Konfliktfeld Fluchtmigration: Historische und ethnographische Perspektiven 9783839447666

Migration ist in den letzten Jahren zu einem der zentralen Felder gesellschaftlicher Selbstverständigung avanciert. Das

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German Pages 326 [324] Year 2019

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Table of contents :
Inhalt
Einleitung
Begriffe und Konzepte
Europas Kosmopolitisierung und die Grenzen der Migrationsforschung
Die Logistik der Migration
Flucht, Zwangsmigration, Gewaltmigration?
Assimilation, Integration, Kohäsion, Partizipation – oder: Was wird hier eigentlich verhandelt?
Zeiten
Mobilität, Grenzen und das Paradox der Demokratie
Umkämpfte Zeitlichkeiten
Angekommen?
Räume
„Wir haben schon genug Probleme hier.“
Umkämpfte Im-/Mobilitäten
Räume des Asyls
Rechte
Asyl im Niger
Medial (re-)produzierte Narrative und Asylrechtsänderungen
Illegalität als Regulierungsform für Migration in der bundesdeutschen Gastarbeiterära
Bewegungen
Europa und die Bewegung der Migration
Engagement für und mit Geflüchteten
Die Selbstorganisierung geflüchteter Jugendlicher
Präfigurative Politiken und kulturelle Figurierungen des Helfens
Autor_innenverzeichnis
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Konfliktfeld Fluchtmigration: Historische und ethnographische Perspektiven
 9783839447666

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Reinhard Johler, Jan Lange (Hg.) Konfliktfeld Fluchtmigration

Kultur und soziale Praxis

Reinhard Johler (Prof. Dr.) lehrt Empirische Kulturwissenschaft an der Universität Tübingen. Sein Arbeitsgebiet umfasst neben Migration und Diversität die Geschichte und Theorie einer Europäischen Ethnologie. Jan Lange (M.A.) ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand am Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaft der Universität Tübingen. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Stadt-, Migrations- und Organisationsforschung.

Reinhard Johler, Jan Lange (Hg.)

Konfliktfeld Fluchtmigration Historische und ethnographische Perspektiven

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2019 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Lektorat & Korrektorat: Reinhard Johler, Jan Lange und Arno Schmidt, Tübingen Satz: Arno Schmidt, Tübingen Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4766-2 PDF-ISBN 978-3-8394-4766-6 https://doi.org/10.14361/9783839447666 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Einleitung

Reinhard Johler & Jan Lange | 9

BEGRIFFE UND KONZEPTE Europas Kosmopolitisierung und die Grenzen der Migrationsforschung

Regina Römhild | 19 Die Logistik der Migration. Ethnographische und epistemische Perspektiven

Manuela Bojadžijev | 31 Flucht, Zwangsmigration, Gewaltmigration? Begriffe und Konzepte der Forschung

Jochen Oltmer | 49 Assimilation, Integration, Kohäsion, Partizipation – oder: Was wird hier eigentlich verhandelt?

Walter Leimgruber | 65

ZEITEN Mobilität, Grenzen und das Paradox der Demokratie

Heidrun Friese | 83 Umkämpfte Zeitlichkeiten. Temporale Bedingungen und Effekte des Regierens von Flucht und Geflüchteten vor Ort

Philipp Schäfer | 105 Angekommen? Verortungen im Kontext von Flucht und Vertreibung in der SBZ und DDR

Ira Spieker | 121

RÄUME „Wir haben schon genug Probleme hier.“ Konflikte um städtische Transformation und den Zuzug von Geflüchteten

Jan Lange & Manuel Liebig | 139 Umkämpfte Im-/Mobilitäten. Die soziale Produktion von Nichtabschiebbarkeit im transinsularen Raum

Sarah Nimführ | 155 Räume des Asyls. Deutschlernen und die Rolle von Raum für die lokale Aushandlung von Asylregimen

Martina Blank | 173

RECHTE Asyl im Niger. Politische Rolle und lokale Adaptionen des Flüchtlingsschutzes

Laura Lambert | 191 Medial (re-)produzierte Narrative und Asylrechtsänderungen. Annäherungen an ein Dispositiv der Lager

Simon Goebel | 207 Illegalität als Regulierungsform für Migration in der bundesdeutschen Gastarbeiterära

Serhat Karakayali | 229

BEWEGUNGEN Europa und die Bewegung der Migration. Das Dublin-System im Kontext nationaler Grenzkontrollen entlang der Brenner-Route

Matthias Schmidt-Sembdner | 249

Engagement für und mit Geflüchteten. Reflexionen zur Zivilgesellschaft

Priska Daphi & Verena Stern | 265 Die Selbstorganisierung geflüchteter Jugendlicher. Demokratische Praxen im Spannungsverhältnis zu Öffentlichkeit und Staatlichkeit

Helge Schwiertz | 281 Präfigurative Politiken und kulturelle Figurierungen des Helfens. Konstellationen zivilgesellschaftlicher Willkommenskultur in den Migrationsbewegungen von 2015

Ove Sutter | 299 Autor_innenverzeichnis | 319

Einleitung Reinhard Johler & Jan Lange

Migration ist in den letzten Jahren zur Chiffre gesellschaftlicher Selbstverständigung avanciert, in der die Auseinandersetzung zwischen Umverteilung und Marktfreiheit durch die zwischen kommunitaristischen und kosmopolitischen Wissensordnungen flankiert, wenn nicht gar überlagert wird. Die entlang dieser Konfliktlinie verlaufenden Positionierungen können als Elemente eines symbolischen Kampfes um die Deutungshoheit über die Frage interpretiert werden, wer Teil der Gesellschaft ist und wer nicht. Das Eintreffen von hunderttausenden Flüchtenden in Europa im „Sommer der Migration“ fortfolgend hat diese Debatte ebenso dynamisiert wie polarisiert und neue soziale, ökonomische, rechtliche und politische Konfliktfelder eröffnet. Dabei geraten oftmals insbesondere drei Punkte in Vergessenheit: Erstens ist Migration keine externe Größe, sondern sie wirkt als konstitutive Kraft an gesellschaftlichen Veränderungsprozessen mit. 1 Zweitens findet der Großteil der Fluchtbewegungen im Globalen Süden statt und lässt sich nicht simplifizierend als Süd-Nord-Bewegung konzipieren. Drittens ist die Präsenz von Flüchtenden in Europa grundsätzlich nichts Neues. Allein für das 20. Jahrhundert ließen sich die beiden Weltkriege, die Auflösung des Ostblocks und die Jugoslawienkriege als Katalysatoren binnenkontinentaler Fluchtbewegungen von Millionen Menschen anführen.2 Obwohl das verstärkte Ankommen von Flüchtenden 2015 somit nicht als historische Zäsur verstanden werden kann, traf die Wanderungsbewegung sehr wohl

1

Vgl. dazu u.a. Bojadžijev, Manuela: Die windige Internationale. Rassismus und Kämpfe der Migration, Münster: Westfälisches Dampfboot 2008; Yildiz, Erol/Hill, Marc (Hg.), Nach der Migration. Postmigrantische Perspektiven jenseits der Parallelgesellschaft, Bielefeld: Transcript 2015.

2

Vgl. Gatrellm, Peter: The Unsettling of Europe. How Migration Reshaped a Continent, London: Basic Books 2019.

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auf gewandelte politische Realitäten. Die öffentliche Debatte konzentrierte sich nach einem kurzen Intervall der Willkommenskultur unter dem Begriff der „Flüchtlingskrise“ auf das scheinbar krisenhafte Ausmaß der Anwesenheit von Geflüchteten und ihre Überquerung der Außen- und Binnengrenzen der EU. Hierin wurde die zentrale Ursache des temporären Außerkraftsetzens der Mobilitätspolitiken des EU-Grenzregimes ausgemacht. Dass die Krise in erster Linie eine des von inneren Widersprüchen durchzogenen Grenzregimes – das den Schutz von Flüchtenden als auch die daraus entstehenden Kosten zwischen den Mitgliedsstaaten ungleich verteilt und deshalb extrem konfliktanfällig ist – war, trat dabei in den Hintergrund.3 Die unerwarteten und nicht der Kontrolle der EU unterworfenen Migrationsbewegungen hatte zur Folge, dass einzelne Staaten vorrübergehend Grenzkontrollen im Schengenraum einführten und damit die zentrale Garantie des EU-Vertrags, die Freizügigkeit im Binnenmarkt, einschränkten. In diesem Schritt offenbarte sich einerseits die geringe Reichweite des Solidaritätsgebotes. Andererseits wurde die begrenzte Bereitschaft der Mitgliedsstaaten deutlich, die Regulierung und Steuerung der Migration stärker an eine supranationale Organisation zu delegieren. Die improvisierten Strategien verschiedener Staaten im Umgang mit den Flüchtenden illustrieren, in welch hohem Maße der Anspruch auf nationalstaatliche Souveränität an Fragen der Mobilität und Migration gekoppelt ist. Insbesondere aus der Perspektive einer an der Garantie der territorialen Unversehrtheit eines Hoheitsgebietes orientierten Staatlichkeit kann die selbstbestimmte Überquerung nationaler Grenzen nur schwer nicht als eine existenzielle Bedrohung aufgefasst werden. Auch in den öffentlichen Diskussionen waren von Anfang an Stimmen zu vernehmen, welche die Zuwanderung als mittel- oder langfristige Gefährdung gruppenspezifischer sozialer Stellungen und der politischen Ordnung interpretierten. Der wahre Kern ist hierbei in der Tatsache auszumachen, dass die kulturelle Diversität innerhalb der europäischen Gesellschaften auch durch Geflüchtete weiter zunimmt. Die wachsende Verschränkung von lokalen und globalen Kontexten führt auf der Ebene alltäglicher Erfahrung zur verstärkten Ausbildung transnationaler Räume, 4 die ein spezifisches Repertoire an Zugehörigkeitsangeboten und Verortungspraktiken bereithalten und die Idee der durch Abstammung definierbaren politischen Gemeinschaft lebensweltlich unterlaufen.

