of Sleepy Hollow (1820). Dass gerade der Rip van Winkle, dessen Stoff bekanntlich eine lange Tradition hat – auf die Cartwright, Irvings fiktiver Herausgeber der Werke Diedrich Knickerbockers, ja auch ironisch hinweist – selbst zur Vorlage einer Adaptation wird, scheint nur konsequent. Inwiefern solche Adaptationen immer auch mit Verfremdungen einhergehen, zeigt sich am Beispiel des Comics sehr deutlich. Welche Prämisse der Transformation zugrunde liegt, wird dabei ebenfalls offensichtlich. Schon das erste Panel der Geschichte stellt die Zwerge dar, denen Rip van Winkle in den Kaatskill Mountains begegnet, sowie geflügelte und gehörnte Dämonen, und enthüllt damit, dass es sich um ein Märchen, zumindest aber um eine Geschichte mit märchenhaften Zügen handelt. Die Legende von der kegelnden Mannschaft um Hendrick Hudson, die bei Irving erst gegen Ende als Erklärung für Rips zwanzigjährigen Schlaf angeboten wird, erfährt der Leser bereits sehr früh. Damit einher geht eine veränderte Ausrichtung der Erzählung. Die eigentlich handlungsarme Geschichte Irvings wird ergänzt um Rips in zehn Bildern dargestellte Erzählung eines Kampfes gegen »thousands of indians all after [his] scalp«7 und eine 16 Panels umfassende Episode, in der Rip eingeklemmt unter einem schweren Ast dem scheinbar unabwendbaren Tod durch einen heran rollenden Felsbrocken nur knapp entgeht. Am drama7
Washington Irving, Rip van Winkle and The Headless Horseman, New York 1944 (= Classics Illustrated Nr. 12), unpag.
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tischen Höhepunkt werden diese und andere Szenen von retardierenden, für die Handlung gänzlich belanglosen Szenen unterbrochen. Die Handlung gleicht dadurch in gewisser Weise der eines Abenteuerromans. Die fiktiven, selbstreflexiven Paratexte von Irvings Rip van Winkle entfallen dagegen. Der Comic-Rip erhält eine andere Konturierung als die zwar faule, aber durchaus sympathische Figur Irvings. So wird die Neigung zum Alkohol, bei Irving zwar angelegt, aber kaum weiter relevant, ins Übermäßige gesteigert. Zudem wird Rip als tolpatschiger und besonders gegenüber seiner Familie pflichtvergessener Taugenichts gezeichnet. Dass die Zwerge einem derart nutzlosen Menschen und unerwünschten Eindringling eine Lehre erteilen wollen, wirkt zwar übertrieben, aber nicht völlig ungerechtfertigt:8 Rip van Winkle ist ein ›schlechter‹ Mensch, er muss sich ändern. Nur erhält er dazu keine Chance, denn die Handlung läuft von da analog zu Irvings Geschichte weiter, so dass ein Bruch zwischen dem negativen Bild Rips und dessen Möglichkeiten zur Besserung entsteht, der bei Irving keine Entsprechung findet. Es verwundert nicht, dass dem Heft im Kriegsjahr 1944 eine erbauliche Geschichte über das heimgekehrte Mitglied einer vermissten Bomber-Mannschaft, die Ähnlichkeit mit Irvings Geschichte hat, beigegeben wurde. In den CI-Heften der Kriegszeit sind solche Zugaben nicht selten. Deutlich wird hier, wie auch die CI-Comics Träger einer Ideologie sind, die in zeitgenössischen Superhelden-Comics und Funnys viel klarer artikuliert ist.9 Die weitgehend originalgetreue Übertragung der zweiten Hälfte von Rip van Winkle korrespondiert der ideologischen Vorgabe. Besonders die von Irving bildhaft beschriebene Fahne der neuen Republik, das Bildnis George Washingtons und die Schlagworte der Rebellion, die bei Irving eher ironisch als willkürliche Embleme sich verändernder Zeiten fungieren, unterstreichen durch ihre patriotische Darstellung den ideologischen Impetus der Comic-Adaptation.
Beispiel 2: Edgar Allan Poes Mysteries (1947) Ein auf Repräsentativität angelegter Kanon US-amerikanischer Literatur kommt kaum ohne die Werke Edgar Allan Poes aus. In der Reihe Classics Il8
9
»›This man is a mortal. He doesn’t belong here. He must die with the proper tortures!‹« (Ebd., unpag.). Verschiedene Superhelden waren engagierte Gegner des Dritten Reichs im Allgemeinen und Adolf Hitlers im Speziellen. Die Kriegszeit brachte neue, besonders patriotische Helden wie Captain America (Joe Simon/Jack Kirby) hervor. Vgl. Andreas C. Knigge, Comics. Vom Massenblatt ins multimediale Abenteuer, Reinbek bei Hamburg 1996.
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Der Comic und die Weltliteratur
lustrated erscheint der wichtige Vertreter der Schauerliteratur entsprechend gleich in drei Heften: Nummer 21 (1945) vereint unter dem Titel Three Famous Mysteries außer der Sherlock-Holmes-Geschichte The Sign of the 4 von Arthur Conan Doyle und Guy de Maupassants La main d’écorché (The Flayed Hand) eine Bearbeitung von Poes Klassiker The Murders in the Rue Morgue. Einen ersten Einzelband widmet der Reihenherausgeber Kanter Poe mit der Nummer 40 (1947).10 Er enthält die Kurzgeschichten The Pit and the Pendulum, The Adventure of Hans Pfall (eigentlich The Unparalleled Adventure of One Hans Pfaall) und The Fall of the House of Usher. Die Nummer 84 (1951) bringt zum zweiten Mal ausschließlich Erzählungen aus der Feder Poes: The Goldbug, The Tell-Tale Heart und The Cask of Amontillado.11 Vielfach geht es in Poes Geschichten um das Spannungsverhältnis von Sichtbarem und Unsichtbarem, um verborgene Dinge und solche, die ans Tageslicht befördert werden. In The Black Cat ist es eine eingemauerte und daher unsichtbare Katze, die den mörderischen Protagonisten zu Fall bringt, in The Tell-Tale Heart das vermeintlich pochende Herz unter dem Dielenboden, das einen ähnlichen Effekt hat. Anders in The Oval Portrait: Hier ist die sichtbare Veränderung der Porträtierten verhängnisvoll. Ebenso unheilverkündend ist der Auftritt der toten Madeline in The Fall of the House of Usher. In der Geschichte The Pit and the Pendulum geht es nicht nur um Sichtbares oder Unsichtbares, sondern um das Spannungsverhältnis selbst. Die Geschichte, die 1842 erstmals erschienen ist, erzählt von einem Opfer der Spanischen Inquisition. Der Ich-Erzähler, über dessen Hintergrund wir nichts Näheres erfahren, sitzt in einem Kerker in Toledo, wo zunächst eine Grube, dann ein pendelndes Beil seinem Leben ein vorzeitiges und qualvolles Ende setzen sollen. Die tiefe, wohl einem Brunnenschacht ähnliche Grube befindet sich in der Mitte der Zelle, in der sich der Gefangene frei bewegen kann. Nur ein glücklicher Zufall verhindert, dass der Ahnungslose in das Loch stolpert und dort zugrunde geht. Er empfindet die Zelle als eine »subterranean world of darkness«:12 »[t]he blackness of eternal night encompassed me«.13 Das Loch, das bei entsprechender Beleuchtung leicht zu umgehen ist, wird erst in der vollständigen Dunkelheit der Zelle zu einer tödlichen, weil unsichtbaren Ge10 11
12
13
Edgar Allan Poe, Mysteries, New York 1947 (= Classics Illustrated Nr. 40). Edgar Allan Poe, The Gold Bug and Other Stories, New York 1964 (= Classics Illustrated Nr. 84). Edgar Allan Poe, »The Pit and the Pendulum«, in: Ders., The Fall of the House of Usher and Other Writings. Poems, Tales, Essays and Reviews. Edited with an Introduction and Notes by David Galloway. Reissued with New Chronology and Further Reading, London u. a. 2003, S. 212–227, hier S. 216. Ebd., S. 215.
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fahr. Das Pendel ist der unsichtbaren Grube als Gefahr diametral entgegengesetzt. In der zweiten Hälfte des Textes erwacht der Häftling in der jetzt erleuchteten Zelle auf einer Pritsche gefesselt, über die sich ein langsam schwingendes Pendel mit einer scharfen Schneide senkt, die dem Hilflosen mit jedem Schwung näher kommt. Die bedrohliche Wirkung dieser kaum weniger perfiden Tötungsmaschine geht von der unmittelbaren Sichtbarkeit der Gefahr aus. Für den Comic ergibt sich daraus ein triviales, aber im Rahmen der medialen Konventionen schwer zu umgehendes Problem: Mit Sichtbarkeit kann der Comic gut arbeiten, denn als Bildmedium muss er, um zu erzählen, Räume und Akteure zeigen, das heißt sichtbar machen. Und so stellt die Comic-Adaptation von The Pit and the Pendulum vieles bildlich vor die Augen des Lesers, was in Poes elliptischem Text entweder als zweifelhafte, bestenfalls undeutliche Wahrnehmung des Ich-Erzählers ausgestellt oder gänzlich ausgelassen wird. So wird der Erzähler mit einem spitzen Büßerhut ausgestattet, wie ihn zum Beispiel Francisco de Goya gemalt hat (Das Tribunal, 1812–1819), und damit als angeklagter Häretiker identifizierbar – bei Poe findet dieses Kleidungsstück keine Erwähnung. Auch beschreibt Poes Erzähler die Kerkermauer als »seemingly of stone masonry – very smooth, slimy, and cold«,14 um ihn im weiteren Verlauf der Handlung erkennen zu lassen, dass »[w]hat I had taken for masonry seemed now to be iron, or some other metal in huge plates, whose sutures or joints occasioned the depression«.15 An die erste irregeleitete Wahrnehmung schließt sich eine zweite mögliche Täuschung an, auch sehend kann sich der Protagonist seiner Umgebung also keineswegs sicher sein. Der Zeichner des Comics vereindeutigt die Vagheit des Poe’schen Texts. Er stellt den Gefangenen hockend in einem beengten Raum dar; in einer Sprechblase sagt er zu sich selbst zwar, dass er in sich in »total darkness«16 befindet, doch dem Leser steht die Figur dabei deutlich vor Augen. Entsprechend ist auch die metallische Wand schon im zweiten Panel eindeutig zu erkennen. So modelliert der Comic nicht die Innenansicht des Erzählers, sondern die beobachtende Perspektive des Inquisitionstribunals. Offenbar liegt besonderer Wert auf der nachvollziehbar logischen Verkettung der Ereignisse. Dies zeigt sich etwa darin, dass trotz des knappen Raums, der für die Adaptation zur Verfügung steht, mehrmals die Schergen der Inquisition auftreten, die dem Gefangenen Brot und Wasser bringen oder die Mechanik bedienen, die am Ende die Wände der Zelle 14 15 16
Ebd., S. 216. Ebd., S. 219. Poe, Mysteries, unpag.
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Der Comic und die Weltliteratur
sich aufeinander zu bewegen lässt, Handlungen, die bei Poe nur in ihren Auswirkungen sichtbar werden, wodurch das Gefühl des Ausgeliefertseins und der dadurch verursachte Schrecken noch verstärkt wird. Es ist bemerkenswert, dass das Pendel im Comic frei durch den Raum schwingt und der Gefangene nicht, wie bei Poe, auf einer Holzkonstruktion der Länge nach ausgestreckt gefesselt ist, sondern mit gebundenen Armen und Beinen, aber insgesamt beweglich auf dem Boden der Zelle liegt. Dieser Eingriff erlaubt dem Zeichner, die einzelnen Bilder mit der größeren Dynamik eines sich unter dem immer näher kommenden Pendel windenden Folteropfers anzulegen, wo die erzählerische Dynamik im Poe’schen Text durch das Spiel von knapp erzählter Handlung und retardierenden inneren Monologen des Protagonisten zustande kommt. Im Comic könnten diese wohl nur als große Gedankenblasen umgesetzt werden, wodurch aber gerade Erzähldynamik und -geschwindigkeit eingebüßt würde. So erklärt sich auch, dass im Comic ein personaler Erzähler eingesetzt wird, der in Captions die Handlung kommentiert.
Beispiel 3: Lewis Carrolls Alice in Wonderland (1948) Band 49 der Reihe Classics Illustrated ist Lewis Carrolls berühmter Geschichte über Alices Reise ins Wunderland gewidmet. Der Zeichner, Alex A. Blum, orientiert sich bei der Umsetzung der Vorlage eng an John Tenniels Illustrationen, in vielen Fällen übernimmt er dessen Zeichnungen mit wenigen Änderungen in den Comic. Auf Grund des knappen Raums kommt es in den CI-Comics zwangsläufig zu Straffungen, dabei fallen die Entscheidungen, was zu kürzen oder gar zu streichen ist, nicht immer günstig aus. Im Falle der Alice-Geschichte ist beispielsweise das zentrale Gespräch mit der Wasserpfeife rauchenden Raupe, Höhepunkt der sonst (auch in Comics) vielfach produktiv rezipierten Identitätskrise der kleinen Reisenden, auf vier Panels und gerade einmal fünf Sprechblasen begrenzt, die Alices Krise auf eine Frage der Eitelkeit reduzieren: »Who are you?«/»I can’t explain myself, sir, because I’m not myself, you see.«/ »Bah! If you are not satisfied with yourself, you can always eat some mushroom. One side of it will make you grow and the other side will make you shrink.«17
17
Lewis Carroll/Alex A. Blum, Alice in Wonderland, New York 1948 (= Classics Illustrated Nr. 49), unpag., Herv. d. Verf.
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Alices Reise wird bei Carroll dominiert von logischen Brüchen und Sprüngen zwischen nur lose verbundenen Szenen. Diese sind ein wesentlicher Bestandteil der Konzeption der Erzählung als nonsense-Text, in dem vor allem der Zufall eine gewichtige Rolle spielt. Im Comic wird mit einigem Aufwand der Versuch unternommen, diese offenen Bruchstellen zu schließen. Beispielsweise schafft der Comic den Übergang zwischen dem Kapitel »Advice from a Caterpillar«, an dessen Ende Alice zufällig auf das Haus der Herzogin stößt, und dem Kapitel »Pig and Pepper«, indem Alice dem Fishfootman folgt, welcher der Herzogin die Einladung zum Krokett zustellt. An der fast schon programmatischen Stelle, an der indirekt erklärt wird, dass die Tränen einer in die Höhe geschossenen Alice einen See bilden, der so tief ist, dass die in der nächsten Szene geschrumpfte Alice in ihm schwimmen kann, kommt der Wunsch nach logischer Stringenz besonders deutlich zum Ausdruck: »Now, I’m over 9 feet tall … and I’ve cried at least four inches of tears. I must stop this nonsense.«18 Dem Heft als didaktische Zugabe eine Kurzbiographie gerade Galileo Galileis beizugeben (»To Galileo must go credit for these gifts to civilisation: invention of the pendulum principle used on clocks; the falling bodies (proving that gravitation affects the speed with which objects rise or fall); building of the first improved telescope […]«)19 bezeugt den Versuch, Carrolls nonsense auf logische Strukturen zurückzuführen – und zeugt nicht gerade von einem tiefer gehenden Verständnis der Wunderland-Erzählung.
1.2
Unterhaltsame Vermittlung von Allgemeinwissen: Die Reihen Introducing … und … for Beginners
Parallel zueinander stellen die Reihen Introducing … und … for Beginners in zunehmender Erweiterung des durch sie definierten Wissenskanons seit den 1980er Jahren immer neue Philosophen, Wissenschaftler und Künstler sowie philosophische Strömungen, wissenschaftliche Theorien und ganze Fachdisziplinen und Methoden vor.20 Auch literarische Autoren und ihre Werke gehören zu diesem Wissenskanon, aber um »weltliterarische« Reihen
18 19 20
Ebd. »Pioneers of Science – Galileo Galiliei«, in: ebd., unpag. Die … for Beginners-Reihe erscheint seit 1975 im Verlag Writers and Readers. Nur einzelne der Titel sind literarischen Autoren gewidmet, so die Bände über Orwell (1984), Brecht (1986), Virginia Woolf (1988), Hemingway (1993), Sartre (1995), Shakespeare (1997) Castaneda (1999).
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Der Comic und die Weltliteratur
geht es nicht. Zum einen setzen Zeichner und Banddesigner meist auf die transkulturelle Verständlichkeit comicspezifischer Codes; inhaltliche Informationen sollen durch die graphischen Elemente möglichst eingängig vermittelt werden. Zum anderen aber sind gelegentlich Gegentendenzen zu beobachten: Erstens nämlich kommt es zum Einsatz stilistisch sehr unterschiedlicher Darstellungsverfahren, da die Reihe nur im Grobdesign homogen konzipiert ist, an ihrer Realisierung aber ganz unterschiedliche Texter und Zeichner arbeiten, darunter auch künstlerisch ambitionierte. Zweitens fließen in die Präsentationen eines auf breite Verständlichkeit angelegten Wissens auch solche Hinweise und Suggestionen ein, die nur demjenigen verständlich sein können, der sich mit der Materie schon auskennt, dem für Anspielungen empfänglichen Insider. Der ›interpretative‹ Anteil, der in der Transposition theoretischen Wissens, philosophischer oder literarischer Texte in eine Bilderzählung liegt, macht sich in unterschiedlichem Maße geltend. Insgesamt steht die Vermittlung eines – über nationale und kulturelle Grenzen hinausgehenden – Allgemeinwissens zu diversen Bereichen der Philosophie, der Wissenschaften und der Literatur im Vordergrund. Dies schließt den Einsatz verspielter Darbietungsformen aber nicht aus.
Beispiel 1: Dante for Beginners Joey Lees Dante-Einführung ist kein typisches Comic-Buch. Die Seiten sind nicht als Comic-Panels aus Einzelbildersequenzen strukturiert, sondern folgen einem anderen Schema: Ein relativ großer Textanteil wird durch eine Linie umrahmt; die Zeichnungen wirken mit an der Rahmung des Textes und ragen – oft von mehreren Seiten – in diesen hinein. Die meisten von ihnen stellen Figuren dar, und hier wiederum die meisten Dante. Würden dabei nicht gelegentlich Sprechblasen verwendet, hätte Lees Buch wenig Ähnlichkeit mit einem Comic. Der Text, ein zusammenhängender Essay, der wie die Zeichnungen von Lee stammt, dominiert das Buch; die Bilder haben zum einen illustrative Funktion, zum anderen ironisieren sie den Text gelegentlich durch Elemente von Komik; dabei erzählen sie aber nichts Eigenes. Lees Essay gilt Dantes Leben vor seinem zeitgeschichtlichen Hintergrund (mit historischen, kulturhistorischen und soziologischen Informationen, in unterhaltendem Stil vorgetragen), vor allem aber einer zusammenfassenden Darstellung der Commedia; diese nimmt rund 80 Prozent des Buchs ein (S. 42–175). Der Reihe nach skizziert werden die Inhalte der einzelnen Canti, zeichnerisch begleitet von einem mit Vergil durch den Dante’schen Kosmos reisenden Dante. Lee schreibt in einem umgangssprachlichen Stil, und seine
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261
gezeichneten Figuren kommentieren Inhaltliches manchmal mit schnoddrigen Äußerungen, aber die Information des Lesers hat offenbar Vorrang vor dem Parodistischen.
Beispiel 2: Camus kurz und knapp Camus kurz und knapp, die deutsche Version von Camus for Beginners bzw. Introducing Camus (1999), wurde von Uli Aumüller nach der Textvorlage von David Zane Mairowitz ins Deutsche übersetzt; die Zeichnungen stammen von dem französischen Cartoonisten Alain Korkos. Der Text besteht erstens aus einer rahmenden Darstellung von Camus’ Leben, aus der Perspektive des Rückblicks vom Moment seines tödlichen Autounfalls her; in diese biographische Narration eingefügt sind zweitens Paraphrasen seiner wichtigsten Werke und bilderzählerisch arrangierte Darstellungen seiner zentralen Themen und Ideen. Der Textanteil im biographischen wie im werkdarstellenden Teil ist groß; man erhält Einblick in Camus’ Schaffen. Vor allem die den Band beschließende Darstellung seines späteren Denkens und seiner historischen Rolle nähern sich stilistisch einer Abhandlung. Korkos’ Bilder sind realistisch und detailgenau gezeichnet und erinnern an Photos; teilweise sind sie auch nach Photos gezeichnet. Sie illustrieren den Text und sind ihm funktional insofern untergeordnet; die Zeichnungen wiederholen gleichsam das verbal Mitgeteilte in einer – bedingt durch den Stil des Zeichners – individuellen Sprache. Sprechblasen werden zwar zur Darstellung von Äußerungen eingesetzt, ordnen sich dem diskursiven Text aber unter, indem sie ihn ergänzen. Die Bildsprache ist homogen; Korkos verwendet nur wenige stilistisch abweichende Bildzitate, gleichsam als historisches Informationsmaterial. Zu einer moderaten Verselbstständigung der Bildsprache kommt es allenfalls anlässlich des zur Information über La Peste eingesetzten Rattenmotivs21 sowie bei der Darstellung von Pistolenschüssen.22 Texte und Zeichnungen verzichten, abgestimmt auf den Ernst der dargestellten Themen (Kolonialismus, Nazismus, Okkupation Frankreichs, Hinrichtungsmethoden, Konzentrationslager, Formen der Gewalt etc.), auf jede Komik, jedes parodistische Element und jede spielerische Relativierung.
21
22
David Zane Mairowitz/Alain Korkos, Camus kurz und knapp. Aus dem Engl. von Uli Aumüller, Frankfurt am Main 2000 (Orig.: Camus for Beginners, London 1998), S. 96 f. Ebd., S. 53, S. 65.
262
Der Comic und die Weltliteratur
Beispiel 3: Introducing Sartre Introducing Sartre23 von Philip Thody (Text) und Howard Read (Zeichnungen) ist thematisch zwar das Pendant zum zeitgleich erschienenen Band Introducing Camus (1999),24 stilistisch und konzeptionell unterscheiden sich beide Bände aber erheblich. Dies betrifft nicht nur den Zeichenstil, der bei Read an flotte Pinselstriche und grobe Skizzen erinnert, während er bei Korkos die Bildsprache der Photographie zitiert, sondern auch die Bildregie des Buches als solcher: Die Bilder nehmen einen erheblich breiteren Anteil des Buches ein, weil der Text insgesamt viel kürzer ist als der Camus-Essay von Mairowitz. Knappe, dabei prägnante, aber auch unausweichlich komprimierende Absätze, die sich insgesamt zu einem skizzenhaften intellektuellen Porträt Sartres fügen, umrahmen die Zeichnungen, die auf ihre Weise das Wichtigste zu sagen versuchen, vielfach unter Einsatz von Sprechblasen, also von comicspezifischen Textelementen. Wegen seines insgesamt geringen Umfangs wirkt der Text in analoger Weise skizzenhaft wie die Zeichnungen. In der Makrostruktur folgt der Band der Chronologie von Sartres Leben, fügt in dessen Darstellung Informationen über Werke, Themen, Ideen und zentrale Erfahrungen des Schriftstellers und Philosophen ein und verbindet diese mit relevanten historischen und kulturhistorischen Informationen. Dabei werden, allerdings nur vereinzelt, auch Bildzitate verwendet. Die Autoren des Camus- und des Sartre-Bandes standen vor einer analogen Aufgabe, wie auch andere Verfasser von Philosophen-Porträts: Es galt, Ideen, Gedanken und Denkstile durch die bildnarrative Form der ComicBücher darzustellen. Ein wichtiges Mittel ist hier der Einsatz von gezeichneten Sprecher-Figuren und sprechenden Gesichtern: Gern lassen die Zeichner von Philosophen- und Wissenschaftler-Porträts den Gegenstand ihrer Darstellung auf diese Weise einfach selbst zu Wort kommen, legen ihm prägnante Äußerungen in den Mund und zeigen ihn in gedanklicher und verbaler Auseinandersetzung mit seinen Themen. Introducing Sartre macht von diesem Mittel großflächigen Gebrauch; Introducing Camus ist kompositorisch abwechslungsreicher. Ein Vergleich der Darstellung des Verhältnisses zwischen Sartre und Camus, in beiden Bänden enthalten, belegt die Differenzen auf komposito23
24
Philip Thody/Howard Read, Introducing Sarte. Hrsg. von Richard Appignanesi, New York 1998 (zuerst u.d.T. Sartre for Beginners, New York 1998). Hier zit. nach der dt. Übersetzung: David Zane Mairowitz (Text)/Alain Korkos (Illustration), Camus, kurz und knapp. Aus dem Engl. Von Uli Aumüller, Frankfurt am Main 2000 (zuerst u.d.T. Camus for Beginners, New York 1998).
Anschluss an den Kanon, Transformationen des Kanonischen
263
Abb. 82: Sartre und Camus im Dialog (Camus kurz und knapp, S. 139).
rischer, zeichenstilistischer und informativer Ebene exemplarisch. In Introducing Sartre ist den beiden in vielem affinen, aber auch als Antagonisten auftretenden Vertretern des Existentialismus eine einzige Seite gewidmet, die zu zwei Dritteln aus einer Zeichnung der beiden Philosophen in Denkerbzw. Leserpose besteht; prägnante, aber kurze Sprechblasenstatements sollen auf leitende Fragen verweisen. Der kurze erläuternde Text bietet wenig Information; er beschränkt sich unter dem Schlagwort »The Absurd« auf die Betonung der historischen Rolle beider und verschweigt ihre Differenzen. In Introducing Camus bzw. Camus kurz und knapp wird die Auseinandersetzung Camus/Sartre samt ihren Motiven auf drei Seiten dargestellt; der Textanteil der Seiten, darunter Zitate der Gegner, ist erheblich größer.
264
1.3
Der Comic und die Weltliteratur
Die Comic-Reihe als Darstellungsform des Kanons: Französische Bildgeschichten zu Gedichten und Dichtern
Auch nationale literarische Kanones können die Basis bilden, auf der Comic-Reihen entstehen. So präsentiert eine französische Reihe AutorenBände zu Lyrikern, von denen jeweils eine Sequenz einzelner Gedichte durch verschiedene Zeichner in Bildparaphrasen umgesetzt werden (… en bandes dessinées). Die gewollte Vielfalt der Zeichenstile wird ausbalanciert durch die Kontinuität des Autorbezugs und eine weitgehend autobiographistische Interpretationshaltung (auf Textebene). Die einfließenden Informationen über die einzelnen Dichter verleihen den Bänden einen gewissen didaktischen Charakter, während die zeichnerischen Darstellungen eher experimentell ausgerichtet und oft unkonventionell sind. Außer den kanonisierten französischen Lyrikern des 19. Jahrhunderts umfasst das Spektrum der BD-Reihe auch einen Band zu den Fabeln La Fontaines; ferner sind Chansondichter vertreten. Neben Lyrik-Comics sind in dieser Reihe auch zeichnerische Paraphrasen zu erzählerischen Texten erschienen, so zu Geschichten von Jules Verne. Neben den Bilderzählungen werden auch die kompletten Ausgangstexte präsentiert. Damit wird zum einen dem poetischen Text eine Reverenz erwiesen, zum anderen aber auch die Interpretations- und Inszenierungsleistung des Zeichners stärker herausgestellt.
Die Reihe … en bandes dessinées: Ein nationalliterarischer lyrischer Kanon im Dialog mit Comics Die Bände der Reihe, die Lyrikern gewidmet sind, enthalten Comic-Versionen zu ausgewählten Gedichten des jeweiligen Dichters von der Hand unterschiedlicher Zeichner. Dadurch wird der individuelle Stil der zeichnerischen Umsetzungen besonders betont; die graphische Erzählung exponiert sich im Dialog mit den Ausgangstexten als vielsprachige und oft betont ›idiomatische‹ Kunstform, die offensichtlich nicht als bloße Illustration, sondern als eigenständige Kunst betrachtet werden will. Allerdings verstehen sich die Bände zugleich auch als informative und im weitesten Sinn didaktisch motivierte Heranführungen an das jeweilige poetische Œuvre und seinen Autor. Als Rückgrat des Bandaufbaus fungiert die skizzenhafte Darstellung der jeweiligen Dichtervita, gegliedert nach Abschnitten. Diese Abschnitte werden in Beziehung zu jeweils einem Gedicht gesetzt, das damit gleichsam zum Kommentar der erzählten Ereignisse wird, wobei diese Ereignisse ihrerseits
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im Licht des entsprechenden Gedichts und seiner spezifischen Stimmung erscheinen. Allerdings wird mit der Analogisierung von Dichter-Biographie und dichterischem Œuvre zugleich spielerisch experimentiert: Manche Zuordnungen von bestimmten Gedichten zu bestimmten Lebensabschnitten erscheinen absichtsvoll konstruiert; sie beruhen eher auf Assoziationen als auf nachvollziehbaren Analogien.25 Suggeriert die Zuordnung von Gedichten zu den biographischen Informationen einerseits ein Spiegelverhältnis zwischen Gedicht und biographischem Text, das die Polyvalenz der Texte reduziert (gemäß der Idee: Wir verstehen das Gedicht besser, wenn wir etwas über den Dichter wissen), so erzeugen die Zeichnungen doch neue Vieldeutigkeiten. Denn sie folgen keineswegs dem biographischen Schema, sondern zeigen meist ganz andere Geschichten als die des Lyrikers. Und selbst dort, wo sie den Dichter selbst ins Bild setzen, beruhen sie auf neuen Einfällen und sind nicht ›dokumentarisch‹. In den meisten Fällen lassen sich die Comic-Versionen der Gedichte als deren Unterlegungen mit Geschichten beschreiben. Eine häufig verwendete Idee besteht darin, die lyrische Aussage auf eine eher banale und triviale Alltagskulisse aus der Gegenwart zu beziehen. Sprachliche Bilder werden oft beim Wort genommen. Parallel zu den Bildgeschichten wird der Leser immer wieder mit der Handschrift des jeweiligen Autors konfrontiert. So erscheinen die Bildgeschichten in ihrer Beziehung zum geschriebenen Ausgangstext als Palimpsest; Schrift setzt sich mit den Faksimiles buchstäblich ins Bild, und Bilder zeichnen die Bewegung dieser Schrift nach. Charles Baudelaires Sonett Bohémiens en voyage beschwört den Mythos des fahrenden Volks der Zigeuner herauf und knüpft – in Fortsetzung solcher Mythisierung – an tradierte Vorstellungen über die ›Bohémiens‹ an: Vordergründig als Parias betrachtet, verfügen diese doch über ein anderes Wissen als die bürgerlich-sesshaften Menschen. Sie kennen die Zukunft, und ihr suchender Blick gilt dem Abwesenden; er richtet sich von der Gegenwart fort in die Ferne, in eine traumhafte, ›chimärische‹ andere Wirklichkeit, ins Dunkel der Zukunft, die ihnen allein vertraut ist. Ihre Verbundenheit mit der Natur, der Sphäre des Ursprungs, wird daran ablesbar, dass sich bei 25
Ein Beispiel: Dem ersten Abschnitt der Biographie von Charles Baudelaire ist das Gedicht »L’invitation au voyage« zugeordnet, und im Kommentar heißt es: »Tout allait bien. Puis un jour il est né – Charles Baudelaire. Il tombait dans la vie comme lui sur un os. Aïe. C’est dur. […] Au-moins lui offrait-on un bien joli voyage. On l’invitait à vivre […]« (Duprat/Ceka, »L’invitation au voyage«, S. 2).
266
Der Comic und die Weltliteratur
Abb. 83: Baudelaires Bohémiens en voyage (in: Poèmes de Baudelaire en bandes dessinées, S. 20–25, hier S. 20).
ihrem Vorbeizug der Gesang der Grille intensiviert, die Natur also vernehmlicher spricht. Und die Urmutter und Fruchtbarkeitsgöttin Demeter lässt für die Wanderer – die an ihrer Fruchtbarkeit Anteil haben, indem sie sie ständig nähren – die Vegetation sprießen, Wasser aus den Feldern springen und die Wüste selbst erblühen. Im Bild der wandernden Zigeuner manifestiert sich eine (Selbst-)Mythisierung des Künstlertums, dessen Vertreter sich mit den ›Bohémiens‹ den Namen teilen (vgl. den Abschnitt über Bau-
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267
delaire: »Il s’engage dans la bohème …«).26 Der Künstler steht demnach in einer engen Beziehung zum Ursprünglichen und Chthonischen, zu den Stimmen der Dinge, zu den Geheimnissen einer Natur, die sich dem kurzsichtigen Blick des Bürgers, des Alltags- und Verstandesmenschen verschließt. Im Bild des fahrenden Volkes bespiegelt, begreift sich der Künstler über seinen Ausschluss aus der Sphäre der Sesshaften, deren Normen- und Wertehorizont, deren Moral, deren materiellen Interessen. Der Reichtum des ›Bohémien‹ besteht in seiner Fruchtbarkeit, die er aus sich selbst bezieht. Kein Ort hält ihn, aber eben weil er in keiner Gegenwart sesshaft wird, steht ihm die Zukunft offen. Das Wissen der ›Bohémiens‹ ist tiefer gegründet und reicht weiter als das des Alltagsmenschen, des Bourgeois. – Die zeichnerische Umsetzung durch Nicolas Sure versetzt das mythische Geschehen in die Gegenwart; eine Bahnhofsuhr fungiert als Symbol der Zeit. Sures ›Bohémiens‹ ziehen zum Betteln aus; ein Plakat an einer Mauer zeigt, welche ›Mauer‹ ihre Existenz von der Welt der sesshaften Bürger trennt: Dargestellt ist ein Sparschwein. Die folgenden vier Seiten erzählen, weiterhin begleitet von den Versen des Gedichts, die Geschichte eines kleinen Jungen und eines Bettlers. Dem Jungen begegnet nach einem Jahrmarktsbesuch eine mütterliche (an Demeter erinnernde) Figur als Verkörperung der Gabe. Der Zoom richtet sich abschließend auf die Bahnhofsuhr, die wiederum annähernd acht Uhr anzeigt. Ein Stundenkreis hat sich gerundet, und die letzte Zeile erinnert passend zum Uhrenmotiv an »L’empire familier des ténèbres futures«. An den beiden unteren Ecken des letzten Bildes fungieren zwei winzige Totenschädel als zugleich ironisches und ernsthaftes Memento mori. Alltägliche Gestalten und Phänomene verwandeln sich in Chiffren: Die Bettler werden zu Baudelaire’schen ›Bohémiens‹, die wenigen, die etwas verschenken, zu Personifikationen der spendenden Natur und gnädiger Gottheiten. Der Zeichner betont durch seine Bildsprache, dass auch die Alltagswelt von Symbolen durchsetzt ist: Mauer und Sparschwein, Bahnhof und Uhr, Karussell und Hamburger gehören dazu.
26
Nicolas Sure, »Bohémiens en voyage«, in: Poèmes de Baudelaire en bandes dessinées, Darnétal 2001, S. 20–25, hier S. 20.
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Der Comic und die Weltliteratur
Abb. 84: Baudelaire: La cloche fêlée (Poèmes de Baudelaire, S. 30). Die Bilder unterlegen Baudelaires Text mit der sozialkritischen, antiklerikalen und antimilitaristischen Geschichte eines Obdachlosen, der offenbar durch Kriegserfahrungen aus der Bahn geworfen wurde und nun hungern muss, schließlich erfriert. Wenn bei Baudelaire die sinnbildliche gesprungene Glocke die tonlose Stimme des Ichs substituiert, dann ertönt analog dazu in der Bildgeschichte ein Banjo.
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Abb. 85: Baudelaire: Les aveugles (Poèmes de Baudelaire, S. 41). Die Baudelaire’schen Blinden sind keine Visionäre, auch wenn sie ihre Blicke dem Himmel zuwenden. Denn dort ist nichts zu sehen. Antoine Ronzon (Zeichnung) und Olivier Petit (Szenario) haben das Gedicht mit einer Geschichte aus einer französischen Kleinstadt der Gegenwart unterlegt. Zwei physisch Blinden, die an ihren schwarzen Brillen erkennbar sind, stehen andere Figuren gegenüber, die im übertragenen Sinn blind sind, insofern sie nicht ahnen, was das (wiederum thematisch zentrale) ›blinde‹ Schicksal über sie verhängt hat.
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Der Comic und die Weltliteratur
Chansons im Comic Als Parallelprojekte zu den Lyrik-Comic-Bänden sind andere Bände der Darstellung des Œuvres berühmter Chansonniers gewidmet. So etwa erschienen in der Reihe … en images et en bandes dessinées Bände über Georges Brassens, Marilyn Monroe, Boris Vian, Edith Piaf und Jacques Brel. Eine Auswahl der Chansontexte wird präsentiert, wobei der Leser zum einen den integralen Chansontext geboten bekommt, zum anderen eine gezeichnete Geschichte, welche den Text paraphrasiert, illustriert, interpretiert. Die BD sind von verschiedenen Zeichnern gestaltet. Das Spektrum der Umsetzungen ist breit und variantenreich, die Stile sind teilweise realistisch, teilweise grotesk. Unter anderem versetzt der Zeichner Peyo Brels wortspielerisches Lied Rosa ins Milieu der Schlümpfe und übersetzt den Text des Liedes zugleich in die Schlumpfsprache. Zu Le plat pays erfindet der Zeichner Tibet eine Geschichte, die er dem Text unterlegt, ohne dass dieser dazu selbst Anlass gäbe.
Abb. 86: Das Vorwort von Jacques Brel en images et en bandes dessinées (unpag.).
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Das als Folge seiner typographischen Anordnung wie ein Poem wirkende Vorwort zum Band über Jacques Brel thematisiert die Beziehung zwischen der Kunst des Chansonniers und dem Genre der BD und steht insofern im Zeichen der Reflexion über letztere: Eine Kunstform wird modelliert – und zwar explizit als ›neunte Kunst‹ – erfunden anlässlich der Darstellung von Werken einer anderen Kunst, verknüpft mit Hinweisen auf die Beziehung Wort–Bild. Deren wechselseitiges Sich-Übersetzen wird als Beitrag zu einem Porträt des Künstlers Brel verstanden. Jacques Brel et la Bande Dessinée, c’est la chanson qui côtoie le neuvième art, ce sont des images fortes qui épousent des mots simples, comme pour nous inviter au plus enivrant des voyages. Un voyage empreint de tendresse, sur une mélodie vagabonde et colorée. Jacques Brel et la Bande Dessinée, c’est aussi l’alchimie du verbe et des pinceaux, le mariage insidieux du pastel et de l’eau-forte, und subtil mélange de nuances, de contraste parfois, entre la noblesse du vers et la trivialité apparante di sentiment qu’il exprime. C’est enfin une saississante rencontre, mélancolique et passionnée, entre les maux et le desseints, entre les mots et les dessins. […] Et si cette traduction imagée de la prosodie brelienne invite à entonner le refrain, c’est parce qu’elle s’applique à mettre en valeur le mot, sans en détruire la substance. La Bande Dessinée ne fait ici que chanter, elle chante Brel […] et ses multiples facettes.
Das Konzept des Texte intégral Der Reihentitel Texte intégral verdeutlicht schon eine wichtige Besonderheit der Bände und weist zugleich auf das Selbstverständnis der Reihe hin: Tatsächlich wird der in Comic-Form gesetzte Text komplett geboten, und zwar gleich zweimal: Die Dialoge des Dramas sind komplett in die Sprechblasen der gezeichneten Geschichte eingegangen; ergänzend zur Bildgeschichte enthält der Band dann aber nochmals das gesamte Stück, den ›reinen‹ Text. Insofern handelt es sich bei der Umsetzung des Racine-Textes um eine Spielform der Klassikerpflege, die sich bei aller Verspieltheit dem kanonischen literarischen Werk verpflichtet weiß. Als Adressaten dürften vor allem Schüler, Studenten und andere Leser anvisiert sein, die sich eine unterhaltsame Lektüre von Racines Phèdre wünschen, denen es dabei aber auch wirklich um dieses Stück selbst geht – warum sollte sonst der Text nochmals abgedruckt werden? Zeichnungen wie Gesamtadaptation lagen in einer Hand (Armel).
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Der Comic und die Weltliteratur
Abb. 87: Titelbild der Adaptation von Racines Phèdre.
In eher braven, am Stil der Classics Illustrated geschulten Schwarzweiß-Panels entfaltet sich die Geschichte um Phèdre, Thésée und Hippolyte weitgehend linear, mit gelegentlichen narrativen und gezeichneten Rückblenden. Ansätze zu zeichnerischer Auslegung des Textes – so wird Hippolytes Gesicht auf zwei Bildfelder verteilt, als er nach Phädras Liebesgeständnis sagt »Je ne puis sans horreur me regarder moi-même« (S. 95) – bleiben die Ausnahme. Die Panel-Struktur ist unauffällig und gleichförmig – abgestimmt auf das Selbstverständnis des klassizistischen Theaters und auf die bei aller Dramatik der Handlung formvollendeten Verse in den Sprechblasen. Ein Apparatteil mit literarhistorischen Informationen (»Complément pédagogique«, verfasst von Marion Lecoq, S. 213–220) schiebt sich zwischen Bilderzählung und Textvorlage. Er besteht aus einer biographischen Skizze zu Racine (»Racine et son temps«), erläuternden Bemerkungen über das klassizistische Theater (»Les règles du thêatre classique«), Informationen zur mythischen Figur der Phädra und früheren dramatischen Bearbeitungen dieses Stoffes sowie einem kurzen theatergeschichtlichen Abriss (»La vie théatrale au XVIIe siècle«).
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Philosophie, zeichnerisch umspielt: La petite bibliothèque philosophique de Joann Sfar Einer spezifischen und implizit reflektierten Konzeption der Beziehung von Bild und Wort verpflichtet sind auch die Bände der Reihe La petite bibliothèque philosophique de Joann Sfar. Der Zeichner Sfar bietet in den beiden Bänden zu Voltaires Candide und zu Platons Gastmahl (Le Banquet) jeweils den vollständigen Text; seine Zeichnungen begleiten und umspielen diesen Text. Viele Zeichnungen enthalten Textanteile – zum Teil aus mehreren Sätzen bestehend –, die aber den Haupttext nicht wiederholen, sondern ihrerseits umspielen, parodistisch, überspitzend, aktualisierend, manchmal auch gezielt trivialisierend – abgestimmt auf den Stil der Zeichnungen, der durch seine dynamischen Strichmännchen geprägt ist. Gelegentlich wechselt der Zeichner seinen Stil kurzfristig; manchmal scheint es, als probiere er Bildideen aus – aber durchgängig erwecken seine gezeichneten Figuren den Eindruck eines aktionsreichen Getümmels. Seine redefreudigen Figuren befragen den Text, manchmal respektlos, aber stets in Bezug auf diesen; sie beleben ihn und werden von ihm belebt.
1.4
Comic-Anthologien als Darstellung von Weltliteratur in komprimierter Form
Sind Comic-Reihen, die sich unterschiedlichen literarischen Autoren und Werken widmen, mit Publikationsreihen literarischer Werke nicht zuletzt insofern vergleichbar, als die Aufnahme in manch solche Reihe ein zumindest erster Schritt auf dem Weg zur Kanonisierung ist, so besteht eine noch deutlichere Analogie zwischen dem Literatur-Comic-›Sampler‹ und der Anthologie. Wie diese, so besitzt auch der Sammelband mit LiteraturComics einen ausgeprägten Konstruktcharakter: Durch Aufnahme in eine Kollektion erfolgt eine implizite Kanonisierung – bezogen auf welchen spezifischen Kanon auch immer. Dies kann sich im Fall von LiteraturComic-›Anthologien‹ durchaus mit parodistischen Intentionen verbinden, etwa mit der Ironisierung eines bildungsbürgerlichen Kanons oder mit der Degradierung allgemein anerkannter Klassiker zum bloßen zeichnerisch genutzten Spielmaterial – entscheidend ist, dass zumindest implizit ein Kanon vorausgesetzt ist, wo mit ihm gespielt wird, sei es affirmativ, sei es dekonstruktiv.
274
Der Comic und die Weltliteratur
Abb. 88: Das Vorwort von La petite bibliothèque philosophique de Joann Sfar, Bd. 2: Candide (S. 7). Zu beiden Bänden hat Sfar ein Vorwort verfasst, das seiner persönlichen Motivation gilt. Im Avant-Propos zu Le Banquet berichtet der (sich selbst auch zeichnend darstellende) Zeichner von seinem Philosophiestudium, das er in einem reptilienhaften Zustand zeichnend verbracht habe, und dankt – abgestimmt auf das Thema eines platonischen Philosophen-Gastmahls (er selbst porträtiert sich auch als Teilnehmer) – seinen philosophischen Lehrern, welche nicht verantwortlich seien für die Folgen des Philosophiestudiums bei Sfar selbst. – Im »Avant-Propos« zum »Candide« teilt er einleitend eigene Ideen und Eindrücke zu diesem Text mit, zu dessen Beziehung zum philosophischen Denken und seinem spezifischen Realismus.
Anschluss an den Kanon, Transformationen des Kanonischen
275
1.4.1 Moga Mobos 100 Meisterwerke der Weltliteratur In Moga Mobos 100 Meisterwerke der Weltliteratur (Berlin 2001), der durch seinen Titel bereits auf das Konzept (oder Konstrukt) einer ›Weltliteratur‹ anspielt, werden die den Comics zugrundeliegenden literarischen Texte zu graphischen Kürzeln im Umfang einer einzigen Seite zusammengezogen. Diese Kurz-Paraphrasen vermitteln kein Wissen über die Texte, sondern setzen es vielmehr voraus, um es auf teilweise ziemlich eigenwillige Art abzurufen. Als ironisches Understatement muss es gelten, wenn in einem Vorwort – übrigens wiederum mit einer toposhaften Berufung auf die historischen Vorläufer des Comics – behauptet wird, die Lektüre des MogaMobo-Bändchens ersetze die langwierige Lektüre der weltliterarischen Klassiker selbst. Als Autoren nennt das Inhaltsverzeichnis des alphabetisch nach Titeln strukturierten Bandes jeweils den Verfasser des literarischen Werks und den Zeichner. Die Zeichner treiben ein autoreflexives Spiel mit Gattungskonventionen des Comics wie mit weltliterarisch-kanonischem Wissen. Neben den literarischen Klassikern stehen auch die Bibel sowie je ein philosophischer und ein naturwissenschaftlicher Text auf der Liste. Die Schreibweisen von Autornamen und Titeln wirken ziemlich sorglos. Literatur als ein Stück Hochkultur wird hier ostentativ popularisiert – was auch die gleichrangige Nennung von literarischen Autoren und Zeichnern bestätigt. Ein parodistisches Moment liegt in der Gesamtkonzeption, doch darin erschöpft sich das Unternehmen nicht. Sein Thema ist (unausgesprochen) das Eigenleben der Klassiker, das sie in unkontrollierbaren Rezeptionsprozessen, auch und gerade jenseits der HochkulturSchwelle, entfalten können. Inhalt 1. Die 120 Tage von Sodom – Marquis de Sade/Negrelli 2. 2001 – Arthur C. Clarke/HIWA (Hiroyuki Hiwatashi) 3. Alice im Wunderland – Lewis Car[r]oll/Martin Baltscheid 4. Also sprach Zarathustra – Friedrich Nietzsche/Gunther Grossholz 5. Der alte Mann und das Meer – Ernest Hemingway/Dieter Braun 6. American Psycho – Bret Easton Ellis/Marc Herold 7. The Bat and the Bird – Aesop/Smelly 8. Berlin Alexanderplatz – Alfred Döblin/Thomas Gilke 9. Besuch einer alten Dame [sic] – Friedrich Dürrenmatt/Anja Nolte 10. Betty Blue – Phillipe Dijan/Heidi Witt 11. Bibel – Diverse/Aki Oishi 12. Das Bildnis des Dorian Gray – Oscar Wilde/LalaVox 13. Die Blechtrommel – Günter Grass/Armin Ups 14. Die Blendung – Elias Canetti/Axel Meinther
276 15. 16. 17. 18. 19. 20. 21. 22. 23. 24. 25. 26. 27. 28. 29. 30. 31. 32. 33. 34. 35. 36. 37. 38. 39. 40. 41. 42. 43. 44. 45. 46. 47. 48. 49. 50. 51. 52. 53. 54. 55. 56. 57. 58. 59. 60.
