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German Pages 324 Year 2019
Giulia Radaelli, Nike Thurn (Hg.) Gegenwartsliteratur – Weltliteratur
Lettre
Dr. Giulia Radaelli und Dr. Nike Thurn forschen auf dem Gebiet der germanistischen Literatur- und Kulturwissenschaft.
Giulia Radaelli, Nike Thurn (Hg.)
Gegenwartsliteratur – Weltliteratur Historische und theoretische Perspektiven
Der Druck dieses Bandes wurde durch die Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft der Universität Bielefeld finanziert. Den Autorinnen und Autoren war freigestellt, ob sie eine geschlechtergerechte Sprache verwenden möchten und, falls ja, in welcher Form.
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Inhalt
Vorwort
Giulia Radaelli, Nike Thurn | 7 Gegenwartsliteratur als Weltliteratur
Die literarästhetische Provokation von Weltwissen in den Literaturen der Gegenwart Vittoria Borsò | 19 Französischsprachige Literaturen: Littérature-monde oder Weltliteraturen?
Ute Fendler | 61 Die Welt und die Regionen in der britischen Gegenwartsliteratur
Ralf Schneider | 87 Die Entstehung der dritten Weltliteratur
Anmerkungen zum Gegenwartsroman in Japan und der Welt von den 1990er Jahren bis heute Norimasa Morita | 119 Zur Entstehung von Weltliteratur: Lateinamerika und Karibik
Gesine Müller | 151 Nomaden und andere Reisende
(Ost-)Mitteleuropäische Literatur und Weltliteratur im 21. Jahrhundert Schamma Schahadat | 171 Gegenwärtigkeit – Geschichtlichkeit – Weltläufigkeit
Verhandlungen des Exils in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur Susanne Komfort-Hein | 199
Weltliteratur topografiert
Der Gotthard exemplarisch Boris Previšić | 233 Wie unterrichten wir Weltliteratur?
Autoren als Gastprofessoren in Bern und Berlin Oliver Lubrich | 259 »Beide Begriffe, Gegenwartsliteratur und Weltliteratur, können das, was sie zu sein vorgeben, nicht einlösen.«
Ein schriftliches Interview mit Senthuran Varatharajah über akzentfreies Deutsch, horizontale und vertikale Sprachen und produktive Brüche Charis Goer | 275 Literaturkritik – Gegenwartsliteratur – Weltliteratur
Ein Gespräch mit Andreas Platthaus Kai Kauffmann, Carlos Spoerhase | 287 »Jeder Begriff von Weltliteratur beinhaltet ein dreidimensionales Zeitgefühl: das Geschichtliche, das Gegenwärtige und das Zukünftige«
B. Venkat Mani über indische und deutsch-türkische Literatur, literarische Migration und bibliomigrancy Giulia Radaelli, Nike Thurn | 303 Autorinnen und Autoren | 321
Vorwort G IULIA R ADAELLI , N IKE T HURN
Gegenwartsliteratur und Weltliteratur – diese beiden je für sich schon kontrovers diskutierten Begriffe aufeinander zu beziehen und so ihr zwar als spannungsvoll wahrgenommenes, aber bisher nur selten näher betrachtetes Verhältnis zu beleuchten, ist das Ziel des vorliegenden Bandes. Er versammelt literatur- wie kulturwissenschaftliche Beiträge, die historische und theoretische Ansätze mit exemplarischen Einzeltextanalysen kombinieren; ein Bericht über die Friedrich Dürrenmatt Gastprofessur für Weltliteratur sowie Interviews mit dem Autor Senthuran Varatharajah, dem Literaturkritiker Andreas Platthaus und dem Literaturwissenschaftler B. Venkat Mani reflektieren darüber hinaus das Zusammenspiel von literarischer Praxis, Literaturkritik, Literaturwissenschaft und universitärer wie publizistischer Literaturvermittlung. Gerade die unterschiedlichen Herangehensweisen und Diskurse, in denen Gegenwartsliteratur und Weltliteratur in unterschiedlichen Fächern, aber auch nicht-fachwissenschaftlichen Kontexten debattiert werden, haben uns interessiert: Aus den zahlreichen, teils widerstreitenden Definitionen und Verwendungen der Begriffe haben wir deshalb bewusst keine priorisiert und vorab festgelegt, sondern die Autorinnen und Autoren darum gebeten, in ihren Beiträgen ihr je eigenes Verständnis darzulegen. Teils explizit erörtert, teils implizit vermittelt finden sich daher unterschiedliche Positionen und sowohl sich ergänzende als auch voneinander abweichende Bezugnahmen auf Emily Apter, Erich Auerbach, Pascale Casanova, Gayatri Chakravorty Spivak, David Damrosch, Johann Wolfgang Goethe, Édouard
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Glissant, Sigrid Löffler, Karl Marx, Franco Moretti, Rebecca Walkowitz u.v.a. Dadurch ist ein Netz entstanden, das über die Vielfalt der angesprochenen Diskurse eine Vielzahl teils weit voneinander entfernter und doch verbundener Knotenpunkte erkennbar werden lässt. Diese Heterogenität wird dem Forschungsgegenstand gerechter, als durch eine vorgegebene gemeinsame Arbeitsdefinition möglich gewesen wäre, die das Thema unseres Erachtens unpassend uniformiert und dadurch ›entkomplexisiert‹ hätte. Das erkenntnisleitende Bedürfnis, bei der Bestimmung von Gegenwartsund Weltliteratur stets eine Reflexion der Begriffe selbst vorzunehmen, diese nicht für selbstverständlich oder auch nur unproblematisch zu halten, spiegelt sich in der Vielfalt der verwendeten Termini. Wenn neben ›Weltliteratur‹ u.a. World Literature, Littérature-monde, Dünya Edebiyati und Vishwa Sahitya auftauchen, wird nachvollziehbar, dass jeder Begriff spezifische, historisch und kulturpolitisch gewachsene Bedeutungen mit z.T. nur schwer übersetzbaren Konnotationen transportiert. Zudem werden den Begriffen jeweils sprachlich verwandte Konzepte an die Seite gestellt, die meistens eine besondere Eigenschaft von Literatur als textimmanentes Bestimmungskriterium benennen: bei Weltliteratur die ›Welthaltigkeit‹ oder ›Weltläufigkeit‹, bei Gegenwartsliteratur die ›Gegenwärtigkeit‹ oder ›Vergegenwärtigung‹. Schließlich werden alternative, konkurrierende oder flankierende Begriffsprägungen wie beispielsweise ›Literatur der Welten‹ oder umgekehrt »Literaturen der Welt«1 gewählt, deren Pluralformen anzeigen, dass sich die Welt – wie auch die Gegenwart – aus einer Vielzahl möglicher, sich überlagernder Perspektivierungen, Vermessungen und Geschwindigkeiten, Zäsuren und Kontinuitäten, Richtungen und Markierungen konstituiert. Während also einerseits die Rede von ›Gegenwarten‹ und ›Welten‹ darauf hinweist, dass wir immer nur die jeweils eigene Gegenwart und Welt wahrnehmen und erleben können, die also eine reale und zugleich fiktive Einheit, eine regulative Idee zur Orientierung in Raum und Zeit ist, richtet sich andererseits der Plural von ›Literaturen‹ gegen die Identifizierung einer Literatur mit einer Sprache und einer Nation, also gegen ein herkömmliches Konzept von Nationalliteratur: Formulierungen mit dem Suffix
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Vgl. Ottmar Ette: Viellogische Philologie. Die Literaturen der Welt und das Beispiel einer transarealen peruanischen Literatur, Berlin: tranvía/Frey 2013.
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›-sprachig‹ – wie beispielsweise ›französischsprachige Literaturen‹ – verweisen darauf, dass der Konnex Sprache-Kultur-Nation insbesondere im Fall von ehemaligen Kolonialsprachen heute mehr denn je fragwürdig geworden ist – wenngleich er vielerorts nach wie vor (wirk-)mächtig bleibt. Zu der je für sich bereits diversen Arbeit an und mit den Begriffen ›Gegenwartsliteratur‹ und ›Weltliteratur‹ tritt bei dem vorliegenden Band die weitere Herausforderung, diese ins Verhältnis zueinander zu setzen. Dass die beiden Konzepte trotz ihrer jeweiligen wissenschaftlichen Konjunktur bislang so wenig im Zusammenhang betrachtet wurden,2 kann u.a. damit erklärt werden, dass sie mitunter gar als sich gegenseitig ausschließend wahrgenommen wurden. Versteht man unter Weltliteratur einen Kanon literarischer Werke, die für bedeutend und/oder repräsentativ gehalten werden – ein Verständnis, das im akademischen Kontext inzwischen geradezu verpönt, außerhalb dessen jedoch häufig anzutreffen ist –, scheint Gegenwartsliteratur damit insofern unvereinbar, als sie allenfalls in einem noch laufenden Prozess der Kanonisierung begriffen ist.3 Ihrem Zusammendenken widersprechen daher zum Beispiel frühe Weltliteraturgeschichtsschreibungen, denen die langfristige Wirkung eines Textes als Kriterium gilt.4 Die Vorstellung einer gewissen zwangsläufigen Historizität von Weltliteratur dient
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Von einem »komplexen Beziehungsverhältnis« ist in einer der wenigen Ausnahmen die Rede: vgl. Wilhelm Amann/Georg Mein/Rolf Parr: »Gegenwartsliteratur und Globalisierung. Vorüberlegungen zu einem komplexen Beziehungsverhältnis«, in: dies. (Hg.), Globalisierung und Gegenwartsliteratur. Konstellationen – Konzepte – Perspektiven, Heidelberg: Synchron 2010, S. 7-14.
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Allein die Publikationsbarriere auf einem global orientierten Buchmarkt stellt zudem erhebliche Auswahlmechanismen dar und leistet so in gewisser Weise der Kanonisierung Vorschub.
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Matthias Buschmeier zeigt diese allgemeine Tendenz am Beispiel von Adolf Sterns Geschichte der Weltliteratur in übersichtlicher Darstellung (1888). Vgl. »Einfache Überkomplexität. Für eine Weltliteraturgeschichte des ›Westens‹«, in: Albrecht Koschorke (Hg.), Komplexität und Einfachheit. DFG-Symposion 2015, Stuttgart: Metzler 2017, S. 507-540, hier S. 512: »Nur was aus der Perspektive des Ziels eine Langzeitwirkung entfaltet hat, erhält Aufnahme in das historiographische Narrativ.«
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bisweilen auch als Unterscheidungsmerkmal gegenüber der grundsätzlich als »relatively recent writing« aufgefassten postkolonialen Literatur.5 Doch Weltliteratur entsteht nicht nur in einem selektiven und wertenden Rückblick. Ihr wichtigster Diskursbegründer im deutschsprachigen Raum, Johann Wolfgang Goethe, hat etwa eine andere zeitliche Dimension emphatisch hervorgehoben. Weltliteratur bedeute, sich zur Gegenwart zu verhalten, in ihr zu »wirken«. Es handele sich dabei um eine »Epoche«, die – vor nun fast schon 200 Jahren – »an der Zeit«6 gewesen sei; bis heute aber ist sie nicht abgeschlossen. Die unzähligen Rekurse auf Goethes Überlegungen in der jüngeren und jüngsten Weltliteraturforschung indizieren, dass die Anschlussmöglichkeit bei allen Brüchen und Sprüngen in der gängigen Vorstellung einer fortschreitenden Globalisierungsgeschichte begründet liegt.7 Der globale Umlauf in Wirtschaft und Kommunikation, der auch die
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Robert J.C. Young: »World Literature and Postcolonialism«, in: Theo D’haen/ David Damrosch/Djelal Kadir (Hg.), The Routledge Companion to World Literature, London/New York: Routledge 2012, S. 213-222, hier S. 213: »postcolonial would always refer to relatively recent writing. […] An immediate means of distinguishing world from postcolonial literature, therefore, would be in terms of historicity, and indeed one way in which world literature has sought to define itself has been by emphasizing ›classic‹ historical rather than contemporary writing.«
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Johann Peter Eckermann: »Gespräch mit Goethe, Mittwoch den 31. Januar 1827«, in: Johann Wolfgang Goethe, Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche, Abt. 2, Bd. 12, hg. von Christoph Michel, Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag 1999, S. 223-228, hier S. 225.
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So auch dort, wo Goethe als Vorläufer gilt, siehe bspw. Monika SchmitzEmans: »The Weltverkehr or World Traffic of Books. Modern Anthologies of World Poetry«, in: Lisa Block de Behar et al. (Hg.), Comparative Literature: Sharing Knowledges For Preserving Cultural Diversity, Bd. 2, Oxford: Eolss 2009, S. 268-288, hier S. 270: »In more than just one respect, the Goethean reflection about ›Weltliteratur‹ may be regarded as a prelude to recent globalization discourse.« Freilich lässt sich der Anfang der Globalisierungsgeschichte extrem zurückdatieren; setzt man weltweite Zirkulationsprozesse seit der Entstehung von Schrift als Definitionskriterium an, so gibt es Weltliteratur schon seit ungefähr 2500 Jahren. Vgl. etwa Erhard Schüttpelz: »Weltliteratur in der Perspektive einer Longue Durée I: Die fünf Zeitschichten der Globalisierung«,
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Literatur betrifft, wird technisch immer stärker beschleunigt und intensiviert. Da Gegenwartsliteratur heute meistens unter den materiellen Bedingungen eines solchen »Weltverkehr[s]«8 entsteht und zirkuliert, produziert und rezipiert wird, ist sie in diesem bestimmten Sinne per se Weltliteratur. Eine solche Gleichsetzung mag allzu verallgemeinernd erscheinen – oder aber reduktiv: Literatur stellt einerseits ein Produkt der Gegebenheiten dar, kann zugleich aber andererseits das Gegebene in einem eigenen Entwurf verwandeln oder überwinden und Gegenwarts- und Weltbezüge nicht (nur) korrelativ zu räumlichen und zeitlichen Koordinaten erzeugen, indem sie die Demarkationsverfahren zwischen Hier und Dort, Jetzt und Vergangenheit bzw. Zukunft infrage stellt. Wenn bei dem Versuch, Gegenwartsliteratur und Weltliteratur aufeinander zu beziehen, das Phänomen der Globalisierung dennoch sehr oft eine zentrale Rolle einnimmt, impliziert dies keineswegs eine affirmative Einstellung, sondern ist dies im Gegenteil auch Ausdruck einer Globalisierungskritik, die vor den verschiedenen, durch die geopolitischen Kräfteverhältnisse erzeugten bzw. reproduzierten Ungleichheiten und Ausschlussmechanismen warnt. In den vorgelegten Beiträgen ist Globalisierung nicht der pauschal angenommene, gemeinsame Nenner von Gegenwarts- und Weltliteratur, sondern bildet vielmehr den Rahmen für unterschiedliche Ansätze und Beobachtungen, die stets differenzieren, indem sie auf die diffizilen Beziehungen zwischen dem Regionalen oder Lokalen und dem Globalen, dem Partikularen und dem Allgemeinen, der Homogenität und der Heterogenität, der Singularität und der Pluralität, der Kontingenz und der Konnektivität, dem Zentrum und der Peripherie aufmerksam machen. Diese Spannungsverhältnisse, deren Bedeutung bei der Bestimmung von Weltliteratur außer Zweifel steht, gewinnen – das zeigt der Band in unseren Augen ein-
in: Özkan Ezli/Dorothee Kimmich/Annette Werberger (Hg.), Wider den Kulturenzwang. Migration, Kulturalisierung und Weltliteratur, Bielefeld: transcript 2009, S. 339-360, hier S. 348-350. 8
Johann Wolfgang Goethe: »German Romance«, in: ders., Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche, Abt. 1, Bd. 22, hg. von Anne Bohnenkamp, Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag 1999, S. 432-434, hier S. 434. Goethes Rezension von Thomas Carlyles German Romance in Ueber Kunst und Altertum ist selbst eine Auseinandersetzung mit der damaligen Gegenwartsliteratur.
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drücklich – auch für Gegenwartsliteratur immer mehr Relevanz. Der hier hergestellte Bezug zur Weltliteratur hat Anstöße dazu gegeben, sie über das formale Zeitkriterium hinaus zu bestimmen und über ihre Entstehungsbedingungen und Wirkungsweisen, ihre Anliegen und Ästhetiken genauer zu reflektieren. Der Ausgangspunkt des Bandes hat sich so auch für eine andere Definition von Gegenwartsliteratur als produktiv erwiesen, deren Charakteristikum das Weltliterarische selbst ist. Wie aber auch umgekehrt das Gegenwärtige für eine Konzeption von Weltliteratur bestimmend sein kann, lässt sich an dem eröffnenden Beitrag von Vittoria Borsò nachvollziehen. Sie fokussiert zwar die Literatur des 21. Jahrhunderts, macht aber immer wieder auf transhistorische Elemente (etwa die Relation global-lokal) aufmerksam und entwickelt ein Konzept von Gegenwärtigkeit und Vergegenwärtigung, das in eine umfassende, qualitative Bestimmung von Weltliteratur integriert wird. Kennzeichnend für Weltliteratur ist ihr zufolge, dass sie Weltwissen als Lebenswissen enthält und transformiert; gegenwärtig ist darin das Leben: als situiertes, prekäres, singuläres, diverses und nicht nur menschliches. Dieses Leben, das als Spur, als Detail gegenwärtig wird, indem es eine eigene Dynamik und Performativität entfaltet, stellt die im Titel genannte »literarästhetische Provokation von Weltwissen« dar, wie Borsò am Beispiel von Roberto Saviano und Roberto Bolaño zeigt. Borsòs These, dass Weltliteratur Weltwissen transformiert, findet sich in den Beiträgen von Boris Previšić und Schamma Schahadat wieder. Previšić fokussiert den Gotthard als zentralen Ort nicht nur für die Nationalliteratur und -mythologie der Schweiz, sondern auch für eine Weltliteratur: Das alpine Massiv wird in neue literarische Topografien eingebaut, die über die reine literarische Fantasie hinaus von großer kulturgeschichtlicher und politischer Bedeutung sind. Weltliteratur in diesem Sinne lässt das Modell von Zentrum und Peripherie fragwürdig werden: Sie bildet es nicht einfach ab, sondern nimmt daran signifikante Änderungen vor, die sich in den untersuchten literarischen Texten von u.a. Hermann Burger und Terézia Mora als durchaus konkrete Deviationen und Umkehrungen manifestieren. Wie Orte und Räume literarisch verwandelt und anverwandelt werden, zeigt Schahadat in ihrem Beitrag über die postsowjetische Literatur aus Polen und Russland. Diese überschreitet (ehemalige) territoriale und geistige Grenzen – auch durch Übersetzung – und betritt einen weltliterarischen Raum, in dem das Globale und das Lokale unter Spannung koexistieren. In
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ihren Lektüren von Joanna Bator, Olga Tokarczuk und Andrzej Stasiuk macht Schahadat zudem eine weltliterarische Dimension in den Schreibweisen und Geopoetiken der Texte aus. Die Reise und das Nomadentum sind nicht nur ein Narrativ, sondern auch eine Metapher, eine Ästhetik und Poetik der Bewegung, des Umlaufs und der Freiheit, der Konfrontation und Kommunikation mit dem Anderen. Ebenfalls »ohne festen Wohnsitz«9 sind die Figuren und Autoren derjenigen Literatur, die Susanne Komfort-Hein in den Blick nimmt. In ihrem Beitrag zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur über Flucht, Exil und Migration geht es um Weltläufigkeit als ein Textverfahren, mit dem jede nationalkulturelle Zugehörigkeit infrage gestellt und – auch hier wieder – zugunsten von transkulturellen Konzepten transformiert wird. Am Beispiel von Abbas Khider zeigt sie, wie die neuere Exilliteratur das historische Exil immer wieder vergegenwärtigt und bei Vereinnahmungs- und Zuschreibungsversuchen auf einer Exterritorialität besteht, die so zu einem Kennzeichen von Weltliteratur wird. Dabei wird u.a. deutlich, wie auch die Definition von (deutscher) Gegenwartsliteratur als Nationalliteratur angesichts der sogenannten »Chamisso-Literatur« problematisch ist. Einen ähnlichen Aspekt verfolgt Ute Fendler im Zusammenhang der frankofonen Literatur u.a. aus Mauritius und Madagaskar. Die relationale Trias Autor-Ort-Sprache jenseits von nationalen Territorien und zugleich als literarischer Entwurf von Weltlichkeit steht im Mittelpunkt der Texte, die sie untersucht und präsentiert: zum Einen das Manifest Pour une ›littérature-monde‹ en français, zum Anderen die Werke von Jean-Luc Raharimanana und Nathacha Appanah. Im Anschluss an Édouard Glissant sind Welt- und Gegenwartsliteratur hier als Relation zu verstehen und nicht in ein Zentrum-Peripherie-Modell einzuordnen. Fendler hebt außerdem hervor, wie wichtig – eben auch als Form der Relation und der transnationalen Verbindung – Übersetzungen sind, um einen Zugang zu und eine Teilhabe an Weltliteratur zu ermöglichen. Zwei weitere Beiträge beschäftigen sich mit der Literatur ehemaliger Kolonialsprachen – Englisch und Spanisch –, und beide tun dies mit einer klaren historischen Ausrichtung. Gesine Müller rekonstruiert verlegerische Strategien, wie lateinamerikanische Gegenwartsliteratur in Deutschland als
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Beide Autorinnen beziehen sich auf Ottmar Ette, vgl. u.a.: ZwischenWeltenSchreiben. Literaturen ohne festen Wohnsitz, Berlin: Kadmos 2005.
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Weltliteratur verkauft wurde: Das Kriterium war hier hauptsächlich eine vermeintliche Anschlussfähigkeit an die europäische Tradition, kombiniert mit lokalen und universalen Elementen, sowie die Übersetzbarkeit der Texte; als Beispiel dient auch ihr u.a. Roberto Bolaño. Eine Herausforderung und Aufgabe für die Literaturwissenschaft liegt ihr zufolge darin, präziser zu klären, worin diese Anschlussfähigkeit in der aktuellen Globalisierungsphase bestehen könnte, um so das zu konkretisieren, was die Historiografie des Feldes als einen wiederholten Entstehungsmechanismus von Weltliteratur aufgezeigt hat. Ähnlich setzt auch Ralf Schneider an, der in seinem Beitrag sowohl die Geschichte des Konzepts World Literature in der Anglistik (inklusive der dadurch bedingten Erweiterung ihres eigenen Forschungsgegenstandes) rekonstruiert, wie auch die ›Welthaltigkeit‹ britischer Literatur historisch einordnet. Am Beispiel u.a. der Norton Anthology of English Literature und des Booker Prize legt er dar, wie die Literaturgeschichtsschreibung und der Literaturbetrieb auf deren Multiethnizität und Transkulturalität reagiert und so eine Öffnung des Markts und des Kanons bewirkt haben, zeigt aber auch die Ambivalenz dieser teils exotisierenden Anerkennung. Die enge Verflechtung dieser Literatur mit der Welt wird zudem von einer seit dem Jahr 2000 zu beobachtenden Tendenz sub-nationaler bzw. regionaler Fokussierung begleitet. Eine andere historische Perspektive auf Weltliteratur macht Norimasa Morita geltend. Im Rekurs auf Franco Moretti diskutiert er die Frage, wie vom Zentrum in die Peripherie gelangende Formen mit lokalen Formen interagieren und integriert werden. So wurde Japan am Ende des 19. Jahrhunderts von einer Flut europäischer Romanliteratur erreicht, aus der in relativ kurzer Zeit auch spezifisch japanische Gattungen entstanden. Während Moretti zwei Momente von Weltliteratur ausmacht – um 1700 und dann vom 18. bis Anfang des 20. Jahrhunderts –, stellt Morita die These einer ›dritten‹ Weltliteratur auf, die in den 1990er Jahren gleichzeitig auf der ganzen Welt entstanden sei und sich durch Übersetzung und Technologie in einem noch nie dagewesenen Maße weltweit bewege. Exemplarisch geht er auf den Gegenwartsroman ein, insbesondere auf Haruki Murakamis, dessen Erfolg gerade darin begründet liege, dass er eine zugleich japanische und durch und durch global-kosmopolitische Literatur schreibe. Ganz in der Gegenwart setzt der Beitrag von Oliver Lubrich an, der aus der Praxis der Friedrich Dürrenmatt Gastprofessur für Weltliteratur an der
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Universität Bern berichtet und an zahlreichen Beispielen darlegt, wie in der Hochschullehre Weltliteratur als Gegenwartsliteratur vermittelt werden kann. Ebenso wie durch ihr Vorbild, die Samuel Fischer-Gastprofessur an der Freien Universität Berlin, werde hierüber eine räumlich und sprachlich entgrenzte Vielfalt ermöglicht, die keine Fakultät allein hätte leisten können. Eingeladen, ja berufen werden Gegenwartsautorinnen und -autoren – u.a. die burmesische Autorin Wendy Law-Yone und der kongolesische Autor Wilfried N’Sondé –, die jeweils ›ihre‹ Weltliteratur unterrichten: Sie teilen ihre persönlichen Erfahrungen, verbinden ihr kulturgeschichtliches und -theoretisches Wissen mit außergewöhnlichen Methoden und stehen so zugleich für ein bestimmtes Verständnis von Gegenwartsliteratur: lebende Autorinnen und Autoren erleben. Eine wichtige Vermittlungsfunktion kommt neben dem Literaturunterricht der Literaturkritik zu. Welches Kriterium für Gegenwartsliteratur dabei entscheidend ist, macht Andreas Platthaus in seiner doppelten Rolle als Literaturkritiker und Literaturchef der Frankfurter Allgemeinen Zeitung im Gespräch mit Kai Kauffmann und Carlos Spoerhase deutlich. Die Besprechungen im Feuilleton richteten sich wesentlich nach dem Zeitpunkt der Veröffentlichung, wobei die publizistische Schnelligkeit zu einer eigenen Vorstellung von Gegenwärtigkeit führe, die sich durch eine zunehmend globalisierte Welt zudem immer wieder verändere. So gibt Platthaus an, dass man sich bei Rezensionen mittlerweile weitgehend auf das laufende Jahr beschränke und vermehrt Neuerscheinungen rezensiert würden, von denen es noch keine deutsche Übersetzung gibt: Da sich vor allem jüngere Leserinnen und Leser über anderssprachige Medien wie den New Yorker informierten, stoße es auf Unverständnis, wenn dort bereits intensiv diskutierte Bücher in der F.A.Z. noch nicht besprochen würden. Wie verbreitet auch in der Literaturkritik stereotype Annahmen sind, beschreibt Senthuran Varatharajah, der 2017 den Chamisso-Förderpreis erhalten hat, im schriftlichen Interview mit Charis Goer: Sein Debütroman Vor der Zunahme der Zeichen löste Irritationen aus, weil dabei Autor, Verlag, Figuren, Thema, Erzähl- und Ausdrucksweise nicht den Erwartungen des Literaturbetriebs gemäß waren. Die Folgen der oben erwähnten, vielfach weiterhin unbewusst vorausgesetzten Trias Sprache-Kultur-Nation werden in den geschilderten Erfahrungen deutlich, regelmäßig auf Englisch angeschrieben, als tamilischer Autor angekündigt oder auf seine Eloquenz angesprochen zu werden. Er kritisiert die späte Anerkennung von trans-
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kontinentalen, ›nicht-weißen‹ Flucht- und Migrationsgeschichten in der deutschsprachigen Literatur und die u.a. dadurch bedingte selektive Wahrnehmung von ›Gegenwart‹. Wenn diese literarischen Texte nun plötzlich als besonders »aktuell« bezeichnet würden, zeuge dies von einem sowohl literatur- wie realhistorischen Missverständnis. In Venkat B. Mani haben wir schließlich einen Gesprächspartner gefunden, der sich nicht nur für die Literatur der Migration, sondern auch für bibliomigrancy, die Migration von Texten, interessiert: etwa in Übersetzungen oder analogen und digitalen Bibliotheken. Welche Bücher sich wie bewegen, ist eine für den Zusammenhang von Gegenwartsliteratur und Weltliteratur wichtige Frage, die politische, kulturelle, historische und ökonomische Aspekte umfasst. Weltliteratur sei mit den borrowing privileges – den Ausleihberechtigungen – von Bibliotheken vergleichbar, da ein solcher Zugang sehr voraussetzungsreich sei und nicht allen offenstehe. Am Beispiel der indischen Literaturen geht Mani auf die Folgen dessen ein, dass in den (westlichen) Weltkanon weiterhin vorwiegend englischsprachige indische Werke aufgenommen werden, nicht zuletzt aufgrund mangelnder oder mangelhafter Übersetzungen. Viele Gegenwartsautorinnen und -autoren entschieden sich in ihren Texten allerdings zunehmend für sprachliche Vielfalt, wodurch ein Bild der historisch gewachsenen Komplexität Indiens entstehe. Die Frage der Repräsentativität betrifft schließlich auch diese Publikation. Ein Großteil der hier vorgelegten Beiträge geht auf das Bielefelder Literaturwissenschaftliche Kolloquium »Gegenwartsliteratur – Weltliteratur« zurück, wodurch Anglistik, Romanistik und Germanistik überproportional vertreten sind. Wir haben versucht, diesem Ungleichgewicht durch zusätzlich eingeworbene Beiträge entgegenzuwirken, die den Blick weiten. Dennoch kommen viele Weltregionen gar nicht oder nur in Bezug auf Schriftstellerinnen und Schriftsteller vor, die in ehemaligen Kolonialsprachen schreiben und über die jeweils aus einer privilegierten, hegemonialen Position gesprochen wird. Die Dominanz europäischer Literaturen, die in zahlreichen Arbeiten zur Weltliteratur, auch von mehreren der hier beteiligten Forscherinnen und Forschern, problematisiert wird, findet sich daher auch in diesem Band, der so performativ einige der Probleme spiegelt, von denen in den Beiträgen selbst kritisch die Rede ist.
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Dem Dekanat der Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft sind wir für die Finanzierung der Gastvorträge sowie der Druckkosten, Desiree Delatour für das Lektorat und Korrektorat zu großem Dank verpflichtet. Einige Referentinnen und Referenten konnten zu unserem Bedauern leider nicht an der Publikation mitwirken: Prof. Dr. Nikita Dhawans Gedanken über »Decolonizing the Mind: Transnational Literacy and Planetary Ethics«, Dr. h.c. Raimund Fellingers Rückblick auf die weltliterarische Kanonbildung des Insel-Verlags, Prof. Dr. Irmela Hijiya-Kirschnereits Analyse unterschiedlicher Übersetzungen japanischer Gegenwartsliteratur, Dr. Florian Höllerers Bericht über die tägliche Arbeit mit Gegenwartsliteratur und Weltliteratur am Literarischen Colloquium Berlin und Prof. Dr. Christian Mosers Gegenüberstellung globaler Literaturbegriffe um 1800 und 2000 haben das Kolloquium sehr bereichert: Ihnen allen, vor allem aber den Autorinnen und Autoren der folgenden Beiträge sei an dieser Stelle noch einmal herzlich für ihre Perspektiven auf das Begriffspaar gedankt. Venedig und Berlin im Januar 2019
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L ITERATUR Amann, Wilhelm/Georg Mein/Rolf Parr: »Gegenwartsliteratur und Globalisierung. Vorüberlegungen zu einem komplexen Beziehungsverhältnis«, in: dies. (Hg.), Globalisierung und Gegenwartsliteratur. Konstellationen – Konzepte – Perspektiven, Heidelberg: Synchron 2010, S. 7-14. Buschmeier, Matthias: »Einfache Überkomplexität. Für eine Weltliteraturgeschichte des ›Westens‹«, in: Albrecht Koschorke (Hg.), Komplexität und Einfachheit. DFG-Symposion 2015, Stuttgart: Metzler 2017, S. 507-540. Eckermann, Johann Peter: »Gespräch mit Goethe, Mittwoch den 31. Januar 1827«, in: Johann Wolfgang Goethe, Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche, Abt. 2, Bd. 12, hg. von Christoph Michel, Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag 1999, S. 223-228. Ette, Ottmar: Viellogische Philologie. Die Literaturen der Welt und das Beispiel einer transarealen peruanischen Literatur, Berlin: tranvía/Frey 2013. —: ZwischenWeltenSchreiben. Literaturen ohne festen Wohnsitz, Berlin: Kadmos 2005. Goethe, Johann Wolfgang: »German Romance«, in: ders., Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche, Abt. 1, Bd. 22, hg. von Anne Bohnenkamp, Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag 1999, S. 432434. Schmitz-Emans, Monika: »The Weltverkehr or World Traffic of Books. Modern Anthologies of World Poetry«, in: Lisa Block de Behar et al. (Hg.), Comparative Literature: Sharing Knowledges For Preserving Cultural Diversity, Bd. 2, Oxford: Eolss 2009, S. 268-288. Schüttpelz, Erhard: »Weltliteratur in der Perspektive einer Longue Durée I: Die fünf Zeitschichten der Globalisierung«, in: Özkan Ezli/Dorothee Kimmich/Annette Werberger (Hg.), Wider den Kulturenzwang. Migration, Kulturalisierung und Weltliteratur, Bielefeld: transcript 2009, S. 339-360. Young, Robert J.C.: »World Literature and Postcolonialism«, in: Theo D’haen/David Damrosch/Djelal Kadir (Hg.), The Routledge Companion to World Literature, London/New York: Routledge 2012, S. 213222.
Gegenwartsliteratur als Weltliteratur Die literarästhetische Provokation von Weltwissen in den Literaturen der Gegenwart V ITTORIA B ORSÒ
K ARTOGRAFIERUNG VON W ELTLITERATUR ZU B EGINN DES 20. UND 21. J AHRHUNDERTS : MATERIELLE UND OPERATIVE B EDINGUNGEN »Es ist an der Zeit sich zu fragen, welchen Sinn das Wort Weltliteratur, in Goethescher Weise auf das Gegenwärtige und das von der Zukunft zu Erwartende bezogen, noch haben kann. Unsere Erde, die die Welt der Weltliteratur ist, wird kleiner und verliert an Mannigfaltigkeit. Weltliteratur aber bezieht sich nicht einfach auf das Gemeinsame und Menschliche überhaupt, sondern auf dieses als wechselseitige Befruchtung des Mannigfaltigen. Die felix culpa des Auseinanderfallens der Menschheit in eine Fülle von Kulturen ist ihre Voraussetzung. Und was geschieht heute, was bereitet sich vor? Aus tausend Gründen, die jeder kennt, vereinheitlicht sich das Leben der Menschen auf dem ganzen Planeten. Der Überlagerungsprozeß, der ursprünglich von Europa ausging, wirkt weiter und untergräbt alle Sondertraditionen. Zwar ist überall der Nationalwille stärker und lauter als je, aber überall treibt er zu den gleichen, nämlich den modernen Lebensformen, und es ist für den unparteiischen Beobachter deutlich, dass die inneren Grundlagen des nationalen Daseins überall im Zerfallen sind. […] Sollte es der Menschheit gelingen, sich durch die Erschütterungen hindurchzuretten, die ein so gewaltiger, so reißend schneller und innerlich so schlecht vorbereiteter Konzentrationsprozeß mit sich bringt, so wird man
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sich an den Gedanken gewöhnen müssen, dass auf einer einheitlich organisierten Erde nur eine einzige literarische Kultur, ja selbst in vergleichsweise kurzer Zeit nur wenige literarische Sprachen, bald vielleicht nur eine, als lebend übrigbleiben. Und damit wäre der Gedanke der Weltliteratur zugleich verwirklicht und zerstört.«1
Mitte des 20. Jahrhunderts fragt Erich Auerbach in einem Aufsatz mit dem Titel Philologie der Weltliteratur, welchen Sinn der goethesche Begriff von Weltliteratur, bezogen auf die Gegenwart und die zu erwartende Zukunft, noch haben kann. Er fährt fort mit einer Diagnose, die heute, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, erschreckend ähnlich formuliert werden könnte, nämlich dass auf unserem »kleiner« gewordenen Planeten die Standardisierung fortschreitet, die einst von Europa ausgegangen ist und durch einen nun weltweiten Überlagerungsprozess alle Sondertraditionen bald untergraben wird. Das Lauterwerden des Nationalwillens ändert nichts am Gleichwerden der Lebensformen, und es ist zu befürchten, dass auf einer »einheitlich organisierten Erde nur eine einzige literarische Kultur« oder nur eine »literarische Sprache[] […] als lebend übrigbleiben [wird].« Die Schlussfolgerung von Auerbach ist klar: Dies wäre zugleich die Verwirklichung und die Zerstörung von Weltliteratur. Man könnte zwar geneigt sein, unsere eigene Gegenwart als den Vollzug dieser prophetischen Analyse zu sehen, doch hat sich die fragile Lage von Weltliteratur am Beginn des 21. Jahrhunderts noch zugespitzt. So überlagern die globalen technologischen und finanzökonomischen Flüsse mit gleichbleibenden landscapes die lokalen Lebensformen und zerstören ihre jeweiligen materiellen Besonderheiten sowie ihren Ausdruck in Literatur, Kunst und Handwerk. Das Englische entwickelt sich langsam zur weltliterarischen Sprache, während sich gleichzeitig die Verlage zunehmend an chinesischen statt an amerikanischen Machtzentren orientieren. Moderne Epen mit archaischen und zugleich exotischen Helden und/oder Kriminalgeschichten im genre noir überfüllen die internationalen Verkaufsstände, wobei die jeweilige Provenienz als Fremdheit lediglich Suspense-Effekte produzieren soll. Dabei steigert Fremdheit als Exotismus die Verkaufszahlen, sofern sie die glättenden Übersetzungen ins Englische überlebt. Unzweifelhaft enthüllt auch der literarische Markt seine
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Erich Auerbach: »Philologie der Weltliteratur«, in: Walter Muschg/Emil Staiger (Hg.), Weltliteratur. Festgabe für Fritz Strich zum 70. Geburtstag, Bern: Francke 1952, S. 39-50, hier S. 39, Herv. im Orig.
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Natur als Macht, sodass in Verlagsentscheidungen ökonomische Kriterien gegen ästhetische ausgespielt werden. Unter anderem die Arbeiten von Gesine Müller oder auch von Marco Thomas Bosshard haben es deutlich gezeigt: Literaturen werden in die Mechanismen der Wertschöpfung integriert.2 Doch meine Intention ist es nicht, dies zu beklagen. Vielmehr geht es mir darum, differenzierte Kriterien zu finden, die der Komplexität der materiellen Bedingungen von Weltliteratur im beschleunigten Zustand unserer ökonomischen und technologischen Globalisierung gerecht werden. Es handelt sich zum einen um die Herausforderungen der medialen Bedingungen von Globalisierung, insbesondere um die Konnektivität in der Weltgesellschaft (Rudolf Stichweh),3 die Auerbach selbst zu erkennen scheint, wenn er vom »so reißend schnelle[n] und innerlich so schlecht vorbereitete[n] Konzentrationsprozeß« spricht. Zum anderen geht es um die massive diskursive Verflechtung nicht nur von Literatur und Ökonomie, wie eben erwähnt, sondern auch von Literatur und Politik – eine Verflechtung, die bei der Erscheinung von Michel Houellebecqs Soumission (2015)4 in einer so noch nicht zuvor dagewesenen Weise zu Tage getreten ist. Um die Grundlagen dieser Überlegungen zu klären, gilt es zu fragen: a) Von welcher Weltliteratur für welche Philologie oder Literaturwissenschaft reden wir? Was sind die materiellen Bedingungen der Performativität von Weltliteratur, wenn wir nicht von einer normativen Poetik oder einem europäischen Kanon ausgehen? b) Müssen wir von ›Literatur der Welten‹ sprechen oder von Weltliteratur und in welchem Verhältnis steht diese zur jeweiligen Gegenwart? Produziert die Ästhetik von Weltliteratur in besonderer Weise Präsenzeffekte und lokale Ökologien, die auf das Globale ausstrahlen, und könnte dies als eine besondere Art von Gegenwärtig-
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Vgl. Gesine Müller (Hg.): Verlag Macht Weltliteratur. Lateinamerikanischdeutsche Kulturtransfers zwischen internationalem Literaturbetrieb und Übersetzungspolitik, Berlin: tranvía/Frey 2014; Marco Thomas Bosshard (Hg.): Buchmarkt, Buchindustrie und Buchmessen in Deutschland, Spanien und Lateinamerika, Berlin/Münster: LIT 2015.
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Rudolf Stichweh: Die Weltgesellschaft. Soziologische Analysen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2000 und ders.: »Das Konzept der Weltgesellschaft: Genese und Strukturbildung eines globalen Gesellschaftssystems«, in: Rechtstheorie 39 (2008), S. 329-355.
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Michel Houellebecq: Soumission, Paris: Flammarion 2015.
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keit bezeichnet werden? c) Was ist eine Weltliteratur der Gegenwart zu Beginn des 21. Jahrhunderts?
D AS 20. J AHRHUNDERT ODER : WIE AUERBACH ÜBER G OETHE HINAUSGEHT In den Diskursereignissen, die Weltliteratur begründet und etabliert haben, erkennt man, dass Weltliteratur das Verhältnis des Partikulären zum Allgemeinen betrifft und eigene Lösungen zu diesem alten, 5 sich in immer neuen Formen manifestierenden epistemologischen und politischen Problem leistet. Weltliteratur ist diejenige, so Johann Wolfgang von Goethe, 6 die Konzepte des Zusammenlebens in allen Sphären der menschlichen Aktivität entwickelt, und zwar so, dass sich aus ihr der Blick auf das Partikuläre vom Allgemeinen her verändert. Die hegelsche Synthese, verstanden als Vermittler eines Fortschreitens des Geistes in Richtung einer Universalgeschichte gegen aufkommende Nationalismen, war für Goethe der Keim der Produktivität von Weltliteratur – eine ungemein weitsichtige These zur Zeit der sich formierenden Nationalkulturen. Schon im Auftakt seines Artikels markiert Auerbach den Unterschied zu Goethe: Weltliteratur könne nicht mehr einem naiven Kosmopolitismus das Wort reden, vielmehr bestünde die Gefahr der Standardisierung und damit der Zerstörung von Weltliteratur. Worum es also bei Weltliteratur gehen kann, ist eine andere Form des
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Vgl. Georges Canguilhem: »Die epistemologische Funktion des ›Einzigartigen‹ in der Wissenschaft vom Leben«, in: ders., Wissenschaftsgeschichte und Epistemologie. Gesammelte Aufsätze, hg. von Wolf Lepenies, übers. von Michael Bischoff und Walter Seitter, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1979, S. 59-74.
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Ich verweise auf die bekannte Formulierung in Johann Peter Eckermanns Gesprächen mit Goethe vom 31. Januar 1827: »Ich sehe mich […] gerne bei fremden Nationen um und rate jedem, es auch seinerseits zu tun. National-Literatur will jetzt nicht viel sagen, die Epoche der Welt-Literatur ist an der Zeit und jeder muß jetzt dazu wirken, diese Epoche zu beschleunigen.« Johann Peter Eckermann: »Gespräch mit Goethe, Mittwoch den 31. Januar 1827«, in: Johann Wolfgang Goethe, Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche, Abt. 2, Bd. 12, hg. von Christoph Michel, Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag 1999, S. 223-228, hier S. 224f.
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Zusammenspiels von Partikulärem und Universellem. So Auerbach: »Weltliteratur aber bezieht sich nicht einfach auf das Gemeinsame und Menschliche überhaupt, sondern auf dieses als wechselseitige Befruchtung des Mannigfaltigen. Die felix culpa des Auseinanderfallens der Menschheit in eine Fülle von Kulturen ist ihre Voraussetzung.«7 Akzentuiert wird zum einen das Mannigfaltige und nicht die Überwindung des Nationalen durch das Gemeinsame oder Universelle bzw. Kosmopolitische und zum anderen die Relationalität zwischen dem Mannigfaltigen, denn erst diese befruchtet die Kulturen wechselseitig. Leicht erkennen wir auch eine Position, die man heute mit den Postcolonial Studies verbindet, nämlich die Relationalität zwischen Globalem und Lokalem8 und die Hybriditätsschwelle nach Homi K. Bhabha, d.h. die unabschließbare Entgrenzung der je eigenen Position durch die Überlappung von Formen und Systemen. 9 Diese Funktion von Weltliteratur ist transhistorisch und geht somit über den goetheschen Kontext zu Beginn des 19. Jahrhunderts hinaus. Zu Recht wird in den neueren Studien auch die mittelalterliche und neuzeitliche Literatur infolge der vielfältigen kulturellen Verflechtungen als transkulturell bezeichnet,10 sodass die Qualität von Weltliteratur im Sinne der Relationalität zwischen dem Mannigfaltigen nicht etwa erst seit der Herausbildung des goetheschen Begriffs im 19. Jahrhundert besteht; vielmehr muss man das Phänomen, gegen das sich Goethe gewandt hat, nämlich die sich abzeichnende Bildung eines
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Auerbach: »Philologie der Weltliteratur«, S. 39, Herv. im Orig.
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Vgl. Stuart Hall: »Wann war ›der Postkolonialismus‹? Denken an der Grenze«, in: Elisabeth Bronfen/Benjamin Marius/Therese Steffen (Hg.), Hybride Kulturen. Beiträge zur anglo-amerikanischen Multikulturalismusdebatte, übers. von Anne Emmert und Josef Raab, Tübingen: Stauffenburg 1997, S. 219-246.
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Vgl. Homi K. Bhabha: The Location of Culture, New York/London: Routledge 1994, S. 191ff.
10 Vgl. Michael Borgolte/Matthias M. Tischler (Hg.): Transkulturelle Verflechtungen im mittelalterlichen Jahrtausend. Europa, Ostasien und Afrika, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2012; ich verweise auch auf das seit 2012 von der DFG geförderte Netzwerk Transkulturelle Verflechtungen im mittelalterlichen Euromediterraneum (500-1500) an der Goethe-Universität Frankfurt am Main.
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nationalen Kanons, als Sonderfall der Geschichte von Literatur betrachten.11 Auerbach erkennt die Historizität der Position Goethes und den gravierenden Unterschied zu dem, was im 20. Jahrhundert Weltliteratur sein könnte: »Zur Bildung des historisch-perspektivischen Sinnes und zu der philologischen Forschungstätigkeit, die aus ihm entsprang, hat Goethe selbst, der vor 120 Jahren starb, durch Tätigkeit und Anregung entscheidend beigetragen. Und schon sehen wir eine Welt entstehen, für die dieser Sinn nicht mehr viel praktische Bedeutung haben dürfte.«12
Im 20. Jahrhundert kann es nicht mehr nur um einen perspektivischen Sinn in historischer Betrachtung gehen, sondern um die Rettung der Verschiedenheit durch die Interaktion der Kulturen. Das diskursive Ereignis von Auerbach unterscheidet sich demnach erheblich von dem Goethes: Zwar muss das Verhältnis zwischen Partikulärem und Universellem im Falle Goethes derart sein, dass in der Universalität die Differenz zu erkennen ist – nicht zu Unrecht sieht Hendrik Birus dabei eine Strukturparallele zwischen dem Diskurs Goethes und dem diskursiven Ereignis der Gründung der littérature comparée durch Abel François Villemains Programmformel an der Sorbonne 1827-193013 –, allerdings geht es Goethe um die Überwindung des Provinziellen, und dies ist nicht mehr das von Auerbach erkannte Problem. Die Rolle und Chance von Weltliteratur im 20. Jahrhundert (und
11 Ich paraphrasiere damit Michel Serres’ These, dass die monolinearen, nicht netzwerkartigen Relationen im Raum nicht die Norm, sondern den Sonderfall der Beziehungskonfigurationen darstellen. Vgl. Michel Serres: Hermès 1. La communication, Paris: Minuit 1968. 12 Auerbach: »Philologie der Weltliteratur«, S. 40. 13 Vgl. Hendrik Birus: »Komparatistik«, in: Harald Fricke (Hg.), Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte, Bd. 2, Berlin/New York: De Gruyter 2000, S. 313317 und ders.: »Weltliteratur«, in: Jan-Dirk Müller (Hg.), Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte, Bd. 3, Berlin/New York: De Gruyter 2003, S. 825-826, hier S. 825.
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heute) ist es vielmehr, die Relationalität zwischen den entferntesten Kulturen und eine wechselseitige Befruchtung der Diversität voranzutreiben. Mit der topologischen Zentrierung des Partikulären als Relation zur Welt und der daraus resultierenden Mannigfaltigkeit des Einzelnen fokussiert Auerbach nicht nur eine im Sinne der Transkulturalität zeitübergreifende Qualität von Weltliteratur, sondern auch ein in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts programmatisch entwickeltes poetologisches Wissen, welches zur Neukartierung von Weltwissen führte. Literarische Texte haben im 20. Jahrhundert geopolitisches und historisches Wissen hinterfragt und neu konfiguriert. Sie haben Subjekt, Kultur und Natur sowie humane und nicht humane Dinge in neue Relationen zueinander gebracht. Spezielle Geopoetiken haben Grenzverschiebungen und Reterritorialisierung vorgeführt;14 Möglichkeiten zu transarealen Interaktionen im literarischen Bereich wurden präsentiert,15 Reflexion über Transformationsräume und die Produktion von postnationalen, transversalen und auch transitorischen Raumordnungen inszeniert. Die Politiken der Erinnerung sind anhand paradoxaler ZeitRaum-Konfigurationen hinterfragt worden. Literatur, die kulturelle Bewegungen und Transformationen zeigt, wurde aufgrund von Migrantenbewegungen sowie materiellen und immateriellen Flüssen zu einem Laboratorium von höchster Relevanz. Wenn dieses Thema etwa mit den Mobility Studies Hochkontingenz hat,16 so hat die Literatur, die mit der prägnanten Formel von Ottmar Ette keine feste Residenz hat,17 all diese Kulturtheorien vorweggenommen. Genau in dieser Hinsicht sprechen wir von Weltliteratur, die, unabhängig von ihrer Provenienz, über die Grenzen hinweg als Inspiration eine Transformation des Wissens gefördert hat. Und diese Qualität von Weltliteratur ist transhistorisch: Michel de Montaigne hat z.B. den brasilianischen Soziologen und Schriftsteller Silviano Santiago zur erstmaligen
14 Vgl. z.B. Tatjana Hofmann: »Ecocriticism und Geopoetik», in: Jörg Dünne/Andreas Mahler (Hg.), Handbuch Literatur und Raum, Berlin/Boston: De Gruyter 2015, S. 207-216. 15 Vgl. z.B. Ottmar Ette: Viellogische Philologie. Die Literaturen der Welt und das Beispiel einer transarealen peruanischen Literatur, Berlin: tranvía/Frey 2013. 16 Vgl. z.B. Tim Cresswell: On the Move. Mobility in the Modern Western World, London/New York: Routledge 2006. 17 Vgl. z.B. Ottmar Ette: ZwischenWeltenSchreiben. Literaturen ohne festen Wohnsitz, Berlin: Kadmos 2005.
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Formulierung des folgenreichen Begriffs o entre lugar (1978) inspiriert.18 Literarische Texte haben den Postcolonial Studies ebenfalls fundamentale Impulse gegeben. Im englischsprachigen Raum gewinnt etwa Bhabha Einsicht in die Agenzialität in Bezug auf die Verflechtung unserer demokratischen Gegenwart mit kolonialer oder imperialer Vergangenheit aus der Literatur von Toni Morrison – um nur wenige Beispiele zu nennen. Die Selbstreflexivität machte aus Literatur einen kritischen Spiegel gegenüber den Dispositiven von Blick und Bewusstsein in der Organisation unseres Weltwissens. Wenn dies auch in historischen Texten zu finden ist, so wird eine solche Performanz eher programmatisch im 19. Jahrhundert als Reaktion auf die gesteigerte wissenschaftliche und (geo-)politische Normierung. Michel Foucault nannte dieses Potenzial den bösen Blick der Literatur, den er in Bezug auf den halluzinierten Blick von Saint Antoine in Gustave Flaubert19 und für das 20. Jahrhundert im Zusammenhang mit Jorge Luis Borges20 charakterisiert hat. Weltliteratur hat dazu inspiriert, einen kritischen Blick auf imperiale Zentren zu werfen, um sie an einem anderen Maßstab zu messen und so das imperialistische Blickregime des Westens zu dekonstruieren – was Stuart Hall das »englische Auge« genannt hat.21 So erscheint etwa England als eine einfache Ethnie, die sich anmaßte, durch Exklusionen/Inklusionen die Welt räumlich zu organisieren. Die wissenspoetologische Leistung von Weltliteratur hat in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts deshalb insbesondere im geopolitischen Bereich neue Weltkonfigurationen inspiriert. Doch zeigt sich Auerbach zugleich skeptisch über die politische Rolle einer Weltkonfiguration, wie sie
18 Vgl. z.B. Vittoria Borsò: »In-Between-Spaces«, in: Alberto Moreiras (Hg.), Iberian Postcolonialities (in Arbeit) und dies.: »Transitorische Räume«, in: Dünne/Mahler, Handbuch Literatur und Raum (2015), S. 259-271. 19 Vgl. Michel Foucault: »La bibliothèque fantastique«, in: Gérard Genette/ Tzvetan Todorov (Hg.), Travail de Flaubert, Paris: Seuil 1983, S. 103-122. 20 Foucault spricht von einem »chinesischen Borges«, der (wie Saint Antoine) die Klassifikationen quer verbindet und ihre Logik zerstört. Michel Foucault: »Le pièges de Vincennes«, in: ders., Dits et écrits. 1954-1988, hg. von Daniel Defert und François Ewald, Bd. 2, Paris: Gallimard 1994, S. 67-73, hier S. 67. 21 Stuart Hall: »Das Lokale und das Globale: Globalisierung und Ethnizität«, in: ders., Rassismus und kulturelle Identität, hg. und übers. von Ulrich Mehlem et al., Hamburg: Argument 1994, S. 44-65, hier S. 45.
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Weltliteratur inspiriert, werden doch Polarisierungen weiterhin nur durch politische Macht gelöst: »Im Übrigen aber ist, wie eingangs gesagt wurde, die Angleichung der Kulturen schon weiter gediehen, als es einem Humanisten Goethescher Prägung lieb sein könnte, ohne daß sich doch vernünftige Aussicht zeigte, die trotzdem bestehenden Gegensätze anders zu lösen als durch Machtprobe.«22 Die Kritik der geopolitischen Lage der Welt wird heute mehr denn je benötigt, wenn man bedenkt, dass nicht nur die materielle Besonderheit von Lebensformen, sondern auch das konkrete Leben unter dem Druck von politischer Gewalt zu verschwinden droht. Dieses Problem hat sich in der zweiten Dekade des 21. Jahrhunderts infolge konträrer Tendenzen zugespitzt: einerseits neu entflammte Nationalismen und ethnische Kämpfe; andererseits die Macht der globalen Ökonomie. Beides legt sich über die Verflechtung zwischen den Kulturen. Müssen wir die topologische Relation des Partikulären zur Welt nicht radikaler denken, etwa im Sinne der in postkolonialen Ansätzen impliziten Dezentrierung des epistemologischen Standortes, von dem aus die Verschiedenheit der Lebensformen gedacht werden muss und gerettet werden kann? Die Biografie von Auerbach selbst impliziert dieses Vermächtnis.
›L ITERATUR DER W ELTEN ‹ – EIN N ACHDENKEN ÜBER DAS V ERMÄCHTNIS DES 20. J AHRHUNDERTS Das 21. Jahrhundert hat vom 20. Ästhetiken beerbt, die weiter Relevanz haben und zugleich dabei sind, mit den heutigen materiellen Bedingungen von Migration und Exil die Frage nach Weltliteratur selbst im Kern zu verändern. Signalcharakter hat erneut die Verschiebung, die sich mit Auerbach ergab, als er den Begriff von Goethe an das 20. Jahrhundert anpasste. Ich meine hier die Verschiebung des Ortes, von dem aus er schrieb. Mimesis,23 seine konkrete Erfahrung mit Weltliteratur, wurde während seines Exils in der Türkei geschrieben. Die Verschiebung von Goethes Lösung des dialektischen Verhältnisses zwischen Partikulärem und Universellem hin zur Wechselwirkung des Mannigfaltigen ist auch eine Verschiebung des Ortes,
22 Auerbach: »Philologie der Weltliteratur«, S. 42. 23 Erich Auerbach: Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur, Bern: Francke 2001.
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von dem aus Welt erfahren bzw. Weltliteratur geschrieben, gelesen und beurteilt wird. Von Weimar, dem Zentrum der Klassik, zum türkischen Exil. Es ist auch eine Verschiebung historischer Situationen: vom Humanismus der deutschen Klassik zu ihrer schrecklichen Degradation mit der Shoah. Das türkische Exil ist ein Ort des Dazwischen. Genau solche Orte des Schreibens und des Lesens, nämlich ein auf Raum und Zeit sowie Sprachen und Kulturen bezogenes Dazwischen, werden heute zunehmend zur Regel. Orhan Pamuk (Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2005), Emine Sevgi Özdamar, Yōko Tawada u.a. sind nur einige Beispiele. Aus Lateinamerika ist nicht zufällig der Satz aus Las genealogías von Margo Glantz (1981) berühmt, ja paradigmatisch geworden: »Soy Mexicana y no lo soy, y todo es mío y no lo es y parezco judia y no lo parezco y por eso escribo estas mis genealogías.«24 Nationale Raumpolitiken und Erinnerungspolitiken werden dabei in ihrer historischen Kontingenz und Partikularität gezeigt. Wie Jacques Derrida es für die Philosophie formuliert, ist im Gegensatz zum Kanon einer internationalen Philosophie, den noch Immanuel Kant in Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784) vorschlug, nämlich ausgehend von einer griechisch-römischen Genealogie, die Philosophie in der Art und Weise zu betrachten, wie sie durch außereuropäische Kulturen verarbeitet und transformiert wurde. 25 Dies gilt gleichermaßen für die Literatur. Denn wie die Philosophie ist auch die Literatur nicht an eine einzige Sprache oder an ein einziges Volk gebunden, sondern »elle a toujours été bâtarde, hybride, greffée, multilinéaire, polyglotte et il nous faut ajuster notre pratique de l’histoire et de la philosophie à cette réalité qui fut aussi une chance et qui reste plus que jamais une chance«.26 Deshalb sind gerade außereuropäische Literaturen potenziell in der Lage, die politischen Herausforderungen der Gegenwart in Bezug auf die Konfiguration des Verhältnisses zwischen Lokalem und Globalem in allen Sphären unseres Lebens zu erarbeiten. Als solche sind sie ein ausgeprägtes Laboratorium für die Untersuchung der Aneignungs- und Transformationsprozesse von europäischen Sprachen und Kulturen. Die Transposition in
24 Margo Glantz: Las genealogías, Mexiko-Stadt: Alfaguara 1998, S. 21. 25 Vgl. Jacques Derrida: Le droit à la philosophie du point de vue cosmopolite, Paris: UNESCO/Verdier 1997, S. 15. 26 Ebd., S. 33.
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einen anderen Kultur- und Sprachraum verschiebt die Sprachen und verändert sie durch den Kontakt mit den lokalen Ressourcen. Der Kosmopolitismus kann hier einen anderen Sinn erlangen und die Spur eines Bindeglieds zwischen den Orten oder Städten des Kosmos werden. In außereuropäischen Literaturen wird man eine Dichte finden, in der sowohl das Antlitz des Anderen (Emmanuel Levinas27) als auch die Markierung der eigenen Gewalt sowie Modelle eines Zusammenlebens erfahren werden können. In diesem Laboratorium können wir die gegenwärtigen Probleme Europas besser erkennen, für die wir dringend Lösungen benötigen. Für die Veranschaulichung dieser Thesen werde ich mich im Folgenden auf lateinamerikanische Kulturen beziehen, die schon im Kolonialbarock erstaunlich aktuelle geopolitische Debatten entfalteten, wofür etwa Sor Juana Inés de la Cruz ein herausragendes Beispiel ist.28 Besonders sind aber die spanisch- und französischsprachigen Antillen nicht nur mit frühen Konzeptualisierungen, sondern vor allem mit der Verschiebung des Fokus auf die Besonderheit von Lebenswelten hervorgetreten. Im Folgenden seien nur einige Beispiele genannt: Mit Cahier d’un retour au pays natal (19361939) von Aimé Césaire wird die Gewalt erfahrbar und bewusst, die ein kolonisiertes Subjekt erlitten hat, umso mehr als die Darstellung dieser Erfahrung in der Sprache der Kolonisatoren geschieht, in der es Césaire gelingt, den Blick auf die Macht zu richten und die schrecklichen Folgen zu zeigen.29 Diese Literaturen führen die Sprache deshalb jenseits von geopolitischen Trennungen und handeln in zweifacher Richtung: Sie zeigen die doppelte, traumatische Natur des Zivilisationsprozesses und inspirieren eine
27 Vgl. Emmanuel Levinas: »Das Antlitz«, in: ders., Ethik und Unendliches. Gespräche mit Philippe Nemo, übers. von Dorothea Schmidt, Wien: Passagen 1996, S. 63-70. 28 Ich beziehe mich etwa auf die Loa para el Divino Narciso (1689). Vgl. Vittoria Borsò: »Pensar el movimiento: rutas e itinerarios de las culturas«, in: dies./ Yasmin Temelli/Karolin Viseneber (Hg.), México: migraciones culturales – topografías transatlánticas. Acercamiento a las culturas desde el movimiento, Madrid/Frankfurt a.M.: Iberoamericana/Vervuert 2012, S. 47-76. 29 Die experimentelle Ästhetik von Aimé Césaire entspricht der anthropologischen und psychoanalytischen Kritik der Kolonisation durch Frantz Fanon: Peau noire, masques blancs, Paris: Seuil 2001.
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Kritik unserer Gegenwart.30 In der Intensität der Affekte im Körper der Sprache von Césaire findet die Ansprache des Anderen eine Geste, welche selbst die Gewalt derjenigen dekuvriert, die insensibel bleiben. Die Potenz dieser Literatur zeigt, dass die Schrift nicht die Repräsentation einer kulturellen Essenz ist, sondern den Rhythmen der Existenzen folgt. Diese Existenzen sind auf einer Insel (Martinique) lokalisiert und zugleich mit der Welt verbunden, entsprechend einer am Archipel orientierten Ontologie, die Édouard Glissant in Traité du Tout-Monde, seinem letzten poetischen Essay, vorschlägt.31 Es ist gerade weil Glissant den Universalismus verlässt und sich in seiner besonderen Umwelt, d.h. in seiner eigenen antillanischen Situation, lokalisiert, dass er die eigene Existenz als monde archipel entdeckt, diese auch auf einen planetarischen Maßstab bezieht und eine Schrift entwirft, die die französische Sprache durch andere Rhythmen verändert. So verstanden, produziert Weltliteratur die Entgrenzung des Universalismus eines vermeintlichen europäischen Kanons und muss deshalb als ›Literatur der Welten‹ verstanden werden im Sinne der Diversität der Welten, die in einer Sprache gegenwärtig ist – hier im Französischen. Die unterschiedlichen Orte, aus denen Diversität hervorgeht, markieren die Begegnung der klassischen Sprachen mit den lokalen Idiomen, Traditionen und Geschichten.
30 Die Relation zwischen den Kulturen produziert neue, barocke, individuelle Sprachperformanz, die von allen möglichen Sprachperformanzen inspiriert ist: »la parole baroque inspirée de toutes paroles possibles«. Édouard Glissant: Poétique de la Relation, Paris: Gallimard 1990, S. 89. Vgl. auch ders.: Philosophie de la Relation. Poésie en étendue, Paris: Gallimard 2009. 31 Die Anregungen dieses Textes sind zahlreich. Nur als Beispiel: Auf der Basis von Martin Heideggers Metaphysik-Kritik überwindet Édouard Glissant traditionelle Rhetoriken, die der Metaphysik des Seins verpflichtet sind. Vgl. Édouard Glissant: Traité du Tout-Monde, Paris: Gallimard 1997, S. 114. Die Ontologie des Seienden als Relation und die topologische Imagination produzieren vielmehr Emergenzfiguren und Bewegungen wie Rhizome. Vgl. ebd., S. 81. Vgl. auch Romuald Fonkoua: »Édouard Glissant: poétique et littérature. Essai sur un art poétique«, in: Littérature 174 (2014), S. 5-17.
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›L ITERATUR DER W ELTEN ‹ 32 ALS P ROVOKATION VON W ELTGESELLSCHAFT – ZUR M ACHT MEDIENPOLITISCHER D ISKURSEREIGNISSE IM K ONTEXT DER S OCIAL M EDIA IM 21. J AHRHUNDERT ›Literatur der Welten‹, die besonders in Deutschland ein geopolitisch und ethisch fruchtbares Konzept für die heutige Umdeutung von Weltliteratur ist,33 konkurriert mit Theorien zur Weltliteratur, die zu Beginn des 21. Jahrhunderts die Rolle von Medien und Netzwerktechnologien sowie von Übersetzungen für die Entstehung eines weltliterarischen Kanons euphorisch interpretieren (David Damrosch).34 Pascale Casanova und Franco Moretti nehmen dabei die Verschiebung der Asymmetrie zwischen Peripherie und Zentrum an.35 Demgegenüber formuliert Emily Apter eine schon von Gayatri Chakravorty Spivak, Ayman A. El-Desouky u.a. geäußerte Absage an die Operabilität der Übersetzung.36 Beide Positionen gehen von einer konträren Einschätzung der kulturellen Leistung von Übersetzung bzw. von der Unübersetzbarkeit von Kulturen aus. Der von mir vorgeschlagene Begriff ›Literatur der Welten‹ mag einen dritten Weg einschlagen, der mit der Di-
32 Ich schlage ›Literatur der Welten‹ vor und markiere damit die ökologische Pluralität des Begriffs. Vgl. Vittoria Borsò: »Sor Juana: musa de una Weltliteratur como literatura de los mundos«, in: Gesine Müller/Dunia Gras Miravet (Hg.), América latina y la literatura mundial. Mercado editorial, redes globales y la invención de un continente, Madrid/Frankfurt a.M.: Iberoamericana/Vervuert 2015, S. 33-54. Zu der bisher unterschätzten Bedeutung ökologischer Interaktionen, auch hinsichtlich Kommunikation und Zirkulation von Weltliteratur verweise ich auf Alexander Beecroft: An Ecology of World Literature. From Antiquity to the Present Day, London/New York: Verso 2015. 33 Zu »Literaturen der Welt« vgl. Ette: Viellogische Philologie. 34 Vgl. David Damrosch: What is World Literature?, Princeton: Princeton University Press 2003. 35 Vgl. Pascale Casanova: La République mondiale des Lettres, Paris: Seuil 1999; Franco Moretti: »Conjectures on World Literature«, in: New Left Review 1 (2000), S. 54-68. 36 Vgl. Emily Apter: Against World Literature. On the Politics of Untranslatability, London/New York: Verso 2013.
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versität der ökologischen und epistemologischen Standorte von Literatur über Polaritäten hinwegführt und das konkrete Ereignis der literarischen Schriften ins Zentrum stellt. Das Produktions-Ereignis der ›Literatur der Welten‹ ist zwar auf der einen Seite durch die rasant steigende technologische Konnektivität gefördert, wodurch das Partikuläre mit dem Globalen in Echtzeit verbunden wird, auf der anderen Seite werden die je eigenen ökologischen Kontexte dieses Ereignisses durch homogenisierende Diskurse verdeckt. Diskursive Ketten, die die Entstehung und zugleich die ständige Veränderbarkeit weltweiter Bestsellerlisten fördern, legen sich in Echtzeit über den Planeten. Gleichzeitig verschieben sich die Machtzentren, etwa von den USA nach Beijing. Wie also Kriterien für die Entscheidung dessen finden, was Weltliteratur der Gegenwart ist, wenn wir von Rezeption und Diffusion ausgehen? Kommunikation und Übersetzung, wie in der Theorie von Damrosch, scheinen mir ein wichtiges, aber unzureichendes Kriterium zu sein. Denn Weltkommunikation bedeutet zunehmend die reine Konnektivität einer Weltgesellschaft, auf die auch schon Andreas Hepp in seinen Studien zur medialen Transkulturalität kritisch hingewiesen hat.37 Konnektivität entwickelt eine wachsende Metasprache zur Überwindung von Systeminterferenzen. Die Metasprache fördert zwar die weltweite Kommunikation,38 doch glättet sie zugleich all die Differenzen und Kontingenzen, die sich aus der Diversität ergeben. Darauf hat auch Bruno Latour hingewiesen: »Die Metasprache ist sehr gefährlich, weil sich jeder Modus über den Charakter der anderen Modi täuscht. Luhmann hofft, dass er dadurch etwas Allgemeingültiges erhält, eine allgemeine Theorie des Sozialen durch die Definition von Bereichen – es ist absolut nicht das, was wir versuchen.«39 So bewegt sich die interkulturelle Kommunikation, die eine Chance für
37 Vgl. Andreas Hepp: Transkulturelle Kommunikation, Konstanz: UVK 2006, insbesondere S. 63-80. 38 Vgl. bspw. Niklas Luhmann: Die Wirtschaft der Gesellschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1988, S. 180. 39 Bruno Latour: Sur le culte moderne des dieux faitiches suivi de Iconoclash, Paris: La Découverte 2009 und ders.: »Den Kühen ihre Farbe zurückgeben. Von der ANT und der Soziologie der Übersetzung zum Projekt der Existenzweisen. Bruno Latour im Interview mit Michael Cuntz und Lorenz Engell«, in: Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung 2 (2013), S. 3-100, hier S. 94.
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Weltliteratur sein könnte, in Richtung einer Weltgesellschaft,40 in der jeder etwaige Dialog einer funktional-integrativen Metakommunikation verhaftet bleibt.41 Aus diesem Grunde nehmen bei Konnektivität zwar die weltweiten Vernetzungen zu; Nähe, Konkretheit, Kontingenz und Differenz verschwinden aber. Dies betrifft auch den Buchmarkt. Die Potenz der Schrift als Erfahrungsraum wird durch verschiedene marktbedingte Prozesse der Integration in globale Rezeptionsschemata ebenso eingesperrt, wie die Inkommensurabilität des Fremden und damit das produktive Moment der Kommunikationsstörung vermindert wird.42 Kommunikationsstörung gehört aber gerade zu den Leistungen von Literatur und ist Teil des potenziellen Lektüreereignisses, weil sie den Leser für Erfahrungsprozesse öffnet, die die Politik und das Regime des Sinnlichen ändern können (Jacques Rancière). 43 Das Denken über die ›Literatur der Welten‹ und ihre ökologischen Kontexte ist deshalb auf der einen Seite eine potenzielle Provokation für die Weltgesellschaft, die mit Metakommunikation interagiert. Auf der anderen Seite produziert aber die Konnektivität einen Echoraum des Gleichen, in dem Machtkonzentrationen das regulierende Prinzip sind. Überdies bestehen diskursive Ereignisse zunehmend aus medienpolitischen Spektakeln, die sich – trotz der gegenteiligen Hoffnung der Kulturwissenschaften – mit ra-
40 Im Sinne von Rudolf Stichweh: »Weltgesellschaft und Weltkommunikation. Zur strukturellen Einbettung von Migration in Entwicklungsphasen der Weltgesellschaft«, in: ders., Inklusion und Exklusion: Studien zur Gesellschaftstheorie, Bielefeld: transcript 2005, S. 145-159. 41 Systemtheoretisch ausgedrückt: Die Fiktion von Kommunikation lässt den Widerstand von Kontingenzen und die grundlegende Intransparenz des Verstehens vergessen. Als Funktionsgrenzen und Matrix für Systeme wie Politik, Wirtschaft, Wissenschaft dienen Grenzen zur Steigerung der Autopoiesis des Systems. 42 In dieser sieht Bernhard Waldenfels, etwa mit Bezug auf Pedro Páramo des Mexikaners Juan Rulfo, eine produktive Ressource. Vgl. Bernhard Waldenfels: Grundmotive der Phänomenologie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2015, S. 16. Die verwirrenden Stimmen von Toten in einer orientierungslosen Welt mit einem Erzähler, Juan Preciado, der in der Mitte des Romans selbst stirbt und aus dem Grab spricht, sind ein herausragendes Beispiel für die ästhetische Performativität von Kommunikationsstörung und Erfahrung des Fremden. 43 Vgl. u.a. Jacques Rancière: Politique de la littérature, Paris: Galilée 2007.
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pider Geschwindigkeit als Clash of Civilizations44 in einer von Samuel P. Huntington nicht geahnten Schärfe darstellen: Wenn Literatur schon in der Moderne – wie Charles Baudelaire scharfsinnig erkannte – mit Kommerz und Politik verflochten war,45 so kann sie sich heute auch dem Kreislauf politischer Konflikte nicht mehr entziehen, wie das Erscheinen von Soumission (2015) auf dem Markt gezeigt hat. Die Rezeption des dystopischen und nihilistischen Spiegels, den Houellebecq den westlichen Demokratien vorhalten wollte, kann nicht mehr in die ästhetische Selbstreflexivität des Romans vordrängen, weil sie in politische und gesellschaftliche Diskurse verstrickt ist. Dies versuchte Houellbecq nach dem Skandal des Buchs im Zusammenhang mit Charlie Hebdo durch das ständig wiederholte Statement klarzumachen: »Jetzt wird es noch schwerer, weil ich dauernd zwei Dinge wiederholen muss: Erstens ist das Buch nicht islamophob. Und zweitens hat jeder das Recht, ein islamophobes Buch zu schreiben, wenn er es will.«46 Die von Sicherheitskräften begleitete Lesung von Houellebecq bei dem Literaturfestival in Köln am 20. Januar 2015 hatte noch gar nicht begonnen, da raste über Twitter nur der zweite Teil dieses Statements um die Welt: »Michel Houellebecq sagt, man dürfte islamophobe Bücher schreiben«! Gelöscht wurde auch das wiederholte Zitat von Voltaire: »Wir haben doch nur drei Tage auf Erden, lasst sie uns genießen«. Diese von den Social Media produzierte Verflechtung von Literatur und Politik und ihre Verbreitung in Echtzeit durch die weltweite Konnektivität ist vielleicht das Diskursereignis, das die Rezeption der Literatur der Gegenwart kennzeichnet und das Ereignis der Schrift verdeckt. Angesichts der Macht heutiger medienpolitischer Netzwerktechnologien stellen wir fest, dass es auf der Ebene von Rezeption (Ästhetik, Kritik, Kanon) und Diffusion (Markt, Medien, Verlage) für die Weltliteratur
44 Samuel P. Huntington: Clash of Civilizations and the Remaking of World Order, London: Simon & Schuster 1997. 45 Ich beziehe mich auf den Salon de 1846 (Aux Bourgeois). Vgl. Charles Baudelaire: »Salon de 1846«, in: ders., Œuvres complètes, hg. von Claude Pichois, Bd. 2, Paris: Gallimard 1976, S. 415-496. 46 Alex Rühle: »›Das Leben ist ohne Religion über alle Maßen traurig‹. Interview mit Michel Houellebecq«, in: Süddeutsche Zeitung vom 22.01.2015, S. 3, online unter: http://www.sueddeutsche.de/kultur/interview-mit-michel-houellebecq-das -leben-ist-ohne-religion-ueber-alle-massen-traurig-1.2316339 (Stand: 19.01.2019).
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aus verschiedenen Welten besonders schwierig ist, auf den internationalen Buchmärkten sichtbar zu werden.
W ELTLITERATUR UND ›L ITERATUR DER W ELTEN ‹ ALS P ROVOKATION . D IE C HANCEN VON D IVERSITÄT UND EINER ZEIT - UND RAUMÜBERGREIFENDEN P OTENZIALITÄT Hoffnungsvoller stellt sich vielleicht die Lage im Zusammenhang mit der literarischen Produktion und ihren Ästhetiken dar. Aber welche Philologie benötigen wir für diese Literatur? Auerbach stellt diese Frage für die Weltliteratur und zeigt, dass sie eine Provokation für die Philologie ist, dies aber nicht wegen des engen Verhältnisses zur Literaturgeschichte, wie es Hans Robert Jauss annimmt,47 sondern aufgrund ihres Kompromisses mit der jeweiligen Gegenwart. Das massive Anwachsen von Literaturen, von unserem Wissen über vergangene Literaturen und die Vielfalt von Analysemethoden stellen die Untersuchung von Weltliteratur vor erhebliche materielle Probleme, die sich aus konträren Entwicklungen ergeben: einerseits die Fülle gegenwärtiger Literaturen und Methoden – auch Methoden, um vergangene Literatur neu zu lesen –; andererseits eine zu hohe Spezialisierung.48 Philologie und Weltliteratur scheinen auseinanderzudriften. Tendiert die Philologie zu Synthesen, so sperrt sich Weltliteratur eben gerade gegen synthetisierende Befunde. In der Konsequenz legt Auerbach nahe, sich von verschiedenen methodischen Ansätzen inspirieren zu lassen, um das von Weltliteratur hervorgebrachte plurale Wissen zu erkennen, ohne dieses in eine einheitliche Formel zu integrieren.49 Beziehen wir diese Problematik auf die Bedingungen des 20. Jahrhunderts, so benötigen wir Me-
47 Vgl. Hans Robert Jauss: Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft, Konstanz: UVK 1967. 48 Vgl. Auerbach: »Philologie der Weltliteratur«, S. 46. 49 Trotz dieser Einsicht kann selbst Erich Auerbach der Versuchung nicht widerstehen, eine versöhnliche Formel für die Literatur der Gegenwart zu suchen. Er findet diese Formel im Humanismus als einem vereinheitlichenden Modell nach der Fragmentierung der Welt im Zweiten Weltkrieg.
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thoden, die zugleich die ›Literatur der Welten‹ und ihre Qualität als Weltliteratur zu erfassen vermögen. Denn diese Begriffe beziehen sich auf unterschiedliche Qualitäten von Literatur: ›Literatur der Welten‹ macht auf den epistemologischen Standort des Schreibens und auf die Diversität der Orte aufmerksam, während das Konzept von Weltliteratur eine kultur- und zeitübergreifende Qualität bezeichnet. Auf die Frage, was unter den aktuellen Bedingungen das zeitübergreifende Moment von Weltliteratur sein kann, scheint Auerbach mit einem weiteren Argument zu antworten: Weltliteratur ist eine Literatur der Vergegenwärtigung. Konkretheit des Details und Ausstrahlungskraft im Hinblick auf größere Phänomene sind die Bedingungen von Weltliteratur.50 Mit einer Formel von Claudio Magris, einem der Weltliteraten der Gegenwart, stellt das Potenzial von Weltliteratur, verstanden als die Wechselwirkung des Mannigfaltigen, das Detail der Welten dar, die auf die Welt ausstrahlen und in der Eigenheit ihrer Formen ernst genommen werden müssen.51 Deshalb hat eine Philologie für die ›Literatur der Welten‹ und für Weltliteratur beim materiellen Gegenstand selbst anzusetzen, soll keine Hypothese von außen aufdrängen.52 Gerade weil das konkrete Detail maßgeblich ist, ist Weltliteratur in dieser doppelten Bedeutung nicht nur jenseits essenzialistischer Territorialisierungen oder topografischer Eingrenzungen zu denken, sondern sie überschreitet auch methodische Spezialisierungen. Weltliteratur ist also eine Provokation für die Literaturwissenschaft einer jeweiligen Gegenwart, die über ihren Standpunkt und ihre Methodik reflektieren muss. Es ist eine Verschiebung von Literatur als Gegenstand von Wissenschaft hin zu Wissenschaft als Gegenstand einer Reflexion, die vom Wissen der Literatur beunruhigt wird. Wie ist aber Vergegenwärtigung zu denken? Wie sich aus konkreten Beispielen zeigen wird, meint Vergegenwärtigung ebenso die intellektuelle Sinngebung eines (kritischen) Weltwissens der Gegenwart als auch Präsenzeffekte im Sinne der Erfahrung, die nach Hans Ulrich Gumbrecht über einen hermeneutisch wie auch semiotisch konzipierten Sinn oder dessen
50 Vgl. Auerbach: »Philologie der Weltliteratur«, S. 48. Das Wirkliche als das Maß des Wahrscheinlichen soll der Ausgangspunkt sein. Vgl. ebd., S. 46. 51 Vgl. Claudio Magris: Die Welt en gros und en détail, übers. von Ragni Maria Gschwend, München: Hanser 1999. Vgl. auch ders.: »Il concetto di Weltliteratur in Goethe«, in: Rivista di Psicoanalisi 28 (1982), S. 440-442. 52 Vgl. Auerbach: »Philologie der Weltliteratur«, S. 49.
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Dekonstruktion hinausgehen. Literatur der Vergegenwärtigung ist also ein mit Intensität hervorgehendes Weltwissen über die Gegenwart. Präsenz ist die von Jean-Luc Nancy erneut ins Spiel gebrachte Frage nach der Erfahrung der physischen Nähe und Greifbarkeit unter den Bedingungen extremer Zeitlichkeit53 und des (scheinbaren) Verschwindens von Gegenständlichkeit oder, wie ich hier hervorheben möchte, des in einer je spezifischen, sinnstiftenden (ideologischen) Welt zum Verschwinden gebrachten oder zerstörten Lebens. Zur Präsenzkultur gehört all dies, was dem kulturellen Sinn widersteht.54 Quantifizierbare Größen für Intensitäten und Intensivierungen sind: gestische und körperliche Rituale,55 Kräfte der Magie als Kulturtechniken der Nachbarschaft und Figurationen des Sympathetischen, die Hartmut Böhme mitten in der rationalistischen Moderne situiert, 56 sowie auch Energien von Pathosformeln, die Aby M. Warburg etwa in der affizierenden Kraft des dekorativen Details gesehen hat und die Horst Bredekamp den Bildakten zuschreibt.57 Zusammenfassend liegt das Potenzial der Vergegenwärtigung im Konkreten und in der Mikroebene des Textes, die im Zusammenhang mit einem situierten Wissen 58 und mit ökologischen Ansätzen zum Ausgangspunkt der Analysen geworden sind. In diesen Ansätzen kommen Dinge und Menschen in ihrer materiellen Eigenständigkeit als Akteure zur Sprache. Die Performativität der Vergegenwärtigung kann des-
53 Vgl. Hans Ulrich Gumbrecht: Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004, S. 77. 54 Hans Ulrich Gumbrecht sieht das Spannungsverhältnis zwischen dem Sinn (also dem, wodurch die Dinge zu etwas kulturell Spezifischem werden) und der Präsenz oder dem Sein als den wichtigsten »Konvergenzpunkt mit dem Heideggerschen Sein«. Ebd. Dies ist nicht metaphorisch gemeint. Vielmehr ist Präsenz das physische »wirklich-in-der-Welt-Sein«. Ebd., S. 101. Die Performativität dieses in der Mikroebene entstehenden Beziehungsraums überschreitet eine wie auch immer geartete Ordnung der Diskurse. 55 Vgl. Gumbrecht: Diesseits der Hermeneutik, S.104f. 56 Vgl. Hartmut Böhme: Fetischismus in Religion und Ethnographie. Magie und Moderne, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2006, S. 234. 57 Vgl. Horst Bredekamp: Theorie des Bildakts, Berlin: Suhrkamp 2010. 58 Vgl. Donna Haraway: »The Promises of Monsters: A Regenerative Politics for Inappropriate/d Others«, in: Lawrence Grossberg/Cary Nelson/Paula A. Treichler (Hg.), Cultural Studies, London/New York: Routledge 1992, S. 295-337.
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halb als ein Weltwissen, als Wissen der eigenen Gegenwart in Bezug auf je unterschiedliche ökologische und partikuläre Lebensbedingungen, bezeichnet werden. Im Handbuch über Weltliteratur schlage ich deshalb vor, Weltliteratur hinsichtlich der Performativität der Vergegenwärtigung an den verschiedenen Qualitäten von Weltbewusstsein zu bemessen.59 Diese Qualitäten lassen sich folgendermaßen formulieren: •
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situierte Qualität: die Fähigkeit, ökologische Beziehungen, lokale Techniken und Traditionen durch ein ästhetisch hervorgebrachtes, situiertes Wissen präsent zu machen; transformative Qualität: die Fähigkeit, das Besondere an das Allgemeine anzuschließen bzw. Letzteres durch lokale Kontexte zu transformieren; ethische Qualität: die Fähigkeit, zwischen Literatur und Leben so zu verhandeln, dass ein gemeinsames Ethos aus den besonderen historischen und sozialen Kontexten hervorgeht; anthropologische Qualität: die Fähigkeit, eine Inspirationsquelle für anthropologische Fragestellungen zu sein; politische Qualität: die Eignung, für die Diversität und gegen imperialistische oder totalitaristische Kulturansprüche eines jeden Kulturraums einzutreten.
Auf der Basis dieses methodischen Zugangs, der auch Überlegungen zum Übersetzen umfasst, müssen Diskursbedingungen, Schreibereignisse sowie die Ästhetiken und Mediationen verschiedener Weltregionen untersucht werden.60 Dies umfasst etwa diejenigen, die mit ›Oratur‹, d.h. der beson-
59 Vgl. Vittoria Borsò/Schamma Schahadat: Weltliteratur, Berlin/New York: De Gruyter 2019 (in Arbeit). 60 Schon jetzt zeigen sich überraschende Befunde, etwa in Bezug auf die Literatur islamischer Welten. Stefan Weidner stellt zum einen fest, dass aufgrund der unterschiedlichen materiellen Operationen von Verlagen und Übersetzern das situierte Wissen islamischer Welten verlorengeht, und zum anderen, dass die deutschen Islamwissenschaften zu wenig über ihren eigenen Standpunkt reflektiert haben. Die in ihrer Genealogie zu antisemitischen und eurozentrischen Tendenzen neigende Disziplin hat zum gegenwartsfremden Ergebnis geführt, dass in Deutschland mehr Übersetzungen von arabischen als von türkischen
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deren Performativität bestimmter Formen von Produktion von Literatur, verbunden sind.61
L ITERATUR DER G EGENWART ALS V ERGEGENWÄRTIGUNG : DER B EGINN DES 21. J AHRHUNDERTS ZWISCHEN ›L ITERATUR DER E XTREME ‹ UND ÖKOLOGISCHER S OZIALITÄT Am Beginn des 21. Jahrhunderts findet sich in der Literatur neben einer wissenspoetologischen Selbstreflexivität die grenzüberschreitende Hinwendung zum Materiellen, Konkreten, Realen. Ein neuer Realismus zentriert Fragen des Lebens, Zusammenlebens, ihre Ökonomie und ihre Politik. Hervorstechend ist die literarische Bearbeitung von Gewalt gegen das Leben, etwa das konkrete Verschwinden des Lebens unter dem Druck politischer Ökonomie und von weltweiten Netzen des Drogen- bzw. Finanzkapitalismus. Die vielfältige Thematisierung von prekärem Leben62 macht diese Tendenzen deutlich. Das Signum der Weltliteratur der Gegenwart ist heute vielleicht eine am Maßstab des singulären Lebens hervorgebrachte
Texten weltliterarischer Qualität erscheinen. Vgl. Stefan Weidner: »Islamische Welten«, in: Borsò/Schahadat, Weltliteratur (2019) (in Arbeit). 61 ›Oratur‹ bezeichnet nicht einfach (archaische) Mündlichkeit als das Gegenteil von Schriftlichkeit als Ausdruck kultureller Überlegenheit. Sie ist vielmehr eine spezifische Weltanschauung, die die Gesamtheit der Welt umfasst, die Relationalität aller Elemente zueinander manifestiert und eine performative Kunst darstellt. Insofern findet sich ›Oratur‹ in allen Epochen und in unterschiedlichen Kulturen. »Orature does not simply refer to Africa; we can talk about Asian, African, European, Pacific and Latin American orature. And within each we can talk about classical and contemporary orature. An area that needs exploration is that of cyber-orature born out of cyberture (cybernurture). In the electronic space, or the virtual space, orality in general and orature in particular are coming back«. Ngũgĩ wa Thiongʼo: »Notes towards a Performance Theory of Orature«, in: Performance Research 12/3 (2007), S. 4-7, hier S. 7. 62 Vgl. Judith Butler: Precarious Life. The Powers of Mourning and Violence, London/New York: Verso 2004.
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Kritik globaler Gewalt.63 Während in der literarischen Produktion der Jahrhundertwende die ästhetische Dichte auf der Mikroebene des Textes zur Markierung des Details für die Formation des Globalen diente (so etwa Magris), setzt heute die ästhetische Verarbeitung des Partikulären im Sinne von Affekten, Gesten, Begehren insbesondere Spuren des Lebens und die Kraftfelder eines ›neuen‹ ontologischen Horizonts in Szene. Hier reklamieren humane und nicht humane Akteure einen Anspruch auf Leben. In diesem Sinne ist die Weltliteratur der Gegenwart auch eine Provokation gegen kulturelle Theorien, welche mit den Modellen von Rhizomen, Netzwerken (Gilles Deleuze,64 Bruno Latour65), aber auch mit Bezug auf Kommunitarismus (Nancy66) oder auch Empire (Michael Hardt/Antonio Negri 67) sowie auf die Dynamik globaler Ströme (Arjun Appadurai68) die Dualismen des Abendlandes zwar zu Recht hinter sich lassen wollen, zugleich aber auch
63 Dementsprechend ergeben sich in den aktuellen Produktionen von Autoren des 20. Jahrhunderts Akzentverschiebungen und eine ästhetische Transformation der Narrative. Beispielhaft sei auf Claudio Magris’ letzten Roman hingewiesen, in dem mit der Geschichte des Aufbaus eines Triestiner Archivs über den Zweiten Weltkrieg die schreckliche Gewalt ebenso wie die Ambivalenz von Eros und Thanatos sowie das Transformationspotenzial der Sprache gezeigt werden (Magris spielt mit der Homofonie des Lexems a morte [amor te]): Claudio Magris: Non luogo a procedere, Mailand: Garzanti 2015. Ähnliches ließe sich für die mexikanische Schriftstellerin Margo Glantz sagen, deren letzte Romane insgesamt die ästhetische Richtung von ›Narrativen der Extreme‹ signalisieren: Margo Glantz: El rastro, Barcelona: Anagrama 2002; dies.: Saña, Mexiko-Stadt: Era 2007. 64 Vgl. Gilles Deleuze/Félix Guattari: Mille plateaux, Paris: Minuit 1980. 65 Vgl. Bruno Latour: Reassembling the Social, Oxford: Oxford University Press 2005. 66 Vgl. Jean-Luc Nancy: La communauté désœuvrée, Paris: Bourgois 1986. 67 Vgl. Michael Hardt/Antonio Negri: Multitude. Krieg und Demokratie im Empire, übers. von Thomas Atzert und Andreas Wirthensohn, Frankfurt a.M./New York: Campus 2004. 68 Vgl. Arjun Appadurai: Modernity at Large. Cultural Dimensions of Modernity, London/Minneapolis: University of Minnesota Press 1996.