3

Vgl. Hess, Sabine/Kasparek, Bernd/Kron, Stefanie/Rodatz, Mathias/Schwertl, Maria/Sontowski, Simon: »Der lange Sommer der Migration. Krise, Rekonstitution und ungewisse Zukunft des Europäischen Grenzregimes«, in: Dies. (Hg.), Der lange Sommer der Migration (= Grenzregime, Band 3), Berlin/Hamburg: Assoziation A, S. 6-24.

4

Vgl. u.a. Pries, Ludger: Die Transnationalisierung der sozialen Welt, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2008.

Einleitung | 11

Gleichzeitig fühlen sich Teile der Bevölkerung durch das Ankommen und Bleiben der Geflüchteten in ihren jeweiligen Identitätsentwürfen herausgefordert und reagieren mit Verunsicherung bis hin zum Rückgriff auf rassistische Praktiken. In dieser verknappten Skizze wird bereits deutlich, dass Fluchtbewegungen auf unterschiedlichen räumlichen Ebenen sowie in verschiedenen gesellschaftlichen Teilbereichen neue Konfliktfelder eröffnen. Wie sie in Vergangenheit und Gegenwart zugeschnitten und fortlaufend aktualisiert und fortgeschrieben werden, ist Gegenstand der folgenden Beiträge. Diese spannen den Bogen sowohl zwischen verschiedenen Disziplinen als auch von theoretischen und epistemologischen Fragestellungen bis hin zur Darstellung alltäglicher Erfahrungen und Aushandlungen. Der Band versammelt die Vorträge des im Sommer 2018 gehaltenen Institutskolloquiums „Auf der Flucht – nach der Flucht. Kultur- und sozialwissenschaftliche Perspektiven, ethnographische Zugänge“ der Empirischen Kulturwissenschaft der Universität Tübingen und ergänzt diese um weitere wichtige Perspektiven. Mit dem im Titel des Bandes angeführten und in provokativer Absicht gewählten Begriff der Fluchtmigration möchten wir dabei einerseits anzeigen, dass die sowohl auf Ebene der Politiken verankerte als auch in der Öffentlichkeit weitläufig akzeptierte Unterscheidung in legitime und illegitime Mobilität durch das Eintreffen der Geflüchteten im Sommer 2015 grundlegend irritiert wurde. Analog der Zunahme rechtlicher Klassifizierungen der Geflüchteten mit dem Effekt einer „flickenteppichartigen Rechtslage“5, lässt sich auch für die breite gesellschaftliche Diskussion eine Zunahme an Kategorisierungen und damit verbundenen neuen Begriffen feststellen, die insbesondere über moralische Argumente versuchen bestimmte Modi der Inklusion/ Exklusion zu rechtfertigen. Anderseits gerät die durch die Forschung (re-)produzierte Differenzierung von distinkten Typen der Migration unter Druck. So überlagern sich im Falle von Fluchtbewegungen in der Regel verschiedene Bedürfnislagen von Subjekten. 6 Die Abgrenzung zu anderen Formen der Migration durch Fokussierung auf die Ursachen des Zwangs und der Gewalt ist demnach nicht hinreichend, um den dynamischen Prozess der Flucht zu beschreiben. Diese Unzulänglichkeit lässt sich auch als Symptom einer tiefergehenden Herausforderung fassen: Das aktuell verfügbare Set der

5

Benhabib, Seyla: Die Rechte der Anderen. Ausländer, Migranten, Bürger, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2008, S. 151.

6

Vgl. u.a. Treibel, Annette: Migration in modernen Gesellschaften. Soziale Folgen von Einwanderung, Gastarbeit und Flucht, Weinheim/München: Juventa 2011, S. 17-24; Picozza, Fiorenza: »Dublin on the Move. Transit and Mobility across Europe’s Geographies of Asylum«, in: movements. Journal für kritische Migrations- und Grenzregimeforschung 1 (2017), S. 71-88.

12 | Reinhard Johler & Jan Lange

Begriffe und Konzepte der Migrationsforschung reicht nicht aus, um die diversen (Misch-)Formen und Modi der Mobilität zu erfassen – die Beschreibung anhand der Basisdifferenzierung in Bewegung und Sesshaftigkeit stößt an ihre Grenzen. Der Titel des Sammelbandes versteht sich an dieser Stelle als Aufforderung, Flucht weder als isolierbares Phänomen noch im Sinne klassischer Defizitforschung zu analysieren. 7 Vielmehr braucht es zur Bearbeitung dieses epistemologischen Konfliktfeldes Perspektiven, die es ermöglichen darzustellen, dass und wie Flucht und Migration konstitutiver Teil von Vergesellschaftungsprozessen und eben keine exogenen Größen sind; nicht zuletzt, um so „Kategorien der Migrationsforschung, statt sie zu objektivieren, dahingehend zu untersuchen, wie sie soziale Verhältnisse vermitteln (und welche)“8. Angesichts dieses Bedarfes fokussiert das erste Kapitel des vorliegenden Bandes auf „Begriffe und Konzepte“ der Forschung. Regina Römhild plädiert für einen Perspektivwechsel in der Migrationsforschung. Ausgehend von der Kritik, dass deren Blickwinkel und Feldzuschnitte die längste Zeit zu einer politisch instrumentalisierbaren, gesellschaftlichen Konstruktion von „ethnischen“ Minderheiten am Rand und „weißer“ Mehrheit im Zentrum beigetragen habe, tritt sie für eine postmigrantische Forschung ein. Diese geht von der zentralen, konstitutiven Rolle der Migration aus, untersucht aus dieser Perspektive gesellschaftliche (Macht-)Verhältnisse und lässt die traditionelle Engführung des Forschungszweiges auf eine „Migrantologie der Minderheiten“ hinter sich. Manuela Bojadžijev skizziert vor dem Hintergrund jüngerer Impulse des Transnationalismus, der Mobility Studies sowie der Diskussionen um die Autonomie der Migration, bzw. der Neujustierung der Migrationsforschung als Querschnittsperspektive einen neuen Forschungsstrang. Mittels des zentralen Begriffs der „logistischen Grenz-

7

Vgl. u.a. Castles, Stephen: »Towards a Sociology of Forced Migration and Social Transformation«, in: Sociology. The Journal Of The British Sociological Association 1(2003), S. 13-34; Bakewell, Oliver: »Researching Refugees. Lessons from the Past. Current Challenges and Future Directions«, in: Refugee Survey Quarterly 3 (2007), S.614.

8

Bojadžijev, Manuela/Römhild, Regina: »Was kommt nach dem ›transnational turn‹? Perspektiven für eine kritische Migrationsforschung«, in: Labor Migration (Hg.), Vom Rand ins Zentrum. Perspektiven einer kritischen Migrationsforschung (= Berliner Blätter, Band 65), Berlin: Panama Verlag 2014, S. 21; ebenso Nieswand, Boris/Drotbohm, Heike: »Die reflexive Wende in der Migrationsforschung«, in: Dies. (Hg.), Kultur, Gesellschaft, Migration. Die reflexive Wende in der Migrationsforschung, Wiesbaden: Springer 2014, S. 1-37.

Einleitung | 13

landschaften“ fokussiert der Beitrag auf die wechselseitigen Beziehungen zwischen kapitalistischer Wirtschaftsweise und Migration und arbeitet so die Entstehung eines neuen Mobilitätsparadigmas heraus, das maßgeblich einer logistischen Rationalität folgt. Der Beitrag von Jochen Oltmer unterzieht die in wissenschaftlichen als auch öffentlichen und politischen Debatten zur Beschreibung von Menschen auf der Flucht Verwendung findenden Begrifflichkeiten einer kritischen Analyse. Um diese zu reflektieren und Impulse für ihre Überarbeitung zu geben, führt er dabei Perspektiven der Migrations- und Gewaltforschung zusammen. Der Beitrag von Walter Leimgruber rückt die Ordnungsweisen und -vorstellungen nach der Migration und damit das konkrete Zusammentreffen von Menschen unterschiedlicher Herkunft in nationalstaatlich verfassten Gesellschaften in den Fokus. Diskutiert wird die Frage, welche Potentiale die Faktizität der Zuwanderung für eine zeitgenössische Selbstverständigung politischer Kollektive bietet. Im Kapitel „Zeiten“ fragt der Beitrag von Heidrun Friese nach den politischen Verschiebungen jüngeren Datums in den Diskussionen rund um Mobilität, Souveränität und Grenzen. Dazu untersucht die Autorin populäre Aussagen in einem digitalen Leserforum hinsichtlich ihrer Reproduktion und Aktualisierung des Grenzregimes und sortiert diese entlang von Positionen der politischen Philosophie. Philipp Schäfer wiederrum rekonstruiert die Zeitlichkeit sowie die temporalen Bedingungen des Regierens von Flucht vor Ort. Anhand empirischer Schlaglichter wird deutlich, wie Akteure eines lokalen Migrationsregimes versuchen die verschiedenen temporalen Modi individueller Handlungen auszubalancieren, aufeinander abzustimmen und so die eigendynamischen Bewegungen der Migration einhegbar zu machen. Ira Spieker beleuchtet vor dem Hintergrund des umfassenden gesellschaftlichen Transformationsprozesses nach dem Zweiten Weltkrieg in der Sowjetischen Besatzungszone/Deutschen Demokratischen Republik die Aushandlungen zwischen Flüchtlingen und ‚Alteingesessenen‘. Deutlich wird, dass der Transformationsprozess den Neuangekommenen neben Not und Ausgrenzung auch Freiräume für Aneignung und Mitgestaltung bot. Hieran anschließend diskutiert die Autorin, inwieweit individuelle Adaptionsstrategien und staatliche Maßnahmen korrelierten und welche Mechanismen und Parameter die soziale und emotionale (Selbst-)Verortung der Neuankommenden in der sich entwickelnden Gesellschaft bestimmten. Im ersten Beitrag des Kapitels „Räume“ zeigen Manuel Liebig und Jan Lange in der Analyse einer Ankunftsepisode von Geflüchteten in einem Ortsteil Altglienickes im Berliner Bezirk Treptow-Köpenick, wie Geflüchtete vor dem Hintergrund von Deklassierungserfahrungen der Anwohnenden und einer Verschlechterung der Lebensumstände als verräumlichte Bedrohung entworfen werden. Theoretisch greifen sie dabei auf das Konzept der Ablehnungskulturen zurück und