Der Comic und die Weltliteratur Bonjour tristesse – Françoise Sagan/Titus Buddenbrooks – Thomas Mann/Isabel Kreitz Caspar Hauser – Jakob Wassermann/Jens Bohnke Catch22 – Joseph Heller/Matz Mainka Deviant – Harold Schechter/Eric Braün Don Quijote – Miguel de Cervantes/Legron Dr.Jeckyll+Mr.Hyde [sic] – Robert Louis Stevenson/Giuseppe Camuncoli Dracula – Bram Stoker/Markus Stenzenberger Der dritte Mann – Graham Greene/Christian Moser Dune – Frank Herbert/Veit Schütz Eine kurze Geschichte der Zeit – Stephan [sic] Hawking/Dirk Schwieger Die Elixiere des Teufels – ETA Hoffmann/Leo Leowald Emanuelle – Emanuelle Arsan/Nicolas Mahler Faust 2 [sic] – Johann Wolfgang Goethe/Jürgen Mick Frankenstein – Maria [sic] Shelley/Rainer Engel Frl. Smillas Gespür für Schnee – Peter Hoeg/Reinhard Kleist Der Fremde – Albert Camus/Teresa Camara Pestana Der Frosch mit der Maske – Edgar Wallace/Mawil Frühstück bei Tiffanys – Truman Capote/Kathi Käppel Generation X – Douglas Coupland/Timo Wuerz Gesammelte Werke [sic] – Charles Bukowski/Ambroise Heritier Golem [sic] – Gustav Meyrink/DICE-IndustriesTM Der Graf von Monte Christo – Alexandre Dumas/Ged Hayne Gullivers Reisen – Jonathan Swift/CX Huth Herr der Fliegen – William Golding/Matthias Raab Der Herr der Ringe – JRR Tolkien/Levin Kurio High Fidelity – Nick Hornby/Christian Lindemann Homo Faber – Max Frisch/Step Albers Der Hund von Baskerville – Sir Arthur Conan Doyle/Stefan Dinter Illuminatus – Robert Anton Wilson + Robert Shea/Esjottes Im Westen nichts Neues – Erich Maria Remarque/Blindfish Im Stahlgewitter [sic] – Ernst Jünger/Katz + Goldt In 80 Tagen um die Welt – Jules Verne/Bent Josefine Mutzenbacher – Josefine Mutzenbacher/Wolf Jugend ohne Gott – Ödön von Horváth/Saschka Unseld Justine – Marquis de Sade/Henriette Valium Kabale und Liebe – Friedrich Schiller/Thorben Meier Der kleine Prinz – Antoine de Saint-Exupéry/Phil König UBU – Alfred Jarry/David Prudhomme Krabat – Otfried Preußler/Davor Bakara Lemon – Motojiro Kji/Ryoji Shibasaki Liebe in den Zeiten der Cholera – Gabriel Garcia Marquez/Guillermo Ganuza Lolita – Vladimir Nabokov/Uwe Stötzer MacBeth [sic] – William Shakespeare/Eckehart Breitschuh Mme Bovary [sic] – Gustave Flaubert/Isabelle Klett Der Malteser Falke – Dashiell Hammett/Jan Thüring
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61. Der Mann ohne Eigenschaften – Robert Musil/Calle Claus 62. Manuskript, in Saragossa gefunden – Jan Graf Potocki/Tanitoc 63. Meister und Margarita – Michail Bulgakow/Christian Hansen 64. Michel aus Lönneberga – Astrid Lindgren/Rautie 65. Der Mieter – Roland Topor/Jakob Werth 66. Moby Dick – Herman Melville/Till Lenecke 67. Momotaro – Japanische Volkssage/Tadashi Okozaki 68. Mother Goose – Mother Goose [sic]/Kaori Kuniyasu 69. Murphy – Samuel Beckett/OL 70. Die Nachtigall und die Rose – Oscar Wilde/Ulf K. 71. Der Name der Rose – Umberto Eco/Heiner Fischer 72. Nibelungen – Deutsche Volkssage/Gerhard Schlegel 73. Oliver Twist – Charles Dickens/Naatz (Der) 74. Papillon – Henri Charriere/Markus Grolik 75. Das Parfüm – Patrick Süßkind [sic]/Pascal Placeman 76. Per Anhalter durch die Galaxis – Douglas Adams/Naomi Fearn 77. Die Pest – Albert Camus/Christof Ruoss 78. Die Physiker – Friedrich Dürrenmatt/Ralf Bohde 79. Professor Unrat – Heinrich Mann/Jan Bazing 80. Der Prozess – Franz Kafka/Wojtek Wawszczyk 81. Räuber Hotzenplotz – Otfried Preußler/Motonobu Hattori 82. Robin Hood – Englische Volkssage/Marc Lizano 83. Robinson Crusoe – Daniel Defoe/Andreas Michalke 84. Rotkäppchen – Gebrüder Grimm [sic]/Nora Krug 85. Die [sic] Schachnovelle – Stefan Zweig/AE 86. Die Schatzinsel – Robert Louis Stevenson/Herr Lorenz 87. Der Schimmelreiter – Theodor Storm/Elke Steiner 88. Shining – Stephen King/Boris Kiselicki 89. Solaris – Stanislaw Lem/Christophe Badoux 90. Der standhafte Zinnsoldat – Hans Christian Andersen/Jochen Ehmann 91. Die Sturmhöhe – Emily Bronte [sic]/Künstler Treu 92. Der talentierte Mr. Ripley – Patricia Highsmith/2F 93. Träume von Babylon – Richard Brautigan/Cyril 94. Uhrwerk Orange – Anthony Burgess/Wittek 95. Der Untergang des Hauses Usher – Edgar Allan Po [sic]/Jochen Eeuwyk 96. Von Mäusen und Menschen – John Steinbeck/Eke Reinhart 97. Warten auf Godot – Samuel Beckett/Kathin Fuld 98. Wendekreis des Krebses – Henry Miller/Leopold Maurer 99. Wilhelm Tell – Friedrich Schiller/Ivo Habermacher 100. Wir Kinder vom Bahnhof Zoo – Christiane F./Dieter Beck
Die Panels enthalten in fast allen Fällen ausschließlich graphische Elemente und keinen verbalen Anteil. Nur in sehr vereinzelten Fällen tauchen Elemente von Schrift auf (ein Titel, einzelne Namen), nur einmal Sprechblasen: In der Interpretation zu Emily Brontës Sturmhöhe rufen sich »Heathcliff« und »Cathy« beim Namen. Ansonsten begegnet dem Leser eine konsequent
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Der Comic und die Weltliteratur
Abb. 89: Hemingways The Old Man and the Sea in Moga Mobos 100 Meisterwerke der Weltliteratur (S. 12). Hemingway erzählt die Geschichte des alten Fischers Santiago, der lange keinen Fang eingebracht hat, bei einer neuerlichen Ausfahrt dann aber einen riesenhaften Fisch an die Angel bekommt. Unter Aufbietung aller Kräfte behält Santiago bis zur Rückkehr in den Hafen den Fisch an der Angel. Dennoch verliert er seinen Kampf um die Beute, denn Haie fressen sie ihm von der Angel, und er schleppt nur das gigantische Fischgerippe nach Hause. Als ein Held erscheint er nicht allein wegen der auf dem Meer bewiesenen Widerstandskraft, sondern auch, weil er die Niederlage gegen die Haie stoisch hinnimmt. In einer lakonischen Comic-Strip-Version der Geschichte von Dieter Braun wird die Idee des ›einfachen‹ und ›standhaften‹ Helden parodistisch auf die Spitze getrieben. In acht Bildern sehen wir den alten Mann zunächst am Strand, dann im Boot, dann mit Fisch, dann auf dem Weg heim, dann mit dem Fischgerippe, zuletzt wieder am Strand. Es ist dabei immer genau dieselbe Figur in einer identischen Körperhaltung, die in einen wechselnden Hintergrund hineingezeichnet ist.
Anschluss an den Kanon, Transformationen des Kanonischen
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wortlose Welt-Literatur. Die Vielfalt der Zeichenstile zeigt im Gegenzug zur scheinbar dienenden Funktion der Panels nachdrücklich, dass die erzählende Graphik mittlerweile ebenfalls ein ›vielsprachiges‹ Medium ist, dessen Entzifferung spezialistische, manchmal szenespezifisch-regionale Kompetenzen voraussetzt.
1.4.2 50. Literatur gezeichnet Demselben Konzept wie der ›Sampler‹ mit 100 Klassiker-Comics folgt die von Wolfgang Alber und Heinz Wolf herausgegebene zweiteilige ComicSammlung 50. Literatur gezeichnet (2003, 2004). Auch sie besteht aus Zeichnungen im Comic-Stil zu Werken der Weltliteratur (die Bibel ist, wie auch in Moga Mobos Sammlung, inbegriffen), und wieder liegt die Pointe durchgängig in der starken Komprimierung des Ausgangstextes. Der Leser kann den Comic nur interpretieren, wenn er die Vorlage kennt. Wiederum sind unterschiedlichste Zeichenstile versammelt. Anders als im Fall von Moga Mobo werden in 50. Literatur gezeichnet vielfach auch Textelemente in die Bildkompositionen einbezogen; es handelt sich teilweise um Zitate aus den Textvorlagen.27 Der Band geht laut Vorwort von Harald Havas auf die Frage nach einem weltliterarischen Kanon zurück. Er beruht nämlich auf einer Liste literarischer Werke, deren Erstellung vom Wiener Nachrichtenmagazin Profil, der ORF-Kulturredaktion und anderen kulturvermittelnden Institutionen betrieben worden war und die eine »hochkarätige« Fachjury unter Mitwirkung von mehr als zehntausend Befragten zusammengestellt hat. »Das Ergebnis dieser Bemühungen war […] eine Zusammenstellung der 100 wichtigsten und lesenswertesten Bücher der Weltliteratur – natürlich aus österreichischer Sicht.«28 Die Zeichner kommen alle aus Österreich. Der 27
28
50. Literatur gezeichnet. Mit begleitenden literarisch-ironischen Texten von Robert Jazze Niederle, hrsg. von Wolfgang Alber und Heinz Wolf, Furth an der Triesting 2003. Den Zeichnungen beigegeben sind Texte: »begleitende literarisch-ironische Texte von Robert Jazze Niederle«, wie der Untertitel des Bandes verheißt. Diese Texte geben den Inhalt der jeweiligen Werke in skizzenhafter und pointierender Form wieder. Was im Vorwort als Ironie angekündigt wird, ist dabei eine ziemlich triviale Form platten Humors. Die erträglichsten Texte zu den zeichnerisch interpretierten Werken sind noch die, die sich weitgehend auf Inhaltsangaben beschränken, aber leider meint der Verfasser meist, mehr tun zu müssen. Harald Havas: »Vorwort. Literatur meets Schund? Eine einführende Betrachtung«, in: 50. Literatur gezeichnet, hrsg. von Wolfgang Alber und Heinz Wolf, Furth an der Triesting 2003, unpag.: »Was haben Die Bibel und Faust gemeinsam? Oder Der alte Mann und das Meer und Die Klavierspielerin? Auf den ersten Blick nicht viel.
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Der Comic und die Weltliteratur
Verfasser des Vorwortes betont, das Unternehmen habe eine ästhetische Vorgeschichte, erinnert an die auf einem Roman beruhenden TarzanComics sowie an Classics Illustrated, deren Schlichtheit er aber kritisiert; ferner an Karasiks und Mazzucchellis Umsetzung von Austers City of Glass, an Art Spiegelmans Little-Lit-Bände sowie an den Moga-Mobo-Band. 2004 ist ein zweiter Band erschienen, der die übrigen 50 Titel der Liste abdeckt.29 Inhalt, Bd. 1 1. Faust, Johann Wolfgang von Goethe – Monikus 2. Hamlet, William Shakespeare – Regina Hofer 3. Die Bibel [ohne Autor] – Gerhard Förster 4. Die Odyssee, Homer – Patrick Lamb 5. Der Mann ohne Eigenschaften, Robert Musil – Peter Walkerstorfer 6. Der Prozess, Franz Kafka – Robert Maresch 7. Die Göttliche Komödie, Dante Alighieri – Stefan F. Neuwinger 8. Schuld und Sühne, Fjodor Michailowitsch Dostojewskij – Dieter Oitzinger 9. Don Quijote, Miguel de Çervantes [sic] – Michael Svec 10. Der Zauberberg, Thomas Mann – Rafael Lück 11. Ulysses, James Joyce – Rudi Klein 12. Die letzten Tage der Menschheit, Karl Kraus – Bauch & Kiesel 13. Die Blechtrommel, Günter Grass – Thomas Kriebaum 14. Metamorphosen, Ovid – Leopold Maurer 15. Hundert Jahre Einsamkeit, Gabriel Garçía [sic] Márquez – Alexander Strohmaier 16. Der kleine Prinz, Antoine de Saint-Exupéry – Nicolas Mahler 17. Siddharta, Hermann Hesse – Daniel Stoik 18. Krieg und Frieden, Leo Tolstoj – C. B. Pfaffenbichler 19. Nathan der Weise, Gotthold Ephraim Lessing – Hannes Schaidreiter 20. Der Name der Rose, Umberto Eco – Roland Vorlaufer 21. Der Fremde, Albert Camus – Gottfried Gusenbauer 22. Das Bildnis des Dorian Gray, Oscar Wilde – Barb G. Szekatsch 23. 1984, George Orwell – Jörg Vogeltanz 24. Tausendundeine Nacht [ohne Autor] – Carla Müller 25. Die Buddenbrooks, Thomas Mann – Claudia Molitoris 26. Parzival, Wolfram von Eschenbach – Eugen Kment 27. Romeo und Julia, William Shakespeare – Ander Pecher
29
Auf den zweiten Blick handelt es sich um Titel von Büchern (oder Textsammlungen), die zur Weltliteratur gezählt werden. Das heißt, im Fall von Faust, zumindest zur deutschsprachigen Literatur. Und betreffend Die Klavierspielerin zumindest zur österreichischen.« Man beachte die ungenaue Ausdrucksweise im Umgang mit den Begriffen ›Weltliteratur‹ und ›Literatur‹ sowie die originelle Differenzierung zwischen ›deutschsprachiger‹ und ›österreichischer‹ Literatur. 502. Literatur gezeichnet. Mit begleitenden literarisch-ironischen Texten von Robert Jazze Niederle, hrsg. von Wolfgang Alber und Heinz Wolf, Furth an der Triesting 2004.
Anschluss an den Kanon, Transformationen des Kanonischen 28. 29. 30. 31. 32. 33. 34. 35. 36. 37. 38. 39. 40. 41. 42. 43. 44. 45. 46. 47. 48. 49. 50.
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Erzählungen, Franz Kafka – Michael Wittmann Woyzeck, Georg Büchner – Reo Kinder- und Hausmärchen, Jacob und Wilhelm Grimm – Alexus Der Steppenwolf, Hermann Hesse – Bernd Ertl Der Herr der Ringe, J. R. R. Tolkien – Max Berger Die [sic] Schachnovelle, Stefan Zweig – Robert Sladek Madame Bovary, Gustave Flaubert – Sibylle Vogel Anna Karenina, Leo Tolstoj – Heinz Wolf Die Wand, Marlen Haushofer – Nina Dietrich Nibelungenlied, [ohne Autor] – Igino Die Pest, Albert Camus – Nana Swiczinsky Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins, Milan Kundera – Peter Unger Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Marcel Proust – Robert Jazze Niederle Das andere Geschlecht, Simone de Beauvoir – Klaudia Wanner Der Fänger im Roggen, Jerôme [sic] D. Salinger – Walter Fröhlich Die Leiden des jungen Werther, Johann Wolfgang von Goethe – Andreas Unterkreuter Warten auf Godot, Samuel Beckett – Verhuur van Boten Stiller, Max Frisch – Christoph Abbrederis Tagebuch, Anne Frank – Margit Krammer Berlin Alexanderplatz, Alfred Döblin – Ulli Lust Die Klavierspielerin, Elfriede Jelinek – Putzker/Draxler Das Parfum, Patrick Süskind – Nina Ruzicka Der alte Mann und das Meer, Ernest Hemingway – Auge
Inhalt, Bd. 2 51. Das Schloss, Franz Kafka – Anna-Maria Jung 52. Hiob, Joseph Roth – Lorenz Köhlmeier 53. Macbeth, William Shakespeare – Daniel Sˇulji´c 54. Alice im Wunderland, Lewis Carroll – Kurt Dornig 55. Ansichten eines Clowns, Heinrich Böll – Michael Hofkirchner 56. König Lear, William Shakespeare – Franz Ruep 57. Das Geisterhaus, Isabel Allende – Krubs Gruber 58. Das Dekameron, Giovanni Boccaccio – Mauli 59. Moby Dick, Herman Melville – Stefan Stratil 60. Schöne neue Welt, Aldous Huxley – Judith Kroboth 61. Die Blendung, Elias Canetti – Werner Rosenauer 62. Gedichte, Rainer Maria Rilke – Helmut Kaplan 63. Die Ilias, Homer – Jürgen Mick 64. Der Idiot, Fjodor Michailowitsch Dostojewskij – Dieter Puntigam 65. Die Dämonen, Fjodor Michailowitsch Dostojewskij – Roman Klug 66. Radetzkymarsch, Joseph Roth – Harald Havas 67. Momo, Michael Ende – Tara Starnegg 68. Also sprach Zarathustra, Friedrich Nietzsche – Erich Tiefenbach 69. Das kommunistische Manifest, Karl Marx & Friedrich Engels – Pyros 70. Früchte des Zorns, John Steinbeck – Edda Strobl 71. Narziss und Goldmund, Hermann Hesse – Michael Balgavy
282 72. 73. 74. 75. 76. 77. 78. 79. 80. 81. 82. 83. 84. 85. 86. 87. 88. 89. 90. 91. 92. 93. 94. 95. 96. 97. 98. 99. 100.
Der Comic und die Weltliteratur Effi Briest, Theodor Fontane – Martin Hofbauer Die Wahlverwandtschaften, Johann Wolfgang von Goethe – BD Heldenplatz, Thomas Bernhard – Michael Pammesberger Candide, Voltaire – Nouchka Wolf Das Glasperlenspiel, Hermann Hesse – Jakob Kohlmayer Die Physiker, Friedrich Dürrenmatt – Florian Satzinger Mutter Courage und ihre Kinder, Bertolt Brecht – Philip Kopera Die autobiographischen Schriften, Elias Canetti – Christine Buchner/Sebastian Buchner Die Brüder Karamasow, Fjodor Michailowitsch Dostojewskij – Gerhard Paul weiter [sic] leben, Ruth Klüger – Star Die Strudlhofstiege, Heimito von Doderer – Hansi Linthaler/Antonio Fian Der Meister und Margarita, Michail Bulgakov – Bert Könighofer Malina, Ingeborg Bachmann – Laas Der Koran [ohne Autor] – Katrin Brezansky Pippi Langstrumpf, Astrid Lindgren – Helmut Kollars Wunschloses Unglück, Peter Handke – Flitsch Gedichte, Heinrich Heine – Eugen Plan Die Traumdeutung, Sigmund Freud – Reinhard Scheining Das Spiel ist aus, Jean-Paul Sartre – Michael Hacker Das Gilgamesch-Epos [ohne Autor] – Badoli Geschichten aus dem Wiener Wald, Ödön von Horváth – Klaus Göschl Reigen, Arthur Schnitzler – Jan Limpens Onkel Toms Hütte, Harriet Beecher-Stowe – Grillo Morbus Kitahara, Christoph Ransmayr – Michael Pleesz Wilhelm Meister, Johann Wolfgang von Goethe – Klaus Ritter Der Besuch der alten Dame, Friedrich Dürrenmatt – Muromi Frühling Stolz und Vorurteil, Jane Austen – Florian Koch Tao Te King, Laotse – Chris Scheuer Die Gedichte, Paul Celan – Tom Mackinger
Anschluss an den Kanon, Transformationen des Kanonischen
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Abb. 90: Beispiel aus 50. Literatur gezeichnet: Gotthold Ephraim Lessings Nathan der Weise (Nr. 19). Wir sehen immer wieder dasselbe Bild (neunmal): Nathan, vor einer orientalischen Kulisse. Nur der Inhalt der Sprechblasen wechselt: Zu lesen ist der Anfang der Ringparabel. Die damit suggerierte Idee, die Ringparabel bilde so etwas wie die Essenz des »Nathan«, lässt sich durchaus vertreten. Was aber fällt dem Texter Niederle zum »Nathan« ein? »Nathan, der Weise, legt den Sultan rein. Andernfalls hieße er Nathan, der Dussel. Gotthold Ephraim Lessing, ein Mann mit Grips, hatte Zoff mit der Kirche und wollte ihr einen Streich spielen.« Und so fort mit unermüdlichen Infantilismen, die sich vermutlich als lustig verstehen, tatsächlich aber eher den Effekt erzeugen, dem das Buch angeblich doch entgegentreten möchte: den Comic zu banalisieren.
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Der Comic und die Weltliteratur
1.4.3 Alice im Comicland Aus der Schweiz kommt ein drittes Beispiel einer ›weltliterarischen‹ ComicAnthologie: Alice im Comicland. Comiczeichner präsentieren Werke der Weltliteratur.30 Dieser Band enthält Beiträge, die zunächst nacheinander im Magazinteil der Samstagsausgabe zweier Tageszeitungen erschienen.31 Ging es mit der Einbeziehung einer Comic-Seite ins Magazin um dessen neue, zeitgemäßere Konzeptualisierung, so versteht der Verfasser des Vorworts zur Buchausgabe die Comics durchaus als Beiträge zur Klassikerpflege.32 Entstanden sei »eine phantastische, hintergründige, wundersame und wunderbare Serie von Comics über grosse Bücher, die nun verdientermassen selber als Buch vorliegt«.33 In solcher Würdigung von Vorlagen und Zeichnern schwingt die Idee des ›Gediegenen‹ mit. Die Folge der Literatur-Comics im Buch ist weder alphabetisch noch chronologisch. Zudem tragen die einzelnen Comic-Beiträge nicht alle die Titel der zugrundeliegenden literarischen Werke. Statt der Werktitel sind ihnen jeweils die Namen der Zeichner vorangestellt, und in manchen Fällen erschließt sich die verwendete Textgrundlage allein aus den Elementen des
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Irene Mahrer-Stich (Hrsg.): Alice im Comicland. Comiczeichner präsentieren Werke der Weltliteratur, Zürich 1993. Aus den Informationen auf der Impressumsseite: »Eine Selektion aus der 1991 bis 1993 in ›Das Magazin‹ erschienenen Reihe ›Werke der Weltliteratur‹.« »Das Magazin« ist die Wochenendbeilage des »Tages-Anzeiger« und der »Berner Zeitung«. Den Plan, dem »Magazin« eine Comic-Seite beizugeben, erläutert der Chefredakteur René Bortolani im Vorwort (S. 2) in Zusammenhang mit der Neukonzeptualisierung des ehemaligen »Tages-Anzeiger-Magazins«, das dem Comic noch nicht aufgeschlossen gewesen war. Das neue »Magazin« (ab 1991 erschienen) sollte dem geänderten Zeitgeschmack entgegenkommen. »Die Idee war, ein literarisches Werk in zeichnerischer Form auf nur einer Zeitschriftenseite wiederzugeben. Erschwerend kam hinzu, dass nicht von irgendwelchen literarischen Werken ausgegangen werden sollte, sondern von Weltliteratur – Meisterwerken mithin wie Tolstois ›Krieg und Frieden‹, Shakespeares ›Hamlet‹, ›Hundert Jahre Einsamkeit‹ von Gabriel GarcÍa [sic] Marquez, Vladimir Nabokovs ›Lolita‹ oder Thomas Manns ›Buddenbrooks‹.« (René Bortolani, »Vorwort«, in: Irene Mahrer-Stich (Hrsg.): Alice im Comicland. Comiczeichner präsentieren Werke der Weltliteratur, Zürich 1993, S. 2). »Die erste Ausgabe der neuen Rubrik ›Werke der Weltliteratur‹ bestritt der Franzose Loustal. Er setzte Albert Camus’ ›Der Fremde‹ im Sinne unserer Idee beispielhaft um: Es gelang ihm, das Buch in Kurzform prägnant und pointiert nachzuerzählen beziehungsweise nachzuzeichnen. Andere prominente Zeichner hielten sich weniger sklavisch an die Vorlage, sondern wagten zeichnerische Interpretationen der Werke oder siedelten Klassiker wie etwa Shakespeares Dramen in der heutigen Zeit an.« (Ebd.). Ebd.
Anschluss an den Kanon, Transformationen des Kanonischen
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Comics selbst. Das Inhaltsverzeichnis erleichtert aber die Orientierung über die literarischen Ausgangstexte. Die Orientierung an einem Klassiker-Kanon ist evident. Inhalt 1. Lewis Carroll: Alice im Wunderland – t.o.t.t. (d.i. Thomas Ott) 2. Oscar Wilde: Das Bildnis des Dorian Gray – t.o.t.t. 3. Ray Bradbury: Der illustrierte Mann – t.o.t.t. 4. Gottfried Keller: Der grüne Heinrich – Mattotti 5. Max Frisch: Montauk – Mattotti 6. Samuel Beckett: Warten auf Godot – M.S. Bastian 7. Friedrich Dürrenmatt: Der Tunnel – M.S. Bastian 8. George Orwell: 1984 – Mary Fleener 9. D. H. Lawrence: Lady Chatterley’s Lover – Mary Fleener 10. Witold Gombrowicz: Kosmos – Kamagurka 11. Nicolai Gogol: Die Nase – Kamagurka 12. Knut Hamsun: Hunger – Kamagurka/Herr Seele 13. [Lev] Tolstoi: Kinderjahre – Kamagurka/Herr Seele 14. Carlos Castaneda’s [sic]: Reise nach Ixtlan – Noyau 15. Jack Kerouac: Unterwegs – Noyau 16. Charles Dickens: Oliver Twist – Kim Deitch 17. Alexandre Dumas: Der Graf von Monte Christo – Kim Deitch 18. Denis Diderot: Jacques, der Fatalist – Mix & Remix 19. [Miguel de] Cervantes: Don Quichote – Mix & Remix 20. Vladimir Nabokov: Lolita – Loustal 21. Franz Kafka: Die Verwandlung – Loustal 22. Jean Paul: Dr. Katzenberger’s Badereise – Ursula Fürst 23. Mark Twain: Eine Rigibesteigung – Ursula Fürst 24. Mark Twain: Leben auf dem Mississippi – Ben Katchor 25. Vladimir Nabokov: Der Späher – Ben Katchor 26. [William] Shakespeare: Macbeth – Schuler/Caprez 27. [William] Shakespeare: Romeo und Julia – Schuler/Caprez 28. [William] Shakespeare: Hamlet – Schuler/Caprez 29. [William] Shakespeare: Die Zähmung der Widerspenstigen – Schuler/Caprez 30. Iwan Gontscharow: Oblomow – Pfarr 31. Herman Melville: Bartleby – Pfarr 32. Elias Canetti: Die Blendung – Pfarr 33. Karl Philipp Moritz: Anton Reiser – Pfarr 34. Jorge Luis Borges: Das Sandbuch – Muñoz 35. Raymond Chandler: Der lange Abschied – Muñoz 38. Charles de Coster: Till Eulenspiegel – Frida Bünzli 37. Abbé Prévost: Manon Lescaut – Julie Doucet 38. Jean[-]Paul Sartre: Der Ekel – Gefe
Einige vergleichende Beobachtungen: Zürich – Wien – Berlin: Der Gestus der Präsentation eines Literatur-Kanons in Comic-Form unterscheidet sich bei den drei Projekten erkennbar. Alice im Comicland dokumentiert eine sich
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Der Comic und die Weltliteratur
als innovatorisch verstehende Form der Klassiker-Interpretation, die bildungsbürgerliches Literaturwissen mit der Offenheit für neue ästhetische Ausdrucksmittel verbindet. Literatur gezeichnet nimmt einen von Massenmedien (also von ›anderen‹) zusammengestellten Kanon zum Ausgangspunkt und treibt mit dessen Beständen ein parodistisches, teilweise gezielt profanisierendes Spiel. Und Moga Mobo tendiert dazu, mit dem Kanonisierungsprozess selbst zu spielen.
Beispiel 1: Jorge Luis Borges’ Das Sandbuch (Muñoz) Jorge Luis Borges’ einflussreiche Texte sind durchsetzt von Zitaten und Anspielungen. Durch diese mannigfaltigen intertextuellen Beziehungen sind sie mit anderen literarischen Texten unterschiedlichster Provenienz, aber auch untereinander verbunden. Der Comic-Zeichner Muñoz greift diese Vernetzung auf, indem er in seiner Adaptation der phantastischen Kurzgeschichte Das Sandbuch (El libro de arena) die gleichermaßen phantastische Geschichte Der Andere (El otro) integriert. Erstere erzählt von einem Bibliophilen, dem ein fahrender Händler ein Buch verkauft. Dieses »Holy Writ« – also »ganze Schrift« oder »alles Geschriebene« – betitelte Buch besteht aus unendlich vielen Seiten; der Vorbesitzer, von dem der Händler es erworben hat, nennt es entsprechend das »Sandbuch«, »weil weder das Buch noch der Sand Anfang oder Ende haben«.34 Ein unendliches Buch kann zwangsläufig alles jemals in ein Buch Gedruckte und alles in ein Buch Druckbare enthalten, doch ein solches totales Buch ist kein Segen, sondern, so der Tenor des Erzählers, ein Fluch, »etwas Obszöne[s], das die Wirklichkeit schändet[] und korrumpiert[]«.35 Er wird zum »Gefangenen des Buches«,36 untersucht es in jedem wachen Moment mit der Lupe und versucht vergeblich, es mit anderen, normalerweise zur Erschließung eines Buches gangbaren Mitteln zu ergründen. Zuletzt entledigt er sich des Bandes, indem er ihn im Keller der argentinischen Nationalbibliothek auf einem feuchten Regal dem Zersetzungsprozess überlässt, den es bei ihm selbst bereits durch seine Unergründlichkeit ausgelöst hat. In Der Andere begegnet ein gealterter Jorge Luis Borges seinem jüngeren Ich. Auch dieses Zusammentreffen hat etwas Obszönes. Der über 34
35 36
Jorge Luis Borges, »Das Sandbuch«, in: Ders., Werke in 20 Bänden, hrsg. von Gisbert Haefs und Fritz Arnold, Bd. 13: Spiegel und Maske. Erzählungen 1970–1983. Übers. von Curt Meyer-Clason, Dieter E. Zimmer und Gisbert Haefs, 4. Aufl. München 2004, S. 182–187, hier S. 184. Ebd., S. 186. Ebd.
Anschluss an den Kanon, Transformationen des Kanonischen
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Abb. 91: Ausschnitt aus Das Sandbuch von Jorge Luis Borges in der Adaptation von Muñoz (Alice im Comicland, S. 36).
Siebzigjährige ist dem noch nicht ganz Zwanzigjährigen nicht etwa überlegen; sie sind vielmehr beide »die karikaturhafte Nachbildung des anderen«.37 Das inszenierte Selbstgespräch des Autors mit seinem Alter ego aus der Vergangenheit wirft mehr Fragen auf, als es Antworten gibt. In der Kommunikation zwischen den Ichs kommt der Literatur eine besondere Rolle zu, denn beide verwenden literarische Zitate, um ihren Standpunkt zu untermauern. Der alte Borges zitiert Victor Hugos Vers »L’hydre-univers tordant son corps écaillé d’astres« aus »Le contemplation« (1856). Muñoz wiederholt das Zitat, doch er stellt es an das Ende des Comics. Auch am Beginn des Comics steht ein Zitat, das Borges verwendet, das bekannte Diktum Heraklits: »Du 37
Jorge Luis Borges, »Der Andere«, in: Ders., Werke in 20 Bänden, hrsg. von Gisbert Haefs und Fritz Arnold, Bd. 13: Spiegel und Maske. Erzählungen 1970–1983. Übers. von Curt Meyer-Clason, Dieter E. Zimmer und Gisbert Haefs, 4. Aufl. München 2004, S. 95–103, hier S. 101.
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Der Comic und die Weltliteratur
kannst nicht zweimal in denselben Fluss steigen.« Beide bilden nicht nur einen Rahmen, sie erscheinen gleichsam als Kommentar zu Borges’ Geschichten und zu seinem gesamten Œuvre. Liest man Muñoz’ Comic nicht als Bearbeitung der Sandbuch-Geschichte, in die Der Andere eingebettet ist, sondern als Zusammenschau der ganzen Anthologie, die ebenfalls den Titel Das Sandbuch (El libro de arena) trägt und die beiden Kurzgeschichten neben einigen weiteren enthält, wäre das Buch, in dem der Comic-Borges blättert, der von ihm verfasste Sammelband. Dieser Band enthält nicht wie bei Borges’ fremdsprachige Texte, denen auf jeder 1000. Seite eine Abbildung beigefügt ist, sondern Comics, unter anderem die Comic-Geschichte »Der Andere«, die, zunächst als Metadiegese, als Comic im Comic, eingeführt, die Rahmenhandlung verdrängt. Es liegt nahe, »l’hydre-univers« als Metapher für das Literatur-»Universum« zu verstehen, dessen »Köpfe« immerzu nachwachsen, sich dabei verdoppeln und so endlos vermehren. Das Textuniversum umfasst nicht nur literarische Texte im engeren Sinne, sondern auch die Comics, die sich, das zeigt Muñoz, an der intertextuellen Vernetzung beteiligen und sich – ganz wie die Hydra – vervielfältigen, wie das zweite Panel durch eine mise en abyme andeutet.
Beispiel 2: Knut Hamsuns Hunger (Kamagurka und Herr Seele) Knut Hamsuns Hunger gilt als früher Vertreter einer Prosa, die den sogenannten stream of consciousness verwendet, um dem Leser Innenansichten eines homodiegetischen Erzählers zu vermitteln. In der Adaptation des Romans durch die belgischen Comic-Macher Kamagurka (d.i. Luc Zeebroek, Script) und Herr Seele (d.i. Peter van Heierseele, Zeichnung) wird die internalisierende Erzähltechnik nicht verwendet, im Gegenteil, das Autoren-Team beschränkt sich auf rein äußerliche Darstellungen des Raums, der Figuren, ihrer Handlungen einschließlich ihrer Sprechakte. Zeichnerisch sind Ansichten von Figuren, Räumen und Dingen leichter umzusetzen, und sie entsprechen eher den Konventionen des Erzählens im Comic. Anders als Schrifttexte muss der Comic dem Leser in der Regel etwas ikonisch zeigen. Tut er es nicht, weist er gerade auf den Bruch der Norm hin, wie dies beispielsweise bei Kenneth Kochs »Comics mostly without pictures«38 der Fall ist. Die äußerliche Darstellung ist für die Form der Adaptation, die Kamagurka und Herr Seele wählen, Bedingung, denn durch sie wird die Figur, trotzdem sie
38
Vgl. Koch, The Art of the Possible.
Anschluss an den Kanon, Transformationen des Kanonischen
Abb. 92: Hunger in der Fassung von Kamagurka und Herr Seele (Alice im Comicland, S. 14).
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Der Comic und die Weltliteratur
im Splash Panel als Cowboy Tex angekündigt wird, mit Cowboy Henk identifiziert, den der entsprechend vorgebildete Leser – dieser muss bei den kurzen, meist mehr interpretierenden als bloß transformierenden Adaptationen vorausgesetzt werden – aus einem Comic Strip derselben Autoren kennt, der seit 1981 in verschiedenen Zeitschriften läuft.39 Gerade die Identifizierbarkeit der Figur über ihr Aussehen macht den Reiz dieser Interpretation des Hamsun’schen Romans aus, der selbst dem Aussehen des Protagonisten wenig Raum gibt. Der Berührungspunkt von Hamsuns Roman und den serialisierten Comics um Cowboy Henk liegt nicht im Darstellungsmodus, sondern im Thema: Es geht beiden um die conditio humana und das Absurde im menschlichen Leben im Besonderen – wie im Falle Hamsuns das Hungern des Schriftstellers, der sich beinahe selbst um sein Leben schreibt, oder wie in einem Cowboy-Henk-Strip, in dem der Cowboy mit voller Hingabe versucht, einen Fisch vor dem Ertrinken zu bewahren und ihn dadurch tötet. Mit der medialen Transposition geht in dem Comic auch eine kulturelle einher. Kamagurka und Herr Seele verlagern die Handlung vom Kristiania (Oslo) des späten 19. Jahrhunderts in den modernen Kulturraum, wo Lebensmittel zu beinahe jedem Zeitpunkt und an fast jedem Ort für wenig Geld zur Verfügung stehen – sogenanntes »eten uit de muur«: fertig zubereitetes Fast Food, das über in Mauern eingelassene Selbstbedienungsautomaten gegen Münzeinwurf in Warmhaltekammern vertrieben wird.40 Cowboy Tex bzw. Cowboy Henk lebt in einer Überflussgesellschaft, in der die Verfügbarkeit von Essen, anders als im Hamsun’schen Norwegen, kein Problem darstellt. In dem Comic reflektiert sich der Hypotext Hamsuns im parodistischen Zerrspiegel der zeitgenössischen niederländisch-flämischen Kultur – Comic und Roman erhellen sich im Vergleich miteinander gegenseitig. Im Comic wird die selbst bzw. durch die Notwendigkeiten der Literaturproduktion verursachte existentielle Gefahr des Hunger-Protagonisten zu einer trivialen Posse, die Absurdität nicht durch tatsächliche Not veranschaulicht, sondern durch vorgetäuschte Not (»Ich sterbe vor Hunger«, heißt es im ersten Panel) vermittelt und durch die nur vordergründig dümmliche Serienfigur Henk dem Lachen preisgegeben.
39 40
Auf Deutsch als Cowboy Henk. Der König der Zahnseide, Zürich 1994. Die Wurzeln dieser Form der Systemgastronomie reichen zurück in die Zeit Hamsuns, erste Automaten hatte die deutsche Firma Stollwerck auf der internationalen Gewerbeausstellung 1886 vorgestellt, Automatenrestaurants folgten in den 1890er Jahren. Die moderne, vor allem in den Niederlanden verbreitete Form wurde allerdings erst Ende des 20. Jahrhunderts eingeführt.
Anschluss an den Kanon, Transformationen des Kanonischen
1.5
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Osamu Tezukas Nanairo Inko und die Weltliteratur
Basierend auf der fünfbändigen französischen Nanairo-Inko-Ausgabe hier eine Übersicht über die von Osamu Tezuka verwendeten dramatischen Werke:41 Nanairo Inko 1 William Shakespeare (1564–1616): Hamlet (vers. 1601) Maxime Gorki (1868–1936): Les bas-fonds (1902), Henrik Ibsen (1828–1906): Une maison de poupée (1879) Kido Okamot¯o (1872–1939): Une histoire de Shuuzenji/Le Shuuzenji Monogatori (1909) Tennessee Williams (1911–1983): La ménagerie en verre (1945) Nikolai Gogol (1809–1836): Le procureur général (1836) Gian Carlo Menotti (1911–2007): Le téléphone (1947) Wilhelm Meyer-Foerster (1862–1934): Alt-Heidelberg (1924) Albert Camus (1913–1960): Le malentendu (1944) Nanairo Inko 2 James Matthew Barrie (1860–1937): Peter Pan (1904) Robert Emmett Sherwood (1896–1955): La forêt pétrifiée (1935) Edward Albee (geb. 1928): Qui a peur de Virginia Woolf (1962) William Shakespeare (1564–1616): La Mégère apprivoisée (1594) Junji Kinoshita (1914–2006): L’Histoire de Hikoichi (1914) Edmond Rostand (1868–1918): Cyrano de Bergerac (1897) Maurice Maeterlinck (1862–1949): L’oiseau bleu (1909) Takizawa Bakin (1767–1848): Nans¯o satomi hakken den – La légende des huit Samouraïs (1814) Nanairo Inko 3 Samuel Beckett (1906–1989): En attendant Godot/While waiting for Godot (1949) Jean Giraudoux (1882–1944): Ondine (1939) Reginald Rose (1920–2002): Douze hommes en colère/Twelve angry Men (1952) George Bernard Shaw (1856–1950): Disciple du diable/The Devil’s Disciple (1896) Abe K¯ob¯o (1924–1993): L’homme changé en bâton/A Man who became a Stick (1957)
41
Im Vorspann zu den Episoden finden sich die für die Aufstellung übernommenen Daten nebst kurzen Bemerkungen zum Inhalt. In den Bänden 3 bis 5 gibt es am Ende eine zusätzliche »Table des Matières«, die in den Bänden 1 und 2 noch fehlt; da die Titel der fraglichen Stücke nebst Erläuterungen den einzelnen Episoden aber in sämtlichen Bänden vorangestellt sind, ist die Orientierung dem blätternden Leser in jedem Fall leicht gemacht. Die folgenden Angaben geben die in den Bänden selbst gemachten wieder, auch wenn dabei nicht ganz einheitlich verfahren wird.
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Der Comic und die Weltliteratur
Molière (1622–1673): Tartuffe (1669) Kyogen theatre: Kotobuki Utsubo Zaru/Le singe acrobate/Monkey Samuel Marshak (1887–1964): Les douze mois/The Forest is alive Arthur Miller (1915–2005): Mort d’un commis voyageur/Death of a Salesman (1949) Euripide (480–406 v.u.Z.): Médée/Princess Medea (431 v.u.Z.) Nanairo Inko 4 George Bernard Shaw (1856–1950): Pygmalion (1912) Bertolt Brecht (1898–1956): L’Opera de Quat’Sous/The Three-Penny Opera (1928) Eugène Ionesco (1912–1994): Rhinocéros/Rhino (1958) Karel Capek (1890–1938): R.U.R./Rossum Universal Robots [sic] (1921) Albert Husson (1912–1978): La cuisine des anges/We’re not Angels (1953) William Shakespeare (1564–1616): Le marchand de Venise/The Merchant of Venice (1596) Kanadéhon Ch¯ushingura: Les 47 Samurais d’Ak¯o (Jôruri) (1748) Clairville et Charles Gabet/Robert Planquette (1848–1903): Les cloches de Corneville/The Bell of Colvenell [sic] (1877) Thornton Wilder (1897–1975): Love and how to Cure it (1931) Tennessee Williams (1911–1983): Un tramway nommé désir/A Streetcar named Desire (1947) Oscar Wilde (1854–1900): Salomé (1892) Nanairo Inko 5 Anton Tchekhov (1860–1904): La demande en mariage (1888) [Der Heiratsantrag] Luigi Pirandello (1867–1936): Six personnages en quête d’auteur/Sei personaggi in cerca d’autore (1921) William Shakespeare (1564–1616): Othello (1604) Hisashi Inoue (geb. 1934): Onze chats, »Acte final« und »Les aventures de Tamasabur¯o«
Ostentativ traktiert Tezuka ›seine‹ Stoffe als reines Spielmaterial. Keine Verfremdung, keine Replatzierung von Motiven, keine Trivialisierung scheuend, begeht er bewusst und gezielt ein ›Sakrileg‹ nach dem anderen. So wird die Erinnerung an Maeterlincks Oiseau bleu nur heraufbeschworen, um eine schrille Krimihandlung zu entwickeln, in der ein blaues Superauto eigenartige und mörderische Kunststücke vollführt. Die Dreigroschenoper wird ins Milieu renitenter Schüler verlegt, andere Stücke gar in das tierischer Protagonisten, wie etwa die Legende von den acht Samurai, die in Tezukas Version vom Kampf zwischen Katzen und Hunden handelt. Die auf Godot wartende Figur ist in seiner Version ein weiblicher Roboter. Mangas – so demonstriert Tezuka gerade im Rückgriff auf Werke des literarischen Kanons – kümmern sich weder um Stilniveaus noch um sonstige Geschmacksfragen;
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sie treiben ihr Spiel, setzen eben damit aber die Schau-Spiel-Tradition fort, auf der auch die Klassiker des Welttheaters basieren. Aras haben keine schönen Stimmen, sie erzeugen schrille Klänge und Effekte – aber eben damit unterstreichen sie den Prozess spielerischer Imitation, auf dem das SchauSpiel beruht. Tezukas Verfahrensweise bei der Integration der dramatischen Werke in die Bilderzählungen bestätigt, was sich in der Ara-Figur schon andeutet: Tezuka arrangiert seine Mangas als Metatheater (siehe dazu Kapitel II.2).
1.6
Eine Literaturgeschichte in Comic-Form: Cathérine Meurisses Mes hommes de lettres
2008 erschien in französischer Sprache eine Literaturgeschichte in ComicForm: In Mes hommes de lettres. Petit précis de littérature française42 präsentiert Cathérine Meurisse einen humoristischen Überblick über die französische Literaturgeschichte, der vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert reicht: Im ersten, »Moyen Age« betitelten Abschnitt tritt ein lautespielender und singender Fuchs im Kostüm eines fahrenden Sängers auf und informiert den Leser im Schnelldurchgang über die zum literarischen Mittelalter zu rechnenden Phasen und Tendenzen der (im 9. Jahrhundert aufkommenden) französischen Literatur; wie ein Conferencier führt der Fuchs – der sich zuletzt entschließt, Troubador zu werden – den Leser durch (absichtsvoll stereotyp gezeichnete) mittelalterliche Lebenswelten und macht ihn mit wichtigen literarischen Dokumenten bekannt. Die Geschichten Lancelots, Parzivals, Tristans und Isoldes sind ins Kapitel über das Mittelalter in abbreviatorischer Form eingeflochten – analog den Stationen einer von Bänkelsängern geschilderten Geschichte. Auch Tierfabeln werden nacherzählt – und der Fuchs als beliebter Protagonist darf aus der Rolle des Erzählers in die des Akteurs überwechseln – etwa um einen Wolf an der Nase herumzuführen. Vor allem dadurch, dass unser gezeichneter Conferencier selbst die Rolle des Poeten spielt, nimmt er für seine eigene Darstellungsform – die in gerahmte Episoden gegliederte Bildgeschichte – damit implizit in Anspruch, von den mittelalterlichen fahrenden Sängern und Epikern als den ersten Repräsentanten der französischen Literatur abzustammen. Der literarische Kursus durch die Epochen endet mit einem Abschnitt über »Sartre und Beauvoir« – und zeigt eine skurril bewegte Existentialisten-Szene. Dazwischen liegen Abschnitte zu denen, die in der französischen 42
Cathérine Meurisse, Mes hommes de lettres. Petit précis de littérature française, Paris 2008.
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Der Comic und die Weltliteratur
Abb. 93a und b: Umschlag (oben) und Titelseite (unten) von Cathérine Meurisses Mes hommes de lettres (Ausschnitte).
Auf den humoristisch-parodistischen Charakter des Literaturführers von Cathérine Meurisse weisen schon die Cover-Illustration und das Titelblatt im Inneren des Buchs hin: Erstere zeigt Proust, umgeben von Kollegen (Molière, Voltaire, Flaubert, Hugo), beim gemeinsamen Eintunken von Madeleine-Gebäck in eine Teetasse; der hintere Umschlag zeigt denselben Schauplatz verlassen und verkrümelt. Letzteres zeigt Molière, Flaubert, Proust und Voltaire beim Überqueren eines Zebrastreifens im Gänsemarsch; die Zeichnung zitiert das Cover des Beatles-Albums Abbey Road.
Anschluss an den Kanon, Transformationen des Kanonischen
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Literatur besonderen Rang und Namen haben und in diesem Rang implizit bestätigt werden, auch wenn sie allesamt parodistisch porträtiert werden. Im »XVIe siècle« (dem nächsten Kapitel) tritt der Fuchs als Troubadour auf. Er macht den Leser bekannt mit Rabelais und seinen Figuren, mit den Dichtern der Pléiade, mit Du Bellay und Montaigne. Der sich auf das »XVIIe siècle« öffnende Vorhang43 gibt den Blick frei auf Corneille, La Fontaine, Molière und Racine. Im »XVIIIe siècle« treffen wir die Enzyklopädisten Diderot und d’Alembert im Kollegenkreis sowie Voltaire und Rousseau, im »XIXe siècle« zunächst diverse Romantiker (Nerval, Musset, de Vigny, Chateaubriand) – und Hugo als dominante Figur; erwähnt werden Gautier, Lamartine; geschildert wird »La bataille d’Hernani«, ein berühmter Theaterskandal. Man trifft George Sand, Balzac, Flaubert und Zola, bevor man ins 20. Jahrhundert (letztes Kapitel) geführt wird, das im Büro des Verlegers Gallimard beginnt, dem Proust gerade sein Manuskript geschickt hat. Proust dominiert das Kapitel, flankiert von Colette, Céline und den Existentialisten. In einem kurzen Vorwort von Cavanna wird als Zielgruppe von Meurisses gezeichnetem Literaturkurs ein Publikum genannt, das selbst keine Literatur liest. (»Raconter la littérature à ceux qui ne lisent jamais mais qui ne dédaignent pas de savourer de beaux dessins mis l’un derrière l’autre suivant le fil de l’histoire …«).44 Das ist ein seinerseits spielerisches Understatement: Die Bildepisoden richten sich gerade an ein Publikum, das sich mit der Literaturgeschichte auskennt, denn sonst wären die vielen Anspielungen und Gags nicht nachvollziehbar. Allerdings wird kein profundes und detailliertes Wissen vorausgesetzt, sondern ein bildungsbürgerliches.
43 44
Ebd., S. 49. Cavanna, »Préface«, in: Cathérine Meurisse, Mes hommes de lettres. Petit précis de littérature française, Paris 2008, unpag. [S. 5].
296
Der Comic und die Weltliteratur
2.
Große Texte und Themen A: Vermittlung – Verwandlung – Vergleich: Faust-Comics im Dialog mit einem weltliterarischen Klassiker
2.1
Die Geschichte Fausts als Bildergeschichte
Die Gestalt des Doktor Faustus, zunächst Protagonist eines Volksbuchs, ließe sich mit Hans Blumenberg als Exempel für die ›Unerschöpflichkeit‹ mythischer Figuren anführen.1 Diese zeigt sich nicht nur in den vielen literarischen Faust-Bearbeitungen, sondern auch in den Illustrationen zu diesen Texten sowie in anderen bildnerischen Darstellungen des legendären Teufelsbündners. Die Geschichte des Faust-Stoffs ist nicht zuletzt auch eine Geschichte der Faust-Illustrationen. Der Volksbuch-Faust hat bereits als Figur eines Holzschnitts Gestalt angenommen. Seine Nachfolger wurden ebenfalls immer wieder ins Bild gesetzt und dabei visuell interpretiert. Über die dabei leitenden Perspektiven der Künstler und ihres zeitgenössischen Publikums verraten diese Illustrationen vieles – sie machen sinnfällig, was Faust zu einer bestimmten Zeit und in einem bestimmten kulturellen Kontext bedeutete: etwa ein abschreckendes Beispiel oder einen Helden, eine mittelalterliche oder eine moderne Gestalt, einen allgemein-menschlichen Charaktertypus oder einen typischen Deutschen. Vor allem zu Goethes Faust sind vielfältige Illustrationen entstanden – und ganze Bilderbücher.2 Rodolphe Töpffer (1799–1846), der als einer der Ahnherren des Comics gilt, schuf 1829 die Bildergeschichte Dr. Festus, die Geschichte eines verschrobenen Gelehrten, von der Goethe offenbar sehr angetan war.
1
2
Diese Unerschöpflichkeit werde, so Blumenberg, »[…] an ihrer Rezeption manifest, doch nicht in der Weise der bloßen Sichtbarmachung dessen, was als Präformation schon darin geruht haben mag. Es ist eine reelle Epigenesis. Sie kann jedoch nicht unabhängig gedacht werden von ihrem ständigen Ausgangspunkt, der für eine von ›Quellen‹ abhängige Tradition nun einmal nichts anderes sein kann als der in die Schriftlichkeit eingegangene Endzustand einer unbekannten mündlichen Vorgeschichte. […]. Nichts hat ästhetisch und zeitkritisch so gereizt, wie die Kraftprobe an dem neuzeitlichen Mythologem des Doktor Faust.« (Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos, Frankfurt am Main 2006 (zuerst 1979), S. 303). Vgl. das Bilderbuch: Faust nach Johann Wolfgang von Goethe. Neu erzählt von Barbara Kindermann. Mit Bildern von Klaus Ensikat, Berlin 2002, Reihe: Weltliteratur für Kinder.
Große Texte und Themen A: Vermittlung – Verwandlung – Vergleich
297
Populär und weitverbreitet, hat gerade der Comic das Erbe der frühen Druckgraphik angetreten. Der Faust-Stoff selbst hat mittlerweile ganz verschiedene Comic-Adaptationen erfahren.3 Diese Faust-Comics setzen aber nicht einfach nur die Geschichte volkstümlicher Visualisierungen des Legendenstoffs fort, sie sind als Bemühungen einer relativ neuen bildmedialen Darstellungsform um einen so traditionsreichen Stoff auch unter medienästhetisch-reflexiver Perspektive interessant.