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utopische Hoffnungen implizieren. ›Narrative der Extreme‹69 zeigen dagegen, dass kulturelle Metaphern von Netzwerken zu Dispositiven von Macht und Terror werden können und z.T. geworden sind. Die Rolle von technologischen und sozialen Medien bei dieser Transformation wird ebenfalls sichtbar.70 Trotz einer unterschiedlichen formalen Ästhetik mögen die Weltautoren Roberto Saviano und Roberto Bolaño ein paradigmatisches Beispiel für eine ›Literatur der Extreme‹ sein. Insgesamt werden in ihren Texten Dystopien inszeniert, die die alltägliche Pervertierung des utopischen Traums einer global vernetzten Welt offenbaren. In Savianos Gomorra (2006) mutiert die globale Welt zu einem thanatologischen System, das von den Netzen der Camorra und ihren politischen bzw. ökonomischen Verflechtungen regiert wird, wie es sich auch bei der sogenannten narcocultura in Mexiko
69 Vgl. schon Leonard Fuest/Jörg Löffler (Hg.): Diskurse des Extremen. Über Extremismus und Radikalität in Theorie, Literatur und Medien, Würzburg: Königshausen & Neumann 2005; Brian Richardson (Hg.): Unnatural Voices. Extreme Narration in Modern and Contemporary Fiction, Columbus: Ohio University Press 2006; Uwe Schütte: Die Poetik des Extremen. Ausschreitungen einer Sprache des Radikalen, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2006. Die heutige Relevanz einer ›Literatur der Extreme‹ mag auch darin erkennbar werden, dass das European Literature Festival von 2016 an der British Library, London (27.04.-09.06.2016) den Titel Extreme Narratives trug. Das Festival thematisierte die Art und Weise, wie die aktuellen Narrative auf die Verflechtungen unserer europäischen Welten antworten: Es ging um extreme Formen von Leben in einem Untergrundgefängnis in Istanbul, auf einer Insel zwischen Schottland und Norwegen, in den staubigen Straßen von Ouagadougou, der Hauptstadt von Burkina Faso (Westafrika), sowie in der menschlichen Psyche. Die Frage der politischen Dimension eines solchen, den potenziellen Lesern einen Spiegel vorhaltenden Schreibens wurde gestellt. Eingeladen waren u.a. die Autoren Burhan Sӧnmez (Türkei), Gabriela Babnik (Slowenien), Jaap Robben (Niederlande), Fiona Doloughan (England). 70 Ich verweise z.B. auf die monografische Nummer von Ekphrasis. Images, Cinema, Theory, Media (Universität von Cluj-Napoca, Rumänien) mit dem Titel Storytelling at the Extreme? Narrative Turns in Contemporary Film and TV Series: Ekphrasis 15/1 (2016).
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gezeigt hat.71 Gomorra ist aber darüber hinaus auch eine kulturtheoretische Reflexion über rhizomatische Netzwerktheorien – etwa im ersten Kapitel, in dem Netzwerke als Metaphern zur Beschreibung von Verflechtungen und Bewegungen von Waren im flüssigen Material der See und des Hafens von Neapel entfaltet werden. Zugleich offenbart sich in der literarischen Ästhetik ein Recht auf Leben, das sich durch Affekte, Emotionen, Intensitäten, Spuren, Lücken, Widersprüche und Überschüsse im Körper der Sprache manifestiert. Dies offenbart sich zu Beginn des Romans wie folgt: »Il container dondolava mentre la gru lo spostava sulla nave. Come se stesse galleggiando nell’aria, lo sprider, il meccanismo che aggancia il container alla gru, non riusciva a domare il movimento. I portelloni mal chiusi si aprirono di scatto e iniziarono a piovere decine di corpi. Sembravano manichini. Ma a terra le teste si spaccavano come fossero crani veri. Ed erano crani. Uscivano dal container uomini e donne. Anche qualche ragazzo. Morti. Congelati, tutti raccolti, l’uno sull’altro. In fila, stipati come aringhe in scatola. Erano i cinesi che non muoiono mai. […] Erano lì. Ne cadevano a decine dal container, con il nome appuntato su un cartellino annodato a un laccetto intorno al collo. Avevano tutti messo da parte i soldi per farsi seppellire nelle loro città in Cina. Si facevano trattenere una percentuale dal salario, in cambio avevano garantito un viaggio di ritorno, una volta morti. Uno spazio in un container e un buco in qualche pezzo di terra cinese.«72
71 Vgl. Vittoria Borsò: »Narcocultura. Cuestiones biopolíticas y gestos de vida«, in: Luis Fernando Lara/Alicia Ortega/Hermann Herlinghaus (Hg.), Narcodependencia. Escenarios heterogéneos de narración y reflexión, Mexiko-Stadt: El Colegio Nacional, S. 135-169. 72 Roberto Saviano: Gomorra. Viaggo nell’impero economico e nel sogno di dominio della camorra, Mailand: Mondadori 2006, S. 5, Herv. V.B. In der deutschen Übersetzung: »Während der Kran ihn auf das Schiff hievte, trudelte der Container, als schwimme er auf der Luft. Der Spreader, der ihn am Kran hält, konnte die Bewegung nicht stoppen. Die schlecht verriegelten Öffnungen sprangen plötzlich auf, und Dutzende von Körpern fielen heraus. Sie sahen aus wie Schaufensterpuppen. Doch beim Aufprall auf den Boden barsten die Köpfe, als wären es echte Schädel. Und es waren Schädel. Aus dem Container regnete es Männer und Frauen. Auch einige Kinder. Tot. Tiefgefroren, übereinandergepackt, hineingeschichtet wie Heringe in die Dose. Die Chinesen, die ewig le-
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Der Hafencontainer als Metonymie des Warenflusses zwischen China und Europa wird hier wie in einem Zoom-Verfahren dem Blick angenähert. Er verliert dabei die Konnotation des weltweiten Transportmediums und wird zum konkreten Ort der Gewalt an hunderten von Menschen, die dabei sind, als ›Dinge‹ und Abfall beseitigt zu werden. Im Zoom-Verfahren zeigt sich der Affekt des Beobachters beim psychischen Konflikt zwischen Verdinglichung bzw. Verdrängung und allmählichem, sensiblem Erkennen der Leibhaftigkeit der aus dem Container wie Regentropfen herausfallenden Leichen. Am Schluss dieser Passagen scheinen die Biografien dieser Menschen auf, die als Migranten zwischen China und Europa zu homines sacri einer ökonomischen Gewalt geworden sind. Diese Gewalt ist netzwerkartig organisiert. Netzwerke erweisen sich in diesem Umfeld als Dispositive für die globalen Wirtschafts- und Finanzflüsse sowie für ihre Verflechtung mit der Camorra und dem Drogenhandel. Saviano hat in Zero Zero Zero (2013)73 nachgewiesen, dass das Kapital der nationalen Banken mit Drogengeldern durchsetzt ist. Es sind weltweite Dispositive, die an vielen Orten des Globus das konkrete Leben des Einzelnen zerstören. Das System der Camorra ist netzwerkartig und horizontal organisiert. Im Gegensatz zur vertikalen und feudalen Struktur der Mafia sind die Akteure der Camorra ›Unternehmer ihrer selbst‹74 nach bestem neoliberalem Modell. Jeder kann in der Hierarchie der Macht aufsteigen, und es gibt nur eine Lücke im System der Camorra, nämlich das Schweigegebot. In diese Lücke geht Savia-
ben. […] Da waren sie. Zu Dutzenden purzelten sie aus dem Container, um den Hals Schildchen mit ihrem Namen. Alle hatten Geld beiseite gelegt, um sich in ihren Heimatorten in China begraben zu lassen. Ein Teil des Lohnes war einbehalten worden als Garantie für die Rückreise, als Tote. Ein Platz im Container und eine Grube in einem Fleckchen chinesischer Erde.« Roberto Saviano: Gomorrha. Reise in das Reich der Camorra, übers. von Friederike Hausmann, München: Hanser 2007, S. 11, Herv. V.B. 73 Roberto Saviano: Zero Zero Zero, Mailand: Feltrinelli 2013. 74 Foucault führt den Begriff »entrepreneur de soi-même« in den Vorlesungen am Collège de France von 1978/1979 im Zusammenhang mit der Transformation des liberalen und neoliberalen Subjekts als extrajuristisches Interessensubjekt ein. Der Arbeitnehmer sei »à lui-même son propre capital, étant pour lui-même son propre producteur, étant pour lui-même la source de ses revenus«. Michel Foucault: Naissance de la biopolitique, Paris: Gallimard/Seuil 2004, S. 232.
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no, stellt sie aus und übt damit Widerstand aus, wodurch er sein eigenes Leben aufs Spiel setzt. Aber die weltliterarische Qualität dieses Meisterwerks des investigativen Journalismus liegt insbesondere in einer Ästhetik, die die Spuren des Lebens einfangen kann, sodass sich neben der radikalen Offenlegung der Machtdispositive im Körper der Schrift auch Gesten des Lebens entbergen.75 Diese Gesten offenbaren sich mit ›schwachen‹ Intensitäten, was erfordert, dass wir ein Gehör und ein materielles Gespür entwickeln müssen,76 um nicht nur die Gewalt zu erkennen, sondern auch das Recht auf Leben verspüren zu können, während wir zugleich intellektuell die Geschwindigkeit von Macht und Gewalt in den Netzwerken des Globalen beobachten und ihre substantiierende Semantik demontieren. Dies ist das Schreibereignis von Gomorra. Die hier aufscheinenden, ›schwachen‹ Intensitäten treffen affektiv. Diese Erfahrung wiederholt sich in minimalistischen Zeichen, etwa wenn wir Zeugen der Trauer von Pasquale werden, dem ›besten Schneider der Welt‹ aus der in der Nähe von Neapel gelegenen Kleinstadt Arzano, der anonym für die Camorra arbeitet und deshalb seine Autorschaft in der Modewelt nicht deklarieren darf, obwohl die großen französischen und italienischen Modedesigner gerade mit der Camorra kooperieren. Die stille Trauer und Wut von Pasquale, wenn er bei der Ansicht des Bildes von Angelina Jolie in einer Tageszeitung das von ihm geschneiderte Kostüm wiedererkennt, ist ein solches Zeichen des Anspruchs auf Leben angesichts der das Leben verschlingenden Camorra. 77 Die wissenspoetologische Analyse dieser veränderten, rhizomatischen und globalen Netze mit ihren Topografien der Gewalt ist für die alten Demokratien überraschend, die zusehen müssen, wie Gewalt immer mehr und jederzeit global wie lokal Leben zerstört. In eine ähnliche Richtung tendiert die Performanz der Ästhetik von Bolaño, insbesondere in seinem Roman 2666. Hat Saviano als investigativer Journalist mitten im Camorra-System gelebt, so ist auch in 2666 der Ort des
75 Ähnliches gilt für die Gattung der crónicas im Bereich der sogenannten mexikanischen narcocultura. Vgl. Borsò: »Narcocultura«. 76 Neben dem Zuhören (vgl. Jean-Luc Nancy: À l’écoute, Paris: Galilée 2002) geht es auch um das körperliche Berühren (vgl. ders.: Ego sum, Barcelona: Antropos 2007). Vgl. auch Michel Serres: Die fünf Sinne. Eine Philosophie der Gemenge und Gemische, übers. von Michael Bischoff, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998. 77 Vgl. Saviano: Gomorra, S. 36.
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Schreibens nicht außerhalb der Gewalt angesiedelt. Der Erzähler immunisiert sich nicht durch Strategien der Distanz. Vielmehr bewegt er sich mitten in der Katastrophe, implantiert sich quasi im Auge des Hurrikans. So ist auch der sezierende Blick in Bolaños Romanen zu verstehen.78 Er trägt die Spuren der Verletzung und ähnelt den aufgerissenen Augen der Medusa, in denen wir nicht das Bild der Taten erkennen, sondern den Schrecken des Blicks selbst, der diese Taten gesehen hat. Ähnlich muten die Beschreibungen der Morde an den Frauen in Santa Teresa alias Ciudad Juárez an. Man sieht nicht die Tat, sondern nur den Fundort der Leichen und den Seziertisch der Gerichtsmediziner, die für die Dauer von 300 Seiten aus den Wunden in den Körpern der Toten den Tathergang rekonstruieren. Bolaño zwingt den Leser in die Position des anatomischen Blicks, in die Position desjenigen, der die Toten zu Leichen macht, indem er auf der Suche nach der Wahrheit den Körper zerschneidet, durchsucht, scannt und zu einem Objekt macht. Die inhumane Stimmung des bloßen Lebens sezierter Körper und zerstörter Existenzen an der mexikanischen Nordgrenze, in Ciudad Juárez, ist in unserem Blick und erstreckt sich wie ein grauer Schleier, der die Tonlage des Textes bestimmt. Bolaño widersteht so der Versuchung, die schonungslose Monstranz des Ungeheuerlichen durch eigene poetische Bilder zu ersetzen, die dem Leben eine Stimme geben würden. Die literarische Sprache ist vielmehr vom Affekt des Schriftstellers geprägt, welcher das Unsagbare gesehen hat und seinen Schrecken bezeugt. Bolaño war zwar nie in Ciudad Juárez, hat aber peinlichst genau die sich seit 1993 häufenden, brutalen Morde an Frauen und Mädchen in Ciudad Juárez dokumentiert, ebenso wie die Techniken der Gerichtsmedizin. Zwischen 1993 und 2003 sind mehr als 500 Frauenmorde bekannt, wovon laut Angaben des Präsidenten der Nationalen Menschenrechtskommission (CNDH) 98 Prozent ungeklärt geblieben sind.79 In der Ästhetik des Textes, d.h. im Klang und in
78 Zur weiteren Analyse verweise ich auf meinen Aufsatz: Vittoria Borsò: »Vida, lenguaje y violencia: Bolaño y la ›Aufgabe‹ del escritor«, in: Ursula Hennigfeld (Hg.), Roberto Bolaño. Violencia, escritura, vida, Madrid/Frankfurt a.M.: Iberoamericana/Vervuert 2015, S. 15-32. 79 Vgl. Lucia Melgar: »Labyrinthe der Straflosigkeit. Frauenmorde in Ciudad Juárez und extreme Gewalt in Mexiko heute«, in: GENDER 2 (2011), S. 90-97, hier S. 91. Im sogenannten Drogenkrieg in Mexiko wurden seit 2007 nach offiziellen Angaben mehr als 30.000 Menschen ermordet. Vgl. ebd., S. 90. Vgl.
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der Leuchtkraft einzelner konkreter Details, scheinen unerwartete Spuren der Ausgelöschten auf. So gelingt die Vernichtung des Lebens nicht ganz. Die Präsenz des Lebens erfahren wir in diesen minimalistischen Zeichen, die mit ihrer Intensität dem fernen anatomischen Blick widerstehen, Anspruch auf Nähe stellen und die Leser affizieren. Man muss, so will es auch Bolaños Poetik des Lebens, Ohren und Augen öffnen, um zwischen den Spuren der Gewalt das Antlitz des Lebens zu erfahren, das sagt: ›Töte mich nicht‹. Die Texte, die ich als ›Literatur der Extreme‹ bezeichne, suchen die Verbindung des Imaginären mit dem, was nicht sagbar ist – dem Realen im Sinne Jacques Lacans bzw. dem, was die Lebendigkeit des Lebens sein könnte und als Spur aufscheint. Es geht auch um die Verbindung des Historischen mit dem Politischen. Der Anspruch des Einzelnen auf Leben wird zum Zerrspiegel des jeweiligen biopolitischen Regimes, das so zur Schau gestellt wird. Dabei wirft die lokale Situierung Licht auf einen planetarischen Maßstab. Die Ästhetik dieser Literatur führt also nicht zu einer Repräsentation der Gewalt, und auch nicht zur Inszenierung spektakulärer Handlungen.80 Sie übt vielmehr Gewalt an der Sprache gegen ihre Immunisierung und schafft so eine Mediation zwischen Leben und Schreiben. Bolaños Texte gehören insofern zur Weltliteratur, als sie etwa über den Kontext des Surrealismus und der von diesem inspirierten mexikanischen infrarealistischen Bewegung hinausgehen, deren Urheber er u.a. war.81 Sie ha-
auch Carlos Montemayor: La violencia de Estado en México. Antes y después de 1968, Mexiko-Stadt: Mondadori 2010. 80 Ich verweise auch auf meine Kritik spektakulärer narconovelas. Vgl. Borsò: »Narcocultura«. 81 Ein Vorbild könnte Walter Benjamin sein. Er kritisiert den Surrealismus, insoweit Breton, so Benjamin, die Imagination mit der Politik verwechselte, ohne die kritischen Potenziale des Imaginären zu nutzen, die in seinem Programm zu einem dilettantischen, moralischen und fantasmatischen Surrealismus degradieren. Der Surrealismus habe die Politik nicht beunruhigt; diese habe sich vielmehr durch Reinigungs- und Immunisierungsdispositive geschützt. Vgl. Walter Benjamin: »Der Sürrealismus«, in: ders., Ausgewählte Schriften, Bd. 2, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1966, S. 200-215, hier S. 210. Die Ästhetik sollte, so Benjamin, die Politik (und die Geschichte) in das Imaginäre integrieren, um das
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ben auch nichts gemeinsam mit der spektakulären Repräsentation der Gewalt, die wir im boomenden Kriminalroman finden. Die Herausforderung dieser Literatur ist die Frage, wie die Sprache mit der Gewalt gegen das Leben, mit der Negation der Dignität des Lebens umgehen kann, ohne einfach Bilder zu konsumieren. Die Selbstzehrung der Sprache und der Autorität des Erzählers ist der Weg, um einen Raum zu öffnen, in den sich Spuren des Lebendigen einschreiben können. Es ist gewiss eine ethisch-politische Geste. Die Rettung des Lebens, das durch die Thanathologie des 20. Jahrhunderts und die weitere Zuspitzung in diesem 21. Jahrhundert buchstäblich täglich zum Schweigen gebracht wird, manifestiert sich als Widerstand von etwas, was, obwohl bedroht oder verschwunden, weiter präsent ist.82 Die Literatur ist nicht mehr der Ort von Gegenutopien, sie schreibt sich vielmehr in einen dystopischen Ort ein, der auch nicht apokalyptisch anmutet, weil keine Parusie erwartet werden kann. Diese Literatur zeigt, dass wir – mit den Worten des mexikanischen Soziologen und Schriftstellers Carlos Monsiváis – in eine postapokalyptische Ära eingetreten sind.83 Die Poetik von Bolaño, aber auch insgesamt der ›Literatur der Extreme‹ ist minimalistisch. Das Verhältnis des Schriftstellers zum Leben ist strukturell vergleichbar mit dem Phänomen der Übersetzung, wie es Walter Benjamin beschrieben hat. Obgleich das Original, wie auch die Ursprache, verloren ist, vermag die poetische Dichte im Körper der Sprache, die Benjamin zum Schluss seines Essays anhand von Friedrich Hölderlin veranschaulicht,
Politische und das Historische durch unerwartete sinnliche Erfahrungen zu rekonfigurieren. Vgl. ebd., S. 202. 82 Michel Foucault betont seine Erfahrungen beim Studium der Archive der »infamen Menschen« im 18. Jahrhundert. Die Intensität der Affekte, die die Eintragungen von Schulden und Strafen hervorriefen, sind Zeichen des Lebens dieser Menschen, gerade im Augenblick, in dem die politische Gewalt sie zum Verschwinden bringt. Vgl. Michel Foucault: »La vie des hommes infâmes«, in: ders., Dits et écrits, Bd. 2 (1994), S. 237-253. Vgl. auch Giorgio Agambens »Lʼautore come gesto«, in: ders., Profanazioni, Rom: Nottetempo 2005, S. 6782. 83 Vgl. Carlos Monsiváis: »La cultura de la frontera«, in: Esquina Baja 5/6 (1998), S. 41-55, hier S. 21.
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Spuren des Lebens einzuschreiben.84 So ist das konkrete Leben zwar nicht repräsentier-, doch als Spur erfahrbar. Damit sich aber diese Spuren einschreiben können, ist ein minimalistischer Stil erforderlich. Der Erzähler, wie der Übersetzer, muss die eigene, orientierende Intervention zurücknehmen, die das Leben zur »res extensa«,85 zum Objekt des eigenen Wissens reduziert und dessen Lebendigkeit zerstört. Zurückgenommen ist auch die Tendenz zu Synthesen, und es wird der Versuchung widerstanden, mit eigenen poetischen Gegenentwürfen die fragmentierte, ruinöse Arbeit der Gewalt zu kompensieren. Die Relevanz des Themas des Lebens zeigt sich – neben der literarischen Verarbeitung medizinischen und biologischen Wissens86 – insbesondere in dem, was man als Korrelat und zugleich Gegensatz der ›Literatur der Extreme‹ sehen kann. Ich meine die Literatur, die die ökologischen Chancen des Lebens in all ihren Formen zu erforschen sucht. Ein wegen seines grenzüberschreitenden, epistemologischen Reflexionspotenzials exemplarischer Text ist El cuerpo expuesto (2013),87 der Roman der mexikanischen Schriftstellerin Rosa Beltrán. Dieser dokumentarisch-fiktive Roman parallelisiert die Biografie von Charles Darwin mit der eines Moderators von Realityshows, der die Transformation der Lebensformen der menschlichen Spezies und ihrer Technologien im 21. Jahrhundert erforscht. Als Erbe von Darwin stellt
84 Zu den Anregungen von Benjamin für eine so konzipierte Bio-Poetik vgl. Vittoria Borsò: »Jenseits von Vitalismus und Dasein. Roberto Espositos epistemologischer Ort in der Philosophie des Lebens«, in: dies. (Hg.), Wissen und Leben – Wissen für das Leben. Herausforderungen einer affirmativen Biopolitik, Bielefeld: transcript 2014, S. 141-172. 85 Martin Heidegger: »Nietzsches Wort ›Gott ist tot‹«, in: ders., Gesamtausgabe, hg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Bd. 5, Frankfurt a.M.: Klostermann 1977, S. 209-265, hier S. 255. 86 Glantz bearbeitet z.B. in Historia de una mujer que caminó por la vida con zapatos de diseñador (Barcelona: Anagrama 2005) die Mensch-Maschine-Relation und die Aporien der Arzt-Patienten-Beziehung. Vgl. Vittoria Borsò: »Tier und Maschine: Margo Glantz an den Schwellen der Differenzen«, in: Claudia Leitner/Christopher F. Laferl (Hg.), Über die Grenzen des natürlichen Lebens. Inszenierungsformen des Mensch-Tier-Maschine-Verhältnisses in der Iberoromania, Berlin u.a.: LIT 2009, S. 191-220. 87 Rosa Beltrán: El cuerpo expuesto, Mexiko-Stadt: Alfaguara 2013.
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er fest, dass der Unterschied zwischen Tieren und Menschen in der ruinösen Fähigkeit der menschlichen Spezies besteht, das eigene Leben zu zerstören.88 Statt einer Evolution haben wir im 21. Jahrhundert eine Involution. Die krude Analyse der Biopolitik und Bioökonomie, welche im 21. Jahrhundert das konkrete Leben verwalten, wird mit der Fähigkeit Darwins kontrastiert, die Diversität der Welt zu erkennen, ihr zuzuhören und sie zu respektieren. Der Blick des Biologen führt Darwin zu einem situierten Wissen und Beltrán zu einer Reflexion über die Komplexität des oikos im Sinne einer ›Ordnung des Hauses‹, die nicht von einem subjektzentrierten und anthropozentrischen Ort generiert ist. Auch hier sind zwei Tendenzen bemerkenswert: einerseits die kritische Dimension des Romans mit Bezug sowohl auf den Imperialismus des 19. Jahrhunderts als Fortsetzung der Eroberung Amerikas als auch und insbesondere auf die physische und materiell greifbare Degradation der zur Selbstzerstörung geweihten menschlichen Spezies; andererseits der weite Horizont, der sich bei der Beschreibung von Darwins Methodologie eröffnet, die zur Grundlage von On the Origin of Species (1859) wird. Es handelt sich um ein situiertes Wissen. Darwins Auge ist offen für die Umwelt, für die Beweglichkeit der Dinge der Welt, die gewahr werden, wenn er die Flüge der Vögel betrachtet oder vielmehr wenn sein Blick von diesen überrascht wird: »la huella de algo que cruzaba continuamente su campo óptico. ¿Qué era, qué es? El ojo también se adapta, se distrae o se fija solamente a una cosa. Hay que obligarlo a ver en lo que no repara. Pájaros«.89
In der Feder von Beltrán identifiziert Darwin das Problem der Erkenntnis: Es ist das begrenzte Feld der Sichtbarkeit, die Grenze der Sicht in Bezug auf das, was lebendig ist, sich bewegt, sich transformiert, wobei diese Dynamik im skopischen Regime unsichtbar bleibt, weil das Auge durch die mentalen Schemata, die Unbeweglichkeit des Körpers oder auch seine mangelnde Aufmerksamkeit beschränkt ist. Darwins Methode führt ihn zur
88 Vgl. auch das Vorwort von Jorge Volpi: »Novela de terror y resistencia (Prólogo)«, in: Rosa Beltrán, Efectos secundarios, Mexiko-Stadt: Mondadori 2011, S. 8-11. 89 Beltrán: El cuerpo expuesto, S. 79.
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Entdeckung der Diversität der Spezies, die das Auge zunächst als eine einzige Gattung wahrnimmt: »¡Y la variación ocurría a tan pocos metros de distancia! Tan cerca, que las aves eran observables de una isla a la otra. [...] Se ocupó en mostrar las diferencias en cada ilustración. [...] Aves. Distintas unas de otras, a pesar de la cercanía entre las islas.«90
Darwin transformiert das Buch des Lebens, weil er beobachtet, dass die Diversität aus der Relation zur Umwelt hervorgeht. Die Mutationen und Transformationen erfolgen nach Wirkung des materiellen Kontakts der Lebewesen mit der Umwelt. Es gibt keine kategorialen Trennungen zwischen den Gattungen, sondern ein Werden der Diversität auf der Basis einer gemeinsamen Herkunft im Raum zwischen Wiederholung und Differenz. Die Politik des Lebens ist Alterierung und Metamorphose, entsprechend dem Potenzial der Umwelt.91 Es gibt keine Gegebenheiten in Form von Separationen. Vielmehr befinden wir uns vor einem Werden der Differenzen in einem gemeinsamen Raum des Lebens. Das zu erkennen ist – so Beltráns Text – ein adamitischer Augenblick:
90 Ebd., S. 79f. 91 Mit Bezug auf das Kapitel Implantat transformiert Roberto Esposito dementsprechend das Konzept von Immunität als Gleichgewicht von Öffnung und Schließung, wobei der munus, d.h. die ›Pflicht zur Gabe‹, als eine Art Filter funktioniert: »Ma forse è la figura dell’impianto – artificiale come una protesi o naturale come un ovulo fecondato nel ventre della madre – a fornirne la testimonianza più intensa. Il fatto che sia proprio l’eterogeneità – e non la somiglianza – genetica del feto a favorirne l’accettazione da parte del sistema immunitario della donna significa che questo non può essere ridotto a una semplice funzione di rigetto nei confronti dell’estraneo, ma che va semmai interpretato come la sua cassa di risonanza interna, come il diaframma attraverso il quale la differenza ci coinvolge, e ci attraversa, in quanto tale. Sottratto alla sua potenza negativa, l’immune non è il nemico del comune – ma qualcosa di più complesso che lo implica e lo sollecita. Non solo una necessità, ma anche una possibilità il cui pieno significato ancora ci sfugge.« Roberto Esposito: Immunitas. Protezione e negazione della vita, Turin: Einaudi 2002, S. 21f.
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»Adánico. Que no consistió en decir ›te llamarás pinzón‹ sino en descubrir si éstos presentaban variantes tan grandes hallándose a una distancia tan corta, y si esas variantes dependían del clima, de la cantidad de alimento y de otros factores, el hecho no podía más que tener una explicación: una origen común. [...] ¿Y qué occurriría si otra especie mostrara las mismas variantes, y otra lo mismo y así hasta cubrirlas todas, el Homo sapiens incluido?«92
Nicht der Mensch bezeichnet die Welt, wie uns die Bibel lehrt, sondern die Welt zeigt sich den Augen mit all ihrer Diversität und Transformationskraft. Diese Verschiebung des anthropozentrischen Blicks auf die Welt impliziert auch eine Akzentverschiebung im Konzept von Umwelt, nämlich weg von der anthropozentrischen Konzeption politischer Ökologie, für die die Umwelt immer noch zu Diensten des Menschen steht, aber auch weg vom Konstruktivismus (Jakob von Uexküll 93) hin zu einer situierten Epistemologie, in der die Umwelt ein Handelnder ist.94 Wie können wir uns also an das Konzept von Umwelt annähern, ohne dass dieses Konzept von der Politik oder der Epistemologie eingefangen wird, in der wir uns befinden und von der wir ausgehen? 95 Das vom Lateinischen ambīre (herumgehen, umfahren, umkreisen, umfluten) stammende Ambiente wird etymologisch kurzerhand umschrieben mit »Umgebung, Atmosphäre«, die eine Persönlichkeit, eine Räumlichkeit oder eine künstlerische Darstellung umgibt. 96 Umgebung und Atmosphäre beziehen sich also auf ein Zentrum: den Menschen und/oder ein Lebewesen. Wir sind immer noch in einer kartesianischen und anthropozentrischen Topografie, in der die Dinge für den Men-
92 Beltrán: El cuerpo expuesto, S. 80f., Herv. im Orig. 93 Vgl. z.B. Jakob von Uexküll: Theoretische Biologie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1973. 94 Zur Symmetrie zwischen Dingen und Menschen ist natürlich auf Bruno Latour zu verweisen: Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, übers. von Gustav Roßler, Berlin: Akademie-Verlag 1995. 95 Ich paraphrasiere Esposito, wenn er zu Beginn von Bíos fragt, inwieweit ein Denken des bíos möglich ist, das nicht von der Politik abgeleitet ist. Vgl. Roberto Esposito: Bíos. Biopolitica e filosofia, Turin: Einaudi 2004. 96 Friedrich Kluge: »Ambiente«, in: ders., Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, 22. Aufl., völlig neu bearb. von Elmar Seebold, Berlin/New York: De Gruyter 1989, S. 24.
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schen vorhanden (für das Bewusstsein) oder zuhanden (als Funktion des Menschen) sind, um dies mit Martin Heidegger zu formulieren. 97 Hier wäre es lohnenswert, zwischen Atmosphäre und Stimmung zu unterscheiden: Erstere als psychischen Raum, der auch die Umgebung umfasst; Letztere als eine vom Raum auf den Menschen kommende körperliche Erfahrung. Im Sinne dieser zweiten Richtung macht auch der Text von Beltrán durch die Betonung der Grenzen der menschlichen Wahrnehmung deutlich, dass das Werden der Vögel auf den Galapagosinseln nicht nach einem Masterplan von Gott oder vom Menschen, sondern autonom, vom Menschen unabhängig, geschieht.98 Dies legt eine andere Deutung der Etymologie von Ambiente nahe: als fluide Materie, die sich bewegt, die als Agent handelt. Die Materie ist der Aktant, und dies transformiert die Relation zwischen Materie und Geist, Subjekt und Objekt. Und diese Verschiebung ist eine Herausforderung des Anthropozentrismus im Denken von Umwelt. Beltrán rettet Darwin vor einer trivialdarwinistischen Rezeption. Zugleich setzt ihr Roman den Kolonialismus und Imperialismus von Darwins Zeitgenossen in Szene, die von den Thesen von On the Origin of Species ebenso skandalisiert werden wie die Zeitgenossen des Erzählers im 21. Jahrhundert. Dieser demonstriert nämlich die Involution der menschlichen Spezies und ihre Mutationen in den spektakulären Selbst-Ausstellungen, die die Social Media bewohnen (Twitter, Selfies etc.). Der Erzähler vollzieht eine beunruhigende Diagnose der Transformation von Lebensformen unter dem thanatologischen Druck von Technologie, Ökonomie und Politik, während er zugleich mit dem Blick von Darwin die Schönheit des bíos, des Lebens in seiner ganzen ökologischen Diversität und Agenzialität, erfahren lässt.99 Die Weltliteratur der verschiedenen Welten zeigt uns, dass eine so verstandene Relation zur Umwelt nicht eine Errungenschaft der heutigen Eco-
97 Vgl. Martin Heidegger: Sein und Zeit, Tübingen: Niemeyer 2001, S. 88, 102104. 98 Anders mag es im Kontext des Anthropozän sein. 99 Hier ist auch auf weitere Autoren des New Materialism hinzuweisen, z.B. Karen Barad: Agentieller Realismus. Über die Bedeutung materiell-diskursiver Praktiken, übers. von Jürgen Schröder, Berlin: Suhrkamp 2012 und Jane Bennett: Vibrant Matter. A Political Ecology of Things, Durham, NC: Duke University Press 2010.
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logical Studies ist, sondern dass eher das Gegenteil gilt: Die separatistische Epistemologie ist ein Driften der postaufklärerischen Kultur im Kontext des Rationalismus und der entsprechenden politischen Theorien, während die Nähe zur Fülle und Dynamik des bíos eher das Trachten literarischer Texte der Weltliteratur, gleichgültig welcher Provenienz, war und ist. Dass wir mit diesem Blick über die Literatur der Gegenwart auch ein Sensorium für die ›Literatur der Welten‹ entwickeln und vergangene Texte der Weltliteratur ebenfalls anders lesen können: Dies mag uns darin verstärken, dass wir in der Fähigkeit, das ökologische Detail und den Anspruch auf Leben eines jeden Einzelnen mit dem Allgemeinen und Globalen zu verbinden, eine weltliterarische Qualität aufgespürt haben.
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Französischsprachige Literaturen: Littérature-monde oder Weltliteraturen? U TE F ENDLER
Für außereuropäische Literaturen in französischer Sprache wird die Verschränkung von Gegenwartsliteratur und Weltliteratur mit dem 2007 von 41 Schriftsteller_innen unterzeichneten Manifest zur Weltliteratur auf Französisch1 zu einem zentralen Ausgangspunkt für eine komplexe Debatte über die Zugehörigkeit von literarischen Texten, die in Französisch verfasst wurden von Autor_innen aus Frankreich, Québec, Marokko, dem Libanon, Martinique oder Senegal, mit oder ohne Migrationshintergrund. Sie stellen auch die Frage nach einer Teilhabe der Literatur auf Französisch an einer Weltliteratur, die aus ihrer Sicht von englischsprachiger Literatur dominiert wird. Damit stellen sie zum einen die Frage nach Rezeption und Distribution in den Vordergrund. Zum anderen wird in dem Manifest die Behauptung aufgestellt, dass französische Gegenwartsliteratur den Bezug zur Welt verloren habe. Schriftsteller_innen, die einen Migrationshintergrund haben, in oder außerhalb Frankreichs leben und arbeiten, würden sich dagegen stärker mit einer gelebten Gegenwart auseinandersetzen, also eine sozial oder politisch engagierte Literatur hervorbringen. Die starke Vermengung von Begriffen wie Gegenwart, Engagement, Realität, baut eine
1
Muriel Barbery et al.: »Pour une ›littérature-monde‹ en français«, in: Le Monde des Livres vom 15.03.2007, online unter: http://www.lemonde.fr/livres/article /2007/03/15/des-ecrivains-plaident-pour-un-roman-en-francais-ouvert-sur-lemonde_883572_3260.html (Stand: 19.01.2019).
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Brücke zur Weltliteratur zunächst im Sinne einer Literatur, die sich mit ›gelebter Welt‹ auseinandersetzt und damit eine Leserschaft erreicht, die über regionale und sprachliche Grenzen hinweg eine Gemeinsamkeit in der zeitlichen Teilhabe an Welt schafft,2 im Erleben von Gegenwart als dem Erleben von zeitlich und räumlich bedingtem in der Welt sein. Lionel Ruffel ist dem zunehmenden Interesse an der ›Gegenwart‹ nachgegangen. Dabei zeichnet er zunächst nach, wie der Begriff sich über die letzten 15 bis 20 Jahre von einem Adjektiv, nämlich »contemporain« (zeitgenössisch), zu einem Substantiv »le contemporain« (das Gegenwärtige, das Zeitgenössische), wandelte, was Einheit suggeriere und dennoch mehr Diversität beinhalte als je zuvor.3 Des Weiteren zeigt er auf, wie sich die Bedeutung langsam aber sicher verschiebt: von einem Gegenwartsbegriff, der dazu genutzt wird, sich von der Moderne abzusetzen, hin zu einer Gegenwart, die sich eher auf das Teilen eines ›Jetzt‹ fokussiert, was er mit »cotemporalité«4 beschreibt. Damit verschiebt sich der Fokus von einem Distanzierungsdiskurs im Verhältnis zu vorangegangenen Zeiten5 auf einen des Miteinanders, des Teilens, was Ruffel in der Bezeichnung »contemporain« vor allem sehen möchte: »De la compréhension modale du contemporain à ce que contemporain peut dire, c’est la force du préfixe cum- qui s’impose: avec, ensemble, ›inséparé‹. Avec le temps, avec les temps, les temps ensemble. La conception de l’histoire travaillée par le contemporain conteste ainsi l’historicité moderne fondée, elle, sur une séparation, une séquentialité, une successivité.«6
2
Vgl. Silke Horstkotte: »Zeitgemäße Betrachtungen: Die Aktualität der Gegenwartsliteratur und die Aktualisierungsstrategien der Gegenwartsliteraturwissenschaft«, in: Jürgen Brokoff/Ursula Geitner/Kerstin Stüssel (Hg.), Engagement. Konzepte von Gegenwart und Gegenwartsliteratur, Göttingen: v&r unipress 2016, S. 371-387.
3
Vgl. Lionel Ruffel: Brouhaha. Les mondes du contemporain, Lagrasse: Verdier
4
Vgl. ebd., S. 20.
5
Vgl. ebd., S. 25-28.
6
Ebd., S. 25.
2016, S. 9.
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Der Gedanke, dass unterschiedliche Zeiterfahrungen zusammengedacht werden, verlangt dann wiederum danach, dass unterschiedliche Literaturen ebenso zusammen betrachtet würden, was unter dem Begriff Weltliteratur gefasst werden könnte. In diesem schwingen aber unweigerlich Fragen und Zweifel mit, auch wenn der Charme von einer verbindenden Idee und einem möglichen Austausch impliziert scheint. Im Zeichen von Globalisierung, von weltumspannenden Phänomenen und Ereignissen wird Weltliteratur in all ihren vielen von Epochen und Kontexten abhängigen Ausprägungen diskutiert. Dabei erfolgt häufig auch der Rückverweis auf Goethe in dem Bemühen um eine Präzisierung des Begriffes. Wenn man Weltliteratur in französischer Sprache als einen Teil der Weltliteratur betrachten möchte, so stellt sich dringlich die Frage nach der Sprache, in der die Texte verfasst sind, und deren Übersetzung und Rezeption in anderen Sprachen. Damit muss das Verhältnis von Literaturen und literarischen Institutionen und Feldern zueinander zusammengedacht werden mit Fragen nach der Herkunft und der Verortung des Schreibenden, der Sprache, in der der Text verfasst wurde, ebenso wie mit dem Verhältnis des Textes zum Ort des Schreibens und des Lesens, mit der Bewegung in Raum und Zeit des Schriftstellers und des Textes, und nicht zuletzt mit der Stellung des Verlages.7 Im folgenden Beitrag wird die Literatur in französischer Sprache in diesem Spannungsfeld zwischen Weltliteratur und Gegenwartsliteratur der Gegenstand des Interesses sein, da die Reflexion über die Teilhabe einer Literatur auf Französisch an einer Weltliteratur die Gräben zwischen dem historischen Zentrum Paris und Frankreich und den ehemaligen Kolonien überwinden würde. 2007 wurde, wie in der Einleitung schon erwähnt, in Le Monde ein von 44 französischsprachigen Autor_innen unterschriebenes Manifest mit dem provozierenden Titel Pour une »littérature-monde« en français veröffentlicht, das große Diskussionen über das Manifest selbst ausgelöst hat. Darüber hinaus hat es eine Debatte über die Bedeutung der Literaturen in französischer Sprache angestoßen, die die Institutionen der international agie-
7
Siehe beispielsweise Dieter Lamping: »Die Welt der Weltliteratur. Denotationen und Konnotationen eines suggestiven Begriffs«, in: Christian Moser/Linda Simonis (Hg.), Figuren des Globalen. Weltbezug und Welterzeugung in Literatur, Kunst und Medien, Göttingen: Bonn University Press 2014, S. 169-179.
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renden Frankofonie und damit auch der frankofonen Literaturen auf der Bühne der Weltliteraturen hinterfragt. In diesem Zusammenhang ist auch zu sehen, dass außereuropäische französischsprachige Literaturen8 über Jahrzehnte nur punktuell mit vereinzelten Schriftsteller_innen Eingang in die Literaturgeschichtsschreibung der französischen Literatur gefunden haben, bevor einzelne Kapitel hinzugefügt wurden, die einen Überblick über die Entwicklung seit den 1920ern Jahren bis heute bieten sollten. Literaturgeschichten von Nationalliteraturen oder thematisch oder epochal ausgerichtete historische Überblicke frankofoner Literaturen entstehen relativ spät, etwa ab den 1990er Jahren. Dies hat seine Ursache zum einen in der anhaltend zentralen Stellung von Paris als Zentrum für das kulturelle Schaffen mit all seinen hierfür relevanten Institutionen wie Verlagshäusern, der Verleihung von Literaturpreisen, etc. 9 Zum andern erfordert eine Literaturgeschichte Distanz, die die Einteilung in Epochen erlaubt, wobei die Einschätzung der Bedeutung neuer Themen oder ästhetischer Verfahren im Verhältnis zu vorangegangenen Phänomenen eine maßgebliche Rolle spielt.10 Dieses relationale Verhältnis in der Bestimmung davon, was Welt- und ebenso Gegenwartsliteratur ausmachen könnte, ist in den französischsprachigen Literaturen der Gegenwart hochgradig komplex: Sie positionieren sich in der Gegenwart, die als ein Moment des Umbruchs verstanden wird und damit Ausblick auf eine Zukunft schaffen soll, in der diese bislang in Frankreich als peripher betrachteten Literaturen nun als außereuropäische französischsprachige Literaturen in einem Kanon der Weltliteraturen Sichtbarkeit erlangen wollen. Zugleich definiert sich französischsprachige Gegenwartsliteratur immer noch stark in Abgrenzung von oder im Dialog oder gar Streitgespräch mit Frankreich,
8
Zunehmend wird auch Literatur aus Frankreich als französischsprachige Literatur bezeichnet, weil damit betont wird, dass sie ein Teil einer größeren Gemeinschaft von Autor_innen ist, die auf Französisch schreiben unabhängig von politischen oder historischen Hierarchien. Zudem wird häufig von französischsprachigen Literaturen im Plural gesprochen, um die sehr unterschiedlichen Kontexte hervorzuheben.
9
Siehe beispielsweise Pascale Casanova: La République mondiale des Lettres, Paris: Seuil 2008.
10 Siehe Dominique Viart: »Histoire littéraire et littérature contemporaine«, in: Tangence 102 (2013), S. 113-130.
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auch wenn andere Parameter allmählich Eingang in diese Debatten finden. Die politischen Forderungen nach Anerkennung in Frankreich und weltweit, die seit der Veröffentlichung des Manifests 2007 immer wieder erneuert und damit aktualisiert werden, gehen einher mit einem literarischen Schaffen, das angesichts von Debatten um die Kolonialzeit und ihre Auswirkungen bis heute eine »breite Gegenwart« schafft.11
D AS M ANIFEST Wie Bernd Blaschke in seinem Artikel Für? Eine? Welt?-!Literatur? auf Französisch? Thesen und Fragen zum Manifest von Michel Le Bris und seinen 43 beklagt, hat es in der deutschsprachigen Romanistik oder auch in der Diskussion über interkulturelle oder globale Literaturen nur wenig Beachtung für dieses in der französischsprachigen Welt so intensiv diskutierte Manifest gegeben.12 Allerdings machen auch schon die Herausgeber Christian Moser und Linda Simonis in ihrer Einleitung ihr Hauptinteresse an dem Bindestrich in dem Titel des Manifests fest. Die Verbindung mit Welt bei littérature-monde verweise sie auf die Verbindung mit der Welt. Sie halten fest, dass die Verfasser des Manifests behaupten, die französische Literatur kranke an ihrer »Nabelschau« und an ihrer Theorielastigkeit, und dass sie deshalb eine Rückkehr zur »Welt« fordern, was die französischsprachigen Literaturen aus der sogenannten Peripherie schon leisteten. 13 Hier liegt, meiner Ansicht nach, ein Missverständnis vor oder zumindest eine Lektüre aus der Sicht jenseits des französischsprachigen literarischen Feldes. Aber gehen wir zunächst kurz auf das Manifest und die wiederkehrenden Kritikpunkte ein. Véronique Porra hat in ihrer Diskussion des Mani-
11 Siehe Hans Ulrich Gumbrecht: »Vom Wandel der Chronotopen. Ein mögliches Nachwort«, in: Klaus Birnstiel/Erik Schilling (Hg.), Literatur und Theorie seit der Postmoderne, Stuttgart: Hirzel 2012, S. 229-236; ders.: Unsere breite Gegenwart, Berlin: Suhrkamp 2010. 12 Bernd Blaschke: »Für? Eine? Welt?-!Literatur? auf Französisch? Thesen und Fragen zum Manifest von Michel Le Bris und seinen 43«, in: Moser/Simonis, Figuren des Globalen (2014), S. 181-192. 13 Christian Moser/Linda Simonis: »Einleitung: Das globale Imaginäre«, in: dies., Figuren des Globalen (2014), S. 11-22, hier S. 11f.
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fests drei zentrale Argumentationsachsen herausgestellt, nämlich eine institutionelle, eine ästhetische und eine sprachliche.14 Die Frage nach den Institutionen zeigt die komplizierte Vermengung von Frankofonie als politischem Instrument, als Netzwerk von Institutionen und als Oberbegriff für die vielfältige Nutzung der französischen Sprache auf. Die Vorstellung von einer Einheit von Territorium, Geschichte, Sprache und Identität ist in der französischen Geschichte über Jahrhunderte gewachsen und ist wesentlicher Bestandteil der französischen Kolonial- und Assimilationspolitik, die sich auch in der Verbreitung der französischen Sprache und Kultur als identitätsstiftendes Element wiederfindet. Hinzu kommt eine zentralistische Staatsstruktur, die sich auf allen Ebenen und in der Verschränkung von Identitätskonstruktion und staatlichen und politischen Strukturen in einem weiterhin eher zentralistischen Kulturbetrieb niederschlägt mit einem entsprechend ausgerichteten Apparat an Regularien, wie Literaturpreisen, Verlagspolitik etc. Ein französischsprachiger Autor erlangt in diesem literarischen Feld nur dann Anerkennung, wenn seine Werke in einem angesehenen Verlag in Paris veröffentlicht werden, wenngleich in den letzten gut 20 Jahren doch eine gewisse Dezentralisierung stattgefunden hat durch KoEditionen mit Verlagshäusern, die ihren Sitz nicht in Paris oder sogar außerhalb Frankreichs haben. Hier spielt vor allem Québec eine wesentliche Rolle. Diese Entwicklung kommt der Forderung nach einer Aufhebung der Pole von ›Zentrum‹ und ›Peripherie‹ entgegen, damit die Sichtbarkeit eines französischsprachigen Autors nicht mehr nur an das Zentrum gebunden ist.15 Zugleich sind aber französische Literaturpreise und literarische und kulturpolitische Auszeichnungen nach wie vor erstrebenswert, wie beispielsweise die Aufnahme des haitianischen Schriftstellers Dany Laferrière in die Académie Française oder die des kongolesischen Autors Alain Mabanckou an das Collège de France gezeigt hat.
14 Siehe Véronique Porra: »Malaise dans la littérature-monde (en français): de la reprise des discours aux paradoxes de l’énonciation«, in: Recherches & Travaux 76 (2010), S. 109-129. 15 Siehe hierzu beispielsweise Kathleen Gyssels: »Du Discours Antillais au ToutMonde«, in: Ralph Ludwig/Dorothee Röseberg (Hg.), Tout-Monde: Interkulturalität, Hybridisierung, Kreolisierung. Kommunikations- und gesellschaftstheoretische Modelle zwischen »alten« und »neuen« Räumen, Frankfurt a.M.: Peter Lang 2010, S. 239-256.
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Die Forderungen und Behauptungen im Manifest widersprechen sich so manches Mal, wenn die Unterzeichner einerseits mehr Anerkennung weltweit einfordern und dabei andererseits doch vor allem von Frankreich sprechen. Solche Ungereimtheiten verweisen unter anderem auf die enormen Widersprüche innerhalb des französischsprachigen Feldes, das das Ergebnis eines über Jahrhunderte im Kontext von Kolonialismus, Sklaverei, Imperialismus, Kolonialkriegen, Immigration und Rassismus in Frankreich gewachsenen Verständnisses von Literatur ist. Damit schwingt in dem Begriff der Frankofonie die ganze Last der Geschichte mit, denn schon die Gründung der Institutionen der Frankofonie nach der Unabhängigkeit der Gründungs- und Mitgliedsländer war ein politischer Prozess, der auch von den Macht- und Interessenspositionen zwischen verschiedenen Weltmächten und ihrer jeweiligen Kultur- und Sprachpolitik zeugt.16 Die zweite Argumentationsachse des Manifests beschäftigt sich mit ästhetischen Fragen der Literaturproduktion, wobei sich erneut das widersprüchliche Verhältnis von Welthaltigkeit und Literarizität zeigt, das französischsprachige Literatur vermeintlich eher einlöst als französische. Auch wenn dies zutreffen mag, dann ist diese Feststellung doppeldeutig, denn auch hier ist in der langen Geschichte des Dialogs der Literaturen zu sehen, dass schriftlich fixierte Literaturen aus afrikanischen Ländern zunächst auf ein europäisches Modell zurückgehen. Mit dem zivilisatorischen Auftrag kam Frankreichs Schulsystem mit seinen Lehrplänen in die ehemaligen französischen Kolonien, aus denen dann literarische Texte als Zeugnisse über und aus Lebenswelten der Peripherie in die Metropole zurück gelangten. Dieser anthropologische und soziologische Wert afrikanischer – aber auch karibischer – Literaturen lässt die Frage nach einem ästhetischen Wert, einer Literarizität der Texte erst spät und eher verhalten aufkommen. So ist die Forderung im Manifest nach einer Lektüre der literarischen Texte als Literatur und nicht als Informationsquelle über ferne Kulturen zu verstehen. An diesem Argument lässt sich ein weiterer Widerspruch aufzeigen, denn der im Manifest formulierte Anspruch, dass die ›peripheren‹ Literaturen einen größeren Weltbezug herstellten als die Literatur Frankreichs,
16 Siehe Lydie Moudileno: »Francophonie: Trash or Recycle?«, in: Alec G. Hargreaves/Charles Forsdick/David Murphy (Hg.), Transnational French Studies: Postcolonialism and Littérature-monde, Liverpool: Liverpool University Press 2010, S. 109-124. Siehe auch die anderen Beiträge im selben Band.
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würde gerade der Einschätzung von afrikanischen Literaturen zuarbeiten, dass mehr Welt, mehr Soziologie in Texten von außereuropäischen Autoren zu finden sei, sie also doch eher Realität abbilden als imaginierte Welten schaffen, wie dies beispielsweise europäischen Literaturen zuerkannt wird. Trotz der Mehrdeutigkeit mancher Formulierungen wird deutlich, dass die Unterzeichner des Manifests zunächst fordern, dass ihre Literatur als ästhetisch geformte, literarische Texte als Teil einer in Französisch verfassten Weltliteratur gesehen werden soll, deren Stimulation durchaus in einer realen Lebenswelt liegen kann, aber nicht auf diese reduziert werden sollte. Schließlich stellt sich auch dringlich die Frage nach der Sprache und der Zugänglichkeit einer Literatur in französischer Sprache, die just aufgrund der Sprache zunächst vor allem in französischsprachigen Regionen zirkuliert. Nur Übersetzungen in andere Sprachen können Austausch über diese sprachliche Grenze hinweg ermöglichen. Ein anderer interessanter Punkt ist die Frage nach den Unterzeichner_innen des Manifests, denn unter ihnen findet man Autor_innen aus der sogenannten Peripherie, wie Ananda Devi aus Mauritius, oder solche, die über die USA in Frankreich Anerkennung erlangt haben, wie etwa Alain Mabanckou aus dem Kongo, aber ebenso solche, die unterschiedlichen Nationalliteraturen zugerechnet werden, wie der Nobelpreisträger Jean Marie Gustave Le Clézio, dessen Werk aufgrund seiner Biografie mal in den Literaturgeschichten Frankreichs und mal in denen von Mauritius als Teil der jeweiligen Nationalliteratur vereinnahmt wird. Es finden sich darunter aber auch solche, deren Familien in der zweiten und dritten Generation in Frankreich leben und die man auch schon in Kategorien wie »enfants de la postcolonie«17 oder Afropolitans18 erfasst hat. Und schließlich sollte man nicht
17 Abdourahman A. Waberi: »Les enfants de la postcolonie. Esquisse d’une nouvelle génération d’écrivains francophones d’Afrique noire«, in: Notre Librairie 135 (1998), S. 8-15. 18 Odile M. Cazenave: Afrique sur Seine. Une nouvelle génération de romanciers africains à Paris, Paris: L’Harmattan 2003. Taiye Selasi: »Bye Bye Babar«, in: The LIP #5 Africa vom 03.03.2005, online unter: http://thelip.robertsharp.co. uk/?p=76 (Stand: 19.01.2019). In diesem Artikel spricht Selasi von den Afropolitans und prägt damit eine Bezeichnung, die auch in der Literaturwissenschaft genutzt wird für Texte, die von Autor_innen geschrieben werden, von denen zumindest ein Elternteil aus Afrika kommt.
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diejenigen vergessen, die sich für das Französische als literarische Sprache entschieden haben aufgrund von Exil oder anderen Migrationserfahrungen, die Alternativen in der Wahl von Lebens- und Schaffensort und Sprache notwendig oder wünschenswert erscheinen ließen. Ein zentraler Kritikpunkt an dem Manifest ist, dass binäre Strukturen, die aufgebrochen werden sollen, sich dennoch auch in diesen Text einschleichen. Carla Talban beispielsweise zeigt auf, dass das Manifest die Wahrnehmung des Anderen thematisiere und damit Gefahr laufe, sich in exotisierende Tendenzen einzureihen.19 Sie arbeitet die zahlreichen Widersprüche heraus, in die sich die Autor_innen des Manifests verstricken und führt dann Beispiele aus dem Band Pour une littérature-monde an, der noch im selben Jahr wie das Manifest von Michel Le Bris und Jean Rouaud herausgegeben wurde.20 Sie zitiert vor allem Mabanckou und Lyonel Trouillot, da ihre Texte zum Verständnis des Manifests beitragen jenseits von Verkürzungen, die der Textgattung anzulasten sein könnten. Bei Trouillot findet sich der Hinweis auf den intertextuellen Dialog 21 und bei Mabanckou die Konkretisierung, dass das Französische ein Modus sei, der es erlaube, sich die Welt immer von einem bestimmten Ort aus vorzustellen. 22 Insgesamt sieht sie das Potenzial der Beiträge darin, dass die Verbindungen23 zwischen ›hier‹ und ›anderswo‹ – damit also die relation nach Édouard Glissant24 – in den Fokus rücken, was sich unter anderem auch an vermehrten intertextuellen Bezügen ausmachen lasse, die gerade für eine Weltliteratur als einen imaginierten Raum des Austausches und des Dialogs an Bedeutung gewinnen würden. In dieser komplexen Diskussion über Weltliteratur und littératuremonde finden sich auch zahlreiche Rückverweise auf Goethe. Dabei wird wiederholt hervorgehoben, dass für Goethe zunächst die Gemeinschaft von Autoren, von Texten ausschlaggebend war. Weltliteratur sei ein Dialog
19 Siehe Carla Taban: »Idéologie, esthétique et littérature-monde en français«, in: International Journal of Francophone Studies 12/2&3 (2009), S. 223-236. 20 Michel Le Bris/Jean Rouaud (Hg.): Pour une littérature-monde. Paris: Gallimard 2007. 21 Taban: »Idéologie, esthétique et littérature-monde en français«, S. 232. 22 Ebd., S. 231. 23 Ebd. 24 Édouard Glissant: Poétique de la Relation, Paris: Gallimard 1990.
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zwischen literarischen Texten und Gedanken, die mithilfe von Übersetzung zu einem geteilten imaginaire führen könnten, der die Weltliteratur ausmachen würde. So sieht auch Lydie Moudileno in dem Bindestrich zwischen Literatur und Welt nicht maßgeblich die Rückbindung an eine – wie auch immer verstandene – Vorstellung von Welt, sondern eher einen Verweis auf Glissants Vorstellung von einer Tout-monde,25 einer Welt, die als großes Netzwerk gesehen werden könnte. Littérature-monde in Anlehnung daran wäre eine Literatur, die diese imaginierten – und auch realen – Welten miteinander verbindet, indem der Begriff dazu beiträgt, sie in Verbindungen denken zu können, was sehr wohl im Lokalen und Partikularen erfolgen kann.26 Viele Einzelstudien sind bereits aus dieser Debatte hervorgegangen, die bemüht waren, die Positionierung eines Autors innerhalb des frankofonen Netzwerkes zu verdeutlichen oder auch die Konkurrenz zwischen verschiedenen Feldern aufzuzeigen.27 In all diesen Publikationen wird deutlich, dass es zunächst weniger um die Definition von ›Welt‹ geht, die Literatur vorstellt, erfindet, schafft, und um das Verhältnis, in dem diese Literaturen dann wiederum zueinander stehen, auch wenn dies Teil mancher Diskussionen ist. Im Vordergrund steht vielmehr meist die Teilhabe an einer weltweiten Zirkulation von Texten und Stimmen, von der sich die französischsprachigen Literaturen im Vergleich zu den in englischer Sprache verfassten ausgeschlossen sehen. Die weiterhin offenen Fragen des Verhältnisses zwischen einem oder mehreren Zentren und Peripherien treten hinter der Frage zurück, wie und ob Literaturen in französischer Sprache Teil einer Weltliteratur sein können. Wenn wir aber letztere als eine literarische Gemeinschaft verstehen
25 Édouard Glissant: Traité du Tout-Monde, Paris: Gallimard 1997. 26 Siehe Lydie Moudileno: »From pré-littérature to Littérature-monde. Postures, neologisms, prophecies«, in: Isabelle Constant/Kahiudi C. Mabana/Philip Nanton (Hg.), Antillanité, créolité, littérature-monde, Newcastle upon Tyne: Cambridge Scholars Publishing 2013, S. 13-26. 27 Siehe beispielsweise: Littérature-Monde. Enjeux et Perspectives, Colloque du Département de Français de l’Université d’Alger, 23-26 février 2009, Alger: HIBR Editions 2010; Oana Panaïté: Des littératures-mondes en français. Écritures singulières, poétiques transfrontalières dans la prose contemporaine, Amsterdam/New York: Rodopi 2012.
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wollen, dann ist Übersetzung unabdingbar in der Konzeptualisierung von Weltliteratur. Unter den Nobelpreisen für Literatur finden sich einige französische Namen, aber nur einer von ihnen, nämlich Le Clézio, ist den frankofonen Literaturen zuzurechnen, denn aufgrund seiner Lebensgeschichte ist sein Werk – wie oben bereits erwähnt – nicht nur Teil einer französischen Nationalliteratur, sondern auch derjenigen einer französischsprachigen Gemeinschaft außerhalb Frankreichs. Aber selbst die Frage nach einer literarischen transnationalen Gemeinschaft lenkt unsere Aufmerksamkeit wieder auf Institutionen, denn Verlage, Messen, Festivals und Literaturpreise sind die Instanzen, an denen sich die Wege der Bücher und Schriftsteller_innen kreuzen oder auch öffnen. Wenn man einen Blick auf die renommierten französischen Literaturpreise wirft, so sieht man, dass beispielsweise der Prix Goncourt nur fünf Mal in seiner langen Geschichte an französischsprachige Autor_innen verliehen wurde: 2016 an die in Rabat/Marokko geborene Leïla Slimani für La chanson douce, 2008 an den in Kabul/Afghanistan geborenen Atiq Rahimi für Syngué sabour: La pierre de patience, 1993 an den in Beirut/Libanon geborenen Amin Maalouf für Le rocher de Tanios, 1992 an den in Fort-de-France/ Martinique geborenen Patrick Chamoiseau für Texaco und 1987 an den in Fes/Marokko geborenen Tahar Ben Jelloun für La Nuit sacrée. Alle wurden innerhalb von ein bis drei Jahren ins Deutsche28 übersetzt. Für den Prix Renaudot sieht es mit den Preisträgerinnen und Preisträgern Édouard Glissant (*Sainte-Marie/Martinique; für La Lézarde, 1958), Yambo Ouologuem (*Bandiagara/Mali; für Le Devoir de violence, 1968); Ahmadou Kourouma (*Boundiali/Elfenbeinküste; für Allah n'est pas obligé, 2000); Alain Mabanckou (*Pointe-Noire/Republik Kongo; für Mémoires de porc-épic, 2006); Tierno Monénembo (*Porédaka/Guinea; für Le roi de Kahel, 2008) und Scholastique Mukasonga (*Gikongoro/Ruanda; für Notre-Dame du Nil, 2014) ganz ähnlich aus. Nadège Veldwachter hat sehr ausführlich und mit vielen Statistiken den Export von französischen und frankofonen Büchern und ihren Übersetzungen in das nicht-französischsprachige Ausland analysiert. Sie zeigt auf, dass der größte Markt für französische Literatur aus den 1960er/70er Jahren nach wie vor die USA und Westeuropa sind. Frankofone Literaturen aus der Karibik, dem Maghreb oder aus Afrika unterliegen
28 Diese Texte wurden auch in andere Sprachen übersetzt, aber es interessiert in diesem Beitrag zunächst die Übersetzung ins Deutsche.
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einer anderen Logik, die häufig mit einer gewissen »Folklorisierung« oder auch »Exotisierung« einhergeht, um das Interesse im Zielland zu wecken.29 Aufschlussreich im Hinblick auf solch eine Folklorisierung ist die Preisverleihung an Monénembo aus Guinea, der schon seit den 1980er Jahren im politischen Exil in Frankreich lebt. Er erhält den Preis für seinen Roman Le roi de Kahel, der von den Abenteuern eines Franzosen erzählt, der Ende des 19. Jahrhunderts sein Glück in Westafrika sucht. Der Fokus liegt auf der Annäherung zwischen dem Franzosen und der lokalen Bevölkerung. Monénembo nutzt dabei sein Wissen über die Geschichte der historischen Königreiche Westafrikas und seiner eigenen Herkunft und dem damit verbundenen Wissen über die Peul. Die Tatsache, dass dieser Roman ausgezeichnet wurde, macht deutlich, dass das Interesse für außereuropäische französischsprachige Literaturen sich noch nicht völlig von historisch gewachsenen Diskursen gelöst hat, denn die Auszeichnung stellt das Thema dieses Romans besonders hervor, obwohl Monénembo in seinem umfangreichen Romanwerk immer wieder neue Themen aufgreift, die aber alle die Verbindungen historischer, kultureller und politischer Art zwischen Afrika, Europa und Amerika deutlich machen. Mit dieser thematischen Breite nimmt der Autor eine gewisse Sonderstellung unter den französischsprachigen Schriftsteller_innen ein, was ihm ebenso die verdiente Anerkennung im Rahmen einer littérature-monde hätte einbringen können.
L ITTÉRATURE - MONDE UND DER Z UGANG ZUR W ELTLITERATUR : J EAN -L UC R AHARIMANANA UND N ATHACHA APPANAH Bislang habe ich versucht, das weite Feld der frankofonen Literaturen in ihrer Komplexität an dem Moment des Erscheinens des Manifests festzumachen, so dass sich zumindest eine Reihe der Reflexionslinien und Problematiken abzeichnen, die verfolgt werden müssten und könnten. In dem vorgegebenen Rahmen soll nun auf zwei Beispiele etwas konkreter einge-
29 Siehe Nadège Veldwachter: Littérature francophone et mondialisation, Paris: Karthala 2012; zu den Statistiken insbesondere das Kapitel 2: »La littératuremonde en français, au-delà de la francophonie?«.
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gangen werden, um zu erörtern, was die zuvor umrissenen Parameter für das Zusammenspiel von Gegenwartsliteratur und Weltliteratur bedeuten, und wie sich dies konkret für frankofone Autor_innen darstellt. Einer der Mitunterzeichner des Manifests ist der madegassische Autor Jean-Luc Raharimanana, der schon seit fast dreißig Jahren in Frankreich lebt. Dennoch steht Madagaskar und vor allem das Erinnern an eine geteilte Geschichte zwischen Frankreich und Madagaskar, die auf beiden Seiten verdrängt und vergessen wird, im Zentrum seines Werkes. Sein erster Roman Nour, 1947 erscheint 2001, eine zweite Auflage 2017. Es ist ein komplexer Text, der zunächst die Totenklage für Nour, die verstorbene Geliebte des Erzählers, umfasst, die bei den Ausschreitungen 1947 zu Tode kommt. Zugleich verschränkt der Text Erzählungen von Begegnungen mit mythischen Figuren, wie einer Hexe und einem Geist, die mit Bruchteilen aus der Geschichte der Insel verwoben sind, die bis zu den ungeklärten Ursprüngen der Inselbewohner und der Kolonialherrschaft Frankreichs zurückreicht. In seinen Kurzgeschichten aus dem Jahr 1998 mit dem Titel Rêves sous le linceul (Träume unter dem Leichentuch) zeichnete sich bereits diese thematische Breite ab, die aus oralen Überlieferungen ebenso wie aus Archiven und historischen Aufzeichnungen schöpft und dabei zwischen einer sachlichen und einer sehr poetischen Sprache wechselt. Trotz der zahlreichen Preise, die Raharimanana über die Jahre erhalten hat, und seiner Einladungen zu Literaturfestivals auch in Deutschland, ist bislang nur sein erster Erzählband mit dem Titel Lucarne (1996) ins Deutsche übersetzt worden: Haut der Nacht (1997). Dabei behandeln seine Texte Fragen nach der Vernetzung der Welt, den Auswirkungen von politischen Systemen auf Einzelschicksale ebenso wie auf diplomatische Beziehungen. Sein Bemühen um eine Aufarbeitung von geschichtlichen Ereignissen wie dem Massaker von 1947 veranlasste ihn auch zur Veröffentlichung von Bildbänden, die Archivmaterial und damit auch die Geschichte Madagaskars zugänglich machen. Seine Arbeit an der Sprache erfährt einen Höhepunkt in seinem zweiten Roman Za (2008), in dem er gesprochenes madegassisches Französisch verschriftlicht, so dass die Lektüre sich erst dann weniger mühevoll gestaltet, wenn man den Text laut liest. Viele frankofone Autor_innen haben das Französische verändert und moduliert, damit es der gesprochenen Sprache näherkäme bzw. damit der Einfluss der jeweiligen Muttersprachen der Schriftsteller_innen bei der Lektüre erfahrbar würde. Hierzu ist viel ge-
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schrieben worden, beispielsweise über den Einfluss des Bamana auf das Französische in Kouroumas Romanen und insbesondere in Allah n’est pas obligé, in dem ein Kindersoldat, ein Analphabet, zum Erzähler erhoben wird.30 Auch das kreolisierte Französisch des berühmten martinikanischen Autors und Goncourt-Preisträgers Chamoiseau hat viele Literaturwissenschaftler_innen zu vertieften Lektüren und Analysen inspiriert. 31 Der Roman von Raharimanana löste jedoch zunächst Befremden aus, erforderte er doch mehr als nur ein Sich-Öffnen für die anderen Stimmen, die das Französische fremd und neu klingen lassen.32 Der Protagonist Za, dessen Name, wie Valérie Magdelaine-Andrianjafitrimo erläutert, eine Abkürzung für »ich«, »izaho«, darstellt, was zugleich das madegassische Wort »J/Zanahary« (Gott) anklingen lässt,33 vereint in sich eine Vielzahl von Stimmen. Er ist edel und heruntergekommen zugleich, so wie er Abbild Gottes und menschliche Kreatur ist. Za ist nur noch ein menschliches Wrack, denn der ehemalige Lehrer hat Frau und Kind verloren und ist nach der Folter in der Haft dem Wahnsinn nahe. Damit gelingt es Raharimanana einen Erzähler zu schaffen, der sowohl aus der Sicht einer Führungselite als auch aus der der Verlierer der Gesellschaft, der ehemaligen Kolonialherren und ihrer Nachfolger ebenso wie der Unterdrückten und Ausgebeuteten, damals wie heute sprechen kann. Die Erinnerungen und Entwicklungswege der Gemeinschaften in Frankreich und Madagaskar (oder Europa und Afrika) sind so eng miteinander verwoben, dass sie zu einem Ganzen werden mit unzähligen Facetten, von denen sich je nach Perspektive des Betrachters und des
30 Siehe beispielsweise Jean Ouédraogo/Yves Dokouo: Allah n’est pas obligé d’Ahmadou Kourouma, Gollion: Infolio 2011; Christiane Ndiaye: »La mémoire discursive dans Allah n’est pas obligé ou la poétique de l’explication du ›blablabla‹ de Birahima«, in: Études Françaises 42/3 (2006), S. 77-96; Makhily Gassama: La langue d’Ahmadou Kourouma, Paris: ACCT/Karthala 1995. 31 Siehe beispielsweise Samia Kassab-Charfi (Hg.): Tracées de Patrick Chamoiseau. Interculturel Francophonies 22 (2012); Dominique Chancé: Patrick Chamoiseau, écrivain postcolonial et baroque, Paris: Champion 2010. 32 Siehe Taina Tervonen: »Za de Jean-Luc Raharimanana. Za parle, écoutez Za!« Africultures vom 21.05.2008, online unter: http://africultures.com/za-7614 (Stand: 19.01.2019). 33 Valérie Magdelaine-Andrianjafitrimo: »Za, une si cruelle jubilation«, in: Nouvelles Etudes Francophones 23/1 (2008), S. 310-315, hier S. 310f.
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Betrachteten jeweils völlig neue auftun können. Somit ist es auch nicht verwunderlich, dass sich der Epilog über sechzig Seiten hinzieht: ein erster abgebrochener Epilog (einer der »épilogues avortés«34) wird von neun Kapiteln gefolgt, worauf ein zweiter Versuch folgt. Das Spiel mit gattungskonformen Formaten zeigt auf, dass in einem Kontext, in dem die Hoheit über die eigene Politik und Geschichte außerhalb der eigenen Kontrollinstanzen liegt, eine lineare Geschichtserzählung nicht möglich ist. Je nach Perspektive ergeben sich neue Lesarten und damit auch ein anderer Verlauf von Geschichte und der Erzählung derselben. Am Ende des Textes überlässt der Erzähler dem Leser einen »Haufen Papiere«, die zusammenhanglose Bruchstücke darstellen, die noch auf eine sinnstiftende Ordnung und Erzählung warten.35 Mit dem Roman Za gelingt es Raharimanana, Positionen diverser Personen aus unterschiedlichsten sozialen, kulturellen und ethnischen Gruppen darzustellen und die Frage nach den historischen und politischen Zusammenhängen und damit auch der Relevanz für die jeweils beteiligten Gruppen zu stellen. Die Tatsache, dass er auf Französisch schreibt, seine Texte aber teilweise in lokale Varianten und Gattungen übersetzt, ergibt einen äußerst komplexen und vielstimmigen Text, der, aus meiner Sicht, exemplarisch für den Anspruch einer littérature-monde stehen könnte, die über die Relationalität reflektiert, die sich direkt in die Texte einschreibt, sprachlich, ästhetisch und thematisch. Raharimanana verbindet lokale Formate und Themen mit europäischen und schreibt damit auch den Vermittlungsprozess zwischen verschiedenen Literaturen in und über seine Texte als Angebot für eine littérature-monde fort. Dennoch wurden nur wenige seiner Texte übersetzt, so dass ein Austausch über die französischsprachige Gemeinschaft hinaus und damit eine Teilhabe an einer Weltliteratur nicht möglich war und ist.
34 Jean-Luc Raharimanana: Za, Paris: Philippe Rey 2008, S. 183. 35 Ebd., S. 247. Siehe Ute Fendler: »Une écriture relationnelle: violence et histoire coloniale dans l’oeuvre de Raharimanana«, in: Jean-Christophe Delmeule (Hg.), Raharimanana: la poétique du vertige. Interculturel Francophonies 23 (2013), S. 79-96; Jean-Christophe Delmeule: »Dérapages et Sabotages: Les innovations langagières dans Za de Raharimanana«, in: ders. (Hg.), Langue unique, langue multiple: le »devenir autre« des Littératures Francophones, La tortue verte, Revue en ligne des littératures francophones, Dossier 7 (2017), S. 56-62.
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Mit dem zweiten Beispiel möchte ich auf eine Autorin eingehen, die das Manifest nicht unterschrieben hat. Nathacha Appanah ist nach Ananda Devi sicher eine der bekanntesten Schriftstellerinnen aus Mauritius, was auch daran liegen mag, dass eine Reihe ihrer Romane bereits in mehrere Sprachen übersetzt wurde. Ihr zweiter Roman Blue Bay Palace (2003) und der vierte Le dernier frère (2007) wurden ins Deutsche übersetzt.36 Mit ihren bislang sechs Romanen konnte Appanah sich einen festen Platz in der französischsprachigen Literaturlandschaft erobern. 2017 wurde sie mit dem Orden Chevalier de l’Ordre des Arts et des Lettres in Frankreich ausgezeichnet. Ihre beiden ins Deutsche übersetzten Romane bieten unmittelbar Anknüpfungspunkte für ein deutsches Lesepublikum und darüber hinaus für ein westeuropäisches, da sie sich mit Themen beschäftigt, die die Geschichte Ostafrikas und des Indischen Ozeans mit Frankreich, Großbritannien und Deutschland verbinden. In Blue Bay Palace erzählt sie die Geschichte eines Mädchens aus einer ärmlichen Familie indischer Einwanderer, die an der Rezeption eines Touristenhotels arbeitet. Sie verliebt sich in den Juniorchef, der aus einer reichen Familie stammt und die zudem einer höher gestellten Kaste angehört. Appanah greift das stereotype Bild von Mauritius, das außerhalb der Region vorherrscht, in dem Titel des Romans auf. In der Erzählung der Protagonistin spielt das Hotel jedoch nur eine geringe Rolle, denn es ist Arbeitsort, Sinnbild für eine den Einheimischen fremde Welt. Die sechzehnjährige Protagonistin Maya verleiht dem Alltag in Mauritius ein Gesicht, indem ihre täglichen Sorgen und Freuden in den Mittelpunkt gerückt werden. Über sie erfährt man von der Geschichte der Vertragsarbeiter, die als Ersatz für die Sklaven nach der Abschaffung der Sklaverei ins Land kamen, von den Konflikten zwischen unterschiedlichen Kastenangehörigen, ebenso wie zwischen verschiedenen kulturellen und ethnischen Gruppen trotz des idealisierten Bildes einer multikulturellen Gesellschaft. Vor allem der Alltag der Inselbewohner neben den Hotels aus Hochglanzkatalogen wird sichtbar. Appanahs Roman erfüllt somit eine Mittlerfunktion zwischen Mauritius und den Leser_innen, was durch eine klare und eindringliche Sprache noch gefördert wird. Der letzte Bruder greift eine weitgehend unbekannte und tragische Episode aus dem Zweiten Weltkrieg auf, als 1500 Juden auf der Flucht aus
36 Blue Bay Palace wurde 2006 auf Deutsch unter demselben Titel herausgebracht. Le dernier frère erschien mit dem Titel Der letzte Bruder 2012 auf Deutsch.
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Deutschland an der Küste Palästinas abgewiesen wurden und dann in Mauritius Zuflucht fanden. Beide Länder waren britische Kolonien in jener Zeit. Der Vater des kleinen Raj ist Gefängniswärter, so dass Raj die Bekanntschaft des gleichaltrigen David macht. Die beiden werden Freunde und fliehen: David vor der Deportation und Raj vor dem gewalttätigen Vater. Auch für diesen Roman, der in mehrere Sprachen übersetzt wurde, wird das Interesse einer potenziellen Leserschaft an der Erinnerungsarbeit für eine vergessene Geschichte aus der geteilten Historie des Zweiten Weltkrieges vorausgesetzt. Raharimanana bemüht sich ebenfalls um eine Geschichtsschreibung aus der Sicht der Vergessenen und Unterdrückten, aber er beschränkt sich dabei in erster Linie auf die Kolonialgeschichte Frankreichs. Die Parallelen zu anderen Kolonialgeschichten ließen sich durchaus herstellen und würden damit zu einer europäischen Kolonialgeschichte und zu einem fundierten Wissen über das historisch gewachsene und bedingte Verhältnis zwischen Europa und Afrika beitragen. Auch ist Raharimananas intensive Arbeit an der Findung einer poetischen Sprache, die die Erinnerung affektiv vermitteln könnte, eine beachtliche literarische Leistung, die in einer literarischen Gemeinschaft Anerkennung finden könnte, die aber zugleich Übersetzungen erschwert und damit einer weltweiten Verbreitung eher entgegensteht. An diesen beiden Beispielen zeigt sich, dass die littérature-monde in ihrer Teilhabe an Welt-Literaturen auch an publikumsrelevanten Themen gemessen wird, ebenso wie an einer Sprache, die in fremde Sprachen übertragbar ist. Appanah schlägt mit ihrem vorläufig letzten Roman, Tropique de violence (2016), einen etwas anderen Weg ein. Erneut beschäftigt sie sich mit einem zentralen Thema wie der Migration. Eine französische Krankenschwester folgt ihrem Mann nach Mayotte zum Aufbau eines gemeinsamen Lebens. Als sich herausstellt, dass sie keine Kinder bekommen kann, verlässt er sie. Sie adoptiert den Sohn einer illegalen Einwanderin und findet darin ihr ganzes Glück. Auf Mayotte, dem jüngsten Überseedepartments Frankreichs, kreuzen sich damit die Wege der europäischen Reisenden und der illegalen Einwanderer auf der Suche nach politischem und ökonomischem Wohlergehen. Der Text ist aus verschiedenen Perspektiven erzählt: die verstorbene Frau, der verwaiste Jugendliche, der sich einer Straßengang anschließt, einen Mord begeht und aus der Gefängniszelle heraus sich erinnert, sowie die Wegbegleiter dieser beiden Hauptfiguren, so dass ein facet-
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tenreiches Bild von dem Alltag auf der Insel entsteht. Appanah spricht damit nicht von Mauritius, ihrer Heimat, auch nicht von Frankreich, sondern verlagert den Fokus auf Mayotte, sozusagen Europa in der Peripherie, das zugleich die tragische Migration im Mittelmeer zwischen Europa und Afrika widerspiegelt und damit ein hoch politisches und aktuelles Thema der Weltpolitik ins Zentrum ihres Romans rückt. Anhand dieser beiden Autoren und ihrer Werke wird offensichtlich, dass sich die Diskussion der frankofonen Literaturen komplex gestaltet, da historische und sozio-politische Entwicklungen in vielfacher Verschränkung in diese transnationalen Felder hineinspielen, so dass weit mehr als nur literarische Felder über nationale Grenzen hinweg betrachtet werden müssten. Dominique Ranaivoson hat bei einem der ersten internationalen Kongresse zur littérature-monde 2009 in Algier Ansätze vorgeschlagen, die nach wie vor Orientierungspunkte bei diesen Überlegungen bieten könnten. Sie spricht dabei von drei Typen von Territorien: »[…] celui de l’écrivain dont le rapport au monde est forgé par l’imaginaire d’un lieu, par les déplacements et les brassages induits auxquels il est soumis, celui auquel le texte fait plus ou moins ouvertement référence et qui prend à la réalité pour devenir une représentation illusoire de l’écrivain, enfin le territoire constitué de la littérature francophone ou de l’écriture. La répartition entre l’ici et l’ailleurs se trouve considérablement modifiée selon les perspectives dans lesquelles lecteur et auteur se placent.«37
Um eine littérature-monde zu fassen, müsste die Intensität der Relationalität zwischen Autor_in, Ort und Sprache berücksichtigt werden. Diese Aspekte sind verschränkt mit der Schaffung von Räumlichkeit und Weltlichkeit im Text über die Vorstellungskraft (Imagination), Bewegungsverläufe und Repräsentationsmechanismen. Der Text entsteht in diesem Geflecht von Perspektiven und Positionen, das wiederum das Verhältnis und den Beitrag zu einer littérature-monde erschließen ließe. Alle Beispiele sind auch der Gegenwartsliteratur zuzurechnen und zeigen damit auf, dass die Brücke zwischen Gegenwartsliteratur und Weltliteratur nur geschlagen werden kann, wenn Gegenwartsliteratur mit geringer zeitlicher Distanz in
37 Dominique Ranaivoson: »Une Francophonie sans territoire est-elle libre de circulation?«, in: Littérature-Monde (2010), S. 59-71, hier S. 69f.
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andere Sprachen übersetzt würde und damit zu einem transnationalen und translatorischen Austauschprozess beitragen kann.
AUSBLICK : W ELTLITERATUR – RELATIONALE TRANSLATIONALE P ERSPEKTIVEN
UND
Ein wiederkehrendes Moment in den zuvor erörterten Betrachtungen zu ›Weltliteratur‹ ist, dass Intertextualität – ausgehend von Glissant – Übersetzungen und ein Nachdenken über die Wahrnehmung des jeweils Anderen, über das Verhältnis von ›hier‹ und ›dort‹, von einem ›Ich‹ und einem ›Anderen‹ grundlegend sind in der Konzeptualisierung einer Weltliteratur und einer littérature-monde. Ein möglicher Ausweg aus binären Strukturen führt dabei über das ›Verbindende‹. Neue Impulse in dieser Debatte um littérature-monde kommen unter anderem aus einer neuen Initiative, die von einer Gruppe von Schriftsteller_innen und Kritiker_innen unter der Leitung des kamerunischen und an der Witswatersrand Universität in Johannesburg lehrenden Philosophen Achille Mbembe gegründet wurde. Die sogenannten Ateliers de la Pensée fanden zum ersten Mal im Oktober 2016 in Dakar und St. Louis (Senegal) statt. Aus diesen ersten Arbeitsgesprächen ist eine Publikation hervorgegangen, die sich nicht nur mit der Frage nach der Zukunft Afrikas und der Rolle der Intellektuellen beschäftigt, sondern auch mit den Literaturen als einem Ort des Dialogs und der Schaffung von imaginären Zukünften. Interessanterweise trägt dieser von Mbembe und Felwine Sarr herausgegebene Band den Titel Écrire L’Afrique-Monde Aujourd’hui.38 Auch die Autor_innen dieses Sammelbandes beziehen sich damit auf Glissant und fragen sich, wie Afrika teilhaben und beitragen kann an bzw. zu einer Weltgemeinschaft. Parallel hierzu veröffentlichte Mabanckou die Ergebnisse einer von ihm am Collège de France initiierten Vortragsreihe in einem Band mit dem Titel Penser et Écrire L’Afrique Aujourd’hui. Darin hat der senegalesische Philosoph Souleymane Bachir Diagne, Professor an der Columbia University, einen Beitrag mit dem Titel »Penser de langue à langue« veröffentlicht, in dem er sich wiederum auf Glissants häufig zitierte Aussage bezieht, dass er »immer in der Präsenz aller Sprachen der Welt
38 Achille Mbembe/Felwine Sarr (Hg.): Écrire l’Afrique-Monde Aujourd’hui, Dakar: Jimsaan/Philippe Rey 2017.
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schreibe«.39 Ausgehend von dieser Aussage unterstreicht Diagne, dass Tout-monde für Glissant das Bewusstsein bedeute, dass die Sprache, in der er schreibe, immer nur eine Möglichkeit unter unzähligen sei, und er damit auch die Konzepte nutze, die die jeweilige Sprache ihm zur Verfügung stelle. Damit ließe sich für Diagne die im Titel des Sammelbandes angemahnte Aufforderung Penser l’Afrique auch nur mithilfe von Übersetzungen von einer Sprache und einer Kultur in eine andere denken. Dieser Ansatz ist im Hinblick auf die Frage nach einer Weltliteratur von Bedeutung, da die Übersetzung in andere Sprachen bzw. die Translation einer imaginierten Welt in eine andere über das Repertoire einer Sprache und ihrer kulturellen und historischen Bedingtheit erfolge. Weltliteratur, oder Literaturen, die über Welt für Leser_innen in der Welt schreiben, sind vernetzt und übersetzt, relational und translational. Relational verweist dabei auch immer wieder auf die Konzepte, die Glissant unter anderem in seiner Poétique de la Relation entwickelt hat, in der er den Moment der Verbindung als zentral für das Verständnis von Kulturen fokussiert. Ottmar Ette stellte einen Ansatz für »TransArea Studien« als eine literarische Globalisierungsgeschichte vor. Dabei legte er den Fokus auf Bewegungen, die Räume und Verbindungen oder Brüche erst konstituieren40 und beschreibt die neue Ausrichtung dieses Ansatzes im Vergleich zu komparatistischen Fragestellungen wie folgt: »Wollte man – gewiß stark konturierend – eine transareale Literaturwissenschaft im Verbund verschiedenster Disziplinen der TransArea Studies von traditionellen komparatistischen Ansätzen unterscheiden, so ließe sich formulieren, daß die letztgenannten die Politiken, Gesellschaften, Ökonomien oder symbolischen Produktionen verschiedener Länder statisch miteinander vergleichen und gleichsam gegeneinander halten, während eine transareale Wissenschaft pointierter auf die Mobilität, den Austausch und die wechselseitig transformatorischen Prozesse hin ausgerichtet ist. Transarealen Studien geht es weniger um Räume als um Wege, weniger um Grenz-
39 Souleymane Bachir Diagne: »Penser de langue à langue«, in: Alain Mabanckou (Hg.), Penser et écrire l’Afrique aujourd’hui, Paris: Seuil 2017, S. 72-80, hier S. 78 (Übersetzung U.F.). 40 Ottmar Ette: TRANSAREA. Eine literarische Globalisierungsgeschichte, Berlin: De Gruyter 2012, S. 29.
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ziehungen als um Grenzverschiebungen, weniger um Territorien als um Relationen und Kommunikationen«.41
Was bei Ranaivoson in einer Einzelstudie angelegt war, um sich der Positionierung eines Textes in dem Geflecht einer littérature-monde anzunähern, hat Ette zu einer neuen Herangehensweise entwickelt, die Einzelanalysen ebenso wie die Analyse von literarischen Feldern erlaubt. Hier könnte man auch auf die Überlegungen von Doris Bachmann-Medick verweisen, denn ihre Beiträge zu einer translationalen Perspektive in den trans/nationalen Kulturwissenschaften zielen auf eine Metaebene ab, die die Vermittlung solcher Ausdrucksformen in Institutionen und Strukturen mitdenkt und »translational« als rezente Kategorie einbringt, die es ermöglichen soll, binäre Strukturen, die häufig auch Machtverhältnisse verstetigen, zu überwinden.42 Für sie ist Translation stets auch ein Prozess der Mediation, »complex forms of mediations«.43 In Bezug auf Lydia Lee hebt sie insbesondere die Frage nach der Übersetzbarkeit in solchen multidirektionalen Geflechten hervor: »the dichotomy between original and translation in this perspective has long since ceased to be productive. Instead, a horizon unfolds on which translatability itself is, or has to be, created in the first place.«44 Literatur hinterfragt die Übersetzbarkeit und Bedeutungszuweisungen in verschiedenen Kontexten und macht dabei Mediationsprozesse sicht- und begreifbar, was auch bei Ranaivoson und bei Ette anklang. Die Frage nach der Bedeutung von littérature-monde im Vergleich etwa zu World Literature oder Weltliteratur wäre dann Teil eines solchen Mediationsprozesses, in dem die Frage der Übersetzbarkeit von Sprache und Kategorien gestellt und die Bewegungsläufe, seine Wandlungen, Verschiebungen nachvollzogen würde. Im Sinne von Bachmann-Medick sind alle drei Kategorien »vehicle
41 Ebd., S. 47. 42 Siehe Doris Bachmann-Medick: »The Trans/National Study of Culture. A Translational Perspective«, in: dies. (Hg.), The Trans/National Study of Culture. A Translational Perspective, Berlin: De Gruyter 2014, S. 1-22. 43 Ebd., S. 15. 44 Ebd.
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of concepts«,45 die als Transport- und Bewegungsmedium befragt werden sollten. Littérature-monde fordert ihren Platz in der Weltliteratur und in der Gegenwartsliteratur im Sinne des eingangs zitierten Ruffel, nämlich einer Literatur der Teilhabe an einem Zeit- und Raumkontinuum, der sich über translatorische Prozesse konstituiert.