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kombinieren diese mit Ansätzen relationaler Soziologien zum sozialen Raum. Sarah Nimführ thematisiert in ihrem Beitrag das Leben von abgelehnten Asylsuchenden auf Malta, die infolge diverser rechtlicher und praktischer Faktoren nicht abschiebbar sind und die Insel nicht geregelt verlassen können. Im Fokus stehen die Im-/Mobilität der Geflüchteten sowie der reziproke Einfluss zwischen politischem Diskurs, migrationskontrollierenden Strategien und migrantischen Praktiken. Martina Blank zeichnet im letzten Beitrag des Kapitels nach, wie auf lokaler Ebene spezifische Räume des Asyls durch verschiedene Akteure in Auseinandersetzung mit dominanten Diskursen, Institutionen und materiellen räumlichen Gegebenheiten geschaffen werden. Im Zentrum steht eine Sammelunterkunft einer kommunalen Anschlussunterbringung und die auf diese bezogenen Praktiken und Diskurse im Stadtteil. Praxen wie das Deutschlernen erweisen sich dabei als ein alltägliches Ringen um die Fragen, wo und mit wem sich Geflüchtete im städtischen Raum aufhalten wollen, dürfen und sollten und wer wozu Zugang hat. Das Kapitel „Rechte“ wird eröffnet von Laura Lambert. Diese widmet sich dem erst in jüngster Zeit in den Fokus des internationalen Migrationsmanagements geratenen Ausbau des Asyls im Niger im Kontext der intensivierten Kontrollversuche der EU-Migrationspolitik. Im Zentrum der Analyse stehen der Zugang zum Asylverfahren sowie die Asylgewährung. Unter Bezugnahme auf die Konzepte der moralischen und politischen Ökonomie zeigt sie, dass das nigrische Asylverfahren stark von supranationalen Institutionen abhängig ist, sich in dieses aber auch lokale Interessen einzuschreiben vermögen. Simon Goebel fragt angesichts der zunehmend restriktiver ausgerichteten rechtlichen Rahmenbedingungen für Geflüchtete danach, wie diese mit dem öffentlichen Diskurs der medialen Berichterstattung korrelieren. Im Zentrum der Analyse stehen dabei Aushandlungen, welche die Unterbringung von Geflüchteten in, von Goebel theoretisch als "Lager" eingeordnete, abgeschottete Wohneinheiten rechtfertigen. Serhat Karakayali hinterfragt die populäre Annahme, der zufolge illegale Migration ein erst in jüngerer Zeit auftretendes Phänomen sei. Anstelle dessen zeigt er, dass illegale Migration seit der Gastarbeiteranwerbung stattgefunden hat und der Begriff der Illegalität seitdem je nach den Bedarfen verschiedener Akteure und der politischen Situation unterschiedlich verwendet wurde. Dies nicht zuletzt mit der Intension, Migrationsprozesse auch jenseits zu starrer formaler Rechtsverfahren bearbeitbar zu machen. Auftakt des Kapitels „Bewegungen“ bildet die Betrachtung der Praktiken von Migrant_innen, Polizist_innen, Sozialarbeiter_innen und Aktivist_innen in der Grenzregion zwischen Italien, Österreich und Deutschland entlang der Brennerroute durch Matthias Schmidt-Sembdner. Im Spannungsfeld zwischen einer (Re-)Nationalisierung der Migrations- und Grenzpolitik in Europa, den migrationspolitischen Reformbemühungen der Europäischen Union und der Bewegung

Einleitung | 15

der Migration nimmt er die mikropolitischen und transnationalen Dynamiken der Grenzregionen in den Blick, um die Rekonfigurierungen und Aushandlungen des Schengenraums im Anschluss an die Migrationsbewegungen des Sommers 2015 zu analysieren. Priska Daphi und Verena Stern beleuchten die Wirkung des Engagements für und mit Geflüchteten seit dem Sommer 2015. Im Fokus steht dabei die Frage nach der Beziehung der Zivilgesellschaft zum Politischen. Helge Schwiertz setzt sich mit politischen Selbstorganisierungen für gleichwertige Rechte von geflüchteten Jugendlichen auseinander. Ihre Interventionen und Positionierungen analysiert er unter Rückgriff auf radikaldemokratische Ansätze, in deren Anwendung die Jugendlichen jenseits objektivierender Zuschreibungen als politische Subjekte sichtbar werden. Deutlich wird dabei ihr grundlegender Spagat zwischen Kooperation zur Allianzbildung einerseits und Konfrontation im Kampf um Rechte andererseits. Ove Sutter setzt sich ausgehend von dem unverhofften Eintreffen einer Vielzahl von Geflüchteten im Sommer 2015 mit der lokalen Formierung einer Bewegung des zivilgesellschaftlichen Engagements auseinander. Er argumentiert, dass die Handlungen der Helfer_innen als politische Praktiken verstanden werden können, die im Sinne „präfigurativer Politiken“ Rückschlüsse auf den Nexus von gesellschaftlichen Bewegungen und strukturellen Rahmenbedingungen zulassen.

Begriffe und Konzepte

Europas Kosmopolitisierung und die Grenzen der Migrationsforschung Regina Römhild

„Wenn die Menschen, die heute an den Stränden des Mittelmeers sterben – und ich wähle meine Worte mit Bedacht –, wenn diese Menschen weiß wären, wäre die ganze Welt auf der Stelle erschüttert. Aber sie sind schwarz und arabisch, also ist es günstiger, wenn sie sterben [...] Wenn die EU Menschen im Mittelmeer retten wollte, wäre das möglich. Denn das Geld, das für Frontex ausgegeben wird, könnte für die Rettung dieser Menschen verwendet werden. Aber man wartet ab, bis sie sterben. Dieses ‚Lasst sie sterben‘ (Laissez-mourir) wird als Abschreckungsmittel eingesetzt. Aber ich sage Ihnen etwas: Das schreckt niemanden ab. [...] Eine Person, die aufbricht, um am Leben zu bleiben und die weiß, dass das Leben, dass sie riskiert, nichts wert ist, entwickelt eine unvorstellbare Kraft, denn sie hat keine Angst vor dem Tod [...] Hören Sie, Monsieur: Sie werden hier, in der Festung Europa, nicht wie Goldfische unter sich bleiben. Die Krise hat das deutlich gemacht: Europa wird niemals unbehelligt bleiben, solange es Konflikte in anderen Teilen der Welt gibt. Europa wird so lange nicht wieder zu Wohlstand kommen, solange es in anderen Teilen der Welt Mangel und Hunger gibt. [...] Also lassen Sie uns eine gemeinsame Lösung finden, oder verlassen Sie Europa – denn ich habe vor, hierzubleiben!“1 Mit diesen Worten nimmt die Schriftstellerin Fatou Diomé 2015 prägnant Stellung zur allseits diskutierten ‚Flüchtlingskrise‘. Zu sehen war dies in der französischen TV-Talkshow mit dem bezeichnenden Titel „Peut-on accueillir toute la 1

Die Schriftstellerin Fatou Diomé, die seit 2008 in Frankreich lebt, in der französischen TV-Talkshow »Ce soir ou jamais!« vom 24.4.2015. Ausschnitte mit englischen Untertiteln finden sich hier: https://www.youtube.com/watch?v=AZk6xopE6IM (aufgerufen am 26.5.2019). Die deutsche Übersetzung der ausgewählten Zitate sowie die Hervorhebungen stammen von mir.