2.2
Kunst über Kunst: Zur Attraktivität des Faust-Dramas als Vorlage für Comic-Zeichner
Eine darstellerische Praxis, die sich selbstbewusst als Kunst zu betrachten beginnt und als solche wahrgenommen werden möchte, sucht zumindest implizit, meist aber auch explizit den Vergleich mit den anderen Künsten, um für sich einen eigenen Platz im Gefüge der Künste zu beanspruchen. Wird ein solcher Vergleich über die Auseinandersetzung mit bestimmten Stoffen inszeniert, so spricht vieles dafür, sich an solche Werke als Vergleichsrelata zu halten, die zu den kanonisierten und maßstabsetzenden Klassikern gehören. Hier liegen die interessantesten Herausforderungen. Goethes FaustDrama ist ein solch kanonisches Werk. Zudem bietet es in besonderem Maße Gelegenheit zur Auseinandersetzung mit dem Themenkomplex um Kunst und Künstler – erstens auf inhaltlicher Ebene, über den Faust-Stoff als solchen, zweitens durch seine Struktur: Stellt sich doch die Faust-Handlung bedingt durch die irdische und die himmlische Rahmenhandlung als potenziertes Spiel im Spiel dar – als Metatheater, das per se eine ästhetisch-autoreferentielle Dimension besitzt. Faust ist unzählbar oft interpretiert worden, und sein Protagonist wurde dabei als Repräsentant der verschiedensten Haltungen, Gruppierungen, Wissensdiskurse und Entwicklungen gedeutet4 – aber unabhängig von jeder spezifischen Deutung seiner Gestalt und seiner Geschichte ist der Faust Goethes zunächst und vor allem eines: ein Stück über die Kunst der Darstellung und über Kunst als Darstellung. Im rahmenden Vorspiel auf dem
3
4
Das Vorwort in Falk Nordmanns Faust-Adaptationen nennt als Vorläufer Nordmanns Rino Albertarelli, Luciano Bottaro, Nodel und Christian Schieckel (zu letzterem vgl. Kap. III.2.8). Vgl. dazu u. a.: Karl Eibl, Das monumentale Ich. Wege zu Goethes ›Faust‹, Frankfurt am Main, Leipzig 2000; Heinz Schlaffer, Faust zweiter Teil. Die Allegorie des 19. Jahrhunderts, 2. Aufl. Stuttgart 1998.
298
Der Comic und die Weltliteratur
Theater bringt sich die Kunst des Schauspiels aus den differenten Perspektiven des Direktors, des Dichters und der Lustigen Person selbst zur Darstellung; der Prolog im Himmel, an dem sich drei Erzengel, Mephistopheles und Der Herr beteiligen, zitiert den Topos von der Weltbühne, analogisiert Leben und Schauspiel. Anlässlich des »Vorspiels auf dem Theater« kommen ästhetische Fragen und Konzepte zur Sprache, die auch dem Zeichner Gelegenheit zur Reflexion über Mittel, Voraussetzungen und Effekte seiner Darstellung geben. Das Spektrum solcher Stimulationen reicht von der Thematisierung des Strebens, »schwankende Gestalten« zu erfassen, bis zum Bewusstsein des Direktors darum, dass seine Kunst buchstäblich Stückwerk ist.5 Aber für Comic-Szenaristen und -Zeichner bietet Faust noch weitere Anschlussstellen. Reizvoll ist erstens das bunt gemischte, teils mythologische, teils fabelhafte Personal des Faust, das zu zeichnerischen Interpretationen einlädt und es in seiner Phantastik gestattet, sich einer Bildsprache zu bedienen, wie sie dem Comic und anderen populärkulturellen Medien geläufig ist. So ähneln mehrere Mephistopheles-Figuren in Comics Gestalten aus Superhelden- und aus Horror-Comics. (Nordmanns Entwürfe zu dieser Figur zeigen, wie sich Mephistopheles aus einer Art Batman ableitet.6) Auf einer volkstümlichen Stoffgrundlage beruhend, oft auch als Puppenspiel inszeniert, verleugnet die Geschichte Fausts auch in ihrer Goethe’schen Version nicht ihre grotesken und humoristisch-effektvollen Züge. Hexenküche, Hexensabbat und Mephistos Tricks in Auerbachs Keller laden zu phantasievollen zeichnerischen Umsetzungen ein, mit denen die Comic-Zeichner an comicspezifische Bildsprachen anknüpfen können.7 Zweitens bieten die das Faust-Drama charakterisierenden Antagonismen und Kontraste einen reizvollen Anlass, auch zeichnerisch mit Kontrasten zu arbeiten. Wenn sich im »Prolog im Himmel« die Mächte des Guten und des Bösen gegenüberstehen, wenn die Geschichte Fausts im Zeichen der widerstreitenden Einflüsse Mephistos und Margarethes steht, wenn die einzel5
6 7
Vgl. dazu Johann Wolfgang von Goethe: Faust. Eine Tragödie, Hamburger Ausgabe, Bd. III, V. 99–103: »Vorspiel auf dem Theater«: Direktor: »Gebt Ihr ein Stück, so gebt es gleich in Stücken!/Solch ein Ragout es muß Euch glücken;/Leicht ist es vorgelegt, so leicht als ausgedacht./Was hilft’s, wenn Ihr ein Ganzes dargebracht,/Das Publikum wird es euch doch zerpflücken.« – Eibl sieht hier einen deutlichen Hinweis darauf, »dass man kein ›Ganzes‹ suchen soll, wo der Dichter keines geboten oder auch nur beabsichtigt hat« (Das monumentale Ich, S. 27). Johann Wolfgang von Goethe/Falk Nordmann, Faust, Hamburg 1997, Anhang. Vgl. dazu Eibl, Das monumentale Ich, Kap. »Grablegung als Burleske«, S. 23.
Große Texte und Themen A: Vermittlung – Verwandlung – Vergleich
299
nen Episoden zwischen tragischen und volkstümlich-grotesken Momenten changieren, so ist dies für Zeichner Anlass zum Einsatz kontrastierender Darstellungsstile.8
2.3
Vermittlung – Verwandlung – Vergleich: Grundtypen der Beziehung des Comics zur literarischen Vorlage
Wenn im Folgenden verschiedene Comic-Versionen des Faust unter den Stichworten Vermittlung, Verwandlung und Vergleich vorgestellt werden, so verbindet sich damit die These, dass mit diesen Stichworten drei Grundtypen der Auseinandersetzung von Comic-Zeichnern mit literarischen Vorlagen bezeichnet sind. (Die vergleichende Betrachtung der Faust-Comics besitzt insofern den Charakter einer typologischen Darstellung.) (1) Vermittelnde Funktion übernehmen Literatur-Comics dort, wo sie über Inhalt, Thematik, Entstehungsbedingungen und Wirkungen literarischer Werke informieren wollen; in der Regel geschieht dies durch Nacherzählung der Fabel im Medium des Comics sowie durch weitere, oft paratextuell arrangierte Auskünfte. Durch solche Wissensvermittlung sollen die Comic-Leser näher an die der Bilderzählung zugrundeliegenden literarischen Werke (und ihre Autoren) herangeführt werden, wobei die Wissensvermittlung notgedrungen selektiv und perspektivisch ausfällt. So wird beispielsweise vielfach die Handlung des darzustellenden Textes nur in komprimierter Form dargestellt. Als Adressaten comicbasierter Wissensvermittlung über Literatur kommen vor allem solche Leser in Betracht, denen das populärkulturelle Medium der Bilderzählung näher steht als die kanonisierten Klassiker selbst. (2) Über die textbezogene Wissensvermittlung hinaus gehen ComicZeichner dort, wo sie eine literarische Vorlage paraphrasieren, um eigene Themen zur Darstellung zu bringen oder das als der Vorlage inhärent verstandene Thema mit eigenen Mitteln zu entwickeln. Die literarische Vorlage dient hier als ein stoffliches Substrat, das verwandelt wird, um den Intentionen des Bilderzählers angepasst zu werden. Das Spektrum solcher Transforma8
In Schwarzweiß-Comics wie Falk Nordmanns und Osamu Tezukas Faust-Interpretation werden Schwarz und Weiß selbst gleichsam zu Akteuren und verweisen durch ihren Antagonismus auf die Antagonismen im Faust-Stück (wobei solcher Antagonismus zugleich eine wechselseitige Abhängigkeit impliziert, denn so wie das Goethe’sche Welttheater der Vertreter des »Guten« wie des »Bösen« bedarf, so beruht der Schwarzweiß-Comic auf dem Zusammenspiel von Schwarz und Weiß).
300
Der Comic und die Weltliteratur
tionen ist breit und kaum in trennscharfen Begriffen zu umreißen; es reicht von der variierenden Nacherzählung bis zur zeichnerischen Verwendung einzelner literarischer Figuren innerhalb neuer narrativer Kontexte. (3) Der Vergleich wird dort wichtig, wo es (explizit oder implizit) um eine Art Paragone zwischen Literatur und Bilderzählung geht, in welcher Form auch immer. So werden, wie angedeutet, literarische Vorlagen den ComicZeichnern zum Anlass der Demonstration ihrer eigenen medienspezifischen Gestaltungsmöglichkeiten. Eine Art vergleichender Selbstinszenierung des Comics liegt auch in respektlosen Parodien literarischer Vorlagen. Die implizite Kritik richtet sich dabei meist weniger gegen das literarische Werk als solches als gegen den bildungsbürgerlichen Kanon als eine Institution, die allerdings gerade durch solch parodistische Verfahrensweisen auch wieder bestätigt wird, denn dass ein Text ein Klassiker ist, merkt man ja vor allem daran, dass er parodiert wird (und natürlich ist das parodierte bildungsbürgerliche Kanon-Wissen die Voraussetzung dafür, dass die Parodie überhaupt verstanden wird). Vermittelnde, verwandelnde und vergleichende Intention schließen einander wechselseitig nicht aus, im Gegenteil: Auch die biederen, im Dienst der Vorlage stehenden Literaturparaphrasen im Stil der Classics Illustrated setzen eigene thematische Akzente, und auch der experimentelle Comic besitzt ein wissensvermittelndes Moment, wenn er eine Geschichte nacherzählt, die unabhängig von ihm selbst existiert.
2.4
Vermittlung: Goethe-Comics im Dienst des Wissens über einen weltliterarischen Klassiker
Classics Illustrated: Faust Das Faust-Bändchen aus der Serie Classics Illustrated erzählt die Handlung der beiden Faust-Teile in vereinfachter und gestraffter Form als Bildergeschichte nach. Die Bildsprache will nicht originell, sondern allgemein und leichtverständlich sein – was der Konzeption der Reihe entspricht (siehe dazu auch Kapitel III.1.1). Sie basiert auf vertrauten physiognomischen Codes und USComic-spezifischen Mitteln der Darstellung ›fremder‹ Welten (in diesem Fall des spätmittelalterlichen Deutschland, das sich auf schematische ›gotische‹ Kulissen reduziert).
Große Texte und Themen A: Vermittlung – Verwandlung – Vergleich
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Abb. 94: Umschlag des Classics Illustrated-Hefts zu Goethes Faust. Das Bändchen will unterhaltend belehren. Es enthält im Anhang explizite Informationen zu Goethes Leben, zu den Hauptcharakteren des Stücks, zu deren historischen Vorbildern, zum kulturgeschichtlichen Hintergrund des Goethe’schen Faust und zur Provenienz des Stoffs; die Fabeln von Faust I und Faust IIwerden hier nochmals knapp nacherzählt. Weitere Ausführungen gelten anderen Gestaltungen des Faust-Stoffs, der Faust-Legende und der spezifischen Akzentuierung, die Goethe seinem Stoff gibt.9 Am Ende stehen didaktisch motivierte Fragen, die sich als Denkanstöße verstehen und nach möglichen Aufgabenstellungen für Schulaufsätze klingen: Wie ist die Integration der Gretchentragödie in das Drama um Faust motiviert? Warum ist Mephistopheles im Stück in einer größeren Zahl von Szenen zu sehen als Faust selbst; was macht diese Figur so unterhaltsam? Gibt es in Goethes Faust das schlechthin Böse; wie unterscheidet sich seine Auslegung der Faust-Fabel als einer Geschichte über die Sünde von Marlowes Version?
9
Johann Wolfgang von Goethe, Faust, New York 1962 (=Classics Illustrated Nr. 167). Die Verfasserin des Essays, Debra Doyle, wird abschließend als promovierte Ko-Autorin von Fantasy- und Science-Fiction-Texten vorgestellt.
302
Der Comic und die Weltliteratur
Zum Sehen geboren – zum Schauen bestellt Die Goethe-Erinnerungskultur hat neben vielfältigen Souvenirs auch das Medium Comic-Buch für sich entdeckt. Zwei Bände umfasst die rezente Nacherzählung von Goethes Leben in Comic-Form von 1999, die im Auftrag des Goethe-Instituts produziert wurde und mit einem Geleitwort des Präsidenten Hilmar Hoffmann versehen ist (inzwischen sind mehrere Auflagen erschienen). Die Titel der beiden Comic-Bücher (die zusammen ein Zitat Goethes bilden) sind schon Programm: Band I heißt Zum Sehen geboren (Text: Friedemann Bedürftig, Zeichnungen: Christoph Kirsch), Band II Zum Schauen bestellt (Text: Friedemann Bedürftig, Zeichnungen: Thomas von Kummant, Kolorierung: Benjamin von Eckartsberg). Beide Bände erzählen Goethes Leben in chronologischer Folge stark komprimiert nach und verknüpfen damit Hinweise auf eine Reihe seiner Werke. Von verschiedenen Zeichnern gestaltet, sind sie stilistisch sehr different ausgefallen.
Verwandlung: Zeichnerische Transformationen eines Stoffs und ihre differenten thematischen Funktionen bei Osamu Tezuka Osamu Tezuka begriff es als seine Aufgabe, die zeitgenössische Gesellschaft Japans in seinen Erzählungen kritisch zu bespiegeln. Seine Auseinandersetzung mit der modernen Zivilisation verband sich insbesondere mit der kritischen Beobachtung der Entwicklungen in Naturwissenschaften und Technologien. Den Faust-Stoff hat er gleich mehrfach nacherzählt, und zwar auf inhaltlich wie stilistisch sehr unterschiedliche Weisen.10 Die Adaptation des westlichen Stoffs an die Rezeptionsbedürfnisse der japanischen Leser hängt eng mit der Verwandlung in eine typisch japanische Form der Bildgeschichte zusammen. (Mangas sind von Comics ›westlicher‹ Provenienz durch spezifische Strategien narrativer Komposition der Einzelbilder zu Sequenzen unterschieden; die von ihnen suggerierte Zeitordnung ist eine andere.11) In einem Selbstkommentar hat Tezuka drei wichtige Komponenten eines guten Mangas genannt:12 Verwandlungen, Kommunikation mit Tieren und das 10 11
12
Mein Dank für viele Erläuterungen zu Tezukas Comics gilt Kazuko Ozawa. Vgl. McCloud, Understanding Comics, S. 77–81, hier finden sich u. a. Erläuterungen zu japanischen Comics (speziell zu Tezuka: S. 78 f.). Vgl. Yoshito Takahashi, »Osamu Tezukas ›Neo-Faust‹ und der ›HomunculusPlan‹. Ein Versuch der Rekonstruktion des unvollendeten zweiten Teils«, in: Jochen Golz/Adrian Hsia (Hrsg.), Orient und Okzident. Zur Faustrezeption in nicht-christlichen Kulturen, Köln, Weimar, Wien 2008, S. 205–217.
Große Texte und Themen A: Vermittlung – Verwandlung – Vergleich
303
Abb. 95a und b: Der Blocksberg als Spielplatz in Zum Sehen geboren … (S. 32) und ein Ausschnitt der Cover-Abbildung von Zum Schauen bestellt …
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Der Comic und die Weltliteratur
Der erste Band – im gefälligen Kinderbilderbuchstil gezeichnet – präsentiert einen rokokohaft-verspielten, gänzlich unabgründigen Goethe und spielt entsprechend nur einmal kurz auf Faust I an (und zwar auf die Blocksbergszene, die biographisch kommentiert und zeichnerisch verspielt, als eine Art Gartenfest, dargestellt wird). Der zweite Band hingegen ist eher farblich und physiognomisch expressiv angelegt und kann der Thematik des Dämonischen offenbar mehr abgewinnen. Und so überrascht es nicht, dass die Figuren Goethes und des Teufelsbündlers zumindest auf dem Titelblatt verschmelzen (im Text wird Goethe nicht mit Faust gleichgesetzt, aber deutlich analogisiert). So bekommt Faust ein Gesicht (das des Dichters Goethe!), und Mephistopheles wird als Dämon porträtiert. Dies kommt einer Auslegung der Faust-Gestalt gleich, derzufolge Faust ein für Goethe selbst charakteristisches Streben personifiziert. Wenn zudem zeichnerisch eine Überblendung des Faust’schen und des Goethe’schen Todes erfolgt, beide Figuren im Tode also gleichsam miteinander verschmelzen, so bekräftigt dieser bilddramaturgische Einfall die biographistische Lesart der Figur. Die Idee der Theatralität und das für Goethes Faust leitende Konzept einer Selbstdarstellung des Theaters spielt für die zeichnerische Umsetzung im zweiten Band ebenfalls eine wichtige Rolle. Bühnenräume öffnen sich, der Blick des Comic-Buch-Lesers wird über Rampen und andere Rahmenstrukturen hinweg geführt. Insofern präsentiert sich der Comic selbst als »Inszenierung« – und verbindet die Information über einen literarischen Klassiker und seinen Autor mit einer selbstreflexiven Dimension.
Fliegen durch die Lüfte. Sie kommen allesamt in der Faust-Handlung vor – eine gute Startbasis für die zeichnerische Transformation des Faust ! Tezuka legte seinen Faust-Mangas die Goethe’sche Gestaltung des Stoffs zugrunde, kannte aber vermutlich auch andere Versionen. Die Bearbeitung erfolgte in großen zeitlichen Abständen, und so ist an seinen Faust-Comics unter anderem die eigene stilistische Entwicklung ablesbar.
Osamu Tezuka: Faust (1950) Die erste Version der Faust-Geschichte13 zeigt deutliche Beeinflussungen durch den Stil amerikanischer Comics. Ähnlichkeiten bestehen insbesondere zur Disney-Version der Ballade vom Zauberlehrling (Fantasia, 1940). Dessen Geschichte ist der Faust’schen ja gar nicht so unähnlich: Beide handeln von der magischen Bemächtigung über Dinge, die dem Protagonisten eigentlich
13
Die frühere Faust-Bearbeitung von 1950 und die spätere von 1971 finden sich in: Osamu Tezuka, Faust, Tokio 2004 (zuerst 1994).
Große Texte und Themen A: Vermittlung – Verwandlung – Vergleich
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nicht zusteht – und von den damit verbundenen Gefahren. Im Zauberlehrling personifiziert sich eben der menschliche Wunschtraum einer Beherrschung der Naturgewalten Gestalt an, den auch Faust repräsentiert. (Dass gerade die Micky-Maus als Sinnbild der modernespezifischen Ausprägung dieses Traums gelten kann, hat – wie bereits erwähnt – Walter Benjamin bemerkt.14) Als wahrer Zauberer erweist sich in Disneys Fantasia dann der Trickfilmzeichner. Denn er macht alles Erdenkliche möglich, lässt tote Dinge aufleben und arbeiten, gebietet über Raum und Zeit; alles tanzt nach seinem Kommando. Und so dürfte Disneys Zauberlehrling für Tezuka vor allem als Sinnbild der Zauberkunst des Zeichners interessant gewesen sein. In seiner ersten Version des Faust-Stoffs hält sich Tezuka noch am ehesten an die Goethe’sche Vorgabe, obwohl er bereits erhebliche Veränderungen der Handlung und des Figurenbestandes vornimmt. So ist, beispielsweise, aus Margarete eine Prinzessin geworden, woraus sich die Möglichkeit ergibt, die Faust-Handlung mit einer Nebenhandlung an einem (Märchen-)Königshof zu verbinden. Die Handlung des Comics erstreckt sich über den I. und den II. Teil der Faust-Geschichte, wobei sie streckenweise stark gestrafft wird, vor allem in den Teilen, die Faust IIwiedergeben. Hinzu kommen dramaturgisch bedingte Umstellungen und andere Eingriffe in die Handlungsvorlage. Nimmt sich der Zeichner einerseits viele Freiheiten, so setzt er doch andererseits vielfach manches Detail des Goethe’schen Textes zeichnerisch um, etwa bei der Darstellung der Szenen in »Auerbachs Keller« oder auf dem Blocksberg. Die spielerisch-unterhaltende Geschichte, die Tezuka 1950 aus dem Faust-Stoff macht, geht mit der Vorlage frei um. Tezukas Figuren wirken zeichnerisch schlicht; weitaus komplexer sind die Strukturen. Der Zeichner experimentiert mit Suggestionen unterschiedlicher Geschwindigkeiten der dargestellten Abläufe. Tezuka ›inszeniert‹ Faust – und er macht auf den Inszenierungscharakter seiner Darstellung aufmerksam. Das Vorspiel auf dem Theater nimmt entsprechend breiten Raum ein. Die Handlung spielt in einer ahistorischen hybriden Kulisse. Fausts »Osterspaziergang« findet auf einer Art Jahrmarkt statt, führt ihn dann in 14
»Das Dasein von Micky-Maus ist ein solcher Traum der heutigen Menschen. Dieses Dasein ist voller Wunder, die nicht nur die technischen überbieten, sondern sich über sie lustig machen. Denn das Merkwürdigste an ihnen ist ja, daß sie allesamt ohne Maschinerie, improvisiert, aus dem Körper der Micky-Maus, ihrer Partisanen und ihrer Verfolger, aus den alltäglichsten Möbeln genau so wie aus Baum, Wolken oder See hervorgehen.« (Walter Benjamin, »Erfahrung und Armut«, in: Ders.: Gesammelte Schriften, Frankfurt am Main 1991, Bd. II.1, S. 213–219, hier S. 218).
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Der Comic und die Weltliteratur
Abb. 96a und b: Auerbachs Keller (S. 23) und der Blocksberg (S. 64).
»Auerbachs Keller«, wo der maskierte »Mephisto« erstmals die Szene betritt, und zwar als Trickkünstler, schließlich, zusammen mit »Wagner«, wieder in die Natur. Hier kreuzt Mephisto Fausts Weg in Hundegestalt. Die Streiche, die er dabei spielt, sind Trickfilm-Reminiszenzen ohne spezifischen GoetheBezug. Das Interesse des Zeichners am Faust-Stoff hat wohl vor allem dem Teufelspakt gegolten – denn dieser bietet eine willkommene Motivation für magische Tricks, Verwandlungen und Abenteuer – und motiviert so die Regie des Zeichners über Zeit und Raum. Zum eigentlichen Pakt kommt es, nachdem Faust den »Erdgeist« aus einem Buch beschworen hat und dann Selbstmordabsichten hegt – woraufhin Mephisto interveniert; Tezuka kehrt also die Abfolge von Studierstubenszene und Osterspaziergang um. Zur Ver-
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Abb. 97: Das Vorspiel auf dem Theater in der Faust-Adaptation von 1950 (S. 10). Auffällig lang fällt die Einleitung zu jenem Dialog zwischen Gott und dem Teufel aus, mit welchem das Ringen der Antagonisten um Faust beginnt. Über drei Seiten erstreckt sich ein Vorgeplänkel zwischen Teufeln und Engeln, bevor derjenige Teil der Geschichte beginnt, der in direktem Bezug zu Goethes Vorlage steht. Interessanterweise stehen bei Tezuka das Reich des Lichts und das der Finsternis einander zunächst als spiegelverkehrte (und insofern gleichgewichtige) Sphären gegenüber, obwohl dann später der Teufel als eine Art Vasall vor dem Thron des Herrn erscheint. Durch Schwarz-Weiß-Antagonismen wird visuell eine Struktur erzeugt, die den inhaltlichen Antagonismen korrespondiert – eine Art Metaphorisierung des Widerstreits von Schwarz und Weiß, die an das Komplementaritätsverhältnis von Bild-Positiven und Bild-Negativen erinnert. Der Herr ist in stark überzeichnender Anlehnung an konventionelle GottvaterGestalten mit einem gigantischen Rauschebart dargestellt.
jüngung Fausts suchen dieser und sein neuer Begleiter eine Hexe auf – und damit beginnen die eigentlichen Abenteuer der Hauptfigur, zu denen das Werben um eine Prinzessin gehört. Diese wird später in einer Gretchenpose vor einem Madonnenstandbild wiederauftauchen (S. 90). Auch die Gretchen-Valentin-Episode findet ihr Pendant.15 Turbulent geht es zu; an die Stelle logischer Motivationen treten medien-, das heißt comicspezifische, und nur ein Teil der Szenen erinnert an die Goethe’sche Vorlage, so eine zeichnerische Adaptation der »Walpurgisnacht«.16 Von dieser führt der Weg gleich weiter ins antike Griechenland, also in ein Pendant der »klassischen
15 16
Tezuka, Faust, S. 93–97. Ebd., S. 63–73.
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Der Comic und die Weltliteratur
Walpurgisnacht«. Wie Goethe, der sich aus den Bildarsenalen verschiedener Kulturkreise bedient hat, zitiert der Zeichner heterogenes mythisches und fabelhaftes Personal. Nach vielen Turbulenzen findet Faust seine Prinzessin im Kerker, verteidigt sie gegen einen Löwen, bevor er selbst von dem als Löwe verkleideten Mephisto davongetragen wird und Gretchen verliert. Diese taucht als engelhafter Geist jedoch verklärt wieder auf, als die Geister der Finsternis sich anschicken, Faust zur Hölle zu expedieren.17 Wie zuvor der Teufel Faust im Flug durch die bewegte Welt getragen hat, so trägt der gute Geist den Protagonisten nun zum Himmel. Mephisto bleibt zurück – als Akteur auf einer sich entleerenden Bühne.18 Es mag zunächst müßig scheinen, nach der »Botschaft« dieser spielerischen Umsetzung des Faust-Stoffs zu fragen. Tezukas Gestaltung der FaustFigur und des Teufelspakts verzichtet ostentativ auf allen existentiellen Ernst; das Personal von Himmel und Hölle wird keineswegs in moralisierender Absicht beschworen, und die Faust-Figur erscheint weder als prototypischer bestrafter Sünder noch als Repräsentant einer problematischen Moderne. Ihrem unterhaltsamen Charakter zum Trotz liegt der Bilderzählung jedoch eine implizite Ästhetik zugrunde. Allein die Entscheidung für einen aus japanischer Perspektive entlegenen Stoff sowie dessen Transposition in eine transnational verständliche Bildersprache suggeriert eine transnationale Verständlichkeit und Relevanz bestimmter Modellgeschichten – auch wenn das Motiv des Teufelspakts in einer buddhistisch geprägten Welt fremd erscheint. Der Zeichner mit seinen Tricks bespiegelt sich in Mephisto – und insofern besitzt diese Faust-Paraphrase eine autoreferentielle Dimension.
Faust-Paraphrase in Hyaku monogatari (1971) Eine stark verfremdete Faust-Travestie findet sich in den 100 Erzählungen (Hyaku monogatari) Tezukas von 1971. In diese sind – überlagert durch Stoffe anderer Provenienz – nur einzelne Handlungselemente des Goethe’schen Stoffes eingegangen, allerdings zentrale: Der Protagonist empfindet sich als Versager, eine misslingende Selbsttötung führt zur Begegnung mit einer Welt der Dämonen, eine übermächtige Geistergestalt verdeutlicht dem Protagonisten seine Ohnmacht, das Bündnis mit einer dämonischen Figur führt zur Erweiterung seiner Handlungsoptionen, Voraussetzung für das begonnene neue Leben ist die Verjüngung des Protagonisten, das neue Leben steht 17 18
Ebd., S. 121–123. Ebd., S. 126.
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Abb. 98: Die Walpurgisnacht bei Tezuka (Hyaku monogatari, S. 190 f.). Dynamisch ist die Walpurgisnacht-Szene umgesetzt: Über eine Doppelseite zieht vor schwarzem Hintergrund ein Reigen skurriler Dämonen in einer spiralig verlaufenden Bewegung. Die Darstellung der Tanzenden verbindet Bildmotive westlicher und östlicher Provenienz. Tezukas Technik der Hybridisierung wird hier, wo seine Bildsprache deutlich an östliche Traditionen der Bildgestaltung angelehnt ist, besonders evident. Der Satan erscheint auf der Szene als ein Dämon, der an asiatische Drachen erinnert; sein Kopf erinnert gelegentlich aber auch an westliche Monstren (S. 194). – Eine transkulturelle Hybridgestalt ist neben dem Teufel auch eine um den Helden werbende Frauenfigur: Funktional erinnert sie an die schöne Helena, äußerlich an die weiße Fuchsfrau Ostasiens (vgl. S. 206).
im Zeichen einer zuvor undenkbaren Liebesgeschichte, ein Duell markiert einen tragischen Wendepunkt, immer wieder kommt es zu Begegnungen mit mythischen oder märchenhaften Gestalten. Die Bildsprache des Zeichners nimmt hier Bezug auf die Figuren, die Kulissen und die Spielhandlungen des traditionellen japanischen Theaters wie insgesamt auf den Bilderfundus der ostasiatischen Welt. Faust ist also aus dem deutschen Mittelalter ins japanische Mittelalter transponiert worden. Thematisch liegt ein starker Akzent auf der Abenteuerhandlung und den Verstrickungen des Helden in Beziehungen zu Frauen. Der Dämon, der den Protagonisten begleitet, ist hier
310
Der Comic und die Weltliteratur
nicht Gegenspieler einer guten Macht, sondern eine Figur, die viele, darunter auch gute Gesichter hat. Er ist zudem weiblich oder tritt doch über weite Strecken als Frau auf, was einen offenbar willkommenen Anlass zu erotischen Abenteuern, Verführungen, Eifersuchtsgeschichten und ähnlichen Verwicklungen gibt, die keine Vorlage bei Goethe haben. (Allerdings hat die Verwandlung des Teufels in eine Frau eine eigene komplexe Stoffgeschichte, zu der unter anderem Heinrich Heine beigetragen hat.) Elemente der von Goethe gestalteten Faust-Handlung finden sich in eher lockerer Weise in die Bildgeschichte von 1971 eingeflochten – so die Verjüngungsszene des Helden in einer Hexenküche19 sowie eine »Gretchen«-Episode, bei der der Protagonist einen Beschützer seiner Geliebten im Duell tötet.20 Wiederum spielt das Theater eine wichtige Rolle im Prozess der Adaptation des Faust-Stoffs für die Bilderzählung. Bildersprache, Figurenarsenal und Erzählmodus der spezifisch japanischen Theatertradition vermitteln zwischen dem westlichen Stoff und seiner japanischen Version. Wie auch in anderen Bildgeschichten, zieht Tezuka mit dieser, seiner ›japanischsten‹ Faust-Adaptation gleich eine ganze Reihe von Stilregistern: vom Grotesk-Komischen zum Humoristischen, vom Mythischen zur Farce, vom Traditionellen bis zum Populärkulturellen. Vergleicht man die zeichnerische Gestaltung dieser Faust-Paraphrase mit der rund zwei Jahrzehnte älteren, so gibt sie dem Leser zwar einerseits wiederum zu verstehen, dass der Faust-Stoff zu den Geschichten gehört, die aufgrund ihrer Modellhaftigkeit transkulturell anschlussfähig sind (so dass man von der impliziten These eines gemeinsamen ›Eigentums‹ der verschiedenen Kulturen an solchen Geschichten sprechen könnte), doch abweichend von der frühen Fassung wird hier die Eigenheit der Empfänger-Kultur stark betont. Ostentativ transponiert Tezuka ja seinen Stoff in eine vom traditionellen japanischen Theater und von der japanischen Kunstgeschichte geprägte Bilderwelt. Er betont dadurch implizit erstens die mit kulturellen Exporten verbundenen Verwandlungs- und Assimilationsleistungen. Und zweitens bezieht er sich deutlich auf eine spezifische Kultur der Bilder, unterstreicht also auch diejenigen Verwandlungen, welche mit einer Visualisierung von Geschichten verbunden sind.
19 20
Ebd., S. 150–153. Ebd., S. 176–186.
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Abb. 99: Landschaftsdarstellung (Hyaku monogatari, S. 158). Während seine Figuren und ihre Umwelt in einem zeichnerisch eher schlichten, wenngleich durch den Einsatz japanischer Bildmotive durchaus individuellen Stil gehalten sind, fallen die Landschaftsdarstellungen Tezukas ästhetisch komplexer und anspruchsvoll aus (vgl. S. 244 f.). Sie sind einer großen östlichen Tradition der Landschaftsdarstellung verpflichtet, mit der manche von ihnen die Integration von Schrift ins Bild verbindet (vgl. S. 158).
Neo Faust (1987) Neo Faust,21 Tezukas dritte Gestaltung des Faust-Stoffs, setzt andere Akzente, insofern es hier um eine inhaltliche Auseinandersetzung mit dem geht, was sich für den Zeichner (und nicht nur für ihn) in Faust verkörpert: mit dem Willen zur Eroberung und Beherrschung der Welt. Entsprechend liegt der Akzent auf der Aktualität der aus dem Mittelalter stammenden Figur und des an sich ja ebenfalls mittelalterlichen Teufelspaktmotivs. Darum wird die Ge21
Osamu Tezuka, Neo Faust, Tokio 2001 (zuerst 1988).
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Der Comic und die Weltliteratur
schichte des Wissenschaftlers Faust durch den Zeichenstil in eine moderne Gegenwartswelt transponiert. Diese ist stark stilisiert und darum nicht eigentlich kulturspezifisch, obwohl die erzählte Fabel auf aktuelle Ereignisse in Japan Bezug nimmt: auf technische Großprojekte, auf ökologische Gefahren, auf entsprechende politische Kontroversen.22 Damit verknüpft ist eine Kritik des kapitalistischen Wirtschaftssystems als der ökonomischen Grundlage ruinöser Ausbeutung der natürlichen Ressourcen und moralisch verwerflicher Manipulation der Natur. Der Akzent liegt auf den Gefahrenpotentialen wissenschaftlicher Forschung und auf dem Motiv der Hybris; für beides aktualisiert Tezuka – der selbst als Mediziner wissenschaftlich ausgebildet war – die Faust-Figur. Faust, zunächst ein alter, an seiner Arbeit verzweifelnder Forscher, schließt ein Bündnis mit einem in weiblicher Gestalt erscheinenden Dämon, wird verjüngt, gerät durch Intervention seines Dämons an ein großes Vermögen und beschäftigt sich mit dem Projekt der Schaffung künstlichen Lebens. Die Kulisse, vor der seine Geschichte spielt, ist ein Hybridkonstrukt aus japanischer und westlicher Welt, wie auch die Figuren teilweise asiatisch, teilweise westlich aussehen. Stilistisch und inhaltlich ist diese Faust-Version nicht an Kinder adressiert, sondern an heranwachsende und erwachsene Comic-Leser. Selbstverständlich erkannten die zeitgenössischen japanischen Leser die Anspielungen auf tagespolitische Ereignisse, auf politisch hochumstrittene Bauprojekte, auf Umweltskandale, auf politischen Dissens und öffentliche Unruhen und Proteste, die ihren Ausgang insbesondere vom Universitätsmilieu nahmen.23 Neo Faust ist eine 22
23
Dieses Thema steht im Mittelpunkt der Studie von Takahashi (»Osamu Tezukas ›Neo-Faust‹ und der ›Homunculus-Plan‹«). Neo Faust spielt in den 1970er Jahren und beginnt an einer japanischen Universität. Protagonist ist ein alter Biochemiker und Nobelpreisträger namens Ichinoseki. Das Teufelspaktmotiv ist handlungstragend: Der Gelehrte verliebt sich in Mephistophela, die ihm ein neues Leben anbietet. Seine Seele soll als Gegenleistung dem Teufel verfallen, sobald er zum Augenblick sagt, er solle verweilen, weil er so schön sei. Mit Hilfe Mephistophelas wird Ichinoseki verwandelt. Er verliert dabei sein Gedächtnis, erinnert sich auch nicht mehr an den eigenen Namen, behält aber sein wissenschaftliches Wissen – was für den weiteren Gang der Handlung wichtig ist. Nun nennt er sich Daiichi (der Erste, »First«, was für japanische Hörer ähnlich klingt wie »Faust«). Er begegnet dem Tiefbauunternehmer Itane, der die Zuschüttung der Bucht von Tokio plant – analog zum Faust’schen Projekt der Landgewinnung, aber auch zum Bau des Flughafens Narita bei Tokio und anderen Großprojekten, die auf Seiten japanischer Umweltschützer heftigen Widerstand hervorriefen. Zu den Umweltzerstörungen, für die Itane steht, gehört auch der Verkauf von Entlaubungschemikalien an amerikanische Unternehmen, also der Handel mit Biowaffen. Itane adoptiert Daiichi, stirbt später an Krebs und vererbt seinem Adoptivsohn ein riesiges Vermögen. In teuflische Machenschaften
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engagierte Geschichte; kritisch bespiegelt sie Mechanismen der Gewalt und den zerstörerischen Egoismus des Menschen, der sich der vernünftigen Selbstkontrolle begibt. Besitzgier, Aggression, Brutalität bestimmen das Szenario. Gesten der symbolischen Besitzergreifung finden unter anderem vor Landkarten statt.24 Figuren, die an klischeehafte Darstellungen von Kapitalisten und Parteibonzen erinnern, sitzen zigarrerauchend vor dicken Schreibtischen mit gleich mehreren Telefonen. So hybrid und unspezifisch der kulturelle Rahmen ist, in dem die Geschichte spielt, so offenkundig erscheint doch die Verwandtschaft der Topographie mit der Herrschaftsarchitektur totalitärer Staaten.25 Insgesamt ist das Setting modernistisch; die Episoden spielen auf Schnellstraßen, in Kongresshallen und Sportstadien, Büros, Bibliotheken, Labors, an Orten täglicher Arbeit, in gesichtslosen Apartments, in Imbissstuben und Bordellen. Eine Armee von gesichtslosen Soldaten oder Polizisten rückt gegen protestierende Studenten an.26
24 25 26
verstrickt sich die Hauptfigur vor allem, als sie Wissen und Vermögen für die Schaffung von Klonmenschen einsetzt. (Tezuka, selbst als Arzt ausgebildet, hat in einem Forschungsinstitut recherchiert, um sich hinsichtlich der Möglichkeit des Klonens lebendiger Wesen sachkundig zu machen.) – Parallel zu diesem Strang der Handlung um ›faustische‹ Projekte entwickelt sich eine Gretchen-Tragödie: die Liebesgeschichte zwischen Daiichi und Mariko. Das Mädchen, dessen Name an ›Margarete‹ anklingt, gehört zu den protestierenden Studenten, steht politisch also im anderen Lager. Mariko ahnt, daß Daiichi mit dem Bösen im Bunde ist. Sie wird schwanger und tötet ihr Kind, als Daiichi sie im Stich lässt. Nach ihrer Einlieferung in eine Irrenanstalt versucht Daiichi vergebens, sie zu retten. Am Ende dieser Gretchen-Handlung bricht die Geschichte ab; Tezuka selbst starb, bevor er sie weiterzeichnen konnte. – 1998 entdeckte man eine Skizze zur Fortsetzung im Nachlass des Zeichners. Der These Yoshito Takahashis zufolge sollte sich die geplante Fortsetzung an der Filmhandlung von »Metropolis« orientieren. Daiichis Wirken hätte demnach eine ganze Armee bösartiger und vernunftloser Klonmenschen hervorgebracht. Daiichi/Faust hätte, von Mephisto verführt, mit seiner Armee die Welt zu erobern versucht und dadurch eine Katastrophe ausgelöst. In den Trümmern der zerstörten Zivilisation hätte er ein Mädchen gefunden, das Mariko ähnelte. Bei seinem Bemühen um ihre Rettung sei ihm der Wert des Lebens zu Bewusstsein gekommen. So hätte er den Wunsch ausgesprochen, den Augenblick festzuhalten. In diesem Moment sei die Welt erstarrt. Mephistophela hätte auf ihrem im Pakt festgelegten Recht bestanden, Faust sich ihr aber widersetzt. Die Geschichte hätte mit der Entstehung neuen Lebens und Mephistophelas Niederlage geendet – mit einer Erlösung nach der Katastrophe. Zuletzt wären Fausts und Gretchen/Marikos Seele in den Himmel gefahren. Tezuka, Neo Faust, S. 100 f. Vgl. ebd., S. 6. Ebd., S. 41.
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Der Comic und die Weltliteratur
Der zunächst als Fortsetzungsgeschichte erschienene Neo Faust fand starke Resonanz. Tezuka nutzte das Massenmedium Comic, um möglichst breit bewusstseinsbildend zu wirken. Im Zentrum seines thematischen Interesses stehen – wie er anlässlich konkreter historischer Ereignisse verdeutlicht – die Schattenseiten menschlicher Verfügungsgewalt über alles, insbesondere über das menschliche Leben selbst. Das Böse hat seinen Ursprungsort in den kapitalistischen Schaltzentralen, und es ersteht nicht zuletzt aus dem Labor, also dort, wo um des unkontrollierten Machtstrebens willen die Grenzen des Machbaren immer weiter ausgedehnt werden. Entsprechend erscheint der Teufel dem Forscher Ichinoseki, einem Biochemiker, im Labor, und zwar in schreckenerregender Dämonengestalt unbestimmter kultureller Provenienz.27 Anspielungen auf die Geschichte visueller Umsetzungen von Mad-Scientist-Geschichten sind unverkennbar; die Einrichtung des Labors erinnert an die klassische Verfilmung des FrankensteinStoffs.28 Auf dem Boden des Labors findet sich – als offensichtlich missverstandene Umsetzung des Pentagramms – ein Fünfeck, in dessen Ecken (sechseckige!) Davidsterne eingezeichnet sind und in dessen Mitte pseudo-lateinische mit englischen Schriftzügen abwechseln:29 Wiederum werden Bildsprachen hybridisiert. Erneut nimmt der Teufel vorzugsweise weibliche Gestalt an, aber auch die eines schwarzen Hundes verschmäht er nicht.30 Der weibliche Mephisto ist eindeutig von westlichem Typus: eine Art Barbarella, aus deren Locken kleine Hörner ragen. Die Verjüngungsszene darf auch hier nicht fehlen: In einer grotesken Episode wird aus dem alten, klapprigen Gelehrten durch die Waschkünste einer alten Hexe in einem Schnellimbiss ein athletischer junger blonder Mann (S. 76–78), der an die männlichen Gegenstücke zu Barbie erinnert. Teilweise integriert Tezuka in seinen ›politischen‹ Faust apokalyptische Szenen. Ratten, Würmer und Kröten erobern eine verlassene nächtliche Stadt (S. 16 f.). Bei allen grotesken, gelegentlich auch humoristischen Zügen, die die Geschichte inhaltlich und durch ihre zeichnerische Vermittlung besitzt, akzentuiert er doch vor allem die Gefahren, die sich daraus ergeben, dass ›faustisches‹ Herrschaftsstreben sich mit den Möglichkeiten moderner Wissenschaft und Technologie verbindet.
27 28 29 30
Ebd., S. 51. Ebd., S. 49. Ebd., S. 48. Vgl. ebd., S. 129 et passim.
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Abb. 100: Tezukas Hexenküche (Neo Faust, S. 76).
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Der Comic und die Weltliteratur
Gezeichnetes Faust-Theater Tezukas Faust-Versionen lassen sich unter verschiedensten Aspekten interpretieren. Aufschlussreich sind Vergleiche mit der Goethe’schen Vorlage auf inhaltlicher Ebene: Wie gestalten sich Fausts Streben nach Wissen und Macht, wie die Welt der Dämonen und der Magie, wie der Kampf zwischen Gut und Böse in der Nacherzählung durch den Mangazeichner? Stilistisch wären Figuren, Kulissen und Settings der Geschichten unter dem Aspekt von Kulturtransfer und Hybridisierung zu betrachten. Auch lassen sich die Versionen untereinander vergleichen: die komische, die traditionsbewusste und die zeitkritische. Sie alle bestätigen auf ihre Weise, dass für Tezuka der Comic besonders eng mit dem Theater verwandt ist – als szenisch-visuelle Darstellung und Interpretation von Texten, als eine Art Inszenierung auf dem Papier. Tezuka thematisiert das Theater, um seine eigene Kunst zu bespiegeln (siehe dazu Kapitel III.1.5). Dies bestätigt eine vierte zeichnerische Umsetzung des Faust-Stoffes aus der Serie Nanairo Inko. Leicht lesbar, erzählen die Episoden dieser Serie viele absurde, übertriebene, triviale Geschichten (deren Klischeehaftigkeit der Künstler selbst gleichsam augenzwinkernd reflektiert), sie operieren mit Knall- und Schockeffekten, und dies wiederholt (wie es dem Genre der Fortsetzungsserie entspricht), und besonders gern verstoßen sie bedenkenlos gegen den guten Geschmack. Zeichenstil und Setting sind geprägt vom Pop der 1970er Jahre; Tezukas Literatur-Comics sind hier Pop-Komödien. Ein Faust-Drama steht zwar nicht auf der Titelliste der fünf Nanairo-InkoBände. Dennoch kommt Faust vor – und zwar in einer Schlüsselszene, die die Hauptfigur und die wichtigste Nebenfigur zusammenbringt: Als der Ara eines Tages (im Rahmen einer reichlich skurrilen Geschichte) von einem kleinen Hund bedrängt wird, der von ihm aufgenommen werden möchte, entsinnt er sich angesichts der Hartnäckigkeit und Verstellungskunst des Hundes (den er nicht haben will) an die Pudel-Episode in Goethes Faust I, genauer: daran, dass sich hinter dem lästigen Hund der Teufel verbarg. Er erzählt sich und damit dem Leser diese Szene nach; ein Panel über den FaustStoff ist in die Geschichte integriert.31 Einige zusammenfassende Beobachtungen: Tezuka verwandelt in seinen eigentlichen Faust-Comics den Goethe’schen Faust dreimal, unter verschiedenen, aufeinander aufbauenden Voraussetzungen:
31
Tezuka, Nanairo Inko, Bd. 2, S. 40 f.
Große Texte und Themen A: Vermittlung – Verwandlung – Vergleich
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Abb. 101: Der Ara in Nanairo Inko als Faust (Bd. 2, S. 41).
Der Ara selbst hat die Rolle des Faust auf der Bühne gespielt, und wenn just in dem Moment, als wir dies erfahren, die gezeichnete Faust-Gestalt auftritt, so sollen wir in ihr offenbar zugleich den verkleideten Protagonisten sehen. Ein aufdringlicher kleiner Hund, der Tamasabur¯o genannt wird, lässt sich nicht abweisen und setzt es schließlich durch, ins Haus aufgenommen zu werden. Ab jetzt Begleiter des Ara, wird er gelegentlich selbst zum Protagonisten.
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Der Comic und die Weltliteratur
1. Mit dem frühen Comic geht es ihm darum, sich einen Stoff, der seinem eigenen Medium entgegenkommt, anzueignen – auch über kulturelle und epochale Abstände hinweg. 2. Tezukas zweite Version hybridisiert westlichen Stoff und östliche Bildsprache. Der implizite Kulturtransfer legitimiert sich für Tezuka dadurch, dass der Faust-Stoff kulturübergreifende Relevanz besitzt. 3. Mit Neo Faust schließlich wird der Beweis für die letztere These angetreten – indem das Bedeutungspotential des Faust-Stoffs genutzt wird, um zeitgenössische Themen darzustellen.
2.5
Vergleich: Die Paragone von Hochliteratur und Zeichenkunst im Spiegel des Literatur-Comics
Paratexte zu Comic-Büchern verraten viel über deren ästhetische Intentionen, explizit wie implizit. Gerade solche Bilderzählungen, die sich als ästhetisch avancierte Erkundungen der eigenen Darstellungspotentiale verstehen, werden vielfach durch ihre jeweilige paratextuelle Rahmung in ein entsprechendes Licht gesetzt. Der Übergang zwischen Werk und Paratext ist dabei manchmal ähnlich fließend wie im Fall von Büchern mit literarischen Werken. Mit Falk Nordmanns Faust-Comic und dem gemeinsamen Faust von David Vandermeulen und Ambre liegen zwei ambitionierte Bilderzählungen vor, die sich bei allen stilistischen und strukturellen Unterschieden in der gemeinsamen Intention treffen, aus einem alten Stoff zeitgenössische Kunst zu machen.
Selbstreflexive Inszenierungen I: Falk Nordmann Falk Nordmanns Faust-Comic32 erzählt in schwarzweißen Bildern die Geschichte des ersten Faust-Teils bis zur Verjüngung des Faust in der Hexenküche nach. Der komplette Text des dargestellten dramatischen Geschehens begleitet die Zeichnungen, auch die »Zueignung«, das »Vorspiel auf dem Theater« und der »Prolog im Himmel«. Ein Einleitungstext des Reihenherausgebers Joachim Kaps würdigt den Band explizit als ein künstlerisches Unternehmen, das vor dem Hintergrund der langen Geschichte literarischer und bildnerischer Gestaltungen des Faust-Stoffs zu sehen sei, akzentuiert den künstlerischen Arbeitsprozess als autoreflexive Suche nach angemessenen Ausdrucksmöglichkeiten und charakterisiert Nordmanns verschiedene Stile. 32
Johann Wolfgang von Goethe/Falk Nordmann, Faust. Der Tragödie erster Teil, Bd. 1, Hamburg 1996.
Große Texte und Themen A: Vermittlung – Verwandlung – Vergleich
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Abb. 102: Nordmanns Fassung der »Zueignung«, (Faust, unpag.).
Ostentativ präsentiert sich der Comic Nordmanns als eine Erkundung darstellerischer Mittel. Von Zeichnungen, die wie tastende Entwürfe möglicher, aber noch undeutlich bleibender Formen wirken, werden die einleitenden Verse begleitet: »Ihr naht euch wieder, schwankende Gestalten,/die früh sich einst dem trüben Blick gezeigt./Versuch ich wohl, euch diesmal festzuhalten?/Fühl ich mein Herz noch jenem Wahn geneigt?« Die Rede vom Aufsteigen solcher Gestalten »aus Dunst und Nebel« wird gleichsam umflattert von nebulösen Erscheinungen, die sich am Ende der ersten Seite zu einem Strichmännchen verdichten, das sich auf der zweiten dann mit einem Gewirr von Linien konfrontiert sieht.