45 Ebd.
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Die Welt und die Regionen in der britischen Gegenwartsliteratur R ALF S CHNEIDER
1. E INLEITUNG : D IE WELTWEITE W IRKUNG ENGLISCHER L ITERATUR – ENGLISCHE W ELTLITERATUR ? Trotz des Erfolgs des Begriffs und Gegenstands ›Weltliteratur‹ seit Mitte der 1990er Jahre widmet sich die mit Großbritannien befasste Anglistik dem Phänomen erst seit ca. zehn Jahren und dabei durchaus auf ambivalente Weise.1 Bis in die 1980er Jahre hinein hat das Adjektiv English die Selbstwahrnehmung des Literaturbetriebs Großbritanniens und des Commonwealth sowie der englischen Literaturwissenschaft dominiert. In der Literaturkritik und Literaturwissenschaft besteht nun die Ambivalenz darin, dass das Konzept World Literature zwar einerseits die in dieser Dominanz implizierte euro- bzw. anglozentrische Sichtweise zu überwinden versprach. Andererseits kann aber kritisiert werden, dass bereits das Konzept von ›Welt‹, das dem Begriff Weltliteratur zugrunde liegt, keineswegs die Vielfalt der Welt einfange, sondern wiederum eurozentrisch gedacht und vorrangig dem Globalisierungsgedanken der modernen westlichen Kon-
1
Eine frühe Ausnahme ist der Sammelband von Bruce King, der allerdings nicht den Verflechtungen der englischsprachigen Literaturen nachgeht, sondern die verschiedenen Regionen getrennt betrachtet: vgl. Bruce King (Hg.): Literatures of the World in English, London: Routledge & Kegan Paul 1974.
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sumgüterökonomie geschuldet sei.2 In der englischen Literatur selbst ist in der Gegenwart eine Ambivalenz zwischen globaler und regionaler Orientierung zu verzeichnen. Wie ich im Folgenden näher zeigen möchte, wurzelt diese Ambivalenz tief in der Geschichte, da trotz der Dominanz Englands als Namensgeber und wichtigster Distributionsort für Literatur in englischer Sprache der Weltaspekt in der ›Englischen‹ Literatur immer schon sehr deutlich präsent war.3 Die Gegenwartsliteratur und ihre Verbindungen zur ›Welt‹ können ohne einen Blick in die Geschichte nicht verstanden werden. In Deutschland und in deutscher Sprache veröffentlichte Beiträge zur Literaturwissenschaft werden im anglo-amerikanischen Raum praktisch nicht zur Kenntnis genommen. Wichtige Arbeiten zum Phänomen Weltliteratur, die insbesondere von der US-amerikanischen Literaturwissenschaft überhaupt rezipiert wurden, weil sie bereits auf Englisch geschrieben oder ins Englische übersetzt erschienen, stammen zudem nicht von Vertretern der British Studies, sondern eher der Allgemeinen und Vergleichenden Li-
2
Vgl. Birgit Neumann/Gabriele Rippl (Hg.): »Anglophone World Literatures: Introduction«, in: Anglophone World Literatures, Sonderheft Anglia 135/1 (2017), S. 1-20.
3
Die korrekte Bezeichnung anglistischer literaturwissenschaftlicher Forschung und Lehre ist schon ohne das Feld der ›neueren‹ oder anglofonen Literaturen ein komplexes Problem von Ein- und Ausschlüssen: Eigentlich sollte von ›britischer und irischer Literatur‹ die Rede sein, da ›britische Literatur‹ nur Nordirland einschließt, nicht die restliche Literaturproduktion Irlands; das inzwischen am weitesten verbreitete Adjektiv ›britisch‹, das zumindest Wales, Schottland und Nordirland mit einbezieht, lässt das Problem der Zugehörigkeit irischer Literatur auf Englisch unbenannt und verleibt es dem Gegenstand zumeist einfach ein; siehe dazu auch die Diskussion unter Literaten und Kritikern, die Lars Ole Sauerberg referiert: Intercultural Voices in Contemporary British Literature: The Implosion of Empire, Houndmills: Palgrave Macmillan 2001, S. 18-29. Im Folgenden werde ich diese inzwischen gebräuchliche Verwendung der Bezeichnung ›britische Literatur‹ beibehalten und mit der Großschreibung ›Englische Literatur‹ (bzw. English Literature) andeuten, dass es sich um das im akademischen Betrieb etablierte Fach handelt. Wenn ohne weitere Zusätze von ›englischer Literatur‹ gesprochen wird, ist damit die Sprache der Ersterscheinung von Texten gemeint. Ist die Beobachtung von Bedeutung, dass Literatur in England verfasst wurde, wird dies ebenfalls deutlich gemacht.
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teraturwissenschaft (AVL), wie jene von Franco Moretti,4 Pascale Casanova5 oder dem führenden Vertreter dieses Feldes im anglo-amerikanischen Raum, David Damrosch.6 Es dauerte bis 2006, bis die – ebenfalls komparatistisch ausgerichtete – britische Zeitschrift Critical Comparative Studies erstmals einen Sonderband zu Comparative Literature and World Literature veröffentlichte. James F. English widmete in einem im selben Jahr erschienenen exzellenten Handbuch zum zeitgenössischen Roman der Positionierung britischer Literatur in einem »world literary space« einigen Raum,7 und die Beiträge des Bandes folgen insgesamt der These, dass ab den späten 1970er Jahren eine Globalisierung der Englischen Literatur zu verzeichnen sei.8 Im Frühjahr 2017 erschien ein Sonderheft der deutschen anglistischen Zeitschrift Anglia zum Thema Anglophone World Literatures,9 das schon mit der Verwendung des Plurals andeutet, dass es eine Neukonzeption des Gegenstands Weltliteratur anstrebt, die den inhärenten Eurozentrismus des bis dahin etablierten Begriffs überwinden soll. Es mag an den Ursprüngen des Terminus in der Goethezeit und Goethes eigenen Aussagen dazu liegen, dass sich vor allem die Germanistik und die stärker mit der Germanistik als einer anderen Nationalphilologie verbundene AVL mit dem Konzept Weltliteratur auseinandergesetzt haben. 10 Die re-
4
Vgl. Franco Moretti: »Conjectures on World Literature«, in: New Left Review 1 (2000), S. 54-68; vgl. ders.: Distant Reading, London: Verso 2013.
5
Vgl. Pascale Casanova: The World Republic of Letters, übers. von Malcolm B. DeBevoise, Cambridge: Cambridge University Press 2005.
6
Vgl. David Damrosch: What Is World Literature?, Princeton: Princeton University Press 2003; vgl. dazu auch Berthold Schoene: »Weltliteratur und kosmopolitische Literatur« in: Gabriele Rippl/Simone Winko (Hg.), Handbuch Kanon und Wertung: Theorien, Instanzen, Geschichte, Stuttgart/Weimar: Metzler 2013, S. 356-363.
7
Vgl. James F. English: »Introduction: British Fiction in a Global Frame«, in: ders. (Hg.), A Concise Companion to Contemporary British Fiction, Malden: Blackwell 2006, S. 1-15.
8
Vgl. ders.: A Concise Companion to Contemporary British Fiction (2006).
9
Vgl. Neumann/Rippl: Anglophone World Literatures (2017).
10 Zur Entwicklung der recht unterschiedlichen Konzepte von Weltliteratur und zur Kritik an diesen Konzepten aus Sicht der Anglofonie siehe die Zusammenfassung von Neumann/Rippl: »Anglophone World Literatures: Introduction«, S. 4-
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lative Zurückhaltung der English bzw. British Literary Studies in diesem Feld ist aber auch auf die weltweite Verbreitung des Englischen als lingua franca literarischer Produktion zurückzuführen. Diese basiert auf der über 300-jährigen Kolonialgeschichte der Briten, die auch zur Folge hatte, dass weltweit in den Bildungssystemen vieler Länder englische Literatur als Pflichtlektüre etabliert wurde. Globalisiert – im Sinne einer Vernetzung Großbritanniens mit der Welt – war die englische Literatur also weit vor der ökonomisch und politisch gedachten, kommunikationstechnologisch beschleunigten und auch kulturell wirksamen Globalisierung des späten 20. Jahrhunderts.11 Den Literaturen, die in den englischsprachigen Ländern der Welt (außer Nordamerika) im Kontext kolonialer und postkolonialer Verflechtungen entstanden sind, haben sich seit etwa den späten 1970er Jahren vorrangig die Postcolonial Studies gewidmet. Diese haben mit ihrer Kritik an der Fokussierung von Terminologie und Gegenstand auf eine – nämlich die ›englische‹ – Nationalliteratur inzwischen für eine erhebliche Erweiterung des Gegenstandes anglistischer Literaturwissenschaft gesorgt, so dass neben der Englischen Literatur von New English Literatures oder Anglophone Literatures die Rede ist. Eine Folge davon ist einerseits eine gewisse Verunsicherung: »it has become more difficult to assert with confidence that we know what Literature in English is.«12 Andererseits ist aber unbestreitbar, dass für viele anglofone Länder der Begriff English Literature über sehr lange Zeit und mindestens bis in die 1980er Jahre das Synonym für Literatur allgemein war. Die jüngere Weiterentwicklung postkolonialer Perspektiven ist aber in der Hinwendung zu Konzeptionen einer ›transkulturellen‹ Weltliteratur zu sehen; nachdem in den frühen Postcolonial Studies die Dichotomie von Zentrum (England) und Peripherie (Common-
9; vgl. auch den Überblick von Theo D’haen: The Routledge Concise History of World Literature, London/New York: Routledge 2012. 11 Zur komplexen und nicht unproblematischen Definition des Globalisierungsbegriffs hat Angelika Epple einen hilfreichen Überblick vorgelegt: Angelika Epple: »Globalisierung/en. Version: 1.0«, in: Docupedia-Zeitgeschichte vom 11.06.2012, online unter: http://docupedia.de/zg/Epple_globalisierung_v1_de_ 2012 (Stand: 19.01.2019). 12 Rebecca L. Walkowitz: »The Location of Culture: The Transnational Book and the Migrant Writer«, in: Contemporary Literature 4 (2006), S. 527-545, hier S. 529.
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wealth) noch sehr präsent war, versuchen die neueren Begriffe, diesen Binarismus zu überwinden.13 Die relativ lange Nichtbeachtung des Begriffs ›Weltliteratur‹ speziell in Großbritannien mag einer kritikwürdigen Insularität entspringen. Diese speist sich wohl nicht zuletzt daraus, dass die britische Literatur mit zahlreichen Vertreterinnen und Vertretern aufwarten kann, die über die Grenze des eigenen Kulturraums hinaus wirkten und wirken. Im Definitionsspektrum des vielschichtigen Terminus ›Weltliteratur‹ ist der Aspekt verankert, dass ein Text einem etablierten Kanon von Klassikern angehört oder einem sich noch etablierenden Kanon von Texten, die als ›Meisterwerke‹ betrachtet werden.14 Ersteres trifft für die englische Literatur in vielen Fällen zu. So dürfte William Shakespeare nach wie vor der meistaufgeführte Dramatiker weltweit sein15 und einem internationalen, zumindest aber ›westlichen
13 Vgl. Frank Schulze-Engler: »Theoretical Perspectives: From Postcolonial to Transcultural World Literature«, in: Lars Eckstein (Hg.), English Literatures Across the Globe: A Companion, Paderborn: Fink 2007, S. 20-32; vgl. Bruce King: From New National to World Literature: Essays and Reviews, Stuttgart: ibidem 2016. 14 Vgl. Damrosch: What Is World Literature?. Zur wechselvollen Geschichte des Begriffs siehe außerdem die in David Damrosch (Hg.): World Literature in Theory, Chichester: Wiley Blackwell 2014, abgedruckten Positionen sowie den Überblick in D’haen: The Routledge Concise History of World Literature, S. 526. D’haen zeigt auch, wie in den USA Weltliteratur eher Gegenstand der literarischen (Aus-)Bildung war, wohingegen sie in Europa eher die Forschung beschäftigt hat. Eine dezidiert kritische Analyse des Begriffs und seiner Handhabung seit seiner eher programmatisch gemeinten Formulierung in der Goethezeit bietet Schoene, dem besonders an der Dekonstruktion der amerikanischen Hegemonie bei der Definition eines weltliterarischen Kanons gelegen ist: vgl. »Weltliteratur und kosmopolitische Literatur«. Die wohl prominenteste kritische Stimme gegen die Homogenisierungstendenz des Weltliteraturkonzepts ist Emily Apter: Against World Literature: On the Politics of Untranslatability, London/New York: Verso 2013. 15 Vgl. Günther Erken: »Das Werk auf der Bühne«, in: Ina Schabert (Hg.), Shakespeare-Handbuch: Die Zeit – Der Mensch – Das Werk – Die Nachwelt, Stuttgart: Kröner 2000, S. 706-764.
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Kanon‹16 angehören – wenn man denn die Begrifflichkeiten ›westlich‹ und ›Kanon‹ überhaupt verwenden will.17 Die große Popularität der Romane Jane Austens, die nicht zuletzt durch ihre Verfilmungen von Hollywood bis Bollywood immer wieder auch neue Leserschaften in aller Welt erschließen, sind ein weiteres Beispiel für eine transnational wirksame britische Literatur. Zu den im englischen Original oder in Übersetzung weit über ihren ursprünglichen Produktionskontext hinaus rezipierten und auch von der Literaturkritik hochgeschätzten Texten aus der späteren britischen Literaturgeschichte zählen ebenfalls Werke von Autorinnen und Autoren des Modernismus, wie Virginia Woolf und James Joyce, oder die der Literaturnobelpreisträger George Bernard Shaw, Rudyard Kipling und Samuel Beckett, sowie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts von William Golding oder Salman Rushdie. Noch in der Gegenwart gehören zahlreiche Autorinnen und Autoren, die dem britischen Literaturbetrieb zuzuordnen sind, zu den international gelesenen Schriftstellern. Darunter sind der bereits genannte Salman Rushdie und Literaturnobelpreisträger jüngerer Zeit wie Seamus Heaney, V.S. Naipaul und Harold Pinter. Aktuell genießen Romanciers wie Julian Barnes, Ian McEwan und Zadie Smith weit über das Vereinigte Königreich hinaus Ansehen. Es verwundert daher nicht, dass auch eine deutschsprachige Annäherung an das Phänomen Weltliteratur einen deutlichen Schwerpunkt auf Autorinnen und Autoren der anglofonen Literatur setzt.18 Dass englische Literatur auf diese Weise ›in der Welt‹ war und ist, wird von der Anglistik also gewissermaßen als selbstverständlich betrachtet und wurde lange Zeit nicht mit einem eigenen Literaturbegriff kategorisiert.
16 Vgl. Harold Bloom: The Western Canon: The Books and School of the Ages, New York: Harcourt Brace 1994. 17 13 der 26 von Bloom in seinen idiosynkratischen, von Dante bis Samuel Beckett reichenden Kanon erhobenen Autorinnen und Autoren sind englischsprachig, darunter nur zwei Amerikaner (Walt Whitman und Emily Dickinson) – Bloom stellt also eine deutliche Dominanz englischer bzw. britischer Literatur her. Zur historischen Entwicklung der Kanones der Literatur Großbritanniens vgl. auch Ralf Schneider: »Kanongeschichten: Großbritannien«, in: Rippl/Winko, Handbuch Kanon und Wertung (2013), S. 289-296. 18 Vgl. Sigrid Löffler: Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler, München: C.H. Beck 2013.
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Eine weitere Perspektive auf den Status englischer Literatur als Weltliteratur lässt sich aus literaturhistorischer Sicht einnehmen: Einige im britischen Kulturraum entstandene Werke haben auch in anderen Nationalliteraturen gattungsbildend gewirkt. Dies gilt für Thomas Mores Utopia (lat. Original 1516, engl. 1551) ebenso wie für Daniel Defoes Robinson Crusoe (1719) oder Jonathan Swifts Gullivers Travels (1726); sie exemplifizieren die Spannung, die in ›weltliterarischen‹ Texten zwischen einer dezidiert auf konkrete nationale oder regionale – hier auf englische oder britische – historische Kontexte bezogenen Thematik einerseits und übernationalen sowie überzeitlichen Bedeutungsoptionen andererseits herrscht. Interessanterweise (weil dem qualitativen Aspekt des Weltliteraturbegriffs widersprechend, der den Kanon der ›Hochliteratur‹ favorisiert) ist dies auch auf dem Sektor der populären Schauer- und Detektivliteratur zu beobachten: Mary Shelleys Roman Frankenstein (1818), der zwar mehr ist als ein Schauerroman, wurde durch seine transnationale Rezeptions- und Adaptionsgeschichte in genau diesem Segment verortet; Robert Louis Stevensons The Strange Case of Dr Jekyll & Mr Hyde (1886) oder Bram Stokers Dracula (1897) sind ebenfalls Beispiele für solche übernationalen und bis heute wirksamen ›populären Klassiker‹, zu denen auch Arthur Conan Doyles Geschichten über Sherlock Holmes und Agatha Christies Detektivromane zählen.
2. D IE W ELTHALTIGKEIT UND DIE G EGENWART
DER ENGLISCHEN
L ITERATUR
Neben der Präsenz englischer bzw. britischer Autorinnen und Autoren und ihrer Werke in der Welt ist die Frage, welche Rolle die Welt in der englischen Literatur spielt, eine Möglichkeit, den Weltliteraturbegriff aus anglistischer Sicht zu beleuchten. Weltliteratur öffnet »Windows on the World«,19 bezieht sich also auf Personen, Orte und Geschehnisse anderer Länder. Was man somit als die ›Welthaltigkeit‹ der Literatur bezeichnen
19 Die Formulierung ist Teil der Begriffsbestimmung von Weltliteratur bei Damrosch (vgl. Damrosch: What Is World Literature?, S. 15).
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kann,20 geht im Fall der britischen Literatur natürlich auf die Jahrhunderte währende Verarbeitung von Erfahrungen Großbritanniens mit anderen Regionen der Welt zurück – vom Handel (einschließlich des Sklavenhandels, der in der Gegenwartsliteratur wieder eine große Rolle spielt; s.u.) über Entdeckung, Okkupation und Missionierung bis hin zu Tourismus und Arbeitsmigration – die auf sehr unterschiedliche Weisen literarisch gewirkt haben. Man müsste sehr weit in der Geschichte zurückgehen, wollte man die Relevanz der Welt außerhalb der britischen Inseln in der britischen Literatur vollständig überblicken: Das altenglische Heldenepos Beowulf – mithin der Beginn der (nachträglich) niedergeschriebenen (alt-)englischen Literatur – erzählt ja nicht von englischen, sondern von skandinavischen Völkern; die Artuslegenden (mit der Bearbeitung durch Thomas Malory in Le Morte Darthur aus dem 15. Jahrhundert als prominentestem Beispiel) spielen in Britannien und Frankreich und begleiten Arthur auch auf einem Feldzug nach Rom; auf den Bühnen der Frühen Neuzeit treten zahlreiche Mauren und (Nord-)Afrikaner auf, und zu den Schauplätzen der Dramen Shakespeares gehören viele exotisch imaginierte Orte der damals bekannten Welt, die von Städten der Antike (Rom, Athen, Troja, Alexandria, Ephesus und Tyrus und weitere Orte am östlichen Mittelmeer) bis zum zeitgenössischen Italien reichen (Verona, Venedig, Padua, Mantua, Messina, Sizilien); wichtige ausgedehnte Prosaerzählungen der Frühen Neuzeit, die als Vorläufer des englischen Romans gelten können, spielen z.B. in antiken Städten wie Athen (John Lylys Euphues, 1578) oder in fernab gelegenen Regionen Afrikas und Südamerikas (Aphra Behns Oroonoko, 1688); viele der Handelsleute, die im langen 18. Jahrhundert in Komödien, Rührstücken und Romanen eine Rolle spielen, gründen ihre Existenz auf dem Kolonialhandel, einschließlich des Sklavenhandels (Robinson Crusoe ist ein prominentes Beispiel), und einige von ihnen betreten in den Texten die Schauplätze auf den Britischen Inseln vor oder nach einer Reise in die Karibik, nach Afrika oder Indien, usw. Bereits eine solche, ganz oberflächliche Skizze deutet an, wie komplex die Frage nach dem Aufscheinen der Welt in der Literatur Großbritanniens in ihrer historischen Tiefendimension ist, auf der die Situation der Gegenwartsliteratur aufruht. In der Reiseliteratur der Frü-
20 Vgl. Alexander Honold: »Literatur in der Globalisierung – Globalisierung in der Literatur«, online unter: http://www.germanistik.ch/publikation.php?id= Literatur_in_der_Globalisierung (Stand: 19.01.2019).
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hen Neuzeit lassen sich die Darstellungen der Welt teils als imaginative Projektionen, teils als auf tatsächlichen Reise-Erfahrungen beruhende, diese aber oft fantastisch ausschmückende Beschreibungen identifizieren. 21 In der Gegenwart sind persönliche, meist familiäre Vernetzungen britischer Autoren mit anderen Regionen der Welt der Regelfall, wie unten noch dargelegt wird. Lenkt man den Blick nun auf die Literatur der Gegenwart, stößt man auf das Problem, dass die Anglistik sich mit dem Begriff der Gegenwartsliteratur mindestens so schwer tut wie die Germanistik:22 Die Festsetzung der noch als Gegenwart empfundenen Phase auf die jeweils letzten ca. 30 Jahre (aufgrund eines lebenden Generationengedächtnisses) mag sich wegen der hohen Praktikabilität anbieten, führt aber zu willkürlichen Ausschlüssen von weiterhin wirkmächtigen historischen oder literarischen Ereignissen, die das mitwandernde Zeitfenster dann jeweils hinter sich lassen muss. Allerdings erschafft die Fixierung nur eines terminus post quem z.B. aus der politischen Geschichte einen immer größer werdenden Zeitraum, für den dann weder der Begriff ›Gegenwart‹ passend scheint noch die Materialmenge wirklich überschaubar wäre: Der für Deutschland als Epochenzäsur immer noch wichtige Zeitpunkt 1945, der auch zahlreichen deutschen Literaturgeschichten als Rahmen dient,23 eröffnet ja einen Bereich von über 70 Jahren. Die Literaturproduktion eines solchen Zeitraumes, mit all ihren unterschiedlichen Strömungen und Gattungen, Phasen und Entwicklungen müsste dann homogenisierend als ›Gegenwartsliteratur‹ bezeichnet werden. Auch die englische Literaturgeschichte verwendet bisweilen den Zweiten Weltkrieg als Bezugspunkt.24 Allerdings waren für die Mentalität Großbri-
21 Vgl. Barbara Korte: Der englische Reisebericht: Von der Pilgerfahrt bis zur Postmoderne, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1996. 22 Einen Überblick über Praktiken und Probleme des Umgangs mit dem Begriff Gegenwartsliteratur in der germanistischen Literaturwissenschaft gibt Kai Kauffmann: »Ohne Ende? Zur Geschichte der deutschen Gegenwartsliteratur«, in: ders./Matthias Buschmeier/Walter Erhart (Hg.), Literaturgeschichte: Theorien – Modelle – Praktiken, Berlin: De Gruyter 2014, S. 357-376. 23 Vgl. ebd. 24 So etwa die große Literaturgeschichte von Laura Marcus/Peter Nicholls: The Cambridge History of Twentieth-Century English Literature, Cambridge: Cambridge University Press 2012, die kurze Übersicht von Andrew Sanders: The
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tanniens nicht unbedingt das Kriegsende und die Konfrontation mit dem Holocaust und seiner Vorgeschichte zentral, sondern eher der Kriegsbeginn und danach die Etablierung des Wohlfahrtsstaats in den späten 1940er Jahren.25 Manche englische Literaturgeschichte kommt auch ohne dieses Struktur gebende Datum aus: In der Oxford Illustrated History of English Literature26 trägt das Kapitel zur Gegenwart den Titel Mid-Twentieth Century Literature und setzt eine Epoche von 1930 bis 1980 in Anschluss an Spätviktorianismus und Modernismus (1880-1930) an; der letzte Band der Oxford English Literary History27 erfasst die Jahre 1960 bis 2000; Nowak28 entscheidet sich gar für ein Großkapitel von 1920 bis heute. Die komplexen Wechselverhältnisse zwischen gesellschaftlichem und literarischem Wandel in Großbritannien manifestieren sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts im Kontext von (mit Deutschland einigermaßen vergleichbaren) sozio-politischen Wandlungen wie dem Protest der jungen Generation gegen das Establishment ab den späten 1950er Jahren und der sexuellen Revolution der 1960er.29 In diesen Kontexten sind in der britischen Literatur so unterschiedliche literarische Strömungen angesiedelt wie die angry young men, das absurde Drama und die neue sachliche Lyrik, ebenso wie die poststrukturalistischen Denkweisen verpflichtete erzählerische Postmoderne, aber auch das politische Theater und der zunehmend
Short Oxford History of English Literature, 3. Aufl., Oxford: Oxford University Press 2004, sowie das Standardwerk der deutschsprachigen Anglistik, HansUlrich Seeber (Hg.): Englische Literaturgeschichte, 5. aktual. Aufl., Stuttgart/Weimar: Metzler 2012. 25 Das Kapitel zum 20. Jahrhundert in dem von Paul Poplawski herausgegebenen Handbuch teilt sich folglich in die Zeiträume 1901 bis 1939 und 1939 bis 2004; vgl. English Literature in Context, Cambridge: Cambridge University Press 2008. 26 Vgl. Pat Rogers (Hg.): The Oxford Illustrated History of English Literature, Oxford: Oxford University Press 1987. 27 Vgl. Randall Stevenson: The Last of England?, Oxford: Oxford University Press 2005. 28 Vgl. Helge Nowak: Literature in Britain and Ireland: A History, Tübingen: Francke 2010. 29 Vgl. z.B. Arthur Marwick: British Society since 1945, 4. Aufl., Harmondsworth: Penguin 2003.
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feministisch ausgerichtete Frauenroman. In der politischen Geschichte und ihrer Auswirkung auf die Literatur sind im Gegensatz zur ›Wende‹ in Deutschland in Großbritannien die Thatcher-Zeit (1980er Jahre) und der Zerfall der ehemaligen Sowjetunion zwei wichtige Stationen, die literarische Verarbeitung und Kommentierung hervorbrachten: während linke Literaten im Protest gegen Thatcher aktiv wurden, zeigten sie sich vom Scheitern des sozio-ökonomischen Gegenmodells nachhaltig verstört. Parallel ist in diesem Zeitraum, insbesondere in den (späten) 1970er und den 1980er Jahren, im Literatursystem Großbritanniens aber eine Bewusstwerdung der Verflechtung von Literatur auf Englisch mit der Welt zu verzeichnen, die zu einer neuen Selbstwahrnehmung des Literaturbetriebs führte.30 Betrachtet man Institutionen, Bedingungen und Repräsentanten des gegenwärtigen britischen Literaturbetriebs, dann ist die Präsenz von Texten sowie von Autorinnen und Autoren karibischer, indischer bzw. pakistanischer und afrikanischer (insbesondere süd- und westafrikanischer) Herkunft unübersehbar. Diese Anerkennung unterschiedlicher Ethnien als Teil britischer kultureller Identität weist also auf eine zunehmend globale Sichtweise hin. Diese Entwicklung verlief aber parallel zu einer ›Verengung‹ des Blicks, denn zeitgleich geschah auch innerhalb der britischen Inseln bei den nicht-englischen Regionen des Vereinigten Königreichs, insbesondere Schottland und Wales, eine Rückbesinnung auf ihre kulturelle Eigenständigkeit. Dies äußert sich bis heute in einem neuen Selbstbewusstsein ihrer Literaturen, wie unten noch einmal kurz skizziert wird.31 Bei den folgenden Ausführungen zur fortdauernden Globalisierung der englischen Literatur ist also immer mitzudenken, dass es auch eine gegenläufige Lokalisierungstendenz gibt, die zwar weniger einflussreich sein mag, die das gegenwärtige britische Literatursystem aber doch ebenso prägt. Die Ausführungen im nächsten Abschnitt, die diese beiden Bewegungen näher beschreiben, vermeiden eine Festlegung auf einen eng definierten Begriff von Gegenwartsliteratur und versuchen, Phänomene, die in den letzten 30 Jah-
30 Vgl. Bruce King: The Internationalization of English Literature, Oxford: Oxford University Press 2004. 31 Vgl. Robert Crawford (Hg.): Devolving English Literature, Oxford: Oxford University Press 1992; vgl. Sauerberg: Intercultural Voices in Contemporary British Literature; vgl. English: »Introduction«.
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ren verstärkt zu beobachten waren, im Hinblick auf ihre Kontinuität seit den späten 1940er Jahren zu befragen.
3. D IE
ENGLISCHE G EGENWARTSLITERATUR ALS TRANSKULTURELLES UND MULTIETHNISCHES P HÄNOMEN : I NSTITUTIONEN , P ROBLEME , B EISPIELE
Die oben genannten Rushdie und Smith, ersterer im indischen Mumbai geboren, letztere Tochter einer aus Jamaika stammenden Einwanderin und eines ›weißen‹ Engländers, weisen auf eine Besonderheit des Welt-Aspekts in der englischen Literatur hin, der besonders im Vergleich mit der deutschen Gegenwartsliteratur hervortritt. Diese scheint, der Skizze von Alexander Honold zufolge,32 ihre Welthaltigkeit zu einem Großteil über die Reaktivierung der Tradition reiseliterarischen Schreibens zu gewinnen, die globale Erfahrungsräume in die Imagination deutscher Rezipientinnen und Rezipienten holt. Daneben ist etwa seit den 2000er Jahren in Deutschland eine verstärkte öffentliche und literaturwissenschaftliche Beschäftigung mit der sogenannten ›Migrantenliteratur‹ zu verzeichnen, wobei besonders die deutsch-türkische Literatur breiten Raum einnimmt. 33 Die Literatur in Großbritannien weist im Vergleich dazu bereits seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs eine dauerhafte und in den letzten 30 Jahren immer stärker werdende personale, thematische und materielle Verflechtung mit den vielen unterschiedlichen Regionen des Commonwealth of Nations auf, also den Ländern des ehemaligen Kolonialreichs, die auch nach der Unabhängigkeit vom Vereinigten Königreich oft politisch, ökonomisch und kulturell auf Großbritannien bezogen blieben. Zahlreiche Autorinnen und Autoren sind von dort nach Großbritannien eingewandert und thematisieren in ihren Werken zumeist auch ihre Migrationserfahrung und Fragen der nationalen
32 Vgl. Honold: »Literatur in der Globalisierung«. 33 Vgl. Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Literatur und Migration, München: edition text + kritik 2006; vgl. Özkan Ezli/Dorothee Kimmich/Annette Werberger (Hg.): Wider den Kulturenzwang: Migration, Kulturalisierung und Weltliteratur, Bielefeld: transcript 2009, insb. S. 177-249.
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und ethnischen Identität. Auch unter den Kindern von Einwanderern sind viele Schriftstellerinnen und Schriftsteller der Gegenwart. Sowohl ihr Bezug zur Welt außerhalb der britischen Inseln, insbesondere den Herkunftsländern der Familien, als auch ihre Einstellung gegenüber ihrem Geburtsland unterscheidet sich oft deutlich von den Einstellungen und Erfahrungen der Elterngeneration, was in Romanen häufig thematisiert wird. 34 Die karibisch-stämmigen Einwanderer und deren Kinder thematisieren zudem zu einem nicht geringen Teil die Wurzeln der Familien im Kontext der Sklaverei, die Gegenstand der eigenen Identitätsdefinition und auch Thema des literarischen Schaffens werden. Man kann heute von einer fest etablierten multiethnischen Kultur sprechen, in der die Präsenz ›der Welt‹ in englischsprachigen Texten als Charakteristikum des Lehr- und Forschungsgegenstandes English Literature gegeben ist. Gleichwohl ist Multiethnizität im Vereinigten Königreich ebenso wenig ein unproblematisches Phänomen wie anderswo: Die sozialen, politischen und kulturellen Konflikte, die aus einer nicht abgeschlossenen Kolonialgeschichte mit ihrem immer noch aktiven rassistischen Erbe entstanden sind,35 die »confusions and anxieties surrounding British national identity«,36 sind nicht von der Hand zu weisen. Allerdings hätte die in Deutschland vor wenigen Jahren auf die politische Agenda geratene Frage, ob Deutschland überhaupt ein ›Einwanderungsland‹ sei, in Großbritannien nur phasenweise und (bis zur jüngsten Breitenwirkung des Rechtspopulismus) auch nur bei extremen Parteien eine entschieden negative Reaktion provoziert; ansonsten hätten Befürworter wie Gegner der Einwanderung diese wohl als gegebenes Faktum anerkannt. Um die Tradition der Nationwerdung aus unterschiedlichen eingewanderten Ethnien zu belegen, die alle ihre Spuren in der Konstitution der Bevölkerung hinterließen, könnte man die Besetzungs- und Besiedlungsgeschichte der britischen Inseln bemühen,
34 Vgl. Barbara Korte: »Generationsbewußtsein als Element ›schwarzer‹ britischer Identitätsfiktion«, in: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 40 (1999), S. 331350. 35 Vgl. Paul Gilroy: After Empire: Melancholia or Convivial Culture?, London/New York: Routledge 2004. 36 Graham MacPhee/Prem Poddar: »Introduction: Nationalism Beyond the Nation State«, in: dies. (Hg.), Empire and After: Englishness in the Post-Colonial Perspective, New York: Berghahn Books 2007, S. 1-21, hier S. 4.
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wie einst Daniel Defoe, der mit seinem satirischen Gedicht The True-Born Englishman (1701) nationalistische Angriffe gegen den aus den Niederlanden stammenden Monarchen William III. abwehren wollte: Die indigenen Kelten wurden von Invasionen der Römer bedrängt und verdrängt; dann folgten über die Jahrhunderte Angelsachsen, Wikinger und die bereits französischen Normannen, die das Land, seine Sprache, seine Kultur und Literatur prägten, so dass nie ein Zweifel daran bestehen konnte, dass Großbritannien immer schon ein Einwanderungsland war. Von besonderem Interesse ist hier aber die postkoloniale Phase, die das heutige Vereinigte Königreich beeinflusst, d.h. die Einwanderung von Menschen mit britischem Pass aus den Ländern des Commonwealth of Nations, die einst in kolonialer Abhängigkeit zu Großbritannien standen. Allerdings ist selbst die Wahrnehmung der nicht im Vereinigten Königreich erschienenen englischsprachigen Literatur keine rein postkoloniale Errungenschaft der Literaturgeschichtsschreibung, denn bereits die zwischen 1907 und 1916 erschienene Cambridge History of English Literature verfügte über Sektionen zu anglo-irischer, anglo-indischer, kanadischer, australischer und neuseeländischer sowie südafrikanischer Literatur. 37 Die Platzierung dieser Sektionen am Ende der Reihe zeigt jedoch, dass, wenngleich das Blickfeld nicht völlig auf England eingeengt war, diese Literaturen klar in der Peripherie des Kanons verortet wurden,38 in dessen Zentrum weiterhin die Werke der Autoren (vereinzelt auch Autorinnen) des ›Mutterlandes‹ England standen. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wandelte sich dann die Wahrnehmung dieser Literaturen zunächst von Commonwealth Literature zu Postcolonial Literature39 und, nachdem die erste Generation der als Kinder von Einwanderern im Vereinigten Königreich aufgewachsenen Autorinnen und Autoren ihre britische und ›schwar-
37 Vgl. Herbert Grabes: »Literaturgeschichten, Anthologie, Editionen und universitäre Curricula im englischen Sprachraum«, in: Rippl/Winko, Handbuch Kanon und Wertung (2013), S. 172-178. 38 Vgl. Gabriele Rippl/Julia Straub: »Zentrum und Peripherie: Kanon und Macht (Gender, Race, Postcolonialism)«, in: Rippl/Winko, Handbuch Kanon und Wertung (2013), S. 110-119. 39 Vgl. Nico Israel: »Tropicalizing London: British Fiction and the Discipline of Postcolonialism«, in: English, A Concise Companion to Contemporary British Fiction (2006), S. 83-100.
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ze‹ Identität zum Thema machten, zu Black British Literature40 oder Black & Asian British Literature. Mit dem Anlegen des zum Passagierschiff umgebauten Frachters Empire Windrush begann im Hafen von Tilbury am 22. Juni 1948 die erste Einwanderungswelle nach Großbritannien der Nachkriegszeit. An Bord waren knapp 500 v.a. junge Männer aus der Karibik, von denen viele im Zweiten Weltkrieg als Soldaten der Britischen Armee aktiv gewesen waren und nun in England Arbeit suchten, auch weil die englische Regierung gezielt auf den Karibischen Inseln nach Arbeitskräften suchte. Wenngleich die darauffolgenden Jahrzehnte – wie schon die Einwanderungsgeschichte vor dem 20. Jahrhundert – von unterschiedlichen Phasen der Reglementierung und Liberalisierung von Immigration geprägt war,41 veränderte doch die Auflösung des britischen Kolonialreichs nach und nach auch das Literatursystem auf den britischen Inseln. Literarische Stimmen aus dem entstehenden Commonwealth of Nations fanden zunehmend auch im Mutterland Gehör. Ein wichtiger Schritt zur transnationalen literarischen Vernetzung war die BBC-Radiosendung Caribbean Voices, die schon während der Kriegsjahre (ab 1943) ausgestrahlt wurde:42 Autoren aus der Karibik konnten ihre Manuskripte – v.a. Kurzgeschichten und Gedichte – nach London schicken, wo sie aus Gründen linguistischer Authentizität von Sprechern karibischer Herkunft in der Sendung vorgetragen wurde. Jeweils am Sonntagabend wurde das Programm auch in die Karibik ausgestrahlt, so
40 Vgl. Kadija Sesay (Hg.): Write Black, Write British: From Post Colonial to Black British Literature, Hertford: Hansib 2005. 41 Vgl. zur Einwanderung nach Großbritannien und den Wellen der Ablehnung der Immigranten seit 1800 Panikos Panayi: An Immigration History of Britain: Multicultural Racism since 1800, Harlow: Pearson 2010; vgl. auch Laurence Brown: Immigration and the Making of Modern Britain, London: Routledge 2014, und zur jüngeren Einwanderungsgeschichte Panikos Panayi (Hg.): The Impact of Immigration: A Documentary History of the Effects and Experiences of Immigrants in Britain since 1945, Manchester: Manchester University Press 1999. 42 Vgl. Glyne Griffith: »›This is London Calling the West Indies‹: The BBC’s Caribbean Voices«, in: Bill Schwarz (Hg.), West Indian Intellectuals in Britain, Manchester/New York: Manchester University Press 2003, S. 196-208; vgl. Jan Rupp: »Caribbean Spaces and Anglophone World Literature«, in: Neumann/ Rippl, Anglophone World Literatures (2017), S. 140-158.
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dass die Literatur aus dieser Region dort nun mit dem kulturellen Kapital der wichtigsten britischen Medieninstitution sowie der Metropole London ausgestattet war. Für viele Autoren war der Kontakt zur BBC und die damit verbundene Anerkennung ein wichtiger Schritt hin zum britischen Buchmarkt und Literaturbetrieb sowie Anlass zur Übersiedelung nach England; dazu gehören Sam Selvon, Edward K. Braithwaite und die späteren Literaturnobelpreisträger V.S. Naipaul und Derek Walcott. Mit Sam Selvons The Lonely Londoners (1956) lag dann erstmals ein in Großbritannien veröffentlichter Roman vor, der sich einer (wenngleich ästhetisch geglätteten) jamaikanisch kreolisierten Variante des Englischen nicht nur für die Figurensprache, sondern auch für die Erzählerstimme bediente. Die im Titel angesprochene Einsamkeit verweist auf die frühen Erfahrungen vieler Einwanderer; das Erfahrungsspektrum war von Rassismus und Ghettoisierung geprägt und führte zu einem dominanten Gefühl von Dislokation und Nichtzugehörigkeit.43 Neben der Karibik wurden zunehmend auch andere Regionen in der Metropole wahrgenommen, wie etwa die in den 1950er Jahren aufgelegte Reihe West African Penguins und ihre Weiterführung in der African Library des wichtigsten Taschenbuchverlags, in der neben gesellschaftspolitischen Titeln gelegentlich auch afrikanische Literatur veröffentlicht wurde, oder die African Writers-Serie des Londoner Verlags Heinemann (ab 1962) zeigen. Die zunehmende Anerkennung englischsprachiger Literatur von Autorinnen und Autoren, die entweder nicht in England schreiben oder deren Herkunft außerhalb der britischen Inseln liegt, manifestiert sich auch im Booker Prize, der prestigeträchtigsten und wichtigsten Literaturauszeich-
43 Bei aller Unterschiedlichkeit der Texte kann man dies als einen Trend des britischen Migrationsromans ausmachen, der sich auch in anderen Titeln manifestiert: The Mimic Men von V.S. Naipaul (1967), The Nowhere Man von Kamala Markandaya (1972), Second-Class Citizen von Buchi Emecheta (1974), The Unbelonging von Joan Riley (1985), The Enigma of Arrival von V.S. Naipaul (1987). James Procter zeigt, wie sich die Protagonisten in den Einwanderungsromanen der Nachkriegszeit Orte schaffen, an denen sie angesichts ihrer ›Ortlosigkeit‹ leben können: vgl. James Procter: Dwelling Places: Postwar Black British Writing, Manchester/New York: Manchester University Press 2003, S. 2168.
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nung in Großbritannien.44 Diese ist wie alle Literaturpreise nicht unproblematisch, denn sie bildet zwar einerseits kulturelles Leben ab, sendet selbst aber auch kulturpolitische Signale und beeinflusst nicht zuletzt die ökonomischen Verhältnisse des Buchmarkts.45 Noch komplexer wird die Problematik dieses Literaturpreises durch seine Geschichte: Es liegt eine historische Ironie in der Tatsache, dass die Booker McConnell Company, die ab den späten 1960er Jahren diesen wichtigsten und mit £ 50.000 hochdotierten Literaturpreis sponserte, nicht nur ursprünglich überhaupt nichts mit Literatur zu tun hatte, da das Unternehmen seinen Firmennamen von den Gründern George und Richard Booker erhielt. Darüber hinaus war Booker auch ein reines Kolonialunternehmen, das ab 1843 mit der Gewinnung von Rohrzucker in Guyana reich wurde. Nach der Unabhängigkeit Guyanas suchte sich Booker u.a. mit dem Aufkaufen der Rechte an den Werken populärer Autoren ein neues Betätigungsfeld und eine neue Einkommensquelle. Bis 2013 war der Preis Autorinnen und Autoren vorbehalten, die aus Großbritannien, Irland oder dem Commonwealth stammten und einen Roman im Vereinigten Königreich veröffentlicht hatten, was wiederum die Verflechtung zwischen den anglofonen Regionen der Welt und Großbritannien als Knotenpunkt literarischer Distribution verdeutlicht. Seit 2014 sind auch US-amerikanische Autorinnen und Autoren zugelassen, sofern der Roman im Vereinigten Königreich publiziert wurde. Eine weitere Ambivalenz des Booker Prize for Fiction besteht darin, dass es gerade der historische Moment der Dekolonisierung war, der es ihm – im Vergleich mit den zahlreichen anderen bestehenden britischen Literaturauszeichnungen – ermöglichte, die Idee des Commonwealth, der ja aus
44 Seit der Investmentkonzern Man Group 2002 das Sponsoring der neu gegründeten Stiftung Booker Prize Foundation übernahm, heißt die Auszeichnung Man Booker Prize for Fiction. 45 Vgl. James F. English: The Economy of Prestige: Prizes, Awards, and the Circulation of Cultural Value, Cambridge, MA: Harvard University Press 2005; vgl. Burckhard Dücker: »Literaturpreise und -wettbewerbe im deutsch- und englischsprachigen Raum«, in: Rippl/Winko, Handbuch Kanon und Wertung (2013), S. 215-221; vgl. Anna Auguscik: »Sharing Strains: The Booker Prize and the Institution of Literary Prizes«, in: Barbara Schaff/Johannes Schlegel/Carola Surkamp (Hg.), The Institution of English Literature: Formation and Mediation, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2016, S. 311-330.
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einem schwer belasteten imperialistischen Erbe hervorgegangen war, mit positiven Assoziationen zu versorgen, wie Stephen M. Levin feststellt.46 Damit trug auch dieser Preis zu einer Gefahr bei, die der Anerkennung nicht-englischer und ›nicht-weißer‹ Literatur innewohnt. Mit der Vermarktung solcher Werke kann auch eine exotisch anmutende, weil von der Peripherie des Empire stammende, Realität verkauft werden, was letztlich wieder eine koloniale Ordnung der Welt evoziert;47 Autorinnen und Autoren werden dann aufgrund ihrer ethnischen Herkunft leicht zu einem ganz speziell etikettierten Handelsgut.48 In den ersten zehn Jahren stammten die Gewinnerinnen und Gewinner des Booker Prize zu zwei Dritteln aus England. Für die Zeit seit 1980 trifft dies für weniger als ein Drittel zu.49 Sieht man sich allein die Herkunftsregionen und Lebensmittelpunkte der Preisträgerinnen und Preisträger der 20 Jahre vor Öffnung des Preises auch für US-Autoren an, dann entsteht ein komplexes Bild von transnationaler und multiethnischer Verflechtung einer zentralen literarischen Institution Großbritanniens mit allen Regionen des Commonwealth. Drei Gewinnerinnen seit 1984 stammen aus Indien (Arundhati Roy, die den Preis für The God of Small Things, 1997, erhielt; die in den USA lebende Inderin Kiran Desai für The Inheritance of Loss, 2006, und die in Indien geborene Australierin Aravid Adiga für The White Tiger, 2008). Für Kanada stehen der aus Sri Lanka stammende Kanadier holländisch-tamilischer Abstammung Michael Ondaatje, der in England die Schule besuchte (The English Patient, 1992), die Kanadierin Margaret Atwood (The Blind Assassin, 2000) und der in Spanien geborene Sohn frankokanadischer Eltern und nach Kanada zurückgekehrte Yann Martel (The Life of Pi, 2002) auf der Liste. Irland ist mit zwei Autoren (Roddy Doyle, Paddy Clarke Ha Ha Ha, 1993, und John Banville, The Sea, 2005) und einer Autorin (Anne Enright, The Gathering, 2007) vertreten. Aus Australien stammen der zweifache Preisträger Peter Carey (für Oscar und Lucinda, 1988, und für The True History of the Kelly Gang, 2001) und D.B.C. Pierre (Vernon God Little, 2003), der auch in Me-
46 Vgl. Stephen M. Levin: »Is there a Booker Aesthetic? Iterations of the Global Novel«, in: Critique 55 (2014), S. 477-493, hier S. 483. 47 Vgl. Graham Huggan: The Postcolonial Exotic: Marketing the Margins, London: Routledge 2001. 48 Vgl. Procter: Dwelling Places. 49 Vgl. English: »Introduction«, S. 5.
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xiko lebte und nun seinen Wohnsitz in Irland hat; Keri Hulme (The Bone People, 1985) stammt aus Neuseeland. Nigeria (Ben Okri, The Famished Road, 1991) und Südafrika (J.M. Coetzee, Disgrace, 1999) sind ebenfalls vertreten. Kazuo Ishiguro (The Remains of the Day, 1989) wurde in Japan geboren, kam aber bereits im Alter von fünf Jahren nach England. Zusätzlich zum Man Booker Prize wird seit 2016 der mit £ 60.000 noch höher dotierte Man Booker International Prize ausgelobt, der alle zwei Jahre an eine Autorin oder einen Autor von Romanen oder Kurzgeschichten vergeben wird, die oder der Werke in englischer Übersetzung in Großbritannien veröffentlich hat, wobei sich Autor/in und Übersetzer/in den Preis teilen. Dies zeigt, dass in jüngster Zeit selbst die Ausweitung des ursprünglich schon alle Kontinente umgreifenden Booker Prize auf USAutorinnen und -Autoren im Jahr 2013 noch als unzureichend empfunden wurde, die Relevanz der weltweiten Literatur für und in Großbritannien zu erfassen. Die Gewinner der letzten beiden ›traditionellen‹ Booker waren der Jamaikaner Marlon James für A Brief History of Seven Killings (2015, ein fiktionalisierter Bericht über einen Mordversuch an Bob Marley) und der Amerikaner Paul Beatty für seinen satirischen Roman The Sellout (2016) über Rassismus in Amerika. Dass der Verlag, der diese Preisträger veröffentlicht, Oneworld Publications heißt, scheint einerseits auf eine weitere Öffnung des Literaturmarkts hinzuweisen. Andererseits wurden aber sowohl James als auch Beatty von allen anderen britischen Verlagen zuvor abgelehnt,50 was doch in die entgegengesetzte Richtung deutet: Offenbar ist noch nicht der gesamte britische Literaturbetrieb bereit, sich einer Literatur zu stellen, die keinen engen Bezug mehr zu Großbritannien hat. Sowohl der Buchmarkt als auch die Literaturgeschichtsschreibung haben im Laufe der letzten zwei Jahrzehnte auf die veränderte literarische Landschaft reagiert. David Dabydeen und Nana Wilson-Tagoe stellten in der ersten Auflage eines Handbuchs zu Westindian and Black British Literature noch im Jahr 1988 fest, dass von ›schwarzen‹ britischen Autorinnen
50 Vgl. Alison Flood: »Oneworld: The Tiny Publisher Behind the Last Two Man Booker Winners«, in: The Guardian vom 15. November 2015, online unter: https://www.theguardian.com/books/2016/nov/15/oneworld-publisher-behindman-booker-winners-juliet-mabey-novin-doostdar-interview (Stand: 19.01.2019).
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und Autoren lediglich »[a] few novels are beginning to appear«. 51 Seitdem ist die Position dieser englischsprachigen Literatur deutlich stärker geworden, was zahlreiche Literaturgeschichten, Handbücher und Nachschlagewerke sowie Anthologien seit Beginn des 21. Jahrhunderts auch in einer historischen Dimension eindrucksvoll dokumentieren. Prominente Beispiele sind Catherine Innes’ History of Black and Asian Writing in Britain 1700-2000, eine Literaturgeschichte, die auch die Bedeutung indischer und pakistanischer Autorinnen und Autoren berücksichtigt,52 der 13. Band der Oxford English Literary History, der The Internationalization of English Literature betitelt ist,53 und jüngst Deirdre Osbornes Cambridge Companion to Black and Asian British Literature (1945-2010).54 Penguin brachte im Jahr 2000 die vielbeachtete Anthologie IC3: The Penguin Book of New Black Writing in Britain heraus;55 und die zunehmende Anzahl von Autorinnen und Autoren karibischer, afrikanischer und asiatischer Herkunft in der seit 1991 jährlich unter der Leitung des British Council erscheinenden Anthologien-Reihe New Writing (seit 2002 in Kooperation mit dem Arts Council) ist ein weiterer Hinweis auf die zunehmend als selbstverständlich
51 David Dabydeen/Nana Wilson Tagoe: A Reader’s Guide to Westindian and Black British Literature, 2. Aufl., London: Hansib 1997, S. 84. 52 Vgl. Catherine Lynette Innes: A History of Black and Asian Writing in Britain: 1700-2000, Cambridge: Cambridge University Press 2002. Siehe zur Vorgeschichte auch Paul Edwards/David Dabydeen (Hg.): Black Writers in Britain 1760-1890, Edinburgh: Edinburgh University Press 1991. Eine wichtige Arbeit, die zeitgenössische Werke von Autorinnen und Autoren mit karibischer, afrikanischer und asiatischer Herkunft kartiert und deren Beitrag zur Veränderung der britischen Kultur anerkennt, hat Mark Stein vorgelegt: Black British Literature: Novels of Transformation, Columbus, OH: Ohio State University Press 2004. 53 Vgl. King: The Internationalization of English Literature. 54 Vgl. Deirdre Osborne (Hg.): The Cambridge Companion to Black and Asian British Literature (1945-2010), Cambridge: Cambridge University Press 2016. 55 Vgl. Courttia Newland/Kadija Sesay (Hg.): IC3: The Penguin Book of New Black Writing in Britain, Harmondsworth: Penguin 2000. Die Abkürzung »IC3« steht für den ›Identitäts-Code‹, den die Polizei in Großbritannien zur Deklarierung der Herkunft von Straftätern verwendet (IC1 steht für ›kaukasisch‹, IC2 für ›mediterran‹ und IC4 für ›asiatisch‹). Die Herausgeberinnen des Bandes verwenden die Bezeichnung ironisch, aber auch provokativ und trotzig.
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wahrgenommene Präsenz dieser literarischen Produktion im Literatursystem Großbritanniens. Die Norton Anthology of English Literature, die Standardanthologie für das anglo-amerikanische Schul- und Hochschulwesen, ist ein weiterer Gradmesser für das veränderte Bewusstsein von der Beschaffenheit des Feldes ›englischer‹ Literatur. In der neunten Auflage erhielt der Band zur Literatur des 20. Jahrhunderts eine eigene und umfangreiche Kategorie Nation, Race, and Language.56 Diese war nicht nur ein Signal dafür, dass hier ein Umdenken stattgefunden hat,57 sondern wird auch dafür sorgen, dass zumindest einige der Texte in den Kanon des englischen Literaturunterrichts aufgenommen werden. Diese neue Kategorie umfasst nicht nur nach Großbritannien eingewanderte oder als Kinder von Einwanderern dort geborene Autorinnen und Autoren wie V.S. Naipaul, Salman Rushdie, Hanif Kureishi und Zadie Smith, sondern auch afrikanische Schriftstellerinnen und Schriftsteller, wobei ›weiße‹ (Nadine Gordimer, Doris Lessing, J.M. Coetzee) ebenso vertreten sind wie ›schwarze‹ (Ngugi Wa Thiong’o, Wole Soyinka, Chinua Achebe). Ein weiterer interessanter Aspekt dieser Sektion der neuen Norton Anthology ist, dass unter Nation, Race, and Language auch Autorinnen und Autoren aus England (z.B. Philip Larkin, Ted Hughes, Harold Pinter), Irland (Eavan Boland) und Nordirland (Seamus Heaney, Paul Muldoon) vertreten sind. Dies verweist darauf, dass sich die Gesellschaften auf den britischen Inseln in der Gegenwart mit der Frage beschäftigen, wie vereinigt das Vereinigte Königreich eigentlich ist. Neben der Veränderung des gegenwärtigen Kulturbetriebs durch Einwanderer aus dem Commonwealth und deren Nachkommen sind auch innerhalb der britischen Inseln neue Dynamiken zu beobachten, die auch den Umgang mit der Gegenwartsliteratur prägen: Während bis in die 1980er Jahre England die dominante Stimme im Verbund der britischen Regionen war, weisen seitdem die Unabhängigkeitsbestrebungen der Regionen, die unter dem Oberbegriff devolution zusammengefasst werden und die zu mehr Autonomie insbesondere für Schottland und Wales, aber auch Nordir-
56 Vgl. Jahan Ramazani/Jon Stallworthy: The Twentieth Century and After, New York/London: W.W. Norton & Company 2012, S. 2718-3057. 57 In der sechsten Ausgabe von 1993 ist lediglich Derek Walcott vertreten, der 1992 den Literaturnobelpreis gewann – was ihm offensichtlich die Aufnahme in die Norton Anthology sicherte.
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land führten, in die andere Richtung. Diese Regionen, und seit ca. dem Jahr 2000 auch Cornwall, fordern im Zuge der devolution nicht nur größere politische Unabhängigkeit von der Zentralmacht England ein, sondern besinnen sich auch auf ihre kulturelle Eigenständigkeit. Während sich die englische Literatur, insbesondere der Roman, seit den 2000ern zunehmend kosmopolitisch gibt,58 manifestiert sich im selben Zeitraum parallel eine Tendenz zur Regionalisierung, die auch eine Aufarbeitung der literarischen Traditionen und eine Wertschätzung der jeweiligen regionalen Literaturen auf den britischen Inseln in Geschichte und Gegenwart mit sich bringt. 59 Es scheint sich im Zuge der Anerkennung der ethnischen Vielfalt Großbritanniens, die sich v.a. auf ›nicht-weiße‹ Ethnien richtete, auch ein Bewusstsein für die Besonderheiten ›weißer‹ Ethnien auf den britischen Inseln entwickelt zu haben. Am stärksten haben sich solche Bestrebungen auf die schottische Literatur und ihre Geschichtsschreibung ausgewirkt, denen von einer auf Schottland fokussierten Literaturwissenschaft eine wichtige Funktion bei der Ausbildung eines eigenen Nationalbewusstseins in Ermangelung eines Nationalstaats zugeschrieben wird:60 An den Universitäten Glasgow und Edinburgh ist Scottish Literature inzwischen ein eigenes Studienfach; Literaturgeschichten bemühen sich, neben im englischen Kanon vertretenen schottischen Autoren wie Sir Walter Scott auch unbekanntere Autorinnen und Autoren aufzunehmen und so einen eigenen schottischen Kanon zu begründen; zahlreiche Anthologien stellen einen Bezug zwischen schottischer Literatur und schottischer Nation her, wobei Verlage auch vom Scottish
58 Vgl. Berthold Schoene: The Cosmopolitan Novel, Edinburgh: Edinburgh University Press 2009. 59 Die letzte Ausgabe der Cambridge History of Twentieth-Century English Literature weist erstmals eigene Kapitel zu schottischer, irischer und walisischer Literatur auf, vgl. Marcus/Nicholls: The Cambridge History of Twentieth-Century English Literature. 60 Vgl. Stefanie Preuss: A Scottish National Canon? Processes of Literary Canon Formation in Scotland, Heidelberg: Winter 2012; vgl. dies.: »Kanon in kleineren Nationalliteraturen: Das Beispiel Schottland«, in: Rippl/Winko, Handbuch Kanon und Wertung (2013), S. 94-102; vgl. Ian Brown et al. (Hg.): The Edinburgh History of Scottish Literature, Edinburgh: Edinburgh University Press 2006; vgl. Robert Crawford: Scotland’s Books: A History of Scottish Literature, Oxford: Oxford University Press 2009.
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Arts Council finanziell unterstützt werden, also einen nahezu staatlichen Auftrag erfüllen. Gleichwohl bleibt der schottische Kanon »gleichzeitig ein Gegenkanon und ein Teilkanon des britischen Kanons«. 61 Im Hinblick auf die Eigenständigkeit ihrer Entwicklung sind neben der schottischen aber auch die aus Wales62 und Cornwall63 stammenden Literaturen beschrieben worden. Ebenso hat natürlich auch Irland seine eigene Literaturgeschichte.64 Es kann spekuliert werden, dass diese ›regionalen Nationalismen‹ in den frühen 2000er Jahren dann wiederum zu einer politischen Gegenbewegung geführt haben, die England mit einem wieder erstarkten Selbstbewusstsein auftreten ließ.65 Dass dieser letztlich im so genannten Brexit mündete (der ja fälschlicherweise so genannt wird, da die Schotten nicht für den Ausstieg aus der EU gestimmt haben, sondern nun ihrerseits für 2018 ein Referendum für die Unabhängigkeit von England planen), ist auch für die gegenwärtige Literaturwissenschaft interessant, denn es lässt zumindest Spannung aufkommen, wie die zukünftige Vernetzung der Literatur Englands mit der Literatur anderer Regionen Großbritanniens und der Welt ausfallen wird. Die oben genannten Autorinnen und Autoren der britischen Gegenwartsliteratur deuten bereits an, wie zahlreich multiethnische Literaten sind und mit welch komplexen Verflechtungen ihrer persönlichen Herkunft und ihrer Themen sie ausgestattet sind.66 An einigen Beispielen, die angesichts
61 Preuss: »Kanon in kleineren Nationalliteraturen«, S. 102. 62 Vgl. Meic Stephens (Hg.): The New Companion to the Literature of Wales, Cardiff: University of Wales Press 1998; vgl. Dafydd Johnston: The Literature of Wales, Cardiff: University of Wales Press 2017. 63 Vgl. Alan M. Kent: The Literature of Cornwall. Continuity – Identity – Difference, 1000-2000, Bristol: Redcliffe 2000. 64 Vgl. z.B. Margaret Kelleher/Philip O’Leary (Hg.): The Cambridge History of Irish Literature, Cambridge: Cambridge University Press 2006. 65 Vgl. MacPhee/Poddar: »Nationalism Beyond the Nation State«. 66 Die staatliche Institution für die Verbreitung britischer Kultur, der mit dem Goethe Institut, dem Institut Français, dem Istituto Italiano di Cultura und dem Instituto Cervantes vergleichbare British Council, hält auf seiner Homepage eine Liste britischer Gegenwartsautorinnen und -autoren bereit, die ein ganz ähnliches Bild vom multiethnischen und transnationalen Zuschnitt der Literatur-
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der aufgezeigten Vielgestaltigkeit natürlich nur einen kleinen Ausschnitt aus dem Literaturbetrieb repräsentieren, lässt sich dies noch weiter illustrieren. David Dabydeen, in Guyana geboren und als Kind mit den Eltern nach England ausgewandert, ist der zweite Autor aus der Karibik (nach Naipaul), der Mitglied der Royal Society of Literature wurde. Er ist auch Professor für Vergleichende Britische Kulturwissenschaft und Leiter des Zentrums für Karibikstudien an der Universität Warwick, sowie ein mehrfach mit Literaturpreisen ausgezeichneter Lyriker und Romancier. Er kann ohne Zweifel zum gesellschaftlichen, akademischen und literarischen Establishment gezählt werden. In seinen Werken werden die historischen Beziehungen zwischen dem hauptsächlich von Emigranten aus Indien und Afro-Guyanen bewohnten Land und England immer wieder durch Verweise auf die britische Kultur hergestellt. So nimmt das Langgedicht Turner (2002) das Gemälde Slave Ship des romantischen und proto-impressionistischen Malers J.M.W. Turner aus dem Jahr 1840 als Ausgangspunkt: Dort sind Sklaven zu erkennen, die von den Sklavenhändlern über Bord geworfen wurden, weil sie gestorben oder erkrankt waren, oder einfach, weil ›verlorene‹ Sklaven eine Versicherungssumme einbrachten. Dabydeen gibt diesen in dem Gedicht eine gespenstische, das Gewissen Englands heimsuchende Stimme. Der Roman Harlot’s Progress erzählt die Geschichte von einem ehemaligen Sklaven, der einem Vertreter der Antisklaverei-Bewegung seine Lebensgeschichte in die Feder diktieren soll. Die Figur übernimmt Dabydeen aus William Hogarths Druckgrafik-Serie A Harlot’s Progress aus dem Jahr 1732, in der ein Sklavenjunge zu sehen ist. Im Roman liefert dieser, nun gealtert und unzuverlässig erzählend, eine verwirrende Zusammenstellung von Erinnerungen an Afrika, die Karibik und London und unterminiert damit auch die seit dem späten 18. Jahrhundert etablierte Gattung der slave narratives. Der Schriftsteller Caryl Phillips wurde auf Saint Kitts geboren, aber die Familie zog nach England, als er noch ein Säugling war; erst als Erwachsener, nachdem er schon mit einigen Theaterstücken (z.B. Strange Fruit, 1980, und Where There is Darkness, 1982) Erfolg hatte, reiste er wieder nach Saint Kitts, was den Impuls zu seinem ersten Roman, The Final Passage (1985), lieferte. In dem Roman zeichnet Phillips die Geschichte einer
szene zeichnet; siehe die Einträge auf https://literature.britishcouncil.org/writers/ (Stand: 19.01.2019).
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Familie nach, die in den 1950er Jahren aus der Karibik nach England übersiedelt und sich dort mit der Enttäuschung ihrer Hoffnungen konfrontiert sieht. Es folgten neun weitere Romane, einige Drehbücher und Hörspiele, sowie Aufsatzsammlungen und eine semi-dokumentarische Erzählung über die augenscheinlich völlig unverbundenen Schicksale dreier afrikanischstämmiger Männer. In den meisten seiner Texte thematisiert und evoziert Phillips die aus dem Handel mit Sklaven und Gütern in der Wirtschaftsund Kulturgeschichte als triangular trade bekannten Verflechtungen zwischen Afrika, der Karibik bzw. Nordamerika und Großbritannien, die sich dann im Leben von Sklaven und deren Nachfahren in Geschichte und Gegenwart manifestieren. Phillips selbst lebt und arbeitet in der Karibik, den USA und England, so dass er sich einer nationalliterarischen Zuordnung entzieht. R.L. Walkowitz klassifiziert Phillips und sein Werk mit diesen Worten: »A Caribbean-British-U.S. writer, Phillips presents his books both as products and philosophies of migration.«67 Sie weist darauf hin, dass sich das Bewusstsein getrennter, aber durch die Geschichte verflochtener Realitäten auch in der Machart vieler seiner Werke manifestiert, die als ›anthologisch‹ bezeichnet werden können, weil sie getrennte Erzählstränge und abgeschlossene Geschichten in einem Band versammeln und einander gegenüberstellen, so dass es dem Leser überlassen ist, die Bezüge zwischen ihnen herzustellen. So lebte z.B. in Foreigners: Three English Lives (2007) einer der drei Hauptcharaktere im 18. Jahrhundert als Diener des Autors Samuel Johnson; einer war ein zunächst erfolgreicher und gefeierter, dann aber vergessener und verarmter Boxer in den 1950er Jahren; und einer war ein 1949 als blinder Passagier aus Nigeria nach England gekommener Einwanderer, der nach Misshandlungen durch Polizisten ums Leben kam. Als ein weiteres Beispiel bietet sich Andrea Levy an, deren Werk eine interessante Suchbewegung nach einer anglo-karibischen Identität und Herkunft dokumentiert: Ihr Debütroman, Every Light in the House Burning (1994) ist eine autobiografisch inspirierte Auseinandersetzung mit einer Einwandererfamilie aus der Karibik der Windrush-Generation, die durch die Erinnerungen der jüngsten Tochter in dem Moment aufgearbeitet werden, als der todkranke Vater sich hilflos in die Hände des National Health Service begibt. Während die Eltern hoffen, die Anerkennung durch die ›weiße‹ britische Gesellschaft durch möglichst unauffälliges Verhalten zu
67 Walkowitz: »The Location of Culture«, S. 535.
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erlangen, sehen sich ihre in Großbritannien geborenen Kinder ganz natürlich als Teil dieser Gesellschaft, die ihnen aber ihr Anderssein immer wieder vor Augen führt. Never Far From Nowhere (1996) ist ein doppelter Bildungsroman, in dem die Schwestern Vivien und Olive, wiederum Kinder jamaikanischer Einwanderer, sehr verschiedene Entwicklungen durchlaufen, die nicht zuletzt daraus resultieren, dass Olives Haut viel dunkler ist als die Viviens. Die Erfahrungen beider, bei Olive häufiger eine Konfrontation mit explizitem Rassismus, werden in alternierenden Kapiteln aus der Sicht der Schwestern erzählt, so dass sich ein komplexes und je kontingentes Bild davon ergibt, was es bedeutet, ›schwarz‹ und britisch aufzuwachsen. In Fruit of the Lemon (1999) lässt Levy erstmals eine erwachsene Protagonistin auftreten, die sich auf den Weg macht, Jamaika, das Ursprungsland ihrer Eltern, zu erkunden und die Geschichte ihrer Familie bis zur Auswanderung der Eltern nach England zu rekonstruieren. Während Jamaika für die ausgewanderten Eltern in vielen Migrationsromanen eher ein durch Erzählungen, Dialekt sowie Fotos und mitgebrachte Gegenstände evozierter ›mentaler Ort‹ ist, der mit Sehnsucht und Nostalgie besetzt ist, avanciert die Region hier zum Handlungsort, den die junge Generation auf ihrer Identitätssuche neugierig aber auch kritisch fragend in Augenschein nimmt. Mit Small Island (2004) wendet Levy sich der Windrush-Generation nach ihrer Ankunft in England zu. Die Engländerin Queenie Bligh nimmt 1948 – als eine der wenigen Vermieterinnen – ein junges jamaikanisches Ehepaar auf, dessen hohe Erwartungen an das ›Mutterland‹ und die angeblich glanzvolle Metropole London jäh enttäuscht werden. Einen weiteren, geradezu logischen Schritt vollzieht dann The Long Song (2010). Dieser Roman ist in der Endphase der Sklaverei auf den karibischen Inseln angesiedelt. Die Erzählerin, Miss July, schaut auf ihr Leben als aus einer Vergewaltigung einer Sklavin durch einen Aufseher hervorgegangene Mulattin zurück; ihr Sohn Thomas, der in England das Druckhandwerk erlernt hat (er war als Kind von Baptisten nach England gebracht worden, die ihm Bildung und ›Zivilisation‹ angedeihen lassen wollten), ist als redigierende Stimme in Vor- und Nachwort von Miss Julys Erzählung sowie zwischen einzelnen Kapiteln präsent. Der Roman liest sich dadurch wie ein Metakommentar auf das britische Literatursystem, das der Geschichte und den Erfahrungen von Menschen afro-karibischer Herkunft einen Ort und eine Stimme gibt.
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4. S CHLUSS Der in Deutschland mit Goethe assoziierte Begriff ›Weltliteratur‹ hatte in der Literaturwissenschaft Großbritanniens und dem britischen Literaturbetrieb kaum Konjunktur. Die obigen Ausführungen haben versucht zu zeigen, warum das Schlagwort ›Weltliteratur‹ in der Anglistik eine seltsame Doppelexistenz zwischen Präsenz und Abwesenheit führt: Zum einen kann man die Literatur Großbritanniens als Weltliteratur bezeichnen; der Begriff wäre demnach in der Bezeichnung ›britisch‹ ebenso impliziert, wie die Literatur der anderen Regionen Großbritanniens lange in dem Begriff ›Englische Literatur‹ impliziert war. Zum anderen hat sich eine moderne Globalisierungstendenz seit der Nachkriegszeit verstärkt ausgewirkt. In dieser Phase haben Immigration und transnationale Verflechtung die Literaturproduktion in Großbritannien zunehmend geprägt und tun dies noch in der unmittelbaren Gegenwart. Die britische Gegenwartsliteratur und auch das Literatursystem der Gegenwart zeichnen sich in der Folge durch eine erhöhte Wahrnehmung der Verflechtungen mit ›der Welt‹ aus, wie sich am Beispiel von Verlagen und Buchreihen, Literaturpreisen sowie natürlich den Autorinnen und Autoren zeigt. Auch die Themen und Texte führen dies vor: Sie evozieren andere Regionen der Welt, ob als Handlungsort oder als Vorstellungs- (und oft Sehnsuchts-)Ort von Figuren. Sie erzielen damit den Eindruck einer Verbindung zwischen Großbritannien und eben diesen Gebieten, wobei gleichzeitig die Unterschiede zwischen ihnen markiert werden – es entstehen ›transnationale mentale Räume‹,68 die keineswegs eine homogenisierende, sondern vielmehr Vielfalt hervorhebende Wirkung haben. Diese Öffnung und Welt-Bezogenheit der gegenwärtigen britischen Literatur wird von einer unaufgelösten Spannung zu Tendenzen sub-nationaler Fokussierung bzw. regionaler Nationalisierung begleitet, in der auch die Eigenständigkeit der nicht länger unter English Literature subsumierten irischen, schottischen und walisischen Literaturproduktion hervortritt.
68 Vgl. Marcus Hartner/Ralf Schneider: »British Novels of Migration and the Construction of Transnational Social Spaces«, in: ZAA – Zeitschrift für Anglistik und Amerikanistik 4 (2015), S. 411-431.
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Die Entstehung der dritten Weltliteratur Anmerkungen zum Gegenwartsroman in Japan und der Welt von den 1990er Jahren bis heute N ORIMASA M ORITA
In der postmodernen Welt, in der wir heute leben, bewegen sich Menschen, Waren und Informationen weiter und schneller über den Globus, als jemals zuvor. Was mit den großen Städten der Welt kulturell dadurch passiert, hat – einige Zeit nach seiner Präsidentschaft – Vaclav Havel einmal beschrieben: »One evening not long ago I was sitting in an outdoor restaurant by the water. My chair was almost identical to the chairs they have in restaurants by the Vlatava River in Prague. They were playing the same rock music they play in most Czech restaurants. I saw advertisements I’m familiar with back home. Above all, I was surrounded by young people who were similarly dressed, who drank familiar-looking drinks, and who behaved as casually as their contemporaries in Prague. Only their complexion and their facial features were different – for I was in Singapore.«1
1
Vaclav Havel: Radical Renewal of Human Responsibility. Commencement Speech at Harvard University, 12.05.1995, online unter: http://www.humanity. org/voices/commencements/vaclav-havel-harvard-university-speech-1995 (Stand: 19.01.2019).
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Das Leben des jungen Wirtschaftsstudenten Havel an der Technischen Universität in Prag wird deutlich anders gewesen sein, als das in Singapur zur gleichen Zeit. Im kommunistischen Prag war Rockmusik verpönt, junge Musiker wurden immer wieder Ziel von Strafverfolgungen. Werbung für Konsumgüter fand man, wenn überhaupt, selten, und junge Männer trugen alle graubraune Jacken und Pullover, fuhren Cezeta-Motorroller (wenn sie das Glück hatten, einen erwerben zu können), tranken tschechisches Pils oder russischen Wodka und vermieden in ihren Unterhaltungen sorgfältig politische Themen, aus Angst, dass der Geheimdienst Státní bezpečnost (StB) nebenan mithören könnte. Nur 30 Jahre bevor die kulturelle Einheitlichkeit der Postmoderne Havel so beeindrucken konnte, hatten die Hauptstädte der Welt ein sehr unterschiedliches Antlitz, oder umgekehrt: die Ähnlichkeit der Städte im Osten und im Westen kam binnen weniger als zehn Jahren nach dem Ende der Sowjetunion zustande. Die kulturelle Globalisierung ist in erster Linie eine homogenisierende Kraft, die dafür sorgt, dass überall auf der Welt die mehr oder weniger gleichen kulturellen Produkte angeboten werden und mehr oder weniger identische kulturelle Institutionen entstehen. Sie basieren auf jenen, die sich in Westeuropa und (in Bezug auf populärkulturelle Produkte vor allem) den USA entwickelt haben und von dort in den Rest der Welt verteilt wurden. Dieser kulturelle Strom ist jedoch nicht notwendigerweise eine Einbahnstraße: ab und an erlangt auch etwas, das ›im Rest der Welt‹ seinen Ursprung hat, weltweite kulturelle Bedeutung; für die Sphäre der Jugendkultur gilt das zum Beispiel für manga und anime. Die ›lokale‹ Kultur, die zu einer globalen wird, ist dabei jedoch nicht immer auch tatsächlich lokalen Ursprungs, sondern gelegentlich (auch) bereits die Reformulierung einer (meist) westlichen Form: Die Anfänge von manga und anime können zwar bis zu den mittelalterlichen Rollbildern und Hokusai Kasushikas Holzschnitten zurückverfolgt werden; diejenigen unter ihnen aber, die heute den Markt beherrschen, zeigen eine direkte Verwandtschaft mit jenen, die in der Zeit nach der Besetzung florierten und deutlich von US-Comics und -Cartoons, etwa von Walt Disney, beeinflusst waren.2
2
Vgl. Sharon Kinsella: Adult Manga: Culture and Power in Contemporary Japanese Society, Honolulu: University of Hawaii Press 2000; Frederik L. Schodt: Manga! Manga! The World of Japanese Comics, Tokio: Kodansha 1986.
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Die kulturelle Homogenisierung ist nicht überall gleich stark ausgeprägt, weil sie – je nach Standort – auf unterschiedliche politische und ideologische Widerstände stößt; vor allem aber wird Kultur gerade im Prozess der Homogenisierung hybridisiert. Globalisierung als kulturelles Phänomen ist insofern von einem paradoxen Zusammenspiel von Homogenität und Diversität geprägt. Roland Robertson bevorzugt daher statt Globalisierung den Begriff ›Glokalisierung‹ (ein unglücklicher Neologismus, dessen Klang an ›Kloake‹ erinnert). Er argumentiert, dass das Lokale ein unabdingbarer Aspekt der Globalisierung sei, und geht darin so weit, zu behaupten, dass das Globale gerade im Lokalen ausgedrückt werde und das Lokale die Partikularisierung des Globalen sei.3 Er scheint dem Lokalen hier ein unangemessenes Gewicht zu verleihen, wenn er darauf besteht, dass dessen Verwurzelung und Beständigkeit weitaus stärker sei, als die homogenisierende Kraft der Globalisierung. Diejenigen wiederum, die der kulturellen Globalisierung kritisch gegenüber stehen, tendieren dazu, den globalen Wirtschafts- und Kulturmächten vorzuwerfen, sie zerstörten die singulären Qualitäten nationaler und lokaler Kulturen. Das ist zweifelsohne der Fall, da gefährdete Kulturformen im Zuge dessen in der Tat – und zudem sehr schnell – verschwunden sind. Nationale und lokale Kulturen sind jedoch sehr viel resilienter, als gemeinhin angenommen wird, da einerseits – wie Robertson zeigt – das Lokale in das Globale einsickert und andererseits – wie zahlreiche Beispiele belegen – einige dieser Kulturen die diversen Wellen äußerer kultureller Einflüsse überlebt haben und dies weiterhin tun. Sie bleiben dabei naturgemäß nicht gänzlich intakt, aber sie bestehen trotz der Transformationen und Metamorphosen, die sie durchleben. Die Idee einer Weltliteratur, die Johann Wolfgang Goethe begeistert als neues literarisches Paradigma einführte und die Karl Marx und Friedrich Engels in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts enthusiastisch begrüßten, hängt mit einem der frühesten Beispiele kultureller Globalisierung zusammen.4 Das, was Goethe sich unter dem Paradigma Weltliteratur vorstellte,
3
Roland Robertson: »Glocalization: Time-Space and Homogeneity-Heterogeneity«, in: ders./Mike Featherstone/Scott Lash (Hg.), Global Modernities, London: Sage 1995, S. 25-44.
4
Als Spezialist für griechische und lateinische Literatur, chinesische Literatur vor der Tang-Dynastie sowie Komparatistik sieht Alexander Beecroft Weltliteratur in geografisch wie zeitlich breiteren Kontexten und berücksichtigt die Wechsel-
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unterscheidet sich jedoch signifikant von dem, was Franco Moretti diesbezüglich entwickelt hat.5 Als Goethe Eckermann den Beginn der Epoche der Weltliteratur voraussagte, dachte er an eine breitere Zirkulation und erweiterte Leserschaft übersetzter Literatur, insbesondere vormoderner chinesischer Romane und klassischer persischer Dichtkunst.6 Wenn Moretti in seinem bahnbrechenden Aufsatz Conjectures on World Literature das goethesche Konzept wieder aufleben ließ, wendet er sich von jener Literatur, die Goethe diskutierte, ab und ausschließlich moderner Fiktion zu. Inspiriert von Immanuel Wallersteins Weltsystemtheorie geht Moretti davon aus, dass es in der Weltliteratur Gesetze gegeben hat, nach denen sich literarische Formen, und spezifisch jene modernen Romane, die zuerst in den literarischen Zentren Europas entstanden, bis in periphere Nationen verstreuten.7 Diese Verteilung wird verglichen mit der Art, in der ein Baum wächst und Wellen sich ausbreiten. Als der Baum des modernen europäischen Romans wuchs, verzweigte er sich in nicht-europäische moderne Romane, und die Wellen moderner Romane, die in Europa entstanden, erfassten schließlich ein außereuropäisches Land nach dem anderen. Morettis ›arborische‹ und ›aquarische‹ Metaphern müssen jedoch voneinander differenziert werden, da die Bewegungen, die sie verbildlichen, einen signifikanten Unterschied beinhalten. Die erste Bewegung ist insofern unter-
wirkungen zwischen Literaturen nicht-europäischer Regionen in der Antike, dem Mittelalter und der Vormoderne. Vgl. An Ecology of World Literature: From Antiquity to the Present Day, London/New York: Verso 2015. 5
Franco Morettis grundlegender Text über Weltliteratur wurde erstmals in der Neujahrsausgabe 2000 des New Left Review veröffentlicht: »Conjectures on World Literature«, in: New Left Review 1 (2000), S. 54-68.
6
Vgl. Martin Puncher: »Goethe, Marx, Ibsen and the Creation of a World Literature«, in: Ibsen Studies 13/1 (2013), S. 28-46; ders.: Poetry of the Revolution: Marx, Manifestos, and the Avantgardes, Princeton: Princeton University Press 2005. Martin Puncher ist einer der drei Herausgeber der dritten Auflage der Norton Anthology of World Literature und ein wichtiger Verteidiger der Idee einer Weltliteratur.
7
Es ist unklar, auf welche Nationen oder Regionen Moretti verweist, wenn er vom »Zentrum« spricht. In dem gleichen Aufsatz scheint es mal Europa, mal Westeuropa, mal Nordeuropa (statt Südeuropa), mal Frankreich und mal das Vereinigte Königreich zu sein. Moretti: »Conjectures«, S. 56, 58, 65 und 66ff.
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brochen, als der Weg hier »from unity to diversity« führt, während die zweite ungebrochen ist: »uniformity engulf[s] an initial diversity«.8 Als sich die europäischen Romane in die außereuropäischen Peripherien verstreuten, wurden sie dort zu Werken, die sich durch den räumlichen und zeitlichen Abstand von den Originalen unterschieden, und doch zugleich einen außereuropäischen Literaturmarkt nach dem anderen eroberten. Anders als Wallerstein es mit dem internationalen Kapitalismus als System macht, präsentiert Moretti in seinem Essay nicht das Gesamtbild des Weltliteratursystems, d.h. Weltliteratur als ein einheitliches, aber ungleiches System, in dem das Zentrum und die Peripherie durch Ungleichheit verbunden sind. Seine Auseinandersetzung mit Weltliteratur ist auf die Zunahme moderner fiktionaler Genres im Zentrum und deren Diffusion in die Peripherien beschränkt und beleuchtet die Geschichte anderer literarischer Formen, wie Lyrik und Drama, wenn überhaupt, nur am Rande.9 Er räumt ein, dass »novels would be representative, not of the entire system, but of its most mobile strata«, dass es weiterer Forschungen zur internationalen Ausbreitung anderer literarischer Formen bedürfe und er »very disappointed« wäre, »if all of literature turned out to ›follow the laws of the novel‹«.10
8
Ebd., S. 66f.
9
Daran, dass Morettis Ansatz bei Romanen, jedoch nicht unbedingt bei Lyrik und Drama funktionieren mag, erinnert Christopher Prendergast, vgl. »Negotiating World Literature«, in: New Left Review 8 (2001), S. 110-121, hier S. 120f. Francesca Orsini, eine Expertin für Hindi- und südasiatische Literatur, weist darauf hin, dass die wichtigsten literarischen Formen auf dem indischen Subkontinent Lyrik, Drama und Kurzgeschichten waren, so dass der Einfluss europäischer Romane – wenngleich sie nicht so weit geht, ihn gänzlich abzustreiten – unerheblich gewesen sei. Vgl. »India in the Mirror of World Fiction«, in: Christopher Prendergast (Hg.), Debating World Literature, London/New York: Verso 2004, S. 319-333, hier S. 323f. Emily Apter, die Morettis »distant reading«Konzept und überhaupt der Idee von Weltliteratur gänzlich kritisch gegenübersteht, hebt hervor, dass sein Interesse für Romane insofern zwangsläufig sei, als er in seinem Makro-Ansatz narrative Aspekte deutlich allen sprachlichen vorziehe. Vgl. »Global Translatio: The ›Invention‹ of Comparative Literature. Istanbul, 1933«, in: ebd., S. 76-109, hier S. 79.
10 Franco Moretti: »More Conjectures«, in: New Left Review 20 (2003), S. 73-81, hier S. 74f.
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Goethes Konzept von Weltliteratur unterscheidet sich von Morettis auch in Bezug auf die Vorstellungen davon, auf welchen Wegen diese sich verbreitet. Was Goethe begeisterte, war die Verfügbarkeit von Literaturen aus fernen Ländern, die den Deutschen bis dahin unbekannt gewesen waren. Es stimmt zwar, dass er auch von der Aussicht entzückt war, dass seine eigenen Werke in andere Sprachen übersetzt und von neuen Leserschaften rezipiert werden würden; wirklich angetan aber war er von dem inklusiveren Angebot an Literatur, die sich in ihren Formen und Themen von denen des Westens unterschied. Der erweiterte Kanon der Weltliteratur des 18. Jahrhunderts bestand weitgehend aus literarischen Werken, die von außerhalb nach Europa kamen; in diesem Sinne war ihre Bewegung aus einer europäischen Perspektive entsprechend nach innen gerichtet. Moretti hingegen untersucht ausschließlich, wie in Europa entstandene Genres in außereuropäische Länder und Regionen exportiert wurden, so dass der literarische Einfluss hauptsächlich nach außen gerichtet ist. Moretti stellt sich also vor, dass moderne Romane sich in ausschließlich eine Richtung bewegt haben: vom Zentrum in die Peripherie. Dieses unilaterale Import-Export-Modell wird vor allem von nicht-europäischen Literaturhistorikerinnen und -historikern sowie solchen, die sich mit nicht-europäischer Literatur beschäftigen, kritisiert. »[T]he West does not have a monopoly over the creation of forms that count«, klagt Efraín Kristal ein, »in which themes and forms can move in several directions – from the centre to the periphery, from the periphery to the centre, from one periphery to another, while some original forms of consequence may not move much at all.«11 An anderer Stelle kritisiert Alexander Beecroft die Arbeitsteilung zwischen Zentrum und Peripherie in Morettis Romantheorie, wenn er schreibt: »core cultures develop new genres for export to the periphery, and the mapping of that distribution of labour onto that of large economy is too neat to be accidental.«12
11 Efraín Kristal: »›Considering Coldly…‹: A Response to Franco Moretti«, in: New Left Review 15 (2002), S. 61-74, hier S. 73f. 12 Alexander Beecroft: »World Literature without a Hyphen«, in: New Left Review 54 (2008), S. 87-100, hier S. 90f. Beecroft ist nicht der einzige Literaturhistoriker, der Morettis Idee eines einseitigen Stroms moderner Literatur vom Zentrum zu den Peripherien kritisiert hat. Eileen Julien weist als Expertin für afrikanische Literaturen darauf hin, dass sich die französische und europäische Moderne zumindest in Teilen als Reaktion auf periphere Kulturen entwickelt
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Morettis Antwort auf solche Kritik stützt sich auf seine Kenntnisse des europäischen Romans des 18. und 19. Jahrhunderts: »What I know about European novels, for instance, suggest that hardly any forms ›of consequence‹ don’t move at all; that movement from one periphery to another (without passing through the centre) is almost unheard of; […] while that from the centre to the periphery is by far the most frequent.« 13 Moretti zitiert Kristals Kritik, wenn er einräumt, dass der Westen kein Monopol auf »the creation of the forms that count« hat; an ein historisches Urteil appellierend, schlussfolgert er jedoch: »[c]ultures from the centre have more resources to pour into innovation (literary and otherwise), and are thus more likely to produce it«; und: »The model proposed in Conjectures does not reserve invention to a few cultures and deny it to the others: it specifies the conditions under which it is more likely to occur, and the forms it may take«.14 So gibt er zwar zu, dass sein am Beispiel des Romans entwickeltes Modell nicht auf andere Literaturformen wie Lyrik oder Drama übertragbar sei, insistiert aber, dass die Entstehung kultureller Ungleichheit sehr wahrscheinlich sei. Eine weitere Kontroverse, die Conjectures on World Literature auslöste, entbrannte um die Vorstellung eines ›Kompromisses‹ zwischen westlichem literarischen Einfluss und lokalem Material, der bei einem Import von Werken aus dem Zentrum in die Peripherie geschlossen werden müsse. Dieser Kompromiss findet sozusagen an der Schnittstelle von europäischen und lokalen Literaturen statt und stellt eine der zentralen conjectures in Morettis Essay dar. Er entwickelte sie bei der Lektüre von Fredric Jame-
haben. Vgl. »Arguments and Further Conjectures on World Literature«, in: Gunilla Lindberg-Wada (Hg.), Studying Transcultural Literary History, Berlin/New York: De Gruyter 2006, S. 122-132. Auf dieselbe Weise verteidigt Yoo Hui-suk, ein Spezialist für koreanische Literatur, die Bedeutung peripherer Literatur und argumentiert, dass Kulturen ›kleiner Sprachen‹ es nicht nötig hatten, Romane aus mächtigeren Sprachkulturen zu importieren, um eine moderne Literatur zu begründen. Er versucht dies durch einen Verweis auf den noch jungen koreanischen Roman Der Gast (Sonnim) von Hwang Sok-yong zu belegen, der formal zugleich modern und autochton sei. Vgl. »A Little Pact with the Devil«, in: ebd., S. 133-143. 13 Moretti: »More Conjectures«, S. 75f. 14 Ebd., S. 76f. Herv. im Orig.
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sons Vorwort zu der englischen Übersetzung von Kōjin Karatanis Origins of Modern Japanese Literature: »the raw material of Japanese social experience and these abstract formal patterns of Western novel construction that cannot always be welded together seamlessly.«15 Denselben Kompromiss entdeckt Moretti in anderen peripheren Ländern wie Brasilien und China und vermutet: »For him [Jameson, N.M.] the relationship is fundamentally a binary one: ›the abstract formal patterns of Western novel construction‹ and ›the raw material of Japanese social experience‹: form and content, basically. For me, it’s more of a triangle: foreign form, local material – and local form. Simplifying somewhat: foreign plot; local characters; and then, local narrative voice: and it’s precisely in this third dimension that these novels seem to be more unstable«. 16
Als Moretti seine Theorie des Weltsystems des modernen Romans aufstellte – mit seiner Zentrum-Peripherie-Achse und dem, was als Kompromiss entsteht, wenn Zentrum und Peripherie aufeinandertreffen –, mögen es moderne japanische Romane gewesen sein, die er dabei im Kopf hatte. Es würde erklären, warum seine Theorie bestens auf die Gegebenheiten des modernen Literaturbetriebs in Japan zutrifft. Shimei Futabatei (1864-1909), zum Beispiel, studierte Russisch und ist als einer der ersten Autoren bekannt, der den europäischen Realismus nach Japan brachte, indem er Iwan Turgenjews Kurzgeschichten übersetzte und einflussreiche Literaturtheorien hierzu veröffentlichte. Sein erster Roman, Ukigumo (Ziehende Wolken), gilt gemeinhin als einer der ersten ›realistischen‹ japanischen Romane und ist in Umgangssprache und einfacher Syntax geschrieben. Die realistische Handlung dreht sich um Bunzō Utsumi, der ohne ersichtlichen Grund gefeuert wird, dessen Stolz ihn aber daran hindert, sich zu beschweren und um Wiedereinstellung zu bemühen, während sein ebenso gerissener wie konformistischer Kollege Noboru Honda eine rasante Karriere hinlegt und
15 Fredric Jameson: »In the Mirror of Alternate Modernities«, in: Kōjin Karatani: Origins of Japanese Literature, Durham, NC/London: Duke University Press 1993, S. vii-xx, hier S. xiii. Jamesons Beobachtung stützt sich darüber hinaus auf Masao Miyoshis Studie über die Rezeption europäischer Romane im modernen Japan. 16 Moretti: »Conjectures«, S. 64f.