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misère du monde?“ – Kann man das ganze Elend der Welt auf sich nehmen? –; eine Formulierung, die auf eine Äußerung des Sozialisten Michel Rocard 1989 zurückgeführt und seither immer wieder, etwa auch von Präsident Emmanuel Macron, aufgerufen wird, wenn es um Flucht, Migration und die Grenzen Europas geht. Diomé, selbst aus Senegal nach Frankreich migriert, geht es jedoch nicht um die im Titel implizit mitschwingende Rede von der „Bürde des weißen Mannes“2, sich der Nöte und Defizite der (ehemals) Kolonisierten anzunehmen. Ganz im Gegenteil: Sie spricht aus einer „Perspektive der Migration“3, die sich der Kräfte der Bewegung, sich unaufhaltsam auch über noch so tödliche Grenzen hinwegzusetzen, bewusst ist. Sie spricht aus einer Perspektive des Rechts zu kommen und zu bleiben, was etwas völlig anderes ist als die Perspektive der „Gnade“ eines Bleiben Dürfens, wie sie den humanitaristischen Diskurs dominiert, der sich der Rettung ausgewählt verletzlicher und bedürftiger Menschenleben an den Grenzen verschreibt4. Fatou Diomés selbstbewusste, kämpferische Haltung ist in diesem Diskurs so nicht vorgesehen; entsprechend überrascht bis hochgradig irritiert und provoziert zeigen sich ihre Gesprächspartner in der Talkshow: Migrationsforscherinnen und andere Experten, wie der niederländische Historiker Thierry Baudet, der als bekennender rechtsgerichteter Nationalist in der Sendung für die Wiederherstellung nationaler Grenzen in Europa plädiert. Trotz aggressiver Versuche seinerseits lässt sich Diomé nicht unterbrechen und spricht ihn wiederholt persönlich an, um seine Haltung dezidiert zurückzuweisen. Es ist interessant, nicht nur den verbalen Ablauf dieser Sequenzen zu verfolgen, sondern auch auf die Mimik und Gestik der Beteiligten zu achten: etwa auf das erschrockene Gesicht der Migrationsforscherin oder den mehrfach weit offen stehenden, sprachlosen Mund des Historikers. Diese auf die Fernsehbildschirme übertragene Konfrontation eines historisch privilegierten Eurozentrismus mit den Kräften der Migration erscheint mir exemplarisch für das, was ich im Anschluss an ein Konzept von Ulrich Beck als „Kosmopolitisierung“ Europas bezeichnen möchte: eine durch Migration und andere

2

Titel eines Gedichts von Rudyard Kipling aus dem Jahr 1899.

3

Römhild, Regina: »Aus der Perspektive der Migration: Die Kosmopolitisierung Europas«, in: Jana Binder, Sabine Hess, Johannes Moser (Hg.): No Integration?! Kulturwissenschaftliche Beiträge zur Integrationsdebatte in Europa. Bielefeld: transcript 2009, S. 207-223.

4

Fassin, Didier: »Vom Rechtsanspruch zum Gunsterweis. Zur moralischen Ökonomie der Asylvergabepraxis im heutigen Europa«, in: Mittelweg 36, 1/2016.

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Interventionen erzeugte „innere“ Globalisierung, die sich inmitten der europäischen Gesellschaften ausbreitet und sie neu konstituiert5. Längst haben sich Fatou Diomés Prognosen für alle spürbar bewahrheitet: Denn tatsächlich hat der lange Sommer der Migration ganz offen gezeigt, dass sich die Bewegung der Geflüchteten nicht im mediterranen Grenzraum Europas auf- und nicht vom Westen fernhalten lässt. Dass dies auch vorher so nicht möglich war, dass die viel beschworene „Festung Europa“ auch zuvor viel durchlässiger war als es sich ihre Erbauer dachten, aufgrund der kundigen Taktiken und des Wissens über Grenzen in den Migrationsbewegungen – darauf hatten kritische Migrations- und Grenzforscher schon lange hingewiesen6. Aber für alle sichtbar wurde dies erst jetzt, mit der massiven Präsenz von Menschen, die eigentlich, dem hegemonialen politischen Willen nach, nicht hätten präsent sein sollen und dürfen. Das Dublin-Abkommen, dessen Ziel es ist, die Menschen auf so genannte „sichere Drittstaaten“ außerhalb der EU zu verweisen und ihnen nur einmal, nämlich im ersten EU-Land, das sie passieren, das Recht auf einen Asylantrag zuzugestehen, ist, zeitweise jedenfalls, faktisch zum Erliegen gekommen – aufgrund der unaufhaltsamen Bewegung von Menschen über diese Grenzen hinweg. Im Sommer 2015 sahen wir in den Medien nicht mehr in erster Linie die Toten, sondern auch die Überlebenden und die Bezwingerinnen der Grenzen, auf ihrem langen Marsch durch Ungarn, Österreich und Deutschland, durch Kroatien und Slowenien und in den Hauptbahnhöfen von Budapest, Wien und München. Angesichts dieser neuen Bilder regt sich seither unübersehbar zivilgesellschaftliche Solidarität. Positionen, die zuvor praktisch nur von marginalisierten Kritikerinnen vertreten wurden, erobern den gesellschaftlichen Mainstream, in dem nun auch von der Notwendigkeit einer europäischen Einwanderungspolitik und von einer neuen „Willkommenskultur“ die Rede ist.7 Gleichzeitig bedroht und erschüttert die gefühlte Unaufhaltsamkeit der Migrationskräfte alte und neue imperiale Selbstverständnisse – und bestätigt damit eben jene schon lange schwelende Angst vor weiterem Macht- und Privilegien-

5

Beck, Ulrich/Sznaider, Natan: »Unpacking Cosmopolitanism for the Social Sciences. A Research Agenda«, in: British Journal of Sociology, 37 (2006), S. 618-624.

6

Transit Migration Forschungsgruppe (Hg.): Turbulente Ränder. Neue Perspektiven auf Migration an den Grenzen Europas. Bielefeld: transcript 2007.

7

Karakayali, Serhat/Stjepandić, Katarina: »Solidarität in postmigrantischen Allianzen: Die Suche nach dem Common Ground jenseits individueller Erfahrungskontexte«, in: Naika Foroutan/Juliane Karakayali/Riem Spielhaus (Hg.), Postmigrantische Perspektiven. Ordnungssysteme, Repräsentationen, Kritik, Frankfurt a.M., New York: Campus 2018, S. 219-234.

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verlust Europas, die eine gegenteilige Renaissance eurozentrischer Ressentiments und eine Rückkehr zu nationalistischen, rassistischen Positionen bis in die etablierten, bürgerlich-liberalen politischen Lager hinein befördert. Auch dies lässt sich als ein Effekt der Kosmopolitisierung Europas im Zuge seiner Aneignung durch die postkolonialen Bewegungen der Migration verstehen: Dass der politische Diskurs um Migration zu einem der umkämpftesten Schauplätze dekolonialer und neokolonialer europäischer Identitätspolitiken geworden ist, zeigt – in paradoxer Bestätigung rechtsnationalistischer Propaganda – die nachhaltige Wirkung und den unabweisbaren Erfolg der Migrationsbewegungen über alle Versuche hinweg, sie einzuhegen und abzuwehren. Das darauf reagierende Machtgebahren der Nationalstaaten in Ost und West wie auch die nun wieder umso schärfere, nekropolitische Aufrüstung der EU-europäischen Grenzen wirkt demgegenüber wie ein zwar höchst aggressiver und folgenreicher, dennoch aber auch irgendwie hilfloser, weil kaum wirklich erfolgversprechender Akt, überkommene Machtstrukturen mit Gewalt zu restaurieren. Mit Arjun Appadurai kann dieses Stemmen gegen eine unaufhaltsame Globalisierung ‚von innen‘, wie sie die Bewegungen der postkolonialen Migration dar- und herstellen, mit dem „Überlebenskampf der letzten Dinosaurier“ verglichen werden: ein Kampf alter „vertebraler“ politischer Strukturen gegen neuartige Formen „zellular“ verflochtener, grenzüberschreitender Bewegungen.8 In sehr ähnlicher Bedeutung hat Ulrich Beck die Nationalstaaten im Zeitalter ihrer Europäisierung und Globalisierung als „Zombies“, als lebende Tote, bezeichnet, die trotz der allseits bekannten Grenzen ihrer politischen Souveränität mit umso aggressiveren Mitteln am Laufen gehalten werden.9 Migration leistet nichts weniger, als die Kosmopolitisierung Europas und der Nationalstaaten im Angesicht postkolonialer Globalisierung zum Vorschein zu bringen und damit auch die extrem polarisierenden Reaktionen von weltoffener, postmigrantischer Solidarisierung bis zu eurozentrisch-nationalistisch-rassistischer Abwehr hervorzurufen. Inwieweit sind diese Prozesse der Kosmopolitisierung durch Migration jedoch in der damit befassten Forschung angekommen? Mit dieser für uns Forschende zentralen Frage möchte ich mich im Folgenden näher beschäftigen. Und auch dafür scheint mir das eingangs erwähnte diskursive Setting der Talkshow symptomatisch. Wie hier, so kann sich die Migrationsforschung auch sonst kaum zu den Interventionen Fatou Diomés ins Verhältnis setzen; die wohlwollenden, aber

8

Arjun Appadurai: Die Geographie des Zorns, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2009, hier v.a. S. 35.

9

Beck, Ulrich/Willms, Johannes: Freiheit oder Kapitalismus, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2000, S. 16.

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gleichwohl auch herablassenden Einlassungen aus der Perspektive einer „Mehrheitsgesellschaft“ und ihrer „Minderheiten“ wirken angesichts der selbstbewussten Verweise von Diomé merkwürdig realitätsfern. Was demgegenüber eigentlich gefordert ist und von einer kritischen Migrations- und Grenzregimeforschung schon länger versucht wird, ist ein methodologischer Perspektivwechsel: nämlich nicht die Zentren nationalstaatlicher und EU-europäischer Macht, sondern die scheinbar peripheren Räume von Grenze und Migration zum zentralen Ausgangspunkt der Analyse gesellschaftlicher und politischer Entwicklungen zu machen. Dies würde andere, den laufenden Rekonfigurationen Europas angemessenere Anschlussmöglichkeiten an eine für diese Sichtweise zentrale Perspektive der Migration eröffnen.