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Der Comic und die Weltliteratur
Die zeichnerische Paraphrase des »Vorspiels auf dem Theater« verdeutlicht, dass der Zeichner als künstlerischer Experimentator die hier geführte Diskussion über Möglichkeiten und Aspekte theatralischer Darstellung als Gleichnis seines eigenen Interesses an Darstellungsmöglichkeiten begreift – und als autoreferentielle Auseinandersetzung mit künstlerischer Darstellung als solcher. Vor allem die Darstellung der drei Figuren drückt den experimentellen Charakter des graphischen Verfahrens aus – seine Eigenschaft als bewusstes Spiel mit Möglichkeiten: Der Direktor besitzt nur die Andeutung eines Gesichts und lädt insofern zu ergänzenden Projektionen ein, die »lustige Person« erscheint als eine aus Einzelteilen komponierte, zerlegbare, metamorphotische Gestalt – und der Dichter hat zwei verschiedene Gesichtshälften: eine düstere und eine helle, eine antiklassizistische und eine klassizistische, eine hässliche und eine schöne. Alle drei erweisen sich schließlich als Fingerpuppen auf der Hand des Zeichners. Zeichnungen, die das Zeichnen als kompositorisches Verfahren thematisieren, begleiten einen Text, der das Theater als darstellerische Erkundung der ganzen Welt auslegt – »So schreitet in dem engen Bretterhaus/den ganzen Kreis der Schöpfung aus,/und wandelt mit bedächt’ger Schnelle/vom Himmel durch die Welt zur Hölle.« Dass es mit dem ästhetischen Spiel trotz oder wegen seines Spielcharakters um nichts weniger als die ganze Welt geht, verdeutlicht die Paraphrase des »Prologs im Himmel« dadurch, dass winzige Menschenfiguren hier eine Art Hintergrund-Tapete bilden, vor der sich die Akteure bewegen. Der Herr freilich bleibt unsichtbar und wird dort, wo er spricht, nur durch leere weiße Rechtecke repräsentiert. Umso sichtbarer ist Mephisto, der auf einem Menschenleib einen ausdrucksvollen, makaber-lebendigen monströsen Totenschädel trägt und dessen schauerliches großes Maul ihn als Rede-Artisten ausweist. Der Antagonismus zwischen Gott und Teufel findet insofern eine Parallele in verweigerter und extrem expressiver Darstellung. Insgesamt wird die »Nacht«-Szene zum Anlass der Entfaltung graphischer Verwandlungskunst; so erscheint die um den sinnenden Faust versammelte Menschheit in verschiedenen Gestalten, teils naturalistisch gezeichnet, teils abstrakt, teils ins Vegetative transformiert. In der folgenden Szene verwandelt sich Faust selbst vorübergehend in ein Stück Gebirge – allenthalben übt der Zeichner seine metamorphotischen Fähigkeiten. Die Bildmotive bei der Darstellung der Spaziergänger »Vor dem Tor« entstammen zu weiten Teilen der modernen Alltagswelt, mischen sich aber mit phantastischen Erscheinungen. Aus dem Dunkel der »Studierstube« erhebt sich, zunächst in Hundegestalt, ein Mephisto, der schließlich als ein akrobatischer Batman vor dem Protagonisten steht (und damit als ein zitiertes Stück Comic-Ge-
Große Texte und Themen A: Vermittlung – Verwandlung – Vergleich
Abb. 103: Das Ende des »Vorspiels« in Nordmanns Faust-Adaptation (unpag.).
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Der Comic und die Weltliteratur
Abb. 104: Der Erdgeist als Wesen aus Papier (Nordmann, Faust, unpag.). Nordmanns zeitlosen Faust treffen wir in einem Studierzimmer, dessen skizzenhaft gezeichnete Ausstattung manchmal an ein Labor erinnert, mit vor sich ausgebreitetem Schreibpapier wie bei einem Philologen – oder einem Zeichner. Die Erscheinung des beschworenen Erdgeistes ist in einer Weise dargestellt, die wie eine Komposition aus einzelnen flatternden Blättern erscheint, die Faust zuvor mit einem Hammer aus einem mit Zeichnungen gefüllten Buch herausgeschlagen hat – ein weiterer impliziter Selbstverweis der Kunst des Graphikers.
Große Texte und Themen A: Vermittlung – Verwandlung – Vergleich
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Abb. 105: Die Pakt-Szene bei Nordmann – Mephisto in der Rolle Gottes und Faust als Adam (Faust, unpag.).
schichte); der Pakt wird geschlossen, Fausts Verstrickung wird eindringlich graphisch umgesetzt. Der auftauchende »Schüler« ist eine besonders groteske (und dem Anhang zufolge über mehrere Stadien hinweg entwickelte) Figur: Auf seinem stofftierartigen Leib trägt er als Kopf einen verbeulten Trichter. Das letzte Bild der »Pakt«-Szene ist ein Bild-Zitat, mit dem der Zeichner Michelangelos Schöpfungsdarstellung parodiert; die Rolle des seine Hand ausstreckenden Schöpfergottes hat Mephisto, die Adams hat Faust übernommen. Auch die Szenerie in »Auerbachs Keller« wirkt zitathaft; das Arrangement der sich selbst zwar wandelnden, aber weitgehend statisch in ihrer Tischreihe verharrenden Zecher erinnert an Leonardos Abendmahl. In der »Hexenküche« schließlich kommt es zu wiederholten Grenzverwischungen zwischen lebendigen Erscheinungen und Simulacren. Die Sphäre der Simulacren wird durch Bildschirme repräsentiert, auf denen sowohl die Affen der Hexe ihr Spiel treiben als auch schließlich Helena erscheint. Sie verteilt sich auf vier aufeinandergestapelte Bildschirme, ist also fragmentiert – und ihre Darstellung erinnert an fragmentierte Frauendarstellungen bei René Magritte. Die paratextuelle Gestaltung des Bandes ist aufwendig, begonnen bei dem Papier der Einband-Innenseiten, das vorne mit einem sich wiederholenden Drachenmotiv, hinten mit einem sich wiederholenden Pudel bedruckt ist. Aufschlussreich ist das dem Faust-Comic (zusammen mit einem kurzen Glossar) beigefügte ›Skizzenbuch‹, sieben Seiten mit Entwürfen zu Szenen und Figuren. Nicht allein, dass die Entwicklungsgeschichte der Pa-
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Der Comic und die Weltliteratur
nels in deren Kompositionsweise Einblick gibt, die Beifügung des ›Skizzenbuchs‹ als solche unterstreicht den Experimentalcharakter der gezeichneten Geschichte, den exploratorischen Grundzug des gesamten Unternehmens. Das Buch des Zeichners selbst präsentiert sich somit als ein Labor, in dem unterschiedlichste Homunculi entstehen – und nicht zuletzt Bilder des faustischen Künstlers selbst. Dadurch wird die Spiegelungsbeziehung zwischen faustischen Erkundungen und graphischen Experimenten betont. Nordmanns Faust-Comic ist insofern ein Metacomic. Der Auseinandersetzung mit der eigenen Kunst widmet er sich auf mehreren Ebenen: erstens, indem er den Goethe’schen Text zum Anlass einer Erkundung zeichnerischer Darstellungsmittel macht, zweitens, indem er ostentativ und wiederholt aus der Welt der Bilder und Bildmedien zitiert. Mit Michelangelo und Leonardo beschwört er als seine Vorfahren kanonische Größen der abendländischen Malereigeschichte, die insofern als Pendants zu Goethe ins Spiel kommen, mit Doré einen Illustrator, der eine markante Rolle in der künstlerischen Vorgeschichte der modernen Bilderzählung spielt, und mit Magritte einen Künstler, der neben der offenen Grenze zwischen Realistischem und PhantastischImaginärem auch die Beziehung zwischen Wort und Bild immer wieder reflektiert hat.
Selbstreflexive Inszenierungen II: Vandermeulen/Ambre Paratextuelle Ausstattung und Rahmenstrukturen sind auch für das FaustBuch des Szenaristen David Vandermeulen und des Zeichners Ambre von erheblicher Bedeutung. Rahmend wirkt bereits das in historisierendem Stil beschriftete Titelblatt, das durch Informationen und Schriftduktus als Imitation des Titelblatts im Volksbuch über Faust (erschienen bei Johann Spies zu Frankfurt) angelegt ist. Die in bunten Farben gehaltene Bilderzählung stellt die Geschichte Fausts bis zur Hinrichtung und Erlösung Gretchens dar, bewegt sich also im Wesentlichen an der Spielhandlung von Faust I entlang. Dabei nehmen sich Szenarist und Zeichner einige Freiheiten, nicht zuletzt die zu Auslassungen. Überhaupt bestehen die Textanteile des Bandes nicht aus Goethe-Zitaten, geschweige denn aus dem integral übernommenen Originaltext; der Szenarist hat einen eigenen Dialog verfasst, und zwar in französischer Sprache. Die Bildsprache des Buches erinnert eher an malerische Darstellungsformen als an Zeichnungen. Der Einsatz von Farben ist sinnkonstitutiv, und vielfach entfalten die Farben sich großflächig und oft pastös. Durch diese Farbbehandlung wird also eine Dreidimensionalität des Dargestellten suggeriert –
Große Texte und Themen A: Vermittlung – Verwandlung – Vergleich
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Abb. 106a und b: Titelblatt der Faust-Adaptation von Vandermeulen und Ambre (links) und des bei Spies erschienenen Volksbuchs (rechts).
ein insgesamt raffiniertes Spiel mit der Wahrnehmung von Bildern und mit dem Übergang zwischen verschwommenen und konturierten Gestalten. In dunklen Farben gehaltene Szenen zeigen schwach konturierte Figuren, klare Umrisse finden sich eher in den farbigen Partien, wo Zeichnungen auf die bemalten Flächen als nachträglich profilierende Elemente aufgelegt wurden. Einmal mehr ist die Geschichte Fausts also zum Anlass geworden, die Wahrnehmung »verschwommener Gestalten«, die visuelle Darstellung als solche und damit das eigene ästhetische Medium zu reflektieren. In der Rahmenhandlung unterhalten sich zunächst zwei Zuschauer über den Faust-Stoff und seine Geschichte, seine historischen Hintergründe und die historische Faust-Figur; das Stück soll offenbar anschließend aufgeführt werden. Dass es um den Goethe’schen Faust geht, verdeutlicht ein gezeichnetes Plakat an einer Säule. An Szenerie und Gespräche im Zuschauerraum schließt sich ein – durch einen Vorhang abgetrennter – Dialog zwischen drei Figuren an, der dem »Vorspiel auf dem Theater« strukturell und funktional korrespondiert; man unterhält sich über Stück, Publikum und die Rolle des
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Der Comic und die Weltliteratur
Abb. 107: Bühne des Marionettenspiels bei Vandermeulen und Ambre (unpag.).
Frei gehen die Comic-Autoren mit dem autoreferentiellen zweifachen Rahmenspiel Goethes um. Das »Vorspiel auf dem Theater« wird durch die Darstellung einer Marionettenbühne und des sie umgebenden Zuschauerraumes (einer Kneipe) ersetzt – eine Art Hommage an den »Faust« des Puppenspiels.
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Künstlers – ein von vornherein in mehrfachem Sinn perspektivisches Arrangement. Der (gekürzte) »Prolog im Himmel« findet in einer impressionistisch gestalteten Landschaft statt: zwischen einer gehörnten Teufelserscheinung und einem gesichtslosen, an einen Baumstumpf oder Felder erinnernden Block, der die Rolle des ›Maître‹ spielt. Gegenüber der dramatischen Vorlage stark komprimiert, lebt die Geschichte des Faust in diesem Comic-Buch mehr von der abwechslungsreichen Farbenregie als von den eher knappen Dialogtexten. Tages- und Nachtszenen wechseln ab. Aus dunklen Flächen, die sich bis zur völligen Schwärze verfinstern können, lösen sich schemenhafte Gestalten; und oftmals grell aufleuchtende Gesichter und Gestalten in Rotbrauntönen bestimmen den hellen Teil der Spielhandlung. Komplementär zum Braunrot und Braungelb um den in gehörnter, dabei meist schemenhafter Gestalt erscheinenden Mephisto und den sich in der Hexenküche verjüngenden Faust verhalten sich die Grün- und Blautöne, welche die meist weißgekleidete Margarethe umgeben. Dramatische Effekte ergeben sich aus dem Wechsel von in Braun- und Blautöne getauchten Szenen sowie aus dem Aufleuchten gelber Augen und roter Blutflecken im Dunkel der Szenen: eine Reverenz des Comics ans ›gotische‹ Genre. Das Postface bezieht sich auf die mittelalterlich-frühneuzeitlichen Ursprünge und Versionen des Faust-Stoffs, auf die Legende um Simon den Magier und ihre Hintergründe, auf die Geschichte der Confession de Saint Cyprien, auf die dem Bischof Héllade zugeschriebenen Dokumente, die TheophilusLegende, die Geschichte des Gil de Santarem und die Genese des neuzeitlichen Faust als eines Volksbuch-Helden. Aber auch Marlowes Drama, Goethes Faust und die verschiedenen dramatischen Repräsentationsformen (bis zum Marionettenspiel) werden in Erinnerung gerufen – und damit die zur Darstellung der Legende verwendeten ästhetischen Medien. So interpretiert sich das Comic-Buch explizit als Fortführung einer die Jahrhunderte übergreifenden ästhetischen Tradition. Als deren Zeugen fungieren im Nachwort jedoch nicht allein die literarischen Bearbeiter des Faust-Stoffs und der ihm vorangegangenen Legenden, sondern auch die in mittelalterlicher bildender Kunst gestalteten Phantasmen. Teufel und Gargoyles, wie sie an gotischen Kirchen anzutreffen sind, begleiten und beschließen den Text.
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Der Comic und die Weltliteratur
Abb. 108: Das Ende der Faust-Adaptation von Vandermeulen und Ambre (unpag).
Am Ende der Bilderzählung steht – in finsterem Dunkelblaugrau – die Darstellung von Margarethes Hinrichtungsstätte. Auf die Botschaft, diese sei gerettet und gerichtet (in dieser Reihenfolge!) folgt die abschließende Feststellung des Teufels, Faust müsse bei ihm bleiben. Wird Faust damit zuletzt vom Teufel geholt, so entspricht dies dem Volksbuch, nicht der Goethe’schen Version.
Große Texte und Themen A: Vermittlung – Verwandlung – Vergleich
2.6
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Verwandlung (A): Parodistische Kurzfassungen
In Abstimmung auf die Konzeption der Literatur-Comic-Anthologien, in denen sie enthalten sind, bieten die beiden Faust-Comics in Moga Mobos 100 Meisterwerken der Weltliteratur 33 und in 50. Literatur gezeichnet äußerst knappe und reduzierte Versionen des Faust-Stoffs. Der parodistische Charakter beider Kurzfassungen des Faust ist unverkennbar, da er schon aus der radikalen Komprimierung als solcher resultiert, die ironisch signalisiert, das eigentlich Wissenswerte am dargestellten Klassiker sei auf einer einzigen Seite darstellbar. Zugleich kehren beide Comics jeweils Comic-Spezifisches hervor. Im einen Fall, in 50. Literatur gezeichnet, inszeniert sich der Comic als provokativer Bruch mit den Normen bürgerlichen Anstands und Geschmacks, als ein Medium mit Affinitäten zum Obszönen – dies allerdings, indem der Klassiker Goethe selbst zitiert, in seiner antiklassizistisch-provokativen Dimension präsentiert und insofern als Wegbereiter der Comic-Kultur interpretiert wird: Unter dem Pseudonym »Monikus« reduziert der Zeichner das Schauspiel hier auf erotische Szenen, die auf den »Hexensabbat« der literarischen Vorlage anspielen. In die Graphik hineinmontiert ist eine obszöne Textpassage aus Goethes Faust I, die durch passende Bilder illustriert wird. Die Beiträge zu 50. Literatur gezeichnet basieren einerseits auf dem bildungsbürgerlichen Kanon, gehen zu diesem aber andererseits auf spielerische, zumindest latent auch kritische Distanz (siehe auch Kapitel III.1.4.2). Analoges gilt für Moga Mobos Klassiker-Bändchen. Der hier enthaltene Faust-Comic (Zeichner: Jürgen Mick) trägt den Titel Faust 2, der sowohl als Hinweis auf den zweiten Teil des Goethe’schen Schauspiels wie auch als Hinweis auf die Revision des Faust-Stoffs durch den Zeichner selbst gedeutet werden kann. Eine Geschichte wird hier ebenso wenig erzählt wie in der Version aus 50. Literatur gezeichnet; der Leser muss das Stück schon kennen, um zu verstehen, was er sieht. »Informationen« über den Faust-Stoff oder Goethes Faust-Drama erhält er nicht. Die achtteilige Bildsequenz ist wortlos; die Reihenfolge der Einzelbilder erscheint beliebig. Buchstäblich und im übertragenen Sinn herrschen hier starke Kontraste: zwischen Schwarz und Weiß, Antiklassizistischem und Klassizistischem, Höllischem und Himmlischem.
33
Vgl. Kap. III.1.4.1 – in Moga Mobos 100 Meisterwerken der Weltliteratur macht Goethes Faust den Anfang, weil er der bei einer Umfrage am häufigsten genannte kanonische Klassiker war.
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Der Comic und die Weltliteratur
Abb. 109a und b: Zum Vergleich: links Faust in 50. Literatur gezeichnet (Nr. 1) und rechts Faust 2 in Moga Mobos 100 Meisterwerke der Weltliteratur (S. 39).
2.7
Verwandlung (B): Tim Vigils und David Quinns Faust als moderner (Super-)Antiheld
Timothy B. Vigil (Zeichnung) und David Quinn (Text) haben 1989 eine bisher unvollendete Adaptation des Faust-Stoffs unter dem Titel Faust – Love of the Damned34 begonnen, die laut dem deutschen Verlag »mit über 10 000 verkauften Exemplaren wohl das erfolgreichste schwarz-weiße ErwachsenenHorror-Comicheftchen Deutschlands« ist.35 Die Serie steht bewusst in der
34
35
Es wird zitiert nach der späteren Neuausgabe aus dem Verlag Rebel Studios: David Quinn/Tim[othy B.] Vigil, Faust: Love of the Damned, Rebel Edition, Sacramento 1991–2005, bislang 13 Bde. Die deutsche Ausgabe erschien bei dem inzwischen nicht mehr existierenden Verlag Extrem Erfolgreich Enterprises unter dem Titel Faust. Liebe der Verdammten, Leipzig 1998–2005. Quinn/Vigil, Faust. Liebe der Verdammten, H. 4, unpag. (Abschnitt »In your face!«).
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Tradition der Horror Comics der 1950er Jahre, die von der expliziten Darstellung von Gewalt und Sex in einem naturalistischen bis übersteigert-realistischen Stil geprägt sind. Faust ist hier ein aus Rache agierender Superheld: Er ist übermenschlich stark, schnell und scheinbar unverwundbar. Seine Kräfte erhält der Held durch einen Pakt mit dem Unterweltboss M., in dem Mephistopheles anklingt. Vigils Mephisto ist Teil einer verdoppelten Unterwelt, als Höllenfürst wie als moderner Chef des Verbrechersyndikats »Hand Corporation«, das sprichwörtlich in der Unterwelt operiert. M. erweckt den Durchschnittsamerikaner John Jaspers von den Toten und überträgt ihm in einem magischen Ritual dämonische Energie, um aus ihm seinen Vollstrecker zu machen. Um ihn gefügig zu machen, wird Jaspers einer Therapie unterzogen, die offenbar an die angelehnt ist, die aus Anthony Burgess’ Alex eine »clockwork orange« macht.36 Der durch die Nervenbehandlung schizophren gewordene Jaspers wendet sich gegen M. Die Psychiaterin Dr. Jade DeCamp versucht John zu heilen, verliebt sich aber in ihn und verlässt ihren Mann für Faust. Die Figuren sind nicht so diametral entgegengesetzt, wie es ihre Namen vermuten lassen (der grüne Halbedelstein Jade, auf den ihr Name deutet, steht farblich im Komplementärkontrast zum dunkelroten Jaspis, auf den sein Name verweist). Ihr wissenschaftlicher Rationalismus wird von Liebe und körperlicher Lust konterkariert. Während Faust nach und nach M.s Schläger und Auftragsmörder ausschaltet, beschwört jener in einer apokalyptischen »Walpurgisnacht« (so der Titel des zehnten Hefts) den Homunculus, einen Dämon, der ihm bei der Unterwerfung der Welt dienen soll. Die Handlung ist aus dem Deutschland der Volksbuch-Zeit in das zeitgenössische New York verlagert. Im Vordergrund stehen dabei spezifisch großstädtische Schauplätze: enge Straßenfluchten, neogotische Hochhausfassaden, Lagerhäuser, Irrenanstalten, Krankenstationen und Polizeiwachen, die mit Restaurants, Stadthäusern der Wohlhabenden und Friedhöfen aus der Gründerzeit kontrastiert werden – den Hintergrund bilden auch und gerade durch Comics vertraute Hochhaussilhouetten. Der Antiheld Faust ist an populäre Vorfahren angelehnt. Fausts dunkelrotes Heldenkostüm erinnert an Bob Kanes Superhelden-Archetypus ›Batman‹, mit dem er den als Fledermausflügel stilisierten Umhang teilt; auch Fausts gehörnte Maske erinnert entfernt an Batmans Fledermausohren. Sie teilen ebenfalls das für beide Figuren elementare Rachemotiv und die Zwie36
Anthony Burgess, A Clockwork Orange, London 1962. Vgl. Quinn/Vigil, Faust. Love of the Damned, H. 5. Die zeichnerische Umsetzung erinnert an Stanley Kubricks Verfilmung des Romans von 1971.
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Der Comic und die Weltliteratur
gespaltenheit. Faust erinnert außerdem an den Marvel-Helden ›Wolverine‹,37 mit dem John seine Waffen – aus den Handrücken ausfahrbare Klingen – und das zwischen tierisch-blutrünstigem und menschlich-reflektierendem pendelnde Verhalten gemein hat.38 Die zitathafte Faust-Figur dieses Settings ist nicht Goethes vergeistigter Wissenschaftler, sondern ein in Öl malender Künstler. Seine surrealistischen Bilder, die vor allem Dämonen abbilden, werden mehrfach gezeigt und thematisiert.39 John Jaspers beginnt mit dem Malen im Rahmen einer Kunsttherapie, an der Jade DeCamp forscht. Der künstlerische Ausdruck soll die immense Wut kanalisieren. Durch die ganze Erzählung sieht John für andere unsichtbare Dämonen und spricht mit ihnen. Seine Bilder als Darstellungen seiner Wahrnehmung zu sehen liegt daher nahe. Sie spiegeln aber auch den von irrealen Darstellungen teuflischer Wesen durchsetzten Comic und können entsprechend als Selbstbespiegelung nicht nur des Künstlers John Jaspers, sondern auch des Comic-Zeichners Tim Vigil gelesen werden.40
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Erfunden von Len Wein, Roy Thoma (Autoren) und John Romita (Zeichnung). Vigils und Quinns Faust hat bereits einen eigenen Nachfahren: den 1992 von Todd McFarlane kreierten orpheischen Superhelden Spawn, der nach seinem gewaltsamen Tod einen Pakt mit einem Teufel schließt, um seine Frau noch einmal sehen zu können, aber erst fünf Jahre später entstellt und mit dämonischen Kräften ausgestattet auf die Erde zurückkehrt, um seine Frau als Gattin eines anderen Mannes wiederzufinden und zu erkennen, dass der Teufel ihn mit diesem Trick brechen und zum Anführer seiner Höllenarmee machen will. Im ersten Heft ist eine große, über vier Panels verteilte Abbildung eines der Werke John Jaspers’ zu sehen (signiert mit »J. Jasp 1987«), das neben mehreren dämonischen Fratzen auch typische Motive der surrealistischen Strömung zeigt (vgl. Quinn/Vigil, Faust. Love of the Damned, H.1, unpag.). Weitere Abbildungen seiner Arbeiten finden sich an anderen Stellen. In der Figur des Journalisten Ron Balfour lässt sich eine vergleichbare Funktion für den Textteil des Comics ausmachen. Vgl. hierzu auch David Quinns Kommentar über die Faust-Verfilmung (in: Quinn/Vigil, Faust. Liebe der Verdammten, H. 7, unpag.): »Ähnlich, wie die Charaktere im Roman LA Confidential miteinander verschmolzen, um den Film möglich zu machen, wird vieles, was der Journalist Balfour im Comic macht, im Film von [dem Polizisten] Margolies übernommen werden. Das macht es für die Zuschauer einfacher: ein Journalist ist eine passende Figur für eine Geschichte die man liest […].« Sieht man John Jaspers als höllisches Pendant zu Vigil (oder zum Comic-Zeichner an sich), lässt sich in Ron Balfour, dessen Nachname an den Dämon Belphegor der jüdischen Mythologie gemahnt, als Pendant des Autors und Texters verstehen. Belphegor war dem Mythos nach auf die Erde entsandt worden, um zu prüfen, ob es eine glückliche Ehe gebe. Balfour übernimmt, indem er Faust, Dr. DeCamp und deren Ehemann folgt, eine vergleichbare Aufgabe.
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John Jaspers’ Vorname korrespondiert offenkundig dem deutschen ›Johann‹, den Johann Spies mit der von ihm verlegten Historia von D. Johann Fausten (1587) und in der Folge Christopher Marlowe mit The Tragical History of Doctor Faustus (1604) popularisierten. Sein Nachname lässt an die dunkelrote Farbe des Minerals Jaspis (engl. ›jasper‹) denken, die das häufig thematisierte Blut, um das ein regelrechter Kult aufgebaut wird, assoziieren lässt. Kaum zufällig erinnert der Name an den bekannten Neo-Dadaisten Jasper Johns. Johns’ Werke bewegen sich an den Grenzen von Realitätsebenen, vor allem an der Grenze zwischen Abbildung und Abgebildetem, zwischen Zeichen und ›Gezeichnetem‹. Dies korrespondiert nicht nur mit John Jaspers’ Wahrnehmung, in der dämonische Wesen gleichberechtigt neben ›realen‹ Wesen existieren. Die Frage der Grenze von Realität und Abbildung, Bild und Ab-Bild, muss gerade in Anbetracht grafischer Künste gestellt werden – und insbesondere bei der vergleichenden Übertragung eines Kunstwerks in eine andere Kunstform. Die Bezüge zu Goethes Faust, vom Herausgeber der deutschen Übersetzung, Bela B. Felsenheimer (d.i. Dirk Albert Felsenheimer), im Vorwort zum ersten Heft und etwas später in einer Antwort auf einen Leserbrief betont,41 liegen in Details. Der Comic eröffnet mit einem Gedicht, dass der Goethe’schen »Zueignung« thematisch affin ist, es geht um Wahrnehmung und Zeit und das Zurückholen von Erinnerungen – allerdings mit einem, dem Genre entsprechenden, nihilistischen Tenor. Die Anspielungen auf Goethes Faust sind insgesamt eher konventionell. Wie im Horror-Genre kaum anders zu erwarten, sind es nicht die kontemplativen Szenen, die Vigil und Quinn zitieren, sondern die für ihre Zwecke anschlussfähigeren Szenen. In Anlehnung an Goethes Szene »Auerbachs Keller« zeigt sich M. im achten Heft in seinem Weinkeller über Wein, den Menschen, Religion und Magie lamentierend; in der Szene geht es um einen Pakt, den ein Untergebener mit M geschlossen hat. Dass M. John Jaspers mit Wahnsinn schlägt, entspricht Mephistos Verzauberung der »lustigen Gesellen« bei Goethe (V. 2312 ff.). Die Walpurgisnacht, bei Goethe durchaus erotisch angelegt, wird bei Vigil/Quinn zu einer infernalischen Orgie, die von der Funktion, die sie in Goethes Faust hat, nichts behält. Die Szene »Nacht – Straße vor Gretchens Tür« ist im Comic hinter Jades Tür verlegt: Zwar tötet Faust nicht Jade DeCamps Bruder, aber 41
»Faust ist ein Eigenname. Der Titel bezieht sich auf Goethes Buch ›Faust‹, in dessen erstem Teil Doktor Faust seine Seele dem Teufel verkauft. Ähnlich ergeht es unserem John Jaspers mit M.« (Vigil/Quinn, Faust. Liebe der Verdammten, H. 3, unpag., Herv. im Original fett gedruckt).
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Der Comic und die Weltliteratur
Abb. 110: M. in Renaissancekleidung (Vigil/Quinn, Faust, H. 8).
ihren Ehemann, als dieser sie im gemeinsamen Apartment zu vergewaltigen versucht. Zuvor vermutet der betrogene Ehemann in der Psychiaterin ein potentielles Gretchen: »Don’t know why I thought we’d … work. Like a family. You wouldn’t even have my kid … or how do I know … you wouldn’t kill ’im if we –«.42 Im Titel der Heftreihe, im Namen John Jaspers, in seinem Aussehen sowie seinem Charakter und an vielen anderen Stellen – es ließen sich neben den Verweisen auf Goethes Faust auch solche auf Wilhelm Meisters Wanderjahre, auf Platons Republik und das »Höhlengleichnis«, auf Rilkes Sonette an Orpheus, auf Elvis und andere Musiker sowie auf zahlreiche Comic-Künstler wie Frank Frazzati, der für EC Horror-Comics gezeichnet hat, Jack Kirby, John Buscema, Steve Ditko, Gil Kane und Frank Miller zeigen – drückt sich die Zitathaftigkeit der Figur und des Comics aus. Indem er Fremdes in sich aufnimmt, setzt sich der Comic in eine vergleichende Beziehung zu den anderen Künsten, zur bildenden Kunst, für die John Jaspers steht, zur Musik – fast jedem Akt ist ein Song gewidmet, der ihn begleitet – und nicht zuletzt zur
42
Vigil/Quinn, Faust. Love of the Damned, H. 8, Herv. im Original fett gedruckt.
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Literatur, vor allem vertreten durch Goethe.43 Der von M. mit einem Menschen gezeugte Homunculus ist als ein halb männlicher, halb weiblicher Zwitter und als halb menschliches, halb dämonisches Wesen ein treffender Repräsentant des Comics.
2.8
Verwandlung (C): Christian Schieckels Faust als gezeichnetes Theater
Christian Schieckel, zunächst Bildhauer, dann Bühnenbildner und Marionettenbauer –, »[a]ugenblicklich [=1991] entwickelt und baut er mit wissenschaftlicher Unterstützung historische Modelle des antiken Theaters von seinem Ursprung an«44 –, folgt mit seiner Faust-Bearbeitung präzise Goethes Text. Anders als für Falk Nordmann, der die Textvorlage ebenfalls vollständig übernimmt (siehe Kapitel III.2.5), steht für Schieckel jedoch nicht das zeichnerische Experiment im Mittelpunkt des künstlerischen Interesses. Seine Bearbeitung ist vielmehr die Darstellung eines imaginären szenisch aufgeführten Theaterstücks als die Nacherzählung der Faust-Geschichte mit den Mitteln des Comics. Der Paratext betont: Christian Schieckels Umsetzung des »meistgedruckte[n] und meistgespielte[n] Werk[s] der deutschen Literatur« ist »eine Theateraufführung vom Faust«,45 die man »nun besitzen und ›getrost nach Hause tragen‹«46 kann. Die Illustration gerade von Goethes Faust-Stücken hat Tradition. Schon zu Goethes Lebzeiten wurde die Tragödie von zahlreichen Künstlern bearbeitet.47 Der Dichter selbst hatte 1798 seinen Freund Heinrich Meyer be43
44
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Comics werden als Medium immer mitreflektiert. In Heft 7 bringen sich Vigil und Quinn z. B. selbst in die Schlagzeilen einer fiktiven Ausgabe der New York Post: »Writer and Artist get arrested for porno comic book! David Quinn + Tim Vigil«. Ähnliches geschieht schon im ersten Heft. Zudem fordern die Autoren den Leser auf, einen »Faustian Contract« mit ihnen zu schließen: »We have pledged our souls to the graphic medium … and now it is your turn to pledge your soul to us …« (Vigil/Quinn, Faust. Love of the Damned, H. 9). Johann Wolfgang von Goethe: Faust. Der Tragödie erster Teil gezeichnet von Christian Schieckel, Köln 1991, unpag., letzte Seite. Ebd. Ebd., Klappentext. Asmus Jakob Carstens hat schon 1796 die erste Illustration (nach dem Urfaust) vorgelegt, es folgen 1809 Christian Ludwig Stieglitz, 1810 Vinzenz Raimund Grüner und Ludwig Gottfried Carl Nauwerck, ein Jahr später, 1811, Johannes Riepenhausen, und 1816 Peter Cornelius und Friedrich August Moritz Retzsch. Ein besonders eindrucksvoller schwarz-romantischer Zyklus von Eugène Delacroix
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Der Comic und die Weltliteratur
auftragt, »zu dieser barbarischen Production Zeichnungen zu verfertigen«,48 und auch Goethes eigene Skizzen zum Faust sind bekannt, wenn auch ihre Funktion umstritten ist.49 Schieckels Faust stellt sich bewusst in diese Tradition, erweitert aber den stilistischen Ausdruck der Theaterillustrationen um Elemente der Comic-Sprache. Schieckel begibt sich damit auf eine Gratwanderung zwischen klassischer Theater-Illustration auf der einen und Comic auf der anderen Seite. Zeichnerisch will dieser Faust an Holzschnitte der Dürerzeit erinnern. Die Gestaltung der dramatis personae ist bewusst an die teils übertriebene, teils ungelenke, aber immer expressive Darstellung der Figuren dieser Zeit angelehnt. Die Hintergründe sind betont kulissenhaft gezeichnet. Sie sind ganz der Ästhetik des Theaters verpflichtet. Meist aus der Zentralperspektive dargestellt, simulieren sie den Blick auf eine Bühne, und nicht wenige der Szenen sind von Vorhängen gerahmt. Friedrich August Moritz Retzsch (1779–1857) hatte 1816 Faust auf ganz ähnliche Weise illustriert. Der Goethe’sche Text steht bei Schieckel zumeist mittig auf der Seite in strenger Anordnung, dabei sind die jeweiligen Verse den Personen über kompliziert angeordnete Sprechblasen zugeordnet, die sich oft über die ganze Szene erstrecken. Die Gesichter, wegen des mimischen Ausdrucks von Gefühlen im Theater von besonderer Bedeutung, löst Schieckel aus den Szenen heraus. In Gesprächen, vor allem in den langen Unterhaltungen Fausts mit Mephisto in den »Studierzimmer«-Szenen und bei den Gesprächen in »Der Nachbarin Haus«, stellt der Comic die Gesprächspartner einander in Ketten von Portraits gegenüber. Symmetrische Gegenüberstellungen der Personen – vor den gleichfalls meist symmetrischen Hintergründen – heben die Dichotomien hervor, die auch Goethes Drama unterlegt sind: Gut und Böse, Mephisto und Faust, Faust und Wagner, Mephisto und der Student etc. – die Korrespondenz mit der Zweiheit Comic und Theater liegt auf der Hand. Deutlich wird dabei auch, dass solche Dichotomien (wie auch bei Goethe) nicht binär sind, sondern fließende Übergänge erlauben.
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entstand 1826 (vgl. Roswitha Schieb, »Die Faust-Illustrationen der Goethezeit«, in: Peter Stein inszeniert Faust von Johann Wolfgang Goethe. Das Programmbuch Faust I und II. Hrsg. von Roswitha Schieb unter Mitarbeit von Anna Haas, Köln 2000, S. 216–251). Goethe an Schiller, April 1798, (WA IV, 13, S. 129), zit. nach: Horst Jesse, »Faust« in der bildenden Kunst. Illustrationen zu Johann Wolfgang Goethes »Faust« von ihm selbst und Zeitgenossen, München 2005, S. 8. Schieb, »Faust-Illustrationen«, S. 216–219.
Große Texte und Themen A: Vermittlung – Verwandlung – Vergleich
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Abb. 111: Eine exemplarische Szene aus Christian Schieckels Faust-Bearbeitung (S. 69).
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2.9
Der Comic und die Weltliteratur
Verwandlung (D): Flix’ Faust-Komödie
Die Buchausgabe von Flix’ Faust-Comic50 signalisiert schon äußerlich, dass es sich um eine humoristische Bearbeitung des Stoffes handelt, die Goethes Drama vor allem als kanonischen Text wahrnimmt und als solchen parodiert. Der Einband kopiert die prägnante gelbe Broschur von Reclams Universalbibliothek, deren erster Band 1867 »der Tragödie erster Teil« war. Reclams Reihe gestaltet seit vielen Jahren aktiv den Kanon der deutschen Literatur mit, die kleinen Heftchen sind inzwischen zu Kultgegenständen avanciert, nicht zuletzt, weil sie für Generationen von Schülern als Textgrundlage für den Deutschunterricht und als Zeichengrund in langweiligen Schulstunden dem Ausdruck individuellen Schöpfungs- und Gestaltungswillens dienen.51 Flix verlegt die Handlung nach Berlin, wo Heinrich Faust nach erfolglosem Studium von »Jura. Medizin. Und leider auch Theologie«52 als Taxifahrer arbeitet und mit seinem querschnittsgelähmten farbigen Mitbewohner Wagner im Streit liegt, seit Faust die Pudeldame Charlotte von Stein versehentlich überfahren hat. Margarethe ist eine türkische Muslima, die ihr Vater nach der Fernsehmoderatorin Margarethe Schreinemakers benannt hat – von ihrer Mutter wird sie Özlem gerufen – und aus Fausts Studierzimmer wird kurzerhand eine Eckkneipe. Im Mittelpunkt der Geschichte steht die sich anbahnende Liebesbeziehung zwischen Faust und Margarethe. So entfällt der Kindsmord, und Margarethes Mutter und Bruder sterben juristisch unbedenkliche Unfalltode. Am Ende des Comics erschlägt Gott das innig umschlungene Paar mit einem Blitz, um sich davor zu bewahren, die mit Mephisto eingegangene Wette zu verlieren. Das Liebespaar wird nicht getrennt, sondern gelangt gemeinsam in den Himmel, wo es zum Bürodienst eingeteilt wird. Parodiert wird nicht nur Goethes Faust, sondern vor allem die zeitgenössische deutsche Gesellschaft und besonders ihre Medienlandschaft. Eckpunkte dieser parodistischen Faust-Adaptation sind geläufige Klischees wie das deutsche Beamtentum – Gott arbeitet in einem Büro neben Allah und Buddha, und seine ›Arbeit‹ ist einer strikten bürokratischen Reglementierung unterworfen – oder die vermeintliche Multikulturalität der deutschen Gesellschaft, die sich in einer selbstzweckhaften sprachlichen ›political correctness‹ erschöpft. Der mediale Fundus, aus dem Flix schöpft, enthält neben Goe50 51
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Flix (d.i. Felix Görmann), Faust. Der Tragödie erster Teil, Hamburg 2010. Dies zeigte z. B. die Ausstellung Reclam. Die Kunst der Verbreitung des Klingspor Museums Offenbach (22. Februar bis 2. April 2006). Flix, Faust, S. 16.
Große Texte und Themen A: Vermittlung – Verwandlung – Vergleich
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Abb. 112: Das Cover von Flix’ Faust-Bearbeitung.
thes Drama zum Beispiel das hypnotische Lied der Schlange Kaa aus Walt Disneys Dschungelbuch in der deutschen Übersetzung, die Musik Johnny Cashs, Repräsentanten des deutschen Fernsehens wie der Fernseh-Choreograph und -Moderator Bruce Darnell, der durch die Sendung Germany’s Next Topmodel bekannt geworden ist, und das Internet mit Google Earth und Myspace sowie Comic-Zeichnungen zum Beispiel im Stil von Akira Toriyama. Es ist bezeichnend, dass der Pudel, in dessen Kern bei Goethe bekanntlich Mephisto steckt, bei Flix verpufft und nur einen kleinen Feuerkranz und ein wenig heiße Luft hinterlässt, während Mephisto in der nächsten Szene von außen ›die Bühne‹ betritt – der Pudel ist ein Medium ohne Botschaft, der Repräsentant einer Medienwelt, die auf Effekte setzt und bei der Inhalte zweitrangig sind. Unter diesem Zeichen steht auch Flix’ Version des »Prologs im Himmel«. Teile des geläufigen Texts sind kombiniert mit der Darstellung eines Computerprogramms mit graphischer Oberfläche, die sich an Graphikbearbeitungsprogramme anlehnt. Gott verwendet das Programm, das den Namen »Myspace« trägt, um Universen zu gestalten, wobei er von Mephisto unterbrochen wird, als dieser versehentlich den Stecker zieht. Das Dialogfenster, das dem Comic vorangestellt ist, fragt den Leser – der hier durch Gottes Augen schaut –, ob er »[n]ochmal?« beginnen wolle. Der ge-
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Der Comic und die Weltliteratur
zeichnete Cursorpfeil zeigt auf »Ja«.53 Der Comic verweist auf die Iterabilität medial vermittelter Erlebnisse – und bejaht sie. Wiederholung muss dabei nicht immer dasselbe liefern, vielmehr präsentiert sich der Text selbst als modifzierte Wiederholung von Goethes Text.
2.10 … und der zweite Klassiker: Schiller-Comics Auch Deutschlands zweiter Klassiker Schiller hat inzwischen eine eigene Comic-Geschichte; dafür nur zwei Beispiele:
Horus’ Schiller!: eine Comic-Novelle Die »Comic-Novelle«54 über Schiller gilt nicht primär der Darstellung von Schillers Œuvre, und auch seine Biographie wird nur im Auszug dargestellt: Es geht um die schwierige Phase der Selbstfindung und des Durchbruchs zum Dramatiker. Diese wird aus der Perspektive des sich während einer nächtlichen Kutschfahrt (auf der Flucht von Stuttgart nach Mannheim) erinnernden noch jungen Schiller geschildert. (Durch diese Konzentration eines Dichterporträts auf eine kurze, durch Reflexionen geprägte Lebenssituation besteht eine Ähnlichkeit zu Thomas Manns Schiller-Erzählung Schwere Stunde.) Dargestellt wird, wie sich der angehende Dramatiker gegen vielfältige Widerstände, vor allem von Seiten seines Vaters und seines Landesherrn, zu erwehren hat. Hinweise auf die frühen Werke gelten deren Wirkung, nicht ihren Inhalten und Themen. Die Bildsprache des Schiller-Comics erinnert an Classics Illustrated; die Struktur der Erzählung ist aber anders als in den inhaltsparaphrasierenden Bänden der CI-Reihe, sie ist komplexer und fokussiert psychische Vorgänge – Erinnerungen, Träume und Wünsche, Ängste und Sorgen – sowie die Beziehungen der Hauptfigur Schiller zu anderen Personen – Abhängigkeiten, Drohungen, Machtausübung, Rebellionen. Durch Darstellung des sich erinnernden und träumenden Dichters wird die Gegenwart des Imaginären thematisiert; die Kolorierung sowie Strategien der Überblendung unterstreichen diese Thematik. Dass ein Schwerpunkt auf Gedanken, Erinnerungen und Gefühlen sowie auf sozialen Bezie53 54
Ebd., S. 1. Horus (d.i. Wolfgang Odenthal), Schiller! – eine Comic-Novelle. Kolorierung: Martin Schlierkamp, Schiller-Nationalmuseum und Deutsches Literaturarchiv, Köln 2005.
Große Texte und Themen A: Vermittlung – Verwandlung – Vergleich
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hungen liegt, wird auch durch die Vielzahl der gezeichneten ›Porträts‹ bestätigt. – Ein Anhang der Comic-Erzählung (deren Inszenierungsstrategie raffinierter ist als der Zeichenstil) informiert den Leser zum einen über Schillers Leben (in Tabellenform) und über Schillers eigene comicähnliche Zeichnungen (Körners Familienleben, Bildbeispiele und Kommentar), zum anderen besteht er aus einem kurzen Essay, der verknüpft mit werkbiographischen Informationen die Frage nach Schillers Aussehen, also nach den möglichen Vorlagen eines gezeichneten Comic-Porträts, erörtert; vier Schillerporträts sind beigefügt; der Zeichner Horus hat aber, wie es heißt, Schiller »Bild für Bild neu« erfunden (unpag.).
Schiller im Ruhrgebiet Eindeutig parodistisch ist der Schiller-Comic,55 der die Handlung des Wilhelm Tell nacherzählt und für die Dialoge der Figuren (Sprechblasen) den Dialekt des Ruhrgebiets verwendet. Parodiert wird dabei nicht nur Schillers Stück, die Parodie gilt auch dem, was die Bandgestalter als Ruhrgebietsmentalität verstehen – und dem Literatur-Comic, der dem Band als Ausgangsbasis gedient hat. Denn Wilhelm Tell – Schützenfest wie im Revier entstand durch die sprachliche Verwandlung eines amerikanischen Tell-Comics, der keine parodistischen Intentionen hat, sondern die Tell-Handlung im Classics Illustrated-Stil nacherzählt.56 Die ursprünglichen Sprechblasentexte wurden durch dialektale Äußerungen der Figuren ersetzt. Weitere Textfelder in hochdeutscher Sprache erzählen die Handlung nach, werden ihrerseits aber, wiederum parodistisch, durch vorgebliche Sacherläuterungen ergänzt, die das dargestellte Geschehen für den ›Ruhrgebietler‹ verständlich machen sollen. Ein Anhang enthält die Erzählung über einen Aufenthalt Wilhelm Tells im Ruhrgebiet.
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Friedrich Schiller, Wilhelm Tell. Schützenfest wie im Revier. Bearb. und übers. von Werner Boschmann, Siegfried Stajkowski und Jott Wolf, Zeichnungen: Maurice del Bourgo, Essen 2000 (= Die spannendsten Geschichten der Weltliteratur in Ruhrdeutsch 1). Frederick ( ! ) Schiller, William Tell, New York 1953 (= Classics Illustrated Nr. 102).
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Der Comic und die Weltliteratur
3.
Große Texte und Themen B: Heldentum und Helden-Comic: Adaptationen von Herman Melvilles Moby Dick
3.1
Heldenbilder in der Moderne
Herman Melvilles Geschichte über Kapitän Ahab und Moby Dick (The Whale, or Moby Dick) hat den Status eines modernen Mythos. Entsprechend intensiv und breit aufgefächert ist die Geschichte ihrer Deutungen, Nacherzählungen und Umgestaltungen. Zur facettenreichen Rezeptionsgeschichte des Romans gehört auch die seiner medialen Transformationen, seiner Illustrationen, Verfilmungen und Comic-Versionen. Die Medien-Geschichte von Moby Dick ist nicht zuletzt die Geschichte verschiedenartiger Umgangsformen mit Heldenbildern: An der Art, wie anlässlich der Romanfabel um den besessenen Kapitän Ahab und seine Mannschaft Helden ins Bild gesetzt werden, lassen sich grundsätzliche Umgangsweisen mit der Heldenthematik ablesen: affirmative und kritische, simplifizierende und differenzierende, zeitgeschichtlich eher unspezifische und konkret zeitbezogene. Bezogen auf eine Reihe von ComicParaphrasen des Romans soll dies im Folgenden gezeigt werden. Leitend ist dabei die These, dass sich das breite Spektrum von Haltungen gegenüber der Idee des Heldentums, wie es für unsere eklektische und ideologisch heterogen geprägte Kultur charakteristisch ist, an den zeichnerischen Interpretationen von Melvilles Roman exemplarisch illustrieren lässt. Die Helden-Modellierungen der Moby Dick-Comics verweigern sich, wie vorausschickend gesagt sei, jedem Versuch einer generalisierenden und homogenisierenden Auslegung. Stattdessen dokumentieren sie, wie unterschiedlich die Perspektiven auf heroische Gestalten sind, ja sie bezeugen, wenn man denn Heldenkonzepte in ihrer spezifischen Ausdifferenzierung als etwas jeweils Zeittypisches betrachtet, eine Art Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Eindeutige Helden stehen neben zweideutigen, altmodische neben modern wirkenden, als echt konzipierte neben ostentativ unechten, vorbildliche neben gefährlichen, klischeehafte neben individuellen – und während auf der einen Seite heroisches Handeln ganz unironisch als Gegenstand der Bewunderung oder als Anlass des Erschauerns in Szene gesetzt wird, verfällt es auf der anderen Seite der parodistischen Verulkung, wird zum Anlass des Klamauks. Helden sind nicht ›vergangen‹, und sie sind nicht ›aktuell‹: Sie sind Figurenentwürfe, die immer wieder aktualisiert werden können, dies aber unter höchst verschiedenen Vorzeichen.
Große Texte und Themen B: Heldentum und Helden-Comic
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Melvilles Ahab, der nicht nur sein eigenes Leben, sondern auch das seiner Mannschaft aufs Spiel setzt, um den tiefverhassten Moby Dick zu töten, der alle moralischen Regeln und jedes menschliche Gefühl, ja selbst den fundamentalen Ehrencodex der Seeleute hinter sich lässt, ist ein in seiner Ambiguität modernespezifischer Held – eine Figur, die Grenzen überschreitet, keinerlei Einschränkungen akzeptiert und sich selbst zum alleinigen Maß aller Dinge macht. Er steht in einer Reihe mit den Faust- und Prometheus-Gestalten der modernen Imagination. Zudem sind diverse Züge älterer Heroentypen in sein Porträt eingeflossen. Ein Held im Sinne der stoizistischen Ethik ist Ahab durch seine Unbeugsamkeit, seine Geradlinigkeit und Unerbittlichkeit gegen sich selbst; allerdings kommt es, wie nicht selten in der Literaturgeschichte, zu einer Vermischung des stoischen Helden- mit dem Schurkentypus. Seine Geschichte ist tragisch wie die eines antiken Dramenhelden, da er zugleich Täter und Opfer ist, auf eigentümliche Weise stigmatisiert: Ein weißes Mal entstellt diesen von Kopf bis Fuß (es heißt, der Blitz habe ihn einst getroffen, und er sei am ganzen Körper gezeichnet); Ahabs Schicksal scheint vorherbestimmt wie das antiker Figuren, deren Leben in Orakeln antizipiert wird. Ahab besitzt auch dämonisch-satanische Züge, etwa wenn er seine Harpune im Namen des Teufels tauft. Der weiße Wal ist nicht minder polyvalent als Ahab.1 Er kann einerseits zwar als Inbegriff einer Natur betrachtet werden, die vom Menschen gewaltsam unterworfen werden soll, aber er ist andererseits keineswegs nur Opfer, sondern repräsentiert auch die gnadenlose Seite der Natur. Melvilles Erzähler Ishmael assoziiert ihn mit dem biblischen Leviathan – jenem Monstrum, das gelegentlich mit dem Teufel gleichgesetzt und zum Inbegriff des Bösen wurde. Leviathan ist aber auch der Name, den Thomas Hobbes dem Staat gibt, welcher durch seine Macht dem egoistischen und darum asozialen Streben der Einzelmenschen nötige Grenzen setzt. Der Bericht des Erzählers Ishmael ist durchflochten von Passagen, welche den symbolischen Charakter des Geschehens und den Konnotationsreichtum bestimmter Motive hervorheben. Dies gilt insbesondere für die Farbe des Wals, der ein ganzes Kapitel gewidmet wird. Das Weiß ist für Ishmael die Konkretisierung des Schreckens, der Unbestimmtheit und des Unfasslichen.2 Es lässt sich im semantischen Horizont des Romans als Sym-
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Vgl. Richard Slotkin, »Moby-Dick: The American National Epic«, in: Michael T. Gilmore (Hrsg.), Twentieth-Century Interpretations of Moby-Dick. A Collection of Critical Essays, Englewood Cliffs 1977, S. 13–26, hier S. 23. Vgl. Marianne Kesting, »Der Schrecken der Leere. Zur Metaphorik der Farbe Weiß bei Poe, Melville und Mallarmé«, in: Dies.: Entdeckung und Destruktion. Zur Strukturumwandlung der Künste, München 1970.