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Bunzō auch noch die Freundin ausspannt. Der Roman nimmt in der Charakterisierung Bunzōs deutliche Anleihen bei Ivan Goncharovs Oblomov, dessen titelgebender Anti-Held ein untätiger nihilistischer Aristokrat ist; beide sind typische »superfluous men«, 17 die sich über die Idiotie und Ungerechtigkeit um sie herum im Klaren, zugleich aber nicht in der Lage sind, Entscheidungen zu treffen oder überhaupt aktiv zu werden. Bunzō unterscheidet sich allerdings insofern deutlich von Oblomov oder den anderen »superfluous men«, von denen die russischen Romane und Stücke des 19. Jahrhunderts bevölkert sind, als seine Untätigkeit und Unentschlossenheit maßgeblich aus spezifisch japanischen sozialen Erfahrungen resultiert, nämlich dem Konflikt zwischen westlichen Werten und Idealen auf der einen und dem traditionellen Verhaltenskodex auf der anderen Seite, während diese Eigenschaften bei den anderen, Nikolai Dobrolyubov zufolge, eine Begleiterscheinung der Leibeigenschaft sind.18 Entsprechend ist die Erzählweise im ersten Fall ernst und introspektiv, im zweiten boshaft und satirisch. Morettis Metanarrativ zufolge erscheinen »historical conditions […] as a sort of ›crack‹ in the form; as a faultline running between story and discourse, world and worldview: the world goes in the strange direction dictated by an outside power; the worldview tries to make sense of it, and is thrown off balance all the time.«19 Es wäre zu diskutieren, ob russische Romane im Weltsytem der Literatur zum Zentrum oder zur Peripherie gehören. Es ist jedoch in keinem Fall falsch zu sagen, dass das Vereinigte Königreich und Frankreich die beiden zentralen Nationen sind, während andere europäische Nationen, wenn nicht sogar alle, einschließlich Italien und Spanien sowie Russland, aufgrund ihrer geografischen Lage und jeweiligen wirtschaftlichen und kulturellen Position semi-peripher sind.20 Moderne Romane verzweigten sich zu russi-
17 Vgl. Ellen Chances: »The Superfluous Man in Russian Literature«, in: Neil Cornwell (Hg.), The Routledge Companion to Russian Literature, London/New York: Routledge 2001, S. 111-122. 18 Vgl. Nikolai Dobrolyubov: »What Is Oblomovism?«, in: ders., Selected Philosophical Essays, Moscow: Foreign Languages Publishing House 1956, S. 182194, 204-217. 19 Moretti: »Conjectures«, S. 65. 20 Pascale Casanova bezeichnet bekanntlich London und Paris als die Zwillingshauptstädte der »World Republic of Letters«. Vgl. The World Republic of Let-
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schen Oblomov-Romanen, die sich wiederum zu modernen japanischen realistischen Romane verästelten. In vielen Büchern dieses japanischen Zweiges zeigt sich etwas, was leicht auch in Oblomov-Romanen zu beobachten ist: die Dreiecksbeziehung von fremder Form, lokalem Material und lokaler Form. Masao Miyoshi, auf deren Analyse des modernen japanischen Romans sich sowohl Jameson als auch Moretti in ihren Arbeiten über das Weltsystem der Literatur stützen, verweist auf zwei weitere lokale Protagonisten, Sensei in Sōseki Natsumes Kokoro und Naoji in Osamu Dazai’s The Setting Sun, die eine starke Ähnlichkeit mit Bunzō hätten: »Bunzō, Sensei or Naoji, is always aware of the ensemble of his society in the sense that his problematic is one not so much of character as of role. Consistently, characterization is turned into an elaborate and refined social arbitration, as in a book of manners and morals.«21 Der Import des Naturalismus aus Frankreich und Deutschland durch die Übersetzung der Werke von u.a. Émile Zola, Guy de Maupassant und Gerhart Hauptmann führte, als sie in japanische naturalistische Romane oder später Ich-Romane umgewandelt wurden, zu weniger subtilen Kompromissen als Futabeis Realismus. Als japanische Autoren naturalistischer Romane sich Geschichten ausdachten und Figuren schufen, blieben Darwins Blick auf die Natur, Taines Ansatz des sozialen Determinismus und Zolas und Maupassants literarische Praxis einer wissenschaftlichen Betrachtung der menschlichen Natur, als wäre sie eine Probe unter dem Mikroskop, weitgehend unberücksichtigt.22 Die meisten japanischen Autoren sahen im
ters, Cambridge, MA u.a.: Harvard University Press, 2004, S. 117-119. Das Verlagswesen war in Bezug auf Bücher und Zeitschriften sicher in London konzentriert, ein weiteres, für die Verbreitung moderner Romane ebenso wichtiges Medium war jedoch der Fortsetzungsroman in Zeitungen. Vgl. Graham Law: Serializing Fiction in the Victorian Press, New York: Palgrave 2005; Graham Law/Norimasa Morita: »Japan and the Internationalization of the Serial Publication«, in: Book History 6 (2003), S. 109-125. 21 Yukio Miyoshi: Off/Center: Power and Culture Relations between Japan and the United States, Cambridge, MA/London: Harvard University Press 1991, S. 20. 22 Hideo Kobayashi ist einer der wenigen japanischen Autoren, die den literarischen Naturalismus wirklich verstanden haben, doch seine dafür einschlägige Abhandlung Watakushi shōsetsuron (engl. Discourse on Fiction of the Self) erschien erstmals 1935 und damit nachdem die Hauptwerke des Naturalismus
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Naturalismus in erster Linie eine literarische Form, in der – ähnlich der naturalistischen Malerei – alles so getreu wie möglich beschrieben wird, und kamen so zu der Erkenntnis, dass sie in ihren Werken am genauesten und ehrlichsten auch Autoren als Figuren darstellen konnten: Niemand kennt diese besser, als sie sich selbst, und dergestalt entstand in Japan ein ganz eigenes Subgenre, der bekennende Ich-Roman (Shishōsetsu) oder die Autofiktion. Darin ist der Autor sowohl Protagonist als auch Erzähler, entblößt seine innersten, geheimsten Gedanken und deckt die wahren, in aller Regel beschämenden und inakzeptablen Beweggründe hinter seinen Handlungen auf. Der Erzähler kann und will die Grenzen seiner individuellen Wahrnehmung daher nicht übertreten und übernimmt so eine genau entgegengesetzte Funktion als der allwissende Erzähler des europäischen Naturalismus. Die Figuren, Erzähler und Autoren von Ich-Romanen sind gänzlich in dem geschlossenen und klaustrophobischen Raum des Einzelnen eingekapselt und wenden sich von der Gesellschaft, der sie eigentlich zugehören, ab. Nicht nur den Autoren von Ich-Romanen, sondern auch den Menschen ihrer Zeit im Allgemeinen war kaum bewusst, dass sie als soziale Wesen zunächst auch Mitglieder der Gesellschaft und erst danach Individuen waren.23 Es ist daher nicht überraschend, dass sie die zentralen Themen, die
schon lange publiziert worden waren. Vgl. Literature of the Lost Home: Kobayashi Hideo – Literary Criticism 1924-1939, Stanford: Stanford University Press 1995, S. 67-96. 23 Ich-Romane erlebten ihre Hochzeit Anfang des 20. Jahrhunderts, nur 30 Jahre nachdem sich das Land gegenüber der Welt und westlichen Waren, Institutionen, Denkmustern und Kulturprodukten geöffnet hatte und diese begannen, ins Land zu dringen. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte es nicht einmal japanische Wörter als Äquivalent zu westlichen Begriffen wie Demokratie, Freiheit, Menschenrechte und Gesellschaft gegeben, was bereits anzeigt, dass das, was diese Begriffe bedeuten, zunächst außerhalb der Vorstellungskraft eines Großteils der Meiji-Bevölkerung lag. Der Sinologe Kunitake Kume, der 1972 Teil der Iwakura-Mission in die USA war, schildert in seinen Memoiren die Schwierigkeiten, die selbst die herausragendsten Denker dieser Zeit, wie Arinori Mori und Takayoshi Kido, bei der Übersetzung der Verfassung der Vereinigten Staaten hatten. Er schreibt: »the concept of ›society‹ did not exist in Japanese thought only till fifty years ago, thus we had great difficulty in translating it into Japanese.« Am schwierigsten fanden es Kido und seine Mitstreiter interessanterweise, das
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französische und deutsche Naturalisten umtrieben – den Kampf des Individuums gegen die sozialen Kräfte –, verfehlten. Diese Unterschiede zwischen europäischer und japanischer naturalistischer Literatur spiegelt sich auch in der Erzählstimmung: im ersten Fall ist das Schicksal jeder einzelnen Figur sozial und biologisch vorherbestimmt, so dass der Erzählton in der Regel von vornherein pessimistisch ist, während es im zweiten Fall auf die Schwächen, Marotten und Bosheiten jedes einzelnen Individuums zurückgeführt wird, so dass der Erzählton normalerweise Mitleid erregend und morbide ist; im ersten Fall ist die Schilderung meist objektiv und sachlich sowie ohne moralisches Urteil, während sie im zweiten durch das Selbstmitleid und die Selbstgerechtigkeit des Autors immer emotional und sentimental ist. Shūkō Chikamatsus Giwaku (engl. Suspicion), ein typischer später IchRoman, beginnt damit, dass der Protagonist und Ich-Erzähler Yukioka verzweifelt nach seiner Lebensgefährtin sucht, die ihn über ein Jahr zuvor verlassen hat. Hinter dem finanziell instabilen Autor von Ich-Romanen ist leicht der Autor selbst zu erkennen. Selbst die Polizei und ein von ihm engagierter Privatdetektiv können den Aufenthaltsort der Frau nicht ausfindig machen. Nachdem er einen Hinweis findet, dass sie in Nikko gewesen sein könnte, fährt er in den Urlaubsort und wühlt sich durch die Gästelisten aller zwanzig Hotels, um herauszufinden, mit wem sie unterwegs war. Nach zweitägiger Suche findet er ihre Unterschrift neben der seines Untermieters, der vierzehn Jahre jünger als sie ist und aus einer äußerst wohlhabenden Familie stammt. Die letzten zwei Drittel des Romans sind der Beschreibung all der Verdächtigungen Yukiokas gewidmet, dass seine Frau ihn bereits mit ihrem jüngeren Partner betrogen haben könnte, während sie alle drei unter dem selben Dach wohnten; Gedanken, die er nun in seinen Erinnerungen an die gemeinsame Zeit entfaltet. Shūkō präsentiert in Suspicion zielstrebig ausschließlich die private, innere Welt seiner Figur – oder seiner selbst – und schenkt der Beziehung zwischen dem unglücklichen Individuum und der elenden Gesellschaft, in der dieser gefangen ist, keinerlei Beachtung. Dieses Muster wiederholt sich in jeder einzelnen Geschichte, die
Wort »Gesellschaft« zu verstehen und ins Japanische zu übersetzen. Vgl. Naoe Kimura: »›Society‹ to Deau – Meiji-ki ni okeru ›Shakai‹ Gainen Hensei wo meguru Rekishi Kenkyuu«, in: Gakushuin Joshi Daigaku Kiyo 9 (2007), S. 1-31, hier S. 4.
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er je geschrieben hat, und ist den Shūkō-Forschern nicht verborgen geblieben. Irmela Hijiya-Kirschnereit etwa hebt hervor: »only private life […] exist[s] for Shūkō«; und Barbara Reed charakterisiert seine Romane wie folgt: »Chikamatsu Shūkō’s [novel] is remarkable even among shishōsetsu writers for the single-mindedness with which he offers up for public scrutiny the failures of his private life«.24 Das Subgenre des japanischen Naturalismus hat keinen Platz für imaginierte Figuren wie Jean Macquart, Jacques Lantier, Gervaise, Étienne Lantier, Claude Lantier und Nana und ist gänzlich frei von Beschreibungen sozialer und öffentlicher zwischenmenschlicher Begegnungen der Charaktere. Naoya Shigas Wakai (Versöhnung) ist ein weiterer typischer Ich-Roman und einer der wenigen, die noch heute gelesen werden, während die meisten anderen in Vergessenheit geraten sind. Beim Ich-Roman wird in der Regel in zwei Typen unterschieden: dem beichtenden Roman, der durch die ungebrochene, ›wahre‹ Enthüllung des schuldvollen oder schamhaften Gewissens des Autors/Erzählers gekennzeichnet ist, und dem ›Geisteshaltungs‹-Roman, in dem der Autor/Erzähler seine innersten Sorgen und persönlichen Überzeugungen reflektiert und ›ehrlich‹ verbalisiert. Während Shūkōs Giwaku ein typisches Beispiel der ersten Kategorie ist, ist Shigas Wakai eines der zweiten. Wie Shiga selbst ist die Hauptfigur Junkichi ein Romanautor, der auf Ich-Romane spezialisiert ist und mit seiner Frau und seinen Kindern recht weit weg von Tokio lebt. Von seinem Vater hat Junkichi sich derart entfremdet, dass er seine Großmutter und Stiefmutter nicht besuchen kann, wenn dieser zuhause ist. Das zentrale Ereignis, das in dem Roman beschrieben wird, ist der Tod der neugeborenen Tochter, die auf dem Rückweg von einem Besuch des Wohnsitzes des Vaters stirbt. Die Großmutter insistiert, die kleine Tochter bei sich zuhause zu Gesicht zu bekommen, obgleich ein Arzt davor gewarnt hat, dass eine so weite Reise für das Baby noch zu früh wäre. Junkichi gibt einerseits seiner Großmutter und seinem Vater die Schuld am Tod des Kindes, ist aber vor allem darüber erbost, dass der Vater ein Begräbnis auf dem Familienfriedhof verweigert.
24 Irmela Hijiya-Kirschnereit: Rituals of Self-revelation: Shishosetsu as Literary Genre and Social Phenomenon, Cambridge, MA: Harvard University Asia Center 1996, S. 208; Barbara Reed: »Chikamatsu Shūkō: An Inquiry into Narrative Modes in Modern Japanese Fiction«, in: The Journal of Japanese Studies 14/1 (1988), S. 59-76, hier S. 59.
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Shigas schnelles Erzählen im Stile Hemingways schafft einen meisterhaften Spannungsbogen von dem Moment, in dem das Baby erkrankt, bis zu seinem Tod, doch das Ende, an dem Junkichi und sein Vater sich versöhnen, erscheint mir etwas zu abrupt.25 Dieser Eindruck hängt mit der Merkwürdigkeit zusammen, dass keinerlei Erklärung dafür gegeben wird, wie es überhaupt zu der Fehde zwischen Vater und Sohn gekommen ist. In seiner Analyse japanischer Bekenntnisliteratur zitiert Edward Fowler Shigas Antwort auf Literaturkritiker, die dies beklagt haben: »I noted more than once right in the story that I could not begin to chronicle the cause of the discord. […] Do the critics simply not understand how I felt? They ask why I failed to explain the causes. I ask the critics: how was I able to depict the reconciliation so well without even mentioning them.«26 Die Leserinnen und Leser können die Gründe für die Entfremdung daher nur erahnen, aber es liegt nahe, dass wohl Diffamierung und Ehrverletzung eine Rolle gespielt haben dürften. Wenn, wie Shiga selbst in dem Roman offen zugibt, »[the] author and [the] hero are one and the same person«,27 dann handelt es sich bei dem Vater um Naomichi Shiga, einen der mächtigsten Industriellen seiner Zeit, Gründer einer Eisenbahn- und Geschäftsführer einer Versicherungsgesellschaft. Er war nicht einfach eine Privatperson, sondern eine öffentliche Figur mit leitender Funktion in japanischen Wirtschaftskreisen, während sein Sohn Naoya über sich selbst, seine Familie und seine Freunde in der Art eines »simply recording the facts without alteration or embellishment«28 schrieb. Shiga muss seinen Vater damit verärgert haben, dass er über ihn als sowohl privaten wie öffentlichen Mann geschrieben hat, aber an keiner Stelle deckt er die öffentliche Natur dieser Auseinandersetzung auf. Die Autoren der japanischen Version des Naturalismus sind der Überzeugung, dass das Schreiben aus der eigenen Vorstellungskraft heraus schwierig ist; dabei ist es viel schwieriger, alles um sich herum offen und
25 Viele finden diese Klimax hingegen auch überzeugend, u.a. Donald Keene: Dawn to the West, New York: Columbia University Press 1998, S. 465. 26 Zit. nach Edward Fowler: Rhetoric of Confession, Berkeley, CA: University of California Press 1992, S. 216. 27 Shiga Naoya: Unveröffentlichtes Manuskript, in: Shiga Naoya Zenshu, Bd. 9, Tokio: Iwanami Shoten 1974, S. 536-539, hier S. 538. 28 Ders.: »Kuchibiru ga Samui«, in: Shiga Naoya Zenshu, Bd. 8, Tokio: Iwanami Shoten 1974, S. 106-111, hier S. 109.
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ehrlich zu beschreiben: zwar bedarf es keiner Fantasie, dafür aber viel Mut und moralischer Kraft. An diesem verdrehten literarischen Wert, an dem sie festhalten, liegt es, dass sie sich darauf konzentrieren, von sich selbst zu erzählen, und sich weigern, Romanfiguren – inklusive sich selbst – in einen breiteren sozialen Kontext zu stellen und eine Vielfalt von Menschen zu beobachten, die sie nicht persönlich kennen. Die Figuren des japanischen Naturalismus werden nie als soziale Wesen behandelt, ihre Existenz ist durch und durch privat. Dies ist der Kompromiss, der geschlossen wurde, als naturalistische Romane in Japan eingeführt und in das japanische Literatursystem integriert wurden. Die Chronologie der Entwicklung europäischer fiktionaler Genres der Moderne und diejenige ihrer Importe nach Japan koinzidieren nicht, da der japanische Markt im späten 19. Jahrhundert, als sich das Land nach 230 Jahren der Isolation und Zurückgezogenheit öffnete, von fast allen europäischen Literaturprodukten gleichzeitig erfasst wurde. Schauerromane, historische Romane, Kriminalgeschichten, Bildungsromane, Sensationsliteratur, Fantasy, Kinderliteratur, Utopien,29 alles Gattungen, die in der Mitte des 17. Jahrhunderts aufgekommen und seither gewachsen waren, kamen alle im späten 19. Jahrhundert in Japan an. Im Kontrast dazu gelangten die jüngeren europäischen Genres, wie der Dekadenzroman, die Arbeiterliteratur und der moderne Roman, fast gleichzeitig mit ihrem Aufkommen nach Japan. Diese westlichen Genres wurden japanischen Leserinnen und Lesern zuerst in Übersetzungen oder Adaptionen in Fortsetzungsromanen in Zeitungen nahegebracht und anschließend in japanische Roman-Genres transformiert. Einige wurden in spezifisch ›japanische Genres‹ verwandelt, wie tantei shōsetsu (Detektivgeschichten), die aus den Kriminalgeschichten entwickelt wurden, seishun shōsetsu (rite de passage-Geschichten), die aus dem Bildungsroman entstanden, und buraiha shōsetsu (Schurkenroman), der sich aus dem Dekadenzroman entwickelte. Sie basieren formal oder inhaltlich auf dem importierten westlichen Original, die Figuren und Erzähler aber sind lokal und weisen reichliche japanische Charakteristika auf. Das altehrwürdige literarische Genre des torimonochō (Detektivgeschichte), das seinen Ursprung in der Tokugawa-Ära hat, gab es lange bevor die westli-
29 Ich folge hier Morettis Literaturgeschichte des Auftauchens und Verschwindens romanhafter Genres in Großbritannien zwischen 1740 und 1900. Vgl. Franco Moretti: »Graphs, Maps, Trees«, in: New Left Review 24 (2003), S. 67-93.
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chen Kriminalgeschichten Japan erreichten, wurde später aber durch den Kontakt mit diesen als neues Genre wiedergeboren. Die Handlungen sind westlichen Kriminalgeschichten entlehnt (besonders populär waren Arthur Conan Doyle, Edgar Allan Poe und Émile Gaboriau) und werden in dem japanischen urbanen Setting der vergangenen Edo-Zeit sowie ausgestattet mit einem Set von Figuren wie yoriki, dōshin (Polizist), okappiki (Polizist, der jemanden festnimmt) und meakashi (privat beschäftigter Assistent der Polizei) nacherzählt. Während westliche Kriminalgeschichten in der Regel einen mysteriösen Tod oder ein aufzuklärendes Verbrechen beinhalten, fügt der neue japanische torimonochō die starken »Belohnung-von-Tugend-undBestrafung-von-Laster«-Elemente hinzu, die ein lebenswichtiges Prinzip des alten torimonochō waren; logische und wissenschaftliche Lösungen von Rätseln werden in ein moralisches Lehrstück umgewandelt. Es ist verblüffend, dass Morettis Idee eines Weltsystems der Literatur sowohl von ›post-kolonialer‹ wie von ›traditioneller‹ Seite kritisiert wurde. Zhang Lonxi etwa, ein Kritiker des Eurozentrismus und anderer Ethnozentrismen, der die Weltliteratur aus chinesischer und anderen nicht-europäischen Perspektiven neu untersucht hat, verteidigt nationale und lokale Literaturen gegen Morettis pan-globale Position: »Despite its remarkable explanatory power, the center-periphery model and, for that matter, the world systems theory on which it depends fail to recognize the resilience of local traditions that constitute crucial internal context, not just ›local materials‹ for the development of the novel in the peripheries. In other words the tension between the local and the global in the concept of world literature cannot be resolved by ignoring the local dimension, though as a modern form of literature, the novel in the peripheries is indeed under a heavy western influence.«30
Es ist genau diese »tension between the local and the global«, die Komparatisten, Moretti zufolge, untersuchen müssten: die Art und Weise, in der fremde Einflüsse mit lokalen Materialien interagieren und zu einem Kom-
30 Longxi Zhang: »Epilogue: The Changing Concept of World Literature«, in: David Damrosch (Hg.), World Literature in Theory, Chichester: Wiley Blackwell 2014, S. 513-523, hier S. 517; seine gesamte Diskussion nicht-eurozentrischer Studien über Weltliteratur findet sich in: From Comparison to World Literature, Albany, NY: SUNY Press 2014.
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promiss finden. Folgt man Zhang Longxi, dann demonstriert Weltliteratur als ein Modus vergleichender Literatur gerade, wie resilient lokale Traditionen sind und wie lokale Dimensionen überleben. ›Traditionalisten‹ glauben, dass die Literatur einer Sprache absolut unvergleichbar mit der einer anderen ist – ganz gleich, wie weit und schnell sie sich durch Übersetzungen über Grenzen hinweg bewegt –, da nichts wirklich übersetzbar sei. Dadurch blieben nationale und lokale literarische Identitäten intakt. Sie sind insofern Traditionalisten, als »traditional elite comparative literature programs had a real distaste for translation.«31 Emily Apter, die sich in besonders herausragender Weise wiederholt »against World Literature« ausgesprochen hat, ist der Ansicht, dass Moretti seinen komparatistischen Ansatz – mit Konzepten wie Weltsystem, »distant reading« und Kompromiss – schlicht aus Anti-Nationalismus und literarischem Ökumenismus heraus verfolgt. Sie verurteilt diesen Ansatz, der close reading als ›Ketzerei‹ abtue, und betrachtet ihn als äußerst unzuverlässig, denn »it […] favours narrative over linguistic engagement, and this, I would surmise, is ultimately the dangling participle of Moretti’s revamped Weltliteratur.«32 Da kein Wort, kein Ausdruck, kein Satz wirklich übersetzbar sei, ist für Apter jedes Werk in seiner Originalsprache eine gänzlich von jenem in der Zielsprache getrennte Einheit und die Übersetzung deshalb ein schierer Ersatz des Originals. Ihre Position gegen Weltliteratur ist nicht erkenntnistheoretisch, sondern ontologisch, d.h. sie fragt nicht danach, wie gut es der Übersetzung gelungen ist, die ursprüngliche Bedeutung in die neue Sprache zu übertragen, sondern ob die Übersetzung ein Ersatz für das Original sein kann.33 Da ihr Fazit ist, dass sie es nicht ersetzen kann, bewahrt nur die Literatur in der Originalsprache ihre einzigartige Existenz. Wenn diese Schlussfolgerung richtig ist, bleibt nur nationale oder lokale Li-
31 David Damrosch/Gayatri Chakravorty Spivak: »Comparative Literature/World Literature: A Discussion«, in: Damrosch, World Literary Theory (2014), S. 363388, hier S. 366. 32 Apter: »Global Translatio«, S. 77 und S. 79. 33 Apter erklärt ihre Gegnerschaft gegenüber Weltliteratur wie folgt: »I do harbor serious reservation about tendencies in World Literature toward reflexive endorsement of cultural equivalence and substitutability«. Emily Apter: Against World Literature: On the Politics of Untranslatability, London/New York: Verso 2013, S. 2.
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teratur in einer bestimmten Originalsprache als lesenswert übrig.34 Es ist sicher richtig, dass eine komplette kulturelle Äquivalenz und Ersetzbarkeit zwischen einem Text und seiner Übersetzung nicht erreicht werden kann; aber ist auch eine gelungene Äquivalenz und Ersetzbarkeit unerreichbar? Die Leseerfahrung eines übersetzten Textes mag von der des Originals abweichen, aber können die Leserinnen und Leser beider Texte nicht eine ähnliche, wenn auch nicht exakt die gleiche, Leseerfahrung teilen? 35 Apters sich auf Derrida und Butler stützende Behauptung, dass ein Text im Original und in der Übersetzung unterschiedlich gelesen wird, schlägt hier insofern zurück, als beide auch postulieren, dass sogar Sprecherinnen und Sprecher der gleichen Sprache denselben Text jeweils unterschiedlich lesen. Morettis »conjectures« der Weltliteratur sind nur auf moderne, zwischen 1700 und 1900 in Europa entstandene Formen des Romans und ihre
34 Große Unterstützung für Apters Argument der Unübersetzbarkeit findet sich bei Alain Badiou: »translation itself is tantamount to a writing of disaster, a kind of black hole or meaning-void«. Zit. nach Emily Apter: The Translation Zone: A New Comparative Literature, Princeton: Princeton University Press 2005, S. 85. Ihre Argumentation schuldet vor allem Poststrukturalistinnen und -strukturalisten viel, besonders Judith Butler. Apter bezieht sich u.a. mit den folgenden Aussagen auf sie: »the idea is that translation works, which means that substitutionality wins and something is fully left behind, and something new is fully installed in its place. What happens if the traces of what is lost cannot be erased from what comes into being, and which resides or persist in the newer versions? At stake is how one time comes to inhabit another time, how one place is transposed onto another.« Apter: Against World Literature, S. 158. 35 »The problem with the assumption that translation is, at heart, impossible is that all evidence is against it. Far from being an insurmountable obstacle, translation actually happens all the time, with notable success. Yes, there is no such thing as a perfect translation. But in much literary theory, the perfect has been the enemy of the good in the sense that the impossibility of a perfect translation […] is used to draw the conclusion that all translation is not only imperfect but impossible.« Puncher: »Goethe, Marx, Ibsen«, S. 34. Dass diese Debatte um Übersetzbarkeit/Unübersetzbarkeit eine lange Geschichte hat, zeigt Raquel De Pedro: »The Translatability of Texts: A Historical Survey«, in: META XLIV/4 (1999), S. 547-559.
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Einflüsse auf Romane in Semi-Peripherien und Peripherien fokussiert, lassen aber später entstandene Romangenres außer Acht. Der letzte Punkt, auf den ich an dieser Stelle eingehen möchte, ist daher die Frage, was im 20. Jahrhundert, besonders in der zweiten Hälfte, jener Zeit der zunehmenden Globalisierung, mit der Weltliteratur passiert ist. Moretti fasst zwei Arten von Weltliteratur ins Auge: die erste entspricht einer Reihe separater Literaturen, die rund um 1700 produziert wurden und durch starke lokalkulturelle Charakteristika gekennzeichnet sind, anders gesagt: die Sorte Literatur, die Goethe, Marx und Engels so begeisterte; die zweite ist ein Amalgam der Literaturen des Zentrums und der Peripherien, jene Sorte Literatur, die zwischen dem 18. und dem frühen 20. Jahrhundert entstanden ist und die er mit seiner World-Systems Analysis untersucht hat.36 Es lohnt sich daher, an dieser Stelle die Frage aufzuwerfen, ob nach der Phase, die Moretti zuletzt untersucht hat, eine dritte Weltliteratur entstanden ist, und wenn ja, welcher Art diese ist. Die Literaturen des Zentrums, Werke von Autoren, die wie T.S. Eliot, James Joyce,37 Virginia Woolf und Marcel Proust, die der Moderne zugeordnet werden, sowie Kunstströmungen wie der Dadaismus, der Surrealismus und der Expressionismus, übten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts weiter Einfluss auf die Literaturen in den Peripherien aus. In Japan entwickelte sich die Shin Kankakuha (die New Sensationalist School), in deren Texten die unkonventionelle Repräsentation von Sinnes-
36 Franco Moretti: »World-Systems Analysis, Evolution and Weltliteratur«, in: David Palumbo-Liu/Bruce Robbins/Nirvana Tanoukhi (Hg.), Immanuel Wallerstein and the Problem of the World, Durham, NC/London: Duke University Press 2011, S. 67-77, hier S. 75. Die zweite Weltliteratur wird von Beecroft als »global literature« bezeichnet, beide scheinen aber über die weitgehend gleichen Charakteristika zu verfügen: »Global literature consists of literatures whose linguistic reach transcends national, even continental border. In some sense, a global literature resembles a cosmopolitan literature, except that […] global literatures continue to represent themselves as systems of national literatures to an extent that cosmopolitan literatures do not. They are in that sense inter-national rather than extra-national.« Beecroft: »World Literature without a Hyphen«, S. 188. Dieser Aufsatz wurde später zu einem ganzen Buch über Weltliteratur ausgearbeitet, vgl. ders.: An Ecology of World Literature. 37 Irland war in dem Weltsystem der Literatur zwar eher Peripherie, aber Ulysses wurde zuerst in Paris veröffentlicht.
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reizen des modernen Lebens, z.B. in Form des Bewusstseinsstroms, im Fokus steht, aus dem Dadaismus und Surrealismus auf der einen und Joyces Romanen auf der anderen Seite.38 Wie sieht es mit der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg aus, entstand in Europa irgendeine bedeutende literarische Form? Black Mountain- und Beatpoeten erneuerten die Art und Weise, Gedichte zu schreiben, aber sie waren erstens nicht europäisch (und ob die USA zum Zentrum oder zur Peripherie gehören, ist weiterhin umstritten), und zweitens ist der Einfluss der ersteren auf die literarischen Peripherien vernachlässigenswert. In Lateinamerika entstanden mit den Romanen des magischen Realismus neue Erzählstrategien, die auch die Formsprache im Zentrum beeinflussten (typische Beispiele wären Autoren wie Salman Rushdie und Ben Okri) und so das Zentrum-Peripherie-Verhältnis umkehrten. Als Ursprung postmoderner Romane gelten gemeinhin die USA, aber es gibt keinen Konsens darüber, ob die Moderne und die Postmoderne in einer Entwicklungslinie stehen oder voneinander getrennte Phänomene sind.39 Mit Blick auf Wallersteins Weltsystemanalyse argumentierte William I. Robins: »the accelerated integration of people into global social structures and social life brought about by globalization implies a universal cultural transmission and by ne-
38 Vgl. Michael Gardiner: British and Japanese Modernism: Rethinking Literary History and Politics, London/New York: Routledge 2014. 39 Ihab Hassan, der als einer der ersten den Postmodernismus der USA kommentierte, versuchte die Unterschiede zwischen Moderne und Postmoderne zu klären und beide als separate literarische Formen voneinander zu zu bestimmen. Seine berühmte Tabelle mit 33 Unterschieden ist weit davon entfernt, überzeugend zu sein, und am Ende gesteht er selbst ein: »Yet the dichotomies this table represents remain insecure, equivocal.« Ihab Hassan: The Dismemberment of Orpheus: Toward a Postmodern Literature, Oxford/New York: Oxford University Press 1971, S. 269. Jameson sieht die postmoderne Kultur als eine Reihe von Pastiches der modernen Kultur; vgl. Postmodernism, or The Cultural Logic of Late Capitalism, Durham/NC: Duke University Press 1991.
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cessity involves a minimum quotient of shared symbols, adaptive strategies and meaning systems, if social life is to be possible at the global level.«40
Durch die Globalisierung teilen Menschen nicht nur viel mehr von der gleichen Kultur, diese bewegt sich vor allem nicht mehr in einer Einbahnstraße vom Zentrum zur Peripherie, sondern hin und zurück. Dies muss das Paradoxon der Globalisierung sein: dass sie alle lokalen Unterschiede einebnet, zugleich aber lokalen Kulturprodukten ermöglicht, Teil einer globalen Kultur zu werden.41 Was die Geokultur angeht, so drängen Länder oder Regionen ihr nicht länger eine vorherrschende Kultur auf; Globalisierung bedeutet keineswegs US-Amerikanisierung, und die Sorgen, dass alles einen USamerikanischen (Bei-)Geschmack haben wird, haben sich als grundlos erwiesen.42 Man mag dies mit dem Hinweis darauf anfechten, dass Coca Cola, Mickey Mouse, Big Macs, Nike und Starbucks alle aus den USA kommen und US-amerikanische Filme und Popmusik den Weltmarkt beherrschen. Doch während sie zwar sicherlich ihren Ursprung in den Vereinigten Staaten haben, sind sie bereits überall auf der Welt eher als globale denn als US-amerikanische Kultur verwurzelt. »The culture and ideology of global capitalism,« schreibt Robins, »are less ›western‹ or ›core‹ than global capitalist patterns and are imposed as much from within by local contingents of the transnational capitalist class and transnationally oriented elites as from without by agents from other regions.«43 Nachdem die letzte Flut von Literatur aus dem Zentrum schließlich abgeebbt und keine neue in Sicht war, reiften die Literaturen der Peripherien im Laufe eines halben Jahrhunderts aus sich heraus zu halb-lokalen, halbwestlichen Nationalliteraturen heran. Erst nach dieser Zwischenzeit trat in den 1990er Jahren die dritte Weltliteratur auf den Plan, nicht an einzelnen Orten, sondern gleichzeitig überall auf der Welt. Sie unterscheidet sich in-
40 William I. Robbins: »Globalization and the Sociology of Immanuel Wallerstein: A Critical Appraisal«, in: International Sociology 26/6 (2011), S. 723-745, hier S. 732. 41 Vgl. Urs Stäheli: »Die Kontingenz des globalen Populären«, in: Soziale Systeme 1 (2000), S. 85-110. 42 Vgl. Nathan Sznaider/Ulrich Beck: Global America? The Cultural Consequences of Globalization, Liverpool: Liverpool University Press 2004. 43 Robbins: »Globalization and the Sociology of Immanuel Wallerstein«, S. 11.
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sofern sowohl quantitativ wie qualitativ von der ersten und zweiten Weltliteratur, als die Menge und die Vielfalt der Werke, die in dieser dritten Phase in Übersetzungen auf dem globalen Buchmarkt erhältlich sind, mit jenen der ersten beiden nicht vergleichbar sind und viele der Werke die Grenze zwischen Hoch- und Populärkultur verwischen. Laut der UNESCO-Studie zu den Entwicklungstendenzen der Veröffentlichung übersetzter Literatur zwischen 1990 und 2005 wuchs die Gesamtzahl der veröffentlichten Titel auf dem Weltbuchmarkt kontinuierlich und dürfte mittlerweile bei 100.000 Titeln pro Jahr liegen: »Translated literature titles have reached 40 000 per year globally, and have probably done so in Europe a couple of years ago. From 23,8 thousand in 1990, European literature translations have increased about 60 % by 2005.«44 Die Man Booker Studie über die Verkäufe von Übersetzungen fiktionaler Literatur im Vereinigten Königreich zwischen 2001 und 2015 liefert aktuellere Zahlen: die Verkaufszahlen haben seit 2001 und trotz einem allgemeinen Verkaufsrückgang um 96 % zugenommen; der Wert der Verkäufe ist von £8,9 Millionen auf £ 18,6 gestiegen; fiktionale Werke in Übersetzungen machen nur 3,5 % der insgesamt publizierten Titel im Vereinigten Königreich, aber 7 % des Umsatzvolumens aus.45 Inmitten der Krise des Buchmarktes wird eine noch nie dagewesene Zahl an Übersetzungen publiziert und verkauft. Darüber hinaus verbreiten sich literarische Werke dank technischer Fortschritte – Computern, Textverarbeitungsprogrammen, Suchmaschinen, Internet – nun sehr viel schneller in andere Sprachen sowie zu weiter verstreuten Orten. Es dauerte erstaunlich lange, bis die erste Weltliteratur es aus ihrer ursprünglichen nationalen und regionalen Gefangenschaft herausgeschafft hatte, übersetzt wurde und zu ihren Leserinnen und Lesern ge-
44 O.A.: »Literature Across Frontiers: Publishing Translations in Europe: Trends 1990-2005«, online unter: http://webarchive.unesco.org/20160912065908/http: //portal.unesco.org/culture/es/files/41748/13390726483Translation_trends_1990 _2005_Dec_2010.pdf/Translation%2Btrends%2B1990_2005_Dec%2B2010.pdf (Stand: 19.01.2019). 45 Vgl. o.A.: »First research on the sales of translated fiction in the UK shows growth and comparative strength of international fiction«, online unter: http://themanbookerprize.com/international/news/first-research-sales-translatedfiction-uk-shows-growth-and-comparative-strength (Stand: 19.01.2019).
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langte.46 Joseph von Hammer, ein Orientalist und Diplomat, hatte als Erster die Idee, Hafez’ Divan – dessen Ruhm Goethe 1798 unsterblich machte – zu übersetzen; aber das war 1812, 450 Jahre nach dessen Entstehung. Die erste, allerdings nur partielle Übersetzung des Genji Monogatari (Die Geschichte vom Prinzen Genji) erschien 1882, die erste vollständige Übersetzung entstand über einen Zeitraum von 12 Jahren zwischen 1921 und 1933. La Storia di Genji, die italienische Übersetzung von Maria Teresa Orsi, wurde erst 2012 publiziert – und damit 1000 Jahre, nachdem Murasaki Shikibu sie geschrieben hatte. Bei der zweiten Weltliteratur dauerte es nicht mehr ganz so lange, bis sie für eine internationale Leserschaft vorlag; in einigen Fällen – bei langen, schwierigen Werken – bedarf es aber doch einer erheblichen Zeit. Joyces Ulysses, der einen enormen Einfluss auf japanische Autoren hatte, erschien erst 1932 in einer japanischen Übersetzung und auch dann nur der erste Band: bis zum zweiten musste man sich weitere zwei Jahre gedulden.47 Von Haruki Murakamis vorletztem Roman Shikisai o Motanai Tazaki Tsukuru to, Kare no Junrei no Toshi (Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki) hingegen wurden binnen eines Monats nach dem Erscheinen am 12. April 2013 bereits eine Million Exemplare verkauft. Philip Gabriels englische Übersetzung erschien bereits am 12. August 2014, nur 16 Monate später, während Yan Ok Guans koreanische Version sogar weniger als drei Monate später am 1. Juli 2013 und die chinesischen und spanischen Versionen am 1. bzw. 16. Oktober folgten. Mittlerweile gibt es zudem die Tendenz, literarische Werke bereits vor ihrem ersten Erscheinen in diverse Sprachen zu übersetzen und dann – wie einen Blockbuster oder Rockmusik – gleichzeitig überall auf der Welt zu veröffentlichen; ein Beispiel wären die Werke Salman Rushdies und Don DeLillos.48 Einigen Werken aus den literarischen Peripherien ist es gar gelungen, die Bestsellerlisten des Zentrums zu erklimmen: 2001, im ersten Jahr der oben genannten Man Booker Studie, gehörten im Vereinigten Königreich etwa Paulo Coelhos The Alchemist (mit 114.430 verkauften Exemplaren al-
46 Vgl. Rebecca Walkowitz: Born Translated: The Contemporary Novel in an Age of World Literature, New York: Columbia University Press 2015, S. 2. 47 Vgl. Sakitarō Ōta: »Bungei Jihyō«, in: Shinkagakuteki Bungei 1935, o. S. 48 Mads Rosendahl Thomsen: Mapping World Literature, London/New York: Continuum 2008, S. 9.
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lein im Vereinigten Königreich), Wei Huis Shanghai Baby (54.104) und Michel Houellebecqs Atomised (51.323) dazu, 2015 Elena Ferrantes My Brilliant Friend (108.969), Takashi Hiraides The Guest Cat (46.684) und Haruki Murakamis Colorless Tsukuru Tazaki and His Years of Pilgrimage (40.236). Werke wie diese bilden nun gemeinsam mit auf Englisch oder Französisch verfassten Werken den Kern der dritten Weltliteratur. Aus seinem Exil in Pennsylvania prophezeite Erich Auerbach, dass durch die zunehmende Standardisierung der Weltkultur und die sich verschärfende Dominanz der englischen Sprache eine effektivere Weltliteratur geschaffen werden könne, diese aber zugleich dem Risiko des Aussterbens ausgesetzt sei. Sie sei effektiv, wenn jeder Leser und jede Leserin sie auf Englisch lesen könne, aber in Gefahr, wenn sie ihre lebenswichtigen kulturellen und sprachlichen Unterschiede verliere.49 Es ist nachvollziehbar, dass Auerbach so dachte: Für den aus Nazi-Deutschland über Istanbul ins Exil geflohenen ›alten Europäer‹ muss sich die US-amerikanische materielle Überlegenheit überwältigend angefühlt haben; doch seine Sorgen haben sich als weitgehend unbegründet erwiesen. In der Tat hat sich in der Nachkriegszeit eine Standardisierung der globalen Kultur vollzogen, aber in einer Art und Weise, die kosmopolitische Kulturen und Traditionen hervorbrachte, in denen lokale, nationale, ethnische und religiöse Varianten sich gegenseitig durchdringen, miteinander verbinden und vermischen.50 Diesen weltoffenen Kulturen und Traditionen sind sowohl nationale (oder lokale) als auch globale Einflüsse inhärent, auch wenn das Gleichgewicht zwischen ihnen variieren mag. Die dritte Weltliteratur spiegelt diese globalen und kosmopolitischen Bedingungen wider, und Haruki Murakamis Werke sind eines ihrer besten Beispiele. Seiner Romane sind durch das Erzählen fantastischer Begebenheiten charakterisiert, die sich aus dem alltäglichen Einerlei entwickeln; die kulturellen Bezüge erinnern an die eingangs zitierte Beschreibung Vaclav Havels. Zweifellos handelt es sich bei dem zeitgenössischen, urbanen Setting seiner Romane um Japan, aber es wird keinerlei kulturelle japanische
49 Vgl. Erich Auerbach: »Philology and Weltliteratur«, in: Centennial Review 13/1 (1969), S. 1-17. 50 Vgl. Ulrich Beck: The Cosmopolitan Vision, Cambridge: Polity Press 2006, S. 7; vgl. auch: Kwame Anthony Appiah: The Ethics of Identity, Princeton: Princeton University Press 2005.
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Besonderheit geschildert. So lautet etwa eine willkürlich ausgewählte Beschreibung einer Hotellobby: »Ganz hinten befand sich ein nobles Café. Vermutlich eins von der Sorte, wo sie einem, wenn man ein Sandwich bestellt, vier Häppchen auf einem Silbertablett servieren. Angeordnet wie Visitenkarten und künstlerisch garniert mit Kartoffelchips und Delikatessgürkchen. Noch einen Kaffee dazu, und man bezahlt so viel wie für ein bescheidenes Mittagsmahl, von dem eine vierköpfige Familie satt werden würde.«51
Sein Hotel ist gesichtslos und ohne jedes Lokalkolorit, anders als zum Beispiel Yasunari Kawabatas Beschreibungen traditioneller japanischer Gasthäuser in Schneeland (yukiguni) und Die Tänzerin von Izu (izu no odoriko), die unter zeitgenössischen internationalen Leserinnen und Lesern einen Hauch von Exotismus, unter lokalen Leserinnen und Lesern hingegen Nostalgie auslösen mögen. Eine weitere Passage aus einem Murakami-Roman: »Das Restaurant lag zirka fünfzehn Autominuten von der Bibliothek entfernt. Wir schlängelten uns sachte durch eine Wohngegend, Fußgängern und Fahrradfahrern ausweichend, bis auf halber Höhe einer Steigung plötzlich ein italienisches Restaurant in Sicht kam. Ein zur Trattoria umfunktioniertes weißes Wohnhaus, ein Holzbau im westlichen Stil, mit kleinem Schild, leicht zu übersehen.«52
Wer könnte angesichts dieser Passage erraten, dass sich dieses Restaurant irgendwo in Japan befindet? Die typischen Murakami-Leserinnen und -Leser lesen seine Bücher weder weil er ein japanischer Autor ist, noch weil sie auf der Suche nach etwas exotisch-japanischem sind, sondern im Gegenteil weil seine Werke global oder kosmopolitisch sind, ohne jeden fremden oder fremdländischen Einschlag. Murakami selbst liest US-amerikanische Romane im Original und hat viele Jahre im Ausland gelebt; dasselbe gilt für viele weitere Autorinnen und Autoren »staatenloser« globaler Literatur; unter jenen japanischer Herkunft etwa für Yōko Tawada, die so-
51 Haruki Murakami: Tanz mit dem Schafsmann, übers. von Sabine Mangold, München: btb 2003, S. 38. 52 Ders.: Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt, übers. von Annelie Ortmanns, Köln: Dumont 2006, S. 445.
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wohl auf Deutsch als auch Japanisch schreibt, und Ryōko Sekiguchi, der seine Gedichte gleichermaßen auf Französisch und Japanisch verfasst. Zu der dritten Weltliteratur zählen unter vielen anderen auch Autorinnen und Autoren wie Isabelle Allende, Elena Ferrante, Khaled Hosseini und Amitav Ghosh, die für starke lokale Einsprengsel oder gar das Aufgreifen lokalpolitischer Diskurse und Konflikte bekannt sind und den Exotismus ihrer Werke ganz bewusst betonen. Auch einige postkoloniale Autorinnen und Autoren fallen hierunter. Diese Eigenschaften mögen nicht zu der dritten Weltliteratur, wie ich sie oben beschrieben habe – die eher globale oder kosmopolitische als nationale oder lokale Realitäten spiegelt –, passen: Schließlich gibt es keine Literatur, die mehr lokale Geschichte und mehr lokale Charaktere enthält, als Allendes chilenische Romane, Ferrantes neapolitanisches Quartett, Hosseinis afghanische Prosa oder Ghoshs indische Erzählungen. Ihre internationale Popularität speist sich gerade aus diesem üppigen Lokalkolorit. Doch dass einige fremde Länder und Städte nur noch gelinde exotisch, aber keineswegs zu fremd, wirken, dass sie einem eher ›auf einer Linie‹ denn als gänzlich entgegengesetzt vorkommen, ist ein weiterer Aspekt der Globalisierung. Diese funktioniert, wie ich oben angeführt habe, durch sowohl zentripetale als auch zentrifugale Prozesse, ohne ein wirkliches Zentrum. Da alles Lokale und Nationale sich ausbreitet und als Globales zurückkommt, ist sie ein Prozess, der Diversität unifiziert. Die Romane Murakamis und anderer exofoner Autorinnen und Autoren haben ihre starken lokalen und nationalen Identitäten bereits verloren, während dies auf Allendes, Ferrantes, Hosseinis und Ghoshs Werke nicht zutrifft – doch beides ist das Ergebnis desselben Globalisierungsprozesses. In dieser Hinsicht handelt es sich bei dem zweiten Typus der dritten Weltliteratur keineswegs um provinzielle Romane. Wie Milan Kundera hervorhebt, gibt es zwei Arten des literarischen Provinzialismus: Eine ist paradoxerweise großen Nationen zu eigen, in denen die Bevölkerung davon ausgeht, dass ihre Literatur anderen Literaturen derart überlegen ist, dass sie nur wenig Interesse daran zeigen, was andernorts geschrieben wird; die andere ist jene kleiner Nationen, in denen die Menschen davon ausgehen, dass Weltliteratur ihnen zu fremd ist und ihre eigene Literatur folglich nichts damit zu tun haben kann.53 Nun hat der zweite Typus der dritten Weltliteratur eine riesi-
53 Vgl. Milan Kundera: The Curtain: An Essay in Seven Parts, New York: Harper Perennial 2007, S. 37f.
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ge Leserschaft in großen Ländern erreicht und kleine Länder haben eine große Anzahl internationaler Autorinnen und Autoren hervorgebracht. Einige postkoloniale Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben diese Sorte Literatur als ›neo-kolonialistisch‹ kritisiert, da komplexe lokale Problematiken, die nur von den früheren Kolonialisierten und Unterdrückten verstanden werden können, sowie jedwede kontroversen politischen oder ideologischen Probleme sorgfältig entfernt und bereinigt würden. Solche Werke sagen dem internationalen Publikum schlicht zu; »they are equipped with all the tried and tested receipts of exoticism«. 54 Diese Haltung ist nichts anderes als das, was Kundera den literarischen Provinzialismus kleiner Länder nennt. Es sind diese zwei Sorten Romane, die einen Teil dieser dritten Weltliteratur ausmachen, die Gegnerinnen und Gegnern der Globalisierung die Argumente dafür liefern, die zeitgenössische Literatur und Kultur zu verurteilen. Simon During etwa lamentiert: »The interest in world literature obviously follows the recent rapid extension of cross-border flows of tourists and cultural goods around the world, including literary fiction.«55 Für ihn wie viele andere ist die Zunahme an übersetzter fiktionaler Literatur und die Ausweitung deren Leserschaft nicht mehr als ein negatives Nebenprodukt der Globalisierung. In einem größeren Kontext betrachtet, wenden sich die Gegner einer globalen Literatur eher aus politischen oder anderen Gründen gegen die Globalisierung selbst.56 Ihre Warnungen sind nicht ganz unbegründet und ihr Urteil, dass die Globalisierung der Literatur der Entwicklung wahrhaft wertvoller Literatur abträglich ist, nicht falsch. Die Weltliteratur mag sich auf einem langen Niedergang befinden, wenn wir bedenken, dass wir uns kaum mehr erinnern können, wann es das letzte Mal ein Talent wie Dickens, Tolstoj, Dostojewski, Joyce, Proust oder Mann
54 Orsini: »India in the Mirror of World Fiction«, S. 330. 55 Simon During: Exit Capitalism: Literary Culture, Theory and Post-Secular Modernity, London/New York: Routledge 2009, S. 57. 56 Apter ist eine dieser Gegnerinnen und zeigt deutlich, dass ihre Anti-Weltliteratur- aus einer Anti-Globalisierungs-Haltung stammt: »partnered, they could deliver still more: translation theory as Weltliteratur would challenge flaccid globalisms that paid lip service to alterity while doing little more than to buttress neoliberal ›big tent‹ syllabi taught in English.« Apter: Against World Literature, S. 7.
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gab. Das zu beklagen wäre jedoch, als würde man darüber klagen, dass wir keine Bachs, Mozarts, Beethovens und Brahms’ mehr haben. Wenn der Globalisierung die Schuld für den Niedergang der Hochkultur und dem alarmierenden Aufstieg der Populärkultur sowie, schlimmer noch, der Hybridisierung beider gegeben wird, dann sollten auch die wahren Gründe im Sinne einer Selbstkritik eingehend untersucht werden. Wir sollten jedoch nicht vergessen, dass Weltliteratur zugleich – das ist einer ihrer vielen Vorteile – das Gegengift gegen Provinzialismus und Nationalismus ist, die beide ebenso furchterregend wie die Globalisierung sind. Auch wenn die Weltliteratur Schwächen hat, sollten wir nicht das Kind mit dem Bade ausschütten.57
57 Aus dem englischen Original übersetzt von Giulia Radaelli und Nike Thurn.
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Zur Entstehung von Weltliteratur: Lateinamerika und Karibik G ESINE M ÜLLER
Bekanntlich hat der Begriff der Weltliteratur seit seiner goetheschen Prägung eine intensive Rezeptionsgeschichte erfahren. Spätestens seit Erich Auerbachs Aufsatz »Philologie der Weltliteratur« von 1952 ist das goethesche Konzept zunehmend in die Kritik geraten, dies vor allem mit Blick auf seine eurozentrische Dimension und die Möglichkeit eines nationalliterarischen Rückbezugs.1 Die kolonialen Kulturbeziehungen und die daraus erwachsenen Asymmetrien der Aneignungsprozesse waren für Goethe noch kein Thema. In den letzten 15 Jahren etablierte sich nun eine neue Rezeptionsstufe in der international seit zweieinhalb Jahrhunderten geführten Debatte um das Konzept der Weltliteratur. Diese vornehmlich an den führenden US-amerikanischen Kaderschmieden geführte Diskussion untersucht das Konzept vorwiegend auf einer analytisch-deskriptiven Ebene und wird kontrovers vertreten, sei dies von Franco Moretti, David Damrosch, Emily Apter oder
1
Vgl. Ottmar Ette: »Erich Auerbach oder Die Aufgabe der Philologie«, in: Frank Estelmann/Pierre Krügel/Olaf Müller (Hg.), Traditionen der Entgrenzung. Beiträge zur romanistischen Wissenschaftsgeschichte, Frankfurt a.M. u.a.: Peter Lang 2003, S. 22-42, hier S. 22f.; Stephan Grotz: »Mimesis und Weltliteratur. Erich Auerbachs Abschied von einem Goetheschen Konzept«, in: Anne Bohnenkamp/Matías Martínez (Hg.), Geistiger Handelsverkehr. Komparatistische Aspekte der Goethezeit, Göttingen: Wallstein 2008, S. 225-243, hier S. 225.
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Pascale Casanova. Dabei gelingt es jedoch nicht, sich gänzlich von lange tradierten Binaritäten zu lösen. Casanova beispielsweise hat in ihrem im französischen Original 1999 erschienenen, vielbesprochenen Buch The World Republic of Letters Dichotomien wie Zentrum/Peripherie nicht aufgegeben, ganz im Gegenteil: Sie sieht insbesondere Paris im Zentrum einer Kartografierung von Weltliteratur und spricht von einer »geography [that] is based on the opposition between a capital, on the one hand, and peripheral dependencies whose relationship to the center is defined by their aesthetic distance from it«2. Franco Moretti aus Stanford und David Damrosch aus Harvard unternahmen zu Beginn des Jahrtausends umfangreiche Studien zum Weltliteraturbegriff. Moretti ging in seinem Aufsatz »Conjectures on World Literature«3 von der These aus, dass Weltliteratur im Rahmen komparatistischer Literaturforschung immer ein beschränktes Unternehmen war, erst heute bilde sie ein weltumspannendes System. Auf epistemologischer Ebene wird jedoch auch bei ihm grundsätzlich in Dichotomien gedacht: Zentrum und Peripherie, Ausgangs- und Zielkultur, etc. – immer erfolgt Wissens- und Kulturtransfer in einer Richtung, sind Werke und Autoren offensichtlich klar einer von beiden Kulturen zuzuordnen, stehen sich Räume gegenüber. David Damrosch, auch wenn er gleichfalls den Kategorien von ›fremd‹ und ›eigen‹ verhaftet bleibt, zeigt sich im Vergleich zu Moretti schon wesentlich differenzierter in seinen Überlegungen zu Zirkulationsprozessen von (Welt-)Literatur sowie der Bedeutung von Übersetzungs- und Rezeptionsfaktoren. Doch trotz dieser vereinzelten Bemühungen − gerade in den USA −, den goetheschen Weltliteraturbegriff für globalisierungsaffirmative Diskurse zu öffnen und ihn einer zeitgemäßen Globalisierungsprogrammatik zu unterwerfen, festigt letztlich auch der zunächst originell anmutende Entwurf Damroschs wieder einstmalige Bipolaritäten. Weltliteratur beginnt für ihn immer in einer irgendwie gearteten Nationalliteratur, hat immer einen irgendwie gearteten Kern, eine Essenz, was problematisch erscheint, wenn man an die Genese von Literatur in der heutigen Phase beschleunigter Globalisierung denkt: Impliziert man auch Gegenwartsliteraturen von Autoren, die nicht mehr klar einem nationalen Kontext
2
Pascale Casanova: The World Republic of Letters, Cambridge, MA u.a.: Har-
3
Franco Moretti: »Conjectures on World Literature«, in: New Left Review 1
vard University Press 2004, S. 2. (2000), S. 54-68.
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zugeordnet werden können, so geht es doch gerade darum, die Polarität von Nation auf der einen und Welt auf der anderen Seite aufzulösen und sich in einem dritten Raum zu etablieren, der in Damroschs Modell schlicht nicht vorgesehen ist. Insistiert Damrosch, und das ist vielleicht der interessanteste Aspekt seines Buchs, auch auf der Bedeutung von Rezeptions- und Translationsprozessen, so gelingt es ihm doch nicht, seinen eigenen Standpunkt zu hinterfragen und diese Binarität von west (»our values«4) und the rest (Kulturen, die dann von ›uns‹ rezipiert werden) zu überwinden. Die Kartografierung einer (Literatur-)Geschichte der Welt in solchen Dichotomien hat die Wahrnehmung vermeintlich ›peripherer‹ Literaturen selbstverständlich sehr nachhaltig geprägt, was für Literaturen aus Lateinamerika und der Karibik von grundlegender Bedeutung ist. Die Literaturen des spanischsprachigen Amerika, um die es hier gehen soll, sind seit der Zeit ihrer Entstehung in einem Spannungsfeld zwischen Emanzipation von und Anpassung an Europa wahrgenommen worden, wobei der Anpassungsdruck an Modeströmungen aus Europa bis zum Modernismo Ende des 19. Jahrhunderts als sehr viel stärker gilt als der emanzipatorische Akt. Seit dieser Phase entsteht eine Literatur, die verstärkt als unabhängig und genuin ›lateinamerikanisch‹ rezipiert wurde. Als eine Reihe lateinamerikanischer Autoren um Gabriel García Márquez und Mario Vargas Llosa schließlich während des so genannten Boom in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts weltbekannt wurde und erstmals in der Geschichte der lateinamerikanischen Literaturen überwältigende Erfolge am internationalen Buchmarkt erzielte, war allerdings nicht in erster Linie die Andersartigkeit eines neuen literarischen Stils oder der geschilderten Realitäten entscheidend. Es war insbesondere die Anschlussfähigkeit ›exotischer‹ Themen an europäische Modelle und Rezeptionsmuster, die die Romane des Boom für das Label ›Weltliteratur‹ überhaupt verhandelbar machten. Vor dem Hintergrund der aktuellen Weltliteraturdebatte sollen im Folgenden Fragen nach dem Verhältnis von Gegenwartsliteraturen und Weltliteratur für das spanischsprachige Amerika aus einer historiografischen Perspektive entwickelt werden: Wie wurde eine Rezeption von Literaturen aus dieser Region als Weltliteratur überhaupt möglich? In welcher Weise be-
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David Damrosch: What is World Literature?, Princeton: Princeton University Press 2003, S. 70.
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einflusste die Vorbedingung der Entwicklung eines autonomen literarischen Feldes eine weltliterarische Rezeption? Welche historisch gewachsenen Strukturen bedingen die Rezeption und Distribution von Weltliteratur lateinamerikanischer Provenienz bis heute? Der Aufsatz zeigt, wie in Lateinamerika erst im 20. Jahrhundert eine geeignete Infrastruktur literarischer Produktion geschaffen wurde, wie entscheidend die Loslösung eines literarischen Feldes vom politischen in die Entstehung von Weltliteratur – etwa des Weltliteraten Jorge Luis Borges – hineinwirkt und wie der Begriff Weltliteratur nicht zuletzt aufgegriffen wurde als Kriterium für eine Übersetzung von Gegenwartsliteraturen aus Lateinamerika in Deutschland. In welchen literaturhistorischen Kontexten kann eine Rezeption lateinamerikanischer Literaturen als Weltliteratur zunächst einmal gelesen werden? Ein kritischer Blick auf das so grundlegende wie – in manchen Fällen – problematische Rezeptionsmuster von Emanzipation und Anpassung an entscheidenden Kristallisationspunkten in der Geschichte der lateinamerikanischen Literaturen ermöglicht es, diese im Kontext der WeltliteraturDebatte neu zu bewerten. Warum konnten bestimmte Werke eine Durchsetzungskraft entwickeln und zählen heute zum weltliterarischen Kanon, andere nicht? Mit dem Blick auf exemplarische Werke und Phasen in der Rezeptionsgeschichte kann auch ein kritisches Verständnis dafür entstehen, dass und warum andere denkbare Beispiele für Weltliteratur nicht als solche rezipiert worden sind. Eng verwoben mit diesen Überlegungen ist die Tatsache, dass die Entscheidungen über die Zugehörigkeit zu einem Kanon von den Anfängen lateinamerikanischer Literaturen in der Kolonialzeit bis in die Gegenwart in den verlegerischen Zentren Europas getroffen wurden, wobei seit Mitte des 20. Jahrhunderts auch die USA mit bedeutenden Verlagsstrukturen hinzukamen. Es muss immer mitreflektiert werden, wie sich solche Denominationszentren über die Jahrhunderte entwickelt haben: Wann und wo entstanden Strukturen, die eine Rezeption literarischer Werke aus Lateinamerika als ›Weltliteratur‹ überhaupt hervorgebracht oder doch entscheidend mitbestimmt haben? Für die Kolonialzeit hat Vittoria Borsò einen Zustand beschrieben, in dem solche Rezeptionsstrukturen noch fehlten, während in Lateinamerika durchaus schon Literatur von weltliterarischer Qualität entstand. Sie hat eine sehr grundlegende Revision der klassischen Rezeption mit Blick auf
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die neuspanische Autorin Sor Juana Inés de la Cruz (um 1648/51-1695) vorgenommen. Auch wenn sich ein explizites Konzept von Weltliteratur erst seit Johann Wolfgang von Goethe entwickelt hat, entspricht diese Autorin im 17. Jahrhundert den fünf wichtigsten Kriterien für Weltliteratur bereits nahezu idealtypisch, so Borsòs These: Zum einen verbinde Sor Juana das Partikulare mit dem Universalen. In ihrem Werk werden insbesondere griechisch-lateinische Traditionen und spanische bzw. europäische philosophische Ansätze zu den lokalen Kulturen in Lateinamerika in Beziehung gesetzt, vor allem zu der des Nahuatl. Zweitens zeigt Borsò, in welchem Maße Sor Juanas Werk als Wissensspeicher fungierte, indem die Autorin zeitgenössisches Wissen aus den verschiedensten Gebieten, unter anderem aus der Medizin, in ihr Denken und Arbeiten einfließen ließ. Drittens geht es Borsò um einen politischen Anspruch, um den Einsatz für Diversität, der in Sor Juanas klerikalem Umfeld höchst kritisch wahrgenommen wurde und bereits aufklärerischen Charakter hat. In ihrem Willen zur politischen Intervention steht sie am Beginn einer langen Reihe von Autorinnen und Autoren aus Lateinamerika, die zu einem weltliterarischen Kanon gezählt werden können. Als viertes Kriterium für eine Zuordnung zur Weltliteratur greift Borsò ein anthropologisches Moment auf und kommentiert die Art, wie Sor Juana zwischen Literatur und Leben verhandele. Es geht ihr um eine Reorganisation des Wissens, insbesondere bezüglich der sinnlichen Wahrnehmung des Menschen: Sor Juana habe den europäischen Sensualismus des 18. Jahrhunderts vorweggenommen. Fünftens habe sie neue Epistemologien hinsichtlich Philosophie und Theologie geprägt, was nach Borsò zu den wichtigsten Charakteristika weltliterarischer Werke gehört. 5 Die Herausbildung einer eigenen, spezifisch lateinamerikanischen literarischen Tradition wird in der Literaturgeschichtsschreibung üblicherweise erst mit Vertretern des Modernismo assoziiert – oftmals etwas undifferenziert als These einer ersten emphatischen, literarischen ›Unabhängigkeit‹ Lateinamerikas von Europa. Am Beispiel des uruguayischen Essayisten und Autors José Enrique Rodó (1871-1917) lässt sich zeigen, wie auf avancierte inhaltliche wie formale Weise das europäisch-geistesgeschichtliche
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Vgl. Vittoria Borsò: »Sor Juana: musa de una Weltliteratur como literatura de los mundos«, in: Gesine Müller/Dunia Gras Miravet (Hg.), América latina y la literatura mundial. Mercado editorial, redes globales y la invención de un continente, Madrid/Frankfurt a.M.: Iberoamericana/Vervuert 2015, S. 33-54.
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Kulturgut vielmehr kreativ anverwandelt6 und weiterverarbeitet wird. Die Parallelen zu einer Sor Juana hinsichtlich dieser künstlerischen Anverwandlungsprozesse sind deutlich vorhanden, wenngleich der Kontext und die literarischen Mittel natürlich gänzlich andere sind. Rodó wurde – anders als Sor Juana – als Weltliterat rezipiert, da er die so wichtige, neuartige Symbiose von Orientierung an abendländischem Kulturgut und autonomen Elementen leistet. Deutlich wird hier an einem frühen Beispiel, was für die Denomination lateinamerikanischer Autoren als Weltliteraten durch die verschiedenen Rezeptionsphasen hindurch entscheidend bleiben sollte: Die Anschlussfähigkeit an klassische Elemente der europäischen Tradition muss gewährleistet sein, um als Weltliteratur verhandelt werden zu können. Eine ähnliche Dynamik spielt auch bei anderen modernistas eine wichtige Rolle: Bei José Martí wäre hier beispielsweise der Gedichtband Versos libres zu nennen, erstmals und noch unvollständig postum 1913 publiziert, der eine gänzlich neue, reimlose Verssprache einführt, während er gleichzeitig eine Vielzahl literarischer Stile verarbeitet, an eine barocke Rhetorik und insbesondere auch an romantische Themen und Modelle anknüpft. Eine neue, eigene und als ›lateinamerikanisch‹ rezipierte Schreibweise wird bei Rubén Darío mit dem berühmt gewordenen, 1888 erschienenen Gedichtband Azul publik und ist insofern in Europa anschlussfähig, als sie stark von der zeitgenössischen französischen Literatur beeinflusst ist. Neben einer Rezeption im Anschluss an französische Einflüsse (insbesondere Darío) und solche aus der anglofonen Literatur (sehr deutlich bei Martí) lässt sich am Beispiel von Rodó bzw. des Modernismo noch eine weitere Entwicklung zeigen, die für die Rezeption modernistischer Autoren im Weltliteratur-Kontext entscheidend ist: In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelte sich in Westeuropa eine relative Autonomie des literarischen Feldes, woraus sich entscheidende Folgen für die Etablierung von Denominationsprozessen von Literatur ergaben. Pierre Bourdieu hat bekanntlich herausgearbeitet, dass die Dreyfusaffäre weit über Frankreich hinaus wirksam war und entscheidende Veränderungen mit sich brachte: So kommt ihm zufolge der positive Begriff des Intellektuellen in Europa erst
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Vgl. Ottmar Ette: »Asymmetrie der Beziehungen. Zehn Thesen zum Dialog der Literaturen Lateinamerikas und Europas«, in: Birgit Scharlau (Hg.), Lateinamerika denken. Kulturtheoretische Grenzgänge zwischen Moderne und Postmoderne, Tübingen: Narr 1994, S. 297-326, hier S. 309.
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mit jener Dreyfusaffäre auf, in der Emile Zola durch seine klare öffentliche und publizistische Stellungnahme zugunsten des zu Unrecht beschuldigten jüdischen Offiziers den autonomen Anspruch des literarisch-kulturellen Feldes zementiert.7 Das symbolische Kapital, das Wissenschaftler oder Schriftsteller innerhalb ihres eng begrenzten Teilfeldes erworben hatten, setzten diese nun bewusst ein, um zu Themen allgemein öffentlichen Interesses Stellung zu nehmen. In Lateinamerika kann von einer ökonomischen Infrastruktur des literarischen Feldes zu jenem Zeitpunkt noch keine Rede sein. Allerdings lässt sich im Modernismo ein verhaltenes Echo der westeuropäischen Entwicklungen einer Autonomisierung vernehmen. Bereits bei Rodó kommt der literarischen Praxis eine für Lateinamerika neue Bedeutung zu. Er beschäftigt sich mit Fragen nach den Koordinaten einer potenziellen autochthonen, lateinamerikanischen Kultur, Identität und Literatur sowie ihrem Verhältnis zur europäischen wie nordamerikanischen Geistes- und Kulturgeschichte. In Rodós meistrezipiertem Werk Ariel, erstmals erschienen im Jahr 1900, proklamiert der Protagonist Próspero – der Name stammt von der Hauptfigur aus William Shakespeares The Tempest –, nah an den Lehren der französischen Philosophen Jean-Marie Guyau und Ernest Renan, ein Bildungsideal, das genuin universalistisch zu sein habe; eben einen prä-modernen, prä-kulturellen, ganzheitlichen Zustand, der vor der für die Modernisierung so typischen »funktionalen Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Teilsysteme«8 noch möglich war. In seinem Amerikanismus löst sich Rodó nicht völlig von der europäischen Kultur. Das Projekt einer geistigen Einheit Lateinamerikas als Vorstufe eines politischen Zusammenschlusses, wie Rodós Próspero es fordert, verfolgte auch Martí. Sehr aufschlussreich hinsichtlich einer sich langsam entwickelnden, auch strukturellen Unabhängigkeit des literarischen Feldes ist seine Positionierung bezüglich der publizistischen Transferrichtung: Während Martís frühe Zeitschriftenprojekte den noch immer dominanten Informationsfluss von Ost nach West anzeigen, hat Ottmar Ette anhand von
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Vgl. Pierre Bourdieu: Les règles de l’art. Genèse et structure du champ littéraire,
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Anke-Marie Lohmeier: »Was ist eigentlich modern? Vorschläge zur Revision li-
Paris: Seuil 1992, S. 186f. teraturwissenschaftlicher Modernebegriffe«, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 32/1 (2007), S. 1-15, hier S. 9.
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Martís Schriften auch gezeigt, wie ein inneramerikanischer Informationsfluss in nord-südlicher Richtung etabliert wurde: »Seine [Martís] Chroniken und Essays dokumentieren in hervorragender Weise einen erstmals selbstgesteuerten Wissenstransfer, der an den Bedürfnissen der lateinamerikanischen Länder orientiert ist«.9 Doch wie entwickelt sich so etwas wie ein relativ autonomes Feld in Lateinamerika nach dem Modernismo weiter? Rein soziologische Faktoren sprechen gegen eine relative Autonomie des literarischen Feldes in Lateinamerika Ende des 19. Jahrhunderts. Der noch weit verbreitete Analphabetismus reduzierte nicht nur rein faktisch betrachtet die Leserpotenziale, sondern erschwerte auch die Konstituierung einer intellektuellen Elite. Der mexikanische Kulturtheoretiker Carlos Monsiváis hat die prekären Rezeptionsbedingungen zu jenem Zeitpunkt in Lateinamerika beschrieben: »Ein schwach ausgebildetes System öffentlicher Bibliotheken, ein kleines Netz auf die Hauptstädte konzentrierter Buchläden und einige wenige (und instabile) Verlagshäuser beschränken das Lesepublikum«. 10 Die häufig vertretene These, man könne bereits mit dem Modernismo in Lateinamerika von einer Strömung sprechen, die sich nicht nur inhaltlich, sondern auch von den literaturbetrieblichen Voraussetzungen her parallel zu Europa entwickelt, lässt sich nicht halten. Die von Bourdieu für Frankreich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts festgestellte Autonomie des literarischen Feldes kann – trotz erster Ansätze hin zu einer Autonomisierung − nicht auf Lateinamerika übertragen werden. Die gesellschaftspolitischen Stellungnahmen bleiben begrenzt, wohl in erster Linie deshalb, weil die Akteure noch institutionell fest in die Bereiche von Politik und Ökonomie eingebunden sind: So wie Rodó hatten fast alle Schriftsteller bis in die 1960er Jahre Positionen im Regierungssystem inne. Solange sich in Lateinamerika Alphabetisierung und Demokratisierung noch auf eine kleine Minderheit beschränkten, war die Entwicklung einer eigenen Infrastruktur der literarischen Produktion noch nicht möglich. Nicola Miller folgert aus den nicht mit den Strukturen in Europa vergleichbaren Bedingungen,
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Ette: »Asymmetrie der Beziehungen«, S. 308.
10 »Un sistema endeble de bibliotecas públicas, una red precaria de librerías concentrada en las capitales, y unas cuantas (y débiles) casas editoriales a la disposición, delimitan al público lector«. Carlos Monsiváis: Aires de familia. Cultura y sociedad en América Latina, Barcelona: Anagrama 2000, S. 115.
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dass zu diesem Zeitpunkt nicht einmal der Begriff des Intellektuellen auf Lateinamerika übertragbar ist: »In Spanish America, by contrast, adoption of the word was symptomatic of the fact that the conditions for professional intellectual life were only incipient; in other words, the resonance of the idea was dependent on a nascent modernity«. 11 Starke Einschränkungen hinsichtlich der Strukturierung und Autonomie eines literarischen Feldes betreffen auch noch die nächste literarische Generation, die lateinamerikanischen Avantgarden der 1920er Jahre: Sowohl der Leserkreis als auch das literarische Genre – fast ausschließlich Lyrik – blieben exklusiv und damit einer größeren Breitenwirkung vorenthalten. So experimentell und progressiv die Werke auch sein mochten – man denke etwa an die hochproduktiven Autoren Vicente Huidobro (1893-1948) und César Vallejo (1892-1938) –, sie waren nicht dazu in der Lage, sich eine autonome Infrastruktur literarischer Produktion zu schaffen. Auf dem Weg hin zu einer strukturellen Veränderung und Loslösung des literarischen Feldes vom politischen in Lateinamerika spielt Borges (1899-1986) eine besondere Rolle, war er doch der erste lateinamerikanische Autor, der mit einer entsprechenden internationalen Resonanz zum Kanon der Weltliteratur gezählt wurde, wenngleich er mehr unter Autoren, Verlegern und Kritikern erfolgreich war, als dass er zu Lebzeiten große Verkaufserfolge erzielt hätte. Sein Œuvre nimmt in der lateinamerikanischen Literatur eine monolithische Position ein, stellt es sich doch als äußerst diffizil dar, Borges einer bestimmten literarischen Gruppe oder Strömung, einem bestimmten Genre oder einer epochalen Wende zuzuordnen. Sein Werk zeichnet sich durch eine außergewöhnliche Dichte an philosophischen, religiösen, künstlerischen Diskursen, Reflexionen und Kontexten aus sowie durch Texte, die zwischen literaturkritischen Essays, realistischer Prosa und Fantastik oszillieren. Diese ›universalistische‹ Herangehensweise12 ist es auch, die eine Zuordnung Borgesʼ zu den Repräsentanten der Boom-Generation unmöglich macht, wollten deren wichtigste Vertreter
11 Nicola Miller: In the Shadow of the State. Intellectuals and the Quest for National Identity in Twentieth-Century Spanish America, London/New York: Verso 1999, S. 4. 12 Vgl. Gene H. Bell-Villada: Borges and his Fiction. A Guide to his Mind and Art, Austin: University of Texas Press 1999, S. 295.
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doch eine genuin ›lateinamerikanische‹ Literatur erschaffen, mit ganz eigenen inhärenten Funktionsmechanismen, Gattungen und Inhalten. Er kann auch kaum als rein modernistischer oder postmoderner Autor klassifiziert werden. Die Frage, weshalb Borges’ literarisches Schaffen kanonisiert wurde und welche literarischen Qualitäten seine Schriften besitzen, die diese zu weltliterarischem Rang erheben, ist sehr komplex und insbesondere in einer Studie von Alan Pauls hervorragend bearbeitet worden.13 Pauls betont die starke, variantenreiche Resonanz auf Borgesʼ Werk sowie die Vielfalt der ihm eigenen literarischen Elemente. Aspekte des Unverwechselbaren dieses Autors werden nicht nur in dessen literarischen Texten, sondern ebenso anhand von Interviews, Postkarten, Briefen, Radiobeiträgen und ähnlichen Dokumenten herausgearbeitet. Pauls sucht Borges auch in seiner Stimme, seiner Körperlichkeit und insbesondere auf einer Ebene, die er als zugleich intim und theatralisch, privat und öffentlich charakterisiert: »El Borges on stage«.14 Während Borges literarisch sicherlich eine Einzelstellung innehat, verweist diese Vorstellung eines »Borges on stage« bereits auf die Inszenierung der Boom-Autoren in einem sich strukturell stark verändernden literarischen Feld. Im Kontext der Weltliteratur-Frage hoch interessant ist Borgesʼ universalistisches, ja, man könnte sagen: weltliterarisches Konzept, das er in seinem 1953 erstveröffentlichten Essay El escritor argentino y la tradición erläutert.15 Er greift darin zeitgenössische Positionen zu der Frage auf, wie eine argentinische oder auch lateinamerikanische Literatur auszusehen habe, und formuliert eine Poetologie jenseits nationalpoetischer Zuschreibungen. Borges kritisiert zunächst, dass die als argentinische Nationalliteratur gepriesene und proklamierte literatura gauchesca eigentlich keine Weiterführung der tatsächlichen argentinischen poesía popular sei. Die Imitation der volkstümlichen Sprache sowie die pseudo-mimetische Darstellung von imaginierten argentinischen Stereotypen sei genau das Gegenteil der poesía popular. Diese reflektiere vielmehr größere (epistemologische, religiöse, philosophische) Weltzusammenhänge und bediene sich dabei einer allgemeingültigen Sprache sowie diverser topisch besetzter Bilder und Me-
13 Vgl. Alan Pauls: El factor Borges, Barcelona: Anagrama 2004. 14 Ebd., S. 8, Herv. im Orig. 15 Vgl. Jorge Luis Borges: »El escritor argentino y la tradición«, in: ders., Discusiones, Madrid: Alianza 1964, S. 128-137.
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taphoriken. Borges nennt hier Verse aus La urna von Enrique Banchs (1888-1968), in denen sich dieser des griechisch sowie germanisch aufgeladenen kulturgeschichtlichen Bildes der Nachtigall bedient, um eine ›Poesie des Höheren‹ zu erschaffen. So sei es ein Irrtum, dass sich die argentinische Dichtung ausschließlich in spezifisch argentinischen Charakteristiken manifestiere. Nicht nachvollziehbar ist für Borges die Idee, einen Autor nationalspezifisch als französischen oder englischen Dichter zu bezeichnen, da er in seinen Schriften immer auch über solche Zuschreibungen hinausgehende Themen behandele (Racine mit römischen bzw. griechischen Sujets, Shakespeare mit dänischen): »Welche ist die argentinische Tradition? […] Ich glaube, dass unsere Tradition die gesamte westliche Kultur darstellt, und ich glaube auch, dass wir ein Recht auf diese Tradition haben, größer als es die Bewohner der ein oder anderen westlichen Nation haben können«.16 Positionen einer national-argentinischen Literatur lehnt er ab und zeigt, dass es sich dabei um relativ neue Auffassungen handelt, die sich literaturgeschichtlich nicht begründen lassen: »als ob wir Argentinier nur über Flussufer und Farmen, nicht aber über das Universum zu sprechen vermögen«.17 Damit grenzt er sich auch ab von der an eugenische, darwinistische und rassistische Vererbungstheorien des 19. Jahrhunderts erinnernden, nationalistischen Annahme, ein bestimmtes Schreiben ergebe sich aus der historischen Abstammung: Wenn Argentinier also ähnlich wie Spanier schrieben, so Borges, sei dies weniger Zeugnis einer ererbten Fähigkeit als vielmehr Beweis für die universale intellektuelle Vielseitigkeit der Argentinier. Die gegenläufige These, Argentinier hätten durch den Status als noch junge und erst kürzlich gegründete Nation (1816) keine Vergangenheit, befänden sich damit in der kulturgeschichtlichen Tabula rasa und müssten sich deshalb besonders von Europa emanzipieren und distanzieren, ist für Borges aber genauso wenig haltbar. Denn die sich in Europa ereignenden Geschichtsläufe des 20. Jahrhunderts, ob der Zweite Weltkrieg oder der Spanische Bürgerkrieg, als Konflikte höherer politischer bzw. ideologischer
16 »¿Cuál es la tradición argentina? [...] Creo que nuestra tradición es toda la cultura occidental, y creo también que tenemos derecho a esta tradición, mayor que el que pueden tener los habitantes de una u otra nación occidental«. Ebd., S. 135. 17 »como si los argentinos sólo pudiéramos hablar de orillas y estancias y no del universo«. Ebd., S. 134.
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Positionen, beträfen die Argentinier emotional genauso – als Nachfahren der Europäer wie auch als ›Weltbürger‹. Borges plädiert für eine Emanzipierung von sämtlichen die Kunst und das Denken determinierenden Modellen und fordert einen souveränen Umgang mit der europäischen Vergangenheit und Kulturgeschichte. Letztlich ist es wohl auch die wiederholte Forderung nach einer universalistischen Ausrichtung der argentinischen, südamerikanischen und lateinamerikanischen Literatur, die Borges für eine Reihe (nicht nur) lateinamerikanischer Autoren zum zentralen Referenzpunkt macht: Autoren, die eine intellektuelle Fremdbestimmung und Einengung ablehnen und oftmals selbst schwer Gruppen oder Strömungen zuzuordnen sind, wie der Chilene Roberto Bolaño (1953-2003), der sich stark auf Borges rückbezogen hat und seit dem postum erschienenen Roman 2666 (2004) in seiner Wirkungsmacht eine ähnlich monolithische Einzelstellung einnimmt wie Borges für seine Zeit. Nachdem mit Borges der erste Weltliterat mit einer für diesen Kontext zukunftsweisenden Poetologie und einer breiten internationalen Wirkungsmacht benannt ist, gilt es, strukturelle Entwicklungen nachzuzeichnen, die den Weg für eine noch weitaus umfassendere Rezeption lateinamerikanischer Autoren bereiteten. Zwischen den 1950er und den 1970er Jahren gibt es nach Nestor García Canclini in Lateinamerika selbst entscheidende Entwicklungen, die auf einen strukturellen Wandel hinweisen: wirtschaftlicher Aufschwung, Städtewachstum, Erweiterung des Marktes der kulturellen Güter, Zunahme des Schul- und Universitätsbesuchs, Rückgang des Analphabetismus auf 10-15 Prozent. In Argentinien, Mexiko und Brasilien kommt es um 1940 zu einem Aufschwung der Buchindustrie.18 Auch der peruanische Autor Vargas Llosa registriert Ende der 1960er Jahre, in Lateinamerika entstehe endlich ein günstigeres Klima für die Literatur. Buchclubs und Lesezirkel begännen sich auszuweiten und die Bour-
18 Vgl. Nestor García Canclini: Culturas híbridas. Estrategias para entrar y salir de la Modernidad, Mexiko-Stadt: Grijalbo 1989.
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geoisie habe entdeckt, dass Bücher wichtig und Schriftsteller mehr seien als harmlose Narren, dass sie eine Aufgabe zu erfüllen hätten.19 Martha Zapata Galindo zeigt am Beispiel von México en la Cultura der Zeitung Novedades, die dann von Siempre mit der Beilage La Cultura en México abgelöst wurde, wie in den 1950er Jahren die wichtigsten intellektuellen Gruppen in Mexiko in Verbindung mit Zeitschriften, Zeitungsbeilagen oder universitären Einrichtungen entstanden, in denen sie hohes Ansehen und kulturelle Macht akkumulierten.20 Zu diesem Zeitpunkt begannen Schriftsteller und Intellektuelle auf Distanz zum offiziellen Nationalismus des mexikanischen Staates zu gehen. Eine wichtige Station auf dem Weg zu einem breiteren Zugang zu weltweit relevanten Denominationszentren, die über aus Lateinamerika kommende Weltliteratur der Gegenwart entscheiden, bildet auch gerade in Mexiko die Gründung oder Expansion einiger Verlage wie Era, FCE, Joaquín Mortiz und UNAM, die sich gegenüber jüngeren Autoren als sehr offen erwiesen. Dieser strukturelle Wandel in ganz Lateinamerika bereitete den Boden dafür, dass lateinamerikanische Autoren erstmalig in einer kontinentalen Breitenwirkung international wahrgenommen wurden. Dass eine Zugehörigkeit zum weltliterarischen Kanon und feldsoziologische Faktoren untrennbar miteinander verbunden sind, zeigt sich geradezu modellhaft bei den Romanautoren der 1960er Jahre, die häufig zum sogenannten Boom der lateinamerikanischen Literatur gezählt werden. Sie vollzogen ihren Stiftungsakt als Intellektuelle, indem sie unter Berufung auf genuine Normen des literarischen Feldes in das politische Feld eingriffen. Ihre Unabhängigkeit gegenüber den staatlich-gesellschaftlichen Machtinstanzen und die damit einhergehende implizite Eigenständigkeit des literarischen Feldes war eine entscheidende Voraussetzung, um Zugang zu den verlegerischen Zentren in Europa und den USA zu bekommen.
19 Vgl. Mario Vargas Llosa: »Literatura es fuego«, in: Helmy F. Giacoman/José Miguel Oviedo (Hg.), Homenaje a Mario Vargas Llosa. Variaciones interpretativas en torno a su obra, New York: Las Americas 1971, S. 15-21, hier S. 19. 20 Vgl. Martha Zapata Galindo: »Jenseits des Nationalismus. Zur neuen Rolle der Intellektuellen in einer globalisierten Welt«, in: Barbara Dröscher/Carlos Rincón (Hg.), Carlos Fuentes’ Welten. Kritische Relektüren, Berlin: tranvía/Frey 2003, S. 97-121, hier S. 103.
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Der Boom der lateinamerikanischen Literatur der 1960er Jahre mit den schnell zu Bestsellern avancierten Romanen von García Márquez, Vargas Llosa, Carlos Fuentes, Julio Cortázar und anderen hängt neben den soziologischen auch mit weiteren, für weltliterarische Kanonisierungsprozesse sehr relevanten Faktoren zusammen. Die kubanische Revolution kann als Auftakt angesehen werden, und das obwohl der Name Boom sicherlich die rein wirtschaftlichen Erfolge meint, die vor allem dem Haus Seix Barral in Barcelona zu verdanken sind, das die lateinamerikanischen Autoren auf den Markt brachte. Der Glaube an die kubanische Revolution verband alle Boom-Autoren: Sie wollten dem durch Analphabetismus und Armut zum Schweigen verdammten Volk eine Stimme verleihen, durchaus in Anlehnung an Jean-Paul Sartres Konzept vom engagierten Intellektuellen. So war es zumindest bis 1971 – als Herberto Padilla wegen eines kritischen Gedichtbandes vom Castro-Regime verhaftet wurde und bald danach in einem Schauprozess sein öffentliches Schuldbekenntnis ablegte. Bei vielen marxistischen oder marxistisch inspirierten Intellektuellen Lateinamerikas ließ das die Kuba-Utopie ins Wanken geraten. Mit ihrem Protestbrief an Fidel Castro und einer Unterschriftenaktion in Le monde distanzierten sie sich von dem kommunistischen Regime. In diesem politischen Kontext agierte insbesondere auch der deutsche Verlag des Lateinamerika-Booms, der Suhrkamp Verlag, als ›TheorieSchmiede‹ der nichtdogmatischen Linken von den 1960er bis in die 1980er Jahre. Das gesellschaftspolitische Engagement dieses Verlags im Allgemeinen und seines Verlegers Siegfried Unseld im Besonderen sowie die Rolle, die dabei die Rezeption der Boom-Literatur einnimmt, stehen in direktem Zusammenhang mit dem politischen Interesse an Lateinamerika. Lateinamerika wird in den 1960er und 1970er Jahren gewissermaßen zu einem gesellschaftspolitischen Labor oder auch Hoffnungsträger der westeuropäischen, aber besonders der deutschen Linken und dient dann später während der Militärdiktaturen zur Legitimation der Kapitalismuskritik (im Sinne der Dependenztheorie). Das literarische Interesse an Lateinamerika wäre folglich als Kehrseite des politischen Interesses und des politischen Engagements für eine sozial gerechtere Welt zu lesen und als fiktionale ›Unterstützung‹ der theoretischen Kapitalismuskritik. Was aus europäischer bzw. deutscher Sicht als Forderung nach sozialer Gerechtigkeit und nach kultureller Anerkennung verhandelt wird, steht aus lateinamerikanischer Sicht mehr im Kontext von Identitätsfragen. Cortázar brachte den kleinsten
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gemeinsamen Nenner der Romane so auf den Punkt: »Was ist der Boom anderes als die außergewöhnlichste Identitätsbewusstwerdung des lateinamerikanischen Volkes?«21 Der Schwerpunkt liegt hier wohlgemerkt auf dem Prozess der Bewusstwerdung, der Identitätssuche, die wahlweise im Rückgriff auf präkolumbische Mythen, zyklische Zeitstrukturen oder experimentelle Erzählverfahren intendiert wird. Sowohl dem Identitäts- als auch dem Lateinamerikabegriff, die den Boom-Erfolgen zugrunde liegen, sind zweifellos Ausschlussmechanismen inhärent, die kritisch hinterfragt und teilweise noch beforscht werden müssen. Es wären Gender- und Genrefragen zu stellen, etwa warum sich selbst im erweiterten Kreis der Autoren keine Frau befindet oder warum er sich allein auf die Erzählliteratur auswirkte. Auch ist es bezüglich der literarischen Qualität der vorhandenen Werke und Autoren nicht zu rechtfertigen, dass die brasilianische Literatur in dieser weltweiten und massiven Zirkulation lateinamerikanischer Literaturen eine derart marginale Rolle spielt. Wie ist es darüber hinaus zu bewerten, dass alle Vertreter des Boom nicht nur männlich und spanischsprachig waren, sondern zugleich Angehörige der weißen Mittel- und Oberschichten des Subkontinents? Welche Gründe gab es für die Tatsache, dass Autoren wie Juan Carlos Onetti, Guillermo Cabrera Infante, Antonio Di Benedetto oder Salvador Elizondo als Zeitgenossen der Boom-Autoren nicht Teil des globalen Erfolgs waren, wie er dem Netzwerk um García Márquez, Fuentes oder Vargas Llosa zuteilwurde? Die Analyse dieser implizit sich vollziehenden Exklusionsmechanismen berührt einen fundamentalen Aspekt, welcher in der aktuellen Theoriedebatte um Weltliteratur lange vernachlässigt und erst kürzlich von Emily Apter mit Vehemenz in die Diskussion eingebracht wurde: das Problem der Unübersetzbarkeit.22 Wenn für David Damrosch ein Hauptkriterium von Weltliteratur die Tatsache eines »writing that gains in translation« ist,23 dann stellt sich im Rahmen der Untersuchung besagter
21 »¿Qué más es el boom, si no la más extraordinaria toma de conciencia del pueblo latinoamericano de su propia identidad?« Zit. nach Ángel Rama: La novela latinoamericana 1920-1980, Bogotá: Instituto colombiano de cultura 1982, S. 244. 22 Vgl. Emily Apter: Against World Literature. On the Politics of Untranslatability, London/New York: Verso 2013. 23 Damrosch: What is World Literature?, S. 289.