KRITIK DER MIGRANTOLOGIE Inwieweit produziert die Migrationsforschung die Kategorien der Repräsentation und Regierung von Migration und Flucht mit, die sie scheinbar kritisieren will? Denn viele Forschende beanspruchen ja, ihren Gegenstand – Migration – sehr viel zentraler zu stellen, sie als Produktivkraft der Gesellschaft, als Normalfall und nicht als Ausnahme endlich auch im gesellschaftlichen Selbstverständnis zu etablieren. Aber das gelingt nicht wirklich; immer wieder wird Migration gerade im Blick der Migrationsforschung nur als Randzone der Gesellschaft reproduziert. Mit diesen Fragen hat das Berliner Labor Migration – ein offener, hierarchieübergreifender Diskussionsraum am Institut für Europäische Ethnologie der Humboldt-Universität10 – die aktuelle Praxis der Migrationsforschung selbstkritisch, angesichts unseres eigenen Unbehagens an den nicht eingelösten Zielen unseres Forschungskontexts, unter die Lupe genommen. 11 Ein ursächliches Problem, so lässt sich feststellen, liegt bereits in der Kategorie der Migration selbst. Im Sprechen und Forschen über Migration und die dazugehörigen Subjekte – Migranten und Migrantinnen – wird dieses Feld immer wieder neu als eine besondere Zone der Gesellschaft hervorgebracht, die abseits der Mitte und der „Mehrheitsgesellschaft“ zu liegen scheint: ein „Sonderforschungs-

10 https://www.euroethno.hu-berlin.de/de/forschung/labore/migration/standardseite (aufgerufen am 15.5.2019). 11 Labor Migration (Hg.): Vom Rand ins Zentrum. Perspektiven einer kritischen Migrationsforschung, Berlin: Panama 2014; Bojadzijev, Manuela/Römhild, Regina: »Was kommt nach dem Transnational Turn? Perspektiven für eine kritische Migrationsforschung«, in: Labor Migration, Vom Rand ins Zentrum, S. 10-24.

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bereich“ der Minderheiten am Rand, meist am unteren sozialen Rand der Gesellschaft verortet. Statt also zur Zentrierung und Normalisierung von Migration – und damit auch zu einer konvivialeren Auffassung von Gesellschaft – beizutragen, tendiert die Forschung dazu, gegen ihre mehr oder weniger erklärte Absicht, die herkömmlichen Bilder einer von nationalen und ethnischen Grenzen durchzogenen, in Mehrheit und Minderheiten gedachten Gesellschaft zu reproduzieren und zu verfestigen. Darüber hinaus erweist sich als Problem, dass die Migrationsforschung vielfach auf Gruppen fokussiert, die sie als ethnische oder religiöse Communities oder Diasporas konzipiert. Selbst wenn sich der Blick einer avancierten Forschung auf transnationale soziale Netzwerke der Migration erweitert und selbst wenn dabei die kulturelle Diversität und Hybridität dieser grenzüberschreitenden, Grenzen herausfordernden Netzwerke besonders im Mittelpunkt steht: Der begrenzende Rahmen der ethnisch oder religiös definierten Gruppe, etwa somalischer, kurdischer oder alevitischer Migranten, wird dabei häufig nicht hinterfragt. Nina Glick Schiller hat dies als „methodologische Ethnizität“12 kritisiert: Ethnische Zugehörigkeit wird vorausgesetzt und der Untersuchung zugrunde gelegt. So geraten andere, nicht ins ethnische Bild passende Zugehörigkeiten und Verbindungen aus dem Blick, und Ethnizität wird zur „Zwangsjacke“ einer darin eingeschlossenen Kultur13. Ein grundsätzliches Problem der Migrationsforschung sehen wir weiter darin, dass sie zumeist als Forschung über Migrantinnen verstanden wird – und sich darin erschöpft; Migrationsforschung wird so erst recht zu einer Art Migrantologie: ein Archiv immer neuer, aber praktisch gleichlautender Erzählungen über diverse migrantische Welten. Mit dieser einseitigen Ausrichtung auf Migration als „andere“ Seite der Gesellschaft erzeugt diese Forschung ihren vermeintlichen Gegenpart – die Gesellschaft der weißen, nationalen, sesshaften Nicht-Migranten – gleich mit. Aus diesem Dilemma folgerten wir, dass wir einen grundlegenden Perspektivenwechsel brauchen: Wir haben dafür als Formel abgeleitet, dass die Migrationsforschung „entmigrantisiert“, die Forschung über Gesellschaft und Kultur

12 Schiller, Nina Glick: »Beyond Methodological Ethnicity: Local and Transnational Pathways of Immigrant Incorporation«, in: Willy Brandt Series of Working Papers in International Migration and Ethnic Relations 2/08. http://dspace.mah.se/bit stream/handle/2043/7491/WB%202_08%20MUEP.pdf?sequence=3 (aufgerufen am 15.5.2019). 13 Caglar, Ayşe: »Das Kultur-Konzept als Zwangsjacke in Studien zur Arbeitsmigration«, in: Zeitschrift für Türkeistudien Jg. 1 (1990), S. 93-105.

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dagegen „migrantisiert“ werden muss. Oder anders gesagt: Was fehlt, ist nicht noch mehr Forschung über Migration, sondern eine von ihr ausgehende Perspektive, mit der sich neue Einsichten in Gesellschaft und ihre Grenzen gewinnen lassen.

„STUDYING THROUGH“: MIGRATION ALS ANALYSEPERSPEKTIVE Vor dem Hintergrund dieser Kritik verliert das scheinbar neutrale Konzept der Migration seine wissenschaftliche Unschuld und gerät selbst in den Verdacht, ein Teil – und nicht etwa der Gegenspieler – des Grenzregimes zu sein. Als Konzept erscheint Migration bei genauerer Betrachtung als politisches Konstrukt des postkolonialen europäischen Nationalstaats, das ein bestimmtes soziales Verhältnis zwischen nationalen ‚Einheimischen‘ und ‚ethnischen Anderen‘ definiert und so die Grundlage legt für die machtvolle Unterscheidung zwischen nationaler Mehrheit und Migrantinnen als Minderheiten, die in eine von der Mehrheit bestimmte Gesellschaft zu integrieren sind. Implizit unterstützt von einer nationalen Migrationsforschung, wurde ‚der Migrant‘ – als das zu integrierende Subjekt am Rand – zu einer grundlegenden Figur in der sozialen Komposition des Nationalstaats, die den problematischen, zu regulierenden Übergang zwischen ‚Innen‘ und ‚Außen‘ markiert, und damit zur Garantin dieser für den Nationalstaat so zentralen Figuration wird. Dieses hierarchische Grenz-Verhältnis schreibt sich in die Positionierung der Subjekte dauerhaft ein: Noch lange nach ihrer Ankunft, noch Generationen später, werden Menschen – obwohl vielleicht sogar längst Staatsbürger und auch wenn sie selbst keine eigene Migrationserfahrung haben – noch als Migrantinnen etikettiert und marginalisiert: auch mit Hilfe einer Migrationsforschung, die dieses Problem erst jetzt kritisch zu reflektieren beginnt. Sandro Mezzadra und Brett Neilson zufolge bezeichnet Migration im nationalstaatlichen Rahmen eine zeitliche Grenzziehung des permanenten „Noch-nicht“: Von Migranten wird eine permanente, nie endende Anstrengung des Sich-Integrierens erwartet.14 In der Auseinandersetzung mit diesen im Konzept der Migration selbst angelegten Grenzziehungen formiert sich die laufende Debatte über eine postmigrantische

14 Neilson, Brett/Mezzadra, Sandro: Border as Method or, The Multiplication of Labor, Durham: Duke University Press 2013, S. 131 ff.

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Gesellschaft15, die von diesen Begrenzungen geprägt ist, aber auch längst darüber hinaus weist: auf eine Gesellschaft jenseits ethnisch definierter sozialer Verhältnisse und Hierarchien, in der die klassischen Unterscheidungen zwischen Einheimischen und Fremden unhaltbar geworden sind. Es kann daher nicht darum gehen, das Konzept der Migration in der Forschung ‚anzuwenden‘ und die darin eingeschriebenen Kategorien in eigens mit hergestellten Sortiermustern zu reproduzieren. Stattdessen wäre eine Analyseperspektive der Migration anzulegen, die diese Sortiermuster, Hierarchisierungen und Grenzziehungen als Effekte politischer und wissenschaftlicher Ordnungen erst sichtbar und im Licht einer postkolonialen, postmigrantischen Gesellschaft reflektierbar macht. Hier wäre eine Migrations- als Gesellschaftsforschung neu zu denken, die Migration ähnlich wie Gender als Querschnittsperspektive konzipiert und ihren Blick auf darüber regulierte gesellschaftliche Verhältnisse richtet. Und ähnlich wie die Geschlechterforschung, die längst keine Frauenforschung mehr ist, kann eine solche Migrationsforschung sich nicht mehr auf eine Migrantologie der gesellschaftlichen Ränder beschränken.