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Der Comic und die Weltliteratur
bolfarbe des äußersten denkbaren Schreckens deuten: des Entsetzens angesichts der Entdeckung von der Nichtigkeit aller Dinge, der Entgötterung der Welt, der Kontingenz von Geschichte. Melvilles Roman bespiegelt, so gelesen, die Grund- und Haltlosigkeit des Menschen in einer chaotischen und un-feststellbaren Natur ohne lenkenden Schöpfergott – einer Natur, aus deren sinnloser Dynamik sich vor dem menschlichen Blick nur temporär Gestaltungen ausdifferenzieren, schemenhafte und unüberschaubare Erscheinungen wie der Wal, denen Bilder der Formlosigkeit abgerungen werden müssen. Die Figuren des Romans werden durch eine flüssige und chaogene, von Auflösung bedrohte Welt getrieben, gegen welche sie ohnmächtig sind – so wie Ahab gegen den weißen Wal. Heldentum bedeutet insofern bereits, die Zumutung der Welt auch nur auszuhalten. In diesem Sinne repräsentieren die Besatzungsmitglieder der »Pequod« kulturell und historisch divergente Heldentypen. (Die unheroische ist der Schiffsjunge Pip, der angesichts des Schreckens der Welt seinen Verstand verliert.)
3.2
Helden-Comics
Der Helden-Comic ist so verbreitet wie berüchtigt, und er hat die Kritik am Medium Comic wie wohl keine andere Spielform auf sich gezogen. ComicHelden sind – so der Tenor – ideologisch verdächtige Trivial-Versionen des Übermenschen;3 stereotyp handelnde und ebenso stereotyp gezeichnete Heldenfiguren erleben immergleiche Abenteuer.4 Differenzierende Charakterzeichnungen sind comicunspezifisch.5 Gerade die ältere Kritik am Comic zielt auf fragwürdige Helden-Bilder.6 Der comicspezifische Held wird denunziert als trivial und primitiv, als eine Projektionsfläche abstruser Phantasien von Kraft und Macht sowie als Inbegriff (und Indikator) einer unter3
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Reinhardt, Schmutz- und Schundliteratur, S. 53: »Fast alle Helden [im Comic] leben, besser vegetieren, entwicklungslos. Sie sind in Wirklichkeit Ungeheuer ohne Bewußtsein, Roboter ohne Empfinden […]«. – Ideologische Besorgnisse formuliert Baumgärtner: »Indem […] ganz offenkundig Züge aus der religiösen Sphäre übernommen werden, erfährt die Figur des Helden eine weitere Steigerung ins Übermenschliche.« (Baumgärtner, Die Welt der Abenteuer-Comics, S. 30). Vgl. ebd., S. 9. Baumgärtner spricht, unter Verweis auf andere Comic-Untersuchungen, von der »eigentümliche[n] Bruchlosigkeit dieser Gestalten.« (Ebd., S. 25) – »Sowenig sie Angst kennen, kennen sie dann auch Zweifel an sich und an der Richtigkeit und Rechtmäßigkeit ihres Tuns. […] wir stoßen nie auf einen Kampf des Helden mit sich selbst. Die Konflikte in den Comics sind ausschließlich äußere.« (Ebd.). Vgl. ebd., S. 19, S. 22.
Große Texte und Themen B: Heldentum und Helden-Comic
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entwickelten intellektuellen Kompetenz.7 Inzwischen gibt es ein weitaus breiteres Spektrum an Comic-Typen und eine differenziertere Comic-Forschung. Gleichwohl spielen Helden weiterhin natürlich oft eine thematisch zentrale Rolle; an Comic-Bildern werden Leitbilder in ihrer Wandelbarkeit, Zeit- und Kulturspezifik ablesbar.8 Damit ist aber zugleich auch die Voraussetzung dafür gegeben, dass eben in diesem Medium über Heldentypen, deren Kultur- und Mediengeschichte reflektiert werden kann. Reflexion setzt Distanz voraus: in diesem Fall zu Heldenbildern, aber auch zum eigenen Medium der Comic-Zeichner und Szenaristen.
3.3
Moby-Dick-Comics
Es gibt eine ganze Reihe von Comic-Versionen zu Melvilles Roman.9 Die erste davon wurde in den USA von Louis Zansky als 5. Band der Reihe Classics Illustrated gezeichnet und erschien im September 1942 im Verlagshaus Gilbertson.10 Auf dem Cover ist der Moment des Kampfs zwischen dem Wal und der Bootsbesatzung zu sehen, die von Moby Dick aus ihren Booten geschleudert wurde – eine auch von Illustratoren immer wieder gewählte Schlüsselszene der Geschichte. Eine weitere Nacherzählung des Romans erschien als Nr. 6 des Feature Presentations Magazine (Verlagshaus Fox Comics, Juli 1950).11 1956 erschien eine neue Version, zeitgleich mit der berühmten Romanverfilmung durch John Huston mit Gregory Peck in der Rolle des Kapitäns.12 1973 schufen Irwin Shapiro als Szenarist und Alex Niño als Zeichner in der Reihe Pendulum Illustrated Classics, die ebenfalls zur unterhaltsamen Verbreitung von Literaturwissen konzipiert war, eine andere Version. Als 7 8 9
10 11
12
Vgl. ebd., S. 22. Vgl. Banhold, Batman. Die folgenden Angaben stützen sich auf den Anhang »Moby Dick Story« des Moby Dick-Comics von Dino Battaglia, verfasst von Carlo Chendi (»Moby Dick ›multimediale‹«, in: Dino Battaglia, Moby Dick, Genua 1997, S. 42–47). Vgl. den SW-Abdruck des Umschlags in Battaglia, Moby Dick, S. 43. Die Umschlagzeichnung von Wally Wood zeigt neben dem gefährlich aussehenden Wal das Gesicht eines Kapitän Ahab, dem der Wahnsinn anzusehen ist und dessen Physiognomie stark an die des Mister Hyde in der Verfilmung der JekyllHyde-Geschichte durch Rouben Mamoulian erinnert. Diese neue Comic-Version von 1956 war von Frank Thorne gezeichnet und erschien als Band 717 in der Reihe Four Color Comics (Dell Publishing); auf dem Cover ist Gregory Peck als Ahab zu sehen – ein Beispiel dafür, wie die visuelle Deutung einer Figur wie Ahab durch andere visuelle Deutungen beeinflusst wird: Ahab ist längst ein Medien-Held geworden.
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Der Comic und die Weltliteratur
dritter Band der Reihe King Classics erschien eine weitere Version, eine wiederum andere 1990 als vierte Nummer der neuen Serie Classics Illustrated (bei der Berkley Publishing Group und den First Comics), gezeichnet von Bill Sienkiewicz, mit Dan Chichester als Szenarist (dazu unten mehr). In Frankreich erschien 1955 eine gezeichnete Moby-Dick-Version von einem Zeichner namens Albert (Vedette), 1983 folgte, ebenfalls in Frankreich (Hachette) eine Version von Jean Ollivier (Text) und Paul Gillon (Zeichnungen). Diese Liste ließe sich erweitern.13
Entmodernisierungen des Helden Eine erste Spielform des Umgangs mit Melvilles Ahab als einem – im oben skizzierten Sinn – modernen Helden ist die Entmodernisierung der Figur. Ahab wird auf einen Helden vormodernen Zuschnitts reduziert, wo ihn die Zeichner und Szenaristen in eine hinsichtlich der Leitdifferenzen von Gut und Böse, Freund und Feind noch klar strukturierte und eindeutig entzifferbare Welt versetzen. Damit verbindet sich meist ein Interesse an der äußerlichen Dramatik der abenteuerlichen Fabel des Romans, an der Auseinandersetzung zwischen Menschen und Ozean, am stattfindenden Kampf. Ahab kann dabei durchaus den Protagonisten typischer Helden-Comics ähneln; seine Physiognomie wirkt dann markig, Gestik und Diktion entschlossen. Noch häufiger wird er zum Schurken und mit entsprechenden physiognomischen
13
Neben direkten zeichnerischen Nacherzählungen der Romanhandlungen gab es schon seit den 1930er Jahren Comics, in denen Handlungselemente und Motive aus Melvilles Moby Dick übernommen wurden. Für die Serie Wash Tubbs zeichnete Roy Crane 1933 eine kurze Geschichte für eine Tageszeitung, in der die beiden von ihm geschaffenen Protagonisten, Wash Tubbs und Captain Easy, auf Waljagd gehen. 1938 transponierte Floyd Gottfredson die Handlung in die Mickey-Mouse-Welt; Mickey und seine Gefährten gehen auf Waljagd (Mickey Mouse, Mighty Whale Hunter erschien vom 9.2. bis 6. 7. 1938 als Comic-Strip in einer Tageszeitung; das Szenario stammte von Merrill de Maris). Der Szenarist Vic Lockman und der Zeichner Toby Stroble schufen später die Gestalt des Moby Duck, die in den mittleren 1960er Jahren als Disneyfigur erstmals auftaucht (Whale of an Adventure, Donald-Duck-Album 112, März 1967). Noch eine ganze Reihe weiterer ›komischer‹ Comics spielt auf Figuren und Motive aus Melvilles Roman an. Es ist evident, dass es in solchen Versionen der von Melville erfundenen Geschichte nicht darum geht, Ahab ernsthaft als Helden zu deuten; vielmehr findet eine Adaptation der kanonisierten Romanvorlage an ein relativ junges Medium (den lustigen Comic) statt, in deren Verlauf die Assimilationsfähigkeit des letzteren demonstriert wird.
Große Texte und Themen B: Heldentum und Helden-Comic
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Abb. 113: Ahab und der Wal in der Adaptation von Kanter und Zansky (Moby Dick, unpag.). Beispiel 1: Moby Dick in einer späteren Auflage der Reihe Classics Illustrated von Acclaim Books, adaptiert von Albert L. Kanter und gezeichnet von Louis Zansky.14 In der seit 1941 publizierten berühmten Reihe der Classics Illustrated erschien im September 1942 – noch unter dem früheren Reihentitel Classic Comics – als fünftes Heft erstmals eine Adaptation von Melvilles Moby Dick. Mehr als fünzig Jahre später schaffen Albert L. Kanter und Louis Zansky eine neue Comic-Version zu Moby Dick in der gleichen Reihe. Die Perspektive des Zeichners (und des Betrachters) auf den die Szene dominierenden Ahab ist die der zu ihm aufsehenden Mannschaft. Inhalt und Bildaufbau sind aufeinander abgestimmt; Thema der Szene ist die Dynamik Ahabs, die sich auf seine Männer überträgt und den Aufbruch zum Jagdzug auf den Wal einleitet. Die Romanhandlung wird in gestraffter Form nacherzählt. Der Akzent liegt auf den äußeren Ereignissen. (Immerhin findet auch der informative, gleichsam lexikographische Teil des Romans, in dem der Leser etwas über Wale und über den Walfang erfährt, sein Pendant in einer entsprechenden ›lexikographischen‹ Seite.) Entsprechend sehen wir immer wieder starke und tüchtige Männer bei der Arbeit, beobachtet aus wechselnden Perspektiven.
14
Herman Melville, Classics Illustrated: Moby Dick. Adaptationen: Albert L. Kanter, Zeichnung: Louis Zansky, New York 1997.
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Der Comic und die Weltliteratur
Die Panel-Rahmen, bei denen in diesen Episoden auch schräg verlaufende Linien eingesetzt werden, unterstützen die Darstellung eines bewegten Geschehens; sie scheinen den Rhythmus der Schiffsbewegungen sinnfällig zu machen. Antizipatorisch zeigt die einleitende Zeichnung zu Kapitel III »Moby Dick« den einbeinigen Ahab im Nahkampf mit dem Wal; er steht auf dessen Rücken und ist im Begriff, mit der Harpune zuzustechen. Im Hintergrund fliegt die »Pequod« durch die Luft, vom springenden Wal hochgeschleudert; der Wal befindet sich noch im Sprung. In Abweichung von den früheren Darstellungen Ahabs erscheint der Kapitän hier jugendlich; seine Gestalt gleicht denen in SuperheldenComics, und das Segel seines Schiffs breitet sich in seinem Rücken aus wie eine Superman-Mantille. Erzählt wird vom finalen Kampf Ahabs mit dem Wal, Ahabs unter heroischen Umständen erfolgendem Tod, von dem Untergang der »Pequod« und dem alleinigen Überleben Ishmaels. An die Bilderzählung schließt sich ein 15 Seiten umfassender kommentierender Textteil (mit Illustrationen aus der Bilderzählung und aus anderen Quellen) an. Beispiel 2: Will Eisner: Moby Dick von Herman Melville.15 Will Eisner erzählt die Geschichte Moby Dicks als Abenteuergeschichte für jugendliche Leser nach. So würdigt die erste Seite die Tapferkeit der Walfänger, und ein Vorbericht gilt dem Walfang als Bewährungsprobe (S. 3). Die Darstellung von Ahabs Wahn dominiert Eisners Geschichte. Mit den Turbulenzen um den Kapitän kontrastieren die Schlussbilder, auf denen vor geglättetem Meer Ishmael seine Geschichte erzählt (S. 32). Die relative starke Akzentuierung des Erzählvorgangs – Ishmael tritt vorne und hinten auf und bleibt auch Ich-Erzähler – korrespondiert Eisners Interesse am Erzählvorgang als tertium comparationis von Literatur und Comic.
Abb. 114: Eisners Ahab (Moby Dick, S. 24).
15
Herman Melville, Moby Dick. Adapted by Will Eisner, New York 2001.
Große Texte und Themen B: Heldentum und Helden-Comic
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Ahab weist die auch aus anderen Visualisierungen vertraute Wahnsinns-Physiognomie auf: Gefletschte Zähne, eine stark betonte Augen- und Brauenpartie, ein vielfach asymmetrisch verzogenes Gesicht, sichtbare Zähne, rollende Augen rücken ihn in die Verwandtschaft des auch physiognomisch wild gewordenen Mr Hyde (vgl. S. 13). Grotesk und finster erinnert er an typische Schurken. Und wenn Eisner ihn vor tiefdunklem Hintergrund operieren lässt oder ihn selbst als schwarzen Schatten mit Harpune vor schwarzem Segel platziert, wenn sich schließlich die Bilder mit dem wie wahnsinnig auf seine Harpune starrenden Kapitän mehrmals wiederholen, dann liegt in der Verwendung dieses schlichten zeichnerischen Mittels ein Stück Auslegung der Figur. Eisner erzählt die Fabel des Romans in einer Weise nach, die an Jugendbücher erinnert und in seinen Büchern über die Techniken des Comic-Zeichnens beschrieben worden ist. Seine Figuren sind ›Comic‹-artig (humoristisch-grotesk), seine Darstellung der Wale nicht ohne Sympathie.
und körperlichen Merkmalen ausgestattet, auch dabei natürlich entambiguisiert und auf leichte Verständlichkeit reduziert. Beide Verwandlungen Ahabs, die zum (Super-)Helden wie die zum (Super-)Bösewicht, sind semantische Reduktionen auf das Format eines prämodernen Helden. Damit verbunden ist jeweils nicht nur eine (schon dem Medium Comic geschuldete) Verkürzung, sondern auch eine Vereindeutigung der erzählten Handlung. Gleichwohl wäre eine pauschale Aburteilung verfehlt. Wenn aus komplexen Romanfiguren holzschnittartige Abenteurergestalten werden, aus einer quasi-mythischen Fabel über den Menschen und die entgötterte Welt eine spannende Geschichte über Seeleute, dann ist vielmehr zu fragen, woher dieses Bedürfnis nach Entambiguisierung rührt. Helden- und Schurken-Comics richten sich an einen spezifischen Adressatenkreis, oft an Kinder und Jugendliche. Aber nicht nur diese wollen offenbar mit eindeutigeren Heldenund Schurkenbildern bedient werden. Mythen dienen – einer spezifischen mythentheoretischen Grundthese zufolge – dazu, die an sich komplexe und unüberschaubare Welt überschaubar(er) und erzählbar(er) zu machen. Das in Melvilles Roman liegende mythische Potential konkretisiert sich vielleicht unter anderem darin, dass die Geschichte Ahabs dazu einlädt, gegen alle historische Erfahrung noch einmal von einer Welt zu erzählen, in der es klare Gegensätze und verbindliche Leitdifferenzen des Denkens und Handelns gibt.
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Der Comic und die Weltliteratur
Ahab, schauerromantisch Wenn Dino Battaglia Moby Dick16 als Geschichte eines schauerliterarischen Schurken erzählt, so entspricht diese einem seiner prägenden Interessen an literarischen Vorlagen für Bildgeschichten. Die Spannung von Hell und Dunkel als Thema der Erzählungen wird zum Kompositionsprinzip seiner von Kontrastierungen geprägten Bildgeschichten. Auch in Battaglias Version von Moby Dick ist die Farbensymbolik prägend – explizit die der Farbe Weiß als der des Wals. Ahab wäre als Gegenspieler des Wals durch das Schwarz repräsentiert; entsprechend ›finster‹ ist er auch. Die erste Doppelseite des großformatigen Buchs ist eine Komposition aus Figuren und Motiven aus der danach erzählten Geschichte: Starbuck, Stubb und Flask, die Steuerleute; Queequeg; ein ruderndes und ein vom Wal in die Luft geschleudertes Boot; die »Pequod«, Möwen, Moby Dick – und Ahab. Dessen Kopf ist so groß ins Bild einkomponiert, dass die übrigen Bildmotive wie Illustrationen dessen wirken, was in Ahabs Kopf vorgeht, zumal die Überblendung ihrer Konturen mit denen des Ahab-Kopfes zu Modifikationen der zeichnerischen Darstellung führt. Für die suggerierte Deutung der Szene als Darstellung der Imaginationen (oder Obsessionen) Ahabs spricht auch die Komposition als solche, die keine bestimmte Szene darstellt. Mit diesem doppelseitigen Bild ist also bereits eine Interpretation der Geschichte verbunden. Ahabs (Wahn-)Vorstellungen rücken ins thematische Zentrum. Ahabs Gesicht wirkt finster – und asymmetrisch. Suggeriert wird durch diesen physiognomischen Kunstgriff, dass er mit sich selbst nicht im Gleichgewicht, dass er ein innerlich zerrissener Charakter ist. Die Gefährlichkeit Ahabs wird vor allem durch eine mehrfach variierte Darstellung seines Gesichts und eines auf den Betrachter weisenden Fingers unterstrichen: Er ähnelt hier physiognomisch und gestisch dem Bild des ›Uncle Sam‹, mit dem die USA seit dem frühen 20. Jahrhundert für die U.S. Army werben. Implizit überblendet Battaglia also das Bild des ›amerikanischen‹ Helden Ahab mit einer allegorischen Repräsentation des amerikanischen Militärs; der wahnsinnige Kapitän wie die Army erscheinen gleichermaßen als Rattenfänger, die den Einzelnen zunächst hypnotisieren und dann die ihnen unterstehenden Mannschafen in den Abgrund ziehen. (›Uncle Sam‹ ist seit den 1960er Jahren eine Anti-Ikone der Friedensbewegung und der Gegner des US-Imperialismus; das Bildzitat eröffnet insofern einen weiten Assoziationsraum.)
16
Dino Battaglia, Moby Dick, Florenz, Genua 1997.
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Abb. 115: Die erste Doppelseite aus Battaglias Moby Dick (unpag.).
Battaglia hat keinen Sinn für ›Helden‹, wie er selbst sagt.17 Stattdessen interessiert ihn die Geschichte als die des Kampfs zwischen antagonistischen Instanzen – zwischen Schwarz und Weiß, zwischen harten Kontrastierungen und fließenden Übergängen. Ahab (»Achab«) wird als finsterer und jähzorniger alter Mann porträtiert, dessen schwarzer Anzug und schwarzer Hut ihn als eine Personifikation des Schattenhaft-Finsteren erscheinen lassen. Das weiße künstliche Bein unterstreicht diesen Eindruck nur. Und so gestaltet sich die Geschichte bei Battaglia als symbolträchtiger Kampf von Schwarz gegen Weiß. Hierzu gehören auch die teilweise ausführlich gestalteten Sze17
Vgl. Michel Jans/Mariadelaide Cuozzo/Pierre-Yves Lador et al., Battaglia. Une Monographie, St Egrève 2006, hier insbes. S. 11–31: Entretien avec Dino Battaglia. Hier spricht Battaglia über sich selbst zum Stichwort: »Le héro en bande dessinée« (S. 20): »Je n’en pas créé. À cause sans doute de cette étrange vocation contrariée d’illustrateur et de mon incapacité à créer des personnages. Cela m’énnuierait de créer un personnage, parce qu’un héros, il faut le prendre au sérieux et je ne réussirais jamais à le faire. J’ai toujours éprouvé plus de sympathie pour les personnages secondaires, le vrai héros courageux et tout d’un bloc, je ne l’ai jamais vraiment senti et je n’ai pas voulu l’approfondir. À cela s’ajoute la difficulté de le reproduire toujours à l’identique, de lui donner les caractéristiques du héros. Si je le faisais, il ne serait pas tellement sympathique […].«
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Der Comic und die Weltliteratur
nen, in denen die Besatzungsmitglieder in die Sphäre des Meeres eintauchen, schwimmend, Wale jagend, tauchend – Szenen, auf deren Gestaltung Battaglia viel zeichnerische Sorgfalt verwendet, weil sie Anlass geben, mit verschiedenen Spielformen der Auseinandersetzung zwischen seinen beiden Farben zu experimentieren. Dem Erzählungsteil ist ein Anhang beigefügt, in dem die Geschichte der Visualisierungen des Romans (in Film und Comics) skizziert wird.18 Dieser Anhang ist – über seine inhaltlichen Informationen hinaus – aus mindestens zwei Gründen interessant: Erstens demonstrieren seine Bildbeispiele exemplarisch, dass es eine ikonologische Tradition der Moby-Dick-Illustrationen gibt, in die sich auch die gezeichnete Version Battaglias einreiht, auf eine so eigenständige Weise allerdings, dass durch den Vergleich mit den Vorgängern der spezifische Stil Battaglias anschaulich wird. Und zweitens tritt in diesem Band die Information über die Mediengeschichte Moby Dicks an die Stelle, die in den Classics Illustrated die Informationen über Herman Melville, seinen Roman und die Geschichte des Walfangs einnahm: Die Geschichte Ahabs und des Wals wird als ein Stück Mediengeschichte erzählt.
Ahab als Beobachter Der eingangs skizzierte moderne, faustisch-prometheische Typus des Helden existiert in diversen ambivalenten, eben darum aber faszinierenden Spielformen. Es gibt zeichnerische Interpretationen Ahabs, die diesem Typus korrespondieren. Als vierten Titel einer neuen Serie der Classics Illustrated hat Bill Sienkiewicz Moby Dick nacherzählt.19 Seine Fassung ist zeichnerisch ambitionierter als der CI-Moby Dick von Kanter und Zansky und die ältere Fassung von 1942.20 Er setzt weit mehr auf die Mittel des Graphikers als auf
18 19
20
Vgl. Chendi, »Moby Dick ›multimediale‹«, S. 42–45. Herman Melville, Moby Dick. Adapted by Bill Sienkiewicz. Text: Bill Sinkiewiecz und Dan Chichester, New York 1990 (Classics Illustrated 4). Anders als deren Band (der damit dem alten CI-Konzept folgt), enthält der von Sienkiewicz nur wenig an erklärendem Begleittext und Kommentar. Auf einer guten halben Seite erfährt der Leser einleitend etwas über Melville, seinen Roman und dessen Rezeptionsgeschichte; die Vielschichtigkeit des Romans und seiner Figuren kommt dabei zur Sprache; Raum für Analysen der Figuren ist aber nicht. Nach dem Ende der Bildgeschichte bietet eine weitere paratextuelle Seite biographische Informationen zu Melville sowie (knapper) zum Zeichner Bill Sienkiewicz und zum Szenaristen D. G. Chichester.
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textuelle Informationen.21 Der Stil des Zeichners und Aquarellisten ist gegenüber konventionellen Comics stärker ausdifferenziert und orientiert sich abwechselnd an unterschiedlichen Bildsprachen: an der des Films, der Photographie und der realistischen, wenn auch pointierenden Zeichnung. Helldunkel-Kontraste spielen eine prägende Rolle. Die Bildseiten sind raffiniert und abwechslungsreich komponiert; die Panel-Größen variieren; anstelle einer Sequenz von etwa gleichgroßen Einzelbildern finden sich oft ganzseitige Kompositionen, bei denen in ein Hauptbild kleinere einmontiert sind, oder solche, bei denen sich Kontrasteffekte aus differenten Darstellungsstilen ergeben. Die Szenerie erinnert vielfach an die von Grusel- oder Horrorfilmen; die Ausdruckskraft von Physiognomien wird durch Schattenwürfe gesteigert, fratzenartige Gesichter tauchen aus der Düsternis auf, dramatische Himmels- und Meeresdarstellungen verweisen auf eine wilde, unbeherrschbare Natur. Die Verwendung von Rahmenstrukturen ist eine Strategie des bildkünstlerischen Selbstverweises, und sie wird hier unter anderem dazu genutzt, regelrechte Bilder im Bild darzustellen, so die Schilder mehrerer Wirtshäuser und das Walfang-Gemälde aus der ›Spouter Inn‹. Aber auch andere Bild-Medien werden ins Bild gesetzt: Seekarten (auf dem Umschlag), Queequegs tätowiertes Gesicht, Götzen-Bilder etc. Ahab wird vor allem als jemand vorgestellt, der sieht (etwa indem er in die Ferne schaut und Ausschau nach etwas bislang Ungesehenem hält); das Sehen wird also zum Sinnbild für die Jagd auf den weißen Wal. Auf dem Cover des Bandes ist ein düster-mysteriöser Ahab abgebildet, der seine Harpune umklammert und aus dessen rechtem Auge eine gepunktete Linie in mehreren Bogenlinien bis zu einem Punkt auf der Seekarte im Hintergrund führt, wo mit einem Kreuz mutmaßlich der Standort des Wals markiert ist. Das Sehen erscheint, durch die Linie verbildlicht, als Inbegriff der Jagd – die Jagd zum Sinnbild des Sehens – und das heißt der Weltbemächtigung. Ahabs erstem Auftritt in der Geschichte ist bei Sienkiewicz eine ganze Seite gewidmet: Wir sehen einen hochaufgerichteten Kapitän beim Blick durchs Fernrohr. Sehen und Nichtsehen werden auch durch die verschwommenen, konturenarmen Bilder und die vielen Schatten thematisiert. Wir sehen eine fragmentierte und partikularisierte Welt, bestehend aus wie zerschnitten wirkenden Bildstreifen, die einander oft überlagern, so dass die Suggestion entsteht, ein Bild verdecke andere. Auch die Gestalten der Geschichte sind keine ganzheitlich wirkenden Erscheinungen. Wichtige Figu21
Zu diesem Primat des Visuellen über das Verbale passt es, dass auf dem Umschlag nur der Zeichner, nicht der Szenarist erwähnt wird.
354
Der Comic und die Weltliteratur
Abb. 116: Das Gemälde in der ›Spouter Inn‹ (Sienkiewicz, Moby Dick, unpag.).
Große Texte und Themen B: Heldentum und Helden-Comic
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ren (und ein Wal) werden als Bild-Collage vorgestellt.22 Der Zeichner inszeniert Abenteuer des Blicks, der hin und her gerissen wird und nichts wirklich ›begreift‹ – wozu die dunklen Farben und die Konturlosigkeit vieler Erscheinungen zusätzlich beitragen. Ahab sehen wir vor allem beim (verzweifelten) Versuch, eine panoramatische Übersicht zu gewinnen. Sienkiewicz porträtiert ihn, wie er Seekarten studiert und mit einem ›invisible pencil‹ Routen festlegt. Auf der entsprechenden Seite deutet ein aus Ahabs Kopf hervorgehender heller Strahl an, dass er und der Wal eine Einheit bilden (also Komplementärfiguren sind). Ahab vermag keine klaren Grenzen zu ziehen, mit denen die Welt zu kartieren wäre – nicht einmal zwischen sich und seinem Feind. Der eigentliche Kampf wird durch chaotische Strudel und Wirbel dargestellt, aus dem sich nur teilweise und dann bruchstückhaft Figuren und Schiffstrümmer abheben: Die Figuren sind entpersonalisiert, zu einem Stück tosender Materie geworden. Hier wird die Gewalt der Naturkräfte sinnfällig gemacht, die jeder Anstrengung des Menschen trotzen, und sei sie noch so heroisch – ganz im Sinne des Melville’schen Romans und stilistisch in einer an die Gemälde William Turners erinnernden Weise. Diese Verbindung zu Turner ist wohl bewusst hergestellt, wiederum abgestimmt auf den Roman. Denn bei Melville ist anlässlich des Besuchs von Ishmael in der Walfängerkneipe von einem Gemälde die Rede, das im Stil Turners gemalt sein muss und eine Walfangszene darstellt. Sienkiewicz hat dieses Detail in seiner Erzählung untergebracht; er zeichnet das Gemälde in sein Panel – als Bild im Bild.23
22
23
Mit Rahmen und Rahmungen wird variantenreich gearbeitet. Oft sind die Rahmen ornamental gestaltet; manchmal werden dargestellte Bildmotive zu Rahmen. Queequegs Sarg etwa erscheint als Rahmen. Teilweise werden als Rahmung Streifen mit Zacken verwendet, die an Zahnreihen erinnern, teilweise rahmen erkennbar stilisierte Zahnreihen die Figuren ein. (Wenn Kapitän Ahabs Porträt von einer Kette heller Zacken umgeben erscheint, so könnte dies eine Anspielung auf Ahabs weißes Mal sein; Ahab befindet sich hier zugleich vor einem offenen ›Maul‹, als ein neuer Jonas, den der Wal verschlingen wird.) Durch diese Bildmontagetechnik erscheint es schwierig, gegenüber den dargestellten Dingen und Personen eine klare Perspektive einzunehmen. Sinkiewiecz’ Interesse am bildlichen Darstellungsverfahren als solchem wird schon daran ablesbar, dass eine kleine Darstellung des – von Melville erfundenen, von Turners Bildern aber wohl inspirierten Gemäldes im »Spouter Inn« in die Bildgeschichte eingewoben ist. Dieses Bild im Bild ruft Melvilles ins dritte Romankapitel integrierte Bildbeschreibung und die mit dieser verbundene Thematik der Wahrnehmung in Erinnerung. Die dunklen, oft konturenarmen bzw. mit Konturierungen spielenden Bilder von Sienkiewicz können selbst in der Nachfolge Turners gesehen werden.
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Der Comic und die Weltliteratur
Abb. 117: Ahabs erster Auftritt bei Sienkiewicz (Moby Dick, unpag.).
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Sienkiewicz bietet eine stark pointierte Auslegung des Romans, die auf die Vielschichtigkeit des Melville’schen Textes mit einer entsprechenden Bildsprache reagiert. Wie bei Melville steht bei ihm Ahab im Zentrum: als Vertreter einer Menschheit, die es auf die Unterwerfung der Natur anlegt, dabei aber tatsächlich gegen Obsessionen kämpft, deren Ort die menschliche Seele selbst ist.
Moby Dick, parodistisch In Frank Schmolkes nur 16 Seiten umfassendem Bändchen Die Schuld von Moby Dick24 wird nicht primär die Fabel des Melville-Romans nacherzählt, sondern dargestellt, wie eine Gruppe von Kindern die Moby-Dick-Geschichte nachspielt – mit zweifelhaftem Erfolg. Auf humoristische Weise geht es um gespieltes und dabei falsches Heldentum; die Figuren in ihren Doppelrollen als Schulkinder und Helden erscheinen in komischem Licht. Als Erzähler tritt ein Junge auf, der sich ›Scarface‹ nennt, nachdem er sich bei seinem Moby-Dick-Abenteuer eine Narbe zugezogen hat. Die Handlung ist simpel: Einige Kinder sehen sich gemeinsam im Fernsehen eine Moby-DickVerfilmung an, und in ihrer Begeisterung über die spannende und ›gruselige‹ Handlung entschließen sie sich, »Moby Dick (zu) spielen«. Man teilt die Rollen der Heldenfiguren unter sich auf. Auf einen kleinen dicken Jungen fällt, sehr zu dessen Missfallen, die Rolle des Moby Dick. Dem Spott der anderen preisgegeben, muss er als ›Wal‹ in der Badewanne Platz nehmen, während sich die anderen abenteuerliche Kostüme und Ausrüstungsgegenstände beschaffen. Ab jetzt wird das Spiel der Kinder zeichnerisch durch die Darstellung der Waljagd im Moby-Dick-Roman wiedergegeben; wir sehen nicht die Kinder, sondern den Ozean, das Schiff, Kapitän Ahab und seine Mannschaft – die schließlich auf den Wal treffen; wir sehen den entscheidenden Kampf, bei dem der Wal – wie in Melvilles Roman – schließlich das Boot der Walfänger in die Luft schleudert. Nach neuerlichem Szenenwechsel wird deutlich, dass unter den spielenden Kindern ein ›dramatischer‹ Kampf stattgefunden hat: Für seine Mitspieler unerwartet, hat der dicke Junge in der Wal-Rolle die anderen verprügelt, und diese rennen schreiend heim. So entsteht ›Scarface‹, der sich ab jetzt in erlesenen Grausamkeiten übt: Er führt eine Bande an, die ihre Gegner auskitzelt … Ohne jede moralisch-didaktische Ambition wird das Spiel der kleinen selbsternannten Helden verulkt;
24
Frank Schmolke, Die Schuld von Moby Dick, o. O. [Wuppertal] 2000.
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Der Comic und die Weltliteratur
die meisten Kinder gehen, wenn es zu ›grausam‹ wird, lieber heim, um Kindersendungen anzusehen. Das ›heroische‹ Bild der Schlacht gegen den Wal, mit dem frühere Illustrationen, unter anderem die von Rockwell, zitiert werden, kontrastiert in gewollter Komik mit der anschließenden Darstellung des Badezimmers, in dem die ›Schlacht‹ der Schuljungen stattgefunden hat und sich der unfreiwillige Spieler des ›Moby Dick‹ nun gegen seine unbequeme Rolle auflehnt.
Kulturgeschichte des Leviathan Wie Melvilles Roman, in dem einleitend ein ›Unter-Unterbibliothekar‹ seine Lesefrüchte in Sachen Walkunde zusammenträgt, so wird auch der ComicBand Leviathan25 von Jens Harders von einer (hier kleineren) Kollektion von Zitaten über den Wal eingeleitet; es handelt sich teilweise um dieselben; dabei wird in verschiedenen Sprachen (Englisch, Deutsch, Französisch und Japanisch) zitiert. Auch an Kapitelanfängen und am Ende des Bandes finden sich mehrsprachige Zitatsammlungen. Abgesehen von diesem aus Zitaten bestehenden Text-Teil ist der Band völlig sprachlos. Die Sprachlosigkeit der Bilder verweist auf eine Welt, in der die Menschen nichts zu sagen haben. Das Buch gilt dem Wal, den Meeresbewohnern und dem Meer – diese, und nicht der Mensch, bestimmen das Geschehen. Harder zeichnet Szenen aus der (Kultur-)Geschichte des Umgangs mit Walen und der Vorstellungen über Wale wie über andere Seeungeheuer. Auch die Geschichte um Moby Dick ist integriert, aber nur die Beschriftung des Schiffsrumpfs der »Pequod« (als Schriftzug die absolute Ausnahme in dieser ansonsten sprachlosen Geschichte) und das punktuell auftauchende Holzbein Ahabs verdeutlichen diesen Bezug auf den Roman. Harder lässt auch die ›Titanic‹ als Folge einer Kollision mit einem Wal sinken. In der von seinem Band dargestellten Welt sind Menschen marginale Wesen; dem Wal gehört die Welt, der Wal macht Geschichte. Seine Geschichte ist zwar Kultur-Geschichte (denn es geht mit all dem darum, als was Menschen die Wale betrachtet, interpretiert und codiert haben), aber gerade dies lässt ihn als noch signifikanter erscheinen.
25
Jens Harder, Leviathan, Poitiers 2003.
Große Texte und Themen B: Heldentum und Helden-Comic
359
Abb. 118: Hobbes-Zitat bei Harder (Leviathan, S. 142 f.). Harder erinnert an diverse große Katastrophen auf See, die in seiner Darstellung als Wiederholungen eines und desselben Schemas erscheinen: Die Natur unterwirft sich den Menschen – sei es im Fall der Sintflut-Geschichte, sei es in der fabelhaften Geschichte über Missionare, die ein neues Territorium erobert zu haben glauben und dann entdecken müssen, dass sie sich auf einem riesenhaften Fisch befinden, sei es im Fall des Untergangs der »Titanic« und anderer Luxusdampfer, sei es im Fall der »Pequod«. Neben dem Wal sind es verschiedenste Seeungeheuer und Monstren, welche die Welt bewohnen und, wie es scheint, beherrschen. Ihre Zusammenstellung signalisiert, dass es neben der vermeintlich so wichtigen Geschichte der Menschheit immer eine Neben- und Gegengeschichte gegeben hat: die der Wasserwelt. Für menschliches Heldentum ist erwartungsgemäß bei Harder kein Platz: kein hervorragender Einzelner, der den Lauf der Dinge eindrucksvoll zu wenden wüsste. Der Mensch handelt nicht – die Dinge, die Katastrophen stoßen ihm zu. Im Übrigen erinnert ein Bildzitat des Hobbes’schen Leviathan – unter anderem eine Anspielung auf die semantische Verknüpfung zwischen biblischem Monstrum und staatspolitischem Gleichnis bei Melville – daran, dass die gesellschaftlich-zivilisatorische Welt eine Welt des Kampfes aller gegen alle ist und dass der zur Erhaltung der Menschheit notwendige Friede eine vom ›Leviathan‹-Staat notwendig vorzunehmende Einschränkung des individuellen egoistischen Willens zu Selbstverwirklichung und Herrschaft ist.
360
3.4
Der Comic und die Weltliteratur
Heldenbilder: Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen
Anlässlich des Themas Helden kann bezogen auf die zeitgenössische, von Zitaten, Wiederholungen und Variationen geprägte Kultur wohl von einer Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen gesprochen werden: Auch prämoderne Heldentypen gehören zur medial gestalteten, in Bilder gefassten Alltagswelt; sie stehen neben modernen Helden und Antihelden – ideologisch vermittlungslos, aber aus denselben Geschichten heraus entwickelt. Daneben stehen Bilder einer heldenlosen Welt, Bilder vom ›Leviathan‹, der als notwendiger und oft gewaltsamer Zusammenschluss der Einzelnen zu einem Ganzen auf seine Weise monströs ist. Unsere Kollektion von MobyDick-Comics bietet einen wohl repräsentativen Querschnitt durch die Geschichte von Helden-Bildern, deren jedes dabei die zitierende, bestätigende oder verfremdende, erweiternde, modifizierende oder dekonstruierende Auseinandersetzung mit früheren Bildern ist. Auch Helden wie der gottähnliche und zugleich dämonische Ahab sind intertextuelle und intermediale Konstruktionen. Die Zeichner machen (auch) dies sichtbar.
Große Texte und Themen C: Wahlverwandtschaften
4.
361
Große Texte und Themen C: Wahlverwandtschaften: Dino Battaglia, Edgar Allan Poe und E.T.A. Hoffmann
Dino Battaglia hat eine ganze Reihe von zeichnerischen Versionen zu Werken der Weltliteratur geschaffen.1 Er ist für die Anerkennung des Comics als Kunstform (und zwar nicht als ›Kleinkunst‹!) eingetreten.2 Seine besondere Vorliebe gilt der Literatur des 19. Jahrhunderts, insbesondere Texten aus dem Umkreis der Schauerliteratur.3
4.1
Battaglias schauerromantische Sujets
Hoffmann sei sein Lieblingsautor, so Battaglia über sich selbst.4 Ein anderer Lieblingsautor ist E. A. Poe. Beide haben ihn zu zeichnerischen Paraphrasen angeregt.5 Battaglias stark auf Schwarz-weiß-Kontraste einerseits, Schatten und Grauwerte andererseits setzender Zeichenstil dokumentiert die künstle1 2
3
4
5
Vgl. Jans et al., Battaglia, hier insbes. S. 11–33: »Entretien avec Dino Battaglia«) »La bande dessinée est venue combler un vide et elle est en train d’acquérir une place dans l’art. Mais je ne voudrais pas qu’elle soit cataloguée comme art pauvre, même si certains la considèrent ainsi et pensent que ce serait un premier pas vers l’Art avec un grand A. Il se pourrait qu’elle soit déjà un art et je le dis en toute sérénité, d’autres l’ont déjà dit avant moi et je partage leur sentiment.« (Ebd., S. 18). »Le dix-neuvième siècle est l’époque qui me fascine le plus; c’est celle que je connais le mieux à travers mes lectures et c’est la période que j’arrive le mieux à imaginer. L’epoque actuelle m’interesse moins […]« (Ebd., S. 25 f.). Ebd., S. 16. – »Parmi tous les auteurs que j’ai adaptés jusqu’à présent celui que je préfère c’est Hoffmann même si c’est le plus difficile à mettre en images. Les éditions Einaudi ont publié tous ses romans et nouvelles en trois gros volumes et je ne me lasse pas de les feuilleter. C’est quelqu’un qui a tout inventé. On ne peut aller plus loin. Par admiration, je tente encore et toujours de retracer à la plume, ses visions, son imaginaire, ses cauchemars, sa vie au contact de la mort ou d’une autre vie … J’essaye de reprendre de façon figurative les thèmes d’Hoffmann en tantant d’en être le plus proche possible mais aussi avec un certain recul. Je ne veux pas me laisser prendre et avaler car cela pourrait être dangereux …« (Ebd., S. 18 f.). E.T.A. Hoffmann: Das öde Haus. Gezeichnet von Dino Battaglia, o.O. 1990. – [Dino] Battaglia: Contes et récits fantastiques, Bd. 3: Edgar A. Poe, Histoires, SaintEgrève 2005.
362
Der Comic und die Weltliteratur
rische Intention, stilistische Pendants zu den phantastischen Erzählungen zu schaffen, bei denen im übertragenen Sinn ebenfalls Hell-dunkel-Kontraste sowie Unbestimmtheiten, Ambivalenzen und Verdunklungen prägend sind – auf inhaltlicher wie auf stilistischer Ebene. Battaglias Literatur-Comics sind untereinander durch ihren einheitlichen Stil verbunden. Der Zeichner wählt seine Stoffe so aus, dass sie diesem gut assimilierbar sind. Seine Bildgeschichten machen zudem aber deutlich, in welchem Maße die Nacherzählung eines Textes durch eine Bildgeschichte durch einen spezifischen individuellen Zeichenstil dominiert sein kann.
4.2
Stilistische Strategien
Stilbildend ist allerdings schon die Favorisierung bestimmter literarischer Vorlagen; daher zunächst eine Bemerkung zu E. A. Poes Erzählungen, denen für Battaglia eine besondere Bedeutung zukommt: Viele von ihnen, insbesondere die, die Battaglia zeichnerisch paraphrasiert hat, laufen auf einen Kulminationspunkt des Grauens zu – und enden dort. So erfährt der Leser der Erzählung The Fall of the House of Usher am Ende, dass die tote Madeline Usher aus dem Grab zurückkehrt und das Haus der Ushers in Trümmer stürzt – die Handlung geht danach nicht mehr weiter. Ligeia, die Geschichte einer rätselhaften Frau, die sich okkulten Studien hingab, um den Tod zu überwinden, endet damit, dass die zuvor Verstorbene im Leichnam einer anderen Frau wiederaufersteht. Ihr Erscheinen ist Schlusspunkt der Geschichte. The Masque of the Red Death berichtet von einer glanzvollen Gesellschaft, die dem Roten Tod zu entgehen sucht – am Ende steht das Erscheinen des Roten Todes, dem alle anheimfallen. Battaglia verwendet viel Sorgfalt auf die zeichnerischen Inszenierungen dieser Geschichten, auch wenn es natürlich Dimensionen des Textes gibt, die sich einer zeichnerischen Umsetzung entziehen – wie insbesondere die für Poes Werke typische Instanz eines unzuverlässigen Erzählers. Um gleichwohl die Perspektivik und Subjektivität aller Wahrnehmung und Darstellung zu betonen, wählt Battaglia zeichnerische Mittel: verschwimmende Konturen, Übergänge und Überblendungen, Rahmendurchbrüche und Kippbilder. Schwarz wird weiß; Totes wird lebendig; Szenen und Figuren verlieren ihre Umrisse: So lässt sich graphisch eine ambige, undurchschaubare, dem Begreifen und dem Begriff entzogene Welt entwerfen, die der Poe’schen zumindest analog ist.
Große Texte und Themen C: Wahlverwandtschaften
363
Abb. 119: Schatten als Leitmotiv in Battaglias Hoffmann-Adaptationen (Olimpia, S. 24). Eine leitmotivische Rolle spielt in Battaglias Geschichten der Schatten. Oft reduzieren sich Figuren auf Schatten. Damit konnotiert ist ihre metaphorische ›Schattenhaftigkeit‹; die Ereignisse wirken wie ein Schattentheater an der Grenze zwischen Realem und Irrealem. Gern zitiert Battaglia die Bildarsenale der Schauerliteratur und die für schauerromantische Texte besonders signifikanten Motive:
364
Der Comic und die Weltliteratur
komplizierte und rätselhafte Architekturen und Interieurs, Fenster und Türen, die auf Geheimnisse hinzudeuten scheinen, Figuren mit markanten Gesichtszügen, phantomartige (gespenstische, dämonische) Gestalten, Gerippe, Leichen etc. Teilweise zitiert er die Bildsprache des auf ›schauerliterarischen‹ Fabeln basierenden Films, gelegentlich etwa die des expressionistischen Films (Murnaus Nosferatu). In seinen Comic-Paraphrasen zu den Hoffmann-Erzählungen Der Sandmann und Das öde Haus setzt Battaglia dieselben Mittel ein wie in den Poe-Paraphrasen: Kippbilder, Überblendungen, Dekonturierungen, Rahmendurchbrüche.6
Battaglias Hoffmann-Comics sind zwar koloriert, aber die Spannung zwischen schwarzen und hellen Linien und Flächen ist meist ausgeprägter als der Effekt bestimmter Farben.7 In Anknüpfung an die Gattung des malerischen ›Nachtstücks‹ (das ja den Texten Hoffmanns seinen Namen geliehen hat) arbeitet Battaglia mit starken Hell-dunkel-Kontrasten. Durch die Gegenüberstellung heller und dunkler Gestalten werden dramatische Spannungen erzeugt, Hell und Dunkel semantisiert. Semantisch aufgeladen sind auch die Grauwerte (Battaglia legt, wie er sagt, zunächst immer die Grauzonen fest). Diese Akzentuierung des »Übergänglichen« korrespondiert Thematik und Darstellungsstil von Hoffmann (und Poe).
4.3
Eingriffe in die stofflichen Vorlagen
Die Eingriffe des Zeichners in Hoffmanns Geschichten sind insgesamt erheblich und beginnen im Fall des Sandmanns schon beim Titel: Battaglias Comic heißt Olimpia. Bei Hoffmann gerät im Sandmann der Protagonist Nathanael bekanntlich unter den Einfluss des mysteriösen Coppelius/Coppola und des Automatenbauers Spalanzani, die ihn mit einer Puppenfrau verkuppeln wollen. Nathanael ist wegen seiner starken Imaginationskraft ein besonders geeignetes Opfer für eine solche Mystifikation, und nach dem Kauf eines optischen Geräts (eines Taschenperspektivs, das ihm Coppola aufgedrängt hat) verstärkt sich seine Neigung noch, die Dinge anders zu sehen als die verständigen Vertreter der Normalität. Alles erscheint ihm im Licht seiner Imaginationen, und so verliebt er sich in die Automatenfrau Olimpia, die ihm lebendig vorkommt. Als er anlässlich eines Streits zwischen Cop6
7
In den stark gekürzten Paraphrasen zu Hoffmanns beiden ›Nachtstücken‹ werden narrative Passagen teilweise in Denk- oder Sprechblasen umgeformt. Daneben gibt es eine Erzählerstimme, die für Kohärenz sorgt und manches erläutert. Zum »rapport entre le noir et le blanc« vgl. Jans et al., Battaglia, S. 22.
Große Texte und Themen C: Wahlverwandtschaften
365
Abb. 120: Wahnsinnsausbruch in Battaglias Sandmann-Adaptation (S. 13).
Nathanaels erster Wahnsinnsausbruch nach Olimpias Demontage ist bei Battaglia Kulminations- und zugleich Schlusspunkt. Durch das bei Hoffmann gar nicht auftauchende Motiv eines Narrenumzugs wird dieser Ausbruch vorbereitet; die Bildgeschichte konzentriert sich auf die Beziehung Nathanaels zu Olimpia, deren Zerstörung und Nathanaels Wahnsinn.
366
Der Comic und die Weltliteratur
pola und Spalanzani zum Zeugen von Olimpias Zerstörung wird, fällt er in Wahnsinn. Bei Hoffmann erholt er sich zunächst wieder und kehrt an die Seite seiner verständigen Verlobten Clara zurück; Battaglia hingegen erzählt nach der Wahnsinnsepisode nicht weiter. Clara fällt bei Hoffmann die Rolle zu, Nathanaels Verstörung als Folge phantastischer Überspanntheit und psychischer Labilität zu interpretieren. Nathanael, der zu seinem eigenen Schicksal wechselnde Positionen bezieht, scheint den Alptraum um Coppola und Olimpia hinter sich lassen zu wollen. Erst als er nach neuerlichem Gebrauch des magischen Fernrohrs nunmehr Clara als leblose Puppe zu sehen meint und erneut einen Wahnsinnsanfall erleidet, stürzt er sich zu Tode. Insgesamt ist die aus wechselnden ErzählPerspektiven berichtete Geschichte Hoffmanns eine Geschichte über die Perspektivik der Selbst- und Welt-Wahrnehmung. Battaglias Bildregie ist damit durchaus kompatibel. Aber explizite Alternativ-Interpretationen der Ereignisse, wie bei Hoffmann, werden nicht gegeben. Es ist allein die Bildregie, welche eine Fragmentierung und Brechung der erzählten Geschichte bewirkt.
4.4
Grenzüberschreitungen
Battaglia interessiert sich für die Geschichte Nathanaels als für die Geschichte eines Identitätsverlusts, eines Zusammenbrechens von Begriffen, Ordnungen und Konturen. Battaglia erzählt Hoffmanns Sandmann so, wie er das Erzählen von Poe gelernt hat – als ein Zuhalten auf einen hochdramatischen Endpunkt, der durch keinen Nachtrag, keinen Ausklang, keine erzählerische Reflexion mehr relativiert wird. Er macht aus der HoffmannGeschichte eine Poe-Geschichte, in der zuletzt Verfall, Dekonturierung, Wahnsinn und Tod offenkundig und dramatisch alles besiegen. Analoges gilt für Battaglias Version von Hoffmanns Erzählung Das öde Haus. Hier gerät wiederum der Protagonist (Theodor) unter den rätselhaften Einfluss einer fremden Gewalt; das Objekt seines Begehrens ist wiederum eine mittels magisch wirkender Sehhilfen beobachtete Frau.8 Wiederum schreibt Battaglia die Ausgangsgeschichte um, vor allem indem er sie radikal komprimiert und vorzeitig beendet. Als Höhe- und Endpunkt arrangiert er ein Treffen zwischen dem Helden und der mysteriösen Frau, welches bei 8
Der Sandmann und Das öde Haus sind Geschichten über das Sehen – was zweifellos einiges von ihrem Reiz für den Zeichner Battaglia ausmacht. Im öden Haus bedient sich der Held eines Taschenspiegels, um ›anders‹ zu sehen als die anderen.