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Ausschlussverfahren nicht zuletzt die Frage nach der Rolle, die das komplexe Feld der Übersetzung innerhalb globaler Zirkulationsprozesse von Literatur einnimmt und inwiefern dabei gerade Texte problematisch sind, welche durch Elemente der Unübersetzbarkeit eine geringere Anschlussfähigkeit an verlegerische Publikationsstrategien aufzuweisen scheinen. Betrachtet man nun aber die Werke, die eine Kanonisierung im Kontext des Boom erfahren haben, wird schnell deutlich, dass die implizite Messlatte für Übersetzungen aus dem lateinamerikanischen Spanisch ein Begriff von ›Weltliteratur‹ war. Die deutsche Rezeption liefert dazu exemplarische Fälle: Bereits ein kursorischer Blick auf Kritiken, die in der Folge der Publikationen von Hundert Jahre Einsamkeit (1967) von García Márquez oder Das grüne Haus (1965) von Vargas Llosa erschienen, bestätigt diesen Befund. Borsò hat pointiert den Zusammenhang zwischen dem Auswahlkriterium ›Weltliteratur‹ und der verlegerischen Rezeption herausgearbeitet.24 Was sie für den bei Kiepenheuer & Witsch herausgebrachten Roman Hundert Jahre Einsamkeit konstatiert, lässt sich auch auf SuhrkampAutoren wie Vargas Llosa übertragen: Zusammengefasst betonte die Literaturkritik, für die Zugehörigkeit zum weltliterarischen Kanon spreche die Assimilation an europäische und internationale Traditionen und zugleich die Integration oraler Erzählstoffe aus den präkolumbischen Kulturen. 25 Auch Vargas Llosa wurde vorwiegend der Lesart unterworfen, er habe die europäischen und westlichen Traditionen mit den üppigen Farben der tropischen Welt angereichert. Als ein weiteres Merkmal, das die Romane von Vargas Llosa in den Rang von Weltliteratur erhob, kann nach Borsò die Tatsache gelten, dass sich im mythischen Amazonasort am Río Marañón (vergleichbar mit dem Macondo von García Márquez) nicht nur die Geschichte Lateinamerikas, sondern auch die Geschichte der Welt ereigne. Letztere sei durch die reichen Anspielungen auf den Text der Genesis und auf archetypische Ursprungsmythen repräsentiert. Man kann also zusammenfassend auch für diesen Kontext festhalten, dass die Rezeption in Literaturkritik und Literaturwissenschaft vor allem die Anschlussfähigkeit an die moderne Welt-
24 Vgl. Vittoria Borsò: »Europäische Literaturen versus Weltliteratur – Zur Zukunft von Nationalliteratur«, in: Alfons Labisch (Hg.), Jahrbuch der HeinrichHeine-Universität Düsseldorf, Düsseldorf: DUP 2004, S. 233-250. 25 Vgl. ebd., S. 236.
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literatur betont, wobei in der Boom-Phase die Kombination möglichst exotistischer Alteritätsdarstellungen mit europäisch etablierten postmodernen Schreibverfahren hervorgehoben wird. Das Paradigma Identität, im konkreten Fall die Suche nach einer spezifisch lateinamerikanischen Identität, war das entscheidende Kriterium, die Romane weltliterarisch vertretbar zu machen. Für das Spätwerk der zu Stars avancierten Schriftsteller aus Lateinamerika kann man bereits ab den 1970er Jahren, spätestens aber ab 1989 einen Abschied von den großen identitätsstiftenden Entwürfen konstatieren. Dies lässt sich auf die Formel ›vom pueblo zum público‹ bringen: also eine Verlagerung vom (lateinamerikanischen) Volk, für das gesprochen werden sollte, hin zum Publikum, in erster Linie zu einem europäischen und nordamerikanischen Publikum, an dessen Geschmack und Erwartungshaltung man sich immer mehr orientierte. Dafür stehen der Rückzug in die betonte Lesbarkeit, narrative Entwürfe, die sich nicht nur in den Erzählstrategien, sondern auch in der Wahl des Stoffs eher an europäischen oder nordamerikanischen Mustern orientieren, und schließlich auch die literarische Inszenierung des eigenen Frühwerks, vordergründig sicherlich eine Distanznahme, doch zugleich ein ständiges Spielen mit (und Erinnern an) die eigenen Erfolge. Dezidierter noch als ihre literarischen ›Väter‹ erklärten jüngere Autoren den Themen der 1960er Jahre ab Beginn der 1990er eine Absage. So parodierten die Gruppen Crack mit Jorge Volpi oder auch McOndo mit Alberto Fuguet in ihren Manifesten das spezifisch Lateinamerikanische und wandten sich häufig in ihren Werken ostentativ ab von lateinamerikanischen Themen. Ob das mit einem Rückgang der Erfolge in der spanischen und lateinamerikanischen Verlagsindustrie zusammenhängt, sei dahingestellt. Nach dem Boom, mit seinen großen Verkaufserfolgen in Europa, ist nur einem lateinamerikanischen Autor des 20. Jahrhunderts von Seiten der Literaturkritik, der international agierenden Verlage und auch der Literaturwissenschaft noch einmal der Rang von ›Weltliteratur‹ zugesprochen worden: dem Chilenen Bolaño, der nach einer Jugend in Mexiko ab 1975 in Spanien lebte. Unter Schriftstellern und Kritikern erfuhr er nach seinem Tod 2003 und insbesondere aufgrund seines postum erschienenen Romans 2666 in den USA eine einzigartige Rezeption, während er am Markt zunächst keinen übermäßigen Erfolg erzielte. In seiner Poetologie gibt sich Bolaño wie
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Borges eher wenig lateinamerikanisch. Ihm ist vielmehr ein universalistisches, literarischen Bezügen und Einflüssen aus verschiedensten Zeiten und Traditionen nachgehendes Literaturverständnis zu eigen, das auf Borgesʼ Erzählungen genauso verweist wie auf Charles Baudelaire oder Stéphane Mallarmé. Seine Themen sind dabei sehr stark in der politischen und sozialen Gegenwart Lateinamerikas verankert, insbesondere, was Erfahrungen von Exil und Gewalt angeht. Ein Verständnis dafür zu wecken, dass diese Themen nicht allein lateinamerikanisch sind, obwohl sie in ihren lateinamerikanischen Kontexten erzählt werden, etwa dem Kontext der unzähligen Frauenmorde im mexikanischen Grenzgebiet zu den USA in den 1990er Jahren (2666, 2004), ist eine der herausragenden Leistungen des literarischen Werks von Bolaño. Die Frage, was ›Anschlussfähigkeit‹ an europäische Diskurse in der aktuellen Globalisierungsphase eigentlich genau bedeutet und wie relevant eine solche für die Rezeption lateinamerikanischer Gegenwartsliteraturen in Zukunft sein wird, muss die Forschung noch klären.
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Nomaden und andere Reisende (Ost-)Mitteleuropäische Literatur und Weltliteratur im 21. Jahrhundert1 S CHAMMA S CHAHADAT
»Wolkenfern, das schöne Wolkenfern, sie beide wollten es finden, sie beide waren sicher, dass es existierte, irgendwo weit weg von Piaskowa Góra.« 2 Piaskowa Góra, Sandberg, ist eine Plattenbausiedlung in Wałbrzych im sozialistischen Polen. In Joanna Bators gleichnamigen Roman von 20093 träumt die heranwachsende Protagonistin Dominika mit ihrer besten Freundin Małgosia davon, dem Sandberg in das Fantasieland »Wolkenfern« (poln. »Chmurdalia«) zu entkommen.4 Grenzenlos sollte dieses »Wolken-
1
Für redaktionelle Hilfe an dem Beitrag danke ich Daniela Amodio, Jennifer Döring, Aurelia Ohlendorf und Valentin Peschanskyi. Für die Korrektur der polnischen Zitate danke ich Michał Mrugalski.
2
Joanna Bator: Wolkenfern, übers. von Esther Kinsky, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2014, S. 288. – »Chmurdalia, piękna Chmurdalia, obie chciały ją znaleść, obie były pewne, że istnieje, gdzieś daleko od Piaskowej Góry.« Joanna Bator: Chmurdalia, Warszawa: Grupa Wydawnicza Foksal 2010, S. 280.
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Joanna Bator: Piaskowa Góra, Warszawa: Wydawnictwo W.A.B. 2009; Joanna
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Das Fantasiewort »Chmurdalia« ist eine Weiterentwicklung eines Verses aus
Bator: Sandberg, übers. von Esther Kinsky, Berlin: Suhrkamp 2011. Bolesław Leśmians Gedicht »Szczęście«, »Glück«, aus dem Jahr 1938: »Coś srebrnego dzieje się w chmur dali«, heißt der erste Vers, »Etwas Silbernes ge-
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fern« sein, der Enge und Bodenhaftung der Volksrepublik Polen enthoben. In Wolkenfern, dem Roman, der Sandberg weiterschreibt, nimmt dieses »Wolkenfern« die Form der ganzen Welt an. Dominika, inzwischen erwachsen, ist eine Nomadin geworden, die sich durch eine mittlerweile globalisierte Welt bewegt, ohne sich festzulegen oder sich festhalten zu lassen. Sie ist eine Figur »ohne festen Wohnsitz«,5 von einem »Reisedrang«6 getrieben, der sowohl ihr selbst als auch ihren Beziehungen etwas Flüchtiges verleiht. Dominika ist keine Ausnahme in der polnischen Gegenwartsliteratur. Neben ihr gibt es eine Vielzahl von Nomadinnen und anderen Reisenden, die ihre Heimat verlassen und ständig unterwegs sind. Da ist zum Beispiel der polnische Autor Andrzej Stasiuk, der sich im Auto, im Bus, im Zug oder zu Fuß durch ganz Mitteleuropa bewegt, durch Polen, Tschechien, Rumänien, Ungarn, Albanien und in letzter Zeit immer weiter in Richtung Osten, in die Mongolei, nach China.7 Stasiuks semi-autobiografische ReiseEssays gelten als Musterbeispiel für eine geopoetische Schreibweise, eine
schieht in der Ferne der Wolken« (Bolesław Leśmian: Dziejba leśna, Warszawa: J. Mortkowicz 1938, S. 32; Übersetzung Sch.Sch.); zugleich ist »Chmurdalia« auch eine Anspielung auf Dominikas Nachnamen »Chmura«, Wolke. Auf diese Spuren hat mich Christina Müllers Rezension zu Sandberg gebracht: Vgl. Christina Müller: »Im Reich der Großmütter. Joanna Bator erzählt in zwei Romanen ein polnisches Jahrhundert«, in: literaturkritik.de 1 (2014), online unter: http:// literaturkritik.de/id/18724 (Stand: 19.01.2019). 5
Hier borge ich eine Metapher, die sowohl Ottmar Ette in seiner Formulierung von den »Literaturen ohne festen Wohnsitz« verwendet hat (Ottmar Ette: »Europäische Literatur(en) im globalen Kontext. Literaturen für Europa«, in: Özkan Ezli/Dorothee Kimmich/Annette Werberger (Hg.), Wider den Kulturenzwang. Migration, Kulturalisierung und Weltliteratur, Bielefeld: transcript 2009, S. 257-296, hier S. 263) als auch Heiner Hastedt, der das nomadische Philosophieren als ein »Denken ohne festen Wohnsitz« bezeichnet (Heiner Hastedt: Moderne Nomaden. Erkundungen, Wien: Passagen 2009, Kapitel 2, S. 63-110).
6
Bator: Wolkenfern, S. 494. – Bator: Chmurdalia, S. 496: »pragnienie podróży«.
7
Andrzej Stasiuks letzter Roman heißt Wschód; er ist 2015 auf Polnisch erschienen; 2016, übersetzt von Renate Schmidgall, kam er unter dem Titel Der Osten auf Deutsch heraus (Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2016).
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»fiktive Landeskunde«.8 Nomadinnen und Nomaden sind auch die Figuren in Olga Tokarczuks Unrast (poln. Bieguni, 2004, dt. 2009), einer Sammlung von kleineren Episoden, die sich allesamt um die Bewegung und das Reisen drehen und deren Protagonisten unmöglich an einem Ort verharren können. Ähnlich und zugleich anders sieht es in der russischsprachigen Literatur im 21. Jahrhundert aus. Auch hier sind die Protagonisten ständig in Bewegung, nur ist ihr Radius ein anderer; sie erkunden vor allem den ehemals sowjetischen Raum und bewegen sich damit nicht nur im Raum, sondern auch in der Zeit, decken historische Schichten unter einer postsowjetischen Oberfläche auf. Das gilt für den Helden in Aleksandr Il’ičevskijs Roman Pers (2009; dt. als Alexander Ilitschewski, Der Perser, 2016), der seine Heimat am kaspischen Meer verlässt, durch die Welt zieht und schließlich nach Baku zurückkehrt. In Sergej Lebedevs Roman Ljudi avgusta (2015; dt. als Sergej Lebedew, Menschen im August, 2016) sucht ein Geologe in den ehemals sowjetischen Republiken nach Familiengeschichten. In Bewegung ist auch die Heldin in Guzel’ Jachinas historischem Roman Zulejcha otkryvaet glaza (2015; dt. als Gusel Jachina, Suleika öffnet die Augen, 2017), eine Tatarin, deren Lebensgeschichte von den 1920er Jahren bis in die 1940er Jahre erzählt wird. Verhaftung und Deportation führen Suleika von Tatarstan bis nach Sibirien. Die ehemaligen Sowjetrepubliken bilden einen attraktiven Bewegungsraum für die russischsprachige Literatur. Viele Protagonisten und Protagonistinnen der (ost-)mitteleuropäischen Literatur des 21. Jahrhunderts sind also Reisende oder Nomaden. Sie überschreiten räumliche und intellektuelle Grenzen bzw. setzen diese Grenzen durch ihre Bewegung außer Kraft. Nomadismus meint eine »alternative Figuration«, wie Rosi Braidotti schreibt, jenseits alter Denkmuster.9 Nomadismus bezeichnet einerseits das Thema, das die Romane durchzieht – die
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Magdalena Marszałek/Sylvia Sasse: »Geopoetiken«, in: dies./Sylvia Sasse (Hg.), Geopoetiken. Geographische Entwürfe in den mittel- und osteuropäischen Literaturen, Berlin: Kadmos 2010, S. 7-18, hier S. 7. Konkret zu Stasiuk vgl. dies.: »Anderes Europa. Zur (ost)mitteleuropäischen Geopoetik«, in: dies./Sasse, Geopoetiken (2010), S. 42-67.
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Rosi Braidotti: Nomadic Subjects. Embodiment and Sexual Difference in Contemporary Feminist Theory, New York: Columbia University Press 1994, S. 3: »alternative figurations as a way out of the old schemes of thought.«
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Protagonisten, die als Nomaden durch die Welt ziehen –, und zugleich fungiert Nomadismus als poetologische Metapher für die Texte, die gleichsam selbst zu einer Art nomadischer Subjekte werden, indem sie übersetzt und jenseits ihres Ursprungsorts gelesen werden. Diese Literatur ist in einen globalisierten Literaturmarkt eingetreten und wird so zum Teil dessen, was seit mehreren Jahren unter dem Label ›Weltliteratur‹ gehandelt wird: einer Literatur, die Teil des Weltliteratur-Systems ist, in dessen Rahmen sie produziert wird und zirkuliert,10 »circulating out into a broader world beyond its linguistic and cultural point of origin«, so David Damroschs Definition von Weltliteratur (»World Literature«).11 Diese Einbindung in das Weltliteratur-System ist nicht ganz neu; schon früher wurde die ost- und mitteleuropäische Literatur, speziell die russische, als Teil des Weltliteratur-Systems angesehen. So avancierten die Romane Dostoevskijs und Tolstojs zur Weltliteratur, allerdings weniger aus ästhetischen Gründen, sondern aufgrund ihrer universellen Thematik, die leicht in den verschiedenen Kulturen rezipiert werden konnte.12 Ein anderes
10 Zum Weltliteratur-System vgl. Alexander Beecroft: »World Literature without a Hyphen: Towards a Typology of Literary Systems«, in: New Left Review 54 (2008), S. 87-100. Beecroft unterscheidet – anschließend an Immanuel Wallersteins Weltsystem- und Welthierarchie-Konzept – ein Schichtenmodell, das von sechs verschiedenen Schichten (oder, bei Beecroft, »modes«) ausgeht, wobei die verschiedenen Ebenen sich durch die Reichweite der Literatur unterscheiden: Die Romane, mit denen ich mich befasse, treten bereits durch die Tatsache, dass sie übersetzt sind, in den »global mode« (S. 98f.) ein, einen Modus, in dem der nationale Radius überschritten wird. 11 David Damrosch: What is World Literature?, Princeton: Princeton University Press 2003, S. 5. 12 Walter Koschmal schreibt dazu: »In der Nationalliteratur stehen der ästhetische und der damit unmittelbar verbundene evolutionäre Wert im Zentrum. Die ästhetische Wertsetzung ist vom (nationalen) Kollektiv abhängig. [...] In der Weltliteratur dominieren dahingegen nicht der ästhetische und der evolutionäre Wert, sondern der universelle Wert.« Walter Koschmal: »Ästhetischer und universeller Wert. National- und weltliterarische Funktion. Die slavischen Literaturen am Rande der Weltliteratur?«, in: Manfred Schmeling (Hg.), Weltliteratur heute: Konzepte und Perspektiven, Würzburg: Königshausen und Neumann 1995, S. 101-122, hier S. 104.
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Beispiel für das Eindringen der (ost-)mitteleuropäischen Literaturen in den Kreis der Weltliteratur ist die russische (weniger die polnische) Avantgarde, die zumindest zum Teil in eine transkulturelle ästhetische Zirkulation der europäischen Avantgarden eintreten konnte, was auch damit zu tun hatte, dass visuelle Elemente leichter international rezipiert werden als sprachliche, so Malerei, Grafik, Architektur, Fotografie oder auch das Alltagsdesign der russischen Konstruktivisten. Nicht selten aber galten die russische und vor allem die polnische Literatur im 19. und im 20. Jahrhundert außerhalb ihres eigenen kulturellen Kontextes häufig als hermetisch, da sie sich mit spezifischen eigenen Problemen auseinandersetzte, die der westlichen Leserschaft fremd erschienen. So war die polnische Literatur vom Beginn des 19. bis zum Ende des 20. Jahrhunderts einem spezifisch polnischen romantischen Paradigma verpflichtet13 und setzte in einem fort spezifische Symbole und Mythologeme ein, die das Trauma der polnischen Teilung zu verarbeiten suchten, so zum Beispiel den Topos von Polen als Christus der Völker oder von der Matka Polka, der Mutter Polin. Geht man nun – in Anlehnung an das goethesche Konzept von Weltliteratur – davon aus, dass Weltliteratur sich dadurch auszeichnet, dass sie eine Kommunikation zwischen den Völkern und ein Aushalten des Anderen ermöglichen sollte,14 so hatte eine Literatur, die sich mit einem spezifisch
13 So die polnische Romantikspezialistin Maria Janion, die das Ende des romantischen Narrativs erst mit der erneuten nationalen Selbstständigkeit Polens nach dem Ende der Sowjetunion und damit auch der russischen Dominanz über Polen sieht: »trwające od prawie 200 lat panowanie romantyzmu ma się ku schyłkowi« (die fast 200 Jahre andauernde Herrschaft der Romantik geht zur Neige). Maria Janion: »Szanse kultur alternatywnych«, in: Res Publika 3 (1991), S. 107-110. 14 So zitiert Hendrik Birus eine der letzten Äußerungen Goethes zur Weltliteratur: »daraus nur kann endlich nur die allgemeine Weltliteratur entspringen, daß die Nationen die Verhältnisse aller gegen alle kennen lernen und so wird es nicht fehlen, daß jede in der anderen etwas Annehmliches und etwas Widerwärtiges, etwas Nachahmenswertes und etwas zu Meidendes antreffen wird. […] [W]enn wir mit entschieden anders denkenden Personen im gemeinen Leben zu verkehren haben, werden wir einerseits vorsichtiger, andererseits aber duldender und nachsichtiger zu seyn uns veranlaßt finden.« Johann Wolfgang von Goethe: »Goethes wichtigste Äußerungen über ›Weltliteratur‹«, in: ders.: Werke, Hamburger Ausgabe in 14 Bdn., hg. von Erich Trunz, Bd. 12, München: dtv 1998,
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polnischen Thema befasste, und dazu noch auf Polnisch, kaum Chancen, in das Weltliteratur-System einzugehen. Ähnliches galt zu verschiedenen Zeiten auch für die russische Literatur, so zum Beispiel für die experimentelle Literatur der Moskauer Konzeptualisten der späten Sowjetzeit, die sich parodistisch-usurpierend auf die Kunst und Kultur des Sozialistischen Realismus bezog und damit ein Vorwissen erforderte, auf das nicht jeder Leser europäischer Literatur zurückgreifen konnte. Mit dem Ende der bipolaren Weltordnung durch das Ende der Sowjetunion hat nun nicht nur eine Neuordnung der Welt stattgefunden, sondern das literarische Feld sowohl in Russland als auch in den Staaten des ehemaligen Ostblocks hat sich neu justieren müssen. Während die Literatur der Perestrojka und der darauffolgenden Jahre sich der Aufarbeitung der stalinistischen bzw. sozialistischen Vergangenheit widmete (z.B. Anatolij Rybakov mit seinem Roman Deti Arbata, 1987, dt. Die Kinder des Arbat, 1990), die Wendezeit festzuhalten versuchte (z.B. Jáchym Topol mit seinem Roman Sestra, 1994, dt. Die Schwester, 1998), postmoderne Strategien aufgriff (z.B. Vladimir Sorokin mit Roman, 1994, dt. Roman, 1999) oder durch mythische Narrative den Dokumentarismus der 1960er und 70er Jahre ablöste (z.B. Olga Tokarczuk in Prawiek i inne czasy, 1996; dt. Ur und andere Zeiten, 2000), lässt sich nach der Jahrtausendwende ein auffälliger spatial turn in der Literatur Russlands und Polens beobachten: Viele der Protagonist_innen der Romane bewegen sich mehr im Raum als in der Zeit, weg vom Zentrum in die Peripherie, weg von der Heimat hinaus in die Welt, die ihnen nicht mehr fremd zu sein scheint. Zwar tauchen die mobilen Heldinnen und Helden im Zeitalter der Globalisierung nicht nur in der (ost-)mitteleuropäischen Literatur auf, man denke etwa an die Afropolitans, junge, erfolgreiche Menschen, die irgendeine (ethnische) Beziehung zu Afrika haben, aber auf der ganzen Welt zu Hause sind.15 Doch die ost- und mitteleuropäischen Nomaden unterschei-
S. 361-364, hier S. 364, zit. in Hendrik Birus: »Goethes Idee der Weltliteratur. Eine historische Vergegenwärtigung«, in: Schmeling, Weltliteratur heute (1995), S. 5-28, hier S. 15. 15 Den Begriff hat die britisch-nigerianisch-ghanaische Schriftstellerin Taiye Selasi 2005 in ihrem Essay »Bye-Bye Babar« geprägt für »the newest generation of African emigrants, coming soon or collected already at a law firm/chem lab/jazz lounge near you. You’ll know us by our funny blend of London fashion, New
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den sich deutlich von diesen Afropolitans, davon abgesehen, dass sie nicht unbedingt erfolgreich und nicht unbedingt Anwälte oder Jazz-Musikerinnen sind. Der neue ost- und mitteleuropäische Nomadismus ist im Kontext des Postsozialismus (oder, wie es bei Boris Groys heißt, der »post-communist condition«)16 und damit in Abgrenzung zum sowjetisch geprägten sozialistischen Weltbild zu sehen. Erstens wendet der (ost-)mitteleuropäische Nomadismus die Peripherie und das Regionale gegen das Zentrum: Das politische Zentrum der Macht, Moskau, hatte jahrzehntelang jede andere Region und jede andere Stadt auf den zweiten oder dritten oder zehnten Platz verwiesen; Leningrad, Warschau, Prag oder Ost-Berlin waren von Moskau aus betrachtet ebenso Peripherie wie Tartu, Taschkent oder Novosibirsk. Indem die neuen literarischen Nomaden sich vom Zentrum weg in die Peripherie bewegen, subvertieren sie die Hierarchie und die klaren Machtverhältnisse des untergegangenen Sowjetimperiums. Zweitens praktizieren die neuen Nomaden eine Grenzüberschreitung, die zu Sowjetzeiten undenkbar gewesen wäre, waren die sozialistischen Länder doch nach außen hin geschlossen; die Grenzen durften nicht übertreten werden. Und drittens vollziehen die reisenden Helden nicht nur eine räumliche, sondern auch eine intellektuelle und moralische Transgression, die sie aus einem heteronormativen, nicht selten von rassistischen17 und kleinbürgerlichen Ressentiments
York jargon, African ethics, and academic successes. Some of us are ethnic mixes, e.g. Ghanaian and Canadian, Nigerian and Swiss; others merely cultural mutts: American accent, European affect, African ethos. Most of us are multilingual: in addition to English and a Romantic or two, we understand some indigenous tongue and speak a few urban vernaculars«; vgl. Tayie Selasi: »ByeBye Babar«, in: LIP Magazine vom 03.03.2005, online unter: http://thelip. robertsharp.co.uk/?p=76 (Stand: 19.01.2019). 16 Vgl. dazu die Homepage des (mittlerweile beendeten) Projekts »PostCommunist
Condition«:
http://zkm.de/projekt/the-post-communist-condition
(Stand: 19.01.2019). 17 Über den gegenwärtigen Rassismus in Ost- und Mitteleuropa vgl. zum Beispiel Gesine Drews-Sylla zu Tschechien (»Rassismus als diskursive Praxis und gesellschaftliches System in der filmischen Darstellung: Marian [1996] und Horem pádem [2004]«, in: dies./Renata Makarska [Hg.], Neue alte Rassismen? Differenz und Exklusion in Europa nach 1989, Bielefeld: transcript, S. 223251), Renata Makarska zu Polen (»Die Ambivalenz der Fremdheit. Über den
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beherrschten Umfeld befreit. Indem sie sich ins Außen begeben, in die »Außerhalbbefindlichkeit«, »вненаходимость«, wie es bei Michail Bachtin heißt,18 können sie einerseits einen Blick von außen auf das Eigene werfen und sich andererseits von den Traumata ihrer eigenen Vergangenheit distanzieren.19 Dabei greifen die literarischen Nomaden in den polnischen Texten, die ich im folgenden genauer betrachten werde, je unterschiedliche Merkmale des Nomadentums auf. Die bereits erwähnte Dominika in Joanna Bators Wolkenfern ist eine Nomadin in Reinform, sie bewegt sich in zyklischen Phasen, angetrieben durch ihren »Reisedrang«. Während Zygmunt Bauman
Umgang mit ›alten‹ und ›neuen‹ Minderheiten in Polen nach 1989«, in: ebd., S. 253-275) und Valentin Peschanskyi zu Russland (»Diskriminierung als Fundament der russischen Utopie. Einige Anmerkungen zur Sitcom Interny [Praktikanten, 2010-2016]«, in: Dorothee Kimmich/Schamma Schahadat [Hg.], Diskriminierungen. Zeitschrift für Kulturwissenschaften 2 [2016], S. 63-77). 18 Michail Bachtin: »Avtor i geroj v ėstetičeskoj dejatel’nosti«, in: ders., Sobranie sočinenij v semi tomach. T. 1. Filosofskaja ėstetika 1920-ch godov, Moskva: Russkie slovari 2003, S. 69-263. Dt. Autor und Held in der ästhetischen Tätigkeit, hg. von Rainer Grübel, Edward Kowalski, Ulrich Schmid, übers. von HansGünter Hilbert, Rainer Grübel, Alexander Haardt, Ulrich Schmid, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008. 19 Ryszard Nycz führt das bachtinsche Konzept der »Außerhalbbefindlichkeit« für die postkolonialen, post-dependent und postimperialen Räume ein, um »mature self-consciousness, critical self-recognition« zu erreichen und sich aus dem Zustand der Kolonialisierung, der Abhängigkeit und des Imperialen zu befreien. Ryszard Nycz: »Polish Post-Colonial and/or Post-Dependence Studies«, übers. von Marta Skotnicka, in: Teksty drugie 1 (2014), Special Issue: Postcolonial or Postdependence Studies?, S. 5-11, hier S. 9. Mit der Außerhalbbefindlichkeit argumentiert auch Ette, wobei ihn der Blick auf Europa von außen (in diesem Fall aus Südamerika) interessiert: »Um Europa zu verstehen, brauchen wir den Blick von außen«, schreibt er, und fordert eine »virtuelle Außerhalbbefindlichkeit« ein (im Übrigen verweist Ette hier, obwohl er einen spezifisch bachtinschen Begriff benutzt, nicht auf Bachtin). Ette: »Europäische Literatur(en) im globalen Kontext«, S. 259.
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das Unstete und Prinzipienlose des modernen Nomaden fokussiert 20 und Richard Sennett die Gefahr des »flexiblen Menschen« im »drift« sieht, 21 betonen sowohl Rosi Braidotti als auch Heiner Hastedt die positiven Seiten des Nomaden, der vor allem eine Figur und Figuration der Freiheit ist. Dominika in Wolkenfern verkörpert genau diese Freiheit. In Andrzej Stasiuks Reise-Essays, in denen Protagonist und Autor in der Ich-Form zusammenfallen und die Grenzen zwischen fiktivem und realem Nomaden verschwimmen, steht die zentrifugale Bewegung im Vordergrund – der Nomade ist in diesem Fall kein globalisiertes Subjekt, das die Heimat verlässt, sondern er belebt einen vergessenen Raum, das ehemalige Mitteleuropa, den Osten, im Erzählen wieder. Stasiuks nomadische Bewegung wird in einer nomadischen Ästhetik gespiegelt, Bewegung und Erzählung fallen in einem gleichmäßigen Rhythmus der Fortbewegung zusammen. In einem früheren Buch, Dukla von 1997 (dt. Die Welt hinter Dukla, 2002), reflektiert Stasiuk seine Absage an das traditionelle Erzählen mit einem Anfang, einer Mitte und einem Ende. Das Erzählen liegt, wie der (mitteleuropäische) Raum, den Stasiuks Erzähler körperlich durchqueren, außerhalb einer linearen Zeit, vielmehr ist es eine zyklische Zeit, die der ungerichteten Bewegung entspricht:
20 Bei Bauman heißt es: »so wie der Pilger die passendste Allegorie für die moderne Lebensstrategie und ihre entmutigende Aufgabe der Identitätsbildung darstellte – so bilden der Spaziergänger, der Vagabund, der Tourist und der Spieler zusammen die Metapher für die postmoderne Strategie mit ihrer Furcht vor Gebundenheit und Festlegung.« Zygmunt Bauman: Flaneure, Spieler, Touristen. Essays zu postmodernen Lebensformen, übers. von Martin Suhr, Hamburg: Hamburger Edition 1997, S. 149. Für Bauman ist diese »Furcht vor Gebundenheit und Festlegung« ein ethisches Problem und ein Problem der Zeit in der (Post-)Moderne, die zu schnelllebig ist, um Aufmerksamkeit entstehen zu lassen: dadurch können auch Werte nicht reifen, sondern sind lediglich »augenblicklich« (ebd., S. 148). 21 Richard Sennett: Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus, übers. von Martin Richter, Berlin: Berlin Verlag 1998. Sennett bezeichnet mit »Drifter« den modernen Menschen, der sein Schicksal nicht wirklich unter Kontrolle hat, sondern mit den Ungewissheiten des Alltags zurechtkommen muss (er spricht von den »alltäglichen Praktiken eines vitalen Kapitalismus«, ebd., S. 38). Auf Bauman und Sennett verweist Hastedt: Moderne Nomaden, S. 16.
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»Es wird keine Handlung geben, keine Geschichte, zumal in der Nacht, wenn der Raum der Orientierungspunkte beraubt ist, wenn wir von Rogi nach Równe fahren und weiter über Miejsce Piastowe. Wir reisen zwischen Namen in einer Tinktur aus reiner Idee […]. Es wird keine Handlung geben mit ihrem Versprechen eines Anfangs und der Hoffnung auf ein Ende.«22
Auch in Olga Tokarczuks Unrast sind die Figuren unruhig, können nicht an Ort und Stelle bleiben. Aber sie sind nicht so frei wie Bators Dominika oder so kreativ wie Stasiuks reisender Erzähler, sondern sie stehen dem Typus des Touristen näher, der sich zwar bewegt, sich aber durch eine Besuchsmentalität auszeichnet und gedanklich immer an mehreren Stellen gleichzeitig befindet.23 Unstet sind hier nicht nur die Figuren, sondern auch die Erzählweise ist sprunghaft und erscheint wie eine touristische Reise, belässt den Blick außen an der Oberfläche, ohne in die Tiefe zu gehen. Ausgehend von den drei genannten Spezifika der (ost-)mitteleuropäischen Gegenwartsliteratur – die Bewegung vom Zentrum zur Peripherie, körperliche Grenzüberschreitung, intellektuelle und moralische Transgression – werde ich die Texte auf ihr Nomadentum hin lesen und auch die ästhetische Seite im Blick behalten. Nomadische Figuren und eine nomadisierende Ästhetik öffnen die polnische und russische Literatur hin zu einem weltliterarischen Raum. Weltliterarisch ist der Raum auf drei Ebenen, denn erstens bewegen die Figuren sich in einem (mehr oder weniger) globalisierten Raum, zweitens reflektieren sie die Spannung zwischen dem globalen und dem lokalen Raum, und drittens partizipieren die (übersetzten) Texte am literarischen Feld der Globalisierung. Im Folgenden werde ich mich auf drei polnische Beispiele konzentrieren: auf Bators Wolkenfern, auf Stasiuks Reise-Skizzen und Tokarczuks Unrast. Diese Texte sind allesamt in die Zirkulation der Weltliteratur ein-
22 Andrzej Stasiuk: Die Welt hinter Dukla, übers. von Olaf Kühl, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2013, 6. Aufl., S. 8, 10. – »Nie będzie fabuły, nie będzie historii, zwłaszcza w nocy, gdy przestrzeń pozbawiona jest orientacyjnych punktów, gdy jedziemy z Rogów do Równego i dalej przez Miejsce Piastowe. Podróżujemy pomiędzy nazwami w roztworze czystej idei. [...] Nie będzie fabuły z jej obietnicą początku i nadzieją końca.« Andrzej Stasiuk: Dukla, rysunki Kamil Targosz. Gładyszów: Czarne 1997, S. 5f., 7. 23 Bauman: Flaneure, Spieler, Touristen, S. 158.
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gegangen, da sie in fremde Sprachen übersetzt wurden und damit doppelt am Weltliteratur-System partizipieren: als Übersetzung und aufgrund ihrer nomadisierenden, reisenden Heldinnen und Helden.
J OANNA B ATOR : W OLKENFERN Dominika steht im Zentrum der Romane Sandberg und Wolkenfern von Bator. In Sandberg ist sie Teil einer weiblichen Generationenkette, die ihre Großmütter Halina und Zofia, ihre Mutter Jadwiga (Jadzia) und sie selbst umfasst. Der Roman beginnt mit einer Bewegung über die Grenze, denn Zofia und ihre Tochter Jadzia wurden im Nachkriegspolen vom polnischen Osten, der Teil der Sowjetunion wurde, in die neugewonnen Westgebiete, ins schlesische Zalesie umgesiedelt.24 Als Erwachsene zieht Jadzia weiter nach Wałbrzych, das ehemalige deutsche Waldenburg; in dem nun polnischen Ort sind die Spuren der deutschen Bewohner noch allgegenwärtig. Während Sandberg zum einen ein anschauliches Bild der Zeit der Volksrepublik zeichnet, mit Plattenbau und verschiedenen Realia dieser Zeit, vom Essen über die Dinge (tschechischer Kräuterlikör, polnische Würstchen, die Automarke Warszawa, die Zeitschrift Motor etc.) bis hin zu den Liedern,25 erweitert sich der mittlerweile postsozialistische Raum in Wolkenfern auf die ganze Welt, von Deutschland über die USA bis nach Griechenland. Im
24 »Stalin, Hitler, das ganze Durcheinander des Krieges rissen das auf Halina noch nicht fertig zugeschnittene Leben mit dem Schmied in Fetzen, dass ihr Hören und Sehen verging. Sie wurde zu einem unter vielen Umsiedlern, ein Wort, zu dem es im Polnischen nicht mal eine gebräuchliche weibliche Form gab, die man mit entsprechenden schneiderischen Fähigkeiten so zuschneiden konnte, dass sie die Blöße bedeckte.« Bator: Sandberg, S. 110. – »Stalin, Hitler, cała ta wojenna zawierucha strzepnęła z Haliny niedopasowane jeszcze życie z kowalem i zakręciła jej w głowie. Stała się jedną z przesiedleńców, a przesiedleniec nawet nie ma żeńskiego rodzaju, który można by przykroić do nagości, gdy posiada się zdolności krawieckie.« Bator: Piaskowa Góra, S. 96. 25 Vgl. hierzu Mariella C. Gronenthal, die Sandberg aus der Perspektive der Nostalgie interpretiert: Nostalgie und Sozialismus. Emotionale Erinnerung in der deutschen und polnischen Gegenwartsliteratur, Bielefeld: transcript 2018, S. 167-200.
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sozialistischen Polen wollen die Bewohner des Sandbergs einander unbedingt ähnlich sein und fürchten sich vor allem Fremden, das dennoch ständig in ihren Alltag eindringt, sei es durch Päckchen aus der »BeErDe«,26 sei es durch die brasilianische Telenovela Die Sklavin Isaura oder eben durch Dominika, die ganz anders ist als die anderen: »Jadzia will, dass Dominika so wie sie ist, und der wachsende Abstand schürt den in ihr glimmenden Zorn […]. Du Bankert, Rattenschnauze, Skelett! schrie sie die Tochter an, von ihrer Andersartigkeit erschreckt wie von einer tödlichen Krankheit.« 27 Der Roman endet mit einem Unfall, in dem Dominika sehr schwer verletzt wird und ins Koma fällt; in dem darauffolgenden Roman Wolkenfern wacht sie in einem Krankenhaus in der »BeErDe« wieder auf: Eine Freundin von Jadzia, die einen gut verdienenden deutschen Ehemann hat, hat Dominika nach Deutschland geholt. Damit setzt Wolkenfern ein; in diesem Roman ist Dominika der Plattenbausiedlung und dem sozialistischen Polen entkommen und ihr Anderssein erlangt im Nomadismus eine konkrete Form. Dominika bricht im Laufe des Romans immer wieder auf, ohne eine konkrete Richtung. »Immer, wenn Jadzia Chmura schon hofft, dass sich ihr Kind irgendwo fest niedergelassen hat, ruft Dominika von einem anderen Ort an: Mama das ist nicht mehr aktuell, ich bin jetzt woanders […]«.28 In einzelnen Puzzleteilchen wird die Information vergeben und aus diesen lässt sich auch der Grund von Dominikas Nomadismus erraten: In Europa, so behauptet Dominika, lässt sie der Geruch nach verbranntem (Menschen-)Fleisch nicht los.29 Dieser leitmotivisch immer wieder im Ro-
26 Z.B. Bator: Sandberg, S. 205. 27 Ebd., S. 243. – »Jadzia chce, by Dominika była taka sama, a rosnąca odległość podsyca tlącą się w niej złość. […] Odmieńcu, szczurza mordo, kościotrupo! Krzyczała na córkę przerażona jej innością jak śmiertelną chorobą«. Bator: Piaskowa Góra, S. 215. 28 Bator: Wolkenfern, S. 273. – »Zawsze kiedy Jadzia Chmura nabiera nadziei, że jej dziecko osiadło, ono dzwoni z innego miejsca o nieznanej nazwie i mówi, mamo tu już nieaktualne, ja jestem teraz gdzie indziej […].« Bator: Chmurdalia, S. 266. 29 »Nach angebranntem Fleisch, so riecht Europa, Sara Jackson, diesen Geruch hatte ich in der Nase, als ich im Koma lag, den Geruch von angebranntem Fleisch, ich rieche es immer noch. Alles ist davon durchdrungen, da hilft kein
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man auftauchende Geruch lässt sich mit der Entdeckung zusammenführen, dass Dominikas Großvater nicht, wie ursprünglich angenommen, der polnische Mann ihrer Großmutter ist, sondern der polnische Jude Ignacy Goldbaum, den ihre Großmutter Zofia vor den Nazis versteckt hatte. Dieser (echte) Großvater hat nach Amerika fliehen können, und im Alter finden sich Zofia und Ignacy Goldbaum wieder, doch kaum kommt Ignacy zu Zofia nach Polen, wird ihr Haus von einem eifersüchtigen ehemaligen Verehrer angesteckt und Dominikas Großeltern verbrennen. Dominikas Autounfall, bei dem ihre Freundinnen verbrannt sind, die verbrannten Großeltern und der Geruch Millionen vergaster europäischer Juden30 laufen in Dominikas Geruchstrauma und ihrem Nomadentum zusammen. Dominika wird auf diese Weise nicht nur zur Nomadin, die aus der Enge der Volksrepublik Polen flieht, sondern zugleich zur Figuration der europäischen Vergangenheit, wenn sie dem Geruch verbrannten Fleisches entkommen will. 31 Intertextuell untermauert wird Dominikas Nomadentum durch einen Bezug zu Homers Odyssee und zu dessen Posttext, James Joyces Ulysses. Dominika
Dior, kein Raumspray mit Meeresbrisenduft, vielleicht hört Europa auf, nach Scheiße zu riechen, aber es riecht immer weiter nach verbranntem Fleisch. Das ist unangenehm.« Bator: Wolkenfern, S. 145. – »Mięsem, które się przypaliło, tak pachnie Europa, Saro Jackson, mówi Dominika, ten zapach snił mi się, gdy byłam w śpiączce, zapach spalonego mięsa, ciągle go czuję. Nim przesiąknięte jest wszystko, nie pomagą żadne diory i odświeżacze powietrza o zapachu morskiej bryzy, może Europa przestanie śmierdzieć gównem, ale nie spalonym mięsem. To nieładnie […].« Bator: Chmurdalia, S. 128f. 30 »Selbst als die Gefahr schon so nah war, dass man abends den Gestank nach Brand roch, der ganz Europa auf Jahre einhüllen sollte, konnten Alina und Eulalia noch nicht an die Wirklichkeit des Bösen glauben.« Bator: Wolkenfern, S. 256. – »Nawet gdy zagrożenie było już tak bliskie, że wieczorami czuło się swąd spalenizny, która cała Europa miała nasiąknąć na lata, Alina i Eulalia nie wierzyły w realność i ogrom zła.« Bator: Chmurdalia, S. 251f. 31 Ette sieht die Lagerliteratur als Beispiel für eine supranationale und vielsprachige europäische Literatur, also eine Literatur, die die Nationalliteratur transzendiert (Ette: »Europäische Literatur(en) im globalen Kontext«, S. 265). Aus dieser Perspektive ist der Holocaust, der Bators Romane in mehr oder weniger deutlichen Allusionen durchzieht, ein transnationales Narrativ, das in Dominika figuriert wird.
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liest in New York einer polnischen Jüdin, die auf der Flucht vor den Nazis eine Odyssee erlebte, die sie schließlich nach Amerika führte, aus der Odyssee vor – und zwar »nur noch die Odyssee«.32 Dominika Chmura ist nicht nur eine räumliche Grenzüberschreiterin, die vornehmlich die Peripherie im Vergleich zum Zentrum wählt – die deutsche Provinz, den außereuropäischen Raum, die migrantische Peripherie in New York –, sondern sie überschreitet zudem gesellschaftliche Normen. Kategorien, nach denen Menschen eingeteilt werden, interessieren Dominika nicht: weiß oder schwarz, hetero- oder homosexuell. Damit bringt sie die Werteskala ihrer Mutter Jadzia durcheinander: »Konnte sie wirklich nicht nur einmal, nur dieses eine Mal, der Mutter einen Gefallen tun und sich mit einem normalen Menschen anfreunden? Erst dieser Junge, der halb Grieche, halb Zigeuner war, dann dieses Mannweib Małgosia und dazu ein Kaplan, jetzt eine Negerin.«33 Jadzia, die im Sandberg wohnt und beharrlich versucht, an bekannten Zuschreibungen festzuhalten, wird durch ihre Tochter Dominika, die so anders ist, immer wieder aus dem Takt gebracht. Dabei sind es nicht nur das Aussehen und die Bewegungen, die anders sind, sondern auch Dominikas gesamtes moralisches Universum funktioniert nach anderen Gesetzen; in einem fort überschreitet sie Grenzen und wählt anstelle binär strukturierter Ordnungen (weiß – schwarz, gut – böse, männlich – weiblich) gerade jene Räume, die sich binär organisierten Zuschreibungen entziehen.
32 Bator: Wolkenfern, S. 242. Wörtlich steht im polnischen Original »po raz trzeci«, »zum dritten Mal«, Bator: Chmurdalia, S. 239. 33 Bator: Wolkenfern, S. 138. – »Czy naprawdę nie mogłaby raz, ten jedyny raz, zrobić matce przjemności i zaprzyjaźnić się z kimś normalnym? Najpierw ni to Grek, ni to Cygan, potem ta Małgosia schłopiała i ksiądz na dokładkę, teraz Murzynka.« Bator: Chmurdalia, S. 123. Der »Grieche« war kein Pole, der in Jadzia Chmuras Vorstellungswelt ein »normaler« Mensch wäre, Małgosia ist lesbisch, und mit dem Kaplan wollte die junge, verliebte Dominika durchbrennen – all diese Figuren sind selbst bereits Grenzüberschreiter.
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ANDRZEJ S TASIUK : G EOPOETISCHE R EISE -S KIZZEN 1989 fielen die geschichtliche Zeit und der geschichtliche Raum in Europa und der ehemaligen Sowjetunion in einem Krisen-Chronotop zusammen. In der Forschung entstanden daraufhin Arbeiten, die die Erforschung des (meist europäischen) Transformationsraums mit theoretischen Fragestellungen verbunden haben (so zum Beispiel mit dem spatial turn). Die Frage nach den Folgen der territorialen und politischen Neuordnung wird u.a. in den Geschichts- und Politikwissenschaften, in den Kulturwissenschaften und in der Kulturgeografie gestellt.34 Doch findet neben der wissenschaftlichen Erforschung des Raums seit den 1990er Jahren auch eine literarische Erkundung statt, etwa in Stasiuks Reisetexten, z.B. Jadąc do Babadag (2004, dt. Unterwegs nach Babadag, 2005),35 oder im Essay.36 Im Zusammenhang mit dem Genre der Reiseskizzen oder -essays, die neben Stasiuk u.a. auch der Ukrainer Jurij Andruchovyč/Andruchowytsch verfasst, ist in der Slavistik das Konzept der Geopoetik sehr produktiv geworden. Aus der Perspektive der Geopoetik stellt sich die Frage, wie »Raum-Poetiken hervorgebracht, semantisch aufgeladen und an bestimmte Orte, Landschaften und Territorien gekoppelt werden. […] Nach der ideologisch-utopischen Stilisierung des Eigenen und der phobischen Ausblendung des Fremden zu Zeiten des Realsozialismus wird nun mit Hilfe des Literarischen eine Relektüre von Territorien vorgenommen, die die Heterogenität Ostmitteleuropas neu erschließen.«37
34 Vgl. dazu z.B. Karl Schlögel: Die Mitte liegt ostwärts, München: Hanser 2002; Thomas Lahusen: »Decay or Endurance? The Ruins of Socialism«, in: Slavic Review 65 (Winter 2006), S. 736-746; Marszałek/Sasse: »Geopoetiken«. 35 Weitere Reisetexte von Andrzej Stasiuk sind z.B. Fado, 2006; dt. Fado. Reiseskizzen, 2008; oder Nie ma ekspresów przy żóltych drogach, 2013; dt. Der Stich im Herzen. Geschichten vom Fernweh, 2015. 36 Vgl. hierzu die beiden Essaybände, die Katharina Raabe und Monika Sznajderman herausgegeben haben: Last & Lost. Ein Atlas des verschwindenden Europas, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006; Odessa Transfer. Nachrichten vom Schwarzen Meer, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2009. 37 Marszałek/Sasse: »Geopoetiken«, S. 7-9.
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Der ostmitteleuropäische Raum, der zur Zeit des Kalten Krieges dem sogenannten Ostblock zugeordnet wurde, wird in den literarischen Reiseskizzen als eigener Bereich wiedererobert. Kennzeichen dieses Raums, die als Topoi in den Texten von Stasiuk, Andruchovyč oder Serhij Žadan/Zhadan auftauchen, sind Leere, Verlassenheit und Verfall. Katharina Raabe und Monika Sznajderman bezeichnen verschiedene Orte und Räume in Mittelund Osteuropa als »verschwindendes Europa«: »Letzte und verlorene Orte in Europa« stellen sie in ihrem Atlas des verschwindenden Europa vor, »Plätze, an denen etwas unwiderruflich zu Ende geht, sich zur Unkenntlichkeit verwandelt oder einfach verfällt.«38 Um diesem Verschwinden entgegenzusteuern, werden Landschaften oder Städte nostalgisch aufgeladen, wie Svetlana Boym in ihrem Buch The Future of Nostalgia39 zeigt: Verschiedene ideologische Schichten in ehemals kommunistischen Städten (Moskau, St. Petersburg, Berlin, Prag und Ljubljana) ähneln einem Palimpsest; jede neue Schicht bringt neue Signifikationen und Transformationen hervor, wobei die früheren Schichten durch die neueren hindurchscheinen. Eine Alternative zur Nostalgie ist die körperliche Aneignung des Raums, die der polnische Schriftsteller Stasiuk in Unterwegs nach Babadag durchführt: Dort wandert der Erzähler durch die Mitte Europas, durch einen Raum, »der keinerlei Geschichte hatte«.40 Dabei fungieren der Körper des Wanderers und die Karte als Orientierungsparameter: der Körper, der erst durch die Berührung mit dem Raum existiert, trifft auf die Karte, die Risse bekommt, wenn man sie faltet, und der der erwanderte, begangene, gelesene Raum zum Opfer fällt. Die literarischen Helden erforschen die Landschaft mit ihren Körpern und erschaffen so zunächst »bodyscapes«, die sie dann im Text in »scripturescapes« transformieren.41 Sie gehen zu Fuß, nehmen den Bus, den Zug
38 Katharina Raabe/Monika Sznajderman: »Von sprechenden Ruinen, verschobenen Grenzen und unsichtbaren Städten – Texte und Bilder eines verschwindenden Europas«, in: dies./Sznajderman, Last & Lost (2006), S. 9-15, hier S. 9. 39 Svetlana Boym: The Future of Nostalgia, New York: Basic Books 2001. 40 Andrzej Stasiuk: Unterwegs nach Babadag, übers. von Renate Schmidgall, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2005, S. 10. – »żadnej historii«, Andrzej Stasiuk: Jadąc do Babadag, Wołowiec: Czarne 2004, S. 10f. 41 Die Begriffe »bodyscapes« und »scripturescapes« verwende ich in Anlehnung an Arjun Appadurais »scapes«; er spricht von »ethnoscapes«, »technoscapes«,
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oder fahren in einem Lastwagen mit. Dabei ignorieren die Helden von Andruchovyč, Žadan oder Stasiuk jede räumliche oder zeitliche Organisation; sie achten nicht auf Fahrpläne, benutzen keine Landkarten oder aber nur solche, die seit Jahrzehnten veraltet sind. Stasiuk hat ein fast fetischistisches Verhältnis zu diesen nutzlosen Landkarten; so führt ihn die »Neue Verkehrskarte von Österreich-Ungarn, Freytag und Berndt, Wien 1900« zu Überlegungen über die Fragilität von Zeit und Raum und von Erinnerung überhaupt – damit wird jedes »Aufschreibesystem« im Sinne von Friedrich Kittler42 aus einer Perspektive des Faktischen mehr oder weniger wertlos, erlangt dafür aber unschätzbaren poetischen Wert: »Meine Karte […], wie übrigens jede alte Karte, rettet die Welt und zeigt zugleich ihren Zerfall, ihre Vergänglichkeit. Wenn ich sie anschaue, blicke ich ins Nichts, und meine Phantasie will es um jeden Preis ausfüllen. Das mürbe, morsche, zwischen den Fingern zerfallende Papier erinnert an das menschliche Gedächtnis – schwach, unvollkommen, bedroht von Sklerose und Altersdemenz.«43
Diese Nachlässigkeit gegenüber jeder Vermessung oder Kartografierung ist nicht nur ein Manifest für einen poetischen Blick auf die Welt, sondern auch eine Gegenreaktion auf die sowjetische Weltordnung, der das östliche Europa in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts unterworfen war und die auf einem sorgfältigen und immer wieder korrigierten Abmessen ihres Territoriums beruhte. Als Walter Benjamin 1927 Moskau besuchte, fielen ihm
»financescapes«, »mediascapes« und »ideoscapes«. Vgl. dazu Arjun Appadurai: Modernity at Large. Cultural Dimensions of Globalization, Minneapolis: University of Minnesota Press 1996. Appadurai nutzt den Begriff der »scapes« um Landschaften zu beschreiben, die durch kulturelle Ströme (»cultural flows«, S. 33) geprägt sind. 42 Friedrich Kittler: Aufschreibesysteme 1800/1900, München: Fink 1985. 43 Andrzej Stasiuk: Fado. Reiseskizzen, übers. von Renate Schmidgall, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008, S. 38. – »Moja mapa natomiast, jak zresztą każda stara mapa, ocala świat, a jednocześnie pokazuje jego rozpad, jego przmijanie. Patrząc na nią, spoglądam w nicość, którą moja wyobraźnia chce za wszelkę cenę wypełnić. Ten kruchy, zetlały rozpadający się w palcach papier przypomina ludzką pamięć, słabą, niedoskonałą, zagrożoną sklerozą i starczą demencją.« Andrzej Stasiuk: Fado, Wołowiec: Czarne 2006, S. 38.
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die Stadt- und Landkarten als eine sowjetische Besonderheit ins Auge.44 »Between 1917 and 1935, a vast map-making process took place in the Soviet Union«, schreibt Emma Widdis dazu; das Ziel war eine »imaginary geography« mit den »boundaries of power« des neuen Sowjetstaats. Landkarten und Globen wurden in Massen hergestellt und waren Teil des »obsessive process of self-representation«, »[a] propaganda campaign involving the vast machinery of the Soviet cultural system«.45 Gegen die imaginäre Sowjet-Geografie, die auf der sowjetischen Ideologie beruht, setzen die Autoren des wiederangeeigneten (ost-)mitteleuropäischen Raums eine ästhetische Geografie. Die Wiedereroberung des (privaten, persönlichen) Raums erfordert Körpereinsatz. Während die Sowjetideologie (unbekannten) Raum in (bekanntes, kartografiertes) Territorium transformierte,46 graben die postsowjetischen Autoren den Raum unter diesem Territorium wieder aus. Und während das sowjetische Modell zentripetal organisiert war, befindet sich (Ost-)Mitteleuropa in der politischen Peripherie, mit Landschaften, Gebirgen und kleinen Ortschaften, die geradezu lethargisch wirken, in denen absolut nichts passiert. 47 Gegen die sowjetische Fixierung auf das Zentrum Moskau setzt Stasiuk (wie übrigens sein ukrainischer Kollege Andruchovyč auch) auf die mitteleuropäische Peripherie:
44 »Auf der Straße, im Schnee, liegen Landkarten von SSSR, aufgestapelt von Straßenhändlern, die sie dem Publikum anbieten. Meyerhold verwendet die Landkarte in ›Dajosch-Europa‹ – der Westen ist darauf ein kompliziertes System kleiner russischer Halbinseln. Die Landkarte ist ebensonahe daran, ein Zentrum neuen russischen Bilderkults zu werden wie Lenins Portraits.« Walter Benjamin: Moskauer Tagebuch. Mit einem Vorwort von Gershom Sholem, hg. von Gary Smith, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1980, S. 76. (Diese Passage wird auch bei Widdis zitiert, wenngleich auf Englisch – s. dazu die nächste Fußnote.) 45 Emma Widdis: Visions of a New Land. Soviet Film from the Revolution to the Second World War, New Haven/London: Yale University Press 2003, S. 3. 46 Vgl. ebd. 47 Wenngleich Unterwegs nach Babadag vor allem postsowjetische Wanderungen bzw. Reisen umfasst, bezieht diese Passage sich auf Stasiuks Reisen durch Polen zu Beginn der 1980er Jahre (»Mein Land reichte mir vollkommen«, heißt es da), Stasiuk: Unterwegs nach Babadag, S. 8. – »Mój kraj zwyczajnie mi wystarczał.« Stasiuk: Jadąc do Babadag, S. 8.
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»Jeder Ort war gut, weil ich ihn ohne Bedauern verlassen konnte. Er mußte gar keinen Namen haben. Unablässiger Aufwand, unablässiger Verlust, eine Verschwendung, Einbußen und keine Spur von Akkumulation. Morgens die Ostseeküste, abends die Wälder am San, in einer Dorfkneipe Typen mit Bierkrügen, wie Gespenster, wie Phantome, die bei meinem Anblick mitten in der Bewegung erstarren. So habe ich sie in Erinnerung, aber es könnte genauso in der Gegend von Legnica gewesen sein oder vierzig Kilometer nordöstlich von Siedlce ein Jahr früher oder später in irgendeinem Dorf.«48
Die Helden verschlafen ihre Bushaltestellen, verpassen ihre Züge oder reisen ohne jedes Ziel: »Ich trank im Bahnhofsrestaurant einen starken Tee und fuhr zurück, um in ein, zwei Tagen wieder nach Norden oder Osten aufzubrechen, scheinbar ohne Ziel. Eines Sommers fuhr ich zweiundsiebzig Stunden ohne Pause. Ich unterhielt mich mit den Lastwagenfahrern […]. Die Landschaft hinter der Scheibe näherte sich und entfernte sich wieder, um schließlich stehen zu bleiben, zu erstarren, als gäbe die Zeit sich endlich geschlagen.«49
Stasiuks Raum ist ohne Geschichte und ohne Zeit – indem er diesen Raum begeht, erschafft er ihn durch seine körperlichen Empfindungen:
48 Stasiuk: Unterwegs nach Babadag, S. 11. – »Każde miejsce było dobre, ponieważ mogłem je opuścić bez żalu. Nie musiało nawet w ogóle się nazywać. Nieustanny wydatek, nieustanna strata, rozrzutność, jakiej świat nie widział, karnawał, rozkurz, trwonienie i ani śladu akumulacji. Rano Wybrzeże, wieczorem lasy nad Sanem, faceci nad kuflami jak zjawy w wiejskiej knajpie, jak fantomy zatygłe na mój widok w ćwierć gestu. Tak ich pamiętam, ale równie dobrze mogło się to wydarzyć koło Legnicy albo czterdzieści kilometrów na północny wschód od Siedlec rok wcześniej albo póżniej w jakiejś wsi.« Stasiuk, Jadąc do Babadag, S. 11f. 49 Stasiuk, Unterwegs nach Babadag, S. 9. – »Piłem mocną herbatę w dworcowym barze i jechałem z powrotem, by za dzień, dwa wyruszyć na północ albo na wschód, pozornie bez celu. Któregoś lata jechałem siedemdziesiąt dwie godziny bez przerwy. Rozmawiałem z kierowcami ciężarówek […] Pejzaż za szybą to się przybliżał, to oddalał, by na koniec zastygnąć, znieruchomieć, jakby czas nareszcie dał za wygraną.« Stasiuk: Jadąc do Babadag, S. 9f.
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»[A]lso sprang ich auf die Ladefläche und döste, in eine Decke gewickelt, unter der flatternden Plane, und im Halbschlaf suchten mich die Landschaften heim, durch die ich gefahren war, mit Phantasmagorien vermischt, als betrachtete ich Dinge, die ein Fremder sieht […]. Ich bewegte mich in einem Raum, der keinerlei Geschichte hatte, keinerlei erinnerungswerte Errungenschaften. Ich war der erste Mensch am Fuße der Góry Pieprzowe, und alles begann mit meiner Gegenwart. Die Zeit begann erst zu vergehen, die Dinge und Landschaften begannen erst in dem Moment zu altern, als ich sie mit meinem Blick berührte.«50
In Stasiuks Prosa wird Raum nicht intellektuell, sondern körperlich geschaffen, wobei der Schöpfer dieses Raums ein Wandernder, Fahrender, Reisender ist. Was die Grenzüberschreitung betrifft, so agiert dieser RaumErfahrer und -Beschreiber mit seinem Körper und mit seiner Imagination.
O LGA T OKARCZUK : U NRAST »Nicht Heimat, nicht Exil« – so lautet eine Überschrift in Ina Hartwigs Rezension zur deutschen Übersetzung von Olga Tokarczuks Buch Unrast, im Original Bieguni.51 Der polnische Titel evoziert eine Sekte der russischen Altgläubigen, die Beguncy; die Altgläubigen hatten sich im 17. Jahrhundert von der offiziellen Kirche abgespalten und waren in verschiedenen Untersekten in die Peripherie des russischen Reiches gegangen. 52 Der Begriff
50 Stasiuk: Unterwegs nach Babadag, S. 10. – »wskoczyłem na pakę i zawinięty w koc drzemałem pod łopoczącą plandeką, a w półśnie nawiedzały mnie minione pejzaże pomieszane z fantasmagoriami, jakbym ogłądał rzeczy, króre widzi ktoś obcy […] Poruszałem się w przestrzeni, która nie miała żadnej historii, żadnych dziejów, żadnych wartych wspomnienia dokonań. Byłem pierwszym człowiekiem gdzieś u stop Gór Pieprzowych i wszystko zaczynało się od mojej obecności. Czas zaczynał płynać, a rzeczy i krajobrazy zaczynały się starzeć dopiero w chwili, gdy dotykałem ich wzorkiem.« – Stasiuk: Jadąc do Babadag, S. 10f. 51 Ina Hartwig: »Die Muskelfasern, ein Kosmos«, in: Frankfurter Rundschau vom 19.3.2009, online unter: http://www.fr.de/kultur/literatur/unrast-die-muskelfa sern-ein-kosmos-a-1115089 (Stand: 19.01.2019). 52 Zu dem religiösen (und semiotischen) Schisma zwischen den Orthodoxen und den Altgläubigen im 17. Jahrhundert vgl. Renate Lachmann: »Die Problemati-
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enthält das russische ›begat’‹ und das polnische ›biegać‹, deutsch ›laufen‹. Bieguni also meint diejenigen, die unterwegs sind, die jenseits des Zentrums in Bewegung sind. In literarischen Skizzen hält Tokarczuk diese Unsteten fest. Die Ich-Erzählerin, eine Figur unterwegs, verfolgt mit ihren Bewegungen durch die Welt ein Ziel, nämlich die Unsteten zu beobachten, ihre Geschichten zu hören und sie nachzuerzählen; dabei ist sie selbst von der Unrast erfasst und bereist die Welt. Tokarczuks Ich-Erzählerin als literarische Reisende und die Figuren, deren Geschichten sie sammelt, sind Teil der globalen Ströme, die sich durch eine Welt bewegen, deren Grenzen sich mühelos überschreiten lassen. Dabei ist die Ich-Erzählerin zum einen eine Reisende, die sich tatsächlich im Raum bewegt, zum anderen aber, als Chronistin der Reisen der Anderen, eine virtuelle Mit-Reisende dieser fremden Reisen. Die Bewegung im Raum, die Grenzüberschreitung, macht die Identität dieser Reisenden aus. »Ich bin« heißt das erste Kapitel, »Jestem«.53 Die Ich-Erzählerin entdeckt als kleines Kind ihr eigenes Sein, alleingelassen in einem Haus, aus dem sie sich nicht wegbewegen darf. Diese Identitätserfahrung in der Statik wird baldmöglichst überwunden, indem das Kind seine Umgebung erforscht. Von da an wird es zum Reisenden, zum Touristen, das seine Umgebung zunächst zu Fuß erobert, später in Zügen und Flugzeugen. Dieses reisende Ich ist ein Tourist bzw., in diesem Fall, eine Touristin. Was ist ein Tourist? Einer der Nachfolger des Pilgers, aber während der Pilger die Wahrheit sucht, ernsthaft ist, ist der Tourist, wie auch der Flaneur, eine Art Spieler: »Das Leben-als-Spaziergang war etwas ganz anderes als das-Leben-als Pilger. Was der Pilger mit aller Ernsthaftigkeit tat, äffte der Spaziergänger spielerisch nach«, schreibt Zygmunt Bauman.54 Diesen Touristen beschreibt Bauman als den »Sammler von Erfahrungen«,55 wobei
sierung der Rhetorik. Kanon und Gegenkanon in der russischen Kultur des 17. Jahrhunderts«, in: dies., Die Zerstörung der schönen Rede, München: Fink 1994, S. 21-50. 53 Olga Tokarczuk: Unrast, übers. von Esther Kinsky, Frankfurt a.M.: Schöffling & Co. 2009, S. 7; Olga Tokarczuk: Bieguni, Kraków: Wydawnictwo literackie 2007, S. 5. 54 Bauman: Flaneuere, Spieler und Touristen, S. 151. 55 Ebd., S. 156.
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die Erfahrungen möglichst skurril und ästhetisch sein müssen. 56 Was Bauman hier als unersättliche Lust nach Kuriositäten beschreibt, taucht bei Tokarczuk als psychische Störung auf: »Die Geschichte meiner Reisen ist nur die Geschichte einer Unzulänglichkeit. Ich leide an einem Syndrom […]. Der Begriff des Syndroms passt wie angegossen auf die Reisepsychologie [...]. Meines heißt Perseveratives Detoxifikationssyndrom. […] Mein Symptomkomplex besteht darin, dass mich alles anzieht, was kaputt, unvollkommen, defekt, zerbrochen ist. Mich interessiert das Unansehnliche, Irrtümer der Schöpfung, Sackgassen.«57
Kurios sind weniger die Orte, die die Reisende besucht (wobei darunter auch ein Kuriositätenkabinett ist), als die anderen Reisenden, die sie beobachtet. Im Gegensatz zum Nomaden allerdings hat der Tourist ein Zuhause, das »Teil eines Sicherheitspakets« ist;58 am Ende der Reise – oder des Buches – gibt es eine »Rückkehr nach Hause«.59 Genau darin unterscheiden sich Tokarczuks Rastlose von Bators Dominika: Sie reisen, kehren immer wieder dorthin zurück, wo sie herkommen, während Dominika als Nomadin unfähig und unwillig ist, sich häuslich niederzulassen. Tokarczuks Reisende sind »Ruhelose, stets nach neuen Abenteuern hungernd«.60 Diese Ruhelosen sind Baumans Tourist sehr ähnlich, dem »Sammler […] neuer und unterschiedlicher Erfahrungen sowie solcher von Unterschied und Neuheit –, da sich die Freuden des Vertrauten schnell abnutzen und reizlos wer-
56 »Die Welt des Touristen ist völlig und ausschließlich durch ästhetische Kriterien strukturiert.« Ebd., S. 157. 57 Tokarczuk: Unrast, S. 23f. – »Historia moich podróży jest tylko historią niedomagania. [...] Pojęcie syndromu jak ulał pasuje do psychologii podróżnej. [ ...] Mój nosi nazwę Syndromu Detoksykacji Perseweratynej. [...] Mój zespół objawów polega na tym, że pociąga mnie wszystko, co popsute, niedoskonałe, ułomne, pęknięte. Interesują mnie formy byle jakie, pomyłki w dziele stworzenia, ślepe zaułki.« Tokarczuk: Bieguni, S. 21f. 58 Tokarczuk: Unrast, S. 158. 59 Ebd., S. 456. – »Po powrócie do domu«. Tokarczuk: Bieguni, S. 450. 60 Tokarczuk: Unrast, S. 99. – »niespokojni, wiecznie głodni nowych przygód«, Tokarczuk: Bieguni, S. 95.
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den.«61 Nicht immer allerdings reisen Tokarczuks Unstete so sicher, wie Bauman uns glauben macht. So verliert zum Beispiel ein Mann namens Kunicki auf der Reise seine Frau und sein Kind und beide tauchen nicht wieder auf (in den Skizzen Kunicki. Wasser I [Kunicki. Woda I] und Kunicki. Wasser II [Kunicki. Woda II]). Ähnlich ruhelos, rastlos und kurios ist die Ästhetik des Textes, dem die lineare Bewegung fehlt, stattdessen besteht er aus einer losen Sammlung von Fragmenten oder Skizzen, die wie Andenken von einer Reise mitgebracht werden: »Es war eine Geschichte für die Reise, zum Lesen im Zug, etwas, was ich für mich selbst schreiben würde. Ein Buch wie ein Häppchen, das man ganz herunterschluckt, ohne abzubeißen. Ich konnte mich entsprechend konzentrieren, für eine gewisse Zeit wurde ich zu einem ungeheuerlichen Ohr, das auf Geräusche, Echos und Geflüster lauschte, auf ferne Stimmen, die hinter einer Wand erklangen. Doch nie wurde ich eine richtige Schriftstellerin […]. Das Leben entwischte mir immer wieder. Ich stieß nur auf seine Spuren […].«62
Die (ost-)mitteleuropäische Gegenwartsliteratur, so das Fazit, ist eine Literatur in Bewegung zwischen den Sprachen und den Räumen, ebenso wie ihre Figuren, die Nomaden sind (Bator), Wanderer, die den Raum mit ihrem Körper erschließen (Stasiuk) oder Reisende, Touristen, immer auf der Suche nach neuen Sensationen (Tokarczuk). Dabei werden ihre Bewegungen in der Ästhetik des Textes abgebildet, im delirierenden Narrativ, das immer neue Volten schlägt, oder in Fragmenten, die sich einer linearen Abfolge verweigern. Damit schreiben sie gegen das an, was Tokarczuk »Inselzustand« nennt, einen Zustand, der sich retrospektiv auf die (Ein)Schließung der Bürger im realsozialistischen Polen, aber auch in der Sow-
61 Bauman: Flaneure, Spieler und Touristen, S. 156. 62 Tokarczuk: Unrast, S. 20. – »Było to opowieść do podróży, do czytania w pociągu, taka, jakbym ją pisała sama dla siebie. Książka – tartinka, do połknięcia od razu, bez gryzienia. Potrafiłam się odpowiednio skupić i skoncentrować, stawałam się na jakiś czas monstrualnym uchem do słuchania szmerów, ech i szelestów, dalekich głosów dochodzących zza jakiejś ściany. Lecz nigdy nie stałam się prawdziwą pisarką. […] Mnie życie zawsze się wymykało. Natrafiałam tyłko na jego ślady […].« Tokarczuk: Bieguni, S. 17f.
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jetunion und in anderen Ländern des Ostblocks beziehen lässt: »Der Inselzustand ist ein Zustand des von keinerlei äußeren Einflüssen erschütterten Verharrens innerhalb der eigenen Grenzen, er erinnert auf gewisse Weise an Narzissmus und Autismus. Alle Bedürfnisse werden innerhalb der eigenen Sphäre erfüllt.«63 Die polnische, aber auch die russische oder ukrainische Literatur des 21. Jahrhunderts wendet sich gegen den Inselzustand, indem sie ihre Heldinnen und Helden auf eine Reise durch die Welt schickt und sich zugleich selbst in das internationale literarische Feld begibt, wodurch sie Teil des Weltliteratur-Systems (Beecroft) wird.
63 Tokarczuk: Unrast, S. 114. – »Stan wyspy to stan nie zaburzonego żadnym wpływem z zewnątrz pozostawania we własnych granicach; przypomina on swego rodzaju autyzm i narcyzm. Wszelkie potrzeby zaspokajane są we własnym zakresie.« Tokarczuk: Bieguni, S. 110. Im polnischen Original heißt das Unterkapitel »Psychologia wyspy«, ebd.
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Gegenwärtigkeit – Geschichtlichkeit – Weltläufigkeit Verhandlungen des Exils in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur S USANNE K OMFORT -H EIN
Am Beispiel jener deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, die Flucht, Exil und Migration verhandelt, schlagen die nachfolgenden Überlegungen eine differenzierte, kontextbezogene Reflexion auf Konzepte von neuer Weltliteratur vor, die mit einer exemplarischen Lektüre von Abbas Khiders Roman Der falsche Inder (2008) veranschaulicht und vertieft wird. Der Roman wurde 2010 mit dem Chamisso-Förderpreis ausgezeichnet.
1. »Viele Kulturen – eine Sprache«: Das ist der programmatische Slogan des Adelbert-von-Chamisso-Preises der Robert Bosch Stiftung. Mit diesem Literaturpreis ehrte die Stiftung von 1985 bis 2017, wie es bis vor Kurzem auf der offiziellen Website hieß, »herausragende auf Deutsch schreibende Autoren, deren Werk von einem Kulturwechsel geprägt ist. Die Preisträger verbindet zudem ein außergewöhnlicher, die deutsche Literatur bereichern-
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der Umgang mit Sprache.«1 Programmatisch sollte der Chamisso-Preis einer sich verändernden gesellschaftlichen Realität Rechnung tragen, zu deren Erscheinungsbild eine »stetig wachsende Autorengruppe mit Migrationsgeschichte« gehöre: »Für die Literatur dieser Autoren ist der Sprachund Kulturwechsel zwar thematisch oder stilistisch prägend, sie ist jedoch zu einem selbstverständlichen und unverzichtbaren Bestandteil deutscher Gegenwartsliteratur geworden.« Diese Institution verortet sich damit in einem gesellschaftlichen Prozess, der Deutschland bis heute immer stärker als Einwanderungsland geprägt hat. Indem der Preis die Literatur jener Autoren mit Migrationsgeschichte als einen »selbstverständlichen und unverzichtbaren Bestandteil deutscher Gegenwartsliteratur« auszeichnete, negierte und bestätigte er zugleich eine Dichotomie zwischen fremd und eigen, zwischen Rand und Zentrum deutschsprachiger Gegenwartsliteratur. Jene Literatur bleibt, wie man es dreht und wendet, ein Sonderfall, ist sowohl einer Nischenexistenz zugeordnet als auch mit dem Etikett eines erfolgreichen Marktsegments im Literaturbetrieb versehen. Als eben dieser Sonderfall provoziert sie die Frage nach gegenwärtigen Kanonisierungspolitiken der deutschsprachigen Literatur und nach den Grenzen eines nationalliterarischen Diskurses. Die Robert Bosch Stiftung entschied sich nun letztmalig 2017 für die Vergabe des Chamisso-Preises (u.a. an Abbas Khider), mit dem Argument, dass »kulturelle Vielfalt […] in weiten Teilen zur Normalität« geworden sei und die eigene Preisvergabe damit die »gesetzten gesellschaftlichen Ziele«2 erreicht habe. Kritik artikulieren u.a. ehemalige Preisträger: »Die mehr als eine Million Geflüchteten, die nach Deutschland eingewandert sind, werden eine eigene Literatur erzeugen.« Sie bedürfe der Förderung in einem »Prozess, der aus Traumatisierung Zeugnis werden lässt«.3
1
Adelbert-von-Chamisso-Preis der Robert Bosch Stiftung, online unter: http://
2
Uta-Micaela Dürig: »›Im Fokus wird die Förderung kultureller Teilhabe durch
www.bosch-stiftung.de/content/language1/html/14169.asp (Stand: 19.01.2019). Literaturvermittlung stehen‹. Rückblick und Ausblick«, in: Chamisso-Magazin 16 (2017), S. 51-52, hier S. 51. 3
Ilija Trojanow/José F. A. Oliver: »Ade, Chamisso-Preis?«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 21.09.2016, online unter: http://www.faz.net/aktuell/ feuilleton/debatten/kritik-an-bosch-stiftung-ade-chamisso-preis-14443175.html (Stand: 19.01.2019).
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In einem Interview der Zeitschrift Literaturen (2005) mit vier »eben nicht deutsche[n] Autoren […] im Sinne von Goethe oder Thomas Mann« – beteiligt waren die Chamisso-Preisträgerin Terézia Mora, Navid Kermani, Imran Ayata und Wladimir Kaminer – ging es u.a. um jene Frage der Zugehörigkeit zur deutschen Literatur. Die aus Ungarn stammende Autorin Mora merkte an: »Ich bin genauso deutsch wie Kafka.« 4 Dieser Satz enthält eine Identifikation sowie eine Zurückweisung von einiger kulturpolitischer Aktualität: Im Nachlass Max Brods, der sich 1939 nach Palästina ins Exil rettete, befanden sich noch wertvolle Manuskripte Franz Kafkas, die gleichsam als umstrittenes kulturelles Kapital zum nationalen Verhandlungsgegenstand vor einem Gericht in Tel Aviv wurden, zwischen dem Deutschen Literaturarchiv Marbach und der Nationalbibliothek Israels in Jerusalem: Wem gehört Kafka? Kafkas jüdische Herkunft spielte die zentrale Rolle in dem Jahre (2009-2012) dauernden kulturpolitischen Streit um den legitimen Anspruch auf sein Erbe, der 2012 juristisch für die israelische Nationalbibliothek entschieden wurde. Der Hinweis auf das Kafka erwartende Schicksal des Holocaust, wäre er nicht schon 1924 an Tuberkulose gestorben, war ein gewichtiges Argument in der Debatte, Israel als legitimen Erben seines handschriftlichen Nachlasses zu sehen, ein anderes u.a. bezog sich auf seine Hinwendung zum Zionismus. 5 Judith Butler sieht in dem rhetorischen Kampf um Kafkas nationalkulturelle Zugehörigkeit auf beiden Seiten eine jeweils problematische Vereinnahmung: So ignoriere Israel die Tatsache, dass mehr als 20 Prozent der israelischen Bevölkerung nicht jüdisch seien, abgesehen von einer notwendigen Unterscheidung von Juden und Zionisten.6 Nicht eingeschlossen werde jene beträchtliche Zahl der verstreut in alle Welt außerhalb Israels lebenden Juden, in einem Status
4
Terézia Mora et al.: »›Ich bin ein Teil der deutschen Literatur, so deutsch wie Kafka‹. Literaturen-Gespräch mit Terézia Mora, Imran Ayata, Wladimir Kaminer und Navid Kermani«, in: Literaturen 4 (2005), S. 26-31, hier S. 26 u. 28.
5
Vgl. dazu das Gespräch zwischen Lothar Müller und Andreas Kilcher: »Wem gehört Kafka?«, in: Süddeutsche Zeitung vom 26.09.2010, online unter: http: //www.sueddeutsche.de/kultur/nachlass-von-franz-kafka-wem-gehoert-kafka1.1004762 (Stand: 19.01.2019).
6
Vgl. Judith Butler: »Who owns Kafka?«, in: London Review of Books 33/5 (2011), S. 3-8, online unter: http://www.lrb.co.uk/v33/n05/judith-butler/whoowns-kafka (Stand: 19.01.2019).
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der Diaspora, der damit als zu überwindendes Exil, als notwendige ›Heimkehr‹ nach Israel markiert werde. Das Argument der deutschen Seite, der Prager Jude Kafka gehöre zur deutschen Literatur und vor allem zur deutschen Sprache, tilge als Nationalismus auf sprachlicher Ebene jene Multilingualität, die für Kafkas Bildung und sein Schreiben, für seine Poetik der Nicht-Ankunft, gerade so bedeutsam gewesen sei, ohne dass er souverän über eine allererste Sprache, weder das Tschechische noch das Deutsche oder Jiddische, verfügt habe. Und doch – darauf verweist auch Butler – wurde gerade Kafkas Deutsch vielfach als so makelloses, puristisches Deutsch gerühmt. Der Kulturkampf um den Fall Kafka mag exemplarisch den problematischen Versuch illustrieren, eine Literatur als nationales Eigentum zu reklamieren, die sich gerade nicht in nationalkulturellen Grenzen einhegen lässt, sich vielmehr in der vielfachen Überschreitung jener Grenzen erst konstituiert und bewegt. Der Fall Kafka vermag ebenfalls einen Anlass bieten, danach zu fragen, was deutschsprachige Gegenwartsliteratur ist, in einer Welt forcierter Globalisierung, allgegenwärtiger Migrations- und Fluchterfahrungen und deterritorialisierter Netzwerke, in der sich auch für die Kulturproduktionen die einfache Dichotomie von fremd und eigen als obsolet erweist.7 Schaut man zunächst auf ein grobes Raster einer Literatur im Zeichen der Globalisierung, geraten folgende Aspekte in den Blick: Produktion, Distribution und Rezeption von (Gegenwarts-)Literatur vollziehen sich mehr denn je im Sog der Globalisierungsprozesse »vor einem Welthorizont«.8 Eine transnational operierende Buchindustrie, globale Vermarktungswege und die allgegenwärtige Verfügbarkeit des Mediums Internet dynamisieren literarische Austauschprozesse und Zirkulationen, die sich auf die Literatur selbst niederschlagen, sie bis in die Sprache(n), Themen, Gattungen und Textverfahren hinein prägen. So lässt sich auch
7
Vgl. Robert Stockhammer: »und: Globalisierung, sprachig – Literatur (Gegenwart?, deutsch?)«, in: Wilhelm Amann/Georg Mein/Rolf Parr (Hg.), Globalisierung und Gegenwartsliteratur. Konstellationen – Konzepte – Perspektiven, Heidelberg: Synchron 2010, S. 333-352, hier u.a. S. 350.
8
Christian Moser: »Globalisierung und Komparatistik«, in: Rüdiger Zymner/Achim Hölter (Hg.), Handbuch Komparatistik. Theorien, Arbeitsfelder, Wissenspraxis, Stuttgart/Weimar: Metzler 2013, S. 161-164, hier S. 162.
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von einer literaturimmanenten Dimension der Globalisierung sprechen.9 Literarische Texte sind sowohl Produkte als auch Medien des kulturellen Transfers. Sie können explizit, etwa in kritischer Auseinandersetzung, und implizit auf die Prozesse der Globalisierung reagieren, und sei es via Übersetzung in andere Sprachen, um so in den Kreislauf globaler Rezeption zu geraten.10 Die »weltliterarische Dimension«11 von literarischen Texten kann sich auf ganz Unterschiedliches beziehen und bedarf der Reflexion auf die jeweilige Beobachtungsperspektive und deren Implikationen, auf das Spannungsfeld zwischen kulturellen Wechselbeziehungen und Eigenlogiken, zwischen Globalem und Lokalem, auf Ungleichzeitigkeiten des Gleichzeitigen. Gegenwartsliterarische Phänomene »jenseits des Konzepts Nationalliteratur«12 auf den Begriff zu bringen, erscheint so gesehen als eine theoretische Herausforderung, die – je nach Beobachtungsstandort und Gegenstand – unterschiedliche und spezifische Facetten konturiert. Für die nachfolgenden Überlegungen sind diesbezüglich zwei Fokussierungen des Gegenstandes entscheidend: Die Konstellation von a) deutschsprachiger Literatur und b) Migration bzw. Exil. Unweigerlich sind der in deutscher Sprache verfassten Literatur von Autorinnen und Autoren, die eine Migrationsgeschichte bzw. ein Kulturwechsel aufgrund von Flucht und Exil eint, mehr als die Konstellationen
9
Vgl. John Pizer: »Goethe’s ›World Literature‹ Paradigm and Contemporary Cultural Globalization«, in: Comparative Literature 52/3 (2000), S. 213-227, hier S. 213: »[I]ndividual works are increasingly informed and constituted by social, political and even linguistic trends that are not limited to a single nation or region.«
10 Vgl. kritisch dazu Emily Apters programmatische Studie: Against World Literature. On the Politics of Untranslatability, London/New York: Verso 2013. Sie fordert gegen die Tendenzen einer sprachlichen Homogenisierung im weltliterarischen Feld Aufmerksamkeit auf Phänomene der Unvergleichbarkeit und Unübersetzbarkeit. 11 Moser: »Globalisierung und Komparatistik«, S. 163. 12 So heißt es im Titel von Sigrid Weigels Beitrag: »Diesseits und jenseits des Konzepts Nationalliteratur«, in: Eva Neuland/Konrad Ehlich/Werner Roggausch (Hg.), Perspektiven der Germanistik in Europa. Tagungsbeiträge, München: Iudicium 2005, S. 11-23.
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einer aktuellen Globalisierungsgeschichte und weltpolitischen Lage hier und jetzt eingeschrieben, und das zunächst vollkommen unabhängig von ihren Gegenständen, Formen und Verfahrensweisen. Allein schon ihre Sichtbarkeit in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur verleiht diesen Texten hier und heute eine historische Dimension, die nicht zuletzt an die Literatur erinnert, die im Zusammenhang mit dem massenhaften Exodus aus Nazideutschland entstanden ist. Mit dieser Erinnerung müssen sie es nicht einmal explizit aufnehmen. Dennoch ist das nicht selten der Fall in Texten, die gegenwärtige Migrations-, Flucht- und Exilerfahrungen literarisch verhandeln. So ist in Zafer Şenocaks Roman Gefährliche Verwandtschaft (1998) die Migrationsgeschichte des Protagonisten in Deutschland nicht vom Schicksal seiner jüdischen Großmutter abzulösen, für die einst die Türkei zum rettenden Exil vor dem Nationalsozialismus wurde. Herta Müllers Texte etwa setzen sich mit einer exilischen Kondition auseinander, die als radikale Heimatlosigkeit in der totalitären Zurichtung noch des Intimsten erscheint. In diesen Verletzungen verschränken sich die Spuren eines Jahrhunderts totalitärer Regime (u.a. Nicolae Ceaușescus in Rumänien) auf mehrfache Weise und geben somit auch das vom Nationalsozialismus erzwungene Exil als unlöschbare Signatur einer Geschichte nachfolgender Exile zu lesen. In Texten der aktuellen deutsch-jüdischen Literatur (Barbara Honigmann, Vladimir Vertlib und Doron Rabinovici) begegnen wir Figuren des Transits und hybriden Identitäten einer globalisierten Welt, in der die Erinnerungen an Exil und Holocaust nachdrückliche Präsenz behaupten, bisweilen so, dass Chronologie und Topografie des Erzählten erschüttert werden (z.B. bei Vertlib). Auch Khiders Erzählungen von Flucht und Entortung stellen offensiv zur Schau, dass sie ohne ein die nationalkulturellen Grenzen überschreitendes literarisches Gedächtnis so nicht erzählbar wären, und entwerfen ebenfalls interexilische Konfigurationen und Räume.13 Das wird am Beispiel des autofiktionalen Romans Der falsche Inder eingehender zu zeigen sein. Diese genannten Beispiele sind korrespondierender Teil einer mit Beginn des 21. Jahrhunderts auffälligen Erinnerungskultur des historischen Exils in der deutschsprachigen Gegenwartslite-
13 Zum Thema etwa Exilograph 23 (2015): Interexilische Korrespondenzen. Exilliteratur(en) und Intertextualität, online unter: https://www.exilforschung.unihamburg.de/forschung/publikationen/exilograph/pdf/exilograph23.pdf 19.01.2019).
(Stand:
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ratur.14 Sie generiert ein transnationales und zugleich transhistorisches Archiv eines literarisch verhandelten Exils, das eine grundsätzliche Problematisierung von ›Heimat‹ und nationaler bzw. kultureller Identität birgt.
2. Der bis in die gegenwärtigen Debatten um Literatur und Globalisierung wirkmächtige Rekurs auf Johann Wolfgang von Goethes Begriff der Weltliteratur ist einigermaßen erstaunlich angesichts der Tatsache, dass jene epochale Zäsur, die Goethe als eine der Ablösung von Nationalliteratur im Blick hatte, sich doch entscheidend der elementaren Bezugsgröße der Nation verdankt.15 In den Neuformierungen des Konzepts der literatur- und kulturtheoretischen Debatten seit Mitte der 1990er Jahre ist hingegen der Gedanke einer Einheit von Territorium, Sprache und Kultur problematisiert, sind Vielfalt und Differenz zu leitenden Begriffen geworden. Das ideologische Konstrukt der Nationalliteratur erweist sich vor diesem Hintergrund einmal mehr als Effekt von »Synchronisation und ›Grenzverwal-
14 Exemplarisch seien genannt: Michael Lentz: Pazifik Exil (2007); Ursula Krechel: Shanghai fern von wo (2008); Klaus Modick: Sunset (2011); Volker Weidermann: Ostende 1936. Sommer einer Freundschaft (2014). Beziehen sich diese Texte auf das Exil der NS-Zeit, so erweitert Hans Joachim Schädlichs Roman Kokoschkins Reise (2010) seinen historischen Resonanzraum: Durch die Gegenwartserzählung eines fast hundertjährigen Exilrussen im Schatten von 9/11 bricht die Erinnerung eines ganzen europäischen Jahrhunderts der vielfachen Verfolgung und der Flucht, das im Russland der Oktoberrevolution seinen Anfang nimmt. 15 Dazu u.a. Anne Bohnenkamp: »Rezeption der Rezeption. Goethes Entwurf einer Weltliteratur im Kontext seiner Zeitschrift ›Ueber Kunst und Altertum‹«, in: Bernhard Beutler/Anke Bosse (Hg.), Spuren, Signaturen, Spiegelungen. Zur Goethe-Rezeption in Europa, Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2000, S. 187-207; Michael Böhler: »›National-Literatur will jetzt nicht viel sagen; die Epoche der Welt-Literatur ist an der Zeit, und jeder muss jetzt dazu wirken, diese Epoche zu beschleunigen.‹ Überlegungen zu den kulturtopographischen Raumstrukturen in der Gegenwartsliteratur«, in: Zeitschrift für deutschsprachige Kultur und Literaturen 11 (2002), S. 178-216.