MIGRATIONS- ALS GESELLSCHAFTSFORSCHUNG Wie könnte eine postkoloniale, postmigrantische Gesellschaftsforschung aussehen? Einige Anregungen möchte ich vor dem Hintergrund einer 2009 zusammen mit Steve Vertovec und einem kleinen Team von Kulturanthropologen in Frankfurt a.M., im Auftrag des Frankfurter Amts für multikulturelle Angelegenheiten, durchgeführten Pilotstudie16 formulieren. Ganz im Sinne einer postmigrantischen Forschung haben wir damals vorgeschlagen, nicht auf Migration selbst und auf Migrantinnen zu fokussieren; nicht, wie üblich, einzelne eingegrenzte Gruppen und Stadtviertel in den Mittelpunkt zu rücken, sondern den physischen und sozialen Raum der Stadt insgesamt in den Blick zu nehmen, und dabei aber eine

15 Foroutan, Naika/Karakayali, Juliane/Spielhaus, Riem (Hg.): Postmigrantische Perspektiven. Ordnungssysteme, Repräsentationen, Kritik, Frankfurt a.M., New York: Campus 2018. 16 Römhild, Regina/ Vertovec, Steve/Borberg, Katharina/Goldberg, Karina/Rech, Stefan/Sörensen, Peter: »Frankfurt vernetzt. Vernetzungs- und Vielfaltspolitik in Frankfurt am Main. Die Studie entstand 2009 im Auftrag des Amts für multikulturelle Angelegenheiten, Frankfurt a.M. Als Kapitel 1 des Frankfurter Integrations- und Diversitätskonzepts verfügbar unter: http://www.vielfalt-bewegt-frankfurt.de/sites/all/media/Integrationskonzept_Kap_1_Vernetzung_Vielfalt.pdf (aufgerufen am 3.6.2019).

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Perspektive der Migration zugrunde zu legen. Aus dieser Perspektive zeigt sich deutlich, dass die urbanen Mehrheits- und Minderheitenrelationen nicht den hegemonialen Bildern entsprechen und dass Migration auch stadträumlich viel breiter aufgestellt ist als oft gedacht. 60% der jungen Frankfurter hatten damals schon, Tendenz steigend, den so genannten Migrationshintergrund, d.h. dass sie selbst oder ihre Eltern in einem anderen Land geboren wurden. Damit werden die klassischen nationalstaatlichen Mehrheitsverhältnisse und ihre vermeintlich eindeutigen Zugehörigkeiten und Unterscheidungen auf den Kopf gestellt: Denn auch mit Migrationshintergrund haben viele einen deutschen und damit auch einen europäischen Pass, so dass sie zur Mehrheitsgesellschaft zählen, diese aber gleichzeitig „migrantisieren“. Darüber hinaus hat sich, wie wir dies erstmals empirisch feststellten, das faktische Spektrum der Aufenthaltstitel, das sich zwischen den vermeintlich eindeutigen Kategorien der ‚Ausländer‘ und der ‚Deutschen‘ aufspannt und diese darüber hinaus durchkreuzt, immens vervielfältigt. In unserer Studie zählten wir über 80 unterschiedliche aufenthaltsrechtliche Formate – eine Zahl, die selbst die juristischen Expertinnen, die wir hier zu Rate zogen, überforderte. Diese rechtlichen Unterscheidungen reichen, grob zusammengefasst, von der fast uneingeschränkten Freizügigkeit, wie sie Bürger des ‚alten Europas‘ genießen, über die begrenzte Bewegungs- und Niederlassungsfreiheit der Migrantinnen aus den neuen EU-Mitgliedsstaaten im Osten und Südosten bis zu den höchst unterschiedlichen rechtlichen Bedingungen für so genannte Drittstaatler ohne europäischen Pass, von den privilegierten Migrantinnen aus dem globalen Norden bis zu den Menschen aus anderen Regionen der Welt, die die europäischen Grenzen fast nur zum Preis der Illegalität oder der irregulären Flucht überschreiten können. Diese vielfach abgestuften Kategorien der EU-Bürgerschaften und der Drittstaatler weisen auf die kaum beachtete Tatsache hin, dass das Grenzregime der EU längst auch substantiell in die nationale und die kommunale Migrationspolitik hineinregiert. Dazwischen spannt sich jeweils noch eine ganze Bandbreite eingeschränkter, befristeter Aufenthaltsrechte auf bis zu der besonders umstrittenen Kategorie der ‚Duldung‘, die Menschen oft über Jahre hinweg der ständigen Drohung, abgeschoben zu werden, aussetzt. In dieser rechtlichen „Superdiversität“ (Steve Vertovec) wird ganz offensichtlich mit dem ungleichen Maß kolonialer und rassifizierender Unterscheidungen gemessen, die auch heute noch Herkünfte aus einem imaginären Westen privilegieren gegenüber Herkünften aus einem imaginären Orient. Der Kulturanthropologe Michael Herzfeld spricht hier von einer globalen kulturellen Hierarchie: mit Blick auf die ehemaligen Kolonien, die ganz unten auf der Werteskala fest zugeschriebener kultureller Merkmale und Mentalitäten rangieren, aber auch mit Blick

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auf die Randzonen des heutigen Europas, die Herzfeld als „Krypto-Kolonien“ bezeichnet, weil es auch ihnen aus eurozentrisch-okzidentalistischer Sicht an kultureller Ebenbürtigkeit mangelt.17 Mit Blick auf Migration hat die Soziologin Anja Weiß diesen kulturellen Rassismus in Erweiterung der Bourdieu'schen Kategorien als „negatives symbolisches Kapital“ gekennzeichnet: Migranten haben also nicht nur eine ihnen zugeschriebene fremde Kultur, sondern auch eine je nach Herkunft mehr oder weniger negativ aufgeladene Kultur im Gepäck. 18 Enrica Rigo19 und Sandro Mezzadra20 zeigen, dass die im EU-europäischen Grenzregime angelegte Hierarchie von Bürgerrechten der kolonialen Unterscheidung zwischen imperialen Subjekten und Untertanen folgt. Ein eingeschränkter Migrationsbegriff, der selbst nur auf der Ebene der sozial und politisch ausgegrenzten Untertanen operiert, kann diese wirkmächtige Unterscheidung nicht kenntlich machen; er wird vielmehr selbst zu einem Instrument des Grenzregimes, eben weil er dessen Logik folgt, statt sie zu entlarven. Eine kosmopolitisierte Migrationsforschung würde stattdessen das konfliktreiche Zusammentreffen von unterschiedlich konnotierten, unterschiedlich sichtbaren Mobilitäten und Mobilitätsregimen zu höchst unterschiedlichen Bedingungen an einem Ort ins Blickfeld rücken – und genau dies müsste zum Thema einer ihre eigenen Grenzen überschreitenden Migrationsforschung werden. Damit ließe sich in den inneren, etwa bürgerrechtlichen, Grenzziehungen der europäischen Gesellschaften das kenntlich machen, was Sandro Mezzadra und Brett Neilson „differenzielle Inklusion“21 nennen: Grenzen trennen nicht etwa ein klar unterscheidbares Innen und Außen, sondern regulieren geopolitische und rechtliche Zonen im

17 Herzfeld, Michael: »Abwesende Anwesenheit: Die Diskurse des Kryptokolonialismus«, in: Sebastian Conrad/ Regina Römhild/ Shalini Randeria (Hg.), Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften. 2., erw. Aufl. Frankfurt a.M., New York: Campus 2013, S. 345-388. 18 Weiß, Anja: »Racist Symbolic Capital. A Bourdieuian Approach to the Analysis of Racism«, in: Wulf D. Hund/ Jeremy Krikler/ David Roediger (Hg.): Wages of Whiteness & Racist Symbolic Capital, Münster 2010, S. 37-56. 19 Rigo, Enrica: »Citizenship at Europe's Borders: Some Reflections on the Post-colonial Condition of Europe in the Context of EU Enlargement«, in: Citizenship Studies, 9 (2005) 1, S. 3-22. 20 Mezzadra, Sandro: »Bürger und Untertanen. Die postkoloniale Herausforderung der Migration in Europa«, in: Jana Binder/Sabine Hess/Johannes Moser (Hg.): No Integration?! S. 207-223. 21 Neilson/Mezzadra, Border as Method, S. 157 ff.

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Übergang von In- und Exklusion; Menschen werden an diesen Grenzen zu politischen Subjekten mit unterschiedlichen Rechten gemacht. In unserer Studie konnten wir weiter zeigen, dass vor allem junge Menschen mit Migrationshintergrund ihren Alltag in der Stadt und in transnationalen Räumen kaum auf migrantische Welten und ethnische Communities beschränken, sondern dass sie sich im Rahmen ihrer sozialen Verortungen in diversen Milieus bewegen, die sich an politischen, sub- und popkulturellen, religiösen, sexuellen und klassenspezifischen Positionen – und immer weniger an Herkünften – orientieren. Diese intersektionalen Vergemeinschaftungen verunordnen die nationalstaatliche soziale Matrix, und sie schaffen gleichzeitig, vor allem in den urbanen Metropolen, liminale Räume, in denen postnationale Formen der Zugehörigkeit und der Beheimatung in Europa ausprobiert und praktiziert werden. Diese Formate postmigrantischer Kosmopolitisierung der Städte und der Gesellschaften Europas hat auch Paul Gilroy im Blick, wenn er „Konivialität“ als charakteristische Nebenfolge des alltäglichen Zusammengeworfenseins in postkolonialen Metropolen wie London beschreibt.22 Auf der Grundlage dieses kosmopolitisierten Alltags in den europäischen Gesellschaften geraten die noch an den alten hegemonialen Konstrukten des Nationalstaats und eines nach außen abgeschotteten Europas ausgerichteten Politiken massiv unter Druck. Migrantische Bewegungen und postmigrantische Präsenz verweisen, wie das auch in den anfänglich zitierten Worten von Fatou Diomé deutlich wird, auf die unmittelbare und dauerhafte Anwesenheit des ehemals kolonialisierten Anderen in Europa. Damit werden unsichtbar gemachte Verflechtungen zwischen ehemaliger Metropole und Kolonie auf neue Art revitalisiert und für eine migrantische Beheimatung in Europa nutzbar gemacht. Dazu zitiere ich immer wieder gern, und hier abschließend, Stuart Hall, der dies, ausgehend von seiner eigenen Migrationsgeschichte, die ihn von Jamaika nach Großbritannien führte, in unvergleichlicher Weise auf den Punkt gebracht hat: „Menschen wie ich,“ so Hall, „die in den fünfziger Jahren nach England kamen, haben dort – symbolisch gesprochen – seit Jahrhunderten gelebt. Ich kam nach Hause. Ich bin der Zucker auf dem Boden der englischen Teetasse. [...] Das ist die auswärtige Geschichte, die in der Geschichte des Englischen enthalten ist. Es gibt keine englische Geschichte ohne diese andere Geschichte.“23

22 Gilroy, Paul: After Empire. Melancholia or Convivial Culture?, Oxford: Routledge 2004. 23 Hall, Stuart: »Alte und neue Identitäten, Alte und Neue Ethnizitäten«, in: Ders., Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte Schriften 2, Hamburg: Argument Verlag. S. 66–88, hier: S. 74.