Große Texte und Themen C: Wahlverwandtschaften
367
Hoffmann in dieser Form nicht stattfindet. Dort dringt Theodor zwar einmal in das von dieser bewohnte ›öde Haus‹ ein und erhält einen kurzen Eindruck von dessen wahnsinniger Bewohnerin, wird dann aber von deren Bewacher schnell und energisch hinausgedrängt – und gerettet, wie dieser ihm andeutet. Im Folgenden beschäftigt der Gerettete sich dann weiter mit der eigenen psychischen Affektion und erfährt nachträglich die lange Vorgeschichte der Frau im öden Haus. Er übersteht die mysteriösen Ereignisse lebendig, wenn auch psychisch stark irritiert. In Battaglias Comic fehlt der spätere Teil der Erzählung ganz; ausgeblendet werden wiederum mögliche Erklärungen und alternative Perspektivierungen der Zusammenhänge, vor allem die magnetistische Kur des Protagonisten. Wie in der Olimpia-Erzählung Battaglias endet die Geschichte damit, dass der vor Liebe verblendete Held erkennt, wen bzw. was er da begehrt hat, und darüber zugrunde geht: Die irre Frau im öden Haus enthüllt ihr wahres (sprich: abscheuliches) Wesen. Wieder arrangiert Battaglia auf der Basis der Hoffmann-Geschichte ein Ende à la Poe: einen Kulminationspunkt des Grauens, auf das nichts Relativierendes mehr folgt. Der Leser muss annehmen, dass der Held in diesem Moment zugrunde geht. Trotz der Freiheiten, die sich Battaglia im Umgang mit den jeweiligen literarischen Plots nimmt, bemüht er sich – wie angedeutet – um visuelle Pendants zur Thematik und Stimmungslage seiner Textvorlagen.9 So zeichnet er wiederholt Figuren, deren Konturen sich auflösen oder durch Vervielfachung und Überlagerung verschwimmen. Damit visualisiert er Prozesse der inneren ›Auflösung‹, des Identitätsverlusts, der Desorientierung. Abgestimmt auf Hoffmanns Texte werden Sehvorgänge einfallsreich ins Bild gesetzt. Der Blick der Figuren wird wiederholt zum Zentralmotiv der Seiten, sei es, dass sich ›gespenstische‹ Erscheinungen auf ihre Augen reduzieren, sei es, dass einzelne Figuren oder ganze Figurengruppen in eine Richtung starren. Auffällig ist unter anderem, dass die Einzelbilder teilweise durch Linien gerahmt sind, teilweise keinen Rahmen besitzen. Damit werden Rahmungen und Rahmendurchbrüche implizit semantisiert. Die Brillenketten, die der Händler in Olimpia vor Nathanael ausbreitet, sind ›rahmenlos‹ und markieren so graphisch wie inhaltlich den Übergang in die Phase eines ›anderen Se-
9
Die von Battaglia gestalteten Seiten sind unterschiedlich strukturiert; er arbeitet mit unterschiedlich großen und abwechslungsreich arrangierten Einzelbildfeldern. Entsprechend hat die Komposition der jeweiligen Einzelseite Anteil an seiner Interpretation der Figuren und seiner Version der Geschichte.
368
Der Comic und die Weltliteratur
Abb. 121: Brillenketten in Battaglias Sandmann (S. 7).
hens‹.10 Nathanaels Wahnsinnsausbruch ist auf einer Seite ohne jeden Rahmen dargestellt. Auch der verrückte Hausverwalter im Öden Haus tanzt aus dem Rahmen. Die Darstellung der verrückten Frau im Öden Haus beruht auf gleich mehrfachen Entgrenzungen. Insgesamt verwendet Battaglia – ausgehend von konventionellen Abgrenzungen (zwischen Bild und Text, zwischen den Einzelbildern, zwischen Figuren und Hintergrund) – verschiedene Entgrenzungsstrategien: Bild wird Schrift/Schrift wird Bild, Figuren verlieren ihre Umrisse, Bilder verlieren ihre Abgrenzungen etc. Höhepunkte sind auch zeichnerisch die Wahnsinnsszenen; hier spielen Bild und Text ›verrückt‹. Metapher dieses Verrücktspielens ist der Tanz: Die Dinge geraten aus dem konventionellen ›Tritt‹, folgen einer anderen Form der Bewegung. Nicht zuletzt kommt es zu Ausbrüchen der Schrift ins Bildliche – und vice versa.
10
Das Prinzip des Rahmendurchbruchs als ›Entgrenzung‹ kann in Beziehung zu Hoffmanns Geschichten gesetzt werden. Die Protagonisten überschreiten Grenzen, fallen aus dem Rahmen der Normalität, verlieren ihren Halt im Rahmen des Vertrauten und Üblichen.
Große Texte und Themen D: Kulturübergreifende Totentänze
369
5.
Große Texte und Themen D: Kulturübergreifende Totentänze: B. Traven zwischen den Sprachräumen
5.1
Rätselgestalt zwischen Kontinenten und Kulturen: B. Traven
Als »Porträt eines berühmten Anonymen« charakterisiert der Zeichner und Szenarist Golo seine biographische Comic-Erzählung über B. Traven.1 Travens Werke sind durch eine transnationale Erzählerperspektive charakterisiert und nehmen auf eine historische Welt Bezug, in der nationale und kulturelle Grenzen kaum mehr Bedeutung haben – es sei denn, es gelte, sich ins politische Ausland abzusetzen. Der unter dem Namen B. Traven publizierende, international erfolgreiche Verfasser einer ganzen Reihe von sozialkritischen Abenteuerromanen hat seinen Biographen viele Rätsel aufgegeben. Schon zu seinem Geburtsort und -datum gibt es unterschiedliche, auf ihn selbst zurückgehende Angaben, darunter San Francisco 1882 (wo aufgrund einer Brandkatastrophe von 1906 viele amtliche Unterlagen zerstört und nicht mehr überprüfbar waren) und Chicago 1890 oder 1892. Der 1969 in Mexiko-Stadt verstorbene Autor schrieb auf Deutsch, lebte während seiner wichtigsten Schaffensperiode aber in Mexiko. Er selbst sorgte dafür, dass seine Identität ungeklärt blieb, entzog sich auch nach dem Berühmtwerden seiner Romane dem Blick der Öffentlichkeit und der Identifikation, unter anderem durch Verwendung diverser Pseudonyme wie Traven Torsvan oder Torsvan Croves. 1966 wurde die Hypothese aufgestellt, B. Traven sei identisch mit Ret Marut, der in den Jahren 1917 bis 1921 eine anarchistische Zeitschrift, Der Ziegelbrenner herausgegeben hatte. Vor seiner Münchner Zeit war Marut wohl an mehreren Bühnen als Schauspieler und in anderen Funktionen tätig gewesen, darunter in Düsseldorf. (Wenn sich Traven selbst auch nicht zu dieser Identität bekannte, bestätigte doch seine Witwe Rosa Elena Luján de Torsvan unmittelbar nach seinem Tod die Identität Travens mit Marut.) Während des Ersten Weltkriegs ließ Ret Marut seine Staatsangehörigkeit ändern. Hatte ihn seine rote Ausländermeldekarte bis dahin als Engländer ausgewiesen, so wurde diese Angabe auf sein Betrei-
1
Golo, B. Traven. Portrait d’un anonyme célèbre, Paris 2007.
370
Der Comic und die Weltliteratur
ben hin durch die Angabe des Geburtslandes Amerika ersetzt. ›Ret Marut‹ dürfte bereits ein Pseudonym gewesen sein; der Traven-Forscher Rolf Recknagel hat den Namen ›Marut‹ als den eines Sturmwesens aus der indo-arischen Literatur identifiziert. Da er in die politischen Unruhen der Münchner Räterepublik verwickelt war, drohte Marut 1919 die standrechtliche Erschießung, er floh jedoch, publizierte seine Zeitschrift zunächst von Köln aus weiter, war aber bald zur neuerlichen Flucht gezwungen. Ab 1923 sind seine Spuren in England auffindbar; einer Polizeiphotographie, die als ein frühes Porträt Travens identifiziert wurde, ist von der britischen Fremdenpolizei der Name ›Otto Feige‹ zugeordnet worden. Vermutlich wanderte Traven über England zunächst nach Kanada und 1924 dann nach Mittelamerika aus. Hier entstand das, was man seine ›mexikanische Identität‹ genannt hat und mit dem dort verwendeten Namen B[ernhard] T[raven] Torsvan zu verbinden pflegt. Seit seiner Ankunft in Tampico benutzte er diesen Namen und gab an, er sei Amerikaner skandinavischer Herkunft. Vor seinem literarischen Durchbruch verdiente er sich seinen Lebensunterhalt unter anderem als Baumwollpflücker, als Arbeiter in der Erdölproduktion und als Privatlehrer, erwarb 1951 als ›B.T. Torsvan‹ die mexikanische Staatsbürgerschaft und heiratete Rosa Elena Luján. In Mexiko entstanden seine ersten Romane. Traven lebte unter Indianern und veröffentlichte seit den mittleren 1920er Jahren im Verlag der Büchergilde Gutenberg. Seine wohl berühmtesten Werke sind Das Totenschiff und Der Schatz der Sierra Madre; nicht minder bedeutend, wenn auch weniger berühmt ist sein Caoba-Zyklus, der in sechs Teilen die sozial und wirtschaftlich erbärmliche Lage der indianischen Holzarbeiter in Mexiko und deren Aufstand gegen ihre Ausbeuter schildert. Neben Indianern sind Seeleute und Piraten, Gesetzlose und Abenteurer typische Traven-Figuren, gesellschaftliche Außenseiter, aus deren Blickwinkel er die durch soziale Ungerechtigkeit und Ausbeutung geprägten Verhältnisse schildert. So verbindet er das Genre des Abenteuerromans mit den Charakteristika einer konsequent proletarischen, kapitalismuskritischen Literatur mit konsequent anarchischen Grundzügen. Zentral ist das Thema Rebellion; die Opfer selbst begehren gegen ihre Unterdrückung auf, ohne sich dabei an Leitvorstellungen einer verbindlichen Moral zu orientieren. Neben dem Kapitalismus ist der Rassismus Gegenstand seiner in die Form spannender Romanhandlungen gekleideten Zeitkritik. Als Propagator der Rechte der indigenen Bevölkerung Lateinamerikas und als ein Romancier, der das europäische und amerikanische Publikum überhaupt erst auf rassistisch motivierte Formen der Unterdrückung aufmerksam machte, war Traven ein Vorläufer antirassistischer Bürgerrechtsbewegungen, wie sie sich um die Mitte des 20. Jahrhunderts formierten;
Große Texte und Themen D: Kulturübergreifende Totentänze
371
allerdings ist seinen Romanen auch attestiert worden, dass unterschwellig rassistische Denkweisen in sie selbst eingeflossen sind. B. Travens Geschichten erreichten ein breites Publikum, nicht zuletzt durch das Kino. Das Totenschiff von 1926 wurde 1959 verfilmt, Der Wobbly von 1926 schon 1928 unter dem Titel Die Baumwollpflücker, Der Schatz der Sierra Madre von 1927 dann 1948 durch John Huston; Humphrey Bogart spielte hier die Hauptrolle. Bei den Dreharbeiten war sein Literaturagent anwesend, nannte sich ›Hal Croves‹ und gab sich als in Chicago geborener Amerikaner mit schwedischen Vorfahren aus; auch hinter diesem Pseudonym hat man Traven selbst vermutet. Egon Erwin Kisch hat 1946 in Die Weltbühne Traven mit einem gewissen ›Fred Maruth‹ identifiziert. Biographische Recherchen haben insgesamt zur Bildung verschiedener Hypothesen über Herkunft und Geburtsland Travens geführt. Zwei Charakteristika der Traven’schen Romane und Erzählungen interessieren mit Blick auf sein Comic-Porträt durch Golo besonders: Erstens bilden die in seinen Werken auftretenden Figuren eine heterogene, aus Angehörigen verschiedenster Völker, Nationen und Kulturen zusammengewürfelte Gesellschaft, so etwa auf dem Totenschiff, wo man sich behelfsweise in einem simplen Englisch verständigt; gemeinsam ist den Figuren ihre Ortund Orientierungslosigkeit, ihr prekärer Status als ausgebeutete Recht- und Heimatlose – und die Situation des Exilanten, des Fremden, des Unterdrückten ohne Rückhalt. Und zweitens thematisiert Traven anlässlich seiner Schilderungen sozialer Unterdrückung und Gewalt die Allgegenwart des Todes im geschichtlichen Raum. Der Titel des Romans Das Totenschiff spielt auf ein Schiff an, dessen Besatzung wegen der Seeuntauglichkeit ihres Vehikels förmlich zum Tod verurteilt ist.
5.2
Die Geschichte des 20. Jahrhunderts im Spiegel eines Comic-Porträts
Das Traven-Porträt Golos verbindet die Darstellung der Geschichte des Autors und seines Werks mit der Darstellung weltgeschichtlicher Entwicklungen und Ereignisse. Wie Traven sich die Perspektive seiner proletarischen, am Rande der Gesellschaft stehenden Helden zu eigen macht, so macht Golo sich seinerseits Travens Perspektive zu eigen. Dass der Porträtierte differente Identitäten besaß – verbunden mit unterschiedlichen Behauptungen über nationale Herkunft und Muttersprache – deutet die erwähnte Doppelseite zu Beginn des Bandes an: Zusammengefügt sind hier zeichnerische Paraphrasen von Photos von B. Traven in verschiedenen Rollen und Lebens-
372
Der Comic und die Weltliteratur
abschnitten, darunter das englische Polizeiphoto ›Otto Feiges‹ und Humphrey Bogarts Verkörperung des Ich-Erzählers in Der Schatz der Sierra Madre. Golos biographisches Porträt gliedert sich in zwei klar voneinander geschiedene Teile. Im ersten Teil2 wird das Leben Ret Maruts nacherzählt; er endet mit dem Verschwinden der geheimnisvollen, unter mehreren Pseudonymen agierenden Figur und mit der Darstellung eines Schiffs, auf dem der Exilant gerade nicht seine Überfahrt nach Amerika angetreten haben soll. Der biographische Bericht führt durch die verschiedenen Lebensstationen des mit Ret Marut identifizierten Traven bzw. Torsvan: von Essen, wo wir ihn als Schauspieler vorgestellt bekommen, über das Schauspielhaus Düsseldorf über ein mobiles Fronttheater nach München, wo Marut als Herausgeber des Ziegelbrenner der anarchistisch-oppositionellen Szene angehört, journalistisch auf die politischen Ereignisse reagiert, die Räterepublik unterstützt, schließlich verhaftet wird und flieht, nach Köln, Rotterdam, dann nach England, das er als Heizer auf einem Schiff erreicht und wo ihm kein dauerhafter Aufenthalt gewährt wird. Hier, wo er sich als Amerikaner Marut ausgibt, aber auch andere Namen ausprobiert, verliert sich die von der Bilderzählung nachgezeichnete Spur zunächst; ein neues Kapitel beginnt in Tampico. In Mexiko lässt Traven sich nieder, weil er sich Anonymität und Freiräume für seine Arbeit verspricht, bezieht ein Haus im Urwald, arbeitet auf einer Baumwollplantage, lernt das Leben der einheimischen Arbeiter-Bevölkerung sowie die ausbeuterischen Methoden der weißen Grundbesitzer kennen und macht in der Gesellschaft der indianischen Arbeiter, aber auch in den Etablissements der Weißen Erfahrungen, die dann in den im Urwald entstehenden Roman Die Baumwollpflücker eingehen; hier entsteht auch Das Totenschiff, und Traven bringt seine Romane verlegerisch unter. In Mexiko trifft er mit Angehörigen der politischen Linken, unter anderem mit Sandino zusammen, verfolgt Presseberichte über die brutale Unterdrückung der Arbeiterschaft in Mexiko und Guatemala und plant selbst weitere politische Aktivitäten. Durch Tina Mododdi lernt er den Maler Diego Rivera kennen, der ihm dabei hilft, weitere Studien in den Lebensräumen der indianischen Bevölkerung zu unternehmen, indem er ihm zur Stellung eines Photographen bei einer Expedition verhilft. Im Urwald und in den Siedlungen der indigenen mexikanischen Bevölkerung setzt sich Traven intensiver mit deren Kultur, aber auch mit ihrer Geschichte auseinander; der Caoba-Zyklus entsteht. Während zur 2
Der erste Teil ist weitgehend in Schwarzweiß gezeichnet. Farbig sind nur einzelne eingeschobene Panorama-Seiten (dazu später) und einzelne Elemente der Panels, die so besonders hervorgehoben werden sollen. Demgegenüber wird der zweite Teil, die mexikanische Geschichte B. Travens, farbig erzählt.
Große Texte und Themen D: Kulturübergreifende Totentänze
373
Abb. 122: Hopper-Zitat in Golos B.-Traven-Porträt (S. 119).
gleichen Zeit im nationalsozialistischen Deutschland Travens Bücher zusammen mit denen von Thomas und Heinrich Mann, Stefan Zweig und Alfred Döblin verbrannt werden, bereitet Traven die Publikation seiner Romane in Amerika vor, was ohne übersetzerische Hilfestellung nicht möglich ist. Die Darstellung der Vorgeschichte von Travens US-amerikanischem Erfolg wird übrigens mit einem Bildzitat visualisiert, das implizit darauf hinweist, in welch hohem Maße die Vorstellung bestimmter Orte und Kulturräume an Bilder gebunden ist: Das New York Golos ist hier das Edward Hoppers – genauer: die Szenerie der Night Hawks. Der Verlagsangehörige B. Smith und seine Gefährtin unterhalten sich im nächtlichen Café über Travens Manuskript. Die Darstellung des Rezeptionswegs, den Travens Romane nahmen, verdeutlicht unter anderem die Signifikanz von Übersetzungen für den Literaturbetrieb. Auch ins Spanische übersetzt eine Leserin Travens einen Roman, doch der Autor steht einer Publikation reserviert gegenüber, da er in Mexiko weiterhin unauffällig leben will. Unter dem Namen Hal Croves nimmt er (so die Auslegung des nicht ganz geklärten Tatbestandes durch die Bildgeschichte) an der Verfilmung von Der Schatz der Sierra Madre teil. Er versucht, Photos aus dem Weg zu gehen und jede Identifikation seiner mittler-
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Der Comic und die Weltliteratur
weile berühmten Autorenpersönlichkeit zu verhindern. Reporter verschiedener Länder allerdings suchen ihm auf die Spur zu kommen, und der Stern-Journalist Gerd Heidemann behauptet sogar, Traven sei der illegitime Sohn Kaiser Wilhelms des II. und einer Norwegerin. Mit Rosa Elena Luján, seit 1957 seine Frau, der er die Rechte an den Werken B. Travens überschreibt, besucht er incognito die Premiere einer Romanverfilmung in Venedig, verbringt die letzten Lebensjahre in der Angst vor der Entdeckung seines Incognitos und verbrennt viele Papiere, bevor er 1969 stirbt. Golos biographische Erzählung blendet immer wieder Szenen aus der bewegten Geschichte Europas und Amerikas (insbesondere Lateinamerikas) im 20. Jahrhundert ein: Situationen und Ereignisse, die Traven selbst miterlebte, aber auch solche, die repräsentativ für die politische Gesamtsituation waren, die er als Linker und Publizist aufmerksam verfolgt und zu denen er Stellung nimmt. So wird der Leser unter anderem Zeuge der Proklamation der Münchner Räterepublik, der Ermordung Rosa Luxemburgs, der Machtübernahme durch Hitler etc. Am Leitfaden einer Dichterbiographie wird ein historisches Panorama entrollt.
5.3
Erzählung aus einer vielsprachigen Welt
Golos in Französisch verfasste Traven-Biographie enthält eine Fülle fremdsprachiger Elemente (deutsche, englische und spanische). Wenn zu Beginn der Erzählung der tote Schriftsteller von einer Gruppe von Gerippen durch den Urwald getragen wird, so nehmen Zeitungsberichte aus verschiedenen Ländern und in verschiedenen Sprachen auf den Todesfall Bezug; montiert sind Titelseiten des Inquirer, der Time, des Stern, des Excelsior; lesbare Auszüge aus Berichten darüber sind auf Englisch, Spanisch und Französisch verfasst. Schon das erste Totentanz-Bild ist durch die Mehrsprachigkeit seiner Textanteile charakterisiert, die auf die globale, einem spezifischen Ort ebenso wenig wie einem spezifischen Zeitabschnitt zuzuordnende Bedeutung der allegorisch wirkenden Szenerie hindeutet: Der mehrfach ertönende Ruf »Skipper« erinnert an Travens deutschsprachigen Roman Das Totenschiff und ist zugleich ein Name, bei dem Traven/Torsvan von seiner Frau gerufen wird; die singenden Sargträger und der die Revolutionäre anführende Proletarier mit einer Ausgabe des Ziegelbrenner in der erhobenen Hand bedienen sich des Französischen, die dem Anführer folgenden Aufständischen tragen Transparente mit deutschen Parolen: »Es lebe die Weltrevolution« – »Die ganze Macht den Arbeiter Soldaten Räten« etc. Und der
Große Texte und Themen D: Kulturübergreifende Totentänze
375
zapatistische Sombreroträger mit schmalem Schnurrbart fordert »Tierra y Libertad«. Vor allem Zitiertes wird oft als Schrift-Bild-Zitat geboten – darunter Plakate, Briefe, Pässe, Aufschriften verschiedener Art. In verschiedensprachigen Versionen tauchen die Umschläge Traven’scher Bücher quasi leitmotivisch im Bild auf; abwechselnd spanisch, deutsch, englisch oder französisch betitelt, erinnern sie an den internationalen Ruhm des Autors und weisen implizit die Literatur als eine Institution aus, die an keine Sprachgrenzen gebunden ist.3 Mehrmals wendet sich die Geschichte dem Thema Bildersprachen auch explizit zu. Dabei geht es um kultur- und nationalspezifische wie um transkulturelle und transnationale Bildsprachen, um die der Massenmedien, der Plakate und der politischen Propaganda, um die des Films, um die Ikonologie einer fremden Kultur wie der aztekischen oder aber um die hybridisierte Bildkultur Mexikos. Der Comic erweist sich als ein Bildmedium, das diese verschiedenen Sprachen aufzunehmen, seinen eigenen Narrativen zu integrieren und sie für seine Darstellungsabsichten zu nutzen vermag. Besonders ostentativ wird das Strukturelement des Bildzitats übrigens in der Episode um Diego Rivera verwendet. Rivera tritt als Erzähler auf und berichtet von seiner Pariser Zeit; aus der Erzählung erstehen die Bilder auf, die er gesehen hat – Bilder Cezannes, die in die Panels der Golo-Erzählung als Bilder im Bild integriert sind. Von Bildzitaten macht Golos Traven-Porträt insgesamt ausgiebigen Gebrauch. Darauf deutet ja schon die erste Doppelseite hin, die den Titel und den Autornamen trägt: Während Traven als ein Schattenmann – der das ganze Buch bis zur letzten Seite durchstreift – auf die Titelzeilen zugeht, ist er umgeben von zeichnerisch reproduzierten Porträts, die B. Traven in wechselnden Lebenssituationen zeigen; hinzu kommt Humphrey Bogart als Mitwirkender an einer Traven-Verfilmung. Lauter Bildzitate also – die dem Leser signalisieren, dass er vom Protagonisten des Bandes Zitate und nichts als Zitate geboten bekommen wird; die Person des Autors, der sich selbst mit einem Geheimnis umgeben hatte, bleibt ein Schatten. Als Schatten wandert er durch die gesamte Erzählung – sogar über seinen Tod hinaus: Die letzten Seiten des Buches zeigen, wie der Schatten Travens nach Verstreuung seiner
3
Auch Darstellungen solidarischer Arbeiter verbinden sich gelegentlich mit Hinweisen auf die Internationalität der Arbeiterbewegung, so anlässlich einer Episode, in der Traven mit US-amerikanischen Gewerkschaftlern zusammentrifft; hier sind die Wände mit politischen Plakaten in englischer Sprache bedeckt, auf dem Tisch liegt ein »Little Red Song Book«, und man singt amerikanische Arbeiterlieder.
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Der Comic und die Weltliteratur
Abb. 123a: Erste Totentanz-Darstellungen in Golos B.-Traven-Comic (S. 7).
Große Texte und Themen D: Kulturübergreifende Totentänze
Abb. 123b: Zweite Totentanz-Darstellungen in Golos B. Traven (S. 11).
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Der Comic und die Weltliteratur
Abb. 123c: Dritte Totentanz-Darstellungen in B. Traven (S. 15).
Große Texte und Themen D: Kulturübergreifende Totentänze
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Auf der ersten Totentanz-Seite zwischen den Pressenachrichten über B. Travens Tod und der Einführung in die Geschichte des mysteriösen Autors durchziehen Gerippe den Urwald, der zuvor Travens Asche aufgenommen hat und in dem Traven selbst (als Gespenst?) umherstreift. Eine Gruppe agiert als Sargträger, eine andere spielt die Szenen der revolutionären Arbeiter und Soldaten zur Zeit der Räterepublik nach. Mit der Parole »Tierra y Libertad« wird an lateinamerikanische Arbeiteraufstände und Revolutionen erinnert; zitathaft wird auf Das Totenschiff angespielt und auf Traven’sche Figuren, die sich um das Jüngste Gericht nicht scheren. Auf dem zweiten Totentanz-Bild sind die Sargträger weiterhin unterwegs, aus dem offenen Sarg streckt der tote B. Traven seiner Witwe einen Arm entgegen. Ein Maskenzug umgibt die Szene, und wie Szenen eines Maskenzugs wirken montierte Episoden aus Travens und Maria Elenas Leben, die auf 1937, 1953 und 1957 datiert sind. Indianische Musiker spielen dabei auf. Mit dem dritten Totentanz-Bild wird der eigentliche Lebensbericht eingeleitet (S. 15). Umrahmt von Travens Büchern, auf denen die Titel in deutscher und französischer Sprache lesbar sind, werden Motive aus dem Leben Travens vor einer Urwald-Kulisse und Typen seiner Romane gezeigt: indigene Mexikaner bei einer rituellen Handlung, mexikanische Fabelwesen, ein weißer Kapitalist, ein lateinamerikanischer Revolutionär, ein lästiger Reporter – und einmal mehr der aus dem Sarg herausgebeugte Traven selbst. Totentanz-Bild Nummer 4 (S. 19) berichtet vom Ersten Weltkrieg und zitiert das Bildmotiv der apokalyptischen Reiter, kombiniert mit der Darstellung indigener Mexikaner, teils in traditionellen Kostümen, teils als Gehenkte (und damit in Anspielung auf den Titel eines Traven-Romans). Das fünfte Totentanz-Panel umreißt die politische und wirtschaftliche Situation Europas in den späten Kriegsjahren 1917 und 1918, zeigt zentral die Vertreter der verschiedenen am Krieg beteiligten Staaten am grünen Tisch um die Torte Europa versammelt, die mit blutigen Messern geteilt werden soll, während auf demselben grünen Tisch ein Esel mit Augenklappen steht, der die SPD zu repräsentieren scheint. Den Hintergrund bildet eine apokalyptische Szene mit dem »Bluthund« Noske sowie mit je einem konservativ-bürgerlichen und einem klerikalen Repräsentanten der Reaktion. Die rahmende Leiste visualisiert unter Verwendung von Landkarten und Plakatmotiven die kurze Geschichte der Arbeiter- und Soldatenaufstände. Wie die beiden vorigen ganzseitigen Panels4 und nachfolgende thematisch affine Seiten5 zeichnet Golo die Vertreter von Bürgertum, Militär, Kapitalismus und Klerus in Anlehnung an die Bildsprache von George Grosz. Auch im folgenden unterbrechen ganzseitige Bildkompositionen die Geschichte, um Situationen panoramatisch und multiperspektivisch darzustellen; wenn dabei auch nicht immer Gerippe mittanzen, setzen diese Seiten dennoch die Totentanz-Motivik fort; die agierenden Figuren formieren sich zu einem historischen Zug im Zeichen
4 5
Ebd., S. 21 f. Ebd., S. 29.
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Der Comic und die Weltliteratur
gewaltsamer politischer Auseinandersetzungen. Surreal wirkt nach dem Bericht über Travens Emigration nach London eine doppelseitige Szenerie, in der mehrere Handlungsebenen überblendet und allegorisch verfremdet sind: Die Situation des in England unerwünschten Ausländers Ret Marut alias Otto Feige, die Situation des politisch instabilen Europa und Katastrophen-Szenen aus dem Totenschiff. Die erste Hälfte der Doppelseite zeigt den Untergang des Schiffs im Roman, wobei eine biographische Parallele zwischen dem Autor und seiner Hauptfigur suggeriert wird; auf der zweiten Seite sehen wir den Schiffbrüchigen in die Unterwasserwelt einer deutschen Stadt sinken, wo ihn die Vertreter der Behörden und der Fremdenpolizei, Bluthund Noske und ein Hai namens SPD begrüßen. Die Gerippe agieren als patriotische, anti-linke, ordnungsfanatische Soldaten der Reaktion.
sche posthum durch den Urwald streift, mit Indianern, der Zapatistischen Befreiungsarmee und mit Figuren aus altmexikanischen Mythen und Legenden zusammentrifft. Neben dem Schatten sind Totenkopf bzw. Gerippe als Leitmotive eingesetzt – in Anspielung auf Travens frühen Erfolgsroman Das Totenschiff.6 Golo lässt zwischen den einzelnen Abschnitten seiner Traven-Biographie immer wieder Gerippe aufmarschieren, die Weltgeschichte spielen. So wird der lineare Verlauf der nacherzählten Lebensgeschichte durch ein zyklisches Element konterkariert, das auf die Wiederholung immergleicher Ereignisse und die Konstanz bestimmter Grundmuster von Gewalt, Ausbeutung und Rebellion hindeutet. In Anspielung auf Szenen aus Travens Leben, auf die zeitgeschichtlichen Hintergründe seiner Biographie und auf Werke des Autors porträtiert Golo auf diesen Zwischen-Panels von jeweils einer Seite die Geschichte in Anknüpfung an ein traditionsreiches Konzept als Totentanz. Der Totentanz ist dabei zum einen Bildzitat, zum anderen politische Aussage von kulturübergreifender Verständlichkeit. Als ganzseitiges Bild komponiert ist die von dem mittlerweile nach Mexiko emigrierten und romaneschreibenden Traven imaginierte Begegnung
6
Protagonist des Totenschiffs ist ein Amerikaner, Gale, der nach dem Verlust seiner Papiere von einem Land zum nächsten abgeschoben wird und unter härtesten Bedingungen als Kohleschlepper auf einem heruntergekommenen Frachter anheuert. Zusammen mit seinem polnischen Arbeitsgefährten Stanislaw wird er auf ein Schiff entführt, das der Eigentümer für einen Versicherungsbetrug missbrauchen will; der schrottreife Frachter läuft tatsächlich auf ein Riff und wird zerstört, Stanislaw und Gale retten sich als einzige zunächst noch, bis auch das Wrack sinkt. Der Erzähler schildert Stanislaws Ende, indem er den Tod personifiziert auftreten und zur ›großen Fahrt‹ einladen lässt:
Große Texte und Themen D: Kulturübergreifende Totentänze
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Abb. 124a und b: B. Travens Begegnung mit dem aztekischen Prinzen (links: S. 89, rechts: S. 90).
mit dem Gespenst eines aztekischen Prinzen, der aus dem Urwald heraustritt, um dem Schriftsteller die Geschichte seines Volkes zu erzählen: die einer von den spanischen Konquistadoren gewaltsam unterworfenen und zerstörten Kultur, die Geschichte unzähliger Opfer brutaler Ausrottung. Auf der folgenden Seite überblenden sich Szenen aus der Geschichte der Eroberung Mexikos und rezente historische Erfahrungen: Noske und Ebert führen eine Konquistadoren-Gruppe an; Marut/Traven findet sich auf einem blutigen aztekischen Opferalter unter dem Steinmesser eines Priesters wieder. Dass die Verknüpfung von Figuren und Episoden aus unterschiedlichen Epochen und Kulturen eine wichtige Syntheseleistung des Schriftstellers B. Traven selbst ist, deutet vor allem eine ganzseitige Bildkomposition an, deren Zentralmotiv das des maschineschreibenden Autors bei der Arbeit ist. Begleitet von zitierten Selbstaussagen des Autors sehen wir den rostigen Frachter den Urwald durchkreuzen (die Erinnerung an Werner Herzogs Film Aguirre, der Zorn Gottes dürfte legitim sein) und auf die einsame erleuch-
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Der Comic und die Weltliteratur
tete Hütte Travens zuhalten; spatentragende Gerippe durchziehen den Vordergrund.7 Aufgegriffen wird das Totentanz-Motiv auch in der Episode, in der Traven/Torsvan mit Diego Rivera zusammentrifft. Der Maler, der dem Schriftsteller davon berichtet, wie er die Ästhetik der mexikanischen Bilderwelt und die Kunst der Maya für sich entdeckt und ihre Ausdruckskraft zu bewundern gelernt habe, ermutigt den Schriftsteller zur Auseinandersetzung mit der indigenen Kultur. Sein Schatten hebt sich vor einem Hintergrund ab, auf dem Skelette in mexikanischen Kostümen tanzen.
5.4
Zeitkritik und Strategien der Autoreferenz
In wesentlichen Zügen macht sich Golos Comic-Biographie das Bild der geschichtlichen Welt zu eigen, das B. Travens Romane entwerfen, wobei er es aber mit den Mitteln konstruiert, die sein eigenes Medium, die Bildgeschichte, nahelegt: Es ist das Bild einer Welt der globalen Unterdrückung des überwiegenden Teils der Erdbevölkerung durch eine privilegierte Minorität, die nach ökonomischem Gewinn und Macht strebt; die kapitalistisch Ausgebeuteten ähneln sich, ob sie nun in München oder in Mexiko gegen ihre Unterdrücker rebellieren. Das Buch skizziert anlässlich der zu erzählenden Schriftstellerbiographie nicht zuletzt das Bild einer multikulturellen und vielsprachigen Welt, einer Welt des internationalen Journalismus und der internationalen Politik. Traven, der Schattenmann, erscheint als eine Protagonistenfigur, die zu dieser Welt passt: Der Mann mit den vielen Gesichtern passt sich proteushaft wechselnden politischen und kulturellen Situationen an, besitzt dabei keine nationale Identität mehr und setzt große Mühen daran, sich all dessen zu entledigen, was ihn an eine solche Identität binden könnte. Dabei nimmt er die Rolle des kritischen Beobachters und Porträtisten ein, der aus der Not der Heimatlosigkeit die Tugend des Weltbürgertums zu machen weiß. Es 7
Welche Gefahren dem zurückgezogenen Traven auch im Urwald drohen, zeigt eine spätere Totentanz-Zeichnung (ebd., S. 122): Als Schattenmann versteckt dieser sich in einer Ecke des Bildes, das die weißen Großgrundbesitzer und Ausbeuter sowie ihre indigenen Opfer zeigt. Der Text informiert den Leser darüber, dass nach einiger Zeit der Anonymität der schriftstellerische Ruhm Travens auch seine Provinz Chiapas erreichte, wo viele der Grundbesitzer deutscher Abkunft und Sympathisanten Hitlers waren. Die sozialrevolutionären Romane Travens trugen ihm Morddrohungen ein, vor allem der kritische Roman Die Rebellion der Gehenkten, der ja die mexikanischen Zustände geißelte.
Große Texte und Themen D: Kulturübergreifende Totentänze
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geht nicht um die Frage nach der ›Authentizität‹ dieses Traven-Bildes; entscheidend ist, in welcher Rolle hier ein Schriftsteller des 20. Jahrhunderts porträtiert (und modelliert) wird. In dieser Welt der sich vermischenden Sprachen, in der politische Grenzen als ebenso kontingent und verschiebbar erscheinen, wie Nationalzugehörigkeiten bloße Masken sind, gibt es gleichwohl Grundmuster, die ein Wiedererkennen zulassen: Was sich wiederholt, ist das Grundmuster der Beziehung zwischen kapitalistischen Unternehmern und ihren Untergebenen, das Muster eines gesellschaftlichen Kampfes, bei dem sich vorübergehend auch die Unterdrückten zusammenschließen, um zu rebellieren – und es ist die Idee des Memento Mori. Die allegorischen Bilder des allgegenwärtigen Todes, die den Urwald und andere Landschaften durchziehenden munteren Skelette, sind hybride Bilder; der Zeichner erinnert hier zum einen an die abendländische Totentanz-Motivik, zum anderen an lateinamerikanische Totenkulte. Und er erinnert an B. Traven, bei dem das Totenschiff zum einen Sinnbild der mörderischen Ausbeutung einer Gesellschaft von recht- und mittellosen Seeleuten gewesen war, zum anderen aber auch Allegorie der Zeitgeschichte in der Tradition der Staatsschiff-Allegorik. Geschichte erscheint als Geisterfahrt unter der Totenkopf-Flagge. Als Montage aus Bildern verschiedenster kultureller Provenienz und durch seine Beziehung zum Œuvre eines Schriftstellers ist der B.-TravenComic nicht zuletzt eine Erzählung über die Sprache der Literatur und der Bilder. Unter Einsatz einer einfallsreichen Bildregie präsentiert sich der Comic als vielsprachiges Medium, das sich mit seiner aus heterogenen Quellen gespeisten Bild- und Schriftsprache besonders dazu eignet, das Leben eines Autors nachzuerzählen, der zwischen den Nationalitäten, den Kulturen und Sprachen stand. Zugleich werden Strategien der narrativen Darstellung von Geschichte (im Sinne von Zeitgeschichte) erprobt. In den Spuren von George Grosz und den Brüdern Heartfield entwirft Golo auf seinem historischen Bilderbogen das Bild einer Historie, deren Komplexität keine lineare Darstellung gerecht werden kann. Die rekurrenten Kern- und Leitmotive schaffen ein über die lineare Abfolge hinausgehendes Verweisungsgeflecht. Dieser Effekt wird verstärkt durch Zitate und Selbstzitate. Evidenterweise korrespondieren sie einem Blick auf Geschichte, der vor allem nach wiederkehrenden Grundmustern sucht. Zusammenfassende Beobachtungen: Der Totentanz wird von Golo als Strukturmodell verwendet – im Rückgriff auf die entsprechende interkulturelle Bildmotivik. Der Totentanz ist ein Bildmotiv, das aber eine Tanzform (Choreographie) darstellt. Der Comic bringt – über das Zitieren von Totentanz-Bildern – die Bilder wieder zum Tanzen. Dabei übernimmt er auf thematischer Ebene die allegorische Interpretation der (Zeit-)Geschichte
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Der Comic und die Weltliteratur
als Totentanz – dieser vollzieht sich über Kontinentalgrenzen hinweg. Exemplarisch demonstriert der B.-Traven-Comic-Band die Vielfalt der für den Comic anregenden Bildsprachen als interkulturelle Gestaltungsoption und thematisiert Übersetzungsprozesse explizit. Die Geschichte des transkontinentalen Autors Traven erscheint als willkommener Anlass zur Demonstration der Bedeutung von Übersetzungsprozessen auf Text- und Bildebene für die Comic-Erzählung.
Große Texte und Themen E
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6.
Große Texte und Themen E: David Mazzucchellis, Paul Karasiks und Paul Austers City of Glass
6.1
Der Bruch mit der Metaphysik des Kriminalromans
Paul Austers Roman City of Glass1 ist auf inhaltlicher wie struktureller Ebene durch seine Ambiguität geprägt: Unübersehbar zitiert er das Handlungsmodell des Detektivromans, damit aber die Idee einer Verrätselung und anschließenden Aufklärung. Umberto Eco hat in seinen Reflexionen über die »Metaphysik des Kriminalromans« deutlich gemacht, dass das für den klassischen Kriminalroman konstitutive Motiv der Entschlüsselung eines Rätsels dem metaphysischen Projekt der Aufdeckung der Wahrheit entspricht. Die Wahrheit erkennen zu können impliziert die Möglichkeit, sie von Täuschung, Schein und Lüge zu unterscheiden. Doch gerade diese Möglichkeit wird dem Leser (und den Figuren) in Austers Roman verweigert. Die Wahrheit über eine verrätselte Welt aufdecken zu können, müsste bedeuten, Bedingungs- und Begründungsverhältnisse, also Kausalzusammenhänge eindeutig zu erfassen. Auch dies ist in der Romanwelt Austers unmöglich. Stattdessen entwickelt der Erzähler komplexe Strategien der Entdifferenzierung und Verunklärung. City of Glass ist zwar vordergründig eine Detektivgeschichte – der Protagonist betreibt eine Art detektivischer Recherche, nachdem er mit einem »Fall« konfrontiert worden ist –, weicht aber auch in wichtigen Punkten von den Konventionen dieser Textsorte ab: Es wird kein Fall gelöst, vielmehr wird im Laufe des Romans zunehmend unklarer, worin der Fall eigentlich besteht. Anfangs scheint der Protagonist einen Auftrag zu bekommen wie ein Detektiv; später wird zweifelhaft, dass es sich um einen klassischen Auftrag handelt. Statt sich zu entwirren, verwirren sich die Dinge mehr und mehr, und statt irgendetwas aufzuklären, wird der scheinbare Detektiv sich selbst zum Rätsel. Auster spielt mit den gattungskonstitutiven Strukturelementen des Kriminalromans und löst sie von innen her auf: Es gibt keine einsinnige Handlung, die der Ordnung von Fall/Rätsel/Verbrechen – Suche – Auflösung/Überführung folgte, und es gibt keine klar konturierten Figuren. 1
Paul Auster, The New York Trilogy. City of Glass. Ghosts. The Locked Room, London 1992.
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Der Comic und die Weltliteratur
Zur Handlung: Der Protagonist Quinn ist Kriminalschriftsteller; er publiziert seine Romane unter dem Pseudonym William Wilson; seine Detektivfigur heißt Max Work. Quinn, Wilson und Work repräsentieren drei verschiedene Wirklichkeitsebenen, stehen aber in einem wechselseitigen Spiegelungsverhältnis. Quinn lebt kein Leben, das das Prädikat ›wirklich‹ verdient hätte, da die Phantome seiner Erinnerung für ihn präsenter sind als die alltägliche Umgebung. Nachdem er Frau und Kind bei einem Unfall verloren hat, hat er sich von der Welt zurückgezogen und lebt in New York ein Schattendasein, versteckt hinter der erfundenen Identität von Wilson. Eine Folge von Telefon-Anrufen stört ihn auf, bedrängt ihn. Diese Anrufe scheinen aber gar nicht ihm zu gelten, denn der Anrufer fragt nicht nach Quinn, sondern nach einem gewissen Paul Auster. Nach anfänglichem Zögern sucht Quinn den Anrufer auf, der ihn für einen Detektiv hält und sein Klient werden will; er trifft auf Peter Stillman und dessen Frau Virginia. Stillman ist unter außerordentlichen Bedingungen herangewachsen und dabei schwer geschädigt worden (er spricht konfus und scheint unter Identitätsstörungen zu leiden): Sein Vater, Peter Stillman senior, war besessen gewesen von der Idee einer ursprünglichen, das Wesen der Dinge ausdrückenden »wahren« Sprache; er hatte diesem Thema nicht allein wissenschaftliche Forschungen gewidmet, sondern zudem seinen kleinen Sohn Peter isoliert in einem geschlossenen Raum heranwachsen lassen, um so der vermeintlich angeborenen natürlichen Sprache auf die Spur zu kommen. Erst als junger Mann wurde Peter junior befreit und nachträglich notdürftig sozialisiert; der Vater kam ins Gefängnis. Nun ist der Termin seiner Entlassung nahe, und es scheint, dass der junge Stillman sich an Quinn (respektive Auster) wendet, weil er sich vor seinem Vater fürchtet. Quinn akzeptiert den Fall, setzt sich auf die Spur des alten Stillman und folgt ihm unter anderem auf Gängen durch New York, bei welchen sich die abgeschrittenen Wege, wenn man sie auf dem Stadtplan nachzeichnet, zu den Worten »Tower of Babel« fügen, wie Quinn bald bemerkt. Doch der Verfolgte entkommt. Auch Quinns Auftraggeber hat seine Wohnung spurlos verlassen. Quinn nimmt das Leben eines Obdachlosen auf, um die Wohnung des jungen Stillman überwachen zu können. In den Monaten seines vergeblichen Wartens löst sich seine frühere Identität auf. Schließlich begibt er sich selbst in die leere Wohnung und nimmt – von mysteriöser Seite äußerlich versorgt – ein Kaspar-HauserLeben auf, wie Stillman junior es früher führte. Später verschwindet auch er – unter Hinterlassung eines Notizbuches mit Aufzeichnungen, die den Fall betreffen. Dieses wird von zwei Personen gefunden: Die erste von ihnen ist der Erzähler der Geschichte, der sich spät erst explizit als ›Ich‹ einschaltet und dabei nachträglich eine fingierte Begründung dafür liefert, dass er Quinns
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Fall kennt.2 Die zweite ist ein Mann namens Paul Auster, der zuvor von Quinn einmal selbst besucht worden ist. Quinn hatte sich nämlich mit zunehmender Verzweiflung auch bemüht, den wirklich von Peter Stillmann gesuchten Detektiv Paul Auster zu finden. Zwar hatte er in New York keinen Detektiv dieses Namens aufspüren können, wohl aber einen Schriftsteller. Dieser trägt deutlich autobiographische Züge des realen Schriftstellers Auster. Quinn weiht ihn in den Fall Stillman ein. Seine Anteilnahme an Quinns Schicksal motiviert ihn später, mit dem Erzähler zusammen den Ort aufzusuchen, von wo aus Quinn endgültig verschwunden ist. Mit ›Auster‹ (dem im Roman) und dem Erzähler kommt es zu einer nochmaligen Ausdifferenzierung verschiedener Wirklichkeits- bzw. Fiktionsebenen. Beide Figuren haben etwas mit der Wirklichkeit außerhalb des Buches zu tun (›Auster‹ ist ein literarisches Double des echten Auster, der Erzähler ist dessen Stimme), beide sind aber auch Teil der Romanfiktion. Kein Detektiv, kein wirklicher Fall, keine zu enthüllende Wahrheit. In Ecos Detektivroman Il nome della rosa geschieht bezogen auf den ›Fall‹ und die ›Wahrheit‹ Vergleichbares, aber hier bleibt wenigstens der Detektiv im Amt. Austers und Ecos Roman sind einander nicht nur als spielerische Dekonstruktionen des Kriminalromans und seiner ›Metaphysik‹ verwandt; sie funktionalisieren zu diesem Zweck auch dieselben Kern- und Leitmotive: das des Labyrinths und das der babylonischen Sprachverwirrung. Ein drittes, damit zusammenhängendes Merkmal ist die besonders ausgeprägte und ostentativ zur Schau getragene Intertextualität beider Romane. Beide illustrieren exemplarisch die in Ecos Roman zudem sogar explizit ausformulierte These, alle Bücher sprächen von anderen Büchern. Autoren-, Figuren- und Ortsnamen, Buchtitel und andere Verbindungsglieder führen wie Brücken aus dem jeweils gelesenen Text in eine ganze imaginäre Bibliothek hinein. Diese Vernetzung korrespondiert dem Genre der Detektivgeschichte mit ihrer Zentrierung auf den Prozess einer recherche: Der Leser selbst ist ein Detektiv – vor allem dort, wo er vom Text auf intertextuelle Spurensuche geschickt wird. Die Umsetzung eines Romans wie City of Glass in einen Comic könnte als einfache Nacherzählung der einzelnen Episoden angelegt sein; der zu weiten Teilen aus äußeren Ereignissen bestehende und im zeitgenössischen New York spielende Roman bietet sich für eine visuelle Paraphrase durchaus an. Doch darüber hinaus lässt das Medium der Bilderzählung es zu, die für den Romantext konstitutive Ambiguität visuell zu wiederholen. Auch und gerade 2
Auster hat das rote Notizbuch auch separat publiziert: Paul Auster, The Red Notebook. True Stories, New York 2002.
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Der Comic und die Weltliteratur
Bilder können den Rezipienten auf eine detektivische Spurensuche schicken, bei der er vieles entdeckt und doch kein konsistentes Bild davon gewinnt, was da zu entziffern wäre, weil es kein Bild einer letzten Wahrheit, sondern immer nur Bilder von Bildern gibt.
6.2
»Ceci n’est pas une ville«: New York im Spiegel des Auster-Comics
Mitte der 1990er Jahre gründeten Bob Callahan und Art Spiegelman unter dem Motto »Where, in urban shadows, art and literature meet« eine ComicBuch-Reihe. Hier erschien als erste Nummer eine Adaptation von City of Glass; diese liegt auch in einer deutschen Übersetzung vor.3 Paul Karasik lieferte das konzeptionelle Gerüst für den Comic, David Mazzucchelli fertigte die Zeichnungen an. Der Comic erzählt zum einen die Romanhandlung nach, enthält zum anderen aber auch explizite Textzitate, so die folgende programmatische Passage: »Everything becomes essence; the centre of the book shifts with each event that propels it forward. The centre, then, is everywhere, and no circumference can be drawn until the book has come to its end« (S. 8). Die Erzählung als solche wird zu erheblichen Teilen getragen durch Folgen von Zeichen, die einer konventionellen Codierung zufolge Abbilder der Wirklichkeit sind – wie etwa des ›Telefons‹ (zum Beispiel S. 2) oder des ›VW Käfer‹ (S. 55). Die Verwendung unterschiedlicher Bild-Stile oder -Codes erzeugt zusätzliche Semantisierungen. Als Stilzitate erscheinen etwa die Piktogramme auf den Seiten 27, 28 und 29: In der allgemein geläufigen stark schematisierten Darstellungsform von Personen, wie sie vor allem aus öffentlichen Gebäuden und Plätzen vertraut ist, sieht der Leser hier eine Gruppe von Sargträgern, eine fortgeschickte Frau, eine Gerichtsszene und einen Teufel. Diese Bildelemente repräsentieren einen Code (eben den Code »Piktogramm«) und sind daher leicht verständlich, ohne doch ein gebräuchliches Piktogramm wiederzugeben. Sie gehören zu dem Bericht, den Virginia Stillman dem Besucher Quinn von Peter Stillmans jr. Kindheit gibt, und konstituieren insofern eine Geschichte innerhalb der Geschichte, die durch ihre 3
Paul Karasik/David Mazzucchelli: City of Glass, the Graphic Novel. New York 2004 (zuerst 1994 als Neon Lit: Paul Auster’s City of Glass; dt.: Paul Auster’s Stadt aus Glas. Hrsg. v. Bob Callahan u. Art Spiegelman, Reinbek bei Hamburg 1997 (= Neon Lit 1). Der Verlag Picador, New York, hat kürzlich eine Neuausgabe des Originals vorgelegt.