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tung‹«.16 Der inzwischen fast zur beliebig strapazierbaren »Worthülse«17 verbrauchte Begriff der Weltliteratur erscheint heute in einer konkurrierenden Deutungsvielfalt weniger als ein vorauszusetzendes Objekt, denn eher als Formel für ein Problem bzw. die methodische Herausforderung, eine globale Verbindung der Literaturen zu konturieren.18 Das betrifft vor allem auch ein zentrales Paradigma der neueren Weltliteratur-Debatten, das den Begriff auf besondere Weise mit »Literaturen ohne festen Wohnsitz«19 assoziiert und zunehmend ein Modell entwirft, mit dem die »transnationale und plurikulturelle Ästhetik von Exil und Migration«20 erfasst wird. Displacement, die Verortung des Eigenen im Fremden, wird zum kritisch kulturreflexiven Ausgangspunkt eines im postkolonialen Kontext entworfenen Konzepts von Weltliteratur, etwa in der Form, in der es Homi K. Bhabha vorschlägt.21 In den Grenzlagen der globalen Migrationen, der
16 Jürgen Fohrmann: »Grenzpolitik. Über den Ort des Nationalen in der Literatur, den Ort der Literatur im Nationalen«, in: Corina Caduff/Reto Sorg (Hg.), Nationale Literaturen heute – ein Fantom? Die Imagination und Tradition des Schweizerischen als Problem, Zürich: Verlag Neue Zürcher Zeitung 2004, S. 23-34, hier S. 30. 17 Kerst Walstra: »Eine Worthülse der Literaturdebatte? Kritische Anmerkungen zum Begriff Weltliteratur«, in: Manfred Schmeling (Hg.), Weltliteratur heute. Konzepte und Perspektiven, Würzburg: Königshausen & Neumann 1995, S. 179-208, hier S. 182. 18 Vgl. dazu einschlägig etwa Franco Moretti: »Conjectures on World Literature«, in: New Left Review 1 (2000), S. 54-68, bes. S. 55, Herv. im Orig.: »That’s the point: world literature is not an object, it’s a problem, and a problem that asks for a new critical method: and no one has ever found a method by just reading more texts.« 19 Vgl. etwa Ottmar Ette: ZwischenWeltenSchreiben. Literaturen ohne festen Wohnsitz, Berlin: Kadmos 2005. 20 Myriam Geiser: »Migration und ›Neue Weltliteratur‹? Vergleichende Studie zur Rezeption postnationaler Gegenwartsliteraturen in Deutschland und Frankreich«, in: Christine Meyer (Hg.), Kosmopolitische ›Germanophonie‹. Postnationale Perspektiven in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, Würzburg: Königshausen & Neumann 2012, S. 173-186, hier S. 175. 21 Homi K. Bhabha: The Location of Culture, London/New York: Routledge 1994, S. 12: »The study of world literature might be the study of the way in which cul-
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Kolonisation und des Exils begründet sich demzufolge diese Weltliteratur, die weniger als Produkt, weniger literarhistorisch fixierbar denn prozessual zu denken ist. Als transnationales »Medium des Aushandelns kultureller Widersprüche und Antagonismen«22 schreibt sie sich von den Brüchen und Ausgrenzungen homogenisierender nationalkultureller Diskurse her, und ihr wird potenziell das Vermögen zugetraut, Verfahren zu generieren, Widersprüche auszuhalten und auszustellen sowie Prozesse kultureller Grenzziehung und Bedeutungsstiftung als solche vorzuführen. Diese kulturreflexive Konzeption von Weltliteratur stützt sich auf die Beobachtung, dass transnationale Migrationserfahrungen zur Transformation und Revision nationalkultureller Identitätsentwürfe und lokaler Kulturen beitragen. Ihre Legitimation bezieht die paradigmatisch mit Migration und Exil assoziierte Weltliteratur nicht zuletzt aus dem Befund, dass im Zeichen weltweiter Migrationen und Massenflucht das Exil zu einer Kondition wird, die immer mehr Menschen betrifft und immer weniger als temporäres Moment erfahrbar ist. Das impliziert ein Verständnis des Exils, demzufolge es nicht (mehr) unbedingt auf ein primäres Konzept nationaler Heimat bezogen ist, ein nationales Narrativ vielmehr unterläuft. In seinen nicht zuletzt autobiografisch fundierten Reflections on Exile beschreibt Edward W. Said die westliche Moderne als Epoche der Massenmigration und Flüchtlinge.23
tures recognize themselves through their projections of ›otherness‹. […] The centre of such a study would neither be the ›sovereignty‹ of national cultures, nor the universalism of human culture, but a focus on […] freak social and cultural displacements.« 22 Doris Bachmann-Medick: »Multikultur oder kulturelle Differenzen? Neue Konzepte von Weltliteratur und Übersetzung in postkolonialer Perspektive«, in: dies. (Hg.), Kultur als Text. Die anthropologische Wende in der Literaturwissenschaft, 2., aktual. Aufl., Tübingen/Basel: Francke 2004, S. 262-296, hier S. 279. Vgl. dazu u.a. auch Azade Seyhan: Writing Outside the Nation, Princeton: Princeton University Press 2001, hier bes.: »Introduction: Neither Here/Nor There: The Culture of Exile«, S. 3-21; Frank Schulze-Engler: »Transnationale Kultur als Herausforderung für die Literaturwissenschaft«, in: Zeitschrift für Anglistik und Amerikanistik 50/1 (2002), S. 65-79. 23 Edward W. Said: »Reflections on Exile«, in: ders., Reflections on Exile and Other Literary and Cultural Essays, London: Granta Books 2001, S. 173-186, hier u.a. S. 173.
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Dem lässt sich Giorgio Agambens Bemerkung zur Seite stellen, dass der Flüchtling ein »Grenz-Begriff« sei, »der die Prinzipien des Nationalstaats radikal in Frage stellt.«24 Der Exilant steht dieser Vorstellung zufolge eben nicht für nationalstaatliche Repräsentanz in der Fremde. Nach Hannah Arendt, auf die sich Agamben bezieht, ist gerade diesbezüglich die Geschichte jüdischer Exilerfahrung im 20. Jahrhundert, der Ausgrenzung und Verfolgung vorausging, als nicht mehr separate zu begreifen, sondern als »verknüpft mit der Geschichte aller anderen Nationen.«25 Für aktuelle Konzeptualisierungen des Exils scheint die Auseinandersetzung mit jüdischen Exilerfahrungen unumgänglich. Die Exemplarität des jüdischen Exils für die Beschreibung gegenwärtiger kultureller Konstellationen ist wiederholt genannt worden, und sei es als ein – so Stephan Braese – »spezifische[s] Nahverhältnis zu jenen Existenzbedingungen […], die heute als postkoloniale Disposition umrissen werden.«26 Wenn es im Schatten der nationalsozialistischen Verbrechen nach 1945 nahelag, die jüdische Exiltradition diasporischer Existenz als Alternative zu »jeglicher nationalistischen Identitätspolitik, ja zu jeder Fixierung einer kollektiven, aber auch individuellen Identität« zu erklären, so Vivian Liska kritisch, dann dürfe jedoch auch nicht vergessen werden, dass die vermeintlich positive »exemplarische Exterritorialität« des jüdischen Exils immer an die Geschichte jüdischen Leidens als ein Leiden »am Exil« gebunden bleibe.27 Diese paradoxe Exemplarität jüdischer Exilerfahrung, die z.B. Rabinovici in seinem Roman An-
24 Giorgio Agamben: »Jenseits der Menschenrechte. Einschluss und Ausschluss im Nationalstaat«, übers. von Thomas Atzert, in: Jungle World 28 (2001), online unter: https://jungle.world/artikel/2001/27/jenseits-der-menschenrechte (Stand: 19.01.2019). 25 Hannah Arendt: »Wir Flüchtlinge«, in: dies., Zur Zeit. Politische Essays, hg. von Marie Luise Knott, übers. von Eike Geisel, Berlin: Rotbuch 1986, S. 7-21, hier S. 21. 26 Stephan Braese: »Exil und Postkolonialismus«, in: Exilforschung 27 (2009), S. 1-19, hier S. 14; vgl. auch Stefana Sabin: Die Welt als Exil, Göttingen: Wallstein 2008, S. 13. 27 Vivian Liska: »Exil und Exemplarität. Jüdische Wurzellosigkeit als Denkfigur«, in: Doerte Bischoff/Susanne Komfort-Hein (Hg.), Literatur und Exil. Neue Perspektiven, Berlin/Boston: De Gruyter 2013, S. 239-255, hier S. 242.
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dernorts (2010) reflektiert,28 gilt es zu beachten, um die gewaltsame nationalstaatliche Grenzverwaltung einer europäischen, insbesondere deutschen Geschichte nicht aus dem Blick zu verlieren.29 Hinsichtlich dieser Konstellationen ist der Exilbegriff auch für die deutsche Literaturwissenschaft anschließbar geworden an aktuelle Forschungen zu Transkulturalität, Transnationalität und Diaspora.30 Obgleich Deutschland inzwischen längst zum Einwanderungsland geworden ist, lassen sich postkoloniale kulturtheoretische Ansätze aufgrund des spezifisch historisch-politischen Kontextes nicht einfach bruchlos übertragen.31 Ein aus postkolonialer Theorie gespeistes Konzept von Weltliteratur ist hier nicht nur nicht abzulösen vom Zivilisationsbruch durch den Holocaust, sondern – und das steht in unmittelbarem
28 Doron Rabinovici: Andernorts, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2010. Jüdische Tradition wie auch migratorische Existenz in der globalisierten Welt sind dort nicht (mehr) abgelöst vom Zivilisationsbruch zu denken. 29 Vgl. auch Daniel Levy und Natan Sznaider zur Formierung eines kollektiven, aus den »jeweiligen nationalen Containern« herausgetretenen Erinnerungsdiskurses des Holocaust, der den »fanatische[n] Versuch des ethnonationalen Deutschlands [darstellte], die transnationalen jüdischen Kulturen und Gesellschaften im Herzen Europas auszumerzen«: Erinnerung im globalen Zeitalter: Der Holocaust, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001, S. 25 u. 18. 30 Vgl. u.a. Helmut Koopmann/Klaus Dieter Post (Hg.): Exil: transhistorische und transnationale Perspektiven, Paderborn: Mentis 2001; Alexander Stephan (Hg.): Exile and Otherness. New Approaches to the Experience of the Nazi Refugees, Oxford u.a.: Lang 2005; Paul Allatson/Jo McCormack (Hg.): Exile Cultures, Misplaced Identities, Amsterdam/New York: Rodopi 2008; Eckart Goebel/Sigrid Weigel (Hg.): »Escape to Life«. German Intellectuals in New York: A Compendium on Exile after 1933, Berlin/Boston: De Gruyter 2012; Doerte Bischoff/Susanne Komfort-Hein: »Vom ›anderen Deutschland‹ zur Transnationalität. Diskurse des Nationalen in Exilliteratur und Exilforschung«, in: Exilforschung 30 (2012), S. 242-273; dies.: Literatur und Exil (2013); außerdem die neueren Bände des Jahrbuchs Exilforschung: Exilforschung 25 (2007): Übersetzung als transkultureller Prozess; Exilforschung 27 (2009): Exil, Entwurzelung, Hybridität; Exilforschung 32 (2014): Sprache(n) im Exil. 31 Vgl. dazu auch Weigels kritische Anmerkungen: »Diesseits und jenseits des Konzepts Nationalliteratur«, hier insbes. S. 13.
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Zusammenhang – hat mit einem besonders wirkmächtigen nationalen Narrativ in Verhandlung zu treten.
3. Im Brennpunkt seines eigenen Exils knüpft bereits 1952 der vor dem Nationalsozialismus nach Istanbul geflüchtete Romanist Erich Auerbach an Goethes Begriff der Weltliteratur an, indem er der dort eingeschriebenen eurozentrischen Perspektive den fundamentalen Zivilisationsbruch abliest. Im Zeichen von Vertreibung, Flucht, Exil und Genozid hat für ihn der Diskurs einer humanistisch-europäischen Kultur seine gründliche Delegitimierung erfahren. Auerbachs Philologie der Weltliteratur fordert für eine philologische Zukunft: »Jedenfalls aber ist unsere philologische Heimat die Erde; die Nation kann es nicht mehr sein.«32 Diese kosmopolitische Vision verdankt sich nicht nur der erfahrenen totalitären nationalstaatlichen Gewalt, sondern ebenso der kritischen Reflexion auf einen möglichen Prozess der Globalisierung, der standardisierend und universalisierend Vielfältigkeit überlagert und einebnet. Insofern ist für Auerbach auch der Begriff Weltliteratur von einer »prekäre[n] Ambivalenz«33 gezeichnet: Mit der Tilgung von Differenzen und Vielfalt »wäre der Gedanke der Weltliteratur zugleich verwirklicht und zerstört.«34 Damit kommt der Begriff bei ihm hinsichtlich einer ganz konkreten historisch-kulturellen Perspektive ins Spiel. Nicht zuletzt ist das auch vor dem Hintergrund eines lange wirksamen nationalen Narrativs in der germanistischen Literaturwissenschaft zu betrachten: Exilliteratur ist vorwiegend als historischer Gegenstand und als nationalliterarischer Epochenbegriff mit den Eckdaten 1933-45 wahrgenommen worden, bis dann auch Phänomene der Remigration bzw. Akkulturationsprozesse in den Vordergrund rück-
32 Erich Auerbach: »Philologie der Weltliteratur«, in: ders., Philologie der Weltliteratur. Sechs Versuche über Stil und Wirklichkeitswahrnehmung, Frankfurt a.M.: Fischer 1992, S. 83-96, hier S. 96. 33 Weigel: »Diesseits und jenseits des Konzepts Nationalliteratur«, S. 15. 34 Auerbach: »Philologie der Weltliteratur«, S. 84.
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ten.35 Zunächst wurde aber das Mythem eines ›anderen Deutschlands‹, einer auch von großen Teilen der Exilanten zwischen 1933 und 1945 selbst imaginierten nationalkulturellen Repräsentanz im Exil, zum programmatischen Impuls, die in alle Welt versprengten Zeugnisse der vor dem Nationalsozialismus geflohenen Künstler und Intellektuellen vor dem Vergessen zu retten, für eine Reintegration in den Kanon deutschsprachiger Literatur zu sammeln und die Exilanten zu eigentlichen, legitimen Bewahrern einer durch die NS-Diktatur ›geschändeten deutschen‹ Kultur zu erklären. Diese in West- wie Ostdeutschland hochideologisch aufgeladene Erbediskussion prägte auch den nationalen Gründungsmythos der DDR: die gleichsam historisch-politische Ankunft des im Exil imaginierten antifaschistischen, ›anderen Deutschlands‹ auf ostdeutschem Boden.36 Abgesehen von der Tatsache, dass sich für viele Exilanten die Frage der Rückkehr als eine, wenn nicht unmögliche, so doch zumindest schwierige herausstellte, ist der Versuch einer Reintegration in den nationalliterarischen Kanon insofern problematisch, als Brüche und Diskontinuitäten, die gerade literarische Dokumente des Exils in besonderer Weise vorführen, marginalisiert werden und darüber hinaus Phänomene wie etwa Sprachwechsel und Mehrsprachigkeit allein schon die Zuordnung fragwürdig werden lassen. Auch abgesehen von dem grundsätzlichen Problem, literarische Phänomene durch Referenz auf politische Zäsuren ›einzuhegen‹, Exilliteratur an eine historische Erfahrung oder an das (auto-)biografische Zeugnis
35 Vgl. Wulf Köpke: »Gibt es eine Rückkehr aus dem Exil?«, in: John M. Spalek et al. (Hg.), Deutschsprachige Exilliteratur seit 1933, Bd. 3/3, Bern/München: Francke 2002, S. 334-363; Sabina Becker/Robert Krause (Hg.): Exil ohne Rückkehr. Literatur als Medium der Akkulturation nach 1933, München: text + kritik 2010. 36 Vgl. Bischoff/Komfort-Hein: »Vom ›anderen Deutschland‹ zur Transnationalität«; Thomas Koebner: »Das ›andere Deutschland‹. Zur Nationalcharakteristik im Exil«, in: ders., Unbehauste. Zur deutschen Literatur in der Weimarer Republik, im Exil und in der Nachkriegszeit, München: text + kritik 1992, S. 197-219; Lutz Winckler: »Mythen der Exilforschung«, in: Exilforschung 13 (1995), S. 68-81; Carsten Jakobi: »Das ›andere Deutschland‹ – alternativer Patriotismus in der deutschen Exilliteratur und im Nationaldiskurs des 18. Jahrhunderts«, in: ders. (Hg.), Exterritorialität. Landlosigkeit in der deutschsprachigen Literatur, München: Meidenbauer 2006, S. 155-178.
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des Autors zu binden und ihre Spezifik, etwa im Hinblick auf ästhetische Verfahrensweisen, in den Hintergrund treten zu lassen, bleibt die längerfristige Wirkmacht von Exilerfahrungen unberücksichtigt.37 Dieses Nachleben ereignet sich – als Vergegenwärtigung, Transformation und Reflexion des historischen Exils in gegenwärtigen Exilerfahrungen – eben vor allem in einem transkulturellen Erinnerungsdiskurs; an ihm partizipieren ebenso jene deutschsprachigen Autoren und Texte, die sich zwischen den Kulturen verorten, »genauso deutsch wie Kafka« sind. Die jetzt folgende exemplarische Lektüre von Khiders Roman sucht die weltliterarische Dimension in der Konstellation von Literatur und Exil nicht (nur) in Bezug auf den Gegenstand und den Anlass, vielmehr gilt es auch auf ein Verfahren zu schauen, mit dem der Text seine Form der ›Weltläufigkeit‹ inszeniert.
4. Khider erhielt nicht nur den Chamisso-Förderpreis. Mit dem Arbeitsstipendium der Villa Aurora, dem Hilde-Domin-Preis und dem Nelly-Sachs-Preis wurden ihm gleich drei weitere Auszeichnungen zugesprochen, in Erinnerung an Autorinnen und Autoren, die ab 1933 vor dem Nationalsozialismus aus Deutschland fliehen mussten – eine Geste der symbolpolitischen Verortung Khiders in einer Ahnenreihe deutschsprachiger Exilliteratur. Die Entscheidung, den Roman Der falsche Inder auf Deutsch zu schreiben, habe ihm, so Khider, »manches erleichtert: ›Wenn ich auf Arabisch schreibe, handelt alles von Leid. Das Deutsche hält mich auf Distanz.‹«38
37 Das hat z.B. auch die Traumaforschung in den Blick genommen. Vgl. Marianne Hirsch: The Generation of Postmemory. Writing and Visual Culture After the Holocaust, New York: Columbia University Press 2012; Werner Bohleber: »Transgenerationelles Trauma, Identifizierung und Geschichtsbewußtsein«, in: Jörn Rüsen (Hg.), Die dunkle Spur der Vergangenheit. Psychoanalytische Zugänge zum Geschichtsbewußtsein, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998, S. 256-274. 38 Hubert Spiegel: »›Wenn ich auf Arabisch schreibe, handelt alles vom Leid. Das Deutsche hält mich auf Distanz.‹ Abbas Khider wird für seinen Debütroman ausgezeichnet«, in: Chamisso-Magazin (2010), S. 10-13, hier S. 13. In einer Ausgabe der Sendung Druckfrisch (ARD, 27.02.2011) äußerte sich Khider im Gespräch mit Denis Scheck nochmals dazu: So habe er angesichts seiner schei-
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Die traumatische Erfahrung der Flucht kommt gleichsam in einer doppelten Übersetzung zu Wort: in der fremden Sprache des Deutschen und der Kunst literarischen Erzählens. Darin scheint das gleichermaßen unauflösbare wie produktive Spannungsverhältnis zwischen Flucht und Exil als konkreter Erfahrung und »ästhetische[m] Projekt«39 auf. Es geht um mehr, als Zeugnis von dieser entortenden Gewalterfahrung zu geben oder gegen ihr Vergessen anzuerzählen. Der Entscheidung für die auf Distanz haltende Sprache des Deutschen ist der schmerzhafte Verlust der Muttersprache zugunsten der auch sprachlich vollzogenen Flucht in das fremde Wort eingetragen; sie weist dem Erzählen eine Qualität zu, die man Anästhesie nennen könnte. Diese steht im Zeichen eines ästhetischen Überschusses, der Suche nach einem sinngebenden Narrativ einer literarisch erzeugten Welt, in der die lebensweltlichen Brüche und Risse gleichermaßen überbrückt und ›geheilt‹ wie auch ausgestellt werden.40 Khiders Erzählen in der fremden Sprache eignet insofern auch ein kulturkritisches Reflexionspotenzial, als der Exilierte so unweigerlich zum kulturellen Übersetzer wird.41 Nicht die Muttersprache vermag Zeugnis zu geben, sondern die andere, fremde Sprache, da die eigene mit gewaltsamer Ausgrenzung und Verfolgung assoziiert ist.42 Distanz, Anästhesie und Gedächtnislosigkeit der fremden Sprache begründen die Autorschaft und ermöglichen ein Erzählen, in dem »die Erinnerung alles erfinden mußte, ohne
ternden Versuche, den Roman in seiner Muttersprache zu schreiben, festgestellt, »dass das Literarische nicht im Text war, sondern nur das Leiden.« 39 Elisabeth Bronfen: »Die Kunst des Exils«, in: Bischoff/Komfort-Hein, Literatur und Exil (2013), S. 391-395, hier S. 381. 40 Bronfen spricht im Hinblick darauf, im Rekurs auf Freud, von »Schutzdichtung«. Vgl. ebd., S. 384. 41 Stuart Hall bezeichnete im Rahmen der Postcolonial Studies den transkulturellen Migranten als einen unwiderruflichen Übersetzer: »Die Frage der kulturellen Identität«, in: ders., Rassismus und kulturelle Identität, hg. und übers. von Ulrich Mehlem et al., Hamburg: Argument 1994, S. 180-222, hier S. 218. 42 Jacques Derrida hat darauf aufmerksam gemacht, dass eben auch die erste Sprache, also die sogenannte Muttersprache, nicht als Eigentum und einzige behauptet werden könne, weil sie von Beginn an mit anderen geteilt werden müsse: Die Einsprachigkeit des Anderen oder die ursprüngliche Prothese, übers. von Michael Wetzel, München: Fink 2003.
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es erlebt zu haben«, wie es Georges-Arthur Goldschmidt einmal in Bezug auf seinen eigenen Sprachwechsel nannte.43 In beiden Fällen ist die sprachliche Übersetzung als eine Reaktion auf die existenzielle zu betrachten und die literarische Produktivität eng an den Sprachwechsel gebunden. Damit sind jene Potenziale aufgerufen, die z.B. auch Ilija Trojanow und zuvor bereits Vilém Flusser – auf den ersten Blick irritierend – als Verbindung von »Exil und Kreativität«44 und als »Explosion in die Pluralität«45 bezeichnen. Die Negativität des Exils wird hier insofern entmythologisiert, als es nicht (mehr nur) mit Weltlosigkeit, nicht mit nationalkulturellen Verwurzelungsund Ursprungserzählungen assoziiert ist, die dem Exilanten die Position einer Repräsentanz von nationaler ›Heimat‹ zuschreiben. Vielmehr vermag gerade deren verborgene Gewalt und Brüchigkeit zutage treten, angesichts des Vermögens von »Sprache und Kommunikation zur Überschreitung politisch gesetzter Grenzen, zur Intertextualität und Übertragung, zur Vielstimmigkeit und Dynamik von Bedeutung.«46 Die ästhetische Verhandlung von Exilerfahrung kann so gesehen über den Spielraum einer literarisch
43 Georges-Arthur Goldschmidt: Ein Garten in Deutschland, übers. von Eugen Helmlé, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991, S. 184. Das Zitat stammt aus dem Nachwort der deutschen Übersetzung seiner ursprünglich auf Französisch verfassten autobiografischen Erzählung Un jardin en Allemagne. Goldschmidt, der in den 1930er Jahren wegen seiner Herkunft aus einer assimilierten jüdischen Familie als Kind ins französische Exil flüchten musste (und später französischer Staatsbürger wurde), begründet seine literarische Autorschaft explizit auf diesem Bruch der Zweisprachigkeit. Vgl. dazu Stefan Willer: »Selbstübersetzungen. Georges-Arthur Goldschmidts Anderssprachigkeit«, in: Susan Arndt/Dirk Naguschewski/Robert Stockhammer (Hg.), Exophonie. Anders-Sprachigkeit (in) der Literatur, Berlin: Kadmos 2007, S. 264-281, hier bes. S. 265. 44 Vilém Flusser: »Exil und Kreativität«, in: ders., Von der Freiheit des Migranten. Einsprüche gegen den Nationalismus, zgst. von Stefan Bollmann, Hamburg: Europäische Verlagsanstalt 2007, S. 103-109. 45 Ilija Trojanow: »Exil als Heimat. Die literarischen Früchte der Entwurzelung«, in: Peter Burschel (Hg.), Intellektuelle im Exil, Göttingen: Wallstein 2011, S. 918, hier S. 13. 46 Doerte Bischoff/Susanne Komfort-Hein: »Literatur und Exil. Neue Perspektiven auf eine (historische und aktuelle) Konstellation«, in: dies., Literatur und Exil (2013), S. 1-19, hier S. 4.
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entworfenen ›Weltläufigkeit‹ verfügen, in dem sich nationalkulturelle wie historische Verortungen auflösen bzw. miteinander verschränken und das je einzelne Zeugnis in transkulturelle und transhistorische Konstellationen rücken. Im Fokus dieser ›Weltläufigkeit‹ sind Exil und Migration verbunden. Auf besondere Weise veranschaulicht Khiders Roman das Exil als eine nicht endende Passage ohne Herkunft aus einem ursprünglichen Verwurzeltsein – und bekräftigt gleichsam literarisch, was Iain Chambers einmal kulturtheoretisch anmerkte: »Wenn der Begriff Exil ein ursprüngliches Zuhause und das letztendliche Versprechen einer Heimkehr voraussetzt, so sprengen die Fragen, denen man sich en route zu stellen hat, ständig die Grenzen eines solchen Plans.«47 Khiders Falscher Inder erzählt von der Jahre dauernden verzweifelten Flucht aus dem Irak ab Ende der 1990er Jahre durch mehrere arabische und afrikanische Länder, durch Europa nach Deutschland: »Ich wechselte die Städte Asiens, Afrikas und Europas wie andere Leute ihre Hemden und versuchte, in jedem neuen Land und jeder neuen Stadt neue Wurzeln zu schlagen.«48 Das Exil wird mit der Bewegung des fortwährenden Entzugs, der permanenten Relativierung von Identitätssetzungen verknüpft; ein Wunsch nach Rückkehr in eine verlorene Heimat bleibt in der Konfrontation mit stets neuen Fremdheiten im wahrsten Sinne des Wortes auf der Strecke. Strukturell ähnlich, nur aus der Perspektive eines jüdischen Exilschicksals erzählt es beispielsweise auch der 1999 erstmals erschienene, deutschsprachige autobiografische Roman Vertlibs, Zwischenstationen. Indem beide Texte die Gegenwart historisch deuten, vergegenwärtigen sie zugleich das Historische. Zwischenstationen handelt von der Odyssee einer russisch-jüdischen Familie, die 1971 auf der Flucht vor einem politischen und alltäglichen Antisemitismus von Leningrad mehrfach nach Israel führt, durch verschiedene europäische Länder und in die USA. Die ursprünglich geplante Ausreise aus der ehemaligen Sowjetunion nach Israel, die ersehnte Übersetzung einer gescheiterten »sozialistischen Utopie« der Familie in eine »zionisti-
47 Iain Chambers: Migration, Kultur, Identität, übers. von Gudrun Schmidt und Jürgen Freudl, Tübingen: Stauffenburg 1996, S. 3. 48 Abbas Khider: Der falsche Inder, München: btb 2013, S. 133. Die Verweise auf den Roman erfolgen im weiteren Verlauf im Text in Klammern.
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sche«49 wird zu einem unendlichen Unterwegssein in der Diaspora. Sogar Israel bestätigt für die russischen Immigranten, als die sie dort in erster Linie wahrgenommen werden, die multiplizierte Erfahrung ihrer Migration, immer am ›falschen Ort‹, immer als unzugehörig identifiziert zu sein: »Die bessere Welt war immer anderswo gewesen, in einem fernen Land des Glücks.«50 So lässt der Roman den Erzähler aus der Perspektive des Kindes die idealistische Hoffnung des Vaters auf eine Überwindung des Exils kommentieren. Darüber hinaus öffnet Vertlibs Exilgeschichte den transhistorischen Resonanzraum eines ganzen totalitären 20. Jahrhunderts, in dem sich u.a. der Stalinterror, die ethnonationale Vernichtungspolitik des Nationalsozialismus und die tiefe Erschütterung des Glaubens an die sozialistische Utopie durch die erfahrenen antisemitischen Repressionen in der ehemaligen Sowjetunion in unheimlicher Nachbarschaft begegnen. 51 Damit bietet der Roman die Archäologie eines Exils, dem keine Vertreibung aus einer ursprünglichen Ganzheit und Geborgenheit vorausliegt, dem vielmehr schon immer Fremdheit und Bruch vorausgehen. Gegenwärtigkeit und Retrospektive verschränken sich so miteinander, dass der Einzelfall sich zugleich zu einem exemplarischen verdichtet. Das gilt auch für den Falschen Inder. Wenn Khiders Roman vom seriellen Länderwechsel seines arabischen Protagonisten spricht und dabei den Vergleich mit dem alltäglichen Hemdenwechsel bemüht, scheint fast unbemerkt ein intertextueller Verweis auf Bertolt Brechts Gedicht An die Nachgeborenen aus seinem Svendborger Exil-Zyklus auf, in dem der Länderwechsel mit dem Wechsel der Schuhe assoziiert ist. 52 Für einen Augenblick wird, mit dem Wissen um die Anspielung auf dieses Exilgedicht
49 Vladimir Vertlib: Spiegel im fremden Wort. Die Erfindung des Lebens als Literatur, Dresden: Thelem 2008, S. 13. 50 Ders.: Zwischenstationen, München: dtv 2010, S. 264. 51 Vgl. dazu Susanne Komfort-Hein: »Verdichtungen: Exil und Migration im Resonanzraum eines totalitären Jahrhunderts. Vertlibs Zwischenstationen und Schädlichs Kokoschkins Reise«, in: Bischoff/Komfort-Hein, Literatur und Exil (2013), S. 357-380, hier S. 361. 52 Bertolt Brecht: »An die Nachgeborenen«, in: ders., Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Bd. 12, hg. von Werner Hecht et al., Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1988, S. 85-87, hier S. 87: »Gingen wir doch, öfter als die Schuhe die Länder wechselnd«.
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Brechts, der arabische Flüchtling zum literarisch ›Nachgeborenen‹ jenes vom Nationalsozialismus vertriebenen Flüchtlings und legt es nahe, sein Exil auf der historischen Folie zu lesen. Die Erzählung vom fortgesetzten Transit des in den Westen flüchtenden Irakers kündigt sich – auch in ihrem Verfahren – als eine ziemlich komplexe dialogische Vervielfältigung und Zerstreuung von Herkunft und Identität an. Die ursprüngliche Herkunft des Protagonisten, des falschen Inders, entpuppt sich als unlösbares Rätsel:53 »[I]ch sehe so anders aus, dass man an meiner irakischen Herkunft zweifelte. […] Die Araber nannten mich den ›irakischen Inder‹, die Europäer nur ›Inder‹« (S. 15, 22). Wird ihm das vermeintlich indische Aussehen unter dem irakischen Regime insofern zum Stigma, als dessen totalitäre Propaganda die gegen das Regime Saddam Husseins revoltierenden Schiiten als Nachkommen indischer Einwanderer identifiziert, so gefährdet es zugleich auch dessen Asylberechtigung in Deutschland: Nur Iraker erhalten sie »wegen der Diktatur in ihrer Heimat« (S. 21), Inder indes nicht. Und sein indisches Aussehen könnte ihm wiederum, so spekuliert der Erzähler, im Schatten von 9/11 unter den in Europa lebenden Arabern zur rettenden Camouflage werden, um den Identifikationen als potenzieller arabischer Terrorist zu entgehen. Die Information des Vaters, seine Mutter sei eine »Zigeunerin« (S. 15), lässt ihn eine identitätsstiftende Selbstbegründung suchen: Sollte sich die Herkunft der »Zigeuner« aus Indien wissenschaftlich bestätigen, dann »könnte ich mich selbst als indisch-irakischen Zigeuner aus der Taufe heben.« (S 17) Damit aber noch nicht genug: Die rätselhafte eigene Herkunft wird auch als »Produkt der Vereinigung zweier englischer Kolonien« (S. 23) imaginiert, da die im Südirak lebende Großmutter einst auf indische Soldaten der britischen »Besatzungsmacht« getroffen sein könnte. Immer am ›falschen‹ Ort zu sein, die ethnische und kulturelle Fixierungen unterlaufende Unzugehörigkeit des Protagonisten, wird zum produktiven Prinzip des Textes und begründet auch eine Autorschaft jenseits natio-
53 Auch die Spannung zwischen autobiografischer Referenz und Performanz der exilischen Lebensgeschichte wird über eine hochkomplexe Erzählstruktur ausgetragen, die in eine nicht endende Schleife der Verweisungen führt – ein erzählend erzähltes Subjekt, dem der »Zugang zu sich« über die »Rückkehr zu sich« verwehrt bleibt. Serge Doubrovsky: »Nah am Text«, übers. von Claudia Gronemann, in: Kultur & Gespenster 7 (2008), S. 123-133, hier S. 126.
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nalkultureller Zuschreibungen. Schon die Erzählstruktur verunsichert eine Identifikation des homodiegetischen Erzählers und seines Protagonisten mittels einer Verdoppelung der Fiktionsebenen, in der sich eine Rahmenund Binnengeschichte metaleptisch miteinander verschränken. Ein namenloser Ich-Erzähler befindet sich auf einer Fahrt im ICE von Berlin nach München und entdeckt auf dem Nebensitz in seinem Abteil ein Manuskript, das »in schnörkeliger Handschrift auf Arabisch« (S. 9) die ›Erinnerungen‹ eines gewissen Rasul Hamid birgt. Sie werden als Binnengeschichte erzählt, aber in deutscher Sprache. Der namenlose Erzähler besetzt somit innerhalb der Fiktion die Doppelrolle eines ersten Lesers und Übersetzers dieses offenbar herrenlosen, alleinreisenden Textes. Die beiden diegetischen Ebenen werden am Ende auf paradoxe Weise ineinander geblendet, wenn der Erzähler diese Geschichte als die eigene erkennt, »geschrieben von einem Fremden namens Rasul Hamid.« (S. 153) Und doch: »Es bleibt meine Geschichte und nur meine. […] Immer wieder habe ich versucht, eine Form zu finden, bei der man jederzeit und überall mit dem Lesen anfangen kann. Jedes Kapitel ein Anfang und zugleich ein Ende. Jedes eine eigene Einheit und doch unverzichtbarer Teil eines Ganzen.« (S. 154) Über diese poetologische Reflexion öffnet sich der Blick auf das Eigene, das (immer schon) von Prozessualität, Vervielfältigung und Differenz gezeichnet ist, nicht für ein homogenes, mit sich identisches Ganzes stehen kann. Der Protagonist und seine Geschichte sind buchstäblich einer ›Weltläufigkeit‹ ausgesetzt, die sich nicht zuletzt auch als Zerstreuung eines jeden (national-)kulturellen Repräsentationsanspruchs zeigt. Seine ganze Welt ist die, die sich bei jeder Lektüre an einem neuen Ort, mit jedem Kapitel neu und anders zeigt. Im Namen Rasul Hamids wird entsprechend gleich acht Mal auf verschiedene Weise vom Leben eben jenes Rasul Hamid auf der Flucht erzählt, von den Ereignissen zwischen der frühen Kindheit in Bagdad und der Ankunft in Deutschland. Zum einen erinnert das nachdrücklich daran, dass die Fiktion die autobiografische Realität immer erst herstellt; zum anderen stößt uns der Text darauf, dass für dieses exilierte Ich keine Rückkehr an einen vermeintlichen Ort ursprünglicher Geborgenheit und Einheit möglich ist, eben auch nicht narrativ. Damit ist auf jene Beschädigungen verwiesen, die Adorno einmal »ohne alle Ausnahme« dem wurzellosen Exilanten in den Minima Moralia attestierte und sie als Ausgangspunkt eines jeden Nachdenkens über Identität und Geschichte reklamierte: »Enteignet ist sei-
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ne Sprache und abgegraben die geschichtliche Dimension, aus der seine Erkenntnis die Kräfte zog.«54 Khiders Falscher Inder stellt die Beschädigungen des exilierten Ich gleich in einer Kette von Verweisungen aus. Die Fiktion des im Zug aufgefundenen autobiografischen Manuskripts, das Rasul Hamid zum Alter Ego des namenlosen Ich-Erzählers macht, verdoppelt sich in einer Episode darin noch einmal: So stößt der Verfasser des Manuskripts nämlich im Asylantenheim Bayreuth auf ein anonym in die Zimmerwand geritztes Gedicht, das er als jenes Gedicht wiedererkennt, das er selbst einst verfasst hat. In der Zwischenzeit haben seine Worte offenbar ein exilisches Eigenleben entwickelt, nationalkulturelle Grenzen überschritten und selbst eine Migrationsgeschichte, unabhängig von ihrem Autor, zu verzeichnen. Nun bezeugt das Gedicht auf jener Wand im bayerischen Asylantenheim eben auch das Exil eines namenlosen anderen, welcher Herkunft auch immer, der sich dieses Gedicht angeeignet und es buchstäblich übertragen hat. Sein Titel – Chronik der verlorenen Zeit – gewinnt über die sich andeutende verzweigte transnationale Rezeptionsgeschichte eine Vielstimmigkeit. Der Ich-Erzähler Rasul Hamid beschließt, diesen Titel für die Publikation seines ersten Gedichtbandes zu wählen. Und genau so heißt wiederum ein auf Arabisch veröffentlichter Gedichtband (2002) Khiders. Über jene metaleptischen Verschränkungen stellt sich nun der auf Deutsch verfasste Roman Der falsche Inder auf der Folie der vermeintlich in arabischer Sprache geschriebenen Erinnerungen des intradiegetischen Erzählers Rasul Hamid letztlich als Übersetzung aus dem Arabischen aus. Die mehrfache Überblendung – jener Rasul Hamid der Binnengeschichte trägt die Züge des namenlosen Ich-Erzählers der Rahmengeschichte wie auch Khiders – irritiert mit der verwirrenden Beziehung der textinternen Fiktionsebenen auch die Annahme eines dem autobiografischen Diskurs vorgängigen Lebens seines Verfassers: »Wenn ich schreibe, sehe ich alles wie beim ersten Mal.« (S. 25) Die komplexe Vervielfachung der autobiografischen Erinnerung verschiebt das entwurzelte Leben in eine nicht endende, autofiktionale Schreibbewegung poetischer Selbstschöpfungsakte. Dazu gehören ebenso das Auffinden und die Aneignung vorgängiger Texte. So löst sich die Fluchterzählung von einem einzigen Verfasser und der Sin-
54 Theodor W. Adorno: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1951, S. 32.
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gularität eines Exilschicksals; sie irritiert mithin auch einen für literarische Zeugnisse des Exils oft gerne vollzogenen Kurzschluss in der Annahme biografischer Authentizität.55 Die Pluralität des Ich bewegt sich in Khiders Roman darüber hinaus, wie schon angedeutet wurde, in einem Resonanzraum intertextueller Verweise, vor allem auf kanonische deutschsprachige Autoren (neben Brecht sind es Gottfried Benn, Heinrich Heine und Rainer Maria Rilke), durchaus auch in Form markierter Zitate. Diese erfahren eine transformierende Aktualisierung jenseits des nationalliterarischen Kanons und dienen zugleich der dialogisierenden Verortung des eigenen exilierten Schreibens. So leitet etwa die im Namen Rasul Hamids auf Arabisch verfassten Erinnerungen der Binnengeschichte als Motto ein Zitat der letzten beiden Zeilen aus Gottfried Benns Gedicht Nur zwei Dinge aus dem Jahr 1953 ein: »Es gibt nur zwei Dinge: die Leere / und das gezeichnete Ich« (S. 11). Das hier mit seinem existenziellen, auf zwei Dinge reduzierten Fazit aufgerufene artistische Gedicht Benns dynamisiert zugleich die Deutungsperspektiven in Khiders Roman und wird seinerseits einer transkulturellen wie transhistorischen Rekontextualisierung ausgesetzt. So vollzieht der Falsche Inder, wovon er spricht – »jederzeit und überall mit dem Lesen anfangen« (S. 154) – eine spezifische Form literarischer ›Weltläufigkeit‹, die in ihren Lektüren die Texte selbst mit einem gleichsam transitären Nachleben ausstattet. Das Gedicht Benns hat man u.a. als dessen poetisches wie poetologisches Testament gelesen,56 den letzten Zeilen eine »Mischung aus Resignation und Selbstbehauptung«57 entnommen und das angezeigte Vermögen der Kunst, dem Nichts, der Leere des Daseins, etwas Unvergängliches ab-
55 Dazu Sandra Narloch/Sonja Dickow: »Das Exil in der Gegenwartsliteratur«, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 42 (2014), S. 15-21, hier S. 21. 56 Vgl. etwa Helmut Kiesel: »Reim als Botschaft: Gottfried Benns Gedicht ›Nur zwei Dinge‹«, in: Marcel Reich-Ranicki (Hg.), Frankfurter Anthologie: Gedichte und Interpretationen, Bd. 17, Frankfurt a.M./Leipzig: Insel 1994, S. 146-148, hier S. 148; Friederike Reents: »Nur zwei Dinge. Zur Doppelsichtigkeit des modernen lyrischen Ichs«, in: dies. (Hg.), Gottfried Benns Modernität, Göttingen: Wallstein 2007, S. 75-88, hier S. 77. 57 Achim Geisenhanslüke: »Energie der Zeichen. Zur Tradition artistischer Lyrik bei Gottfried Benn, Paul Celan, Thomas Kling und Marcel Beyer«, in: literatur für leser 25/1 (2002), S. 2-16, hier S. 13.
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zuringen. Die Kunst erscheint mit einem radikalen Autonomieanspruch versehen als letzte metaphysische Tätigkeit, als schöpferische Transzendenz gegen eine sinnlos gewordene Geschichte und gegen den »allgemeinen Nihilismus der Werte«.58 Die Unvergänglichkeit der Kunst und »das gezeichnete Ich« – in vieldeutiger Weise59 schon bei Benn als ein versehrtes, verwundetes, aber auch ausgezeichnetes und schöpferisch entworfenes Ich, der Leere in Form des Sprachkunstwerks abgerungen – treten auf besondere Weise in den textinternen Dialog mit dem um literarische Bergung des versehrten Lebens ringenden Manuskript des arabischen Exilanten. Der Verweis auf dieses Zeugnis moderner deutschsprachiger Nachkriegslyrik ist zunächst als nachdrückliche Geste der Transformation von Leben in Kunst lesbar, eines exilierten Textlebens, das sich selbst – lesend – in die deutschsprachige Literatur hineinschreibt und zugleich eine transnationale Autorschaft für sich reklamiert. Aber es ist hier noch etwas komplizierter: Unter dem Motto steht Benns Name als ausdrücklicher Hinweis auf dessen Autorschaft; für den dialogischen Bezug auf das nachfolgend erinnerte Leben des Exilierten in Khiders Roman ist das nicht unerheblich. Der Begriff der Leere gewinnt dort eine existenzielle Konkretisierung, die das erzwungene Exil als schmerzhafte Erkenntnis der Unmöglichkeit von Heimkehr zeichnet: »Ich musste nur überleben und damit genug. Der Eintritt ins Exil war eine lange Straße in der Leere […]. Die Sehnsucht nach der Heimat wird im Laufe der Zeit schwächer. Je tiefer man im gegenwärtigen Leben in die Leere des Exils eindringt, desto mehr verblasst die geschönte Vergangenheit. Die Leere aber ist das Einzige, was einem als ewiger Begleiter bleibt.« (S. 73)
Was an dieser Stelle mit dem Benn-Zitat zur Disposition steht, ist das Verhältnis zwischen Exil als einer leidvollen Lebenserfahrung und Exil als einer ästhetisch formulierten Entortung. Nimmt man kontroverse Aspekte in der Rezeptionsgeschichte des Benn-Gedichts hinzu, erweitern sich die
58 Gottfried Benn: »Probleme der Lyrik«, in: ders., Gesammelte Werke in der Fassung der Erstdrucke, textkrit. durchges. und hg. von Bruno Hillebrand, Bd. 3, Frankfurt a.M.: Fischer 1989, S. 505-535, hier S. 510. 59 Dazu die Interpretation von Jürgen Schröder: Gottfried Benn: Nur zwei Dinge. Destillierte Geschichte, Stuttgart: Reclam 2003.
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eben genannten intertextuellen Perspektiven des Zitats und markieren einen Bruch. Das betrifft etwa Deutungen, die das Gedicht als Phänomen einer Strategie der »Derealisation« der Vergangenheit nach 1945 lesen, in Bezug auf Benns vorübergehende Identifikation mit dem Nationalsozialismus und einen entsprechend verschwiegenen Grund des Gedichts in seiner »radikale[n] Absage an Gesellschaft und Geschichte«60. Und darüber hinaus betrifft es ganz grundsätzlich Perspektiven einer in der Literatur der europäischen Moderne strapazierten Metaphorisierung des Exils.61 So wird die Unterscheidung zwischen »ästhetisch formulierter Heimatlosigkeit«62 und den durch politische Gewalt erzeugten Abgründen unmittelbar existenzieller Bedrohung und Traumatisierung zumindest schwierig. Exil als historisch reale und einzigartige traumatische Erfahrung verleiht dem ExilDiskurs eine besondere Autorität,63 der weder allein textästhetisch und thematisch inhaltlich noch aber in der Konzentration auf das BiografischReferenzielle Genüge getan wird. Exil als Leidensrealität und Exil als Metapher sind mit Blick auf das Verhältnis von Literatur und Exil insofern wiederum nicht voneinander zu lösen, als das sinnstiftende Narrativ, das Exilerfahrung literarisch kommunizierbar macht, nicht selten auf kulturell überlieferte Diskurse von Heimatlosigkeit zurückgreift.64 Der Roman Khiders nimmt es noch mit einer anderen Erinnerung auf, die nachdrücklich die diasporische Verfasstheit des hier erzählten autobiografischen Lebens ausstellt. Das geschieht über zitierte Verse aus Heinrich Heines Ballade vom babylonischen König Belsatzar (aus dem Buch der Lieder):65 »Möglicherweise meines babylonischen Blutes wegen, begann
60 So z.B. ebd., S. 5. 61 Vgl. Doerte Bischoff: »Avantgarde und Exil. Else Lasker-Schülers Hebräerland«, in: Exilforschung 16 (1998), S. 105-126, hier S. 108. Das Spannungsfeld »zwischen Metapher und Realität« hat Elisabeth Bronfen bereits 1993 in einem einflussreichen Beitrag zur literaturwissenschaftlichen Exilforschung problematisiert: »Exil in der Literatur: Zwischen Metapher und Realität«, in: arcadia 28/2 (1993), S. 167-183. 62 Bischoff: »Avantgarde und Exil«, S. 109. 63 Vgl. Bronfen: »Exil in der Literatur«, S. 172. 64 Vgl. dies.: »Die Kunst des Exils«, hier z.B. S. 381f. 65 Heines Text ist offenbar durch die Lektüre einer Übersetzung von Byrons Vision of Belshazzar inspiriert und von ihm selbst als frühester Text eigener literari-
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ich früh, an die verschiedensten Wände zu schmieren. […] Damals kannte ich noch nicht die Verse von Heinrich Heine: ›Und schrieb und schrieb an weißer Wand, Buchstaben von Feuer und schrieb und schwand.‹ Und trotzdem schrieb und schwand ich« (S. 59). Das Zitat vom Erscheinen des Menetekels an der Wand begründet gewissermaßen auf dem transkulturellen literarischen Umweg die Autorschaft des arabischen Exilanten, der – so die Pointe – in dieser Hinsicht eben nicht schwindet, sondern gerade dadurch erst sichtbar wird.66 Und damit ließe sich auch der Blick auf einen weiteren, kulturelle Grenzen überschreitenden Resonanzraum inszenierter Nachfolge Heines öffnen, der so etwas wie eine transhistorische Gemeinschaft jener Textzeugnisse generiert, die sich auf den Exilanten Heine im Schatten des vom Nationalsozialismus erzwungenen Exils berufen. Wird Heine in Exilzeugnissen zwischen 1933 und 1945 einerseits in Frontstellung zu den totalitären Identitätsbehauptungen des Nationalsozialismus als Repräsentant des vermeintlich besseren, ›anderen Deutschlands‹ im Exil rezipiert und für einen alternativen Patriotismus beansprucht, der sich dem Europäischen und dem Weltbürgertum öffnet, so artikuliert sich neben nationalkultureller Repräsentanz im Mythem eines ›anderen Deutschlands‹ bisweilen ebenso der Bruch mit dieser »Vorstellung eines anzueignenden Ganzen«.67 Die symbolpolitisch inszenierten Bücherverbrennungen hatten Heine 1933 dagegen als sogenannten ›jüdischen‹ Autor
scher Autorschaft reklamiert. Vgl. dazu Lydia Fritzlar: Heinrich Heine und die Diaspora. Der Zeitschriftsteller im kulturellen Raum der jüdischen Minderheit, Berlin/Boston: De Gruyter 2013, S. 110. 66 Vgl. auch Annika Jensen/Jutta Müller-Tamm: »Echte Wiener und falsche Inder. Strategien und Effekte autofiktionalen Schreibens in der Gegenwartsliteratur«, in: Martina Wagner-Egelhaaf (Hg.), Auto(r)fiktion. Literarische Verfahren der Selbstkonstruktion, Bielefeld: Aisthesis 2013, S. 315-328, hier S. 327. 67 Bischoff/Komfort-Hein: »Vom ›anderen Deutschland‹ zur Transnationalität«, S. 244; vgl. auch auf S. 245 den Verweis auf Walter A. Berendsohn, der in seiner 1935 in Kopenhagen publizierten Studie über die Rezeption und die Übersetzungen Heines in den skandinavischen Ländern den unauflösbaren »Kulturdualismus« des Diaspora-Judentums als literarische Schaffensquelle Heines, das »große jüdische Erbe in Heines Wesen und Werk« wie ebenso seine »Verwurzelung im deutschen Geistesleben« hervorhebt: Der lebendige Heine im germanischen Norden, Kopenhagen: Schønberg 1935, S. 23, 13 u. 15.
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aus dem Kanon der deutschen Literatur gelöscht. Die mehrfache Verortung des deutsch-jüdischen Autors Heine lässt homogenisierende Vorstellungen nationalkultureller Zugehörigkeit, eines mit sich identischen nationalkulturellen Erbes brüchig werden. Eine erneute aneignende Aktualisierung erfährt dieser ›deutsche‹ literarische Gedächtnisraum des Exils nun mit seinem ›arabischen‹ Leser. Über das Zitat aus Heines Gedicht schließt Der falsche Inder zugleich ein Babylon der Bibel mit der eigenen Gegenwart der politischen Verfolgung im Irak und mit dem eigenen Exil kurz. 68 Mit der Evokation des Mythos vom Turmbau zu Babel, dem Verweis auf Zerstreuung und Verwirrung, auf Vielsprachigkeit und das Verurteiltsein zur Übersetzung beschwört der Erzähler Babel nicht nur als den mythischen Ursprung der Literatur und somit auch als Gründungsort seiner eigenen Autorschaft, sondern zugleich als eigenen mythischen Herkunftsort. Die Versicherung, dass »babylonisches Blut« (S. 58) durch seine Adern fließe, da Babel »die Geburtsstadt meiner Mutter« sei, markiert gleich einen doppelten Geburtsakt: eben auch den Akt literarischer Selbstschöpfung als Selbstverortung zwischen den Sprachen und Kulturen. ›Babel‹ ist insofern der rückwärtsgewandte Fluchtpunkt dieses autofiktionalen Romans und einer kosmopolitischen ›Weltläufigkeit‹, die das Eigene immer schon der Vielfalt und Differenz ausgesetzt erfährt.
68 Vgl. dazu auch Jensen/Müller-Tamm: »Echte Wiener und falsche Inder«, S. 326f.
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Weltliteratur topografiert Der Gotthard exemplarisch B ORIS P REVIŠIĆ
Versuchen wir ›Weltliteratur topografiert‹ als aktives Syntagma zu verstehen, so gehen wir davon aus, dass Weltliteratur physisch ganz konkret ihre Spuren in der Landschaft hinterlässt – sie topografiert: Ihr kulturelles Gedächtnis manifestiert sich zum einen in globalisierten Transitorten und -routen, in den non-lieux (Marc Augé) der Flughäfen und Autobahnraststätten, der Flug-, Schnellbahn- und Autobahnnetze,1 zum anderen im globalisierten und dennoch kanalisierten Erfahrungshorizont des Touristen und des Hadj-Pilgers, des Staats- und Geschäftsmanns. Erst der Flüchtling, der sich außerhalb der globalisiert organisierten Ströme zu bewegen hat, fällt auf, wenn er auf Grenzzäune stößt, zu Fuß weiterziehen muss und sich größten Risiken der ›Illegalität‹ auszusetzen hat. Ein Bruchteil der täglich transportierten Menschenmassen wird zum Problem, weil er sich dem neoliberalen System in seiner fundamentalen Weise als survival of the fittest aussetzt – von den globalisierten Kriegswirren und Umweltzerstörungen bis zum ersehnten Fluchtort des größten ökonomischen Prosperitätspotenzials und angeblichen Ziel eines pursuit of happiness. Weltliteratur aus dieser Perspektive verweist somit auf die faszinierenden Spuren globalisierter Effizienz auf der einen Seite und auf die Fratzen ihres ›Abfalls‹, ihres unnötigen Verschleißes von humanem und ökolo-
1
Marc Augé: Non-lieux. Introduction à une anthropologie de la surmodernité, Paris: Seuil 1992.
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gischem Kapital, auf der anderen. Sie selbst ist ebenso als Produkt des Globalisierungsprozesses zu verstehen. Sie wird topografiert. So verweist bereits Johann Wolfgang von Goethe in seinen verstreuten Bemerkungen zur Literatur auf den quantitativen Aspekt der Weltliteratur, auf die »breite[] Tagesfluth« der neuen Printmedien,2 deren globalisierten Vertrieb neue Transportsysteme der sich anbahnenden Industrialisierung erst ermöglichen. Die technische Errungenschaft geht in Goethes Augen Hand in Hand mit einer Nivellierung, denn »was der Menge zusagt, wird sich gränzenlos ausbreiten und, wie wir jetzt schon sehen, sich in allen Zonen und Gegenden empfehlen«.3 In dieser Dimension kann Goethe der Weltliteratur nicht viel abgewinnen. Er sieht darin einen ephemeren Prozess, den man bald hinter sich haben wird. So müsse man »standhaft […] seine Stellung zu behaupten suchen bis die Strömung vorübergegangen« sei.4 An anderer Stelle fordert er dennoch, sich aktiv am Globalisierungsprozess der Literatur zu beteiligen: »[D]ie Epoche der Weltliteratur ist an der Zeit, und jeder muß jetzt dazu wirken, diese Epoche zu beschleunigen.«5 Doch Goethe begegnet der Weltliteratur nicht nur mit eklektischem Kulturpessimismus, sondern sieht in ihr auch eine Chance, eine fruchtbare Auseinandersetzung mit dem Anderen, der uns dank der neuen technischen Möglichkeiten vermehrt begegnet. Gut 20 Jahre nach den Überlegungen Goethes zur Weltliteratur doppeln Karl Marx und Friedrich Engels in ihrem Manifest der Kommunistischen Partei nach: »Die geistigen Erzeugnisse der einzelnen Nationen werden Gemeingut. […] [A]us den vielen nationalen und lokalen Literaturen bildet sich eine Weltliteratur. Die
2
Johann Wolfgang von Goethe: »Ferneres über Weltliteratur«, in: ders., Goethe’s Werke. Vollständige Ausgabe letzter Hand, Bd. 49, Stuttgart/Tübingen: Cotta 1833, S. 137-143, hier S. 138.
3
Ebd., S. 137.
4
Ebd., S. 138. Vgl. hierzu Thomas Fries: »Weltliteratur aus der Schweiz. JeanJacques Rousseau, Gottfried Keller, Robert Walser«, in: Ursula Amrein/ Wolfram Groddeck/Karl Wagner (Hg.), Tradition als Provokation. Gottfried Keller und Robert Walser, Zürich: Chronos 2012, S. 9-33, hier S. 14.
5
Johann Wolfgang von Goethe: »Gespräch mit Eckermann, 31. Januar 1827«, in: ders., Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bdn., hg. von Erich Trunz, Bd. 12, 12., durchges. Aufl., München: Beck 1994, S. 362.
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Bourgeoisie reißt durch die rasche Verbesserung aller Produktionsinstrumente, durch die unendlich erleichterte Kommunikation alle, auch die barbarischsten Nationen in die Zivilisation.«6
Doch selbst in der Lesart von Marx und Engels ist Weltliteratur als Resultat ›nationaler‹ und ›lokaler‹ Literaturen zu verstehen. Weltliteratur topografiert nicht einfach oder wird einfach topografiert, Weltliteratur steht in einem Wechselverhältnis zum Globalen wie zum Lokalen: So sehr die Weltliteratur aus der technischen Revolution neuer Druck- und Verbreitungstechnologien entsteht, so sehr ist sie Ergebnis eines dialektischen (Übersetzungs-)Verhältnisses. Sie ist Mittlerin zwischen einem kosmopolitisch-allgemeinen und einem national-, persönlich-partikularen Ansatz.7 Wenn man von Weltliteratur spricht, so reicht es daher nicht, sich auf das Globale zu beschränken. Vielmehr gilt es, ihre Wirkungsmacht in der spezifischen topografischen Konkretisierung zu überprüfen. Weltliteratur versteht sich zugleich immer als Differenzprodukt zum Nationalen und Lokalen.8 Folgen wir Goethes Argumentation, so ist der
6
Karl Marx/Friedrich Engels: »Manifest der Kommunistischen Partei«, in: dies., Werke, hg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Bd. 4, Berlin: Dietz 1974, S. 459-493, hier S. 466. Vgl. hierzu auch Fries: »Weltliteratur aus der Schweiz«, S. 14.
7
Vgl. dazu Hendrik Birus: »Goethes Idee der Weltliteratur. Eine historische Vergegenwärtigung«, in: Manfred Schmeling (Hg.), Weltliteratur heute. Konzepte und Perspektiven, Würzburg: Königshausen & Neumann 1995, S. 5-28, passim. Doch schon Fritz Strich verweist darauf, dass »Goethe selbst [nirgends] etwa systematisch, eindeutig und mit klaren Worten gesagt« habe, »was er unter Weltliteratur, die er verkündigte, forderte, erhoffte und schon ›anmarschieren‹ sah, verstanden wissen wollte. Ja, er ging geflissentlich einer prägnanten Formulierung und Verdeutlichung aus dem Wege«. Fritz Strich: Goethe und die Weltliteratur, 2. Aufl., Bern: Francke 1946, S. 17. Vgl. dazu auch John Pizer: The Idea of World Literature. History and Pedagogical Practice, Baton Rouge: Louisiana State University Press 2006, passim.
8
»Hierbei läßt sich ferner die Bemerkung machen, daß dasjenige was ich Weltliteratur nenne, dadurch vorzüglich entstehen wird, wenn die Differenzen, die innerhalb der einen Nation obwalten, durch Ansicht und Urteil der übrigen ausge-
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Weltliteratur erst da etwas abzugewinnen, wo sie ihre lokale Verortung zu ihrer Universalisierungstendenz in ein dialektisches Verhältnis setzt. Um das Verhältnis zwischen topografierter und topografierender Weltliteratur genauer in den Blick zu nehmen, würden sich sicherlich auch andere Orte eignen. Nichtsdestotrotz bietet sich der Gotthard in besonderer Weise an, weil sich in ihm die historischen Diskurse von Verortung und Transit, Ursprünglichkeit und technischem Fortschritt exemplarisch verschränken. Beim Gotthard geht es nicht nur um das alpine Zentralmassiv, um das imaginierte europäische Zentrum des Zentrums. Vielmehr bildet sich an ihm ein doppelter Mythos von lokaler Identifikation der ›Urschweiz‹ zum einen und europäischer Transitachse zum anderen aus. Folgt man den Ausführungen Ernst Cassirers zur mythologisch-ideologischen Durchdringung und Überformung des Alltags im nationalsozialistischen Deutschland, so übernimmt der Gotthard im Zuge der geistigen Landesverteidigung der Zwischenkriegszeit in der Schweiz eine ähnliche Funktion, einen »modernen Mythus« zu bilden.9 Im Unterschied zu Deutschland funktioniert aber in der multikulturellen und mehrsprachigen Schweiz »der Mythus der Rassen nicht«.10 Die »Technik des Mythus« erreicht ihre »volle Kraft, wenn der Mensch einer ungewöhnlichen und gefährlichen Situation begegnen muß«.11 Entsprechend manifestiert sich die geistige Landesverteidigung vor dem Zweiten Weltkrieg im »ideologie- und zivilisationsgeschichtlich […] faszinierendsten Ereignis der Schweiz im 20. Jahrhundert«, in der Zürcher Landesausstellung von 1939, in welcher nationale ›Urwüchsigkeit‹ und Technikglauben in solch geschickter Weise miteinander verschränkt werden, dass »keine Dissonanz zwischen Rustikalität und Moderne entstand«. 12 Den eigentlichen Fluchtpunkt einer solchen mythischen Überhöhung und Symbiose bildete der Gotthard.
glichen werden.« Johann Wolfgang von Goethe: »Brief an Boisserée, 12. Oktober 1827«, in: ders., Werke, Bd. 12 (1994), S. 362. 9
Ernst Cassirer: Vom Mythus des Staates, übers. von Franz Stoessl, Hamburg: Meiner 2002, S. 375.
10 Ebd. 11 Ebd., S. 367. 12 Peter von Matt: »Die Schweiz zwischen Ursprung und Fortschritt. Zur Seelengeschichte einer Nation«, in: ders., Das Kalb vor der Gotthardpost. Zur Literatur und Politik der Schweiz, München: Hanser 2012, S. 9-93, hier S. 63.
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So gelingt es der offiziellen Selbstdarstellung der Schweiz immer wieder, die Jahrhundertbauwerke, insbesondere den 1882 eingeweihten Scheiteltunnel und den 2016 eröffneten Basistunnel am Gotthard, als schweizerische Errungenschaft darzustellen – obschon im 19. Jahrhundert Arbeiter aus dem Piemont und der Lombardei und im 21. Jahrhundert vor allem deutsche und österreichische Ingenieure am Werk waren. Umgekehrt verweist das symbolische Zentrum der Schweiz auf das ›Dach Europas‹, den Ausgangspunkt der verschiedenen Kulturen des Kontinents. Der innere schweizerische Widerspruch zwischen europäischem Abkapselungs- und Vermittlungsdispositiv, zwischen mythischer Wiege der Eidgenossenschaft und ökonomischer wie kultureller Transitfunktion findet hier seinen geografischen und diskursiven Beleg. Die Exemplarität des Gotthards ist nicht in ihrer Beliebigkeit, sondern als paradigmatische Funktion zu verstehen, welche in einer kleinen ›Weltliteraturgeschichte‹ zu diesem Ort am besten aufgezeigt werden kann. Setzt sich Weltliteratur immer auch von einer nationalen Literatur ab, so tritt ihr Gegenstand da am deutlichsten hervor, wo sich die Fantasien der beiden Literaturen an derselben Topografie entzünden. Aus diesem Grund schlage ich keine lineare, sondern eine punktuelle, selektive und diskontinuierliche Literaturgeschichte vor, welche ihren Ausgang in der helvetischen Aneignung und Zurichtung der Nation im ausgehenden 19. Jahrhundert nimmt und in der geistigen Landesverteidigung und ihren Nachwehen im Kalten Krieg kulminiert. Dafür markieren Carl Spittelers Eisenbahnführer Der Gotthard (1897) und der Dokumentarroman Wir durchbohren den Gotthard (1947/1949) von Felix Moeschlin die Eckpunkte, welche in der Konstitution eines nationalen Wir ihre Mühe bekunden (1 und 2). Die weltliterarische Überwindung des »modernen Mythus« Gotthard hat sich entsprechend am topografischen Hindernis der Alpen abzuarbeiten, was dem einschlägigsten Gotthardroman Die künstliche Mutter (1982) von Hermann Burger zu entnehmen ist (3). Die weltliterarische Fruchtbarmachung geht in Absetzung von der verkehrstechnisch direkten Verbindung zwischen Norden und Süden den doppelten Weg der literarischen und topografischen Digression und Deviation. Erst die Absenz konkreter topografischer Orientierungspunkte im Berginnern treibt die Literatur zur Imaginationsproduktion und wird damit an topografische und weltliterarische Überlegungen der Kulturvermittlung von Friedrich Hölderlin her anschließbar (4).
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1. Mit Spittelers Reiseführer Der Gotthard wollte die noch private Gotthardbahn ›The World’s Most Picturesque Route‹ hochkarätig in Szene setzen. Der spätere Nobelpreisträger zögert zunächst, ringt sich aber dennoch durch, bekommt er doch zusätzlich zum Honorar eine Freikarte erster Klasse für die Gotthardbahn für über zehn Jahre, bis die Bahn 1909 verstaatlicht wird. Die erste Auflage des exquisiten Reiseführers wird europaweit in Grandhotels und weltweit auf den wichtigsten Ozeandampfern ausgelegt. Das Bauwerk-Weltwunder wird somit weltliterarisch ganz im Sinne Goethes ans Publikum gebracht. Spitteler stellt sich mit seinem Auftragswerk in eine zwar noch junge, aber reichhaltige Tradition von Bahnführern, welche den Gotthard bereits in extenso beschrieben und somit im doppelten Sinne – sinnlich und verkehrstechnisch – ›erfahrbar‹ zu machen versucht haben.13 Darum widmet sich der Autor weniger der Bahnfahrt als solcher denn vielmehr den Naturbeschreibungen entlang der Linie von Luzern bis nach Bellinzona. Der Text zeichnet sich durch eine ironische Distanz aus, die sich im hybriden Modus zwischen Überhöhung und Relativierung ausdrückt. So weist der Autor gleich zu Beginn darauf hin, dass erst das Wissen um die Besonderheit des Gotthards den Gotthard zu dem macht, was er ist, da er sich phänomenologisch von anderen Teilen der Alpen nicht sonderlich abhebe: »Das Vorausempfinden der jenseitigen Landschaft« sei »umso stärker, je mehr Bildung und Kenntnisse einer mitbringt.«14 Deshalb
13 Mit der Eisenbahntunneleröffnung 1882 setzt die Produktion der Eisenbahnführer an, um die technische Revolution in den Erfahrungsbereich der Reisenden zu integrieren. Eines der prominentesten Beispiele ist Jakob Hardmeyer: Sängerfahrt des Männerchor Zürich nach Mailand, Zürich: Orell Füssli 1888. Für weitere Hinweise vgl. Robert Kalt: »Der Verkehr auf der Gotthardbahn gestern – heute – morgen«, in: Anton Eggermann et al. (Hg.), Die Bahn durch den Gotthard, Zürich: Orell Füssli 1981, S. 215-234. Vgl. Daniel Speich Chassé: »Unterwegs mit der Gotthardbahn um 1900. Die Kirche von Wassen und die Inszenierung von Landschaft«, in: Boris Previšić (Hg.), Gotthardfantasien. Eine Blütenlese aus Wissenschaft und Literatur, Baden: Hier und Jetzt 2016, S. 3848, hier S. 39-42. 14 Carl Spitteler: Der Gotthard, Zürich: Europa 2014, S. 9f. Die Ausgabe wird im Folgenden unter Angabe der Seitenzahl in Klammen im Fließtext zitiert.
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unterstreicht Spitteler die kulturelle Symbolik, die den Gotthard auszeichnet: »Er entwickelt die denkbar stärksten Gegensätze. Gibt es doch in dem weiten Reiche des Geistes und der Natur kaum ein Gebiet, das der Gotthard nicht trennte. Sprache, Sitte, Rasse, Politik, Geschichte und Kultur, Pflanzen- und Steinwelt, Klima, Farbe und Licht, alles ist drüben anders als hüben. Hier Norden, dort Süden, hier germanische, dort romanische Rasse; diesseits historisches Neuland, jenseits Durchdüngung mit uralter Kultur und Völkermoder. Je schärfer aber die Gegensätze, je deutlicher und je näher sie nebeneinander treten, umso genussreicher wird ihre Überbrückung mittels des Passes. Darum verspüren wir die gehobene Stimmung, die sich in schwächerem Grade bei jedem Passe einfindet, so unvergleichlich lebhaft auf dem Gotthard. Man weiß sich hier mehr in Europa als überall sonst.« (S. 10f.)
Bezeichnenderweise entfällt in dieser Essenzialisierung des Gotthards auf eine europäische Klimax hin jegliche schweizerische Attribuierung. Zwar spricht Spitteler in der Folge noch vom »letzten Akzent«, den »schließlich das eidgenössische Militärdepartement auf den Gotthard [...] geworfen« habe, »indem es den Pass mit Festungen krönte« (S. 11). Dabei nimmt er Bezug auf das Forte Airolo, das mit anderen Festungsanlagen auf der Passhöhe 1889 in Betrieb genommen wurde, sich aber im Vergleich mit den späteren Militäranlagen, welche der Réduit-Strategie im Zweiten Weltkrieg dienten, noch bescheiden ausnahm. Der Nachsatz, der ein Doppelspiel zwischen inszenierter Bedeutungszuschreibung und ernst gemeintem Identifikationspotenzial betreibt, entbehrt aber nicht einer gewissen Ironie: »Wer dann noch nicht glaubt, dass der Gotthard das Gebirge beherrscht, dem ist nicht zu helfen.« (Ebd.) So wenig dem Gotthard als Naturwunder Bedeutung zukommt, so sehr wird er schließlich zur Glaubenssache erklärt. Erst aus dieser Warte kommt Spitteler auf die nationale Perspektive zu sprechen und vollzieht damit den Wechsel von einer gesamteuropäischen zu einer helvetischen Sicht. So führe die »Gotthardbahn [...] in das Herz der Schweiz« (S. 17). Ebenso versucht er plausibel darzustellen, dass selbst die Südseite der Gotthardbahn, das obere Tessin – historisch besehen – als Urner Untertanenland, zur Urschweiz zu zählen ist. Damit mittet er den Gotthardtunnel in den Gründerkantonen ein. Dennoch markiert Spitteler zum Schweizer Gotthardmythos Distanz und spricht nicht vom ›Schweizer Tell‹, sondern von »Tell und Stauffacher, Rütli und Hohle[r] Gasse, Altdorf
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und Bürglen, Schwyz und Uri« als »interpopuläre[n] Namen von vertrautem Klang« (ebd.). Der direkte Konnex zwischen Gotthard und Rütlischwur, der in den Folgejahren gebildet wird, ist im ausgehenden 19. Jahrhundert noch nicht im kollektiven Nationalbewusstsein der Schweiz verankert. Das nationale Narrativ ist noch nicht festgezurrt. Spitteler hält zwar im zweitletzten Kapitel zur Geschichte des Gotthardpasses fest, dass seine »Anfangsperiode […] mit der Zeit der Gründung der schweizerischen Eidgenossenschaft« zusammenfalle (S. 184), wendet dann aber ein: »Noch ist Widerspruch nicht ausgeschlossen, noch ist eine Reaktion gegen die heutige Anschauung von der staatenbildenden Bedeutung des Gotthardpasses möglich, ja wahrscheinlich. Aber irgendeinen inneren Zusammenhang wird hinfort niemand bestreiten können. Und hierin ist eine Perspektive eröffnet, von welcher die frühere Geschichtsschreibung keine Ahnung hatte, eine Perspektive, welche dem Gotthardpass zu seinen alten Ruhmestiteln plötzlich noch einen neuen verleiht, und zwar vielleicht den wichtigsten von allen.« (S. 185)
Dass erst mit der geistigen Landesverteidigung in den 1930er Jahren eine mögliche Koinzidenz zwischen spätmittelalterlicher Passnutzung und Gründung der Eidgenossenschaft zum Mythos gerinnt, manifestiert sich in der vorsichtigen und dennoch emphatischen Positionierung Spittelers. Hier konkurrieren noch die beiden historiografischen Ursprungserzählungen. Erst die spätere mythische Überformung ermöglicht die Engführung zwischen den Alten Eidgenossen und dem Pass. Obwohl sich Spitteler zum Zusammenhalt der Schweiz immer wieder Gedanken macht, argumentiert er selbst in seinem Gotthardbahnreiseführer intertextuell. Für ihn ist der Gotthard weniger Nationalsymbol, sondern in erster Linie eine ästhetische Errungenschaft des Ausgleichs zwischen Landschaft und Seele, zwischen Norden und Süden (womit er sich auf Goethes Gotthardbeschreibungen [wir werden noch darauf zurückkommen] bezieht): »Das ästhetische Übergewicht der nördlichen Gotthardbahnstrecke über die südliche wird, soviel ich weiß, von niemand bestritten. Wer daher bei beschränkter Zeit die Gotthardfahrt als einen bloßen Abstecher ausführt, von Luzern nach Göschenen hin und zurück, der dürfte sich ruhig damit trösten, die Hauptsache gesehen zu haben, wenn – ja wenn eben der Gotthard kein Pass wäre, mit anderen Worten, wenn nicht das Aufsuchen der Gegenseite mit zur Hauptsache gehörte: wenn es einen in Gö-
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schenen nicht mit tausend Armen hinüberzöge; wenn’s einen nachher nicht ewig wurmte, nicht wenigstens ein Minütchen selbst versucht zu haben, wie der Süden riecht. Ob es einer auch noch so fest glaube oder noch so oft selbst erfahren habe, dass drüben nicht das zu finden ist, was die Fantasie verspricht, es nützt nichts. Denn die Fantasie folgt ihren eigenen Trieben und Gesetzen, die mächtiger sind als die Einreden des Verstandes. Eines der Fantasiegesetze aber gebietet: Vor einem Berge musst du hinauf und vor einem Passe hinüber. Kurz, zu einer richtigen Gotthardfahrt gehört die Leventina mit, des Gleichgewichtes, der seelischen Proportion wegen.« (S. 66f.)
Im Unterschied zum vereinheitlichenden, geografisch einmittenden Nationalnarrativ bezieht sich die literarische Imagination selbst in der Selbstreflexion von Spittelers Reiseführer auf die Eigengesetzlichkeit der Fantasie. Die Differenz, der Kulturunterschied, die Begegnung mit dem Anderen ist erst in der Überschreitung möglich. Auch wenn die naturgegebene Faktizität die Alterität der Kultur auf der anderen Alpenseite relativiert, so formt die Literatur auf dem Hintergrund des topografischen Hindernisses des Gebirges einen Diskurs aus, der trotz oder gerade wegen der Vergleichbarkeit oder des Nichtspektakulären kulturelle Distinktion beansprucht. Seine später berühmt gewordene Rede nimmt Spitteler wie schon das Gotthardbuch nur mit Widerwillen an; monatelang hadert er mit der Formulierung und ruft schließlich die in profranzösische und prodeutsche Lager geteilten Schweizer Ende 1914 zu Bescheidenheit und Neutralität auf. Doch noch ein Jahr nach der Erstpublikation in der Neuen Zürcher Zeitung vom 16./17. Dezember 191415 setzt Spitteler auf das Titelblatt der Druckfahne hinter das Possessivpronomen »›Unser‹ mit Bleistift ein Fragezeichen und als Alternative ein ›mein ?‹«:16 ›Unser (?) Schweizer Standpunkt‹. Offenbar bleibt die Differenz zwischen weltliterarischer Ich-Rede und nationaler WirIdentifikation konstituierend. Und dies nicht nur aus der Warte Spittelers. Denn wie prekär es um dieses Wir der schweizerischen ›Willensnation‹
15 Carl Spitteler: »Unser Schweizer Standpunkt«, in: Neue Zürcher Zeitung vom 16./17.12.1914,
online
unter:
http://www.zeit-fragen.ch/index.php?id=155
(Stand: 19.01.2019). 16 Magnus Wieland: »Carl Spittelers Rede ›Unser Schweizer Standpunkt‹. Schreibtischgefechte«, in: Neue Zürcher Zeitung vom 17.10.2014, online unter: http:// www.nzz.ch/feuilleton/schreibtischgefechte-1.18405987 (Stand: 19.01.2019).
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auch 30 Jahre später noch bestellt ist, wird spätestens in der Romanchronologie, in der Annalistik von Moeschlin sichtbar, der im Sinne der geistigen Landesverteidigung, welche ich eingangs als »modernen Mythus« beschrieben habe, einschlägige Gotthardtexte vorausgegangen sind.
2. Das Monumentalwerk Wir durchbohren den Gotthard von Moeschlin, das zunächst in zwei Teilen 1947 bzw. 1949 erscheint, beginnt im Jahre 1833, umfasst den Gotthardtunnelbau zwischen 1872 und 1882 und endet in einem Epilog, der in die Gegenwart der Erzählzeit hineinreicht und nach 700 Seiten (notabene der gekürzten Fassung aus dem Jahre 1957) in den Schlusssatz mündet: »Doch der Tunnel steht da, als ob er immer dagestanden sei und ewig dastehen werde.«17 Die Annalistik erwähnt weder den Ersten noch den Zweiten Weltkrieg. Damit wird nicht nur auf die Unversehrtheit der Schweiz, sondern auch auf die Rolle, welche der Gotthardtunnel dabei gespielt haben könnte, implizit verwiesen. Am brüchigsten manifestiert sich aber letztlich vor allem das soziale Kollektiv, das sich um diesen Gotthardtunnel schart. Die Erzählinstanz, der ›Wir-Erzähler‹, der anfangs zwar explizit personalisiert wird, mutiert im Laufe des Werks zusehends zu einem anonymen Kollektiv, das viel eher der Erzählzeit und nicht der erzählten Zeit zuzuordnen ist – und dies trotz oder gerade wegen der Emphase gleich zu Beginn: »Wir! Wir, Pasquale Lucchini in Lugano und Carl Emanuel Müller in Altdorf, Giovanni Battista Pioda in Locarno und Carlo Cattaneo in Mailand, sinnen einem großen Plane nach. Wir, zwei Ingenieure und zwei Politiker. In uns, geboren um 1800, ist eine Idee lebendig, einmal stärker, einmal schwächer, nach Menschenart. […] Und warum sollen wir mit den Bahnen nicht über die Berge?
17 Felix Moeschlin: Wir durchbohren den Gotthard, 2., umgearb. Aufl., Zürich/Stuttgart: Artemis 1957, S. 704. Die Ausgabe wird im Folgenden unter Angabe der Seitenzahl in Klammen im Fließtext zitiert.
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Ja, warum sollen wir nicht, vermessener noch: mit den Bahnen durch die Berge? Denn Nordeuropa will Verbindung mit Südeuropa, Südeuropa will Verbindung mit Nordeuropa. Dem trennenden Alpengebirge zum Trotz. Oh, wir werden auch mit diesem Alpengebirge fertig werden.« (S. 7)
Die vier Männer entwickeln schon früh die Vision einer alpenquerenden Bahn durch den Gotthard, legen als Ingenieure immer wieder konkrete Pläne vor und setzen sich später auch politisch – als Tessiner Großrat (im Fall von Pasquale Lucchini) oder als ehemaliger Bundesrat und Schweizer Botschafter in Italien (im Fall von Giovanni Battista Pioda) – für das Projekt ein, auch wenn diesem immer wieder aus der Bündner Lukmanier- bzw. Splügenvariante Konkurrenz erwächst. Zwar konstituiert sich der vermeintliche Wir-Erzähler über konkrete historische Persönlichkeiten; doch zentral ist hier das symbolische Kapital eines Zeitgeist-Kollektivs, welches sich in der Doppelung von Ingenieurwesen und Politik niederschlägt. Dabei wird die Identifikationsfigur Alfred Escher als Ingenieur und Politiker dargestellt, der als Präsident der Schweizerischen Nordostbahn (NOB) mit seiner Entscheidung für die Gotthardvariante 1863 den Ausschlag für deren Realisierung gibt. Gleichzeitig verbindet das Erzähler-Wir die schweizerische Modernisierung des 19. Jahrhunderts mit der Identifikationsstrategie der geistigen Landesverteidigung. Denn im Werk Moeschlins geben sich die beiden eingangs erwähnten Politiker als Unterhändler im Erzähler-Wir selten zu erkennen. Dennoch sind diese Stellen besonders markiert, so z.B. in der Verhandlung mit Bismarck in Baden-Baden im Jahre 1865, bei dem der Plan der Gotthardbahn gut ankommt. Dabei muss natürlich auch die nötige Distanz zum damaligen Preußen und zum späteren Deutschen Reich angezeigt werden, was vor allem aus der Perspektive der Erzählzeit Sinn macht: »Vielleicht gefällt es ihm [Bismarck] auch, daß […] wir beiden, ohne den schweizerischen Demokraten herauszustreichen, unsere Ergänzungen in einer offenen männlichen Weise beifügen, mehr darauf bedacht, die Argumente klar herauszustellen, als etwa dem gewichtigen Hörer, von dem so vieles abhängt, nach dem Munde zu reden.« (S. 117)
Die beiden Tessiner repräsentieren den typischen (männlichen) Schweizer. Und dennoch: Ihre Position bleibt ambivalent, einerseits als Erzählsubjekte,
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andererseits als Handelnde. Den Mythos erzählen ist das eine, das Werk zu vollenden, den Gotthard wirklich zu »durchbohren«, etwas anderes. Geht es nämlich um den Streik der Arbeiter, also um den Streik derjenigen, die den Tunnel als Mineure und Maurer unter Lebensgefahr wirklich vortreiben, so ist das Identifikationspotenzial der Erzählinstanz mit ihnen erstaunlich klein. Es sind ja schließlich nicht die ›eigenen‹ Leute, die hier arbeiten, sondern lediglich Lohnarbeiter aus dem Piemont und aus der Lombardei. Die prekären Lebensverhältnisse der Mineure in den Baracken werden aus einer voyeuristisch-distanzierten Perspektive beschrieben. So beginnt die Szene mit einem typischen Kontrollgang: »Schauen wir nach.« (S. 462) Die miserablen hygienischen Verhältnisse werden dabei zum großen Teil auf die Unachtsamkeit der Arbeiter abgeschoben. Die Ambiguität zwischen erzählender und erzählter Zeit führt dazu, dass selbst die Position gegenüber den Arbeitern nicht eindeutig bleibt, wenn das inspizierende Wir zum Aufstand aufruft: »Warum revolutioniert ihr nicht? […] Tut euch […] zusammen, […] ruft den Hauseigentümern [sic!] […]. Sie sollen die Hälfte der Betten hinausschmeißen, den Schmutz wegschaffen, die Böden fegen lassen.« (S. 464) Absurderweise entpuppt sich die scheinbare marxistische Kritik an der Entfremdung des Arbeiters von seiner Arbeit als Vorwand, die Bedeutung um das vollbrachte Werk sich selber zuzuschreiben: »Nicht Sehnsucht nach der ›hehren Alpenwelt‹ hat sie hergetrieben, nicht die ›Wiege der Freiheit‹ hat sie angelockt. Sie wissen nichts davon, daß der Berg, den sie durchbohren, ›mons tremulus‹ geheißen hat, ehe man ihm den Namen eines in Hildesheim begrabenen Heiligen gegeben, dieser Berg der vier Ströme, Zentrum der europäischen Welt, und daß das, was sie tun, Mitarbeit am ›gewaltigsten Werk der Gegenwart‹ bedeutet. Sie sind keine Helden und keine Märtyrer und nicht in Airolo und Göschenen, um sich für die Verbindung von Indien mit London aufzuopfern.« (S. 464)
Trotz Wiedergabe der differenzierten Berichterstattung vom Streik, bei dem eine improvisierte Landwehr schließlich vier Arbeiter erschießt, werden die Zitate zwischen Anführungs- und Schlusszeichen eingebettet: »›Cruelle exécution‹«, »›die durch die Befehle des Unternehmers des Gotthardtunnels und der Regierung des Kantons Uri vollendete Arbeiterschlächterei‹« oder: »›Die Arbeitermetzelei in Göschenen ist unbedingt ein Schandfleck für die
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Schweiz.‹« (S. 471)18 Während bei all diesen Zitaten die Zeitungen angegeben werden, bleibt ihre Herkunft in Bezug auf den Gotthardmythos (»›hehre[] Alpenwelt‹«, »›Wiege der Freiheit‹«) unbezeichnet. Sie werden beim zeitgenössischen Leser als allgemeines Narrativ vorausgesetzt. Der kollektive Berichterstatter mäandriert zwischen verschiedenen Typen von Zitaten, um damit eine scheinbar doppelte Distanz – einerseits gegenüber dem Mythischen, andererseits gegenüber den ausgebeuteten Arbeitskräften – zu markieren. So suggeriert die Erzählinstanz eine Objektivität, die sie aber letztlich nicht einlöst. Denn die unmarkierten Mythen der Überhöhung (»Berg der vier Ströme«, »Zentrum der europäischen Welt« oder »die Verbindung von Indien mit London«) zeigen, was als scheinbar objektives Faktum in die kollektive Erzählung eingezogen wird. Was heißt eine solche Erzählform für die ›Willensnation‹, als welche die Schweiz immer wieder dargestellt wird? Wo positioniert sich denn das zu Beginn so affirmativ inszenierte Wir in Bezug auf die technische Großtat? Unterstreicht es in seinem äußerst aufwändigen Erzählverfahren nicht implizit, wie sehr es die Deutungshoheit beansprucht? Dieses Wir wird aus einer Erzählzeit des Autors inszeniert, in der die Schweiz als ›sichere Insel in der Brandung‹ des Zweiten Weltkriegs überlebt und dank dem Tunnel, den man als Transitroute den faschistischen Achsenmächten zur Verfügung gestellt hat, auch profitiert hat. Die Exklusion des Anderen und der Anspruch auf den scheinbar eigenen Mythos erfolgt in ambivalenter Manier, indem sich das inszenierte Kollektiv immer weiter in Widersprüche verstrickt. Der letzte Ausweg liegt darin, dem technischen Wunder eine un-
18 Noch lange Zeit wurde Moeschlins Werk selbst in historischen Studien als Hauptquelle für den Streik der Tunnelarbeiter 1975 herangezogen. Erst die Sammlung von Zeitberichten und Zeugenbefragungen ermöglicht inzwischen einen angemesseneren Umgang mit dem Ereignis. Vgl. dazu Tobias Kästli: Der Streik der Tunnelarbeiter am Gotthard 1875. Quellen und Kommentar, Basel: ZVerlag 1977. Die wertvollste und ausgewogenste Aufarbeitung, welche das umfangreiche Quellenmaterial noch genauer sichtet und kontextualisiert, ist leider (noch) nicht publiziert: Alexandra Binnenkade: Sprengstoff. Der Streik der italienischen Gotthardtunnelarbeiter – Alltag und Konflikte im Eisenbahndorf Göschenen 1875. Lizenziatsarbeit, Basel 1996. Darauf bezieht sich auch Damir Skenderovic: »Gotthard-Mythen und Geschichtspolitik. Kontinuitäten und Gegennarrative«, in: Previšić, Gotthardfantasien (2016), S. 226-238, hier S. 236.
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ausweichliche Eigendynamik zuzugestehen, welche per se die Konstruiertheit des eigenen Mythos offenlegt, wenn der Tunnel »ununterbrochen vorwärts [...] schreitet« und es gleichzeitig »sicher ist, daß es Arbeiter gibt, die den andern mehr im Wege stehen, als daß sie etwas Nützliches verrichten« (S. 465). Damit gerinnt das Wir der Willensnation zum Phantom.
3. Die Exklusion des Anderen, auch wenn er für die nationale Eigenkonstituierung notwendig ist, kommt in diesem Roman zum Ausdruck, ohne das militärische Abwehrdispositiv der Schweiz mit einem Wort erwähnen zu müssen, weil die erzählte Zeit weiter zurückliegt. Die Einigelung der Armee im Réduit mitten in den Alpen als letzte Verteidigungsoption im Zweiten Weltkrieg gehört natürlich ebenso zum präsenten, aber in den Publikationsjahren von Moeschlins Annalistik vielleicht zu nah liegenden Diskurs über den Gotthard. Friedrich Dürrenmatt, der das Filmskript zum Eisenbahnerroman von Emilio Geiler19 schreiben sollte, das Projekt aber wieder verwarf und zur selben Zeit im Jahre 1953 seine wohl bekannteste Erzählung Der Tunnel verfasste, parodierte kurz vor seinem Tod die Absurdität der nationalen Isolation pointiert: »Der neue F.C. Helvetia 1291 beschloß, ganz und gar auf Verteidigung zu trainieren. Der Entschluß ging auf die letzte Fußballweltmeisterschaft zurück, bei der der Neue F.C. Helvetia 1291 zwar nicht teilgenommen, aber für den Fall, sollte doch jemand angreifen, eine Taktik vorgesehen hatte, die abschrecken mußte, nämlich die, alle Spieler auf der Torlinie im Tor zusammenzuziehen, ja man ging so weit, alle Spieler hinter der Torlinie im Tor zu versammeln und dieses zuzunageln.«20
Dass in einem solchen Verständnis von Willensnation, die nur auf Abwehr und ›Abschreckung‹ getrimmt ist, kein Spiel, kein Fortkommen mehr möglich ist, liegt auf der Hand. Die unabwendbare Eigendynamik, mit der am
19 Emilio Geiler: Gotthard-Express 41 verschüttet. Eisenbahnerroman, Zürich: Müller 1942. 20 Friedrich Dürrenmatt: Das gemästete Kreuz, in: ders., Stoffe 4-9, Zürich: Diogenes 1998, S. 76-84, hier S. 81.