Die Logistik der Migration Ethnographische und epistemische Perspektiven Manuela Bojadžijev [E]ine riesige Welt aus plakativen Farben und Rost, die aus Tausenden von Containern besteht, von denen jeder eine ganz eigene Welt oder die Fragmente einer anderen enthält. Nicholas Dickner, Die sechs Freiheitsgrade, 20151 Drei starten, eins kommt durch. Die Pech haben, ersaufen vor den Augen der Küstenwache. Merle Kröger, Havarie, 20152

Die Fluchtbewegung nach Europa von 2015ff. hat definitiv ein Konfliktfeld eröffnet. Dies ist nicht das erste Mal, dass Migrationsbewegungen zu einer veränderten Gegenwart beigetragen haben3. Es macht allerdings einmal mehr eine historische und gegenwärtige Bestimmung der gesellschaftlichen Aushandlungen auf diesem Feld erforderlich und wie diese sich durch Forschungen der letzten Jahre einschätzen lassen. Dies verspricht dieser Band. Ich möchte darum mit einer knappen Einschätzung darüber beginnen, dass wir auch neue epistemische Instrumente brauchen, um die entstandene und entstehende Konstellation besser verstehen zu können. Diese Einschätzung schließt in unterschiedlicher Weise an die Perspektiven an, die in den letzten Dekaden jeweils auf eigene Weise ein bis dato sehr 1

Dickner, Nicolas: Die sechs Freiheitsgrade, Roman, Frankfurt/M.: Frankfurter Verlagsanstalt 2015.

2

Kröger, Merle: Havarie, Kriminalroman, Hamburg: Argument-Verlag 2015.

3

Vgl. Bojadžijev, Manuela: Die windige Internationale. Rassismus und Kämpfe der Migration, Münster: Westfälisches Dampfboot 2008, S.63.

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vereinfachtes Bild von Migration konterkariert haben. Ich meine damit Ansätze zum Transnationalismus4, die Diskussionen um die Autonomie der Migration5, die Einsichten der Mobility Studies 6 sowie die Positionierung der Migrationsforschung als Querschnittsperspektive7. Diese Beiträge in einigen Dimensionen weiter zu entwickeln war die explizite Absicht bei der Entwicklung von Überlegungen zu logistischen Grenzlandschaften8, an denen ich mich beteiligt habe und die ich hier zusammenfassend vorstellen möchte. Die Ausarbeitung der transnationalen Perspektive auf Migration, zunächst in der anthropologischen Diskussion, später auch in den Sozial- und Politikwissenschaften, hatte bereits vor fast dreißig Jahren darauf aufmerksam gemacht, dass es sich bei Bevölkerungsbewegungen nicht um eine klar zu umreißende, eindimensionale und unidirektional sowie universell zu verallgemeinernde Entität handelt. Seit jener Zeit Anfang der 1990er Jahre ist das "Thema Migration" immer stärker in gesellschaftlichen, vor allem aber auch wissenschaftlichen Diskussionen in den Vordergrund getreten. Heute haben wir es mit einer gewissen Konsolidierung der Migrationsforschung innerhalb der akademischen Landschaft zu tun, vor allem aber auch mit einer in vielen Aspekten angereicherten Diskussion über die vielfältigen Praktiken und Formen menschlicher Mobilität. Migration ist vom Rand einiger Disziplinen und ihren Feldern (Europäische Ethnologie und Kulturanthropologie, Soziologie, Humangeographie, Geschichte, Pädagogik, in den Kulturwissenschaften und Politikwissenschaften etc.) immer weiter ins Zentrum gerückt,

4

Basch, Linda/Glick-Schiller, Nina/Blanc-Szanton, Cristina (Hg.): Nations Un-bound. Transnational Projects, Postcolonial Predicaments and Deterritorialized Nation-States, London: Tylor & Francis 1994.

5

Bojadžijev, Manuela/Karakayali, Serhat: Recuperating the Sideshows of Capitalism: The Autonomy of Migration Today, in: eflux 17, 06 (2010), URL: http://www.eflux. com/journal/view/154 (22.05.2019); sowie Mezzadra, Sandro: Autonomie der Migration. Kritik und Ausblick, in: grundrisse 34 (2010), URL: http://www.grundrisse.net/ grundrisse34/Autonomie_der_Migration.htm (23.05.2019).

6

Urry, John/Sheller, Mimi: The New Mobilities Paradigm, in: Environment and Planning 38(2) (2006), S. 207–226.

7

Bojadžijev, Manuela/Römhild, Regina: »Was kommt nach dem ›transnational turn‹«?, in: Labor Migration (Hg.): Vom Rand ins Zentrum. Perspektiven für eine kritische Migrationsforschung, Berliner Blätter, Nr. 65, 2014, Berlin: Panama Verlag, S.10-24; sowie Kaschuba, Wolfgang: Gastarbeiter und Flüchtlinge: Die alten und die neuen »Neuen Deutschen«? in: Politeknik 10 (2016), S. 14.

8

Altenried, Moritz/Bojadžijev, Manuela/Höfler, Leif Jannis/Mezzadra, Sandro/Wallis, Mira: Logistische Grenzlandschaften, Münster: UNRAST 2018.

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nicht zuletzt aufgrund der Fluchtbewegungen von 2015, was wiederum die Frage des "Konfliktfeldes Fluchtmigration" auch auf wissenschaftsinterne und wissenschaftspolitische Entwicklungen lenkt. Ohne hier darauf näher eingehen zu können, überprüft dieser Text vor diesem Hintergrund epistemische Fragen der Migration: Mit welchen Kategorien, Methoden und Designs verstehen wir Migration in ethnographischer Perspektive? Der Aufsatz bietet dafür keinen allgemeinen Überblick über die gegenwärtigen Entgegnungen auf diese Frage; dafür ist hier nicht der Platz. Er schlägt aber, nach einem kurzen Rekurs auf wichtige Debatten, die den Weg dafür geebnet haben, als eine mögliche Perspektive und eine Neuerung Logistik als epistemisches Instrument vor. Es geht mir um die intellektuellen, durchaus aber auch um die politischen Einsätze für gegenwärtige Debatten zu Migration und darum, auf der Grundlage einer Reihe von qualitativ und ethnographisch ausgerichteten Forschungsprojekten eine tentative analytische Basis zu liefern 9. Um die sich radikal verändernde Landschaft der Migration und die Konflikte darum im 21. Jahrhundert zu entschlüsseln zu helfen, möchte ich zunächst einmal eine allgemeine Diagnose hinsichtlich der Veränderungen seit der „Fluchtmigration“ 2015 wagen, wie es die Einladung zu diesem Band provoziert.

DIE ERNEUERUNG DES KONFLIKTFELDES Nach dem "Sommer der Migration" debattierte man in Deutschland kaum ein Thema öffentlich so stark wie das Thema der Migration. "Flüchtling" wurde bezeichnenderweise zum Wort des Jahres 2015 gekürt. Das Wort Flüchtling stand allerdings nicht nur für das zentrale Motiv jenes Jahres, es transportierte sprachlich bereits eine bestimmte Tendenz: Im Deutschen bildet es sich aus dem Verb "flüchten" und dem Ableitungssuffix "-ling", das eine Person, die durch eine Eigenschaft oder ein Merkmal charakterisiert ist, bezeichnet. Es ist dieses Suffix, das das Wort Flüchtling abschätzig klingen lässt, weil analoge Wortbildungen

9

Zu den Projekten gehören: Serie von Sommerschulen bis hin zu Investigating Logistics (gmeinsam mit Sina Arnold, Serhat Karakayali, Sandro Mezzadra, Brett Neilson, Ned Rossiter: www.investigatinglogistics.org), Logistische Grenzlandschaften (gemeinsam mit Moritz Altenried, Leif Höfler, Sandro Mezzadra und Mira Wallis, 2018) ein DAAD-gefördertes Projekt unter dem Titel »Duisburg and the New Silk Road« (gemeinsam mit Moritz Altenried, Armin Beverungen, Brett Neilson, Tsvetelina Hristova, Ned Rossiter, Mira Wallis).