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spezifische Zeichensprache von ihrem Umfeld abgehoben ist. Sowohl die Verwendung konventionell codierter Bildelemente als auch der Rekurs auf konventionelle bildliche Codes als solche können unter dem Begriff der Interpikturalität zusammengefasst werden, da in beiden Fällen die Interpretation des Gesehenen voraussetzt, dass man es auf andere Bilder bezieht. Der Begriff der Interpikturalität, konzipiert in Anlehnung an Genettes Intertextualitätstheorie (Palimpseste), kann dabei helfen, die Spielformen der Beziehungen zwischen Bildern differenzierend zu erfassen. Unterscheidet Genette als drei Formen der Intertextualität das Zitat, das Plagiat und die Anspielung, so wären dem analoge Formen von Interpikturalität gegenüberzustellen. Das Zitat, d. h. die genaue Reproduktion eines Bildes ›in Anführungszeichen‹ ist in Werken der bildenden Kunst ein Sonderfall, wird von Karasik und Mazzucchelli aber offensichtlich geschätzt, etwa wenn sie Picassos Don Quijote-Graphik in stark verkleinertem Maßstab4 oder auch John Tenniels Darstellung des Humpty Dumpty zitieren.5 Als Zitate erkennbar sind sie zwar nur für den, der Picassos und Tenniels Graphiken kennt, aber diese Kenntnisse dürfen im allgemeinen ebenso vorausgesetzt werden wie die Lesekompetenz bezogen auf Piktogramme. Dass die Figuren des Don Quijote und des Humpty Dumpty auch explizit zur Welt des Romans gehören, erleichtert die Entschlüsselung. Bezogen auf die Bildwelt Mazzucchellis (und letztlich bezogen auf die Romanwelt Austers) von Plagiaten zu sprechen, könnte problematisch erscheinen, da die Rede vom Plagiat die Existenz eines Originals impliziert und zumindest indirekt dem Diskurs über Originalität im Sinne von ›Authentizität‹ verpflichtet ist, während es doch einer durch City of Glass vermittelten Zentralidee zufolge in der Welt keine Originale, nichts Authentisches und entsprechend auch keine Fälschungen gibt; die Leitdifferenz zwischen Urbildern und Abbildern als solche wird ja von Auster suspendiert. Von Plagiaten in einem ausdrücklich antimetaphysischen Sinn könnte bezogen auf Mazzucchellis Bildsprache aber immerhin dann die Rede sein, wenn Bilder und Bildelemente von Vorgängern kopiert werden, ohne dass durch den Gesamtkontext oder durch ein voraussetzbares kulturelles Vorwissen ihre Provenienz erschließbar wäre. Wenn auch Hinweise auf die Quelle solcher Bildelemente im Gesamtkontext der Bilderzählung ausbleiben, sind so verstandene ›Plagiate‹ aber in den meisten Fällen schon durch ihren abweichen4
5
Das Bild hängt sowohl in den Wohnungen Quinns und der Stillmans als auch bei dem Schriftsteller Auster. Mehr zu Don Quijote unten. Zitate der entsprechenden Zeichnung des Carroll-Illustrators John Tenniel sind die Darstellungen Humpty Dumptys auf S. 75, S. 79, S. 130.
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Der Comic und die Weltliteratur
den Stil leicht als solche identifizierbar. Wer ihre Provenienz entschlüsselt hat, mag sie im Folgenden als ›Zitate‹ betrachten; auch bei Genette sind die Kategorien ja nicht trennscharf gegeneinander abgegrenzt. Anspielungen sind noch diffuser als Plagiate und deshalb weniger auffällig. Auch sie erfordern vom Leser detektivische Kompetenz. Wenn Daniel Quinn beispielsweise auf S. 34 f. in der Dunkelheit ein hell erleuchtetes Schnellrestaurant an einer Hausecke aufsucht, in dem ein Mann mit Schiffchenmütze hinter dem Tresen steht, so mag man dies als Besuch in der Welt Edward Hoppers betrachten, sofern man dessen einschlägige Gemälde kennt, auch wenn die Zeichnungen Mazzucchellis Hoppers Nighthawks nicht direkt zitieren. Analoges gilt für die erwähnten Piktogramme, mit denen nicht auf das Œuvre eines Malers, sondern auf einen öffentlich gebräuchlichen Code, damit aber auf die semiotischen Systeme des öffentlichen Raumes als solchen angespielt wird. Exemplarisch für die Dichte und Polyvalenz der Anspielungen in Mazzucchellis Bilderzählung ist das Verfahren mit dem Bildmotiv des weißen Kaninchens, das in Peter Stillmans Bericht über seine Kindheit auftaucht.6 Das aus einem schwarzen Zylinder schlüpfende Kaninchen erinnert zunächst an einen klassischen Zaubertrick. Damit steht sein Auftauchen metaphorisch für den Prozess einer Transgression von einer Realitätsebene auf eine andere, wie sie in Austers Roman immer wieder vorkommt. Gleichzeitig wird auch das weiße Kaninchen aus Lewis Carrolls Alice’s Adventures in Wonderland zitiert, wo es durchaus eine ähnlich grenzüberschreitende Rolle spielt, indem es Alice veranlasst, durch den Kaninchenbau das Wunderland zu betreten. Für die Carroll-Assoziation spricht auch die Form von Mazzucchellis Zylinder, der dem gleicht, den Alice-Illustrator John Tenniel dem verrückten Hutmacher aufgesetzt hat (S. 81). Dass der Sprechblasentext »I know that all is not right in my head«7 hier nicht dem Kaninchen selbst in den Mund gelegt wird, sondern aus dem Zylinder kommt, entspricht gleichermaßen dem Geisteszustand des verrückten Hutmachers und dem Peter Stillmans, die ja beide nicht ganz Herr ihrer selbst und ihrer Stimmen sind.8 Das Beispiel des Bildmotivs »Kaninchen im Zylinder« ist symptomatisch für den gesamten Comic: Immer wieder werden einzelne Panels für den zur detektivischen
6 7 8
Karasik/Mazzucchelli, City of Glass, S. 21. Ebd. Der Bezug zu Carrolls Alice ist in Austers Roman selbst bereits angelegt. Als eine völlig weiße Erscheinung (»Everything about Peter Stillman was white. White shirt, […] white pants, white shoes, white socks«) erinnert selbst Peter Stillman an das Weiße Kaninchen; Peter Rabbit ist ein anderes Glied der Assoziationskette.
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Kombination provozierten Leser zu Schwellen in ein transtextuelles Wunderland der Geschichten und Bilder.9 Für Daniel Quinn alias Paul Auster erscheint dieses weiße Kaninchen in doppelter Hinsicht als Bote, der eine Grenzüberschreitung einleitet: einerseits ist er Sinnbild für den Zugang zur Gedankenwelt Peter Stillmans, andererseits Vorzeichen für Quinns eigenen Übergang in eine andere Realität, das heißt sein Verschwinden am Ende des Romans. Analog zum Motiv des Kaninchenbaus, in den Alice bei Carroll hineinfällt, durchzieht das Motiv des dunklen Lochs, von dem eine Sogwirkung ausgeht, Mazzucchellis Bilderzählung. Mit Blick auf die angedeutete Sogwirkung, die von den assoziationsstimulierenden Panels selbst ausgeht, darf das dunkle Loch in seiner unauslotbaren Tiefe als Sinnbild der zu Ideenfluchten einladenden Bildmotive insgesamt gelten, also als dezidiert autoreflexiv eingesetztes Motiv.
Seitenraster und Panel-Format In seinem Essay Hinter den Linien kommentiert Andreas Platthaus die Strukturierung von Mazzucchellis Comic als gegenüber der literarischen Vorlage transparenter.10 Die Bilderzählung entwickelt sich optisch aus einem schwarzen seitenfüllenden Rechteck. Als Träger eines Anfangssatzes (»It was a wrong number that started it …«)11 erinnert diese schwarze Seite an die Einleitung von Szenen im Stummfilm, denen oft eine geschriebene Erläuterung auf schwarzem Grund vorangeht; sie kann aber auch als Symbol der Verrätselung (Verdunkelung) betrachtet werden, insbesondere, da die Bildgeschichte den Leser später wieder ins Dunkel zurückführt. Das Raster, das der Bildgeschichte als Grundstruktur unterlegt ist, wird erst auf der zweiten Seite eingeführt. Auf die Grundfläche der Seiten verteilen sich nun jeweils drei mal drei Panels horizontal neben- und vertikal übereinander. Auf den folgenden Seiten herrscht dieses Drei-mal-drei-Layout vor, wird aber von Mazzucchelli immer wieder durch das Zusammenfassen von zwei oder mehr Panels zu einem größeren variiert. In wenigen Fällen verzichtet der Zeichner auch ganz auf Rahmen für die Panels. Gelegentlich werden die Leerräume
9
10
11
Eine weitere Assoziation verbindet Mazzucchellis Zeichnung mit dem March Hare (Märzhasen) Carrolls, der mit Alice eine Diskussion über Sprache und Sprachverständnis führt. Auch dies ist ja ein Leitthema in Austers Roman. »Dank eines festen Seitenrasters [gibt] diese Adaption dem Roman die im Original verweigerte Durchsichtigkeit.« (Platthaus, Im Comic vereint, S. 76 f.). Karasik/Mazzucchelli, City of Glass, S. 1.
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zwischen den Panels semantisch aufgeladen. Gelungene Beispiele sind die drei Panels (S. 57), auf denen einige der von Stillman sr. gesammelten zerbrochenen Gegenstände abgebildet sind, darunter eine Zeitung und ein Ast. Die beiden vertikalen Trennstellen halbieren Zeitung und Ast, sodass sie sich auf zwei Bilder verteilen und der Eindruck von Zerbrochenheit verstärkt wird. Ein weiteres gutes Beispiel für eine solche Semantisierung der Leerstellen ist die Gesamtkomposition der Seite 22. Auf einem der wenigen ganzseitigen Panels zeigt Mazzucchelli hier eine Gittertür; sie steht metonymisch für Stillmans (jr.) in Isolation verbrachte Kindheit und seine anhaltenden Kommunikationsprobleme. Die neun Panels sind schwarze Leerräume (sie werden nur von einer Sprechblase durchzogen), doch die weißen Abschnitte dazwischen bilden Gitterstäbe, also etwas positives, ab. Auf den letzten Seiten der Bildgeschichte schließlich lockert sich das Layout, zerfällt, bricht dann in sich zusammen und gibt die Panels gleichsam frei. Sie flattern wie Textseiten ins Schwarze, wo sie verschwinden. Auch die Schwärze selbst ist nun befreit und nicht mehr, wie auf der ersten Seite, von einem Rahmen begrenzt. Die Panels haben – bis zu der finalen Auflösung des Seitenrasters – in der Regel ein einheitliches Format von 5,5 cm « 3,2 cm.12 Die Kantenlängen der Panels stehen im Verhältnis von 1 : 1,7, was ziemlich genau dem nordamerikanischen Format ›Legal‹, einem Standard für Brief- und Schreibmaschinenbögen, entspricht. Gestützt wird damit die Suggestion, die Panels seien beschriebene Heftseiten – passend zur Idee des roten Notizbuchs, das Quinn im Roman mit Notizen zum Fall Stillman gefüllt hat und das dem Erzählerbericht zugrunde liegt. Auch die Anordnung der Panels im NeunerRaster steht in Beziehung zum Roman und zu der erzählten Geschichte. Die Seiten wirken wie (weitgehend) regelmäßige Gitter und lassen damit die Themen Isolation und Gefangenschaft assoziieren. Peter Stillman jr. wurde – passend zum Drei-mal-drei-Raster – neun Jahre von seinem Vater eingekerkert gehalten. Gelegentlich spielt das Layout auf Hochhausfronten an, so im mittleren Panel auf S. 61; alle architektonischen Strukturen, zu denen es in Korrespondenz tritt, haben dadurch mittelbar Anteil an seinem ›Gefängnis‹-Charakter.13 Wiederholt wird dem Leser nahegelegt, das Panel-Layout als visuelle Paraphrase eines vergitterten Fensters auszulegen (vgl. S. 27, S. 42).14 12 13
14
In Ausnahmefällen werden mehrere dieser Bildfeld-Einheiten zusammengefasst. Angespielt wird durch die Rasterung auch auf die rationale Topographie New Yorks, die insofern visuell als ›gefängnisartig‹ interpretiert erscheint. Das wiederkehrende Fenster (vgl. S. 42) ist das gleiche, vor dem Quinn schon eingangs (auf S. 11) sitzt, und in seiner strukturellen Analogie zur Grundform des Seitenlayouts ist es zugleich das Fenster, durch welches wir Quinn und dessen diverse Identitäten betrachten.
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Auch zu Lewis Carrolls Alice-Erzählungen, aus denen ja direkt und indirekt wiederholt Bilder Tenniels zitiert werden, besteht über das Grundmodell der neun Panels eine Analogie. Alice in Wonderland spielte in einer Spielkartenwelt, Through the Looking-Glass auf einem Schachbrett; das Layout des AusterComics nun gibt parallel zu dieser ›Spiel‹-Idee das Spielfeld von Tic-Tac-Toe (»Drei in einer Reihe«) wieder. Mazzucchelli fügt selbst ein konkretes Abbild dieses Spielfelds in Peter Stillmans Vortrag seiner Lebensgeschichte ein, bringt das Spiel so in eine unmittelbare Beziehung zu Stillman und wird zugleich selbstbezüglich. Eine Besonderheit des Spiels Tic-Tac-Toe liegt darin, dass der Spieler, der den ersten Zug macht, niemals verlieren kann, wenn er zwei maßgebliche Regeln bei seinen weiteren Zügen beachtet;15 er kann immer mindestens ein Unentschieden herbeiführen. Anders als beim Schach muss das Spielfeld vor Spielbeginn gezeichnet werden; auch gespielt wird zeichnend, durch Einfügung von Kreuzen und Kreisen.16 Dass der Zeichner des Auster-Comics mit den Elementen seiner Geschichte bewusst Tic-TacToe spielt, demonstriert eine Panel-Sequenz zu Beginn der Erzählung, die in Quinns Wohnung, am Telefon, spielt (S. 10): Drei Panels, die eine diagonale Reihe quer über die drei Zeilen bilden, sind hier eingeschwärzt; sie repräsentieren einerseits Intervalle zwischen den dargestellten Momenten, deuten andererseits aber bereits darauf hin, dass sich Geheimnisvolles anbahnt. Erzählt wird vom dritten Telefongespräch zwischen Stillman und Quinn, von Quinns Eintritt in den Kriminalfall und seiner Transformation zum fiktiven Detektiv Paul Auster. Durch sein dreimaliges Anrufen hat Peter Stillman jr. das Spiel begonnen. Daniel Quinn als zweiter Spieler findet sich damit in der Position, von der aus er nicht gewinnen kann, wenn sein Gegenüber nur entsprechend strategisch spielt. Mit der Auflösung der Panel-Struktur am Ende des Comics wird unter anderem das Ende von Alice in Wonderland zitiert, wo Alice die Spielkarten durcheinanderwirbelt und damit ihre Traumwelt demontiert.
15
16
»Der erste Zug besetzt das Feld in der Mitte. Wenn der Gegenspieler [in seinem Zug] ein Eckfeld besetzt, geht der zweite Zug in das Eckfeld gegenüber. Wenn der Gegenspieler ein Seitenfeld besetzt, geht der zweite Zug in eines der gegenüberliegenden Eckfelder. Von nun an werden je Zug unmittelbar drohende Gewinnstellungen des Gegners abgewehrt durch Besetzen des Feldes, mit dem der Gegner gewinnen würde.« (http://de.wikipedia.org/wiki/Tic_Tac_Toe). Als ein Zeichen-Spiel ist Tic-Tac-Toe dem Genre des Comics von vornherein affin und eignet sich darum besonders als Substrat der ästhetischen Selbstbespiegelung.
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Zeichenstile Abgesehen vom Cover verzichtet der Comic-Roman vollständig auf Farben, und mit Ausnahme der epilogartigen Passage am Schluss gibt es keine Schattierungen zwischen Schwarz und Weiß. Trotz dieser relativen Uniformität kommt es im Durchgang durch die gezeichnete Geschichte zu stilistischen Modifikationen: Anfangs treffen harte Schwarz-weiß-Kontraste aufeinander. Etwa ab der Mitte des Buchs treten oft Schraffuren an die Stelle monochromer Flächen; gleichzeitig wird die dargestellte Welt reicher an Details, die Zeichnungen gewinnen an Tiefenschärfe. Damit einher geht eine Tendenz zu immer freierer Zeichnung: Dominieren erst klar umrissene schwarze oder weiße Formen und Flächen das Gesamtbild, so werden diese zunehmend unklarer, fransen aus oder werden fleckig, während die Linien immer ›zitteriger‹ werden. Manche Panels wirken wie Versuche, einen Moment flüchtig in einer Skizze festzuhalten. Diese zeichnerische Formauflösung verläuft analog zum sukzessiven Selbstverlust Daniel Quinns und zur Auflösung des Panel-Layouts. Der Stil, in dem die Gestalt des völlig heruntergekommenen Quinn zuletzt gezeichnet ist, erinnert an die als Bildzitate eingefügten Höhlenbilder, die (als Bestandteile der Geschichte des depravierten Peter Stillman jr.) ihrerseits als Symbole für eine Phase der Vorbewusstheit, der ›Prähistorie‹ des Ich-Bewusstseins, stehen. Eine Art Epilog gilt der Auffindung von Quinns Notizbuch. Damit verbunden ist ein radikaler Wechsel des Zeichenstils.17 In Austers City of Glass wird – wie eingangs erwähnt – der normalerweise auf Differenzierungen (Täter/Opfer, Schuld/Unschuld, richtige/falsche Lösung) beruhende Kriminalroman als Genre systematisch dekonstruiert: Der Detektiv ist kein Detektiv, Stillman sr. hat keine neue Straftat begangen, mithin gibt es kein neues Opfer, alle Beteiligten verschwinden; es gibt kein wirkliches Rätsel, das zu lösen wäre. Dieser Entdifferenzierung korrespondiert im Comic zum einen die Selbst-Demontage eines graphischen Darstellungs17
Platthaus hat dies bereits festgestellt und interpretiert: »Die harte Realität des zuvor gepflegten klaren Strichs weicht dem süßlichen Stil des Aquarells, der der Unheimlichkeit der Geschichte ein Ende setzt. Diese Infragestellung des gesamten Buches ist allein der Bildgeschichte vorbehalten.« (Platthaus, Im Comic vereint, S. 84) Solch zeichnerische Infragestellung des eigenen Darstellungsverfahrens korrespondiert der Relativierung von Erzählerpositionen und Darstellungsprämissen im Roman. Die Geschichte des Schriftstellers Quinn endet damit, dass dieser um das herannahende Ende seines Schreibens weiß: »He wrote about the stars, the earth, his hopes for mankind. […] Nothing mattered now but the beauty of all this. He wanted to go on writing about it, and it pained him to know that this would not be possible.« (Auster, City of Glass, S. 130).
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verfahrens, bei dem zunächst harte Schwarz-weiß-Kontraste dominieren, die dann schrittweise aufgelöst werden, bei dem zuerst klare Konturen die Bildsprache prägen, um dann vagen Konturen zu weichen, und bei dem das anfänglich rigide Seitenraster schließlich destruiert wird.
Die Darstellung der Stadt New York Der Titel von Austers Roman weist New York als die eigentliche Protagonistin und zugleich als gläserne Stadt aus. Mit dem Bild einer Stadt aus Glas konnotiert sind erstens Prozesse der Reflexion, zweitens eine trügerische, weil durch multiple Lichtbrechung gestörte Transparenz sowie drittens Zerbrechlichkeit. Hinter Glas zu leben ist zudem eine zu Quinns Situation passende Metapher der Isolation. Mazzucchelli und Karasik konstruieren ihre Stadt aus Glas als komplexes System sich gegenseitig spiegelnder Bildelemente. Interpikturelle Anspielungen und Zitate geben den Blick von der gezeichneten Glas-Stadt auf andere Bilder und Texte frei. Eine relative Orientierung in dieser Stadt ist trotz aller Komplexität am Leitfaden zentraler Motive möglich; dazu gehören das des Labyrinths, des Apfels, des Turms von Babel und des Steins. Um diese vier Konzepte, die allesamt zugleich als Metaphern New Yorks fungieren, rankt sich ein dichtes Anspielungsgeflecht. Die Stadt als Labyrinth: Zu Beginn des Buchs sehen wir eine Serie von Panels, die an eine Kamerafahrt erinnert und in deren Verlauf Daniel Quinn vorgestellt wird. In mehreren Schritten löst sich ein Straßenzug auf; die Zeichnung formiert sich zu einem Labyrinth und dann zu einem Fingerabdruck; dieser findet sich schließlich auf der Fensterscheibe des Fensters, durch das zuvor die Häuserfronten zu sehen waren. Später (S. 84) finden wir den gleichen Fingerabdruck wieder. Hier verwandelt er sich zurück in ein (diesmal dreidimensionales) Labyrinth. Am Ende der Sequenz sieht sich der Leser gegenüber einer stählernen Tür, die mit einem überdimensionalen Vorhängeschloss versperrt ist, einem zusätzlichen Sinnbild der Intransparenz. Einzelne Etappen der Metamorphose, die zwischen Labyrinth und Fingerabdruck vermittelt, erinnern an mehrere Kompositionen von Piet Mondrian (Komposition Nr. 6, 1914, und Komposition Nr. 10, 1915), der der Stadt New York eine Serie von Bildern gewidmet hat.18 Das Labyrinth der 18
Mondrian, 1872 in Amersfoort geboren, begründete 1916 mit anderen niederländischen Künstlern und Kunsttheoretikern die Zeitschrift De Stijl, in der er mehrere programmatische Aufsätze zu einer rein geometrischen Formensprache veröffentlicht. 1940 flieht er vor den deutschen Besetzern – nach New York.
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Der Comic und die Weltliteratur
Stadt verweist bei Auster und Mazzucchelli auf die Verlorenheit des Menschen. Ziellos irrt Austers Protagonist durch die Stadt. Quinn ist aber nicht nur in der Stadt New York orientierungslos, sondern auch in Bezug auf seine eigene Identität. Die Suche nach letzterer wird versinnbildlicht durch den Fingerabdruck, der sich in der Labyrinthik der städtischen Topographie auflöst und demzufolge nicht entziffert werden kann. Die Stadt als Big Apple: Ein gebräuchlicher Beiname für New York City ist ›The Big Apple‹; der große, rote Apfel fungiert als Logo der Stadt, seit ihn das New York Convention and Visitor’s Bureau in den 1970ern dazu gemacht hat. Mazzucchelli zeichnet das Logo ab (zum Beispiel S. 40). Das Bild des ›Apfels‹ New York fungiert in der Comic-Version – über die Bildsprache der Romanvorlage hinausgehend – als Bindeglied zwischen dem Thema New York und dem Motiv des Sündenfalls. Die Spekulationen des alten Stillman kreisen um den Sündenfall, den Verlust des Paradieses und der paradiesischen Ursprache. Der Apfel steht metonymisch für den Bericht über die erste Sünde. Mazzucchelli zitiert Albrecht Dürers Kupferstich Adam und Eva von 1504 zweimal; dabei wird der Apfel herangezoomt. Die Stadt als neues Babylon: Babylon ist das dritte Motiv, mit dem Mazzucchelli und Karasik New York assoziativ verknüpfen, hier wieder in Korrespondenz zur Romanvorlage. Für Stillman sr. ist New York ein modernes Babel, daher aber auch der Ort, an dem die babylonische Verwirrung der Sprachen rückgängig gemacht werden sollte. 340 Jahre nach der Landung des ersten Pilgerschiffs hat er seinen Sohn eingesperrt, um die erhoffte göttliche Sprache wiedererstehen zu lassen. Mazzucchelli schickt Quinn und Stillman ins »Mayflower Cafe« (S. 72). In Austers Roman läuft Stillman sr. eine Route durch New York, deren Verlaufslinien den Schriftzug (T)OWER OF BAB(EL) ergeben; Quinn transkribiert den Weg in sein Notizbuch, und dieser Schriftzug ist im Roman als visuelles Element inmitten des Textes – also als Bindeglied zwischen narrativer und graphischer Darstellung – zu sehen. Im Comic taucht es dann als Bildzitat aus dem Roman auf. Die wohl berühmteste bildkünstlerische Darstellung der Geschichte des Turmbaus von Babel schuf Pieter Brueghel der Ältere 1563. Auch dieses Bild wird im Comic zitiert. Die Stadt aus Stein: Leitmotivische Funktionen übernehmen bei Mazzucchelli die Steine. New York erscheint als vollständig aus Backsteinen gemauInspiriert von der Metropole malt Mondrian zum Beispiel »New York City I« und andere Bilder, deren Kompositionen vom Stadtplan New Yorks inspiriert sind. Das genannte Bild rückt New York als Gesamtphänomen in den Blickpunkt des Betrachters, löst es aber gleichzeitig auch in ein Raster aus Primärfarben auf.
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erte Straßenflucht (S. 86), seine Bewohner als Elemente der Mauern: »He [Stillman] had become a part of the city, a brick in an endless wall of bricks.« Mehr und mehr verschmilzt Quinn mit seiner Umgebung. Gleichnisbeziehungen bestehen auch zwischen Stadt, Stein und Text. Eine zerfallende Backsteinmauer und ein zerbröckelnder Gehweg fallen stückweise in Quinns Notizbuch. Dort formen sie die in der Romanvorlage Austers gezeichnete Buchstabenfolge O, W, E, R, O, F, B, A, B, die Quinn zuvor entziffert hat.19 Der Text besteht also aus steinerner Materie. Aus Backstein wird parallel dazu der Turm von Babylon gebaut (S. 44). Text, Stadt, Stein und Babylon bespiegeln einander im Zeichen verschiedenster Konstellationen wechselseitig.20 Die Stadt als Fundgrube: Wie Stillman sr. durchstreift der Zeichner des Comics die Alltagswelt des zeitgenössischen New York, sammelt ein, was er an disparaten Elementen findet und schafft mit seiner Sammlung von Fundstücken ein Modell der nicht minder disparaten Welt. Die scheinbar trivialsten Objekte erzählen dabei eine Geschichte, und noch von scheinbar marginalsten Bildelementen ausgehend lassen sich Assoziationsketten abspulen. Dafür ein Beispiel: Der fiktive Auster serviert Quinn ein Omelette, dazu gibt es Bier aus der Flasche. Das Flaschenetikett nennt ›Bushmiller‹ als Biermarke. Anscheinend gibt es unter Comic-Künstlern eine Art Bushmiller-Kult, auf den Karasik und Mazzucchelli anspielen. Ernest Bushmiller war der Zeichner des Strips Nancy, der als der un-komischste Strip überhaupt gilt. Laut einem Interview, das die Comic-Zeichnerin Shannon Wheeler (Too-muchCoffee-Man-Magazin) 2002 mit dem Zeichner und Verleger Denis Kitchen führte, hat Wheeler eines Tages per Zufall den Namen des Zeichners auf einer Bierflasche gefunden.21 19
20
21
»Die Mauer ist bei Auster ein häufig wiederkehrendes Bild. Einer seiner ersten Gedichtbände […] trägt den Titel Wall Writing – wörtlich übersetzt, ›Auf Mauern schreiben‹. Darin behaut das lyrische Ich Steine, […] vergräbt und zertrümmert sie […]. Paul Auster schrieb auch: ›Das ist eine Mauer. Und die Mauer ist der Tod.‹ Oder: ›Denn die Mauer ist ein Wort.‹« (Paul Auster/Gérard de Cortanze: Die Einsamkeit des Labyrinths, Reinbek bei Hamburg 1999, S. 60 f.). Peter Stillmans Name passt ins Bildfeld. Der Apostel Petrus (der »Fels«) ist laut 1. Petrus 2, 4–5 ein »lebendiger Stein«. Andere Bilddetails innerhalb der zeichnerischen Umsetzung verweisen überdies auf die Freimaurer. »At an industry party in a hotel suite two years ago I reached into a bathtub full of beer bottles smothered in ice cubes. The bottle I randomly yanked bore a label that was carefully grafted from two separate actual beer labels: Busch and Miller! The clueless hostess and I found another half dozen such bottles among the normal brands she had actually stocked.« Vgl. Kitchens Homepage: http:// www.deniskitchen.com/docs/TMCM.Bushmiller.html.
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Bushmiller ist bekannt dafür, dass er immer genau drei Steine in den Hintergrund seiner Comic-Strips gezeichnet hat, um Landschaften anzudeuten. Art Spiegelman, Herausgeber des vorliegenden Comics, wird von Scott McCloud zu Bushmiller wie folgt zitiert: Ernie Bushmiller didn’t draw A tree, A house, A car. Oh, no. Ernie Bushmiller drew the tree, the house, the car. […] Art Spiegelman explains how a drawing of three rocks in a background scene was Ernie’s way of showing us there were some rocks in the background. […] Because two rocks wouldn’t be »some rocks.« Two rocks would be a pair of rocks. And four rocks was unacceptable because four rocks would indicate »some rocks« but it would be one rock more than was necessary to convey the idea of »some rocks.«22
Bushmiller und die Steine treten so in eine metonymische Beziehung, vermittelt durch zwei Bierflaschen und die Insidergeschichten aus der ComicSzene. Sie tun dies aber auf spielerisch-ironische Weise: Es sind zwei Omelettes, zwei Bierflaschen, zwei Messer, zwei Gabeln, zwei Teller, vier Scheiben Toast – nicht ein Gegenstand erscheint dreimal, wie Bushmiller es gefordert hätte. Wie hier im Kleinen, so beruht Mazzucchellis Comic auch auf der Makroebene auf der Kombination gesammelter, mit Konnotationen aufgeladener Elemente zu Narrationen, deren Vieldeutigkeit sich in geometrischer Progression aus der Bedeutungsfülle ihrer einzelnen Bausteine ergibt.23 Die gezeichnete Stadt aus Glas ist ein Babel der Bilder und Wörter, die in wechselvolle und mehrdeutige Beziehungen zueinander treten. Vor allem die genannten Kernmotive werden in komplexe Kompositionen integriert, so wenn (S. 44) New York, Apfel, Stein und Neues Babel zu einem verfremdeten Zitat verschmolzen erscheinen: in der Silhouette eines Apfels, auf dessen Oberseite sich eine Hochhaus-Skyline abzeichnet.24 Auch andere Bildeinfälle des Comics gehen über das hinaus, was in der Romanvorlage angelegt ist, etwa durch biographische Anspielungen auf Auster selbst. Am Morgen nach dem Telefonat mit Peter Stillman jr. etwa verlässt Quinn das Haus, um seinen Klienten zu treffen; ein Straßenschild mit Aufschrift (»W 107ST«) lokalisiert ihn in der 107th Street West. Detektivische Recherchen des Lesers 22
23
24
Vgl. McClouds Website: http://www.scottmccloud.com/4-inventions/nancy/ index.htm l. Auch im engeren Sinn kunsthistorische Reminiszenzen untermauern die Bedeutung des Steins als Leitmotiv. Mazzucchelli spielt wiederholt auf das Werk des französischen Malers René Magritte an, so zum Beispiel, wenn sich Quinn plötzlich in einen Stein verwandelt (S. 91). Vgl. dazu unten Weiteres. Das Big-Apple-Logo und Magrittes Gemälde Le Chateau de Pyrenées sind hier miteinander verschmolzen.
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führen zu der Information, dass der Autor Auster früher in dieser Straße gewohnt hat.25 Zum Palindrom gespiegelt ( ! ) taucht der Name von Austers Frau Siri H.[ustvedt] auf einem Klingelschild auf: »H. Iris« (S. 87). Zu den Nachbarn der Figur Auster im Comic gehört neben »H. Iris« auch ein gewisser Hauser, passend zur Analogie zwischen dem Schicksal Peter Stillmans jr. und dem des Kaspar Hauser (der historischen Zeugen zufolge zunächst nichts anderes schreiben konnte als seinen Namen).26 In der gleichen Handschrift wie hier der Name Hauser ist an anderer Stelle der Name Paul Austers zu lesen: auf dem Scheck, den Virginia für Quinn ausstellt (S. 90). Picassos Tuschzeichnung Don Quijotes, die sich wie ein roter Faden durch den ganzen Comic zieht (S. 6, 7, 8, 9, 14, 24, 26, 89, 129), verbindet als dreifach vorhandenes Requisit die Wohnungen Quinns mit der Stillmans und der Austers und zugleich den Comic mit dem Roman, in dem eine analoge Folge intertextueller Hinweise zur Figur des Don Quijote führt. Pierre Menard, Jorge Luis Borges’ fiktiver »Autor des Quijote« befindet sich laut Klingelschild ebenfalls unter den Nachbarn.
6.3
Die Kunst des Zitats
Der Roman City of Glass spielt in einer Welt der abgeleiteten Dinge, in der es die Wahrheit als letztes Denotat ebenso wenig gibt wie eine Ursprache – nur eine unablässige Zirkulation von Zeichen. Übertragen auf die menschlichen Figuren bedeutet dies, dass sie keine wahre Identität besitzen; sie sind stets als Transformationen anderer Ich-Entwürfe zu betrachten und verlieren sich in prinzipiell unendlichen Prozessen der Spiegelung.27 Der Romantitel verweist unter Anspielung auf den Wortsinn des Ausdrucks ›Reflexion‹ auf die Idee eines Spiegellabyrinths, in dem man sich nicht findet, sondern verliert. Dem korrespondiert insbesondere das im Roman wiederholt auftauchende 25 26
27
Auster/de Cortanze: Die Einsamkeit des Labyrinths, S. 68. Die Haustürklingeln an dem Gebäude, das der Schriftsteller Auster bewohnt, enthalten insgesamt Anspielungen auf Marco Polo (»Mark Polo«), Siri Hustvedt (»H. Iris«), Kaspar Hauser (»Hauser«), Auster selbst, sowie auf Borges’ Erzählung über »Pierre Menard, Autor des Quijote« (»Menard«). Die Doppelseite 32/33 mit ihrer Darstellung verschiedener »wilder Kinder«, unter ihnen zweimal Peter Stillmann jr., sowie der aus rohen, schematischen Strichen gezeichnete Kinderkopf, der mit dem Tod von Daniel Quinns Sohn Peter assoziiert ist visualisiert die Idee, die Menschen seien durch doppelgängerische Verwandtschaften untereinander verbunden und gleichsam jeweils das »Zitat« anderer Figuren.
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Doppelgängermotiv.28 Austers Welt unterläuft die Leitdifferenzen zwischen ›Wahr‹ und ›Falsch‹, ›Echt‹ und ›Unecht‹, ›Urbild‹ und ›Kopie‹. Alles ist nur Reproduktion von Reproduktionen, Repräsentation von Repräsentationen. Quinn weiß um den Second-Hand- oder Zitatcharakter der ihn umgebenden Wirklichkeit, und in seinen Büchern stellt er eine ebensolche Welt aus Zitaten dar, wie er sie selbst bewohnt. Was er über diese Dinge wußte, hatte er aus Büchern, Filmen und Zeitungen erfahren. Er betrachtete das jedoch nicht als Handicap. Was ihn an den Geschichten, die er schrieb, interessierte, war nicht ihre Beziehung zur Welt, sondern zu anderen Geschichten.29
Sprachliches Pendant des Doppelgängers und einer Welt aus Dingen, die keine ›Originale‹ sind, ist das Zitat. Einer vielzitierten Kernmetapher der Intertextualitätstheorie zufolge ist jeder Text ein Mosaik aus Zitaten. Austers Roman inszeniert sich ostentativ als ein solches Mosaik. Seine Mosaiksteine bezieht er insbesondere bei Cervantes, Poe, Carroll und Borges – bei Autoren also, die ihrerseits schon subversiv gegen die Leitdifferenz von Originalem und Sekundärem, Ursprünglichem und Abgeleitetem, Wahrheit und Schein samt ihren metaphysischen Implikationen angeschrieben hatten. Bildliches Pendant einer Welt aus Zitaten und eines entsprechend als intertextuelles Potpourri konstruierten Romans ist die Montage von Bildzitaten. Und wenn Karasik und Mazzucchelli ihren Auster-Comic entsprechend konzipiert und realisiert haben, so schaffen sie damit nicht nur ein visuelles Pendant zu der Vielfalt an intertextuellen Anspielungen auf andere literarische Werke, die für City of Glass charakteristisch ist, sondern sie visualisieren die These vom Zitatcharakter der Welt und ihrer Bewohner, von der Vieldeutigkeit aller Zeichen und der Ununterscheidbarkeit zwischen Realitäten und Fiktionen. Wie seine Romanvorlage vermittelt der Comic eine Ästhetik des Zitats, und wie bei Austers City of Glass verbindet sich damit die autoreflexive Auseinandersetzung mit dem eigenen künstlerischen Genre: Zeichnen heißt zitieren, so wie alles Schreiben ein Zitieren ist. Bezogen auf die Bildzitate des 28
29
Austers Roman ist eine intertextuelle Collage aus verschiedenen Elementen literarischer Vorgänger-Texte und insofern etwa ein ›Doppelgänger‹ seiner Vorlagen. Auf der Ebene der erzählten Fabel treten mehrere Doppelgänger-Paare auf: Der Kriminalautor Daniel Quinn wird für einen Detektiv namens Paul Auster gehalten. Er findet nicht diesen, sondern einen Autor gleichen Namens, der seinerseits das romaninterne Double des realen Schriftstellers Paul Auster ist. Daniel Quinn hat sich im Detektiv »Max Work« ein Double geschaffen. Die Gestalt des verbrecherischen Peter Stillman sr. hat einen Doppelgänger. Karasik/Mazzucchelli, City of Glass, S. 14.
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Comics könnte man auf mehreren Ebenen differenzieren: Zu unterscheiden sind erstens direkte Bildzitate (also Montagen bekannter Bilder ins eigene Panel) und indirekte Zitate, bei denen nicht ein bestimmtes Motiv, sondern ein Zeichen- oder Malstil zitiert wird.30 Zweitens wäre zu differenzieren zwischen Zitaten, die auf jeweils unterschiedliche Bildmedien verweisen: auf Gemälde und Graphiken, auf Photos und Filme – und auf andere Comics.31 Mazzucchellis City of Glass ist nämlich unter anderem ein Medien-Museum: Dass die erste Seite mit Ausnahme eines halben Satzes in Schreibmaschinenschrift ganz schwarz ist, erinnert, wie erwähnt, an den Stummfilm und seine Zwischentitel. Während Quinn, nachdem sein Interesse an Stillmans Fall geweckt ist, gespannt einen neuerlichen Anruf erwartet, hört er Schallplatte. In Stillmans ›Lebensgeschichte‹ finden sich unter anderem Zeichnungen eines Grammophons und eines beschädigten Fernsehers. Eine gezeichnete großflächige Photographie (als KODAK-Reklame) visualisiert die Erinnerungen Daniel Quinns an Nantucket und signalisiert damit die Beziehung zwischen Photographie und Erinnerung.32 In besonderem Maße ausdifferenziert werden bei Mazzucchelli verschiedene Schrift-Bilder. Eine ebenso hervorgehobene Rolle spielen Zitate kartographischer Materialien. Gerade sie dienen der Erzeugung suggestiver räumlicher Effekte. Mittels einer Karte zur Bevölkerungsdichte der USA wird die von Stillman sr. vorgenommene Analogisierung der Vereinigten Staaten mit Babel visuali30
31
32
Mazzucchelli spielt mit Stilzitaten. So erinnert einer der Übergangszustände zwischen Hausmauer und Fingerabdruck auf S. 4 an Wassily Kandinskys Gemälde Schwarze Striche sowie an mehrere von Piet Mondrians Kompositionen, ohne diese direkt abzubilden. Auf S. 9 ist eine alte Landkarte abgebildet, auf der u. a. der alte Name für China, »Cathay«, zu lesen ist; die Zeichnung imitiert eher den Stil alter Karten als eine bestimmte Vorlage. Den Stil simpler Illustrationen zu biblischen Texten, wie sie in Kinder- und Schulbüchern oder in religiösen Traktaten vorkommen, imitieren die Darstellungen des rätselhaften Fährmanns auf den Seiten 16 und 17, die eines Wanderers nach der Katastrophe von Babel (S. 41) und die einer nackten Menschenfigur auf der Suche nach neuer Unschuld (S. 43). Die folgende Seite (18) zeigt die Strichzeichnung eines menschlichen und eines tierischen Wesens, die der Form von prähistorischen Höhlenmalereien nachempfunden ist. Die Erschaffung des Menschen wird u. a. im Stil frühneuzeitlicher Holzschnitte nacherzählt (S. 39). Zu den Visualisierungen des Berichts von Stillman jr. gehört eine Adaptation der Comic-Figur »Henry« von Carl Anderson (S. 20), die in einer typischen HamletPose (mit einem Totenschädel in der Hand) dargestellt ist. Erinnert wird damit auch an Herman Melvilles Moby Dick, der Roman nimmt in der Walfängerstadt Nantucket seinen Ausgang. Derartige Mehrfach-Codierungen finden sich in Karasiks und Mazzucchellis Comic wie in Austers Vorlage in großer Zahl (vgl. Karasik/Mazzucchelli, City of Glass, S. 47).
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siert.33 Auf einer ganzen Buchseite wandert Quinn über einen reproduzierten New Yorker Stadtplan, wodurch in einem einzigen Bild eine lange Phase der Suche dargestellt wird.34 Gespiegelt wird diese Wanderung in einer Karte der Route des großen Reisenden Marco Polo, der sich auch unter den Nachbarn Austers, Hausers und Menards finden lässt. Kaum zufällig ist diese Karte in einem Buch abgedruckt.35 Hinzu kommen optische Motive, die an Texte erinnern – in der Regel an Texte, auf die durch Austers Romanvorlage schon hingewiesen wird. So ist der Name William Wilson, der als AutorPseudonym Daniel Quinns auf S. 3 auftaucht, eine Anspielung auf den Doppelgänger William Wilson aus E. A. Poes gleichnamiger Erzählung. Neben direkten Bildzitaten können auch dargestellte Objekte, Figuren oder Schauplätze Hinweise auf nicht-dargestellte Kontexte enthalten.36 Ähnlich wie Austers Romanvorlage zitiert Mazzucchellis Comic-Version des Romans vor allem immer wieder sich selbst – durch seine Leitmotivtechnik, die es ihm erlaubt, über die lineare Ordnung der Erzählung hinausgehend auch entfernte Phasen der Geschichte miteinander zu verknüpfen. Wie der Roman Austers mit Blick auf seine Beziehungen zu anderen Texten gelesen werden muss, so der Comic mit Blick auf andere Bilder. Manche Anspielungen sind eher verdeckt, andere massiv rezeptionssteuernd. Die Rollen von Poe, Carroll, Cervantes und Borges im Roman übernehmen im Comic Dürer, Brueghel, Picasso und Magritte.37 Indem diese herbeizitiert werden, verortet sich der Comic in der Geschichte der bildenden Kunst. Damit verbunden ist eine stärkere Profilierung der Leitthemen des Romans. 33 34 35 36
37
Ebd., S. 44. Ebd., S. 101, vgl. hierzu auch Platthaus, Im Comic vereint, S. 78 f. Karasik/Mazzucchelli, City of Glass, S. 9. Das Grammophon mit Schalltrichter auf S. 19 ist als Anspielung auf das Bild His Master’s Voice deutbar, zumal, da es hier um die Gewalt geht, die Stillman sr. über seinen Sohn ausgeübt hat. Die Figur der Marionette auf S. 23 verweist auf den mit Peter Stillman jr. verknüpften Bildkomplex um fremdgesteuerte hilflose Wesen, Kaspar-Hauser-ähnliche Existenzen. Zu nennen wäre vielleicht noch Masereel. Frans Masereel gilt als ein wichtiger Vorläufer der Comic-Erzählung (vgl. McCloud, Understanding Comics, S. 19). Der Umschlag des Buchs erweist dem Belgier seine Reverenz. Die Darstellung der Hochhäuser einer Großstadt erinnert an Frans Masereels Holzschnitte. Auf S. 45 ist Quinn sitzend in einem Panel dargestellt, dass ein Bild aus Masereels Stundenbuch assoziieren lässt; das Stundenbuch schildert wie City of Glass u. a. die Wanderung durch eine Stadt, ein Besuch in einer Bibliothek und die Unterhaltung mit einem Alten auf einer Parkbank gehören ebenfalls zu den Erlebnissen von Masereels Stadtbesucher.
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Die Geschichte des Sündenfalls wird unter Verwendung eines Bildzitats von Albrecht Dürer gezeigt: Adam, Eva und die Schlange im Paradies markieren den Anfang der Menschheitsgeschichte als den Verlust der ursprünglichen Einheit von Mensch und Natur und insbesondere als den Verlust der wahren paradiesischen Sprache, in der Dinge und Namen einander auf natürliche Weise entsprachen (S. 38 f.). Komplementär zur Darstellung des Sündenfalls (und des Verlusts der paradiesischen Ursprache) wird der Mythos vom Turmbau zu Babel und von der dort erfolgten Verwirrung der Sprachen zitiert. Dazu verwendet Mazzucchelli als Bildmotiv Pieter Brueghels Darstellung des Turmbaus zu Babel (S. 40). Ein solches Zitat kann als zusätzliche Anspielung auf die Thematik der Vielheit der (Bild-)Sprachen gelten. Indem er mehrfach eine Picasso-Zeichnung von Don Quijote und Sancho Pansa in die Bildgeschichte einmontiert, zitiert Mazzucchelli auf dem Umweg über Picasso die Romanfigur des Cervantes, die in Austers Romanvorlage als Gegenstand der Reflexion und als Sinnbild der Verwirrung eine zentrale Rolle spielt. Der Comic erzwingt die Substitution der entsprechenden verbalen Anspielungen durch Bildzitate; Picassos Graphik gehört zu den berühmtesten Quijote-Darstellungen, und über die Assoziation »Spanien« besteht eine zusätzliche Verbindung. Mit dem Don Quijote ist die Problematik einer Differenzierung zwischen Wirklichkeit und Fiktion konnotiert, mit Picasso zudem aber auch die Geschichte des Zeichnens in der künstlerischen Moderne – nicht zuletzt das Durchspielen verschiedenster visueller Darstellungsstile. Der Surrealist Magritte verband in seinem Werk irrationale Bildkonstruktionen mit Hinweisen auf die Paradoxien der Sprache und der Bezeichnung. In einem Sessel bei Paul Auster sitzt – wie eine momentane Transformation des Besuchers Daniel Quinn – ein Stein, wie er sich wiederholt auf Gemälden René Magrittes dargestellt findet (S. 91), so in dem Bild Chateau des Pyrenées. Magrittes Werk steht exemplarisch für zwei auch bei Auster zentrale Themen: erstens für die Problematisierung der Beziehung zwischen Dingen und Namen38 sowie zweitens für die Entdifferenzierung zwischen Urbildern und Abbildern und die Verwischung hierarchischer Beziehungen zwischen
38
Die Beliebigkeit der Namen, also das den Roman maßgeblich prägende »Babel«Thema, hat Magritte wiederholt thematisiert. In seinem Gemälde Der Schlüssel der Träume von 1930 werden wie auf einem Bilderbogen oder auf einer Schultafel diverse einfache Gegenstände gezeigt und mit Namen versehen. Es handelt sich nur um unpassende Vokabeln: Unter dem Bild eines Eis steht »l’Acacia«, unter dem eines Schuhs »la Lune« und so fort.
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Realitäten verschiedener Ordnungen (dargestellt etwa durch Rahmendurchbrüche oder mise-en-abyme-Strukturen). Eine konkrete Magritte-Reminiszenz ist bei Mazzucchelli die Darstellung der Verschmelzung Quinns mit einer Hausmauer (S. 110 f.); Magritte hat analog dazu vielfach ›versteinerte‹ Figuren gemalt. Eines seiner wichtigsten Bildmotive ist zudem das des Doppelgängers. Insgesamt ist Magritte der Meister der Paradoxien: solcher, die zwischen einzelnen Bildelementen, und solcher, die aus der Kombination von Bild und Wort entstehen können. Sein Œuvre verweist auf die Grenzen einer sinnvoll und kohärent geordneten Vorstellungswelt. Die Art, wie er seine Bilder komponierte, nahm prägende Eigenschaften des Comics vorweg. Denn Magritte hat eine Art eigenes Bild-›Vokabular‹ entwickelt; Bildelemente wandern oft von einem Bild ins andere, ähnlich den Bildmotiven im Comic. Rätselhafte Verheißungen scheinen in Bildtiteln wie beispielsweise Der Schlüssel der Träume, Die Werte des Lebens oder Der Realitätssinn zu stecken. Magrittes Bilder sperren sich dagegen, dass man ein letztes Wort über sie spricht. Die einzig mögliche Feststellung ist die ihrer mehrfachen Interpretierbarkeit, wobei die Pointe darin liegt, dass man widersprüchliche Interpretationen formulieren kann, gegen die im Einzelnen nichts spricht, ohne dass sie sich doch hierarchisieren ließen.
6.4
Beziehungen zu anderen Comics
Der Hard-Boiled-School-Detektiv Max Work, über den Daniel Quinn, der Protagonist des Romans, Kriminalgeschichten schreibt, wird mit kantigen Gesichtszügen, im Trenchcoat und mit Hut dargestellt – die Ähnlichkeit zu Chester Goulds Figur Dick Tracy aus dem gleichnamigen Comic-Strip (1931–1977) ist mehr als nur zufällig. Dick Tracy steht wegen seiner vielen Transponierungen in andere Medien (Radio, Film, Cartoon, Videospiel) schon an sich für eine besondere intermediale und interpikturelle Präsenz, die für die Umsetzung des literarischen Texts in einen Comic grundlegend ist. Innerhalb dieses Erzählabschnitts erscheinen zwei Panels, die neben anderen Comic-Figuren (Charles M. Schulz’ Peanuts und wieder Dick Tracy) Carl Andersons Henry (1932–1942, danach von Don Trachte und John Liney weitergeführt) zeigen. Zwar spricht Henry am Anfang noch in Sprechblasen, doch unterwirft ihn Anderson bald dem Pantomimenstrip: Henry ist, als eine der bekanntesten US-amerikanischen Comic-Strip-Figuren, der Inbegriff der Sprachlosigkeit im Comic. Dass er in City of Glass nicht nur spricht, sondern auch anhebt den Hamlet-Monolog zu rezitieren, ist insofern hochgradig ironisch: Der Sprachlose spricht – ähnlich wie Peter Stillman im Roman.