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Transit zwischen Nord- und Südeuropa gearbeitet wird, steht der nationalen Abschottung diametral entgegen. Das kollektive Nationalnarrativ, wie es Moeschlin präsentiert, kann sich somit nur in Widersprüchen verheddern. Denn diejenigen Menschen, welche während der zehn Jahre zwischen 1872 und 1882 jeden Tag sagen mussten »Wir durchbohren den Gotthard«, passten gerade nicht ins nationale Narrativ. Was also bei Spitteler als ironische Distanz anklingt und bei Moeschlin in einem überbordenden Erzählfluss überdeckt werden soll, ist die Unmöglichkeit, literarisch tätig zu sein, ohne sich im Sinne Goethes weltliterarisch auf irgendeine (wenn auch widersprüchliche) Weise zu positionieren. Obwohl Burger nicht unbedingt zu den kritischen Schweizer Nachkriegsschriftstellern wie Max Frisch oder Otto F. Walter zählt, ist seine Demontage des Schweizer Gotthardmythos total, weil er sich mit seiner Parodie in die nationale Dunkelkammer, in den Bauch des Gotthards, vorwagt.21 Sein Roman Die Künstliche Mutter (1982) erweist sich als literarisches Meisterwerk. Gleich zu Beginn wird der Hauptfigur Wolfram Schöllkopf, dem »Privatdozent[en] für neuere deutsche Literatur und Glaziologie« an der »Eidgenössischen Technischen Universität, der Alma Mater Polytechnica Helvetiae«,22 auf perfide Weise die Venia entzogen, weil man bei ihm insbesondere in dieser einmaligen Fächerkombination umstürzlerische Aktivitäten vermutet. So hat er »in seiner Antrittsvorlesung darauf hingewiesen, dass sich in der neueren Schweizer Literatur, welche sich in den sechziger Jahren behaglich am Jurasüdfuß eingerichtet habe, eine Tendenz abzeichne, die erstarrten Packeisfronten in den Alpen von unten her zu schmelzen« (S. 9). Das metaphorische Feld des ›Erstarrten‹ verknüpft zum einen das glaziale Moment mit der Architektur der »ETU« (der ETH) und dem eidgenössischen Abwehrdispositiv, wenn der Erzähler »hochinteressante Parallelen zwischen dem Fort Réduit im Gotthard und dem über und über rustizierten Semper-Gullschen Hochschulsackbahnhof […] [zieht]: hier biss man auf Granit, dort würde man auf Granit beißen.« (S. 13) Zu-
21 Folgende Ausführungen stehen im Zusammenhang mit Boris Previšić: »Klaus Schädelin, Yoko Tawada, Hermann Burger. Literarische Gegenkonstruktionen am Gotthard«, in: ders., Gotthardfantasien (2016), S. 258-268, hier S. 264-267. 22 Hermann Burger: »Die Künstliche Mutter«, in: ders., Werke in 8 Bdn., hg. von Simon Zumsteg, Bd. 5, München: Nagel & Kimche 2014, hier S. 7. Im Folgenden mit Seitenzahl in Klammern.
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dem sei das »Labyrinth von Auditorien« der »ETU« durchwegs mit dem »verwirrende[n] Carceri-System« im Gotthard vergleichbar (ebd.). Zum anderen leidet der Privatdozent Schöllkopf an einem Mutterkomplex, an einem Muttermal, das sich über seinen ganzen Körper ausbreitet. Seine Erstarrung, sein Unterleibsgrimmen kann nur noch durch die »Therapie der Künstlichen Mutter« in »der Alplanalpschen Heilstollenklinik« im Gotthard therapiert werden (S. 19). Der »zu einem Zentralmassiv von Depressionen erstarrt[e]« Hauptprotagonist und Erzähler Schöllkopf kommt schließlich mit dem »Amsterdam-Rom-Express« in Göschenen am Eingang zum Gotthardtunnel an: »Es mochte ohnehin verrückt erscheinen, in dieser Verfassung ausgerechnet Hilfe aus Göschenen zu erwarten, diesem unwirtlichen Durchzugsnest am Gotthardnordfuß und am Eingang der Schöllenenschlucht. Kein Ort zum Bleiben, eine Transitsogwirkung sondergleichen, wer in Gescheldun Station machte, wartete auf den Autoverlad, die Entflechtung des Leventinastaus oder montierte Schneeketten, Sud Sud Sud im Kopf, den touristischen Imperativ aller Nordhypochonder, von Kurzzuversicht keine Spur, zumal das Reußtal eine einzige Bauwüste war, N2 BaselChiasso, wie nach der Schlacht von Näfels sah es dort oben aus, und bereits redete man von einer zweiten Röhre und von einem Gotthardbasistunnel für die Bahn.« (S. 41)
Die »Tagesfluth«, welche die neuen Transportsysteme hervorbringen und die Goethe einst nur als ephemeres Phänomen behandelt wissen wollte, reißt auch fast zwei Jahrhunderte später nicht ab. Vielmehr verbreitert sie in ihrer »Transitsogwirkung« ihre Spuren bis zur Unansehnlichkeit der »Bauwüste«. In dieser Zeitanalyse nimmt Burger aus der Sicht des Patienten Schöllkopf die heutige Situation bereits vorweg – mit der Eröffnung des Gotthardbasistunnels und der eidgenössischen Abstimmung zur zweiten Autobahntunnelröhre im Jahr 2016. Präziser könnte der non-lieu der Globalisierung vor dem Gotthard, der nur dem Transit und den Sehnsüchten (nur in eine Richtung) dient, nicht beschrieben werden. Dass der Talschaft allerspätestens zum Zeitpunkt der erzählten Zeit – mit größter Wahrscheinlichkeit in den 1970er Jahren – und der Autobahn-Gotthardtunnel-Eröffnung jegliches Naturideal abhandenkommt, könnte nicht drastischer vor Augen geführt werden. Dabei handelt es sich um eine Natur, welche bereits durch die Befestigung der Gotthardstraße für Postkutschen ab 1820 und dann mit
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dem Beginn des Gotthardtunnelbaus im Jahre 1872 zurückgedrängt wird. Eine einfache Remedur dagegen suchte man im 19. Jahrhundert in einer ästhetisch ›schönen‹ Linienführung der Bahn, um die Landschaft in Szene zu setzen. Man denke nur an die Inszenierung des Kirchleins von Wassen. Die »Transitsogwirkung« verflüssigt nicht nur die Statik einer hehren Alpenwelt als Wiege der Eidgenossenschaft, sondern zeigt auch die ökologischen und ökonomischen Fratzen der Globalisierung. Der Antagonismus zwischen Erstarrtem und Verflüssigtem, zwischen Réduit/Natur und Transit/Weltliteratur, schlägt sich nicht nur im Krankheitsbild Schöllkopfs nieder, sondern ist auch wesentlicher Bestandteil des Erzählverfahrens, das gleich zu Beginn im Wechsel vom ersten zum zweiten Abschnitt zwischen Ich- und Er-Erzählung changiert. Die Figur Schöllkopf ist zwar immer intern fokalisiert; doch der unmittelbare Wechsel vom Ich zum Er und umgekehrt indiziert eingangs eine Schizophrenie, welche sich – in der zweiten Hälfte des Romans endlich in der Alplanalpschen Klinik angekommen – zusehends zum »Pluralis sanitatis« (S. 172) wandelt (der noch unverdächtig in eine Liebesszene mündet, vgl. S. 172f.). Doch dann mutiert Schöllkopf zu Armando und sieht sich gezwungen, aus lauter Übermut die Klinik zu verlassen, bevor er von Airolo aus in seiner Alfetta durchs Tessin nach Lugano rauscht: »Im Zickzack führen die Waldwege – gehst du zur Rechten, Armando, gehe ich zur Linken – zu einer Halblichtung« (S. 259). Das Paar, bestehend aus Erzähler und Figur, verglüht allmählich im sonnendurchtränkten Tessin – oder wie es Franz Kafka, der mit Max Brod die Strecke 1911 bereiste, in einem Tagebucheintrag formuliert: im »[p]lötzliche[n] Italien«.23 Das bei Spitteler noch zu hinterfragende und bei Moeschlin in seiner Exklusion des Anderen exklusive Wir wird bei Burger geheilt von jeglicher Verhärtung, von jeglichem Mutterkomplex und Einigelungswahn – jedoch mit tödlichen Folgen für die Erzählerfigur Schöllkopf/Armando.
23 Franz Kafka: »Tagebucheintrag vom 29. August 1911«, in: Peter Häberli (Hg.), Hinein in diesen Drachenschlund. Die Gotthardbahn in Literatur und Kunst, Zürich: Scheidegger & Spiess 2007, S. 27-29, hier S. 27.
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4. Um aber in die Utopie des Südens zu gelangen, bedarf es nicht nur einer literarischen, sondern auch einer topografischen Digression, eines wichtigen heterotopischen Umwegs über den Osten. Es ist wohl symptomatisch, dass diese Fantasien auf eine unterirdische Topografie zu rekurrieren haben. So gibt sich Spitteler nach einer ausführlichen Beschreibung der Gotthardstrecke von Luzern nach Göschenen im Gotthardtunnel zwar noch sehr prosaisch: »Da sich indessen die erhabenste Tunnelnacht in nichts von einer gemeinen Kellernacht unterscheidet, so fällt die Spannung mangels Nahrung sehr bald ab. Man möchte etwas denken, fühlt sich sogar in Anbetracht der bedeutenden Gegenwart dazu verpflichtet, weiß jedoch nicht recht, was, umso weniger, als das höllische Kreischen des Gesteins aller zarteren Gedankenfäden zerreißt. – Was geschähe jetzt, wenn jetzt –?« (S. 47f.)
Das Einzige, was noch an Landschaft bleibt, ist die akustische Kulisse, die – wie es kurz darauf heißt – »unsere Nerven daran erinner[t], wie hart die Erde ist und wie weich wir sind mitsamt unseren Kalkknochen« (S. 48). Und genau in diese ohrenbetäubende Szenerie der Suspension setzt Spitteler eine Anekdote, die Burger über 80 Jahre später bis ins letzte Detail erweitern wird: »Was geschähe jetzt, wenn jetzt –? – Eine Entgleisung mitten im Tunnel zum Beispiel – oder, wie jene Bäuerin meinte, wenn sich der Zug unter der Erde ›verirrte‹, sodass er statt nach Italien gegen Österreich führte, und unterwegs stecken bliebe, dass man ihn ausgraben müsste wie den Dachs in der Höhle?« (Ebd.)
Die Deviation nach Osten ist bei Burger nach dem Unternehmer Louis Favre benannt, welcher den Auftrag zum Ausbruch des Gotthardtunnels erhalten hat: Es handelt sich um den »Favreschen Fehlberechnungstunnel« (S. 139). Nachdem der Patient und Hauptprotagonist Schöllkopf keine Zugangsberechtigung auf offiziellem Weg, über ein Gesuch bei der Gotthardfestungsanlage-Militärverwaltung, erhält, verkleidet er sich als Adjutantunteroffizier Tschuor, lässt sich durch seinen Begleiter, den Sanitätsgefreiten Abgottspan, die richtigen Ausweispapiere besorgen und gelangt so end-
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lich in die heiligen Hallen der schweizerischen Landesverteidigung. Im »Fortifikationsabschnitt Kilchberg« wandert er abwärts, bis er »auf eine weißrote Tafel mit der Aufschrift Maut« trifft: »Doch es war kein Landwehrkamerad, der mich mit der heimeligen Begrüßung Haut Maut in Empfang nahm, sondern sage und schreibe ein österreichischer Grenzzollwachbeamter, und er machte mich in kakanischer Höflichkeit darauf aufmerksam, dass ich vorübergehend, bitte sehr, ein wenig verhaftet sei, bitte sehr, wegen Betretens österreichischen Bundesgebietes in einer Schweizer Uniform, wenn auch, was zu den mildernden Umständen gerechnet werden dürfe, ohne Waffe.« (S. 137)
Die Heterotopie, in welcher der Patient seine Heilung erfährt, ist gerade nicht mehr national beengend, sondern imperial erweiternd – kurz: »alles Austria-Gebiet« (S. 175). Schließlich erhält er vom Buffetpächter Prohaska die Erklärung für »die Entstehung des subterranen Habsburgischen Dominums [sic!]«, das man »ziemlich genau zwischen 1218 und 1231 ansetzen könne, und just in jenen Interdezennien sei ja die Schöllenen bezwungen worden, die Teufelsbrücke gebaut und der König der Pässe, das royale Zentralalpenmassiv, dem Transitverkehr erschlossen worden«, womit er das historiografische Desiderat der geistigen Landesverteidigung, Gotthard und Gründung der Eidgenossenschaft engzuführen, ad absurdum führt: »Gerade weil, das sei aber seine persönliche Theorie, beteuerte Prohaska, die Urner Dickschädel nichts anderes als die Schöllenen im Kopf gehabt und sich in südlichen Phantasmagorien ergangen hätten, sei es den Habsburgern möglich gewesen, ihr kleines Granitreich in aller Ruhe zu befestigen. Verzeihen Herr Dozent bitte den Anspruch auf das Copyright: wir, die Österreicher, haben die Réduit-Strategie erfunden.« (S. 187)
Die Rede Prohaskas kulminiert schließlich in der logischen Folgerung, dass Hitler die Schweiz gar nicht mehr habe erobern müssen, denn mit »der Besetzung Österreichs war ein Stück Gotthard in seiner Hand, das genügte ihm« (S. 190). Selbst im Tessin findet die kakanische Heterotopie ihre Fortsetzung, wenn sich das inzwischen fest konstituierte und aufgebahrte Erzähler-Wir in der Villa Lampugnani in der Nähe von Lugano beim Anblick »der Pfeilerarkaden aus Tuffstein mit den spitzen Giebeln und Rautenfenstern« fragt: »Oder doch die Gloriette im Park von Schönbrunn?«
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(S. 271) In der neuen »Pararealität« angekommen, erfüllt sich die Mathematik: »Forza maggiore, matematica superiore, Armando e Armando! Nur so viel steht fest: wir sind nun definitiv zu zweit, ein Paar, dem ursprünglichen Sinn nach zwei Dinge [sic!] von gleicher Beschaffenheit. Vielleicht war es nur eine Fisarmonica mit leckem Balg.« (S. 272) Damit lässt der Handlungsstrang des Romans den Gotthard endgültig hinter sich und geht in seiner literarischen Realität auf, welche auf eine verdoppelte nationalimperiale Topografie zurückzugreifen hat. Und diese Topografie ist letztlich weltliterarisch grundiert, weil sie erst über das infrastrukturelle Projekt der Eisenbahnverbindung erschlossen wird. Goethe, der dreimal von Norden her auf den Gotthard kam, überquerte ihn nie. In seiner autobiografischen Fiktion Dichtung und Wahrheit (Erstveröffentlichung 1811) hat er darauf verwiesen, dass im Jahre 1775 während der ersten Schweizer Reise die Entscheidung für die Literatur – die dem Autor des Werther nicht so leicht gefallen ist, wie das im Nachhinein scheint – noch bildlich im »Scheide Blick«24 auf dem Gotthard hinunter Richtung Süden in die Leventina festgehalten ist und dass es in der Literatur nichts Unnatürlicheres gibt als den direkten Zusammenhang zwischen Beschreibung und Beschriebenem.25 Mit Gotthold Ephraim Lessings Laokoon (1766) wurde das Prinzip ut pictura poesis endgültig verabschiedet. Literatur ist in erster Linie Zeit- und nicht Raumkunst: Darum ist ihr Verhältnis zur Topografie so kompliziert, darum kommt sie erst richtig in Fahrt, um sich in eine imaginäre Topografie zurückzuziehen. Darum ist auch die topografische Umwertung durch Hölderlin bezeichnend, wenn er gut zwei Jahrzehnte vor der Einführung des Begriffs der Weltliteratur anhand seiner Stromoden und Stromgesänge die kulturgeschichtliche Topografie Europas durchdekliniert. Ihm scheint nicht entgangen zu sein, dass »auf dem Gotthard […] die Flüsse [...] [w]ohl nach Hertruria seitwärts« abfließen.26 Der unvollständige erste Satz im Hymnenfragment Der Adler, das
24 Daniel Müller Nielaba: »›Kennst du das Land?‹ Goethes transalpine Rätsel«, in: Previšić, Gotthardfantasien (2016), S. 153-162, hier S. 159. 25 Vgl. ebd. 26 Friedrich Hölderlin: »Der Adler«, in: ders., Tutte le liriche, übers. und hg. von Luigi Reitani, Mailand: Mondadori 2001, S. 1210-1211, hier S. 1210.
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in derselben Zeit wie Andenken um 1804/1805 entstanden sein muss,27 deutet an, dass die Topografie des Gotthards unvollständig und deshalb imaginär zu ergänzen ist. Die Flüsse, welche dem Gotthardmassiv entspringen, fließen zwar zunächst symmetrisch im Kreuz nach Norden (Reuß), Westen (Rhone), Süden (Ticino) und Osten (Rhein) ab. Spätestens in der dritten Strophe des Hymnenfragments Jezt, Feuer, das in derselben Zeit entstanden ist und das Norbert von Hellingrath erstmals 1916 unter dem seither überlieferten Titel Der Ister – dem griechischen Namen für die Donau – herausgibt, wird das topografische Paradox des Gotthards verdeutlicht: »Der [Ister] scheinet aber fast Rükwärts zu gehen und Ich mein, er müsse kommen Von Osten. Vieles wäre Zu sagen davon. Und warum hängt er An der Bergen gerad? Der andre Der Rhein ist seitwärts Hinweggegangen.«28
Der Rhein erfüllt seine Mission nicht, wenn er spätestens bei Chur Richtung Norden zum Bodensee hin abfließt. Die hesperische Kulturmission des Adlers, der im Gesang Germanien aus Indien über Griechenland, Italien und die Alpen nach Suevien fliegt, findet seine topografische Entsprechung nicht im Rhein, denn dieser »ist seitwärts / Hinweggegangen«, sondern im Ister, der Donau, die eben nicht am Gotthard entspringt. Damit wird bereits bei Hölderlin die notwendige Deviation nach Osten vorgezeichnet, welche bei Burger subterran erfolgt und in der Gegenwartsliteratur aktiver denn je ist. Schlagen wir den Bogen in die Gegenwartsliteratur und analysieren die zeitgenössische Literatur, so z.B. Terézia Moras Roman Das Ungeheuer, so
27 Vgl. Luigi Reitani: »Commento e note«, in: Hölderlin, Tutte le liriche (2001), S. 1281-1882, hier S. 1853. 28 Friedrich Hölderlin: »Ohne Titel«, in: ders., Tutte le liriche (2001), S. 12161221, hier S. 1218.
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besteht die Quintessenz der Schweiz im Tunnel. Der Ort verkommt zum typischen non-lieu: »Einen ganzen Sommer kreuz und quer durch Frankreich, erst von Osten nach Westen, dann in den Norden, ganz in den Norden, über den Kanal, in die Highlands, wieder zurück, ganz in den Süden, über den Zikadenäquator nach Spanien, durch Spanien nach Portugal, bis zum Boca de Inferno – in jedem Land, in jedem, gibt es einen Ort, der Höllenschlund heißt – dort umkehren, wieder hoch, in die Schweiz, durch den Tunnel nach Italien (da hatte sie schon genug), bis hinüber nach Sizilien (da begann er, genug zu haben, aber der Ätna, der Ätna!, der Blick auf den Ätna von Centuripe aus!), Malta (das war eindeutig zu viel, sie wurde seekrank) – können wir jetzt wieder zurück, Schatz? Ja, schließlich müssen wir dieses Jahr auch noch heiraten, aber es war doch schön, oder nicht?«29
In der westeuropäischen Beliebigkeit (in Frankreich, Schottland, Spanien, Portugal, Italien und Malta), derer der Hauptprotagonist Darius Kopp irgendwann überdrüssig wird, verbindet der Schweizer Tunnel nicht (oder nicht mehr) zwei Kulturen. Die Reisen des Paars vor der Hochzeit kulminieren im 11. September 2001, sodass die Flitterwochen nur noch vor dem Bildschirm in der eigenen Wohnung stattfinden, »wo sie dann […] vor dem Fernseher standen und Stunde für Stunde nur zusahen, wie die Flugzeuge in die Zwillingstürme flogen« (S. 70). Typisch für die Westeuropareise ist die Bewegungsrichtung durch die Schweiz: Von Norden nach Süden ist die klischierte Sehnsuchtsrichtung. Atypisch hingegen ist der Überdruss der Frau, der just nach dem Tunnel einsetzt. So minim sich diese Stelle im gesamten Roman von Mora ausnimmt, so sehr indiziert sie ein neues Europabild, das die alten Klischees über Bord wirft. Nach dem Tod seiner Frau Judit zieht es den Hauptprotagonisten Kopp in den Osten. Nach einem suggerierten nächtlichen Abenteuer in der Slowakei, ›übt‹ er zwar »Rache an der Slowakei, indem er mit dem Ersatzrad nach Österreich« fährt, »um sich dort, in der Obhut der gemeinsamen Sprache, um eine Unterkunft und ein neues Rad zu kümmern« (S. 80). Doch was folgt, ist eine Suche nach der Herkunft der Frau in Ungarn, ein regelrechtes Roadmovie nach Osten, durch den Balkan und durch die Türkei bis zum Ararat.
29 Terézia Mora: Das Ungeheuer, München: Luchterhand 2013, S. 69. Im Folgenden Seitenzahlen in Klammern im Lauftext.
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Findet in diesem Roman unserer Gegenwart das erfüllte Leben der Weltliteratur jenseits eines durchökonomisierten und durchrationalisierten Transitortes statt? Wird erst hier das topografische Defizit des so europäischen Gotthards wettgemacht? Erst die Topografie erklärt uns, worin der Anspruch der Weltliteratur bestehen könnte. So ist diese zwar auf ihre topografische Festschreibung angewiesen; selbst der Transitraum lässt sich verorten. Doch in ihrer syntagmatischen Devianz topografiert sie um: Der Transitraum wird rekulturalisiert und rehistorisiert. Damit verschichtet sie die gängigen kulturellen Narrative der Gegenwart neu, indem sie sich einer nationalmythischen paradigmatischen Fixierung entzieht. Gerade weil sie sich topografisch zu einem vermeintlichen Zentrum in Beziehung zu setzen hat, wird die Reibung zwischen literarischer Digression und mythischer Verankerung, zwischen fantastischer Devianz und toponymischer Fixierung besonders erfahrbar – bis hinein in die Erzählinstanz, welche ihren Zusammenhalt nur behaupten kann (wie in Moeschlins Annalistik Wir durchbohren den Gotthard) oder in Schizophrenie erlöscht (wie in Burgers Künstlicher Mutter). Wenn Goethe zu prognostizieren vermeinen musste, dass Weltliteratur nur ein vorübergehender Zustand sein werde, so hat er wahrscheinlich die entfesselnde Dynamik sowohl der nationalmythologischen als auch der globalökonomischen Kräfte nicht voraussehen können, welche Orte wie den Gotthard exemplarisch heute stärker denn je heimsuchen. Solange diese Kräfte so akut und aktiv sind, wird sich Weltliteratur dagegenstemmen und ihre Eigenart behaupten müssen.
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L ITERATUR Augé, Marc: Non-lieux. Introduction à une anthropologie de la surmodernité, Paris: Seuil 1992. Binnenkade, Alexandra: Sprengstoff. Der Streik der italienischen Gotthardtunnelarbeiter – Alltag und Konflikte im Eisenbahndorf Göschenen 1875. Lizenziatsarbeit, Basel 1996. Birus, Hendrik: »Goethes Idee der Weltliteratur. Eine historische Vergegenwärtigung«, in: Manfred Schmeling (Hg.), Weltliteratur heute. Konzepte und Perspektiven, Würzburg: Königshausen & Neumann 1995, S. 5-28. Burger, Hermann: »Die Künstliche Mutter«, in: ders., Werke in 8 Bdn., hg. von Simon Zumsteg, Bd. 5, München: Nagel & Kimche 2014. Cassirer, Ernst: Vom Mythus des Staates, übers. von Franz Stoessl, Hamburg: Meiner 2002. Dürrenmatt, Friedrich: »Das gemästete Kreuz«, in: ders., Stoffe 4-9, Zürich: Diogenes 1998, S. 76-84. Fries, Thomas: »Weltliteratur aus der Schweiz. Jean-Jacques Rousseau, Gottfried Keller, Robert Walser«, in: Ursula Amrein/Wolfram Groddeck/Karl Wagner (Hg.), Tradition als Provokation. Gottfried Keller und Robert Walser, Zürich: Chronos 2012, S. 9-33. Geiler, Emilio: Gotthard-Express 41 verschüttet. Eisenbahnerroman, Zürich: Müller 1942. Goethe, Johann Wolfgang von: Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bdn., hg. von Erich Trunz, Bd. 12, 12., durchges. Aufl., München: Beck 1994. —: »Brief an Boisserée, 12. Oktober 1827«, in: ders., Werke, Bd. 12 (1994), S. 362. —: »Ferneres über Weltliteratur«, in: ders., Goethe’s Werke. Vollständige Ausgabe letzter Hand, Bd. 49, Stuttgart/Tübingen: Cotta 1833, S. 137143. —: »Gespräch mit Eckermann, 31. Januar 1827«, in: ders., Werke, Bd. 12 (1994), S. 362. Hardmeyer, Jakob: Sängerfahrt des Männerchor Zürich nach Mailand, Zürich: Orell Füssli 1888. Hölderlin, Friedrich: Tutte le liriche, übers. und hg. von Luigi Reitani, Mailand: Mondadori 2001. —: »Der Adler«, in: ders., Tutte le liriche (2001), S. 1210-1211.
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—: »Ohne Titel«, in: ders., Tutte le liriche (2001), S. 1216-1221. Kafka, Franz: »Tagebucheintrag vom 29. August 1911«, in: Peter Häberli (Hg.), Hinein in diesen Drachenschlund. Die Gotthardbahn in Literatur und Kunst, Zürich: Scheidegger & Spiess 2007, S. 27-29. Kalt, Robert: »Der Verkehr auf der Gotthardbahn gestern – heute – morgen«, in: Anton Eggermann et al. (Hg.), Die Bahn durch den Gotthard, Zürich: Orell Füssli 1981, S. 215-234. Kästli, Tobias: Der Streik der Tunnelarbeiter am Gotthard 1875. Quellen und Kommentar, Basel: Z-Verlag 1977. Marx, Karl/Engels, Friedrich: »Manifest der Kommunistischen Partei«, in: dies., Werke, hg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Bd. 4, Berlin: Dietz 1974, S. 459-493. Matt, Peter von: »Die Schweiz zwischen Ursprung und Fortschritt. Zur Seelengeschichte einer Nation«, in: ders., Das Kalb vor der Gotthardpost. Zur Literatur und Politik der Schweiz, München: Hanser 2012, S. 9-93. Moeschlin, Felix: Wir durchbohren den Gotthard, 2., umgearb. Aufl., Zürich/Stuttgart: Artemis 1957. Mora, Terézia: Das Ungeheuer, München: Luchterhand 2013. Müller Nielaba, Daniel: »›Kennst du das Land?‹ Goethes transalpine Rätsel«, in: Previšić, Gotthardfantasien (2016), S. 153-162. Pizer, John: The Idea of World Literature. History and Pedagogical Practice, Baton Rouge: Louisiana State University Press 2006. Previšić, Boris (Hg.): Gotthardfantasien. Eine Blütenlese aus Wissenschaft und Literatur, Baden: Hier und Jetzt 2016. —: »Klaus Schädelin, Yoko Tawada, Hermann Burger. Literarische Gegenkonstruktionen am Gotthard«, in: ders., Gotthardfantasien (2016), S. 258-268. Reitani, Luigi: »Commento e note«, in: Hölderlin, Tutte le liriche (2001), S. 1281-1882. Skenderovic, Damir: »Gotthard-Mythen und Geschichtspolitik. Kontinuitäten und Gegennarrative«, in: Previšić, Gotthardfantasien (2016), S. 226-238. Speich Chassé, Daniel: »Unterwegs mit der Gotthardbahn um 1900. Die Kirche von Wassen und die Inszenierung von Landschaft«, in: Previšić, Gotthardfantasien (2016), S. 38-48. Spitteler, Carl: Der Gotthard, Zürich: Europa 2014.
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—: »Unser Schweizer Standpunkt«, in: Neue Zürcher Zeitung vom 16./17.12.1914, online unter: http://www.zeit-fragen.ch/index.php?id= 155 (Stand: 19.01.2019). Strich, Fritz: Goethe und die Weltliteratur, 2. Aufl., Bern: Francke 1946. Wieland, Magnus: »Carl Spittelers Rede ›Unser Schweizer Standpunkt‹. Schreibtischgefechte«, in: Neue Zürcher Zeitung vom 17.10.2014, online unter: http://www.nzz.ch/feuilleton/schreibtischgefechte-1. 18405987 (Stand: 19.01.2019).
Wie unterrichten wir Weltliteratur? Autoren als Gastprofessoren in Bern und Berlin O LIVER L UBRICH
Im Herbst 2013 wurde an der Universität Bern die Friedrich Dürrenmatt Gastprofessur für Weltliteratur eingerichtet.1 Sie ist die erste Autoren-Gastprofessur in der Schweiz. Ihr konzeptionelles Vorbild war die Samuel Fischer-Gastprofessur für Literatur, die seit 1998 an der Freien Universität Berlin besteht.2 Was können wir aus den Erfahrungen von Schriftstellern
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Förderer von Beginn an ist die Stiftung Mercator Schweiz. Seit 2015 wird das Projekt von der Burgergemeinde Bern unterstützt. Nach fünfjähriger Pilotphase (2014–2018) beschlossen die Förderer die Verstetigung (2019–2028). Seitens der Universität Bern trägt die Philosophisch-historische Fakultät zu seiner Umsetzung bei. Der Diogenes Verlag in Zürich und die Charlotte Kerr DürrenmattStiftung in Bern gestatten die Verwendung des Namens Friedrich Dürrenmatt. Projektleitung: Oliver Lubrich, Assistenz: Thomas Nehrlich, studentische Mitarbeit:
Delia
Imboden,
Vera
Jordi.
Website:
http://www.wbkolleg.uni
be.ch/ueber_uns/friedrich_duerrenmatt_gastprofessur/index_ger.html
(Stand:
19.01.2019). 2
Partner der Freien Universität Berlin sind der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD – Berliner Künstlerprogramm), die Verlagsgruppe Georg von Holtzbrinck (Veranstaltungsforum, Berlin) und der S. Fischer Verlag (in Frankfurt am Main). Initiiert wurde die Samuel Fischer-Gastprofessur für Literatur von Gert Mattenklott am Peter Szondi-Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft. Die Projektleitung übernahm – als vorheriger As-
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als Gastprofessoren über die Vermittlung von Weltliteratur als Gegenwartsliteratur an deutschsprachigen Hochschulen lernen? Die Idee ist einfach: In jedem Semester unterrichtet ein internationaler Autor (oder eine Autorin) an der Universität. Er (oder sie) gibt eine wöchentliche Lehrveranstaltung. Die Gäste arbeiten wie ›normale‹ Professoren mit Studenten und Doktoranden zusammen, d.h. sie bieten Sprechstunden an, betreuen Hausarbeiten und nehmen an Workshops teil. Format und Gegenstand seiner Lehrveranstaltung wählt jeder Gast selbst. So kommen Angebote zustande, die inhaltlich originell und in der Form kreativ sind. Der Begriff ›Autor‹ wird dabei im erweiterten Sinn verstanden: Neben Schriftstellern kommen auch Publizisten oder Filmemacher infrage. Angesiedelt ist die Friedrich Dürrenmatt Gastprofessur in Bern am Walter Benjamin Kolleg der Philosophisch-historischen Fakultät, das fächerübergreifende Aktivitäten der Geistes- und Sozialwissenschaften betreut. Die Veranstaltungen stehen den Studierenden aller Fächer offen. Im Unterschied zu Poetikvorlesungen, Creative-Writing-Workshops, Writer-in-Residence-Programmen oder Stadtschreiber-Stipendien sollen die Gäste nicht in einer vorgegebenen Form über ihre schriftstellerische Praxis Auskunft geben, Studenten das Schreiben beibringen oder für sich an einem Werk arbeiten, sondern nach ihrem eigenen Interesse und in ihrer eigenen Art Literatur (im erweiterten Sinn) vermitteln. Sie sind in der akademischen Lehre aktiv und an der Universität als Gesprächspartner präsent. Der Name Friedrich Dürrenmatt soll diesen Ansatz symbolisieren. Er steht für eine vielseitige Weltliteratur in und aus Bern. Der aus dem Kanton stammende Schriftsteller (geboren in Konolfingen), der an der Universität Bern studierte (Philosophie, Germanistik) und dessen Nachlass in Bern betreut wird (im Schweizerischen Literaturarchiv), verfasste Prosatexte und Essays sowie Arbeiten für Theater und Radio, die international in zahlreichen Sprachen und Zusammenhängen wahrgenommen wurden – z.B. in Form einer senegalesischen Verfilmung des Besuchs der alten Dame in Wolof.3 Im Sinn ihres Namenspatrons beschränkt sich die Friedrich Dürrenmatt Gastprofessur nicht auf den akademischen Bereich. Zusätzlich zu
sistent – 2009 Oliver Lubrich, 2011 Claudia Olk. Website: http://www.geistes wissenschaften.fu-berlin.de/we03/institut/gastprofessuren/samuel_fischer/ (Stand: 19.01.2019). 3
HYÈNES (SEN 1992, R: Djibril Diop Mambéty).
W IE UNTERRICHTEN WIR W ELTLITERATUR ?
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den Seminaren an der Universität werden öffentliche Veranstaltungen in Bern und an anderen Orten in der Schweiz angeboten – sei es als musikalische Lesung, als Gespräch mit regionalen Künstlern oder als kommentierte Filmvorführung. Die Friedrich Dürrenmatt Gastprofessur dient der Verbindung von Wissenschaft und Literatur, Theorie und Praxis, Universität und Öffentlichkeit. Die ersten zehn Friedrich Dürrenmatt Gastprofessoren kommen aus zehn verschiedenen Ländern: David Wagner (Deutschland, Frühjahr 2014), Joanna Bator (Polen, Herbst 2014), Louis-Philippe Dalembert (Haiti, Frühjahr 2015), Wendy Law-Yone (Burma, Herbst 2015), Fernando Pérez (Kuba, Frühjahr 2016), Wilfried N’Sondé (Kongo, Herbst 2016), Juan Gabriel Vásquez (Kolumbien, Frühjahr 2017), Josefine Klougart (Dänemark, Herbst 2017), Xiaolu Guo (China, Frühjahr 2018) und Peter Stamm (Schweiz, Herbst 2018). Aus den Erfahrungen mit einer Autoren-Gastprofessur lassen sich einige theoretische und praktische Überlegungen ableiten: zur Idee der Weltliteratur und zu deren universitärer Vermittlung als Gegenwartsliteratur.
W ER KANN W ELTLITERATUR
LEHREN ?
›Weltliteratur‹ klingt gut. Ihre Epoche hat Johann Wolfgang von Goethe am 31. Januar 1827 im Gespräch mit Johann Peter Eckermann ebenso visionär wie seither vielzitiert ausgerufen: »Ich sehe immer mehr, […] daß die Poesie ein Gemeingut der Menschheit ist, und daß sie überall und zu allen Zeiten in hunderten und aber hunderten von Menschen hervortritt. […] Aber freilich wenn wir Deutschen nicht aus dem engen Kreise unserer eigenen Umgebung hinausblicken, so kommen wir gar zu leicht in diesen pedantischen Dünkel. Ich sehe mich daher gerne bei fremden Nationen um und rate jedem, es auch seinerseits zu tun. National-Literatur will jetzt nicht viel sagen, die Epoche der Welt-Literatur ist an der Zeit und jeder muß jetzt dazu wirken, diese Epoche zu beschleunigen.«4
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Johann Peter Eckermann: »Gespräch mit Goethe, Mittwoch den 31. Januar 1827«, in: Johann Wolfgang Goethe, Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und
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Goethe spricht entschieden universell: »überall«, »zu allen Zeiten«, »bei fremden Nationen«, »Menschheit« und »Welt«. Der Gedanke ist faszinierend, er erscheint im Zeitalter digitaler Globalisierung immer zwingender und geradezu selbstverständlich: Literatur wirklich grenzenlos wahrzunehmen, ohne Rücksicht auf politische, ökonomische oder ideologische Hegemonien. Goethe nimmt hier keine pragmatische Eingrenzung vor – etwa auf die europäischen National- und Kolonialsprachen, wie es einer klassischen Komparatistik als Allgemeiner und Vergleichender Literaturwissenschaft entsprechen würde, die keinen globalen Anspruch erhebt, sondern an ihrem jeweiligen Standort, historisch und kulturell bedingt, besondere Schwerpunkte setzt. So liegt es in Deutschland oder in der Schweiz durchaus näher, sich als Komparatist mit Literatur aus England, Frankreich oder Italien auseinanderzusetzen, als dies in Island, Japan oder Usbekistan der Fall wäre. Zur Literatur aus Australien, Indien oder Nigeria dagegen bestehen in Berlin oder Bern weniger starke Bezüge als in London, der Metropole der früheren Kolonialmacht.5 Franco Moretti hat auf die rein quantitative Herausforderung hingewiesen, die es bedeutet, über einen überschaubaren Kanon hinauszugehen und unbegrenzt Weltliteratur erforschen zu wollen. Ein solches Vorhaben ist mit konventionellen Methoden der Hermeneutik nicht mehr zu bewältigen. Es erfordert neue Ansätze computerphilologischer Statistik, um beispielsweise die Zirkulation bestimmter Texte und Übersetzungen oder die Verbreitung von Genres und Formen nachvollziehen zu können: big data statt great works, distant reading statt close reading.6
Gespräche, Abt. 2, Bd. 12, hg. von Christoph Michel, Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag 1999, S. 223-228, hier S. 224f. 5
Vgl. Oliver Lubrich: »Comparative Literature – in, from and beyond Germany«, in: Comparative Critical Studies 3/1-2 (2006), S. 47-67; ders.: »Comparative Literature in German«, in: Steven Tötösy de Zepetnek/Tutun Mukherjee (Hg.), Companion to Comparative Literature, World Literatures, and Comparative Cultural Studies, Neu-Delhi/Bangalore: Cambridge University Press India/Foundation Books 2013, S. 269-283.
6
Vgl. Franco Moretti: »Conjectures on World Literature«, in: ders., Distant Reading, London/New York: Verso 2013, S. 43-62.
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Dennoch gibt es Studiengänge, die sich den weitreichenden Anspruch zu eigen machen, Weltliteratur im herkömmlichen Sinn zu vermitteln, in Bern z.B. ein Masterprogramm World Literature. Aber leichter gesagt als getan. Denn wer kann Weltliteratur wirklich unterrichten – und nicht World Literature ausschließlich in englischer Sprache? Weltliteratur kann heute nicht das Ergebnis einer globalisierten anglofonen Vereinheitlichung sein, wie Gert Mattenklott ein halbes Jahrhundert nach Erich Auerbachs pessimistischer Prognose7 erleichtert feststellen konnte,8 sondern nichts anderes als die Bewahrung größtmöglicher Vielfalt. Aber welche Dozenten, welche Institute, welche Fakultäten verfügen über die sprachlichen, kulturellen und methodischen Kompetenzen, deren es bedarf, um so weit über eine Komparatistik, die sich auf die (west-)europäischen Literatursprachen und ihre kolonialen Fortsetzungen konzentriert, hinauszugehen? Wer hat allein die nötigen Sprachkenntnisse, um nicht nur Texte in Englisch, Französisch oder Spanisch, sondern auch Persisch (Farsi), Indonesisch (Bahasa Indonesia) oder Suaheli lesen und unterrichten zu können? Und wer hat einen Überblick über die relevanten Neuerscheinungen? Die Autoren selbst. Ein stehendes Institut oder ein regelmäßiges Programm für Weltliteratur, das diesen Begriff ernst nimmt, wäre also kaum zu verwirklichen. An seiner Stelle ist jedoch eine Gastprofessur sehr wohl realistisch – nicht als Ersatz, sondern als Ergänzung der Komparatistik und der Nationalphilologien sowie der Area Studies. Räumlich und sprachlich entgrenzt kann Weltliteratur als Gegenwartsliteratur nur von ihren Verfassern selbst vermittelt werden. So gab die burmesische Autorin Wendy Law-Yone in Bern anhand neuerer Fiktionen aus Burma, Malaysia, Indien, Pakistan, Korea, China und Nepal einen Kurs über die Veränderungsprozesse asiatischer Gesellschaften
7
Vgl. Erich Auerbach: »Philologie der Weltliteratur«, in: Walter Muschg/Emil Staiger (Hg.), Weltliteratur. Festgabe für Fritz Strich zum 70. Geburtstag, Bern: Francke 1952, S. 39-50.
8
Vgl. Gert Mattenklott: »Weltliteratur aus Berlin?«, in: Oliver Lubrich/Hans Jürgen Balmes (Hg.), Berlin Hüttenweg. Stadt erzählen, Berlin: Matthes & Seitz 2006, S. 249-257.
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in unserer Gegenwart, wie ihn kein Mitglied der Fakultät hätte anbieten können. Der haitianische Romancier Louis-Philippe Dalembert unterrichtete ein Seminar über »Voodoo« – in der Literatur, Kunst und Kultur –, und zwar aus eigener Anschauung und kritischer Distanz. Die Ankündigung des Themas löste, wie in den Kommentarforen der regionalen Presse deutlich wurde, gleichwohl das Missverständnis aus, der mit einer Studie über Alejo Carpentier an der Sorbonne promovierte Poeta doctus wolle seine Studenten allen Ernstes in den afrokaribischen Kult selbst einweisen,9 anstatt diesen aus anthropologischen, kulturwissenschaftlichen, kunstgeschichtlichen und philologischen Perspektiven als Gegenstand zu erforschen.10 Fernando Pérez aus Havanna wiederum gab eine Einführung in die Sprache des Kinos – aus der Praxis des Regisseurs und mit Beispielen von Friedrich Wilhelm Murnau, Ingmar Bergman, Alfred Hitchcock, Martin Scorsese, Federico Fellini sowie nicht zuletzt des lateinamerikanischen Kinos.11 Vor dem Hintergrund der Situation in seiner Heimat diskutierte der Kubaner mit Doktoranden in einem Workshop über »Kunst und Zensur«. Ihrerseits aufgrund eigener Erfahrungen wählte Joanna Bator für ihren Kurs über unheimliche Orte Beispiele aus drei Ländern, die nur selten in einer komparatistischen Betrachtung zusammengebracht werden: aus Polen, woher sie stammt, aus Japan, wo sie jahrelang lebte, und aus der Schweiz, wo sie unterrichtete. David Wagner, dessen autobiografischer (mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichneter) Roman Leben12 von einer lebensgefährlichen und lebensrettenden Organtransplantation handelt, gab einen Doktorandenworkshop über »Literatur und Krankheit« für Germanisten, Anthropologen und Medizinhistoriker. Wilfried N’Sondé, der als Kind aus seiner kongolesischen Heimat mit seinen Eltern nach Frankreich übergesiedelt war, beleuchtete die Erotik in
9
Vgl. »Voodoo-Seminar für Berner Studenten«, in: Berner Zeitung vom 27. 01.2015, online unter: http://www.bernerzeitung.ch/region/kanton-bern/Voodoo Seminar-fuer-Berner-Studenten/story/10412014 (Stand: 19.01.2019).
10 Vgl. Louis-Philippe Dalembert: Vodou! Un tambour pour les anges, Paris: Autrement 2003. 11 Vgl. Oliver Lubrich: »Suite Berlin«, in: Humboldt 146 (2007), S. 83-84. 12 Vgl. David Wagner: Leben, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2013.
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den Werken afrikanischstämmiger Autoren, da sich in ihr die Erfahrungen der Diktatur, der Flucht und des Exils oft subtiler andeuten als in direkt politischen Abhandlungen. In jedem Fall wählten die Autoren für ihre Lehrveranstaltungen, biografisch begründet, sehr eigene Perspektiven auf die Literaturen der Gegenwart. Wie selbstverständlich sich individuelle und zugleich aktuelle Themen ergeben, wenn sich die Universität für Autoren öffnet, wird ebenso an Beispielen aus dem Berliner Referenzprojekt, der Samuel Fischer-Gastprofessur, deutlich. Hier behandelte Richard Powers naturwissenschaftliche Modelle zeitgenössischer Poetiken, Mircea Cărtărescu die rumänische Postmoderne, der Isländer Sjón nordische Mythologie und die Ägypterin Nora Amin junge arabische Literatur, Scott Bradfield sprach über »Schund und Literatur«13 und Marlene Streeruwitz über »Das Dirndl als Text«.14 Alberto Manguel, der in seiner Jugend in Buenos Aires dem erblindeten Jorge Luis Borges als Vorleser gedient hatte, gab einen Workshop über das Werk seines berühmten Lehrers – aus der einzigartigen Perspektive der persönlichen Bekanntschaft. Der nicaraguanische Schriftsteller (und ehemalige Vizepräsident) Sergio Ramírez präsentierte die Werke junger lateinamerikanischer Autoren, die in Europa noch kaum bekannt waren, um deren Auseinandersetzung mit Bürgerkrieg und Demokratisierung, Ungleichheit und Migration zu erkunden. Als Juror des Premio Rómulo Gallegos verfügte er über eine breitere, intimere und aktuellere Kenntnis spanischsprachiger Neuerscheinungen, als sie selbst den meisten Lateinamerikanisten möglich ist. Der kongolesische Dichter und Kulturtheoretiker V. Y. Mudimbe (The Idea of Africa, 1994), der in Kinshasa, Paris und Leuven studierte und in Stanford und Duke lehrte, gab ein Seminar über »Theories of Difference«, in dem er anhand von Beispielen aus Gen- und Genderforschung, Völkerrecht und Pädagogik die Konstruktion geschlechtlicher, rassischer und sozi-
13 Vgl. Oliver Lubrich: »Schund und Literatur. Scott Bradfield ist neuer SamuelFischer-Gastprofessor an der Freien Universität Berlin«, in: FU Nachrichten vom 15.11.2000, S. 1. 14 Vgl. Oliver Lubrich: »Das Dirndl als Text. Seit es die Samuel-FischerGastprofessur an der FU gibt, geschehen rund um die Literatur aufregende Dinge«, in: Der Tagesspiegel vom 15.10.2002, S. B5.
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aler Unterscheidungen problematisierte, wie sie in westlichen ebenso wie in afrikanischen Kulturen allzu oft unhinterfragt bleiben. Der kanadische Romancier Yann Martel widmete sein Seminar den Darstellungen von Tieren in der Weltliteratur – von Dante Alighieri und William Shakespeare über Franz Kafka bis zu J. M. Coetzee –, um auf dieser Grundlage heutige Fragen der Tierethik und des Umweltschutzes zu entfalten. Für seinen Roman Life of Pi (2001), deutsch: Schiffbruch mit Tiger, erhielt Martel während seiner Gastprofessur in Berlin den Booker Prize.15 Sogar der japanische Nobelpreisträger Kenzaburô Ôe gab nicht etwa eine Selbstdarstellung seines eigenen Schreibens, sondern eine Einführung in die Kulturgeschichte seines Landes. Er beschrieb Japans Weg der Modernisierung, die Katastrophe des Weltkrieges, die Kriegsverbrechen in China und die Kapitulation des Kaisers, dessen Stimme 1945 zum ersten Mal im Radio zu hören war, das Verhältnis seiner Landsleute zur Kernenergie und das Fehlen einer ›68er‹-Rebellion.
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Inwiefern bringen Autoren aber nicht nur eigene Themen, sondern auch neue Unterrichtsformen in die akademische Lehre ein? Unterrichten sie Literatur anders, als gewöhnliche Professoren es tun? Nicht allein was, sondern auch wie kann man von Schriftstellern lernen? Die bisherigen Friedrich Dürrenmatt Gastprofessoren in Bern verbanden philologische Lektüren nicht nur mit theoretischer Reflexion, sondern auch mit experimentellen Aktivitäten. So unternahm David Wagner in seinem Seminar zur literarischen Psychogeografie praktische Erkundungen vor Ort. Seine Ausgangsfrage lautete: Wie kann man sich in Bern verlaufen? Das heißt: Wie kann man das Vertraute fremd machen? Mit welchen Techniken der Schriftsteller und Kulturtheoretiker kann man die eigene Stadt neu sehen lernen? Nach der Lektüre von Walter Benjamin und Franz Hessel (zum ›Flaneur‹), Robert Walser (Der Spaziergang) und anderen Klassikern der ›Promenadologie‹ begab sich Wagners Seminar auf situationistische Spaziergänge – entlang
15 Das Buch wurde 2012 von Ang Lee verfilmt.
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von Bahnlinien oder die Richtung an Kreuzungen per Würfelwurf wählend. Auch Referate wurden ambulant gehalten, etwa nach einem ›VertikalSpaziergang‹, der mit jedem Schritt den Blick auf die Stadt veränderte. Joanna Bator las mit ihren Studenten nicht nur theoretische und literarische Texte über das ›Unheimliche‹ (Sigmund Freud) und über ›Heterotopien‹ (Michel Foucault), sondern sie machte sich auch auf die Suche nach ›Nicht-Orten‹ (Marc Augé) in der Umgebung, in Berner Vororten, in der lokalen Subkultur. Und sie lud eine Künstlerin in ihren Kurs ein, Pola Dwurnik, die das Thema visuell umsetzte. Auch mit empirischen und experimentellen Formen des Literaturunterrichts wurden zuvor bereits in Berlin Erfahrungen gemacht. 16 Der ungarische Schriftsteller László Krasznahorkai z.B. führte dort gemeinsam mit seinen Studierenden in jeder Seminarsitzung ein Telefoninterview mit einem internationalen Künstler – mit Sjón, Forrest Gander, Michael Krüger, George Szirtes, Yang Lian, Ko Un und Gábor Bachman. Ein Jahrzehnt später konnte sich Juan Gabriel Vásquez in Bern mit seinem spanischen Kollegen Javier Cercas über die Kunst des Romans per Skype unterhalten. Feridun Zaimoglu (Kanak Sprak, 1995) machte seine Gastprofessur zu einer literarischen Talkshow. Er wählte das Format einer Gesprächsreihe, um wöchentlich mit seinen Gästen aus Journalismus, Kunst und Politik über Filme und Texte, insbesondere von Migranten, zu diskutieren – z.B. mit Maxim Biller, Neco Çelik oder Juan Moreno. Von den 35 Autoren, die bis zum Sommer 2016 als Samuel FischerGastprofessoren in Berlin gelehrt haben, entschied sich nur einer für einen im engeren Sinn schreibdidaktischen Ansatz: Etgar Keret aus Israel warf jedoch gerade in seinem Kurs über Formen des Erzählens subtil kulturvergleichende und erinnerungspolitische Fragen auf, welche die Schoah ebenso berührten wie den Nahostkonflikt.17
16 Vgl. Oliver Lubrich: »Amseln und Luftangriffe«, in: ders./Balmes, Berlin Hüttenweg (2006), S. 259-271. 17 Vgl. Oliver Lubrich: »Rewind, Fast Forward – The Samuel Fischer GuestProfessorship for Literature«, in: Etgar Keret/Oliver Lubrich (Hg.), auto reverse. young narrative, Berlin: Edition AVL 2005, S. 81-84.
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S OLLTE MAN L ITERATUR STUDIEREN , OHNE EINEM S CHRIFTSTELLER ZU BEGEGNEN ?
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Seit Roland Barthes den »Tod des Autors« proklamierte (1967), 18 ist der lebende Autor eine literaturwissenschaftliche Provokation. Um einen Text zu verstehen, müssen wir nicht mit dessen Verfasser vertraut sein, sondern wir verlassen uns als Leser auf unsere philologische Kompetenz. In einer Autoren-Gastprofessur muss jedoch nicht die Literatur der Gäste im Mittelpunkt stehen, sondern es geht um deren Perspektiven auf Literatur tout court. Vermittelt wird kein Biografismus als Zugang zum Werk, sondern die Erfahrung mit literarischer Produktion, dem Literaturbetrieb und der Öffentlichkeit – und vor allem: die Analyse von Texten aus der Sicht von Autoren. In Seminaren, Workshops, Projekten und Sprechstunden haben die Studenten die Gelegenheit, Autoren als Lehrer, Fachleute und Gesprächspartner zu erleben – und zwar direkt, inoffiziell und nicht öffentlich, diesseits von Lesungen, Podiumsdiskussionen und medialer Berichterstattung. Die Lehrveranstaltungen können nachhaltige Ergebnisse hervorbringen, an denen die Studierenden beteiligt sind. So entstand im Seminar von Keret eine Sammlung von Kurzgeschichten, auto reverse;19 die Gesprächsreihe mit Zaimoglu wurde aufgezeichnet, transkribiert und herausgegeben, Literature to go;20 ein Kurs mit Daniel Kehlmann und Adam Thirlwell über kollektives Schreiben mündete in ein ebensolches Experiment, The Book of Zinik.21 Wagners Psychogeografie der Schweizer ›Bundesstadt‹ entwickelte sich zu einem Bernbuch mit 40 Miniaturen, Zeichnungen, einem Stadtplan und einem Glossar.22 Und auch in den Werken der Autoren selbst können die Gastprofessuren literarische Folgen haben. Der Unterricht wirkt auf diese Weise zurück
18 Roland Barthes: »La mort de l’auteur«, in: ders., Œuvres complètes, hg. von Éric Marty, Bd. 2, Paris: Seuil 2002, S. 491-495. 19 Vgl. Keret/Lubrich: auto reverse (2005). 20 Vgl. Feridun Zaimoglu: Literature to go, Berlin: Edition AVL 2008. 21 Vgl. Daniel Kehlmann/Adam Thirlwell (Hg.): The Book of Zinik. A Collective Experiment, Berlin: Edition AVL 2011. 22 Vgl. David Wagner et al. (Hg.): Bernbuch, ill. von Martina Frnka, Berlin: Verbrecher Verlag 2015.
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in die Literatur. Im Roman Tagame (2005) beschreibt Ôe den Aufenthalt eines japanischen Gastwissenschaftlers in Berlin.23 Mudimbe publizierte seine Carnets de Berlin (1999/2006),24 in denen er Beobachtungen an der Universität festhielt. Und er dokumentiert seine Spurensuche in der Stadt, am Schauplatz der Kongokonferenz. Denn er folgte in Berlin den Spuren seiner eigenen, der afrikanischen Geschichte. Der Dichter begab sich bewusst an den Tatort. Wo sich einst Bismarcks Reichskanzlei befunden hat, in der Wilhelmstraße, unweit von Albert Speers späterem Neubau für Adolf Hitler, wo die Kolonialmächte einen Kontinent unter sich aufteilten, suchte er den »Geist« von 1884/85.25 Juan Gabriel Vásquez entwickelte und erprobte in seiner Berner Lehrveranstaltung das Konzept einer Theorie des Romans, »The Art of the Novel«, die anschließend in Buchform erschien.26 Die Anthologie Berlin Hüttenweg versammelt Berlin-Texte der ersten 13 Samuel Fischer-Gastprofessoren,27 darunter Vladimir Sorokin (im Gespräch mit Durs Grünbein)28 und sein Landsmann Wladimir Kaminer, der als Student an Sorokins Kurs zum Moskauer Konzeptualismus teilgenommen hatte.29 In einem Gedicht überblendet der Lyriker Robert Hass das
23 Vgl. Kenzaburô Ôe: Tagame. Berlin – Tokyo, übers. von Nora Bierich, Frankfurt a.M.: Fischer 2005, v.a. S. 33-44, 61-64. 24 V.Y. Mudimbe: Cheminements. Carnets de Berlin (Avril-Juin 1999), Quebec: Humanitas 2006. 25 Oliver Lubrich: »Der Hüttenweg in der Weltliteratur – die Weltliteratur im Hüttenweg: Die Samuel Fischer-Gastprofessur«, in: Irene Albers (Hg.), Nach Szondi. Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Freien Universität Berlin 1965-2015, Berlin: Kadmos 2016, S. 254-255, hier S. 251. 26 Juan Gabriel Vásquez: Viajes con un mapa en blanco, Barcelona/Bogotá: Alfaguara 2017. 27 Vgl. Lubrich/Balmes: Berlin Hüttenweg (2006). 28 Vgl. Vladimir Sorokin: »13 Fragen an Vladimir Sorokin/13 Antworten an Durs Grünbein«, übers. von Barbara Lehmann, in: Lubrich/Balmes, Berlin Hüttenweg (2006), S. 7-16. 29 Vgl. Wladimir Kaminer: »Homer«, in: Lubrich/Balmes, Berlin Hüttenweg (2006), S. 243-248.
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Idyll singender Amseln auf dem Dahlemer Campus mit Erinnerungen an Luftangriffe und Völkermord.30
V ON W EIMAR NACH B OLOGNA , VON B URMA NACH B ERN Die Angebote der Samuel Fischer-Gastprofessur und der Friedrich Dürrenmatt Gastprofessur in den Hauptstädten Deutschlands und der Schweiz bieten nicht zuletzt einen Freiraum in einem Studium, das seit der BolognaReform verschult, formalisiert, bürokratisiert wurde, immer stärker ausgerichtet auf den Erwerb von ›Punkten‹ anstelle von Fragen und Fähigkeiten. Aber die Folgen der Bologna-Reform machen sich auch hier bemerkbar. Denn während die Seminare der Gastautoren regulär ›kreditiert‹ werden und in den relevanten Studiengängen ›anrechenbar‹ sind, werden zusätzliche Angebote wie Lesungen, Diskussionen oder Retrospektiven zwar vom außeruniversitären Publikum rege angenommen, ausgerechnet von Studierenden selbst jedoch kaum mehr besucht, da sie außerhalb der Logik des Punktesystems stattfinden. Auch Weltliteratur an der Universität hat ihre administrativen Bedingungen. Der Weg von Weimar nach Bologna ist nicht unbedingt ein Fortschritt. Der Weg von Burma nach Bern indes kann ein faszinierender Umweg sein. Neben ihrem Seminar als Friedrich Dürrenmatt Gastprofessorin hielt Wendy Law-Yone eine Reihe autobiografischer Vorträge unter ebendiesem Titel: From Burma to Berne. Ihr Vater, Edward Law-Yone, war Verleger der wichtigsten burmesischen Zeitung in englischer Sprache, The Nation. Nach dem Militärputsch von 1962 wurde er verhaftet, seiner Tochter wurde das Studium verwehrt. Da begann sie, Deutsch zu lernen. »Um mich herum herrschte das Chaos«, erinnert sich Law-Yone, aber »die deutsche Sprache gab mir Halt und Struktur.«31 In Goethes Gedichten erkannte sie ihre Sor-
30 Vgl. Robert Hass: »Bushs Krieg«, übers. von Hans Jürgen Balmes, in: Lubrich/ Balmes, Berlin Hüttenweg (2006), S. 175-179. 31 Delia Imboden: »›Dürrenmatt zu lesen war eine herrlich unbequeme Erfahrung‹«, in: Uniaktuell vom 29.09.2015, online unter: http://www.unibe.ch /aktuell/uniaktuell/das_online_magazin_der_universitaet_bern/uniaktuell_ab_20
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gen als Dissidentin in Burma, etwa im Lied des Harfenspielers aus Wilhelm Meisters theatralischer Sendung: »Wer nie sein Brot mit Tränen aß / Wer nie die kummervollen Nächte / Auf seinem Bette weinend saß / Der kennt euch nicht ihr himmlischen Mächte.«32 In der Bibliothek des GoetheInstituts von Rangun, das unter der Diktatur geschlossen wurde, fand sie, ausgerechnet, Dürrenmatt. Mit einem Aufsatz über den Besuch der alten Dame gelang ihr die Aufnahme zum Studium in den USA. Von dort zog sie nach England und kam schließlich nach Bern: Weltliteratur als Lebensweg. Die Wege der Weltliteratur, wenn man ihren Begriff ernst nimmt, sind so wendungsreich, dass sie kaum geregelt im Programm eines stehenden Studiengangs abgedeckt werden können, dafür viel eher anarchisch – durch ihre Autoren selbst.
15/rubriken/personen/duerrenmatt_zu_lesen_war_eine_herrlich_unbequeme_er fahrung/index_ger.html (Stand: 19.01.2019). 32 Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters theatralische Sendung. Wilhelm Meisters Lehrjahre. Unterhaltungen Deutscher Ausgewanderten, in: ders., Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche, Abt. 1, Bd. 9, hg. von Wilhelm Voßkamp und Herbert Jaumann, Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag 1992, S. 225.
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L ITERATUR Auerbach, Erich: »Philologie der Weltliteratur«, in: Walter Muschg/Emil Staiger (Hg.), Weltliteratur. Festgabe für Fritz Strich zum 70. Geburtstag, Bern: Francke 1952, S. 39-50. Barthes, Roland: »La mort de l’auteur«, in: ders., Œuvres complètes, hg. von Éric Marty, Bd. 2, Paris: Seuil 2002, S. 491-495. Dalembert, Louis-Philippe: Vodou! Un tambour pour les anges, Paris: Autrement 2003. Eckermann, Johann Peter: »Gespräch mit Goethe, Mittwoch den 31. Januar 1827«, in: Johann Wolfgang Goethe, Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche, Abt. 2, Bd. 12, hg. von Christoph Michel, Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag 1999, S. 223-228. Friedrich Dürrenmatt Gastprofessur für Weltliteratur, online unter: http:// www.wbkolleg.unibe.ch/ueber_uns/friedrich_duerrenmatt_gastprofessur/ index_ger.html (Stand: 19.01.2019). Goethe, Johann Wolfgang: Wilhelm Meisters theatralische Sendung. Wilhelm Meisters Lehrjahre. Unterhaltungen Deutscher Ausgewanderten, in: ders., Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche, Abt. 1, Bd. 9, hg. von Wilhelm Voßkamp und Herbert Jaumann, Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag 1992. Hass, Robert: »Bushs Krieg«, übers. von Hans Jürgen Balmes, in: Lubrich/Balmes, Berlin Hüttenweg (2006), S. 175-179. Imboden, Delia: »›Dürrenmatt zu lesen war eine herrlich unbequeme Erfahrung‹«, in: Uniaktuell vom 29.09.2015, online unter: http://www.unibe. ch/aktuell/uniaktuell/das_online_magazin_der_universitaet_bern/uniakt uell_ab_2015/rubriken/personen/duerrenmatt_zu_lesen_war_eine_herrli ch_unbequeme_erfahrung/index_ger.html (Stand: 19.01.2019). Kaminer, Wladimir: »Homer«, in: Lubrich/Balmes, Berlin Hüttenweg (2006), S. 243-248. Kehlmann, Daniel/Thirlwell, Adam (Hg.): The Book of Zinik. A Collective Experiment, Berlin: Edition AVL 2011. Keret, Etgar/Lubrich, Oliver (Hg.): auto reverse. young narrative, Berlin: Edition AVL 2005. Lubrich, Oliver: »Amseln und Luftangriffe«, in: ders./Balmes, Berlin Hüttenweg (2006), S. 259-271.
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—: »Comparative Literature – in, from and beyond Germany«, in: Comparative Critical Studies 3/1-2 (2006), S. 47-67. —: »Comparative Literature in German«, in: Steven Tötösy de Zepetnek/ Tutun Mukherjee (Hg.), Companion to Comparative Literature, World Literatures, and Comparative Cultural Studies, Neu-Delhi/Bangalore: Cambridge University Press India/Foundation Books 2013, S. 269-283. —: »Das Dirndl als Text. Seit es die Samuel-Fischer-Gastprofessur an der FU gibt, geschehen rund um die Literatur aufregende Dinge«, in: Der Tagesspiegel vom 15.10.2002, S. B5. —: »Der Hüttenweg in der Weltliteratur – die Weltliteratur im Hüttenweg: Die Samuel Fischer-Gastprofessur«, in: Irene Albers (Hg.), Nach Szondi. Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Freien Universität Berlin 1965-2015, Berlin: Kadmos 2016, S. 254-255. —: »Rewind, Fast Forward – The Samuel Fischer Guest-Professorship for Literature«, in: Keret/ders., auto reverse (2005), S. 81-84. —: »Schund und Literatur. Scott Bradfield ist neuer Samuel-Fischer-Gastprofessor an der Freien Universität Berlin«, in: FU Nachrichten vom 15.11.2000, S. 1. —: »Suite Berlin«, in: Humboldt 146 (2007), S. 83-84. —/Balmes, Hans Jürgen (Hg.): Berlin Hüttenweg. Stadt erzählen, Berlin: Matthes & Seitz 2006. Mattenklott, Gert: »Weltliteratur aus Berlin?«, in: Lubrich/Balmes, Berlin Hüttenweg (2006), S. 249-257. Moretti, Franco: »Conjectures on World Literature«, in: ders., Distant Reading, London/New York: Verso 2013, S. 43-62. Mudimbe, V.Y.: Cheminements. Carnets de Berlin (Avril-Juin 1999), Quebec: Humanitas 2006. Ôe, Kenzaburô: Tagame. Berlin – Tokyo, übers. von Nora Bierich, Frankfurt a.M.: Fischer 2005. Samuel Fischer-Gastprofessur für Literatur, online unter: http://www. geisteswissenschaften.fu-berlin.de/we03/institut/gastprofessuren/samuel _fischer/ (Stand: 19.01.2019). Sorokin, Vladimir: »13 Fragen an Vladimir Sorokin/13 Antworten an Durs Grünbein«, übers. von Barbara Lehmann, in: Lubrich/Balmes, Berlin Hüttenweg (2006), S. 7-16. Vásquez, Juan Gabriel: Viajes con un mapa en blanco, Barcelona/Bogotá: Alfaguara 2017.
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»Voodoo-Seminar für Berner Studenten«, in: Berner Zeitung vom 27.01.2015, online unter: http://www.bernerzeitung.ch/region/kantonbern/VoodooSeminar-fuer-Berner-Studenten/story/10412014 (Stand: 19.01.2019). Wagner, David: Leben, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2013. — et al. (Hg.): Bernbuch, ill. von Martina Frnka, Berlin: Verbrecher Verlag 2015. Zaimoglu, Feridun: Literature to go, Berlin: Edition AVL 2008.
F ILME HYÈNES (SEN 1992, R: Djibril Diop Mambéty).
»Beide Begriffe, Gegenwartsliteratur und Weltliteratur, können das, was sie zu sein vorgeben, nicht einlösen.« Ein schriftliches Interview mit Senthuran Varatharajah über akzentfreies Deutsch, horizontale und vertikale Sprachen und produktive Brüche C HARIS G OER
Charis Goer: Du hast im Wintersemester 2014/15 an der Universität Bielefeld aus Deinem zu der Zeit noch unveröffentlichten, schon beim Klagenfurter Bachmann-Wettbewerb 2014 mit dem 3sat-Preis ausgezeichneten Debütroman Vor der Zunahme der Zeichen gelesen, für den Du seitdem noch zahlreiche weitere Preise, darunter auch 2017 den Förderpreis zum Adelbert-von-Chamisso-Preis, erhalten hast. Das Kolloquium, in dessen Rahmen Deine Lesung stattfand, war dem Thema ›Gegenwartsliteratur – Weltliteratur‹ gewidmet: Was verbindest Du mit diesen beiden Begriffen? Und wie hast Du Dich selbst darin wiedergefunden? Senthuran Varatharajah: Beide Begriffe, Gegenwartsliteratur und Weltliteratur, können das, was sie zu sein vorgeben, nicht einlösen. Die Gütekriterien, die sie definieren – Gegenwartsliteratur: Zeitgenössigkeit und Zeitpunkt der Publikation; Weltliteratur: internationale Verbreitung und Bedeutung –, halten, wenn sie ernst genommen werden wollen, einer kritischen Befragung nicht stand. In dieses Land, und auch in das, was dieses Land einmal
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gewesen war, sind immer Menschen gekommen, aus den unterschiedlichsten Gründen, und dennoch wurden erst im Frühjahr 2016 – zum ersten Mal in der Geschichte der deutschsprachigen Literatur – Bücher einer signifikanten Anzahl von Autorinnen und Autoren, die, auf direkte oder indirekte Art, von der eigenen Flucht- oder Migrationsgeschichte erzählen, bei großen Publikumsverlagen veröffentlicht; ich spreche von Shida Bazyars Nachts ist es leise in Teheran (Kiepenheuer & Witsch), Rasha Khayats Weil wir längst woanders sind (DuMont), von Abbas Khiders Ohrfeige (Hanser), Pierre Jarawans Am Ende bleiben die Zedern (Berlin Verlag) und von meinem Roman (S. Fischer). Das war ein Novum. Obwohl Flucht- und Migrationsgeschichten von der Geschichte dieses Landes nicht zu trennen sind, sind sie bisher nur vereinzelt von Verlagen dieser Größe und Reputation publiziert worden; Romane, die bis dahin erschienen und, in der öffentlichen Wahrnehmung, unter die Begriffe ›Flucht‹ und ›Migration‹ subsumiert worden waren, wurden vorwiegend von weißen Autorinnen und Autoren geschrieben, die von kontinentalen Flucht- und Migrationserfahrungen sprechen, vor allem aus Osteuropa. Das gilt nicht für die Bücher aus dem Frühjahr 2016. Sie erzählen von transkontinentalen Bewegungen, und auch von ihren Folgen. Auch das war ein Novum. Die Literaturkritik sprach von diesen Romanen angesichts der Menschen, die vor allem 2015 hierher fliehen mussten, von ›Büchern der Stunde‹. Es wurde von ›Aktualität‹ gesprochen, als sei sie ein literarisches Kriterium. Viele dieser Texte aber sind genau das nicht: ›aktuell‹ – die Fluchtgeschichten, die in Vor der Zunahme der Zeichen erzählt werden, liegen fast 20 bzw. 30 Jahre zurück. Die Fragen bleiben: Wessen Gegenwart hat Gegenwartsliteratur bisher beschrieben? Wessen Gegenwart beschreibt Gegenwartsliteratur – und was führt dazu, dass diese Gegenwart erzählt werden kann, erzählt wird und als Gegenwart einer größeren Ordnung: eines Raumes, einer Sprache, einer Zeit erscheint? Gegenwartsliteratur hat Gegenwart – in der ganzen sinnlichen und politischen Fülle dieses Begriffs – weder reflektieren noch repräsentieren können; das kann sie nicht; das muss sie nicht – das allerdings suggeriert dieser Begriff: Das wird von ihr erwartet. Und an diesem Anspruch wird sie gemessen. Für den Begriff der Weltliteratur gilt dasselbe – nur in einem globalen Maßstab.
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Charis Goer: Wo liegen Deine eigenen Interessen in diesem Gebiet der Gegenwarts-/Weltliteratur: Welche Literatur bildet Deinen Referenzrahmen als Autor und als Leser? Welche Autorinnen und Autoren liest Du besonders gerne, welche findest Du besonders gut oder wichtig und warum? Beobachtest Du aktuell bestimmte Entwicklungen und Tendenzen? Senthuran Varatharajah: Meine Sprache – die literarische, aber auch die gesprochene – ebenso wie mein Verständnis von ihr – ihre Bedeutung, Bewegung und Beschaffenheit betreffend – sind vor allem von der Bibel und der Philosophie geprägt und geformt worden. In der Literatur gibt es niemanden, zu dem ich mich in diesem Maße bekennen würde – oder könnte. Das gilt nicht für Vor der Zunahme der Zeichen: Kurz bevor ich diesen Roman zu schreiben begann, las ich zufällig drei Bücher, die, rückblickend, gewissermaßen, dessen Paten geworden sind: Das obszöne Werk von Georges Bataille, Arme Leute von Fjodor Dostojewski und Hiroshima, mon Amour von Marguerite Duras. Dennoch: Der Einfluss von Schriftstellerinnen und Schriftstellern auf meine Arbeit ist, soweit ich das sagen kann, gering. Erzählen lernte ich von der Philosophie. Auf Platon, Georg Wilhelm Friedrich Hegel und Sigmund Freud komme ich seit Beginn meines Studiums immer wieder zurück. Sie könnten mein Referenzrahmen sein – als Autor und als Leser. Charis Goer: Im Kontext der Debatten über die kulturelle Dimension der Globalisierung hat der Begriff der Weltliteratur seit einiger Zeit Konjunktur – Sigrid Löffler schreibt dazu in Anlehnung an Salman Rushdie: »Die neue Weltliteratur ist eine Literatur der Nicht-Muttersprachlichkeit. Die meisten ihrer Autoren sind Sprachwechsler. [...] Diese Autoren schreiben eine Literatur mit Akzent.«1 Diese Aussage trifft auf Dich biografisch zu – Du bist im Alter von vier Monaten mit Deinen Eltern aus Sri Lanka nach Deutschland geflohen –; sie trifft auch – wenn man die Formulierung von der ›Literatur mit Akzent‹ weiter gefasst verstehen will – thematisch auf Deinen Roman zu, in dem es um Erfahrungen von Flucht und Vertreibung, Migration und Asyl, Fremdheit und Distanz geht; sie trifft jedoch gerade nicht auf die Sprache Deines Buchs zu, die keinen ›Akzent‹ hat, also nicht etwa von
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Sigrid Löffler: Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler, München: Beck 2014, S. 15.
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einem Pidgin- oder Kreol-Stil gekennzeichnet ist, sondern vielmehr höchst elaboriert ist und sich souverän zwischen verschiedenen Registern und Sprachen bewegt. Hierauf reflektierend schreibt Deine äußerst eloquente Figur Senthil: »nur gebrochenes deutsch wird uns zugestanden. / es liegt an unseren namen. // es liegt an meiner haut.«2 Entspricht dies auch Deiner eigenen Erfahrung als nicht-weißer, deutschschreibender Autor? In einem früheren Gespräch erwähntest Du entsprechende Irritationen, die Dein Roman durch seine Sprache gelegentlich hervorgerufen hat. War dies eine von Dir antizipierte, oder sogar bewusst provozierte Reaktion? Senthuran Varatharajah: Etwas – einen Text, eine Sprache, einen Menschen – anhand dessen, was als ›Muttersprache‹ bezeichnet wird, zu beurteilen, ist reaktionär. Dieser Begriff scheint nicht nur im literarischen Diskurs die Stelle eingenommen zu haben, den Begriffe wie ›Volk‹ und ›Nation‹ vorher besetzt hatten. Das ist eine Vermutung. Sie beruht auch auf den Erfahrungen seit der Veröffentlichung des Romans, seit März 2016. Die Gespräche, die ich während Lesungen und Interviews in dieser Zeit geführt habe, wurden, explizit und implizit, von den Begriffen ›Muttersprache‹ und ›Heimat‹ bestimmt. Es liegt in der Natur der Sache: Dieser Roman bietet Anlass dazu, darüber zu sprechen, auch wenn er in meiner Vorstellung nicht von Flucht und Asyl, sondern von Sprache und Tod, diesem ›Wesensverhältnis‹, das noch ›ungedacht‹ sei, wie Martin Heidegger sagt, erzählt. Wenn ›Muttersprache‹ als ›Sprache der Mutter‹ definiert wird – das ist die Antwort, die Journalistinnen und Journalisten ebenso wie Zuhörerinnen und Zuhörer mir geben, wenn ich mich, auf die Frage hin, was meine ›Muttersprache‹ sei, nach der Bedeutung dieses Wortes erkundige –, werden Blut (Volk) und Boden (Nation) durch Muttermilch ersetzt. Der, der spricht, bleibt gebunden, und durch diese Bindung – an den Körper der Mutter, in dem beides, Blut und Boden, identisch geworden sind: als erster Ort, den ein Mensch bewohnt, als Ort aus Fleisch – verpflichtet, ihr Stellvertreter zu sein. Alles, was er sagt, empfängt er von dort. Alles, was gesagt wird, erhält seine Bedeutung von dieser Herkunft. In Zeitungsartikeln werde ich gewöhnlich als ›tamilischer‹ Schriftsteller vorgestellt – selten als ›deutschtamilischer‹ oder ›deutschsprachiger‹.
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Senthuran Varatharajah: Vor der Zunahme der Zeichen, Frankfurt a.M.: Fischer 2016, S. 191.
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Wenn ich gefragt werde, was meine Muttersprache sei, ist Sprachlosigkeit die akkurateste Antwort. Deutsch ist die Sprache, in der ich das, was ich sagen möchte, angemessen sagen kann. Dennoch scheinen diese Sprache und mein Körper sich zu widersprechen: Bis heute erhalte ich Anfragen von Journalistinnen und Journalisten auf Englisch – obwohl sie den Roman gelesen haben und meine Kurzbiografie kennen. Der Akzent, von dem Löffler spricht, ist ein Kainsmal. Fließendes Deutsch und dunkle Haut scheinen sich in dieser Vorstellung – unbewusst – auszuschließen. Es hat gedauert, bis ich erkannt habe, dass ich, wenn ich mich nicht täusche, der Erste in Deutschland aufgewachsene Autor mit dunkler Haut bin, der das, was manche ›anspruchsvolle Literatur‹ nennen, verfasst und von einem großen Publikumsverlag verlegt wird. Die Irritationen, die die Sprache des Romans provoziert, könnten auch damit zusammenhängen; sie wurden von mir weder beabsichtigt noch erwartet. Ich führe sie auf zwei mögliche Ursachen zurück; sie können sich überschneiden: Wir neigen dazu, unsere partikularen Erfahrungen zu universalisieren und Erfahrungen, die nicht mit diesen korrespondieren, infrage zu stellen – oder für ungültig zu erklären. Senthil und Valmira schreiben auf Facebook miteinander; sie chatten nicht. ›Chat‹ wird nicht nur das Medium, in dem ein digitales Gespräch in Echtzeit geführt werden kann, genannt, sondern auch eine, für dieses Format übliche, Diktion, für die u.a. die Verkürzung von Syntax oder die Missachtung von Orthografie und Interpunktion charakteristisch sind. Wenn eine Leserin oder ein Leser diesen Messenger zum Chatten – also in einem konventionellen Sinn – verwendet, dann mag sie oder er geneigt sein, jedes andere Sprechen, das dort stattfindet, als ›unrealistisch‹ oder ›nicht authentisch‹ zu empfinden. Das, die angenommene Widersprüchlichkeit von Sprache und Ort des Sprechens, könnte eine Ursache sein. Die andere Unvereinbarkeit, die angenommen wird, ist die von Sprache und Personal. Senthil und Valmiras Sprache – wie etwas, aber auch was gesagt wird – verweist auf ihre Bildung. Und Menschen, die Flucht (oder Migration) erfahren haben, wird nur eine Sprache zugestanden: eine, für die beispielsweise die Verkürzung von Syntax oder die Missachtung von Orthografie und Interpunktion charakteristisch sind. Charis Goer: Daran anschließend: Empfindest Du das Deutsche als eine Sprache, die noch heute (oder in Zeiten erstarkenden Rechtspopulismus heute erst recht wieder) besonders stark mit der Idee einer ethnisch homo-
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genen nationalen Identität verbunden ist – z.B. im Unterschied zum Englischen oder Spanischen, zu deren Selbstverständnis als Weltsprache es gehört, von Menschen unterschiedlichster Herkünfte gesprochen zu werden (was natürlich nicht heißt, dass nicht auch dort dennoch über die Sprache Distinktion erzeugt wird, ganz abgesehen von den auch nicht unproblematischen historischen Gründen und politischen Implikationen dieser weiten Verbreitung)? Senthuran Varatharajah: Du fragst nach meinem ›Empfinden‹. Ich werde also keine Antwort geben, die historisch präzise das nachweisen würde: die enge Verbindung der deutschen Sprache mit einer bestimmten Identität. Ich empfinde sie anders; ich habe sie anders erfahren. Deutsch lernte ich im Kindergarten sprechen, zur deutschen Sprache aber brachte mich die Bibel, die ich in der Neuen-Welt-Übersetzung der Heiligen Schrift, der Übersetzung der Zeugen Jehovas, bis zur Pubertät täglich lesen musste und las. Mit ihr lernte ich beides: lesen und schreiben. Mein Vater konvertierte, als wir im Asylbewerberheim Coburg untergebracht waren. Bis zu meinem Austritt war auch ich Jehovas Zeuge. Ein Glaubensbruder aus unserer Versammlung brachte mir im Sommer vor meiner Einschulung Lesen und Schreiben bei. Die ersten Sätze, die ich lesen konnte, waren ein Vers, 1. Korinther 13,12: »Denn jetzt sehen wir mit Hilfe eines metallenen Spiegels in verschwommenen Umrissen, dann aber wird es von Angesicht zu Angesicht sein. Jetzt erkenne ich teilweise, dann aber werde ich genau erkennen, so wie ich genau erkannt worden bin.« Das erste Wort, das ich schreiben konnte, war nicht mein Name, sondern der Name Gottes. Ich bin dreisprachig aufgewachsen: Tamil und Englisch – Sri Lanka war fast 150 Jahre lang britische Kronkolonie – sprach ich mit meinen Eltern, Deutsch später mit meinen Brüdern und Freunden. Tamil und Englisch lernte ich als horizontale Sprachen – als Sprachen der Kommunikation, die an jemanden adressiert werden konnten, der körperlich anwesend war, im selben Raum und zur selben Zeit. Diese horizontale Linie verlief von Mund zu Ohr und Ohr zu Mund: von Angesicht zu Angesicht. Deutsch besaß eine andere Richtung. Diese Sprache verlief vertikal, von mir zu Jehova und – wie ich glaubte – auch von Jehova zu mir. In ihr sprach ich anders. In ihr wurde ich anders angesprochen: Ich glaubte, genau zu erkennen, so wie ich auch glaubte, erkannt worden zu sein. Deutsch war die Sprache Gottes, weil ich in ihr Gottes Wort erfahren hatte. Deutsch war die Sprache, die in unse-
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rer Gemeinde gesprochen wurde und in der ich glaubte, gemeint worden zu sein, von jemandem, der körperlos anwesend war, in jedem Raum, zu jeder Zeit. In dieser Sprache ist Jehova mir begegnet. Diese bestimmte Intimität und Dignität – es ist die Stille des Gebets – besitzt die deutsche Sprache immer noch für mich. Als ich Vor der Zunahme der Zeichen geschrieben habe, lag die Bibel, in der Elberfelder Übersetzung, neben meinem MacBook. Wenn ich ins Stocken geriet, bis zum Stillstand, wenn meine Sprache sich nicht mehr bewegen konnte, ich in ihr also nicht mehr vorankam, blätterte ich in ihr, und ich las das, was ich zufällig aufgeschlagen hatte, einen Psalm, den Römerbrief, die Apostelgeschichte, bis sich die Sprache von sich aus wieder bewegte und ich von ihr und durch sie – durch sie hindurch – weitergehen konnte: vertikal, horizontal, diagonal – in jede Richtung. Nur im Deutschen ist das für mich möglich. So empfinde ich es. So empfinde ich diese Sprache. Charis Goer: Deine Figur Valmira schreibt: »Mein Vater sagt, dass nichts in eine andere Sprache übersetzt werden könne, kein Ausdruck besitzt eine Entsprechung, jedes Wort verliert sich und geht verloren, [...].« 3 Anders als Valmira, die, dem generell sprach- und erkenntnisskeptischen Tenor Deines Romans entsprechend, den mit der Übersetzung einhergehenden Verlust akzentuiert, sieht Johann Wolfgang Goethe in seiner Übersetzungstheorie, die in engem Zusammenhang mit seiner Konzeption von Weltliteratur steht, gerade die Übersetzung, die sich der prinzipiellen Differenz bewusst ist und diese auch zum Ausdruck bringt, als Chance auf Überschreitung des eigenen kulturellen Horizonts.4 Wie stehst Du zu dieser Überlegung? Senthuran Varatharajah: Die Unmöglichkeit der Übersetzung ist ihre Möglichkeit. Diese Paradoxie, die nicht nur für das Übersetzen, sondern für jedes Sprechen gilt, ist nicht das, was diese Passage sagen will. Sie muss aus der Position und Situation, aus der heraus sie formuliert wurde, verstanden werden; nur vor diesem Hintergrund ergibt sie diesen Sinn. Wenn Valmiras
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Varatharajah: Vor der Zunahme der Zeichen, S. 89.
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Vgl. Johann Wolfgang von Goethe: »Noten und Abhandlungen zu besserem Verständnis des West-östlichen Divans«, in: ders.: Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bdn., hg. v. Erich Trunz, Bd. 2, 15. Aufl., München: Beck1994, S. 126267, darin »Übersetzungen«, S. 255-258.
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Vater – und es ist nicht gesagt worden, in welcher Sprache er diesen Satz sagte, ob auf Deutsch oder Albanisch, d.h., ob er bereits selbst eine Übersetzung ist – vom Verlust der Wörter spricht – auch das muss nicht gesagt werden: auf welchem Weg sie verloren gehen, gegangen sind und gegangen sein werden –, dann ist damit auch der Verlust von dem, was zurückgelassen wird und zurückgelassen werden musste, gemeint, der Verlust, den Flucht bedeutet und immer auch bedeuten wird, in diesem Fall: vor allem für die Eltern. Von diesem Verlust kann, streng genommen, nicht erzählt werden. Wenn er zur Sprache kommt, dann nur in dieser Form, als Andeutung, und als das, was wir vielleicht Trauer nennen. Es ist keine Frage der Technik: Diese Wörter verlieren sich anders als die, die im Vorgang der Übersetzung notwendigerweise verloren gehen. Diese Wörter gehen in der Übersetzung verloren, weil bereits vor der Übersetzung alles verloren war. Charis Goer: Interessiert Dich die existenzielle Fremdheit, der die beiden Figuren Deines Romans Ausdruck verleihen – auch in der Gestaltung ihrer Beziehung zueinander – in erster Linie als philosophisches, ästhetisches und poetisches Thema, oder war Dir auch die damit verbundene politische Dimension wichtig (Fragen nach Hegemonie, Empowerment, Solidarität, Partizipation etc.)? Senthuran Varatharajah: Es ging mir nicht um Fremdheit, sondern um Einsamkeit – ihre philosophische, ästhetische und poetische Darstellbarkeit und Darstellung. Beide Begriffe überschneiden sich. Fremdheit begünstigt Einsamkeit, aber die Einsamkeit Valmiras und Senthils wird nicht von ihr begründet. Beide Figuren besitzen das, was ein ›intaktes soziales Umfeld‹ genannt wird, und dennoch gab es vor diesem Gespräch weder einen Raum noch eine Zeit, um über das, was gesagt werden will, aber sich nicht sagen lässt, zu sprechen. Und auch in diesem Sprechen, aus dem der Roman besteht, bleiben sie einsam. Das ist eine der poetologischen Begründungen für die dramaturgische Entscheidung, sie immer leicht aneinander vorbei sprechen zu lassen. In diesem Aneinandervorbei aber ist eine Begegnung vielleicht möglich – in Schrift, für die Dauer von sieben Tagen. Die politischen Implikationen lassen sich aus dieser Konstellation ableiten. Sie erscheinen anders: im Umfang der Sprache, im Sinne der Sprache. Ist Sprechen möglich? Können wir – für uns, für einen anderen – sprechen?
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Gibt es eine Stimme? Und wenn es sie gibt, wie weit entfernt ist sie dann von der Sprache? Charis Goer: Die pessimistische Feststellung Senthils, »niemand wird wissen, von welchen rändern wir aus sprechen, und dass wir darüber sprechen können, ändert nichts daran«,5 liest sich wie ein Echo auf Spivaks postkolonialen Klassiker Can the Subaltern Speak?.6 Siehst Du Dein Schreiben in dieser Tradition? Sind Begriffe wie ›Subalterne‹, ›Marginalisierte‹, ›Minoritäre‹ überhaupt Begriffe, die Du für Deine Figuren verwendet wissen möchtest? Und wie siehst Du die Rolle der Literatur in diesem Zusammenhang: Ist es nicht vielleicht ihre besondere Leistung gegenüber dem politischen Diskurs, diese Sprachlosigkeit im Text ›aufzuheben‹ (oder ist das ein wenig zu ›deutsch-idealistisch‹ gedacht)? Senthuran Varatharajah: Nein, das sehe ich nicht. Diese Begriffe, aber auch diese Theorie lässt sich nicht auf die Figuren im Roman anwenden, auch wenn sie den Anschein erwecken mögen; ich identifiziere sie nicht damit. Das, was Literatur könnte, gegenüber der Selbstverständlichkeit von Kommunikation, gegenüber den Parolen und Slogans eines politischen Diskurses, aber auch gegenüber dem Jargon wissenschaftlicher Theorien, wäre, eine Sprache zu finden, die anders operiert, die sich anders bewegt: die sich dem verweigert. Ich weiß nicht, was die Rolle von Literatur ist. Aber das, was ich mit ihr verbinde, ist die Aussicht auf eine Möglichkeit, eine Sprache zu finden, die das, was eine Erfahrung sein könnte, zu sagen erlaubt, ohne auf die Zuverlässigkeit von Formeln und die Handlichkeit von Redewendungen zurückgreifen zu müssen. Das würde gerade heißen: nicht die Sprachlosigkeit aufheben, sondern die Sprachlosigkeit darstellen – sie zur Sprache bringen. Charis Goer: Die Thematik Deines Romans korrespondiert mit seiner Gestaltung als Facebook-Korrespondenz als einem Medium, in dem Intimität und Distanz in einem merkwürdigen Schwebezustand gehalten werden: die
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Varatharajah: Vor der Zunahme der Zeichen, S. 30.
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Vgl. Gayatri Chakravorty Spivak: »Can the Subaltern Speak?«, in: Cary Nelson/Lawrence Grossberg (Hg.), Marxism and the Interpretation of Culture, Chicago: University of Illinois Press 1988, S. 271-313.
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Möglichkeit psychisch-emotionaler Annäherung bei physischer Unverfügbarkeit, die Möglichkeit quasi gleichzeitigen Erlebens und Kommunizierens bei unüberbrückbarer räumlicher Entferntheit. War eines von beiden – die Geschichte oder die formale Idee – zuerst da? Senthuran Varatharajah: In Deutschland werden Form und Inhalt traditionell in Konkurrenz zueinander gesetzt, man kann sagen: gegeneinander ausgespielt. Form wird als notwendiges Vehikel des Inhalts verstanden; die Form steht in dessen Dienst, bis sie, letztlich, sobald der Zweck, der ihr zugeteilt worden ist, erfüllt wurde, unbedeutsam geworden ist. Hegel löst diese Vorstellung fast beiläufig auf, wenn er sagt, die Darstellung sei der Idee wesentlich. Im Fall von Vor der Zunahme der Zeichen heißt das: Geschichte und formale Idee waren gleichzeitig da. Ohne die Geschichte gäbe es nicht diese Form – und umgekehrt: ohne diese Form gäbe es nicht diese Geschichte. Wenn man etwas, das vorher noch nicht erzählt wurde, erzählen will, dann kann man sich nicht auf die bereits etablierten Formen des Erzählens verlassen. Wenn man etwas, das vorher nicht erzählt wurde, erzählen will, muss man Formen brechen, Geschichten brechen, Sprache brechen, um sprechen zu können.
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L ITERATUR Goethe, Johann Wolfgang von: »Noten und Abhandlungen zu besserem Verständnis des West-östlichen Divans«, in: ders.: Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bdn., hg. v. Erich Trunz, Bd. 2, 15. Aufl., München: Beck 1994, S. 126-267. Löffler, Sigrid: Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler, München: Beck 2014. Spivak, Gayatri Chakravorty: »Can the Subaltern Speak?«, in: Cary Nelson/Lawrence Grossberg (Hg.), Marxism and the Interpretation of Culture, Chicago: University of Illinois Press 1988, S. 271-313. Varatharajah, Senthuran: Vor der Zunahme der Zeichen, Frankfurt a.M.: Fischer 2016.
Literaturkritik – Gegenwartsliteratur – Weltliteratur Ein Gespräch mit Andreas Platthaus K AI K AUFFMANN , C ARLOS S POERHASE
Kai Kauffmann: Herr Platthaus, wie sehen Sie heute Ihre eigenen Rollen oder Funktionen als Literaturkritiker und – das sind ja zweierlei Dinge – als Literaturchef der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (F.A.Z.)? Andreas Platthaus: Es ist in der Tat wichtig zu unterscheiden, ob man als Literaturkritiker oder als Literaturchef – das klingt relativ scheußlich; sagen wir lieber: als Organisator von Literaturkritik – spricht, denn das sind zwei vollkommen unterschiedliche Tätigkeiten. Dass sie bei mir zusammenfallen, ist persönlich erfreulich, weil es natürlich leichter fällt, etwas zu organisieren, das man auch aus der praktischen Erfahrung heraus kennt. Aber die organisatorische Frage hat sehr wenig mit der zu tun, die man sich als Kritiker stellen muss. Die organisatorische Frage liegt in Auswahl- und natürlich auch in Qualitätskriterien von Literaturkritik, die sich aber jeweils mit dem beschäftigen, was andere Menschen als Kritiker hervorbringen, nicht als Buchautoren. Das heißt, als Organisator von Literaturkritik beschäftige ich mich mit Kritiken, und als Kritiker beschäftige ich mich mit den Büchern. Dementsprechend ist mein Blick auf die Phänomene jeweils auch ein vollkommen unterschiedlicher: Als Organisator interessiert mich weniger die unmittelbare Bewertung eines Buchs, sondern vielmehr die Frage, wie glaubwürdig das ist, was über das Buch gesagt wird. Ob die betreffende Kritik zu einem
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positiven oder einem negativen Schluss kommt, muss mir als demjenigen, der sich darüber Gedanken macht, welche Titel wir überhaupt besprechen lassen, wie die dann eingehenden Literaturrezensionen gebündelt und wie sie aufeinander abgestimmt werden, eigentlich gar nicht wichtig sein. Das ist genau das Gegenteil dessen, was ich von einem Literaturkritiker erwarte, der sich nach meiner Idealvorstellung überhaupt nicht groß mit organisatorischen Fragen belastet, sondern nur auf das schaut, was er zu bewerten hat: das literarische Werk. Ich weiß selbst, dass das eine Idealvorstellung ist, die mit der Realität nicht allzu viel zu tun hat, aber zumindest bemühe ich mich in der Rolle als Literaturkritiker, möglichst unberücksichtigt zu lassen, in welchem Kontext meine Rezension dann irgendwann erscheinen wird. Mich interessiert nur – und ich hoffe, dass ich das auch als Kriterium beim Umgang mit den Rezensionen anderer Leute gelten lassen darf –, inwieweit die Besprechung dem gerecht wird, über was gesprochen wird. Nicht in dem Sinne, dass ich als Organisator objektiv wüsste, ob es zutrifft – das jeweilige Buch habe ich im Zweifelsfall ja gar nicht gelesen –, sondern in dem Sinne, dass aus dem Text heraus Plausibilität erzeugt wird, indem mir der Eindruck einer so sorgfältigen Beschäftigung mit dem zugrundeliegenden Buch vermittelt wird, dass ich das Urteil, das dann gesprochen wird, für glaubwürdig halte. Und damit ist nun auch der sehr hässliche Begriff, den man aber nicht vermeiden kann, mit im Spiel: Urteil. Ein solches erwarte ich vor allem von einer Literaturrezension, und es ist das, was als Literaturkritiker von mir wiederum verlangt ist, wenn ich mich nur in dieser Rolle betrachte. Nennen wir es vielleicht nicht »Urteil«, sondern lieber Orientierung: Ich möchte gerne eine Einschätzung dieses Buchs erhalten, die sich dann doch gemäß dem klassischen Reich-Ranicki-Diktum zu einem »Ja« oder einem »Nein« durchringt. Weil ich glaube, dass die Literaturkritik bei der Orientierung des Publikums immer noch eine sehr wichtige Rolle spielt, gar nicht mal in dem Sinne, dass sie unbedingt Meinung machen, Bücher befördern oder behindern will. Das wäre dann doch heutzutage mit der Vielzahl an Möglichkeiten, über Bücher und Literatur zu reden, ein zu hehrer Anspruch. Aber insofern, dass Literaturkritik immer noch Hinweise gibt, inspirierend wirkt, zeigt, warum es sich lohnen könnte, sich mit Büchern zu beschäftigen, und warum man vielleicht auch seine Zeit bisweilen sparen und besser auf andere Bücher verwenden sollte. Das sind die beiden Dinge, die ich
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wichtig finde, wenn man über das Organisieren von Literaturkritik spricht und über das Schreiben von Literaturkritik. Was nun die Literatur selbst angeht, ist das eine extrem schwierige Frage, denn ich bin wiederum nicht in der Position eines Literaten. Oder so ich es gelegentlich denn doch bin, wenn ich selbst Bücher schreibe, dann mache ich mir darüber nicht allzu viele Gedanken. Aber was die Literatur als Anspruch selbstverständlich weiterhin erheben sollte, ist, sehr allgemein gesprochen, eine Art von, nennen wir es: gesellschaftlicher oder vielleicht sogar menschlicher Relevanz. Ich erwarte, dass ein Buch – und mir ist dabei völlig egal, ob es sich um Sachbücher oder Belletristik handelt – sich mit Dingen beschäftigt, die ein wenig bedeutsamer sind als etwa die Frage des morgendlichen Aufstehens. Nicht, dass man nicht darüber auch großartig erzählen könnte, der Nouveau Roman hat es vorgeführt, aber trotzdem ist es so, dass mir immer noch Fragen wichtig sind, die von Literatur erst an mich herangeführt werden. Und wenn man diesen Anspruch als Autor nicht hat oder nicht erhebt, scheint mir etwas Grundlegendes verpasst zu sein, was Literatur zu leisten hat. Das schiere Erzählen ist mir zu wenig. Ich möchte über das Erzählen hinaus im emphatischen Sinne dann doch auch eine Art von aufklärerischem Anspruch erkennen, den ich prinzipiell schätze, wenn es sich um Kunst handelt, die ich für relevant halte. Also möchte ich die auch von einem Buch vermittelt bekommen. Und das wird mir deutlich gemacht aus der Haltung eines Buchs, aus dem Stil, in dem es geschrieben ist, natürlich bisweilen auch ganz explizit aus dem, was das Buch mir erklärt. Das sind dann wieder Themen, die ich in einer Rezension ganz gerne beantwortet bekommen möchte: Wie stark ist dieser Anspruch? Ist er überhaupt da? Und wenn er da ist, wie weit trägt er? Denn natürlich kann auch der allerschönste Anspruch nicht erfüllt werden. Und jetzt haben wir noch gar nicht über den Leser gesprochen, das wäre dann die vierte Dimension, die wir hätten, wenn es um Literatur überhaupt geht. Wir müssten den Verleger eigentlich auch noch mit hineinnehmen. Aber in gewisser Weise würde ich sagen, dass der aufklärerische Impetus das ist, was ich an Literatur wichtig, ja entscheidend finde, weil ich merke, dass die Bücher, denen ich das zuspreche, bei mir eine andere Intensität von Interesse auslösen – sowohl im Reden darüber wie im Lesen oder Schreiben darüber –, als Bücher, die na ja, nennen wir es etwas hässlich: l’art pour l’art betreiben. Aber ich behaupte, dass es die ohnehin nur ganz selten gibt.
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Kai Kauffmann: Der deutschsprachige Begriff »Gegenwartsliteratur« bildete sich interessanterweise erst Ende der 1950er Jahre, Anfang der 1960er Jahre aus, und zwar hauptsächlich in äußerst kontrovers geführten Debatten über die richtige Auffassung von Dichtung und Literatur in der heutigen Zeit. Damals ging es Autoren wie Walter Jens oder Hermann Kunisch, die – im Gegensatz etwa zu Emil Staiger – den Begriff der Gegenwartsliteratur positiv verwendeten, vorrangig darum, dass die deutschsprachige Literatur wieder Anschluss an die europäische Moderne finden sollte, die zwischen 1933 und 1945 durch die Literatur-, Kunst- und Kulturpolitik der Nationalsozialisten unterdrückt worden war. Dagegen ging es ihnen weniger um die Frage, was die Literatur über ihre Zeit zu sagen habe. Inzwischen wird der Begriff aber doch fast ausschließlich im Sinne eines thematischen Gegenwarts- und Gesellschaftsbezugs verstanden. Auch in der germanistischen Literaturwissenschaft dominiert heute dieses Verständnis von Gegenwartsliteratur. Ich komme von dort aus zu einer Frage, die auf die literaturkritische Positionierung der F.A.Z. zielt. Bekanntlich hat Frank Schirrmacher nach den Ereignissen von 1989/90 den deutschen Wenderoman gefordert, der dann mit etwas Verspätung auch gekommen ist. Als ein Nachzügler ist vor zwei Jahren Lutz Seilers Kruso erschienen, wobei ich persönlich diesen Roman geradezu eskapistisch finde, Hiddensee als eine exterritoriale Idylle, die durch das Geschehen der Weltgeschichte gestört wird. In der F.A.Z. gibt es in jüngerer Zeit immer wieder Artikel, die etwas Ähnliches fordern wie: »Jetzt schreib mal den realistischen Schlüsselroman.« Vor einigen Monaten wurde der Merkel-Roman gefordert. Den englischen Thatcher-Roman gibt’s ja schon, aber den deutschen Merkel-Roman noch nicht. Warum eigentlich nicht? Wir brauchen so etwas. Vor wenigen Wochen war dann der deutsche Campus-Roman Thema. Warum gibt es derzeit keinen deutschen Campus-Roman? Sind solche Artikel in der F.A.Z. tatsächlich als Plädoyer für eine Literatur gemeint, die ihre Relevanz daraus bezieht, dass sie unsere heutige Lebenswirklichkeit in realistischer Weise verarbeitet und dabei auch Position bezieht? Andreas Platthaus: Ich weiß nicht, ob es eine wirkliche redaktionelle Leitlinie – oder sei es auch nur eine Art Denkmuster – gibt, die eine solche Forderung jetzt allen meinen Kollegen mit in den Mund legen würde. Zum Beispiel vermisse ich den deutschen Campus-Roman ebenso wenig wie den deutschen Kanzlerinnen-Roman, weil ich glaube, dass es beides bereits
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gibt. Bei einem aktuellen Kanzlerinnen-Roman haben wir uns kürzlich das Vergnügen gemacht, einen Vorabdruck aus einem Buch, das auch Die Kanzlerin heißt, abzudrucken: über Angela Merkel. Das hat Spaß gemacht, so etwas ein paar Monate nach der entsprechenden Bemerkung in der Zeitung zu machen, weil ich dachte, dass man damit den Eindruck suggerieren könnte, wie flott man bisweilen gehört wird. Aber das ist natürlich blanker Nonsens. Das sind kleine interne Spiele, die Spaß machen. Beim CampusRoman ist die Klage, dass der in Deutschland fehle, fast schon ein Topos. Das hat damit zu tun, dass wir eine andere Campus-Tradition haben als die angelsächsischen Länder. So gesehen, sehe ich da kein riesiges Problem. Wenn wir über den Universitätsroman redeten, würde es schon interessanter. Ich habe den Begriff »Gegenwartsliteratur« jedenfalls nie so verstanden, dass ich dafür die Beschäftigung mit der Gegenwart für konstitutiv erachtete. Für mich ist Gegenwartsliteratur ganz klassisch Literatur, die im Moment produziert wird. Und da darf auch gerne etwas HistoristischEskapistisches dabei sein, das ist mir vollkommen egal. Für mich definiert sich Gegenwart aus dem Zeitpunkt der Produktion, nicht aus dem Thema. Sofern der Begriff in den 1950er Jahren geprägt worden ist, war das damals wahrscheinlich der Versuch, das einzuholen, was im Englischen eben modernist novel ist. Für so etwas haben wir keinen Begriff. Der »modernistische Roman« klingt nicht gut im Deutschen, »Gegenwartsroman« ist also gar nicht übel, und wenn diese doppeldeutige Besetzung existiert, ist es vielleicht auch gar nicht schlecht so. Aber es ist tatsächlich so, dass zumindest das F.A.Z.-Feuilleton und der F.A.Z.-Literaturteil sehr hohe Ansprüche an das Ethos haben, das durch Literatur vertreten wird. Dazu gehört Interesse. Das muss nicht unbedingt eines für die deutsche Gegenwart sein, sondern es darf auch gerne sowohl sehr individualistisch und gerne auch wiederum auf ganz andere Kulturkreise bezogen sein. Und wenn wir jetzt mal die Gegenwartsliteratur als ein deutsches Phänomen wahrnehmen, dann ist das ja genau das, was ihr sehr lange als Defizit vorgeworfen worden ist. Es ist kein Zufall, dass just die deutschsprachigen Autoren, die im letzten halben Jahrhundert den Literaturnobelpreis erhalten haben, diesen Anspruch dagegen geradezu im Übermaß durch gesellschaftskritische Betrachtungen erfüllten: Herta Müller, Günter Grass, Elfriede Jelinek, Heinrich Böll sind eben auch die politisch aktiven Autoren gewesen – Elias Canetti ist da ein interessanter Sonderfall. Aber durch das, was er aussagt über den deutschen
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Kulturraum, sowohl in seiner Autobiografie als auch in Masse und Macht, ist er dann doch wieder jemand, der da hereinpasst. Wie interessant, dass ganz offenkundig auch von außen her, aus einem – nennen wir es jetzt einmal so – pseudoobjektiven Literaturblick, wie ihn die Nobelpreisjury wirft, an die deutsche Literatur ein extrem politischer Anspruch erhoben wird, der bei anderen Sprachen nicht notwendig erscheint – nehmen wir nur etwa Alice Munro. Seit dem Zweiten Weltkrieg gibt es verbreitet die Erwartungshaltung, deutsche Literatur müsse weltzugewandt sein. Und das spielt sowohl im Bewusstsein der deutschen Literaturkritiker wie wahrscheinlich auch bei vielen deutschen Autoren eine wichtige Rolle. Wenn man dann Romane wie Kruso betrachtet oder natürlich auch Uwe Tellkamps Der Turm, um die beiden erfolgreichsten Wenderomane der letzten Jahre zu nehmen, dann gibt es ein Gefühl der Enttäuschung, das ich bei Lesern beider Romane kenne. Ich selbst bin ein großer Anhänger des Turm, aber nicht begeistert von Kruso, weil Der Turm für mich schon alles geleistet hatte, was man bei einer so minutiösen Aufnahme der Wendesituation erwarten kann. Wir haben, glaube ich, zu lange auf diese Bücher gewartet, als dass wir uns dann damit zufriedengeben konnten, darin nur bis 1989 erzählt zu bekommen. Wir vermissen ein Weitererzählen, ein Weiteres an Welthaltigkeit über die DDR hinaus. Kai Kauffmann: Eine Nachfrage: Wenn es zutrifft, dass die aktuelle Gegenwartsliteratur insgesamt eine realistische Tendenz besitzt, die auch von vielen Akteurinnen und Akteuren der Literaturkritik und der Literaturwissenschaft unterstützt wird, dann sieht man ja umgekehrt auch, was heute kaum noch produziert und rezipiert wird: nämlich eine experimentelle Literatur mit einem starken Formbewusstsein, die sich zumindest im Deutschland der Nachkriegszeit auch immer als eine genuin ästhetische Verarbeitung der modernen Wirklichkeit verstanden hatte. So sagte Gottfried Benn in seinem bekannten Vortrag Probleme der Lyrik, dass hinter jedem modernen Gedicht die »Probleme der Zeit« stünden. Die experimentellen Spielarten der Literatur sind heute merkwürdig in den Windschatten geraten. Und ich sehe auch in der F.A.Z. kaum, dass sie noch Aufmerksamkeit fänden. Andreas Platthaus: Das stimmt. Und das hat allerdings damit zu tun, dass diese Form von Literatur – und ich weiß jetzt nicht, was zuerst da war: mangelnde Beachtung oder mangelndes Interesse seitens der Verlage daran
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– mittlerweile nicht mehr so intensiv bei den großen Verlagen stattfindet. Wenn man sich das Suhrkamp-Programm der 1960er Jahre oder 1970er Jahre ansieht, dann war darin an formalen Experimenten im Belletristikbereich viel mehr geboten, als das heute der Fall ist. Und das ist kein Suhrkamp-Phänomen. Das können wir bei Hanser ganz genauso feststellen wie bei S. Fischer. Vielleicht hat zuerst die Kritik versagt und solche Literatur nicht mehr intensiv genug wahrgenommen, so dass sie sich für größere Verlage gar nicht mehr rechnete. Zum anderen fehlt mir aber auch ein Bewusstsein in den Verlagen dafür, dass man es sich leisten sollte, wagemutig zu sein. Bei der Lyrik ist es ja anders: Die leisten sich zumindest einige große Verlage immer noch. Und ich glaube, dass damit auch, ohne dass es explizit gemacht wird, eine Art von Kompensation geleistet wird: »Wir haben doch diese unglaublich reichhaltige lyrische Szene ... «. Und das stimmt ja auch. Im Rahmen dieses kleinen Segments der Literaturwahrnehmung wird sehr avanciert gearbeitet, womit dann leider Gottes bisweilen entschuldigt wird, dass man es eben im Prosabereich viel weniger tut. Andererseits gibt es eine solche Vielzahl von Kleinverlagen, die sich just um solche Dinge kümmern und das mit einer ganz bemerkenswerten Konsequenz tun, dass wir als Kritiker aufgerufen sind, diesen Häusern dadurch den Rücken zu stärken, dass wir ihre Bücher auch besprechen. Das tun wir, fürchte ich, zu wenig: wegen einer geänderten Erwartung an Literaturkritiken. Und damit meine ich gar nicht notwendig die veränderten Erwartungen des Publikums, sondern auch, dass man sich innerhalb der Redaktionen immer mehr auf die spektakulären Titel kapriziert und dass natürlich auch die schiere Menge von Literaturkritiken zurückgegangen ist. Dieser Rückgang ist auf lange Strecke nicht gravierend; wenn man die Zahl an besprochenen Büchern heute mit dem vergleicht, was wir in den 1970er und frühen 1980er Jahren hatten, also in der Ära von Marcel ReichRanicki, dann besprechen wir heute mehr Bücher als damals. Aber wir hatten dazwischen die unglaublich reichhaltigen späten 1980er und geradezu sensationell erfolgreichen 1990er Jahre, wo die Zeitungen so dick sein konnten, wie sie wollten, weil sie so großartige Werbeeinnahmen hatten. Seit damals ist die Zahl der Besprechungen tatsächlich signifikant zurückgegangen. Das heißt: Wir sind jetzt wieder auf einem Stand von vor 30 Jahren. Doch in der Zwischenzeit hat sich das Verständnis dessen, was man beachtet, verändert, denn man hat mit der Ausweitung der schieren Masse
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an Rezensionen Segmente mit hineingenommen, die man früher wahrscheinlich gar nicht gewürdigt hätte. Die populären Romane, all die Sondergenres. Heutzutage wird ganz selbstverständlich immer wieder mal ein Comic auf den Literaturseiten besprochen, nicht sehr häufig, aber es kommt vor. Gleichzeitig gibt es natürlich einen bestimmten Grundbestand an Titeln, von denen völlig klar ist, dass sie besprochen werden: die prominenten Titel bedeutender Verlage, Bücher von Autoren, die schon seit Jahrzehnten beim Publikum bekannt sind. So etwas macht man auf jeden Fall, und gleichzeitig kamen eben neue Segmente dazu, die man auch nicht wieder opfern will. Irgendwas muss darunter leiden, weil gleichzeitig nicht mehr Platz da ist. Und ein Segment, das darunter tatsächlich gelitten hat, weil es eine andere Intensität von Beschäftigung erfordert und man mangels Vertrautheit vielleicht auch gar nicht mehr die Kriterien dafür besitzt, das ist das experimentelle. Carlos Spoerhase: Ich habe eine Frage im Hinblick auf diese Gegenwartsreflexion, also hinsichtlich unterschiedlicher Vorstellungen von Gegenwart. Und das ganz praktisch: nämlich die Gegenwartshorizonte der Zeitung und die daraus erfolgende Orientierung an dem, was gerade eben publiziert worden ist. Einerseits orientiert man sich im Feuilleton an den unmittelbaren Publikationsausstößen der Verlage, den daran gekoppelten Literaturpreisen, den Buchmessen, und andererseits an den Klassikern, die dann aber vielleicht schon 50, 60 Jahre alt oder noch wesentlich älter sind. Dazwischen gibt es ein schwieriges Feld von Werken, die weder ›aktuell‹ noch ›klassisch‹ sind. Hier stellt sich hinsichtlich der feuilletonistischen Praxis die Frage, wie die Gegenwart aus literaturkritischer Perspektive begrenzt wird? Konkret: Wir befinden uns gerade im April 2017. Wie schwierig wäre es, jetzt noch einen Band zu besprechen, der 2016 erschienen ist? Ist der gegenwärtig noch ›aktuell‹ und ›gegenwärtig‹ genug? Verschieben sich in jüngerer Zeit vielleicht sogar die ›Gegenwarten‹ der Literaturkritik? Andreas Platthaus: Es gibt eine klare Regel bei der F.A.Z., von der ich nicht weiß, wann sie etabliert wurde, aber die ich vor 20 Jahren kennengelernt habe und die bis heute gilt: Wir besprechen neue Bücher bis zum Ende des Folgejahres. Das heißt, ein Buch von 2016 könnte bis zum 31. Dezember 2017 bei uns im Blatt rezensiert werden.
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Aber was sich tatsächlich verändert hat, sind unsere eigenen Erwartungen an publizistische Schnelligkeit – obwohl wir keinerlei empirische Grundlage dafür haben, dass es den Lesern genauso ergeht. Wenn mir heute Mitarbeiter Bücher vorschlagen, die im Vorjahr erschienen sind, muss es schon sehr gute Gründe geben, um sie tatsächlich noch aufzunehmen, weil uns selbst Vorjahresbücher schon veraltet vorkommen. Darüber hätten wir uns noch vor zehn Jahren keine Gedanken gemacht. Da galt mal die großartig arrogante Regel, die ich noch gelernt habe: Ein Buch ist dann erschienen, wenn es in der F.A.Z. besprochen ist. Davon können wir uns verabschieden. Dieses Privileg genießen wir nicht mehr. Carlos Spoerhase: Im Moment findet das Stichwort von der »Verbreiterung der Gegenwart« häufig Verwendung. Ausgehend von Ihren Bemerkungen müsste man dagegen sagen, dass sich die Gegenwart in der Literaturkritik momentan stark verengt. Neben der temporalen Rahmung des feuilletonistischen Rezensionswesens lässt sich auch eine nationalsprachliche Rahmung beobachten. Aus der Perspektive der literaturkritischen Praxis einer überregionalen Tageszeitung erweist es sich nicht nur als schwierig, Buchpublikationen ohne Aktualitätswert zu besprechen; eine nicht minder große Herausforderung ist wohl die Besprechung von Büchern, die in einer fremden Sprache erschienen sind. Ich kann dazu leider nicht mit einer breiten empirischen Datengrundlage aufwarten. Meine eher anekdotischen Beobachtungen gehen aber in die Richtung, dass in jüngerer Zeit häufiger auch fremdsprachige Buchpublikationen besprochen werden, bevor sie in deutscher Übersetzung vorliegen. Teilen Sie diese Beobachtung? Verändert sich diesbezüglich gegenwärtig etwas in der literaturkritischen Besprechungspraxis? Gibt es aufgrund der massiven Verschiebungen im Mediennutzungsverhalten bei Ihren Leserinnen und Lesern mittlerweile die Erwartung, dass bestimmte Werke, die aktuell in den USA besprochen werden und noch nicht in deutscher Übersetzung vorliegen, auch zeitnah im deutschen Feuilleton besprochen werden? Oder bleibt es grundsätzlich bei der Leitlinie, dass die Kritiker auf die deutsche Übersetzung warten sollten? Andreas Platthaus: Bei der bleibt es auf absehbare Zeit ganz gewiss, weil es doch um den größten Teil der Leserschaft der F.A.Z. geht. Der verfügt vielleicht über die notwendige Sprachkompetenz bei einem englischen Buch, bei einem französischen ein gewisser Teil auch noch, um es im Ori-
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ginal zu lesen. Aber zumindest bei mir ist es so: Egal wie gut ich Englisch oder Französisch lese, ich bin im Deutschen wesentlich schneller. Darum freue ich mich, wenn ich ein Buch auf Deutsch lesen kann. Und nur bei fremdsprachigen Autoren, die mir extrem am Herzen liegen oder wo ich mit Übersetzungen nicht so schnell rechnen darf, lese ich deren Bücher im Original. Das ist mutmaßlich recht typisch für das Leseverhalten von Menschen. Darum ist für uns die deutsche Ausgabe ganz eindeutig diejenige, die Vorrang genießen sollte. Aber es gibt Ausnahmen. Sie haben bereits einige Gründe dafür genannt. Das eine ist, dass man heutzutage viel früher und viel intensiver darüber informiert wird, was im Ausland erscheint, wenn es sich um wirklich prominente oder besonders interessante Autoren handelt. Dann ist es für uns naheliegend, dieses Buch unseren Lesern im Original vorzustellen. Zumal ja heute überhaupt keine Schwierigkeit mehr besteht, sich dieses Buch auch zu besorgen: Sie gehen ins Netz und bekommen es, wenn Sie wollen, am nächsten Tag aus Amerika oder woher auch immer hierher geschickt. Dann haben Sie Geld draufgelegt fürs Porto, aber das Buch ist da. Das hat die ganze Wahrnehmung verändert, das hat natürlich auch im Verlagswesen das Tempo der Übersetzungen verändert. Und ich merke, wenn ich jetzt mit jungen Menschen spreche, die als Hospitanten zur F.A.Z. kommen, dass sie sehr gerne englische oder auch französische Originaltitel zur Rezension vorschlagen. Und immer sehr erstaunt sind, wenn ich ihnen sage, dass bei einem Buch, das mit größerer Wahrscheinlichkeit in näherer Zukunft bei irgendeinem deutschen Verlag kommen wird, doch abgewartet werden kann. Das ist jedes Mal extrem erläuterungsbedürftig, weil jüngere Leute aus ihrer Mediennutzung heraus sagen: »Ich habe aber doch schon so viel über das Buch gelesen. Schauen Sie doch mal ins Netz, das ist doch voll damit.« Das sind Wahrnehmungen, mit denen man sich auseinandersetzen muss, vor allem, wenn man vielleicht doch daran interessiert ist, nicht nur die gleiche Klientel immer weiter zu bedienen, sondern den Anspruch hat, auch junge Leute an die Zeitung heranzuführen. Dann glaube ich, dass man nicht ganz darauf wird verzichten können, auch bisweilen sehr schnell bei ausländischen Titeln zu sein. Trotzdem kommen wir, würde ich schätzen, wahrscheinlich auf nicht mehr als 15 oder 20 fremdsprachige Titel pro Jahr im klassischen Belletristik-Rezensionsbereich des Feuilletons. Beim Sachbuch dürften es deutlich mehr sein. Aber die haben auch größere Probleme, weil es grundlegende Werke gibt, die garantiert nie
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ins Deutsche übersetzt werden, weil sie zwar grundlegend, aber auch zu speziell sind. Carlos Spoerhase: Der Hinweis auf die Volontärinnen und Volontäre und auf das veränderte Mediennutzungsverhalten ist sehr interessant. Die Frage ist, was genau sich verändert hat. Auch früher wurde in den Redaktionen der großen deutschen Zeitungen der New Yorker, die New York Review of Books oder das Times Literary Supplement gelesen. Nur hatte die gut gebildete Leserschaft der deutschen Zeitungen keinen Zugang zu diesen Medien. Durch den Medienwandel ist es für die Leserschaft viel einfacher geworden, diese Leitmedien angloamerikanischer Literaturkritik selber zu lesen – weshalb sie dann möglicherweise eine ganz andere Erwartung an die deutschsprachige Darstellung der in diesen englischen Medien geführten Debatten hat. Ein interessanter Fall wäre hier Elena Ferrante. Es hat doch relativ lange gedauert, bis ihre Romane in deutscher Übersetzung bei Suhrkamp herausgekommen sind. Manche Leserinnen und Leser in Deutschland hatten die Romane deshalb schon auf Englisch gelesen, bevor sie hier publiziert wurden. Das große Interesse an Ferrante erreichte den deutschen Literaturbetrieb nicht über Italien, sondern vermittelt über Amerika. Es war wohl letztlich die Besprechung von James Wood im New Yorker, die so viel Resonanz für die Romanreihe hergestellt hat, dass der kritische und ökonomische Erfolg in den USA dann auch wieder nach Kontinentaleuropa zurückstrahlen konnte. Die europäischen Werke, die im Literaturbetrieb von New York reüssieren, haben eine sehr hohe Chance, dann wiederum in andere europäische Sprachen übersetzt zu werden. Wie verhält man sich als Feuilleton zu dieser starken, einflussreichen Rolle des US-amerikanischen Verlagswesens, der Literaturkritik und des Preiswesens? Versucht man, gegen diese hegemoniale Stellung des USamerikanischen Literaturbetriebs zu steuern, oder ist das einfach ein kulturelles Faktum, das man hinnehmen muss und dann allenfalls darstellen und diskutieren kann? Andreas Platthaus: Das ist sehr schwierig zu sagen, weil ich glaube, dass die Einflüsse ganz unterschiedlich sind. Ich würde behaupten, dass eine gute große Besprechung im New Yorker mit einer Emphase, wie es damals bei Ferrante geschehen ist, wahrscheinlich viel wichtiger ist als egal welcher
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Buchpreis der Vereinigten Staaten. Zumindest beim Pulitzer-Preis kann ich es aus Erfahrung sagen, weil ich darüber auch mal mit Buchhändlern gesprochen habe: Der hat überhaupt keine Wirkung irgendwelcher Art in Deutschland. Er ist nur unfassbar berühmt. Beim National Book Award ist es noch viel extremer: Kaum jemand weiß überhaupt, was der National Book Award ist. Der Gedanke, dass es vielleicht dasselbe sein könnte wie der Deutsche Buchpreis, kommt den allerwenigsten. Deshalb laufen solche Preisvergaben bei uns auf Meldungsebene. Der New Yorker hat dagegen wirklich außergewöhnliche Wirkungskraft. Ich glaube, dass sowohl das Times Literary Supplement als auch die New York Book Review zwar von einer bestimmten Gruppe sehr intensiv gelesen werden, aber letztlich nicht diese Ausstrahlung haben, die der New Yorker besitzt. Und ich wette, wenn da irgendetwas groß und gut besprochen wird, dann ist die Lizenz, wenn sie nicht bereits verkauft ist, ganz schnell in deutschen Händen. Zumindest, wenn es um Literatur geht; bei anderen Bereichen ist das deutlich schwieriger. Eines des für mich verblüffendsten Beispiele dafür war der Comic Fun Home von einer amerikanischen Zeichnerin namens Alison Bechdel, der den National Book Award gewonnen hat und sich in Amerika hunderttausendfach verkauft hat. Ein großer Verlag hat’s gekauft, ein prominenter Mann übersetzt, aber verkauft hat es sich auf Deutsch kaum. Solche Dinge müssen nicht notwendig funktionieren, nur weil sie in Amerika funktionieren. Sondern es muss etwas sein, was auch hier bereits ein Publikum besitzt. Es gibt aber kein breites Comic-Publikum in Deutschland, und ein breiteres zu interessieren, wie es bei Art Spiegelmans Maus geglückt ist und vielleicht noch bei Marjane Satrapis Persepolis, das ist reine Glückssache. Kai Kauffmann: Es wurde mir gerade noch einmal die Breite dessen deutlich, was inzwischen im Feuilleton der F.A.Z. besprochen wird, wie viele Dinge dazugekommen sind. Und diese Beobachtung verbindet sich mit einer Frage nach dem Publikum, das man damit erreicht. Es fällt ja nicht nur auf, dass Comics besprochen werden, sondern auch, dass die Rock- und Popmusik häufiger zum Thema gemacht wird. Gleiches gilt für das Unterhaltungskino, zumindest für bestimmte Filme. Einen James Bond-Film auf der ersten Seite hätte es vor 20 Jahren im Feuilleton der F.A.Z. wohl nicht gegeben. Ich frage mich immer, für wen das eigentlich geschrieben wird,
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und vermute, das Angebot richtet sich genau an jene bildungsbürgerlichen Leserinnen und Leser, die – und das gilt für meine eigene, in den 1960er Jahren geborene Generation – in ihrer Jugend z.B. mit Rockmusik aufgewachsen sind und darin bis heute einen wichtigen Teil der Gegenwartskultur sehen. So erscheint dann ein Artikel zum 70. Geburtstag von Iggy Pop, den man interessiert liest, wenn man in früheren Zeiten Punkkonzerte besucht hat. Und das gilt für die Besprechung von Comics wahrscheinlich auch. Die Frage ist nur, ob die F.A.Z. damit wirklich ein jüngeres Publikum erreicht, sich einen Nachwuchs an Zeitungsleserinnen und -lesern schafft, der für das zukünftige Überleben des Blatts notwendig sein wird. Das ist mir nicht klar. Andreas Platthaus: Das ist uns auch nicht klar. Und die Schwierigkeit ist auch, dass es dafür zu wenig Untersuchungen betreffs unserer Leserschaft gibt. Die sind zu aufwendig, die können wir uns gar nicht leisten. Und von den Rückmeldungen, die man von Lesern bekommt, kann man sehr wenige verallgemeinern. Was wir wissen, das ist, wie überaltert mittlerweile die Leserschaft ist. Wohl keine anspruchsvolle deutsche Zeitung hat mittlerweile einen Altersdurchschnitt ihrer Leser, der unter 50 Jahren läge. Und da trifft genau das zu, was Sie sagen: Diese populären Formen kommen bei uns jetzt vor, weil sie für unsere Generation einfach mit dazugehören. Wir sind damit aufgewachsen, das war unser kleiner harmloser Widerstand gegen das, was unsere Eltern geschätzt haben, und nun werden wir damit alt. Und genau darum glaube ich nicht, dass diese Phänomene für unsere Kinder von größerer Relevanz sind, denn die suchen sich andere Sachen. Manga etwa ist die Antwort einer bestimmten Generation darauf, dass Comics populär geworden sind. Genau das wollte sie nicht. Sie wollte von ihren Eltern nicht empfohlen bekommen: »Lies unbedingt Disney-Hefte oder Asterix.« Ich will als junger Mensch doch nicht lesen, was meine Eltern lesen. Ich will das lesen, was meine Eltern nicht verstehen. Und japanische Comics, die man von hinten nach vorne liest – super! Großartig, das können die Alten nicht lesen, das lesen also wir. Und das gilt, fürchte ich, für Musik und andere künstlerische Formen – nehmen wir Videospiele – ganz genauso. Aber wer von uns hat denn Umgang mit heute 22-Jährigen? Carlos Spoerhase: Hinzu kommt, dass das Feuilleton, wenigstens das deutsche Feuilleton, noch eine kulturelle Synthesefunktion beansprucht, dass
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man aber beobachten kann, dass gegenwärtig in vielen kulturellen Bereichen eine Vernischung und Verinselung stattfindet. Das heißt dann: Die Computerspielliebhaber haben ihre eigenen Magazine, die monatlich erscheinen und die das ganze Feld ihrer Interessen erfassen. Ist das nicht auch ein Problem, dass bestimmte Ansprüche auf kulturelle Synthese Plausibilität verlieren? Dass man also nicht mehr ein oder zwei überregionale Feuilletons zur Kenntnis nimmt, die gleichsam die Gesamtkultur kritisch ordnen, sondern eher zehn Spezialmagazine, die die eigenen mehr oder weniger idiosynkratischen Interessennischen abdecken? Andreas Platthaus: Wir können den Spezialisten in solchen Bereichen tatsächlich sehr wenig bieten. Aber was wir ihnen bieten können, das ist eine Betrachtung der Phänomene mit den Kriterien, die wir als F.A.Z.-Feuilleton entwickelt haben. Und das hat dann doch wieder Reiz für die Vertreter dieser Spezialinteressen, weil ihre Interessen dadurch geadelt werden, und solange wir keine ganz dummen Fehler machen – die wir natürlich bisweilen machen –, ist alles in Ordnung. Und die jeweilige Industrie, nennen wir sie jetzt Platten- oder Buchindustrie, schätzt es selbstverständlich auch. In der Tat ist die Würdigung eines Science Fictions bei uns im Literaturteil etwas, das im Verlagswesen mehr Aufmerksamkeit erzeugt als die Würdigung des neuen Buchs von Martin Walser, denn dass die kommt, ist ja selbstverständlich. Aber wenn man plötzlich Interesse für ein Genre zeigt und im Idealfall einen Autor hat, der etwas anderes hervorbringt als das Fanwesen, dann wird es interessant: dank der Querverweise, die wir bieten können, der Bezüge zu anderen kulturellen Errungenschaften oder auch einfach der Namen, für die wir stehen – ich meine damit nicht nur die F.A.Z. selbst, sondern auch die Namen der Autoren, die bisweilen für ganz andere kulturelle Kontexte stehen. Wenn es gut gerät, dann setzen sie das eigene analytische Instrumentarium an, um etwas zu erklären, das normalerweise diese Intensität der Betrachtung nicht erfährt. Und da wird’s dann sehr F.A.Z.-mäßig. Das ist der Weg, den ich gerne häufiger beschritten sähe. Kai Kauffmann: Der Begriff »Weltliteratur« wird aktuell von Literaturwissenschaftlern und Literaturkritikern äußerst kontrovers diskutiert. Man streitet sich unter anderem darüber, ob es einen gemeinsamen Kanon der bedeutenden Weltliteratur geben kann und soll. Der an der Harvard University lehrende Vergleichende Literaturwissenschaftler David Damrosch
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arbeitet theoretisch und praktisch an einem solchen Kanon ›großer‹ Autoren und Werke, wofür er unter anderem von postkolonial argumentierenden Kolleginnen und Kollegen angefeindet wird. Nun hatte ja das Feuilleton der F.A.Z. in früheren Zeiten durchaus den Anspruch, die wichtigsten Bücher der deutschsprachigen Literatur vorzustellen und war so aktiv an der Kanonbildung beteiligt. Die Frage ist, ob die F.A.Z. unter den Bedingungen der heutigen Internationalisierung dazu beitragen will, dass so etwas wie ein globaler Kanon entsteht, was ich mir sehr schwer vorstellen kann. Andreas Platthaus: Wir haben auch noch keinen wirklich plausiblen Gedanken darauf verschwendet, weil wir da etwas missen, was wir eine gewisse Zeit lang hatten und leider Gottes wieder aufgegeben haben, nämlich eine englischsprachige Ausgabe. Denn wenn wir überhaupt über eine Kanonbildung außerhalb des deutschen Sprach- und Kulturraums nachdenken wollten, müssten wir diese Diskussion in englischer Sprache führen. Sonst würde es in anderen Ländern gar nicht gelesen werden. So gesehen, können wir nicht den Anspruch erheben, zur Bildung eines internationalen Kanons beizutragen. Und ich könnte auch nur mit großer Schwierigkeit irgendjemanden, außer vielleicht wirklich den New Yorker, benennen, dem ich das zutraute. Das traue ich auch der New York Times nicht zu. Einfach deshalb, weil sie dafür viel zu wenig Literaturberichterstattung macht. Und es ist vor allem so amerikanisch zentriert, dass es sich darüber hinaus nicht ernst nehmen lässt. Wenn die Literaturkritiker der New York Times überhaupt Bücher aus anderen Sprachen wahrnehmen, dann müssen es schon sehr große Geschichten sein. Sie müssen eine ganz klare politische Botschaft haben, es muss eine tolle Persönlichkeit des Autors dahinter stehen. Diese Bedingung gilt für uns nicht notwendig. Wir können auch sagen: Dieses Buch interessiert uns aus irgendeinem Grund, den wir gar nicht genau benennen können, und sei es, dass das Cover schön aussieht. Dann prüfen wir, ob es unseren literarischen Kriterien standhält. So kann dann auch mal etwas Obskures aus Gabun bei uns ins Blatt rutschen, nicht, weil wir unbedingt mehr afrikanische Literatur besprechen und damit den Kanon erweitern wollten, sondern weil wir aus irgendeinem Grund neugierig auf dieses konkrete Buch geworden sind. Wir denken viel weniger strategisch, als es uns von außen unterstellt wird. Aber wir denken viel mehr, als es uns von außen zugetraut wird, darüber nach, womit wir uns selbst und damit auch unsere Leser überraschen könnten. Was wollen wir denn einfach mal
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prüfen – und sei es nur, dass wir am Ende sagen: völlig missglückt, Pech gehabt. Dann haben wir schlimmstenfalls ein bisschen Zeit verschwendet. Vielleicht wird nicht mal darüber geschrieben. Aber wir sind weiterhin extrem neugierig auf die Ränder bestimmter Bereiche. Vielleicht weniger beim – wir hatten es am Anfang – Experimentellen, aber zumindest bei dem, was internationale Literatur angeht. Wir haben beispielsweise im letzten und vorletzten Jahr sieben oder acht Romane aus Korea besprochen. Das fand ich, als ich es mal irgendwann durch einen Zufall feststellte, ganz erquicklich. Es wird sicherlich viel mehr Länder auf der ganzen Welt geben, von denen wir überhaupt kein einziges Buch besprochen haben, aber der Anteil der Besprechungen von ausländischer Literatur ist bei uns nicht gering. Und er ist sehr weit gestreut. Kai Kauffmann und Carlos Spoerhase: Herr Platthaus, wir danken Ihnen für das Gespräch.1
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Das Gespräch fand im April 2017 statt.
»Jeder Begriff von Weltliteratur beinhaltet ein dreidimensionales Zeitgefühl: das Geschichtliche, das Gegenwärtige und das Zukünftige« B. Venkat Mani über indische und deutsch-türkische Literatur, literarische Migration und bibliomigrancy G IULIA R ADAELLI , N IKE T HURN
Giulia Radaelli/Nike Thurn: In Ihrer 2017 erschienenen, mehrfach preisgekrönten Monografie Recoding World Literature1 setzen Sie sich allgemein mit world literature und spezifisch mit Weltliteratur, d.h. mit der deutschen Prägung und Auslegung des Begriffs in historischer Perspektive auseinander. Ähnlich wie Weltliteratur im Vergleich zu world literature, klingt auch Gegenwartsliteratur anders als contemporary literature: Sind die Begriffe unterschiedlich besetzt und, wenn ja, wie gehen Sie mit ihren sprachspezifischen Bedeutungen um?
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B. Venkat Mani: Recoding World Literature. Libraries, Print Culture, and Germany’s Pact With Books, New York: Fordham University Press 2017. Der DAAD und die German Studies Association zeichneten die Arbeit 2018 als bestes Buch der Germanistik/Cultural Studies aus; im selben Jahr erhielt sie den Aldo and Jeanne Scaglione Prize for Studies in Germanic Languages and Literatures der Modern Language Association of America.
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B. Venkat Mani: Eine der zentralen Thesen meines Buches ist, dass Weltliteratur kulturhistorisch bedingt und politisch bestimmt ist. Und Sprache spielt zweifelsohne eine sehr große Rolle bei dieser kulturhistorischen Bedingung und politischen Bestimmung, sowohl was den literarischen Korpus als auch was die Begriffe – National- oder Weltliteratur – anbelangt, die wir für Literatur verwenden. Jeder Begriff – Weltliteratur, World Literature, Dünya Edebiyati, Vishwa Sahitya – trägt eine eigene, von den anderen verschiedene Wendung in sich. Das Bewusstsein dieser Verschiedenheit, dieser Differenz, bereichert meiner Meinung nach unser Verständnis dieser Begriffe. Das zeige ich in der Einführung auch durch eine Auseinandersetzung mit Aussagen des türkischen Autors Orhan Pamuk, der indischen Dichterin Mahadevi Varma und der US-amerikanischen Autorin Susan Sontag. Wie diese drei Intellektuellen mit dem Begriff Weltliteratur umgehen, kennzeichnet allerdings viel mehr als sprachliche Unterschiede: In ihrem verschiedenartigen Umgang mit dem Begriff sind kulturhistorische Perspektiven versteckt, die natürlich auch von einer gewissen National- und Weltpolitik geprägt sind, besonders zu dem jeweiligen Zeitpunkt, an dem diese Autor*innen ihre Gedanken veröffentlichten. Kurzgefasst beinhaltet jeder Begriff von Weltliteratur in den verschiedenen Weltsprachen ein dreidimensionales Zeitgefühl: das Geschichtliche, das Gegenwärtige und das Zukünftige. Die Aussagen von Johann Wolfgang von Goethe, Karl Marx und Friedrich Engels, Erich Auerbach, Hermann Hesse, Pamuk, Varma, Sontag, bis hin zu der gegenwärtigen Diskussion über Weltliteratur in den US-amerikanischen Universitäten sollten wir in diesem Sinne verorten: in ihrer historischen Zeit und ihrem kulturpolitischen Raum. Meines Erachtens ist der Unterschied zwischen Gegenwartsliteratur und contemporary literature ebenso historisch zu verstehen, durch Geschichten des Sprachgebrauchs und der Politik. Meine Forschungs- und Lehrtätigkeit als gebürtiger Inder, der in seiner Wahlheimat USA deutschsprachige Literatur und Weltliteratur unterrichtet, ist so auch von mehreren Geschichtserfahrungen, Sprachen und kulturpolitischen Momenten geprägt. Giulia Radaelli/Nike Thurn: In Ihrem Buch untersuchen Sie als Beispiel für Gegenwartsliteratur insbesondere Kemal Kurt, einen von inzwischen zahlreichen »contemporary German-language authors of non-German heri-
»J EDER B EGRIFF
VON
W ELTLITERATUR BEINHALTET …«
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tages«.2 Inwiefern sind postkoloniale und post-migrantische Aspekte für Ihre Definition von Gegenwartsliteratur als Forschungsgegenstand und Begriff entscheidend? B. Venkat Mani: Gegenwartsliteratur bedeutet für mich viel mehr als ›zeitgenössische Literatur‹. Schon in meinem ersten Buch Cosmopolitical Claims (2007) habe ich mich mit deutsch-türkischer Literatur befasst, indem ich deutschsprachige Autorinnen und Autoren wie Sten Nadolny, Emine Sevgi Özdamar und Feridun Zaimoglu zusammen mit dem türkischsprachigen Autor Orhan Pamuk gelesen habe. Dabei war das ›Gegenwärtige‹ in der deutschen Literatur von der politischen Realität eines postkolonialen Europas nach dem Zweiten Weltkrieg und der Arbeitsmigration nach (West-)Deutschland, besonders aus der Türkei, eingerahmt. Wichtig war für mich natürlich – denn das Buch wurde in den USA geschrieben – auch die politische Realität der USA und der Welt nach dem 11. September 2001, besonders der Krieg gegen Afghanistan. Gegenwartsliteratur auf Deutsch war für mich von all diesen politischen Ereignissen eingeklammert. Ich erwähne dieses frühere Buch, um mein eigenes geschichtliches (zeitliches) und kulturpolitisches (räumliches) Bewusstsein zu verdeutlichen, das meine Erkenntnisinteressen beeinflusste. In Recoding World Literature hat mir dann Kemal Kurts hervorragender Roman Ja, sagt Molly! (1998), den ich als Teil einer Weltliteraturgeschichte und einer ›Weltliterarischen Bibliothek‹ des 20. Jahrhundert lese, geholfen, Gegenwartsliteratur durch das Vorherige und das Jetzige zu verstehen. Und es war für mich sehr wichtig, in die Gegenwartsliteratur aus der deutschsprachigen Welt den Beitrag eines deutsch-türkischen Autors und seine kosmopolitischen Gedanken miteinzubeziehen. Warum? Ich fand Harald Weinrichs Trauerrede auf die Literatur der Autor*innen nicht-deutscher Herkunft3 (was wohl ethnisch gemeint war) und Sigrid Löfflers Fetischisierung der globalanglofonen Autori*nnen als eine ›neue‹ Weltliteratur unzureichend, um die Vielfalt der ›neuen‹ Weltliteratur aus Deutschland zu beschreiben. Wie ich
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Ebd., S. 238.
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Harald Weinrich: Chamisso, die Chamisso-Autoren und die Globalisierung, Stuttgart: Robert Bosch Stiftung 2002, dann erschienen als »Chamisso, Chamisso Authors, and Globalization«, übers. von Marshall Brown und Jane K. Brown, in: PMLA 5 (2004), S. 1336-1346.
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in meinem Buch immer wieder behaupte, wird Weltliteratur periodisch neu gestaltet. Besonders im letzten Kapitel diskutiere ich vor diesem Hintergrund schließlich zwei Bedeutungen von literarischer Migration: Zuerst im Sinne von Literatur der Migration, d.h. Literatur, die menschliche Migration thematisiert, und zweitens im Sinne von Migration der Texte durch Digitalisierung, d.h. im virtuellen Raum. In diesem Sinne setze ich mich mit der Europäischen Digitalen Bibliothek (die es übrigens inzwischen nicht mehr in derselben Form gibt) auseinander, die für mich nach dem Mauerfall und der Wiedervereinigung Deutschlands ein Wahrzeichen der EUKulturpolitik wurde. Giulia Radaelli/Nike Thurn: Für die Migration von Texten haben Sie den Begriff bibliomigrancy geprägt: Welche unterschiedlichen Bedeutungen hat die Bewegung von Büchern für den Zusammenhang von Weltliteratur und Gegenwartsliteratur? B. Venkat Mani: Bibliomigrancy ist der Begriff, den ich für die physische und virtuelle Migration von Büchern verwende. Er umfasst mehrere Bewegungsformen literarischer Texte, Geschichten, Narrative, von der Originalsprache in eine Übersetzung etwa; aber auch die Bewegung von Büchern in Bezug auf die unterschiedlichen Gestalten und Medien, in denen wir unsere ›Lektüre‹ erhalten – sei es auf dem Kindle oder auch über Radio, Fernsehen, mündliche Übertragung, Theater, Performance usw. –, spielt eine sehr wichtige Rolle für den Zusammenhang von Weltliteratur und Gegenwartsliteratur. Für mich bedeutet ›Buch‹ viel mehr als das, was auf dem Papier steht. Doch auch wenn wir das Buch in seiner traditionellen Definition verstehen, ist die Bewegung der Literatur mittels Büchern eng mit den jeweiligen gegenwärtigen politischen, kulturellen, ökonomischen Zusammenhängen verbunden. Der Buchhistoriker Robert Darnton definiert den Lebenszyklus (»life-cycle«) des Buches: vom Autor zum Verleger, dann weiter zum Drucker, Vertrieb und Buchhändler, bevor es schließlich den Leser erreicht. Er benennt diese Stationen, um mehrere Wege zu skizzieren, auf denen man sich der Geschichte des Buches nähern kann, und er fügt hinzu: »books belong to circuits of communication that operate in consistent pat-
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terns.«4 Darntons Ideen dienen als Ausgangspunkt für mein Nachdenken über bibliomigrancy. Bücher haben jedoch keine identischen Lebenszyklen, besonders wenn sie in kulturell-sprachlichen Räumen entstehen, in denen die Zirkulation des kommerziellen Kapitals radikal anders ist als in den wohlhabenden Buchproduktionszentren Europas oder Nordamerikas. Darüber hinaus sind Kommunikationswege kaum einheitlich. Sie sind ebenfalls kulturell wie historisch bedingt und politisch aufgeladen. Bibliomigrancy ist somit ein Begriff, der den Lebenszyklus von Büchern erzählt, indem kulturelle, historische und politische Aspekte berücksichtigt werden; er dient dazu, die Vielfalt der Kommunikationskreisläufe, zu denen Bücher gehören, zu verfolgen und einzubeziehen. Als Beispiel braucht man nur an die wunderschöne Geschichte vom Gilgamesch-Epos oder an die kontroverse Geschichte von Salman Rushdies Satanischen Versen am Ende des 20. Jahrhunderts zu denken, um die radikalen Unterschiede im Lebenszyklus und in den Kommunikationswegen – also in der bibliomigrancy – dieser Bücher in der Welt zu ermessen. Giulia Radaelli/Nike Thurn: Wie schätzen Sie vor diesem Hintergrund die Rolle und Funktion von print culture in Bezug auf Weltliteratur und Gegenwartsliteratur ein: Ist das gedruckte Buch trotz allem immer noch das entscheidende Medium der Literatur? B. Venkat Mani: Nein, meines Erachtens ist es das nicht mehr allein. Nichtsdestotrotz habe ich mich in Recoding World Literature viel auf ›print-kulturelle‹ Institutionen fokussiert, denn besonders im deutschen Kontext gehören sie für mich zu den wichtigsten kulturellen Erscheinungsformen von Geschichte und Politik. Bibliotheken z.B. sind wichtige Stationen bei der Sammlung und Verbreitung literarischer Texte aus der ganzen Welt: als Bücher oder Manuskripte, in den Originalsprachen und in Übersetzungen. Zusammen mit Verleger*innen und Buchhändler*innen haben Bibliotheken dazu beigetragen, Weltliteratur als einen literarischen Katalog der Welt zu konzipieren. Daran kann man schon sehen, dass print culture eine zentrale Rolle für den Zugang zur Weltliteratur – geschichtlich oder gegenwärtig – spielt. Zudem muss man sehen, dass es über die Au-
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Robert Darnton: »What Is the History of Books?«, in: Daedalus 3 (1982), S. 6583, hier S. 81.
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tor*innen, Übersetzer*innen und Literaturwissenschaftler*innen hinaus eine Fülle von Akteur*innen, Institutionen und Medien gibt – Redakteur*innen, Bibliothekar*innen, Verleger*innen, Buchmessen, Interessensgruppen, staatliche Förderungen und Kontrollen sowie seit kurzem technologische Innovationen wie elektronische Lesegeräte und digitale Bibliotheken –, die eine entscheidende Rolle bei der Konstruktion von Weltliteratur und ihren Leser*innen spielen. Eine Auseinandersetzung mit der Bibliothek in ihren vielfältigen Bedeutungen – ein Haus der Bücher, ein Katalog von Titeln, eine Sammlung materieller Objekte und/oder eine digitale Entität – dient insofern dazu, vielfältige Bedeutungen der Weltliteratur zu entfalten: als eine Art und Weise des Lesens (mode of reading), eine Strategie des Zugehörigkeit (strategy of affiliation), ein Element ästhetischer Bewertung (unit of aesthetic evaluation) und ein Klassifizierungssystem (system of classification). Giulia Radaelli/Nike Thurn: Ein weiterer Forschungsschwerpunkt von Ihnen sind ›kleine‹ Literaturen (minor/minority literatures), die Sie u.a. an einem Beispiel aus dem indischen Kontext untersuchen. So vergleichen Sie in einem 2018 veröffentlichten Aufsatz für das Journal of World Literature Abhimanyu Unnuths Lāla Pasīnā (1977) and Amitav Ghoshs Sea of Poppies (2008):5 Der erste ist auf Mauritius-Hindi verfasst und kaum übersetzt, der zweite auf Englisch geschrieben und in vielen anderen Sprachen verfügbar. Beide Romane sind von einer starken Mehrsprachigkeit geprägt. Ghosh macht in Sea of Poppies deutlich, wie wenig einsprachig Englisch eigentlich ist, indem er verschiedene Sprachvarietäten des Englischen in seinen Text einwebt. Dadurch pluralisiert er, wie Sie feststellen, auch die homogenisierende Vorstellung des Global Anglophone. Aber anders als Unnuths, kann Ghoshs Roman als Weltliteratur wahrgenommen werden, weil ihm die englische Sprache leichtere und kürzere Wege der bibliomigrancy bahnt. Sie haben an Forschungen zur Weltliteratur oft beklagt, dass es dabei einen deutlichen Fokus auf anglofone Autor*innen gibt, die Sprachwechsler sind, non-native speakers – und darunter viele, die in der
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B. Venkat Mani: »Multilingual Code-Stitching in Ultraminor World Literatures. Reading Abhimanyu Unnuth’s Lāla Pasīnā (1977) with Amitav Ghosh’s Sea of Poppies (2008)«, in: Journal of World Literature 3 (2018), S. 373-399.
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Sprache früherer Kolonisatoren schreiben. Wie kann man dieser Überbetonung entgegentreten und worin liegt sie begründet? B. Venkat Mani: Ich denke, dass es die Formulierung hier gut trifft: »die englische Sprache bahnt leichtere und kürzere Wege der bibliomigrancy.« Die politische Macht der Sprache, die auch historisch bedingt ist, spielt bei der Konstruktion und Verbreitung der Literatur eine sehr wichtige Rolle. In den ehemaligen Kolonien von Großbritannien, Frankreich, Spanien und Portugal ist die Macht des Englischen, Französischen, Spanischen und Portugiesischen im Vergleich zu den sogenannten ›einheimischen Sprachen‹ sehr stark spürbar. Ich mag übrigens den Begriff ›einheimische Sprachen‹ überhaupt nicht, denn Sprachen sind auch von menschlicher Migration geprägt, und alle Sprachen, wie ich auch in meinem Artikel diskutiere, beinhalten Elemente verschiedener Sprachen, sie sind also genauso hybrid wie Kulturen. Im Fall indischer Literaturen spielt die Kolonialgeschichte eine sehr wichtige Rolle, und im postkolonialen, unabhängigen Indien ist die Position des Englischen nur noch stärker geworden – und das in einem mehrsprachigen Land, denn in Indien sind mehr als 25 Sprachen, Englisch inklusive, zu Hause, von den Tausenden Dialekten und Soziolekten, in denen Literatur geschrieben wurde und glücklicherweise immer noch geschrieben wird, einmal abgesehen. Aber wegen einer Spaltung des Bildungssystems, die völlig mit dem Klassensystem korreliert, ist Englisch nicht nur die Sprache des wohlhabenden Bildungsbürgertums, sie ist die wichtigste Sprache der Bildung geworden, und dadurch auch die Sprache der Mächtigen. Genauso ist es im Fall des Französischen auf Mauritius. Man darf aber nicht vergessen, dass in der politischen Landschaft Indiens Hindi, die Sprache des Nordens und außerdem die Sprache der größten kommerziellen Filmindustrie der Welt, eine sehr wichtige Machtsprache ist; auf Mauritius jedoch nicht. Diese Machtunterschiede und die darunter liegende Sprachpolitik wollte ich durch meine Lektüre beider Texte zum Ausdruck bringen. Deswegen fand ich die Mehrsprachigkeit dieser Romane sehr reizvoll. Aber Machtstrukturen, seien sie in der Literatur, Sprache oder Gesellschaft, können erst dann erhellt werden, wenn man die Machtlosen, die Subalternen in Betracht zieht. Aus diesem Grund habe ich mich in meiner Lektüre auch auf Bhojpuri fokussiert, einen Regiolekt des Hindi, den die Girmitiya gesprochen haben und der in Indien und auf Mauritius immer noch verwendet wird. Und dabei kam mir meine Auseinandersetzung mit
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dem sogenannten ›Gastarbeiterdeutsch‹, das mich schon lange faszinierte, sehr zu Gute, um diese sprachbestimmten Machtunterschiede in den Romanen zu identifizieren. Wie ich am Anfang des Artikels schreibe, waren die Girmitiya die Urgastarbeiter aus dem 19. Jahrhundert. Giulia Radaelli/Nike Thurn: Stellt die Inbesitznahme durch den Orientalismus-Diskurs und jenen Strang des Weltliteratur-Diskurses, der sich auf ›exotische‹ und zugleich anglofone Texte kapriziert, eine weitere Herausforderung für die indische Literatur dar? B. Venkat Mani: Das ist eine sehr gute und sehr wichtige Frage. Zuerst muss ich erwähnen, dass die Inbesitznahme durch den Orientalismus-Diskurs, der Drang nach dem Exotischen und der Fokus auf englischsprachige, d.h. in einer Machtsprache geschriebene, Literatur Herausforderungen nicht nur für indische Literaturen – plural – sind, sondern auch für Literaturen aus Süd-Asien, Süd-Ostasien, Nordafrika, dem mittleren Osten, Lateinamerika und anderen Teilen der Welt, in denen Kolonialsprachen wie Englisch, Französisch, Spanisch, Portugiesisch Machtsprachen sind. In Indien wird Literatur, wie gesagt, in mehr als 25 Sprachen geschrieben, und auch wenn die Leserschaft in diesen Sprachen im Vergleich zur englischsprachigen Literatur geringer ist – was durch das Klassensystem, Sprachhierarchien, den Zugang zur Literatur, aber auch Alphabetisierungsraten bestimmt wird –: es wird gelesen, diskutiert und debattiert. Literaturfeste und Buchmessen, die jetzt in Indien überall, in Groß- und Kleinstädten, stattfinden, fokussieren nicht nur auf englischsprachige Literaturen, sondern auch Literaturen in den jeweiligen Lokalsprachen. Ich lese unheimlich viel auf Hindi und Urdu geschriebene sowie in diese Sprachen (oder ins Englische) übersetzte Literatur, die auf Bengali, Panjabi, Tamil, Telugu und in anderen Sprachen geschrieben wurde, in denen ich Analphabet bin. Das Weltbewusstsein der Autor*innen dieser Sprachen aus dem 20. Jahrhundert bezieht sich auf eine indisch-nationale, manchmal regionale und manchmal sehr lokale Ebene, aber das heißt nicht, dass es nur auf eine dieser Ebenen beschränkt ist. Man darf auch nicht vergessen, dass indische Autor*innen von Premchand bis Agyeya, Nirmal Verma, Krishna Sobti und Usha Priyamwada (Hindi), Amrita Pritam und Gurdial Singh (Punjabi), Vijay Tendulkar und Gauri Deshpande (Marathi), Naiyer Masud, Ismat Chughtai und Qurratulain Hyder (Urdu), O.V. Vijayan und Benyamin (Malayalam), Girish Karnad und U.R.
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Ananthamurthy (Kannada) und viele andere sich als Leser*innen, und manchmal als Übersetzer*innen viel mit den weltliterarischen Werken aus den westlichen Ländern beschäftigt haben. Das kann man leider von westlichen Autor*innen nicht behaupten. Ich rede jetzt nicht von ›Einfluss‹, sondern von Dialog, Austausch, Auseinandersetzung. Giulia Radaelli/Nike Thurn: Mit welchen Strategien reagieren indische Gegenwartsautor*innen auf orientalistisch-exotisierende ›Überstülpungen‹ und Instrumentalisierungen? Welche Rolle spielen die Sprachwahl und die Sprachverwendung in der Literatur eines Landes, in dem über Hundert Millionen Menschen Englisch sprechen, aber auch so viele andere Sprachen gesprochen werden? B. Venkat Mani: Ich glaube nicht, dass ein*e Autor*in sich hinsetzt und sagt, »jetzt werde ich Strategien entwickeln, um den Orientalismus-Diskurs und Überstülpungen zu vermeiden.« Ein*e Leser*in, ein*e Literaturkritiker*in kann jedoch durch die Lektüre bemerken, wie die literarische Form sich verstärkt, wie Strukturen, ein Wort nach dem anderen, das ganze Gebäude so herstellen, dass die Form Gedanken und Gefühle und Kritik transportiert, wobei die Ähnlichkeit menschlicher Erfahrungen erkennbar wird: von Liebe, Glaube, Freundschaft, Treue, Betrug, dem Unterschied zwischen dem Eigenen und dem Fremden, den Spannungen zwischen verschiedenen Gendern, bis zu feudalistischen Überbleibseln, Klassenkämpfen, sich ändernden Formen des Kastensystems, dem Dorf- und Stadtleben und den großen geschichtlichen Themen wie die gewaltige, blutige Teilung Indiens (1947), die Massenmorde an den Sikhs (1984), den Muslimen (1992, 2002), den Dalits (ständig), den sogenannten ›Unberührbaren‹. Der Gebrauch verschiedener Sprachregister, ein sich am Sanskrit orientierendes ›Standard Hindi‹, Regiolekte, aber auch Soziolekte innerhalb einer Sprache, der Gebrauch von englischen Wörtern und besonders in Urdu- und PunjabiLiteraturen der Gebrauch von einer am Persischen oder Hindi orientierten Sprache in Romanen, Novellen, Kurzgeschichten, aber auch Gedichten, Dramen, Liedern – all das erzeugt einen Gesamteffekt. Diese Strategien erhellen nämlich die langsamen Sedimentierungsprozesse, wodurch Menschen und Sprachen zur Nation werden: eine synthetische Entwicklung über Jahrhunderte. Manche englischsprachigen Autor*innen wie Arundhati Roy (besonders in The Ministry of Utmost Happiness), Amitav Ghosh (in
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der Ibis-Trilogie), Deepak Unnikrishnan (in Temporary People), Vikram Seth (in verschiedenen Gedichtsammlungen) machen sehr erfolgreiche Experimente mit der Sprache und mit Erzählstrukturen. Roys Roman z.B. enthält unterschiedliche Textsorten, von Briefen über Manifeste bis zu Polizeiverhandlungsberichten, und ständige Übersetzungen aus dem Hindi, Urdu, Kashmiri ins Englische. Unnikrishnan stellt die sprachliche und kulturelle Vielfalt und die Klassengrenzen in den Vereinigten Arabischen Emiraten – wo fast alle Weltsprachen gesprochen werden – durch die Zusammensetzung von Figuren aus Pakistan, den Philippinen, den USA usw. dar. Seths Werke, von The Golden Gate, einem in Sonetten geschriebenen Roman, bis zu Beastly Tales from Here and There, in dem alte Tierfabeln aus aller Welt auf Englisch erzählt werden, und zwar mit dem hervorragenden Rhythmus und Schema der Kinderreime, sind ein weiteres Beispiel. Rushdie hat einst sprachliche und narrative Experimente in Midnight’s Children gemacht. Jetzt wiederholt er sich leider. Der Romancier ist größer geworden als der Roman. Giulia Radaelli/Nike Thurn: Sie haben die Nationsbildung eben eine »synthetische Entwicklung« genannt. In ihrer Kritik an gängigen Formen der Literaturgeschichtsschreibung schreibt Annette Werberger: »In multiethnischen Nationen wie Indien« könne »literarische Einheit auch durch eine vorgestellte kulturelle Eigenart konstruiert werden, die vorgeblich viele Schriftsprachen und Literaturtraditionen vereinigt. Das heißt: In der Vielheit der Sprachen und Literaturen versucht man ein einziges kulturelles Universum […], eine gemeinsame Poetik […] aufzuzeigen.«6 Ihr zufolge taucht »[d]iese Idee einer kulturellen Einheit trotz verschiedener Sprachen […] sofort nach der Unabhängigkeit Indiens 1947 auf […] – und wird heute mit Recht hinterfragt«.7 Stimmen Sie dieser Rekonstruktion zu? Wie wird die Vorstellung einer »Einheit« und »Eigenart« konkret gefüllt, welche Sprach- und Kulturpolitik speist sie? Mit welchen Argumenten wird sie dagegen hinterfragt? Lässt sich am Beispiel Indiens in der Tat ein anderes
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Annette Werberger: »Überlegungen zu einer Literaturgeschichte als Verflechtungsgeschichte«, in: Dorothee Kimmich/Schamma Schahadat (Hg.), Kulturen in Bewegung. Beiträge zur Theorie und Praxis der Interkulturalität, Bielefeld: transcript 2012, S. 109-141, hier S. 115.
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Ebd., S. 115f.
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Konzept von Nationalliteratur ausmachen, das nicht auf der (vorgestellten) Einheit von Ethnie, Territorium und Sprache basiert? B. Venkat Mani: Der Begriff Nationalliteratur, genau wie Weltliteratur, ist ein Konstrukt. Literatur wird nationalisiert durch Schullektüren, Uni-Curricula, Literaturpreise und -akademien, Kultur- und Bildungsministerien, Klassifizierungssysteme in den Bibliotheken usw. Leider wird sie hauptsächlich auch durch nationale Grenzen nationalisiert, d.h. beschränkt. Doch was in Pakistan auf Urdu oder in Bangladesch auf Bengali geschrieben wird, spricht nicht nur zu der lokalen Leserschaft in diesen Nationen, auch wenn das Nationalspezifische dabei nicht zu unterschätzen ist. In dem Sinne ist im Falle indischer Literaturen meinetwegen die Idee einer »Einheit«, besonders nach der Unabhängigkeit, auch ein Konstrukt. Doch identifiziert ein*e Leser*in aus einem Teil Indiens, dessen/deren Muttersprache bspw. Hindi ist, gewisse gesellschaftliche, lebensgeschichtliche, kulturelle Gemeinsamkeiten mit dem, was er/sie in der bengalischen oder tamilischen Literatur findet; Gemeinsamkeiten, die die ganze Nation umfassen. Aber darüber hinaus kommt das Gemeinsame – wenn es so etwas gibt – durch Gefühle, gesellschaftliche und individuelle Spannungen, die Literatur als Wortkunst höchstinteressant machen, zustande. Die kultursprachlichen Unterschiede zwischen meinem Bundesland, Uttarakhand, und Tamilnadu, woher meine Großeltern stammten, sind genauso groß wie zwischen Dänemark und Portugal. Indiens »kulturelles Universum« ist eine Sammlung, eine Mischung von Fragmenten aus dem ganzen Land und der ganzen Welt in verschiedenen Sprachen. Die Behauptung, dass die nach 1947 zustande gekommene »Einheit« heute »mit Recht hinterfragt wird«, stimmt wohl, aber ich würde dann fragen: von wem, und zu welchen Zwecken? 1947 hat ganz verschiedene Bedeutungen gehabt für Panjabi-, Hindi- und UrduDichter*innen einerseits und die Dichter*innen aus Bengalen andererseits, denn der Subkontinent wurde geteilt. Die thematische Einheit kam durch Gewalt und Flüchtlinge – Millionen davon –, die die neuen Grenzen überqueren mussten, nur wegen ihrer religiösen Identitäten. Die »Eigenart« lag damals, und liegt auch heute, in der Behandlung dieser Themen und der Konsequenzen jener Ereignisse in der gegenwärtigen Gesellschaft. Das Buch The Other Side of Silence (1997) der bekannten feministischen Autorin, Übersetzerin und Verlegerin von Zubaan Books Urvashi Butalia, das ich als höchstwichtige Oralgeschichte der Frauen während der Teilung In-
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diens betrachte, wurde nach der Gewalt gegen Sikhs in Neu-Delhi (1984) konzipiert und geschrieben. In einer neuen Ausgabe (2017) hat Butalia ein neues Vorwort (»Return«) geschrieben, das genau diese Last der Geschichte thematisiert. Die »Eigenart« indischer Literaturen hängt auch mit den Erfahrungen von Dalit-Autor*innen (Omprakash Valmiki, Sharankumar Limbale, Sujatha Gidla u.a.) zusammen, die die Ausdehnung Jahrhunderte langer Diskriminierung durch das Kastensystem in der indischen Gegenwart zeigen. Die Antwort auf die Frage nach der »Eigenart« indischer Literaturen liegt für mich in der Vielfalt. Die »Einheit« der indischen Literaturen liegt in ihrer Vielfalt, genau wie die Einheit der mehrsprachigen europäischen Literatur. Giulia Radaelli/Nike Thurn: Eine Aufgabe der Forschung zum Thema Weltliteratur ließe sich in Ihren Worten wie folgt beschreiben: »understanding how the processes of nationalization of literature in one part of the world impacts the reception of literature from another part of the world. In other words, one needs to scrutinize ways in which the patrimony of a given national political and literary prestige actually underwrites or subsidizes the way for works from other literary spheres to enter the larger world literary space.«8 Wie hat sich der Nationalisierungsprozess indischer Literatur auf weltliterarischer Eben ausgewirkt – und hängt die heutige Vormachtstellung indischer Literatur auf Englisch damit zusammen? Gibt es Literatur, die in diesen Prozess nicht aufgenommen wurde und außerhalb des konstruierten nationalen Rahmens weiter existiert (hat)? B. Venkat Mani: Der Nationalisierungsprozess indischer Literaturen fällt bisweilen mit ihrer Vertretung in der Weltliteratur zusammen, ist aber nicht immer damit vereinbar. Indische Literatur als Weltliteratur bestand ab 1789 – als Kalidasas Shakuntala ins Englische und dann von Georg Forster (1791) ins Deutsche übersetzt wurde, was ich auch in Recoding World Literature diskutiere – hauptsächlich aus altindischen Werken auf Sanskrit, wie die Veden, Upanishaden, die Bhagawad Gita usw. Auch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, während die indische Literatur in verschiedenen Sprachen ihre Blütezeit fand, war im Westen kaum Platz für diese Gegenwartsliteratur. Georg Lukács hat sogar gegen den Roman des Nobel-
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Mani: Recoding World Literature, S. 39.
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preisträgers Rabindranath Tagore At Home in the World als Tagesliteratur polemisiert. Für die Welt besteht die indische ›Nationalliteratur‹ heute, besonders nach der Veröffentlichung von Rushdies Midnight’s Children (1982), leider hauptsächlich aus englischsprachiger Literatur, da diese auch am meisten in andere Weltsprachen übersetzt wird. Aus dem Bengalischen haben wir als bekannte indische Autor*innen Tagore und Mahashweta Devi, aus dem Marathi Tendulkar, aus dem Hindi Premchand, aus dem Kannada Ananthamurthy, ansonsten aber nicht sehr viele. Saadat Hasan Manto, ein Weltmeister der Kurzgeschichte, und der politische Dichter Faiz Ahmed Faiz, sind – obwohl beide ihre Werke nach der Teilung Indiens aus Pakistan heraus veröffentlichten – für mich sehr wichtige Autoren der UrduSprache und werden auch übersetzt und in manchen Kreisen außerhalb Indiens gelesen und geschätzt. Neulich wurde Vivek Shanbhags Ghachar Ghochar, eine auf Kannada verfasste Novelle, ins Englische übersetzt und von der Kritik gut besprochen. Aber es gibt eine sehr große Menge Literatur, die nicht oder nur schlecht übersetzt wird; auch in Indien selbst werden Literaturen aus den verschiedenen Sprachen nur unzureichend übersetzt. Giulia Radaelli/Nike Thurn: Sie haben kritisiert, dass die Literaturwissenschaft die Institutionalisierung von Weltliteratur zu sehr unter dem Aspekt der Hochschullehre, vor allem der Curricula und Fachbücher, untersucht. David Damrosch hat zudem davor gewarnt, dass das »teaching of world literature […] methodologically naïve, culturally deracinated, philologically compromised, and ideologically suspect« sein könnte.9 Sie haben u.a. ein Seminar mit dem Titel Introduction to World Literatures – im Plural – unterrichtet. Welchen Ansatz haben Sie dabei verfolgt? Was sind Ihre Erfahrungen aus der Lehre, was die Vermittlung und Konzeption von Weltliteratur angeht? B. Venkat Mani: Forschungs- und Lehrtätigkeiten sind für mich eng verbunden, und deswegen halte ich diesen Standpunkt und diese Fragen für sehr wichtig. In meinem Buch kritisiere ich den Fokus US-amerikanischer Diskussionen über Weltliteratur, die besonders nach der Veröffentlichung
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Gayatri Chakravorty Spivak/David Damrosch: »Comparative Literature/Word Literature: A Discussion«, in: Comparative Literature Studies 4 (2011), S. 455485, hier S. 461.
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von Gayatri Chakravorty Spivaks Death of a Discipline (2003) hauptsächlich auf die US-amerikanischen Vorstellungen von Vergleichender Literaturwissenschaft (die angeblich Lektüre in den Originalsprachen bevorzugt) und Weltliteratur oder Global Anglophone (die angeblich Lektüre in englischen Übersetzungen bevorzugt) begrenzt waren. Ich finde diese Teilung sehr künstlich: Erstens, weil ich in einer Deutsch-Abteilung unterrichte, in der Texte sowohl in der Originalsprache als auch in Übersetzungen gelesen und diskutiert werden. Zweitens, weil ich an der University of WisconsinMadison, wo mehr als 40 Sprachen und Literaturen unterrichtet werden, eine Forschungswerkstatt über Weltliteratur gegründet und oft geleitet (2007-2016) habe, an der Kolleg*innen und Doktorand*innen aus verschiedenen literaturwissenschaftlichen Disziplinen, Englisch inklusive, teilnahmen. Mehrsprachigkeit war für uns – und ist für mich immer noch – ein sehr wichtiges Thema, aber das bedeutet nicht, dass wir keine übersetzte Literatur und Theorie lesen. Deswegen wollte ich in meinem Buch über Weltliteratur in der Öffentlichkeit (und nicht über Weltliteratur im akademischen Kontext) schreiben. Weltliteratur bedeutet für mich vor allem borrowing privileges: Was wir in der Beschäftigung mit Weltliteratur als Leser*innen in Originalsprachen und Übersetzungen machen, ist, gewisse epistemische und ästhetische Privilegien auszuborgen. Es geht nicht um mastery, sondern um borrowing. Und das ist auch der Ansatz meiner Kurse, darunter Seminare wie Introduction to World Literatures und From Gutenberg to iPad: Books, World Literatures für unsere Bachelor-Student*innen und Comparative World Literature und The Global Book für MasterStudent*innen und Doktorand*innen. In Introduction to World Literatures erzähle ich am ersten Tag immer, dass es keine reine ›Einführung‹, sondern auch eine Einladung zur Weltliteratur ist, und damit auch eine Einladung, mit der Andersartigkeit der Anderen in Beziehung zu treten, um einen Ausgang aus einem selbstverschuldeten ›pedantischen Dünkel‹ zu finden. In dem Sinne nehme ich die Warnung von David Damrosch sehr ernst. Wir arbeiten im Seminar thematisch und chronologisch, um ästhetische und politisch-kulturelle Verbindungen des Menschengeschlechtes zu entdecken. Unsere Texte stammen aus der Antike, aber auch aus der Gegenwart. Für mich, und für meine Student*innen in den Staaten, ist das historische Verständnis sehr wichtig. Wenn meine Student*innen die Originalsprache eines Textes können, haben sie die vollkommene Freiheit, ihre Sprachkenntnisse zu benutzen. Manchmal haben wir auch eine Passage in mehre-
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ren Sprachen gelesen, obwohl die Arbeitssprache Englisch ist. Damit versuchen wir zusammen, die Mehrsprachigkeit der Welt wahrzunehmen. Die Ausgaben bzw. Übersetzungen der Texte werden zwar von mir bestimmt, aber die Student*innen dürfen sie als Bücher aus Papier oder als E-Bücher auf ihren iPads oder Smartphones lesen. Wir benutzen auch Twitter als Teil der Leseerfahrung: Ein Tag vor jeder Sitzung sendet jede*r Student*in einen Tweet über seine/ihre Gedanken zum Text, was dann Teil der Diskussion wird. Wir bloggen über Texte, diskutieren sie online... Wir benutzen also moderne Technologie, um die Texte – vom Gilgamesch-Epos bis zu Daniel Kehlmanns Die Vermessung der Welt – zu diskutieren. Giulia Radaelli/Nike Thurn: In Ihren Arbeiten verfolgen Sie immer wieder den Ansatz, hegemoniale, westliche Positionen zu dezentralisieren. Bezüge zwischen Weltliteratur und Gegenwart(sliteratur) werden heute häufig mit Verweis auf die Globalisierung, vor allem einer Kritik an ihr und ihren homogenisierenden Effekten, gezogen. Wie stehen Sie dazu: Gibt es tatsächlich eine weltweit vorherrschende Kultur und Literatur, auf die alles ›verflacht‹? B. Venkat Mani: Nein, das glaube ich nicht. Diese Angst, die Auerbach in seinem Essay Philologie der Weltliteratur zum Ausdruck brachte, habe ich in meinem Buch auch kritisiert. Alle geschichtlichen Perioden haben mehrere dominante Kulturen und Literaturen, und deswegen sind Begriffe wie ›Weltliteratur‹ und ›Nationalliteratur‹ politisch aufgeladen. Globalisierung hat übrigens auch eine sehr lange Geschichte, sei es durch die Seidenstraße oder die Ausbreitung des Islamischen Reiches in der Welt, um hier nur zwei Beispiele zu nennen. Die Globalisierung durch den europäischen Kolonialismus vom 18. bis 20. Jahrhundert und jetzt in den letzten 25-30 Jahren durch den weltweiten Technologietransfer sind also nur die neuesten Formen der Globalisierung. Es ist für mich sehr wichtig, diesen historischen Aspekt in Betracht zu ziehen. Da ich in meiner Arbeit viel auf die letzten zwei Jahrhunderte fokussiere, in denen die westliche Welt eine hegemoniale Position erreicht, und da ich selbst in einer hegemonialen westlichen Nation zu Hause bin, ist es mir höchst wichtig, diese Hegemonie ständig herauszufordern. Eine Kritik des Eurozentrismus kann ich aber vor allem durch eine tiefe, langjährige kritische Auseinandersetzung mit der europäischen Kultur und Literatur äußern – und erst dann, wenn ich mit den
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hegemonialen und subalternen Elementen der nicht-westlichen, nichteuropäischen Literaturen, Kulturen und Geschichten ein genauso kritisches Verhältnis habe. Nur dann kann ich die Hegemonie einer »weltweit vorherrschende[n]« Literatur und Kultur kritisieren. Das braucht ständige Bildung, ständige Arbeit und ständige Infragestellung. Für mein nächstes Buchprojekt, das Weltliteraturgeschichten entlang von Grenzlinien und anhand von Flüchtlingsgeschichten erzählt, lese ich gerade Gegenwartsliteratur, aber auch Geschichtsbücher, aus Afghanistan, dem Irak, Syrien, Indien, Pakistan, Sri Lanka, Rwanda, Israel, Palästina, Nord- und Südkorea sowie aus Deutschland, Großbritannien, Skandinavien, den USA und anderen Ländern, in denen Flüchtlinge angekommen sind. Ich erzähle das nur, um zu zeigen, dass ich in meiner Leseerfahrung keine ›Verflachung‹, sondern nur höchstinteressante Verschiedenheiten, Differenzen, Ungleichgewichte sehe, die aber auch Ähnlichkeiten der menschlichen Erfahrung darstellen. Wie ich auch in dem letzten Buch schreibe: »If you want to know your own pact with books, all you need to do is unpack someone else’s library.«10 Giulia Radaelli/Nike Thurn: Das ist ein wunderbares Schlusswort. Wir danken Ihnen ganz herzlich für das Gespräch.11
10 Mani: Recoding World Literature, S. 249. 11 Das via E-Mail geführte Gespräch fand im Herbst 2018 statt.
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L ITERATUR Damrosch, David/Spivak, Gayatri Chakravorty: »Comparative Literature/Word Literature: A Discussion«, in: Comparative Literature Studies 4 (2011), S. 455-485. Mani, Venkat B.: Recoding World Literature. Libraries, Print Culture, and Germany’s Pact With Books, New York: Fordham University Press 2017. Weinrich, Harald: Chamisso, die Chamisso-Autoren und die Globalisierung, Stuttgart: Robert Bosch Stiftung 2002. —: »Chamisso, Chamisso Authors, and Globalization«, übers. von Marshall Brown und Jane K. Brown, in: PMLA 5 (2004), S. 1336-1346. Werberger, Annette: »Überlegungen zu einer Literaturgeschichte als Verflechtungsgeschichte«, in: Dorothee Kimmich/Schamma Schahadat (Hg.), Kulturen in Bewegung. Beiträge zur Theorie und Praxis der Interkulturalität, Bielefeld: transcript 2012, S. 109-141.
Autorinnen und Autoren
Borsò, Vittoria, Prof. Dr., Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, Institut für Romanistik, Universitätsstraße 1, D-40225 Düsseldorf; E-Mail: [email protected] Fendler, Ute, Prof. Dr., Universität Bayreuth, Fakultät für Sprach- und Literaturwissenschaft, D-95440 Bayreuth; E-Mail: [email protected] Goer, Charis, Dr., Universiteit Utrecht, Duitse Taal en cultuur, Trans 10, NL-3512JK Utrecht; E-Mail: [email protected] Kauffmann, Kai, Prof. Dr., Universität Bielefeld, Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft, Postfach 100131, D-33501 Bielefeld; E-Mail: [email protected] Komfort-Hein, Susanne, Prof. Dr., Goethe-Universität Frankfurt am Main, Institut für deutsche Literatur und ihre Didaktik, Norbert-WollheimPlatz 1, D-60629 Frankfurt am Main; E-Mail: [email protected] Lubrich, Oliver, Prof. Dr., Universität Bern, Institut für Germanistik, Länggassstr. 49, CH-3012 Bern; E-Mail: [email protected] Mani, B. Venkat, Prof. Dr., University of Wisconsin-Madison, Department of German, Nordic, and Slavic, 1220 Linden Dr, Madison, WI 53706, US; E-Mail: [email protected]
322 | AUTORINNEN UND A UTOREN
Müller, Gesine, Prof. Dr., Universität zu Köln, Romanisches Seminar, Albertus-Magnus-Platz, D-50923 Köln; E-Mail: [email protected] Morita, Norimasa, Prof. Dr., Waseda University, Graduate School of International Culture and Communication Studies, 1-6-1 Nishiwaseda, Shinjuku-ku, Tokyo 169-8050, JP; E-Mail: [email protected] Platthaus, Andreas, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Hellerhofstraße 2-4, D-60327 Frankfurt am Main Previšić, Boris, Prof. Dr., Universität Luzern, Seminar für Kulturwissenschaften und Wissenschaftsforschung, Frohburgstr. 3, Postfach 4466, CH-6002 Luzern; E-Mail: [email protected] Radaelli, Giulia, Dr., Università Ca’ Foscari, Centro Linguistico di Ateneo, Dorsoduro 3246, I-30123 Venezia; E-Mail: giuliairene.radaelli @unive.it Schahadat, Schamma, Prof. Dr., Eberhard-Karls-Universität Tübingen, Slavisches Seminar, Wilhelmstr. 50, D-72074 Tübingen; E-Mail: schamma. [email protected] Schneider, Ralf, Prof. Dr., RWTH Aachen, Institut für Anglistik, Amerikanistik und Romanistik, Kármánstraße 17/19, D-52062 Aachen; E-Mail: [email protected] Spoerhase, Carlos, Prof. Dr., Universität Bielefeld, Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft, Postfach 100131, D-33501 Bielefeld; E-Mail: [email protected] Thurn, Nike, Dr., Deutsches Historisches Museum, Unter den Linden 2, D-10117 Berlin; E-Mail: [email protected] Varatharajah, Senthuran, S. Fischer Verlag, Hedderichstraße 114, D60596 Frankfurt am Main
Literaturwissenschaft Achim Geisenhanslüke
Wolfsmänner Zur Geschichte einer schwierigen Figur 2018, 120 S., kart., Klebebindung 16,99 € (DE), 978-3-8376-4271-1 E-Book: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4271-5 EPUB: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4271-1
Sascha Pöhlmann
Stadt und Straße Anfangsorte in der amerikanischen Literatur 2018, 266 S., kart., Klebebindung 29,99 € (DE), 978-3-8376-4402-9 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4402-3
Michael Basseler
An Organon of Life Knowledge Genres and Functions of the Short Story in North America February 2019, 276 p., pb. 34,99 € (DE), 978-3-8376-4642-9 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4642-3
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Literaturwissenschaft Rebecca Haar
Simulation und virtuelle Welten Theorie, Technik und mediale Darstellung von Virtualität in der Postmoderne Februar 2019, 388 S., kart., Klebebindung 44,99 € (DE), 978-3-8376-4555-2 E-Book: 44,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4555-6
Laura Bieger
Belonging and Narrative A Theory of the American Novel 2018, 182 p., pb., ill. 34,99 € (DE), 978-3-8376-4600-9 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4600-3
Wilhelm Amann, Till Dembeck, Dieter Heimböckel, Georg Mein, Gesine Lenore Schiewer, Heinz Sieburg (Hg.)
Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 9. Jahrgang, 2018, Heft 2: Interkulturelle Mediävistik Januar 2019, 240 S., kart., Klebebindung 12,80 € (DE), 978-3-8376-4458-6 E-Book: 12,80 € (DE), ISBN 978-3-8394-4458-0
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