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Abb. 125: Dick Tracyund Henry-Zitate in der ComicUmsetzung von City of Glass (S. 20).39
Der Comic kann sich im Fundus der Comic-Geschichte bedienen, so wie es Paul Auster für seinen Roman in der Geschichte der Literatur tut. Er bespie39 gelt sich dabei selbst in seinen Verwandten. Scott McClouds Metacomic Understanding Comics erschien in New York im Jahr 1993, ein Jahr vor Mazzucchellis Version des Auster-Romans. Eine Erzählerfigur führt den Leser hier in die Kunst des Comics ein. Erörtert werden Formen und Anlässe der Comic-Lektüre, der Prozess der Comic-Produktion, die Elemente von Comic-Zeichnungen, differente Zeichenstile und Darstellungsverfahren. Der Comic wird zur Kunst- und Mediengeschichte in eine Beziehung gesetzt, er wird zum Anlass der Erläuterung verbaler und bildlicher Kommunikationsformen – kurz: Der Comic begründet sich hier selbst, indem er seine eigenen Darstellungsmodi zum Gegenstand der Darstellung macht. Beziehungen zwischen Scott McClouds Buch und Mazzucchellis Auster-Adaptation bestehen auf mehreren Ebenen: (a) Stilistisch verfahren beide analog. Auf der Hauptebene der Narration bedient sich McCloud eines relativ simplen Zeichenstils; sein Erzähler wird durch nur wenige Merkmale charakterisiert, ähnlich wie Quinn bei Mazzucchelli. In diese einfache zeichnerische Sprache einmontiert findet sich aber eine Fülle stilistisch unterschiedlicher Elemente; das Spektrum reicht von der schematischen Punkt-Linie-Kombination zu strukturell hochkomplexen realistischen Darstellungen. Wie bei Mazzucchelli gelegentlich Bildmotive von 39
Vgl. auch Karasik/Mazzucchelli, City of Glass, S. 3 und 7 f.
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Der Comic und die Weltliteratur
einem Stil in einen anderen übersetzt werden, so auch bei McCloud, der dies sogar explizit thematisiert, um Eigenarten und Spielformen zeichnerischer Gestaltung von Comics zu exemplifizieren. (b) McClouds Seitenlayout beruht auf einer Grundform, die zwar variiert, als Grundform aber auch im Prozess der Variation erhalten bleibt: Drei Zeilen gliedern auch hier eine Seite; sie sind allerdings nicht, wie bei Mazzucchelli, in sich dreifach, sondern vierfach untergliedert. (Der Tic-Tac-Toe-Effekt ist insofern eine Spezialität des Auster-Comics.) (c) Auch McCloud zitiert die Kunstgeschichte, um sein narratives Anliegen zu realisieren, das in diesem Fall aus einer Selbsterzählung des Comics als Kunstform besteht. Kapitel 2 beginnt mit einer zweiseitigen Erläuterung der immanenten Paradoxien von Magrittes berühmtem Bild La trahison des images, in dem die Darstellung einer Pfeife verbunden ist mit dem Satz »Ceci n’est pas une pipe«.40 (d) Wie Mazzucchellis Comic durch die Verwendung schwarzer Bildfelder (vor allem am Anfang) die Beziehung des Comics zu den Nachbarkünsten ins Bild setzt, so wird diese – wiederum expliziter – auch von McCloud betont, vor allem im ersten Kapitel, wo es um eine Definition des Comics, das heißt aber um dessen spezifische Differenz zu anderen Darstellungsformen, geht. (e) Wie bei Mazzucchelli, so werden auch bei McCloud die spezifischen Darstellungsmittel der graphischen Bilderzählung dazu genutzt, unterschiedliche Ebenen fiktionaler Wirklichkeit in Beziehungen zueinander zu setzen und die Abgrenzungen zwischen beiden zum Verschwimmen zu bringen. McClouds Erzählerfigur tritt in Kommunikation mit Bildebenen ein, die einem anderen Realitätsniveau angehören. (f) Auch McClouds Thema ist eine Welt der Bilder und Zeichen. Er stellt Alltagswelt als Montage aus Bildern und als Ensemble differenter Bildsprachen dar. Damit wird die ›Babel‹-Thematik aufgegriffen und in den Bereich der visuellen Kommunikation transponiert. (Der Apfel spielt übrigens auch bei McCloud eine Leitmotiv-Rolle: Er fungiert als Metapher für die Kunst. Vgl. S. 179, S. 191 f.) (g) Direkte Zitate aus Understanding Comics in Mazzucchellis Bilderzählung belegen nicht nur, dass dieser sich bewusst auf McCloud bezieht, sondern auch, dass er dessen Intention aufgreifen und in den AusterComic integrieren möchte. McCloud, der den Comic als Kunstform ja reflexiv begründet, wird in eine Beziehung zu den ersten überlieferten Bilddarstellungen der Menschheitsgeschichte, zu den Höhlenmalereien, gesetzt. Bei McCloud selbst berichtet der Erzähler über Höhlenmalereien als die ersten Bilder, und die entsprechende Panel-Sequenz beginnt mit einem Bild, das ihn vor einem kreisförmig erhellten Teil einer Höhlenwand zeigt, auf die eine Menschen-, eine Bison- und eine Vogelgestalt gezeichnet sind, der soge40
McCloud, Understanding Comics, S. 24 f.
Große Texte und Themen E
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nannte Vogelmann von Lascaux.41 Dieselbe Motivkombination taucht bei Mazzucchelli im Kontext der Kindheitserzählung Peter Stillmans jr. auf.42 Mazzucchellis und Karasiks Adaptation des Auster-Romans fügt den diversen Bedeutungen des Titels City of Glass eine weitere hinzu: Der Comic bespiegelt sich hier selbst als Medium; er stellt sich selbst dar als ein zugleich narratives und visuelles Medium, das mit einer Romanerzählung in einen produktiven Dialog treten kann. Zugleich demonstriert der Comic hier seine enge Beziehung zum kollektiven Gedächtnis einer Kultur, genauer gesagt: das wechselseitige Bedingungsverhältnis zwischen Comic und kulturellem Gedächtnis. Viele Details der Bilderzählung erweisen sich nur dann als signifikant, wenn man sie auf letzteres bezieht, wobei nicht ausschließlich, aber vor allem ein Gedächtnis für Visuelles gefordert ist. Umgekehrt wirkt der Comic aber auch selbst gestaltend auf das ein, was zum Bildarsenal einer Kultur gehört; dies wird vor allem durch solche Panels betont, die ComicFiguren oder comicspezifische Darstellungsmodi fokussieren.
41 42
Vgl. ebd., S. 141. Karasik/Mazzucchelli, City of Glass, S. 18.
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7.
Der Comic und die Weltliteratur
Bilanzen und Ausblicke: Ein neuer Orpheus: Dino Buzzatis Poema a fumetti
Zeichner und Szenaristen haben, wie gezeigt, mit verschiedensten Mitteln im Literatur-Comic die Selbstmodellierung des Comics als ›neunte Kunst‹ betrieben. Hinweise auf den eigenen Kunstcharakter erfolgen vor allem durch die nacherzählende oder anspielende Bezugnahme auf andere Künste, insbesondere auf die Literatur, aber oft auch aufs Theater und den Film sowie gelegentlich auf die Musik. Gerade die zeichnerische Auseinandersetzung mit dem Theater akzentuiert viele Parallelen zwischen Inszenierungen auf der Bühne und solchen auf dem Papier. Die Bildregie vieler Comic-Zeichner orientiert sich aber auch am Film (zu dem überdies gerade dort besondere Affinitäten bestehen, wo Figuren und Stoffe sowohl in Comic-Form als auch im Film dargestellt werden). Manche Zeichner suchen allerdings eher die Nähe zu Beispielen und Verfahrensweisen der älteren bildenden Künste, spielen auf die Tradition der Bilderzählung als auf ihre eigene Vorgeschichte an oder setzen ihre Szenen in gezeichnete Rahmen hinein. Suchte man nach Parallelprojekten der zeichnerischen Umsetzung literarischer Texte durch Comics, so wären verschiedene Parallelen zu ziehen: zur Inszenierung eines geschriebenen Stücks auf der Bühne (die sich dem Ausgangstext subordinieren, ihm in seiner Wörtlichkeit folgen kann, dies aber nicht unbedingt muss), zur Literaturverfilmung (die zwar einiges an Wissen über den Ausgangstext vermittelt, dieses aber auf medienspezifisch-eigene Weise umsetzt, oft auch Figuren und Stoffe neu arrangiert), zum Filmporträt über Schriftsteller und zur filmischen Reportage oder auch zum illustrierten Sachbuch als Informationsträger und didaktisches Medium, für welches die Buchform und das Zusammenspiel von Text- und Bildanteilen konstitutiv sind. Unterstrichen wird die vor allem im Literatur-Comic zu beobachtende Anknüpfung des Comics an andere Künste vor allem durch Zitate (Textzitate wie Bildzitate) und durch die Übernahme von Strukturprinzipien. Kann die Form der Erzählung als gemeinsame Grundform literarischer und gezeichneter Werke gelten, so übernimmt der Comic von Literatur und Kunst ferner Strategien der Verschachtelung und Überblendung verschiedener Szenen und Geschichten, insbesondere Techniken der mise en abyme und des Rahmendurchbruchs. An musikalische, aber auch an literarische Kompositionen erinnert der Einsatz von Leitmotiven. Auch die (Mit-)Arbeit der Comic-Zeichner an der Erstellung literarischer Kanones
Bilanzen und Ausblicke: Ein neuer Orpheus
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dient indirekt der Bekräftigung des eigenen Kunstcharakters: Der ›Weltliteratur‹-Comic sucht den Dialog mit als solchen anerkannten Werken der Hochkultur und reklamiert damit für sich, dieser selbst anzugehören. Die Bedeutung des Kanonischen im Bereich der Künste wird indirekt bestätigt, auch wo das Verfahren ein parodistisches ist. Denn die Kommunikation zwischen Comic-Zeichnern und Publikum funktioniert hier ja unübersehbar innerhalb des gemeinsamen Bezugsrahmens kanonisierter kultureller Wissensbestände. Zur Deckung kommen Literatur und Comic, wenn die Sprache des letzteren als Medium literarisch-poetischen Schreibens eingesetzt wird. Dino Buzzatis poema a fumetti 1 von 1969 ist ein frühes Beispiel dafür. Buzzati hat erklärt, Zeichnen und Schreiben seien für ihn keine getrennten Prozesse: »[…] dipingere e scrivere per me sono in fondo la stessa cosa. Che dipinga o che scriva, io persegio il medesimo scopo, che è quello di raccontare delle storie«.2 Das Comic-Gedicht poema a fumetti demonstriert, wie der Dichter mit Comic-Bildern ›schreibt‹. Die Bildsprache des poema a fumetti ist die des Pop-Comic der 1960er Jahre. Neben anthropomorphen Gestalten tauchen allerlei Ungeheuer auf. Dargestellt sind vor allem Räume und Topographien, Gebäude, Zimmer, Straßenfluchten, Auszüge eines Stadtplans. Der Text wird durch den Titel des Werks als Gedicht (»poema«) ausgewiesen. Er ist auch nicht wie ein Prosatext in Blocksatz gestaltet, sondern in Analogie zu lyrischen Texten mit vielfachen Zeilenumbrüchen: ein reimloses Langgedicht mit balladenhaften Passagen. Die gut 200 einzelnen Seiten sind als Bildsequenz gestaltet, wobei in die Einzelbilder vielfach (nicht immer) Textelemente integriert sind. Selten enthalten Seiten nur Text; ihnen stehen reine Bildseiten gegenüber. Die in Bildseiten integrierten Textelemente sind in Analogie zu den Textelementen von Comics gestaltet, sei es als abgesetzte Textblöcke, sei es als in die Graphik integrierte Schrift, sei es als Sprechblase. Schon der Titel weist dabei auf den autoreflexiven Charakter des ComicPoems hin, denn er ist ja eine Gattungsbezeichnung (›fumetti‹ ist das italienische Äquivalent für ›Comic‹ bzw. ›bande dessinée‹). Ein weiteres Indiz dafür, dass das »poema a fumetti« ein Metacomic ist, ergibt sich aus der Stoffwahl: Buzzati erzählt eine Variante der Orpheus-Geschichte, transponiert in ein phantastisch überformtes Mailand der Gegenwart. Orpheus aber ist der mythische Sänger und Dichter schlechthin – Repräsentant der Poesie. Seine 1
2
Dino Buzzati, Poema a fumetti, Einführung von Claudio Toscani, 11. Aufl. Mailand 2010 [zuerst 1969]. Dino Buzzati, »Un equivoco«, in: Ders., Dino Buzzati, pittore, Mailand 1967, S. 7.
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Der Comic und die Weltliteratur
Gestalt steht seit der Antike im Zentrum mannigfacher Phantasien und Spekulationen über Wesen und Ursprung der Kunst – einen mythischen Ursprung, an dem Dichtung und Musik noch eine Einheit bildeten und in Form eines den Gesetzen des Kosmos korrespondierenden zauberischen Gesangs das Wesen der Dinge evozierten. Ein poema a fumetti, das als »poema a fumetti« die Orpheus-Geschichte nacherzählt, reklamiert für das eigene Darstellungsmedium, an die mit Orpheus beginnende Geschichte der Poesie anzuschließen und sie fortzusetzen. Orfis Fragen und Lieder gelten vor allem dem Tod – abgestimmt auf seine mythische Vorgängerfigur. In das Gedicht über Orfi sind Gedichte bzw. Lieder des Helden integriert; Buzzati arrangiert also auch eine Binnenspiegelung des von der Bildgeschichte repräsentierten Gesangs. Eines der Lieder handelt von den Hexen in der Stadt (»Le streghe della città«) und wird von Frauenbildern illustriert, denen sich Bilder des Sängers selbst überlagern. Buzzati verwendet verfremdete Bildzitate; so erinnert das Bild eines zerfließenden Telefons an Dalís Uhrendarstellungen,3 und der Durchgang Euras durch ein zugemauertes Portal, das sich nicht öffnet, sondern die Hindurchgehende verschluckt, ist eine Reminiszenz an die Passage durch den Spiegel in der Verfilmung von Cocteaus Orphée.4 Als Orfi seinen Abstieg in die Hades-Welt beginnt, zeigt ihn eine Bildseite eilend unter einer niedrigen karierten Decke – ähnlich dem Protagonisten in Orson Welles’ Verfilmung von Kafkas Process-Roman.5 Diverse Bilder, aber auch die Unterweltschilderungen als solche stehen in Korrespondenz zur Schilderung Dantes in der Göttlichen Komödie. Die leere Jacke, als die der Herr der Totenwelt sich präsentiert, hat ein Vorbild in H. G. Wells’ Roman The Invisible Man; auch in Michail Bulgakows Roman Der Meister und Margarita finden groteske Mystifikationen statt. Manche stark schematisch gezeichnete Figuren erinnern an die Zeichnungen Franz Kafkas.6 Diverse Köpfe mit aufgerissenen Mündern, umgeben von fließenden Umrisslinien, sind erkennbar Bildzitate nach Edvard Munchs Der Schrei.7 Bildmotive à la Caspar David Friedrich werden zur Darstellung einer verlassenen Landschaft zusammengefügt.8 Ein mit großen Greifklauen versehener Schatten im Profil ist als Zitat aus F. W. Murnaus Nosferatu-Film erkennbar.9 Die Vi-
3 4 5 6 7 8 9
Buzzati, Poema a fumetti, S. 51. Ebd., S. 55. Vgl. ebd., S. 76. Ebd., S. 125. Ebd., S. 126. Ebd., S. 130. Ebd., S. 150.
Bilanzen und Ausblicke: Ein neuer Orpheus
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Abb. 126: Orfi als »un moderne cantautore« in Dino Buzzatis Poema a fumetti (S. 110).
sualisierung eines Märchens, La storia della Melusina, verwendet Bildmotive von Wilhelm Busch.10 Und so zitiert Buzzati in seiner Orpheus-Geschichte zugleich mit der Geschichte der Musik und der Lyrik auch die Kunst- und Filmgeschichte. Die dabei gewählten Referenzwerke sind vielfach ihrerseits intermedial: ein gemalter Schrei, verfilmte Romane, gezeichnete Geschichten. Gelegentlich wird Orfis Porträt aus Verszeilen gebildet; Buzzati verknüpft sein poema a fumetti insofern also auch mit den Traditionen des labyrinthischen Figurengedichts und der Schreibmeisterblätter.11 Buzzatis zeitgenössischer Orpheus, Orfi, ist ein Liedermacher (»un moderne cantautore«);12 seine Geliebte Eura stirbt unversehens. Orfi sieht eines Abends, wie sie hinter der Mauer einer Villa in der Nachbarschaft verschwindet – einer geheimnisvollen Villa, die sich auf unerklärliche Weise verwandeln kann. Die verschwindende Eura sieht aus wie ein Schatten; es ist die 10 11 12
Ebd., S. 176. Ebd., S. 110. »Presentazione«, in: Ebd., S. 5–12, hier S. 9.
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Der Comic und die Weltliteratur
Seele einer Toten, die Orfi beobachtet. Das Tor in der Gartenmauer in der Via Saterna ist der Eingang ins Totenreich; hinter ihm liegt eine Art Hades. Hier wohnen die Toten – mitten im modernen Mailand, gleichsam an dessen Kehrseite. Durch Bitten gegenüber einem mysteriösen Mann verschafft sich Orfi Eingang zum Totenreich und entdeckt eine phantastisch verfremdete Welt: unüberschaubare Architekturen, schwindelerregende Erscheinungen, Halluzinationen, Verkörperungen von Traumvisionen erwarten ihn. Eine laszive, spärlich bekleidete Frau empfängt ihn und führt ihn zum Herrn des Totenreichs, einer leeren Jacke (oder einer unsichtbaren Person), die Orfi etwas über die Beschaffenheit der Unterwelt mitteilt: Dieser Hades ist nicht grausam, keine Marterhölle wie die christliche, aber ein Ort äußerster Tristesse, Langeweile und Ereignislosigkeit. Hier verläuft die Zeit nicht; alles steht still, und die Bewohner sind trotz ihres Fortexistierens wie mortifiziert. Dies stimuliert Orfi zu einem Gesang. Sein Lied gilt all dem, was die Toten nicht mehr haben, weil sie dem Leben und der Zeit nicht mehr angehören, darunter schöne, aber auch alltägliche und triviale, ja sogar mit Leiden verbundene Dinge. Es gibt im Totenreich keine Gärten, keine Berge und Eisenbahnen, keine Kriege, keine Soldaten und keinen Ruhm, keine Träume, keine Sünden, keine Liebe und keine Enttäuschung. Orfi darf den Hades nach Eura durchsuchen, erhält sogar die Erlaubnis, sie mitzunehmen, wenn er es schafft, mit ihr binnen einer gewissen Frist den Hades zu verlassen – und er findet sie sogar. Doch sie ist davon überzeugt, nicht mehr zu den Lebenden zurückkehren zu können. Orfi scheitert an ihrer Passivität und Resignation – und diese drücken sich vor allem darin aus, dass sie für sein Lied taub ist, nicht an die im Gesang ausgedrückte Hoffnung glauben kann. Orfi kehrt allein auf die verlassene Via Saterna in Mailand zurück.
Bilanzen und Ausblicke: Ein neuer Orpheus
Teil IV Anhang
413
414
Anhang
Literaturverzeichnis
1.
Literaturverzeichnis
1.1
Primärliteratur
415
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2.
Anhang
Abbildungsverzeichnis
Abb. 1: »Großmutter Schlangenköchin« in: Andreas Thalmayr (d.i. Hans-Magnus Enzensberger), Das Wasserzeichen der Poesie oder Die Kunst und das Vergnügen, Gedichte zu lesen, in hundertvierundsechzig Spielarten vorgestellt von Andreas Thalmayr, Frankfurt am Main 1997 (zuerst: Nördlingen 1985), S. 336). Abb. 2: Titelblatt des 1. Hefts der Reihe Classics Illustrated – Alexandre Dumas: The Three Musketeers. Abb. 3: Will Eisner thematisiert den Comic als Medium des Geschichtenerzählens. In: Will Eisner, Graphic Storytelling & Visual Narrative, 5. Aufl. Tamarac, FL 2001 (zuerst 1996), S. 7. Abb. 4: Will Eisners Konstruktion einer Mediengeschichte. In: Will Eisner, Graphic Storytelling & Visual Narrative, 5. Aufl. Tamarac, FL 2001 (zuerst 1996), S. 8. Abb. 5: Scott McCloud unterwegs auf dem Comic-Globus. In: Scott McCloud, Understanding Comics, New York 1994 (zuerst Northampton, MA 1993), S. 4. Abb. 6: Frühe Formen der Bildgeschichte bei Scott McCloud. In: Scott McCloud, Understanding Comics, New York 1994 (zuerst Northampton, MA 1993), S. 19. Abb. 7: Der intradiegetische Scott als ›Logo‹. In: Scott McCloud, Understanding Comics, New York 1994 (zuerst Northampton, MA 1993), S. 37. Abb. 8: Cazas Antwort auf die Frage nach der Liebe zur BD. In: Guy Delcourt (Hrsg.), Pourquoi j’aime la bande dessinée, Paris 2006, S. 16 f. Abb. 9a und b: Interpretationsstile in poèmes de … en bande dessinées (hier am Beispiel des Bandes poèmes de Verlaine en bande dessinées (links: La lune blanche, S. 43; rechts: Nevermore, S. 47). Abb. 10a und b: Heterogene Transformationsstile: Moga Mobos 100 Meisterwerke der Weltliteratur, Berlin 2001 – links: Hawking/Schwieger, Eine kurze Geschichte der Zeit (S. 36), rechts: Hoffmann/Leowald, Die Elixiere des Teufels (S. 37). Abb. 11a-d: Vier Beispiele aus Matt Maddens 99 Ways to Tell a Story. Exercises in Style (New York 2005), S. 5, 7, 21, 111. Abb. 12: Rahmenloses Panel in: Paul Karasik/Mazzucchelli David, City of Glass, the Graphic Novel, New York 2004 (zuerst 1994 als Neon Lit: Paul Auster’s City of Glass; dt.: Paul Auster’s Stadt aus Glas. Hrsg. von Bob Callahan u. Art Spiegelman, Reinbek bei Hamburg 1997 (= Neon Lit 1)), S. 97. Abb. 13: Apokalypse. Kampf mit der Bestie (Paris, Bibliothèque Nationale MS lat. 10 474, fol. 4IV. Zit. nach Suzanne Lewis, Reading Images. Narrative discourse and reception in the thirteenth-century illuminated apocalypse, Cambridge, MA 1995, S. 181. Abb. 14: George McManus, Bringing Up Father vom 21. 06. 1943. Zit. nach Andreas C. Knigge, Alles über Comics, Hamburg 2004, S. 154. Abb. 15: Ausschnitt aus Thomas Otts Adaptation von Das Bildnis des Dorian Gray. In: Irene Mahrer-Stich (Hrsg.), Alice im Comicland. Comiczeichner präsentieren Werke der Weltliteratur, Zürich 1993, S. 4. Abb. 16: Will Eisner benutzt unter anderem in To the Heart of the Storm Fenster in Analogie zu Panel-Rahmen. Zit. nach Will Eisner, To the Heart of the Storm, New York, London 2008 (zuerst 1991), S. 20.
Abbildungsverzeichnis
427
Abb. 17: Ausschnitt aus dem Epilog von Paul Karasiks und David Mazzucchellis City of Glass-Adaptation (Paul Karasik/Mazzucchelli David, City of Glass, the Graphic Novel, New York 2004 (zuerst 1994 als Neon Lit: Paul Auster’s City of Glass; dt.: Paul Auster’s Stadt aus Glas. Hrsg. von Bob Callahan u. Art Spiegelman, Reinbek bei Hamburg 1997 (= Neon Lit 1)). Abb. 18: Der intradiegetische Art hält den Comic, in dem es um ihn selbst in jungen Jahren geht. Zit. nach Art Spiegelman, Maus. A Survivor’s Tale, [New York] 1997, S. 101. Abb. 19: Scott McCloud lässt sein intradiegetisches Double auf einer Bühne auftreten und erinnert damit an die Beziehung zwischen Comic und Varieté. Zit. nach Scott McCloud, Understanding Comics, New York 1994 (zuerst Northampton, MA 1993), S. 7. Abb. 20: Neil Gaiman stellt in seinen Shakespeare-Adaptationen auch Bühnenaufführungen dar. Zit. nach Neil Gaiman, »A Midsummer Night’s Dream«, illustr. von Charles Vess, in: Dream Country, The Sandman, Bd. 3, New York o. J., S. 62–86, hier S. 69. Abb. 21: Das Cover des Baudelaire-Bandes der Reihe poèmes de … en bandes dessinées. Abb. 22: Die Doppelseite zu dem Gedicht »L’invitation au voyage« von Baudelaire. Zit. nach François Duprat/Ceka, »L’invitation au voyage«, in: Poème de Baudelaire en bandes dessinées, Darnétal 2001, S. 2–7, hier S. 4 f. Abb. 23: Tezukas Ara als Hamlet. Zit. nach Osamu Tezuka, L’Ara aux sept couleurs/ Nanairo Inko. Le meilleur d’Osamu Tezuka, übers. von Clélia Delaplace, 5 Bde., Paris 2004, Bd. 1, S. 22. Abb. 24: Tezukas Ara in Luigi Pirandellos Sei personaggi in cerca d’autore. Zit. nach Osamu Tezuka, L’Ara aux sept couleurs/Nanairo Inko. Le meilleur d’Osamu Tezuka, übers. von Clélia Delaplace, 5 Bde., Paris 2004, S. 43. Abb. 25: Tamasabur¯o als Schauspieler Zit. nach Osamu Tezuka, L’Ara aux sept couleurs/Nanairo Inko. Le meilleur d’Osamu Tezuka, übers. von Clélia Delaplace, 3 Bde., Paris 2004, S. 156. Abb. 26: Hintere Cover-Zeichnung eines Bandes der Proust-Adaptation von Heuet (hier Band I: Proust, Marcel, À la recherche du temps perdu: Du coté de chez Swann: Combray, Adaptation et dessin: Stéphane Heuet, couleurs: Véronique Dorey, Paris 1998). Abb. 27a-c: Vordere Cover-Illustrationen der Bände I (Combray), II (À l’ombre des jeunes filles en fleurs I) und III (À l’ombre des jeunes filles en fleurs II). Abb. 28: Darstellung des Hotels zu Balbec bei Heuet. Zit. nach Marcel Proust, À l’ombre des jeunes filles en fleurs, Volume I, Adaptation: Stanislas Brézet et Stéphane Heuet, dessin et couleurs: Stéphane Heuet, Paris 2000, S. 20. Abb. 29: Der Text über Martinville im Rahmen der Bildseite. Zit. nach Marcel Proust, À la recherche du temps perdu: Du coté de chez Swann: Combray, Adaptation et dessin: Stéphane Heuet, couleurs: Véronique Dorey, Paris 1998, S. 70. Abb. 30a und b: Das Sehen wird von Proust und von Heuet vielfach thematisiert. Zit. nach Marcel Proust, À la recherche du temps perdu: Du coté de chez Swann: Combray, Adaptation et dessin: Stéphane Heuet, couleurs: Véronique Dorey, Paris 1998, S. 3, S. 72. Abb. 31: Marcel im Bett. Zit. nach Marcel Proust, À la recherche du temps perdu: Du coté de chez Swann: Combray, Adaptation et dessin: Stéphane Heuet, couleurs: Véronique Dorey, Paris 1998, S. 3.
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Anhang
Abb. 32: Die Kirche von Balbec im Vergleich mit Darstellungen in einem illustrierten Reiseführer. Zit. nach Marcel Proust, À l’ombre des jeunes filles en fleurs, Volume I, Adaptation: Stanislas Brézet et Stéphane Heuet, dessin et couleurs: Stéphane Heuet, Paris 2000, S. 8. Abb. 33: Der Maler Elstir schildert die Kirche von Balbec. Zit. nach Marcel Proust, À l’ombre des jeunes filles en fleurs, Volume II, Adaptation: Stanislas Brézet et Stéphane Heuet, dessin et couleurs: Stéphane Heuet, Paris 2002, S. 16. Abb. 34: Elstirs Seestücke. Zit. nach Marcel Proust, À l’ombre des jeunes filles en fleurs, Volume II, Adaptation: Stanislas Brézet et Stéphane Heuet, dessin et couleurs: Stéphane Heuet, Paris 2002, S. 15. Abb. 35: Die »Caritas« von Giotto und das Dienstmädchen. Zit. nach Marcel Proust, À la recherche du temps perdu: Du coté de chez Swann: Combray, Adaptation et dessin: Stéphane Heuet, couleurs: Véronique Dorey, Paris 1998, S. 34 f. Abb. 36: Eine Sequenz von Kirchenfenstern als Bilderzählung. Zit. nach Marcel Proust, À l’ombre des jeunes filles en fleurs, Volume I, Adaptation: Stanislas Brézet et Stéphane Heuet, dessin et couleurs: Stéphane Heuet, Paris 2000, S. 7. Abb. 37: Kirchenfenster und Tapisserie einander gegenübergestellt. Zit. nach Marcel Proust, À la recherche du temps perdu: Du coté de chez Swann: Combray, Adaptation et dessin: Stéphane Heuet, couleurs: Véronique Dorey, Paris 1998, S. 66. Abb. 38: Die Laterna Magica. Zit. nach Marcel Proust, À la recherche du temps perdu: Du coté de chez Swann: Combray, Adaptation et dessin: Stéphane Heuet, couleurs: Véronique Dorey, Paris 1998, S. 4. Abb. 39: Die berühmte Madeleine-Episode bei Heuet. Zit. nach Marcel Proust, À la recherche du temps perdu: Du coté de chez Swann: Combray, Adaptation et dessin: Stéphane Heuet, couleurs: Véronique Dorey, Paris 1998, S. 15. Abb. 40: Detail der Madeleine-Episode. Zit. nach Marcel Proust, À la recherche du temps perdu: Du coté de chez Swann: Combray, Adaptation et dessin: Stéphane Heuet, couleurs: Véronique Dorey, Paris 1998, S. 15. Abb. 41: Erinnerung bildlich in Szene gesetzt. Zit. nach Marcel Proust, À la recherche du temps perdu: Du coté de chez Swann: Combray, Adaptation et dessin: Stéphane Heuet, couleurs: Véronique Dorey, Paris 1998, S. 16. Abb. 42: Ansicht von Combray Zit. nach Marcel Proust, À la recherche du temps perdu: Du coté de chez Swann: Combray, Adaptation et dessin: Stéphane Heuet, couleurs: Véronique Dorey, Paris 1998, S. 17. Abb. 43: Heuet unterstreicht den Ritualcharakter der Konversation dadurch, dass die Figuren aus dem Verdurin-Kreis in ausgeprägter Weise an konventionelle ComicFiguren erinnern. Zit. nach Marcel Proust, Un amour de Swann, Volume I, Adaptation et dessin: Stéphane Heuet, Paris 2006, S. 29. Abb. 44: Musik- und Bildkomposition verbinden sich auf dieser Doppelseite. Zit. nach Marcel Proust, Un amour de Swann, Volume I, Adaptation et dessin: Stéphane Heuet, Paris 2006, S. 18 f. Abb. 45: Odettes Skizzen im Stil Jean-Antoine Watteaus. Zit. nach Marcel Proust, Un amour de Swann, Volume I, Adaptation et dessin: Stéphane Heuet, Paris 2006, S. 36. Abb. 46: Woitek Wawszcyks Adaptation des Process. Zit. nach Moga Mobos 100 Meisterwerke der Weltliteratur, Berlin 2001, S. 103. Abb. 47: Robert Mareschs Der Prozess. Frei nach Kafka. Zit. nach: 50. Literatur gezeichnet. Mit begleitenden literarisch-ironischen Texten von Robert Jazze Niederle, hrsg. von Wolfgang Alber und Heinz Wolf, Furth an der Triesting 2003, Nr. 6.
Abbildungsverzeichnis
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Abb. 48: Michael Wittmanns Erzählungen. Zit. nach: 50. Literatur gezeichnet. Mit begleitenden literarisch-ironischen Texten von Robert Jazze Niederle, hrsg. von Wolfgang Alber und Heinz Wolf, Furth an der Triesting 2003, Nr. 28. Abb. 49: Beispiel für Kafkas Zeichnungen. Zit. nach Franz Kafka, Tagebücher, hrsg. von Hans-Gerd Koch, Michael Müller und Malcolm Pasley, Frankfurt am Main 1990, S. [12]). Abb. 50: Kafka begrüßt den Leser. Zit. nach David Zane Mairowitz/Robert Crumb, Introducing Kafka, Cambridge 1994 (zuerst New York 1993), S. 3. Abb. 51: Der Golem. Zit. nach David Zane Mairowitz/Robert Crumb, Introducing Kafka, Cambridge 1994 (zuerst New York 1993), S. 12. Abb. 52: Kafkas Vater auf der Weltkarte. Zit. nach David Zane Mairowitz/Robert Crumb, Introducing Kafka, Cambridge 1994 (zuerst New York 1993), S. 28. Abb. 53: Der Vater zwingt den jungen Kafka zum Sport. Zit. nach David Zane Mairowitz/Robert Crumb, Introducing Kafka, Cambridge 1994 (zuerst New York 1993), S. 37. Abb. 54: Kafkas Selbstwahrnehmung bei Crumb und Mairowitz. Zit. nach David Zane Mairowitz/Robert Crumb, Introducing Kafka, Cambridge 1994 (zuerst New York 1993), S. 39. Abb. 55: Kafkas Beziehung zu Felice Bauer als Akt des Schreibens. Zit. nach David Zane Mairowitz/Robert Crumb, Introducing Kafka, Cambridge 1994 (zuerst New York 1993), S. 72. Abb. 56a und b: Aufmarsch tschechischer Nationalisten vor der Arbeiter-UnfallVersicherungsanstalt. Zit. nach David Zane Mairowitz/Robert Crumb, Introducing Kafka, Cambridge 1994 (zuerst New York 1993), links: S. 85, rechts: S. 89. Abb. 57: Grosz-Zitat. Zit. nach David Zane Mairowitz/Robert Crumb, Introducing Kafka, Cambridge 1994 (zuerst New York 1993), S. 134. Abb. 58: Die erste Seite von Eisners Appeal. Will Eisner, Graphic Storytelling & Visual Narrative, 5. Aufl. Tamarac, FL 2001 (zuerst 1996), S. 116. Abb. 59: Die Katze aus Kafkas Kleine Fabel bei Kuper (Give it up!, S. 10). Abb. 60: Peter Kuper: The Trees (Give it up!, S. 49). Abb. 61: Peter Kupers Adaptation von Der Kreisel. Zit. nach The Top, in: Franz Kafka, Give it Up! and other short stories. Illustrated by Peter Kuper, New York 1995, S. 55. Abb. 62: Hintere Umschlagklappe von Kupers Metamorphosis. Zit. nach The Metamorphosis. Adaptation von Peter Kuper, Übersetzung von Kerstin Hasenpusch, New York 2003. Abb. 63: Kreisrunde Bilder in Daniel Casanaves und Robert Caras Adaptation des Verschollenen. Zit. nach Franz Kafka/Daniel Casanave/Robert Cara, L’amérique, Frontignan 2006–2008, Bd. 1: Une villa aux environs de New-York, Bd. 2: Sur la route de Ramsès, Bd. 3: Le théâtre de la nature de’Oklahoma, Bd. 1, S. 62. Abb. 64: Der Heizer in Casanaves und Caras L’Amerique. Zit. nach Franz Kafka/ Daniel Casanave/Robert Cara, L’amérique, Frontignan 2006–2008, Bd. 1: Une villa aux environs de New-York, Bd. 2: Sur la route de Ramsès, Bd. 3: Le théâtre de la nature de’Oklahoma, Bd. 1, S. 4. Abb. 65: Erste Seite von Franz Kafka’s The Trial. Zit. nach Franz Kafka’s The Trial. A Graphic Novel. Illustr. von Chantal Montellier, adaptiert und übers. von David Zane Mairowitz, London 2008, S. 7. Abb. 66: Beispiel für die Rahmenstruktur in The Trial. Zit. nach Franz Kafka’s The Trial.
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A Graphic Novel. Illustr. von Chantal Montellier, adaptiert und übers. von David Zane Mairowitz, London 2008, S. 13. Abb. 67: Zitat Robert Crumbs in The Trial. Zit. nach Franz Kafka’s The Trial. A Graphic Novel. Illustr. von Chantal Montellier, adaptiert und übers. von David Zane Mairowitz, London 2008, S. 50. Abb. 68: Titelseite des ersten Bands von Gregor Ka im 21. Jahrhundert (Ausschnitt). Zit. nach Martin Freis, Gregor Ka im 21. Jahrhundert, 3 Bde. Bd. 1 u. Bd. 2: Berlin 1997, Bd. 3: Hildesheim 2000, Bd. 1. Abb. 69: Die Strafkolonie in der Reihe Ex-Libris. Zit. nach Franz Kafka, Dans la colonie pénitentiaire, Szenario: Sylvain Ricard, Zeichnung: Maël, Kolorierung: Albertine Ralenti, Paris 2007, S. 24. Abb. 70: Mise en abyme in Mathieus L’Origine. Zit. nach Marc-Antoine Mathieu, Julius Corentin Acquefacques, prisonnier des rêves, 5 Bde., Tournai 1991 ff., Bd. 1, S. 29. Abb. 71: ›Durchlöcherte‹ Seite in L’Origine. Zit. nach Marc-Antoine Mathieu, Julius Corentin Acquefacques, prisonnier des rêves, 5 Bde., Tournai 1991 ff., Bd. 1, S. 36 f. Abb. 72: Mathieus Arbeitsplatz mit der Seite 43 des ersten Bandes der BD-Reihe. Zit. nach Marc-Antoine Mathieu, Julius Corentin Acquefacques, prisonnier des rêves, 5 Bde., Tournai 1991 ff., Bd. 2, S. 5. Abb. 73: Die unendlich anmutende Zimmerlandschaft in Le Processus. Zit. nach MarcAntoine Mathieu, Julius Corentin Acquefacques, prisonnier des rêves, 5 Bde., Tournai 1991 ff., Bd. 3, S. 33. Abb. 74: Acquefacques’ Rückkehr in die Vergangenheit. Zit. nach Marc-Antoine Mathieu, Julius Corentin Acquefacques, prisonnier des rêves, 5 Bde., Tournai 1991 ff., Bd. 3, S. 39. Abb. 75: Die Spiral-Bibliothek in Le Processus. Zit. nach Marc-Antoine Mathieu, Julius Corentin Acquefacques, prisonnier des rêves, 5 Bde., Tournai 1991 ff., Bd. 3, S. 29. Abb. 76: Acquefacques’ Durchgang durch den Spiegel. Zit. nach Marc-Antoine Mathieu, Julius Corentin Acquefacques, prisonnier des rêves, 5 Bde., Tournai 1991 ff., Bd. 4, S. 25. Abb. 77: Acquefacques bei den Entwürfen. Zit. nach Marc-Antoine Mathieu, Julius Corentin Acquefacques, prisonnier des rêves, 5 Bde., Tournai 1991 ff., Bd. 5, S. 39. Abb. 78: Acquefacques im karierten Anzug. Zit. nach Marc-Antoine Mathieu, Julius Corentin Acquefacques, prisonnier des rêves, 5 Bde., Tournai 1991 ff., Bd. 5, S. 32). Abb. 79: Selbstreferentielle Steinmetzarbeiten in L’Ascension. Zit. nach Marc-Antoine Mathieu, L’Ascension … et autres récits, Text: Marc-Antoine und Jean-Luc Mathieu, Zeichnung: Marc-Antoine Mathieu, Paris 2005, S. 17. Abb. 80: L’Ascension und das Zeichnen. Zit. nach Marc-Antoine Mathieu, L’Ascension … et autres récits, Text: Marc-Antoine und Jean-Luc Mathieu, Zeichnung: MarcAntoine Mathieu, Paris 2005, S. 24. Abb. 81: Das Kunstkabinett in Les Sous-sols du révolu. Zit. nach Marc-Antoine Mathieu, Les Sous-sols du Révolu. Extraits du journal d’un expert, Paris 2006, S. 33. Abb. 82: Sartre und Camus im Dialog. Zit. nach David Zane Mairowitz/Alain Korkos, Camus kurz und knapp. Aus dem Engl. von Uli Aumüller, Frankfurt am Main 2000, S. 139. Abb. 83: Baudelaires Bohémiens en voyage. In: Poèmes de Baudelaire en bandes dessinées, Darnétal 2001, S. 20–25, hier S. 20. Abb. 84: Baudelaire: La cloche fêlée. In: Poèmes de Baudelaire en bandes dessinées, Darnétal 2001, S. 30.
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Abb. 85: Baudelaire: Les aveugles. In: Poèmes de Baudelaire en bandes dessinées, Darnétal 2001, S. 41. Abb. 86: Das Vorwort von Jacques Brel en images et en bandes dessinées. (Issy-les-Moulineaux 1997, unpag.) Abb. 87: Titelbild der Adaptation von Racines Phèdre. Zit. nach Jean Racine/Armel, Phèdre. Texte intégral en BD. Darnétal 2006. Abb. 88: Das Vorwort von La petite bibliothèque philosophique de Joann Sfar, Bd. 2: Candide. Zit. nach Voltair (d.i. François Marie Arouet), Candide, Texte Intégral. Interventions Graphiques de Joann Sfar, Rosny-sous-Bois 2003 (= La Petite Bibliotheque Philosophique de Joann Sfar 2), S. 7. Abb. 89: Hemingways The Old Man and the Sea in Moga Mobos 100 Meisterwerke der Weltliteratur, Berlin 2001, S. 12. Abb. 90: Beispiel aus 50. Literatur gezeichnet: Gotthold Ephraim Lessings Nathan der Weise. Zit. nach 50. Literatur gezeichnet. Mit begleitenden literarisch-ironischen Texten von Robert Jazze Niederle, hrsg. von Wolfgang Alber und Heinz Wolf, Furth an der Triesting 2003, Nr. 19. Abb. 91: Ausschnitt aus Das Sandbuch von Jorge Luis Borges in der Adaptation von Muñoz. Zit. nach: Irene Mahrer-Stich (Hrsg.), Alice im Comicland. Comiczeichner präsentieren Werke der Weltliteratur, Zürich 1993, S. 36. Abb. 92: Hunger in der Fassung von Kamagurka und Herr Seele. Zit. nach: Irene Mahrer-Stich (Hrsg.), Alice im Comicland. Comiczeichner präsentieren Werke der Weltliteratur, Zürich 1993, S. 14. Abb. 93 und b: Umschlag (links) und Titelseite (rechts) von Cathérine Meurisses Mes hommes de lettres (Ausschnitte). Zit. nach Cathérine Meurisse, Mes hommes de lettres. Petit précis de littérature française, Paris 2008. Abb. 94: Umschlag des Classics Illustrated-Hefts zu Goethes Faust. Abb. 95 a: Der Blocksberg als Spielplatz in Zum Sehen geboren … (Berlin 1999, S. 32) und b: ein Ausschnitt der Cover-Abbildung von Zum Schauen bestellt … (Berlin 1999). Abb. 96 und b: Auerbachs Keller und der Blocksberg. Zit. nach Osamu Tezuka, Fausuto [Faust, 1950], in: Ders., Faust, Tokio 1994, S. 5–126, hier S. 23, S. 64. Abb. 97: Das Vorspiel auf dem Theater in der Faust-Adaptation von 1950. Zit. nach Osamu Tezuka, Fausuto [Faust, 1950], in: Ders., Faust, Tokio 1994, S. 5–126, hier S. 10. Abb. 98: Die Walpurgisnacht bei Tezuka. Zit. nach Osamu Tezuka, Hyaku Monogatari, in: Ders., Faust, Tokio 1994, S. 127–294, hier S. 190 f. Abb. 99: Landschaftsdarstellung. Zit. nach Osamu Tezuka, Hyaku Monogatari, in: Ders., Faust, Tokio 1994, S. 127–294, hier S. 158). Abb. 100: Tezukas Hexenküche. Zit. nach Osamu Tezuka, Neo Fausuto [Neo-Faust], Tokyo, 13. Aufl. 2001 (zuerst 1992), S. 76. Abb. 101: Der Ara in Nanairo Inko als Faust. Zit. nach Osamu Tezuka, L’Ara aux sept couleurs/Nanairo Inko. Le meilleur d’Osamu Tezuka, übers. von Clélia Delaplace, 5 Bde., Paris 2004, Bd. 2, S. 41. Abb. 102: Nordmanns Fassung der »Zueignung«. Zit. nach Johann Wolfgang von Goethe/Falk Nordmann, Faust. Der Tragödie erster Teil, Bd. 1, Hamburg 1996, unpag. Abb. 103: Das Ende des »Vorspiels« in Nordmanns Faust-Adaptation. Zit. nach Johann Wolfgang von Goethe/Falk Nordmann, Faust. Der Tragödie erster Teil, Bd. 1, Hamburg 1996, unpag.
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Abb. 104: Der Erdgeist als Wesen aus Papier. Zit. nach Johann Wolfgang von Goethe/Falk Nordmann, Faust. Der Tragödie erster Teil, Bd. 1, Hamburg 1996, unpag. Abb. 105: Die Pakt-Szene bei Nordmann – Mephisto in der Rolle Gottes und Faust als Adam. Zit. nach Johann Wolfgang von Goethe/Falk Nordmann, Faust. Der Tragödie erster Teil, Bd. 1, Hamburg 1996, unpag. Abb. 106a und b: Titelblatt der Faust-Adaptation von Vandermeulen und Ambre (links; zit. nach David Vandermeulen/Ambre, Faust. Libre adaptation du premier Faust de Goethe, Frontignan 2006) und des bei Spies erschienenen Volksbuchs (rechts; Frankfurt 1587). Abb. 107: Bühne des Marionettenspiels bei Vandermeulen und Ambre. Zit. nach David Vandermeulen/Ambre, Faust. Libre adaptation du premier Faust de Goethe, Frontignan 2006, unapg. Abb. 108: Das Ende der Faust-Adaptation von Vandermeulen und Ambre. Zit. nach David Vandermeulen/Ambre, Faust. Libre adaptation du premier Faust de Goethe, Frontignan 2006, unapg. Abb. 109a und b: Zum Vergleich: links Faust in 50. Literatur gezeichnet (zit. nach 50. Literatur gezeichnet. Mit begleitenden literarisch-ironischen Texten von Robert Jazze Niederle, hrsg. von Wolfgang Alber und Heinz Wolf, Furth an der Triesting 2003, Nr. 1) und rechts Faust 2 in Moga Mobos 100 Meisterwerke der Weltliteratur (zit. nach Moga Mobos 100 Meisterwerke der Weltliteratur, Berlin 2001, S. 39). Abb. 110: M. in Renaissancekleidung. Zit. nach David Quinn,/Tim[othy B.] Vigil, Faust: Love of the Damned, Rebel Edition, Sacramento 1991–2005, bislang 13 Bde, H. 8, unpag. Abb. 111: Eine exemplarische Szene aus Christian Schieckels Faust-Bearbeitung. Zit. nach Johann Wolfgang von Goethe, Faust. Der Tragödie erster Teil. Gezeichnet von Christian Schieckel, Köln 1991, S. 69. Abb. 112: Das Cover von Flix’ Faust-Bearbeitung. Zit. nach Flix (d.i. Felix Görmann), Faust. Der Tragödie erster Teil, Hamburg 2010. Abb. 113: Ahab und der Wal in der Adaptation von Kanter und Zansky. Zit. nach Herman Melville, Classics Illustrated: Moby Dick. Adaptation: Albert L. Kanter, Zeichnung: Louis Zansky, New York 1997, unpag. Abb. 114: Eisners Ahab. Zit. nach Herman Melville, Moby Dick. Adapted by Will Eisner, New York 2001, S. 24. Abb. 115: Die erste Doppelseite aus Battaglias Moby Dick. Zit. nach Dino Battaglia, Moby Dick, Florenz, Genua 1997, unpag. Abb. 116: Das Gemälde in der ›Spouter Inn‹. Zit. nach Herman Melville, Moby Dick. Adapted by Bill Sienkiewicz. Text: Bill Sienkiewicz und Dan Chichester, New York 1990 (= Classics Illustrated Nr. 4), unpag. Abb. 117: Ahabs erster Auftritt bei Sienkiewicz. Zit. nach Herman Melville, Moby Dick. Adapted by Bill Sienkiewicz. Text: Bill Sienkiewicz und Dan Chichester, New York 1990 (= Classics Illustrated Nr. 4), unpag. Abb. 118: Hobbes-Zitat bei Harder. Zit. nach Jens Harder, Leviathan, Mouthiers-surBoëme 2003, S. 142 f. Abb. 119: Schatten als Leitmotiv in Battaglias Hoffmann-Adaptationen. Zit. nach E.T.A. Hoffmann, Olimpia, in: Ders., Das öde Haus. Gezeichnet von Dino Battaglia, o.O. 1990, S. hier S. 24. Abb. 120: Wahnsinnsausbruch in Battaglias Sandmann-Adaptation. Zit. nach E.T.A.
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Hoffmann, Olimpia, in: Ders., Das öde Haus. Gezeichnet von Dino Battaglia, o.O. 1990, S. 13. Abb. 121: Brillenketten in Battaglias Sandmann. Zit. nach E.T.A. Hoffmann, Olimpia, in: Ders., Das öde Haus. Gezeichnet von Dino Battaglia, o.O. 1990, S. 6–13, hier S. 7. Abb. 122: Hopper-Zitat in Golos B.-Traven-Porträt. Zit. nach Golo, B. Traven. Portrait d’un anonyme célèbre, Paris 2007, S. 119. Abb. 123a: Erste Totentanz-Darstellungen in Golos B.-Traven-Comic. Zit. nach Golo, B. Traven. Portrait d’un anonyme célèbre, Paris 2007, S. 7. Abb. 123b: Zweite Totentanz-Darstellungen in Golos B. Traven. Zit. nach Golo, B. Traven. Portrait d’un anonyme célèbre, Paris 2007, S. 11. Abb. 123c: Dritte Totentanz-Darstellungen in B. Traven. Zit. nach Golo, B. Traven. Portrait d’un anonyme célèbre, Paris 2007, S. 15. Abb. 124a und b: B. Travens Begegnung mit dem aztekischen Prinzen. Zit. nach Golo, B. Traven. Portrait d’un anonyme célèbre, Paris 2007, links: S. 89, rechts: S. 90. Abb. 125: Dick Tracy- und Henry-Zitate in der Comic-Umsetzung von City of Glass. Zit. nach Paul Karasik/David Mazzucchelli, City of Glass, the Graphic Novel, New York 2004, S. 20. Abb. 126: Orfi als »un moderne cantautore« in Dino Buzzatis Poema a fumetti. Zit. nach Dino Buzzati, Poema a fumetti, Einführung von Claudio Toscani, 11. Aufl. Mailand 2010 (zuerst 1969), S. 110.