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negativ bzw. passiv. konnotieren.10 Diese Konnotation verstärkte sich aber vor allem durch eine weitere Neuerung, namentlich die Wortkomposition "Flüchtlingskrise".11 Der Begriff Flüchtlingskrise tauchte relativ schnell am Ende jenes Sommers auf und wirkte gesellschaftlich polarisierend. Die politische Erzeugung des Begriffs "Flüchtlingskrise" und seine Karriere half mir, das intellektuelle Repertoire in einer Analyse zu erschließen, mit dem die soziale und politische Situation in Deutschland nach dem "Sommer der Migration" diskutiert und verstanden wurde12. Mit Krise war im Begriff Flüchtlingskrise allerdings weder (a.) die Krise der Geflüchteten, deren Lebens- und Fluchtgeschichte bezeichnet worden, noch ging es (b.) um die offenbar gewordene Krise der europäischen Migrationspolitik.13 Diese hat sich bis heute mit einer Art Domino-Effekt zu Erfolgen rechter und rechtsextremer Parteien entwickelt, die auf dem Begriff der "Flüchtlingskrise" aufsetzend diese Situation politisch zu kapitalisieren verstanden, was dann skandalöserweise in Reaktion zu einer nie dagewesenen Verschärfung der Asylpolitik, vor allem in Deutschland, geführt hat und immer noch führt. Der Begriff Flüchtlingskrise suggerierte in diesem Setting, dass die Anwesenheit von Geflüchteten

10 Abschätzig: Eindringling, Emporkömmling oder Schreiberling; passiv: Prüfling, Lehrling, Findling, Sträfling oder Schützling. Als Reaktion machte die Bezeichnung »Geflüchtete« darum eine alternative Karriere. 11 Anfang der 1980er Jahr waren nach steigenden Asylbewerberzahlen (ein quantitativer Hochpunkt von 107.818 Personen erfolgte durch die Flucht nach dem Militärputsch in der Türkei im Jahr 1980, seit der Islamischen Revolution im Iran und dem Ersten Golfkrieg sowie dem Bürgerkrieg im Libanon seit Mitte der 1970er Jahre) zunächst von Forderungen nach einem »Ausländerstopp« die Rede, was sich seit ca. Mitte der 1980er Jahre in eine Kampagne der regierenden CDU gegen »Asylmissbrauch« und gegen »Überflutung« umsetzte, die schließlich Anfang der 1990er Jahre von der Regierung unter Kanzler Helmut Kohl als »Verfassungsnotstand« bezeichnet wurde und zur Aushöhlung des Asylgesetztes 1993 führte. 12 Bojadžijev, Manuela: Migration as a social seismograph. An Analysis of Germany’s »Refugee Crisis« Controversy, in: International Journal of Politics, Culture, and Society, Vol 31, Issue 4 (2018), S. 335–356. 13 Vgl. Bojadžijev, Manuela/Mezzadra, Sandro: Refugee crisis or crisis of European migration regime?, in: focaalblog.com (2015): http://www.focaalblog.com/2015/11/12/ manuela-bojadzijev-and-sandro-mezzadra-refugee-crisis-or-crisis-of-european-migra tion-policies/ (23.05.2019); sowie die Serie zu »Migration and the refugee crisis« auf focaalblog, moderiert und herausgegeben von Prem Kumar Rajaram, online unter: http://www.focaalblog.com/tag/refugee-crisis/

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selbst die Krise und dass ihre schiere Anzahl einer historischen Ausnahme entspräche. Wenn es aber so etwas wie die Rede über eine Flüchtlingskrise gegeben hat, dann können wir, erstens, sagen, dass diese Trope zu einem Symptom für die Verhandlung darüber, worin diese Krise besteht und ihrer jeweiligen politischen und gesellschaftlichen Polarisierung geworden ist, wobei es dabei nicht mal im weitesten Sinne immer um Migration ging14. Gesellschaftliche Polarisierungen, die diese Trope begleitet haben, wurden nicht abstrakt geführt. Sie verliefen in diesem Fall vielmehr über konkrete Be- und Zuschreibungen, die das Subjekt der nationalen Gemeinschaft und ihr zu integrierendes oder auszuschließendes Anderes bezeichnen. Im Zuge dessen sahen wir ein Erstarken nationalistischer und rechtsextremer Diskurse, Bewegungen und Parteien auf europäischer Ebene, die auf merkwürdig alte Paradigmen von sesshaften Bevölkerungen mit einem vorgestellten "Recht auf ihr Territorium" zurückgreifen. Zweitens erleben wir eine epistemische Krise der Begriffe, mit denen in den Sozialwissenschaften und insbesondere in der Migrationsforschung die vielfältigen Mobilitäten von Menschen unter dem Begriff der Migration gefasst werden. Bezeichnend und besonders schlüssig unschlüssig gewählt ist insofern auch, so verstehe ich das, der Begriff der Fluchtmigration im Titel dieses Sammelbandes. Diese Krise der Begriffe gilt nicht nur auf der Grundlage der historischen Entwicklung, sondern auch konzeptuell. Die in der Forschung immer noch dominanten und gegensätzlich gefassten Paradigmen von Migration und Sesshaftigkeit können die Komplexität der Bewegungen nicht mehr fassen. Dementsprechend konnten wir beobachten, dass das sprachliche Repertoire, mit dem "die Flüchtlingskrise" in Deutschland verhandelt wurde, immer noch ein altes ist: etwa wenn von Gastgebern und Gästen, von Minderheiten und Leitbildern, vor allem aber weiterhin immerzu von Integration die Rede ist. Hier zeigen sich funktionalistische und systemische Zugänge, die einen nationalen gesellschaftlichen Körper (und seinem Territorium) vor Augen haben, der zum willkommen heißenden Gastgeber (ergo das andere, populäre Wort in diesen Zeiten: Willkommenskultur) für eine fremde Bevölkerung und ihre Integration wird. Aus diesem Grund, so auch der Schluss meiner Analyse, fungierte die Rede von der Migration als "sozialer Seismograph"15 für den Grad des demokratischen

14 Einwanderung firmierte jahrelang (auch schon vor 2015), gemeinsam mit »Terrorismus« und der wirtschaftlichen Lage als das in den Augen der Europäer wichtigste Problem, dem die EU derzeit gegenübersteht, wie die Umfragen des Eurobarometer halbjährlich dokumentieren http://ec.europa.eu/COMMFrontOffice/publicopinion/index. cfm/Survey/index#p=1&instruments=STANDARD 15 Bojadžijev, Manuela: Migration as a social seismograph.

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Selbstverständnisses. Wie eine Gesellschaft sich das Verhältnis von sesshafter und mobiler Bevölkerung denkt und konstituiert, ist mit Sicherheit ein Ausdruck ihrer Verpflichtung zur Demokratie16. Grundlage für mich im Kontext einer seit 2015 "veränderten Gegenwart" ist die Annahme, dass wir nicht nur – wie in den Migrationswissenschaften übrigens auch durchaus umstritten – davon ausgehen, dass es sich aktuell um einen allein weltweit quantitativen Anstieg der Bevölkerungsmobilität handelt. Vielmehr – und das scheint mir heute viel relevanter – können wir grundlegende qualitative Transformationen von menschlicher Mobilität beobachten, die auch immer wieder neue epistemische Zugänge verlangen. Dazu sei zunächst folgendes gesagt, was sich den qualitativen Veränderungen zunächst annähert und diese allgemein bestimmt: 1. Begrifflich: Historisch bedeutet die Mobilität von Bevölkerungen, das heißt das Verhältnis von sesshaftem und mobilem Anteil der Menschheit, durchaus unterschiedliches. Das lässt sich auch daran erfassen, dass die Bedeutung der Worte sich verändert hat (nur um ein paar bekannte Beispiele zu nennen: Auswanderer, Displaced Persons, Heimatvertriebene, Gastarbeiter, Asylbewerber, Illegale, Geflüchtete...). Es geht aber bei der Diagnose einer qualitativen Veränderung dessen, was wir unter Migration verstehen, nicht nur um den Sinn der Worte. Es geht um ihr Verhältnis zu veränderten Annahmen, Bedingungen ihrer Anwendungen oder ihrer erneu(er)ten Nutzung, die auf andere Erfahrungen treffen, die sich im Alltag wiederum anders erweisen (müssen), die mitunter sogar "Lösungen" implizieren, auf die man sich beziehen kann 17 (Gastarbeiter sind jene, die wieder gehen; Flüchtlinge jene, die aus Not kommen; Illegale diejenigen, die nicht berechtigt sind, da zu sein etc.). 2. Geographisch: Auch die Richtungen der Bevölkerungsbewegungen verändern sich stets. Will man nur die "großen Bewegungen" nennen, haben wir es zunächst eher im Zuge des Kolonialismus und imperialer Projekte mit einer NordSüd-Bewegung, dann im Verlauf der Industrialisierung mit Prozessen der Verstädterungen, der Umsiedlung von Land in wachsende urbane Zentren zu tun, später setzt verstärkt eine Süd-Nord-Bewegung ein, auch als "Retorsionseffekt"18 beschrieben, und heute handelt es sich vor allem um eine Süd-Süd-Bewegung, die

16 Vgl. ebd. 17 Vgl. Foucault, Michel: Die Archäologie des Wissens, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1981, 150f. 18 Centre for Contemporary Cultural Studies (Hg.): The Empire Strikes Back: Race and Racism in 70s Britain, London: Routledge 1982.

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überwiegt, auch wenn das gerade im "Norden" weniger zur Kenntnis genommen wird. 3. Historisch: Die qualitative Veränderung ist, jedenfalls zu einem gewissen Teil, durch die Transformation von Produktions- und Arbeitsverhältnissen weltweit mitbestimmt. Hier kommen bezüglich der Migration immer zwei Bewegungen zusammen. Einerseits geht es um ökonomische Veränderungen, um konkrete Fluktuationen/Beschäftigungszyklen, denen das Wirtschaften unter kapitalistischen Bedingungen stets ausgesetzt ist, und die von technologischen Entwicklungen begleitet werden (Stichwort heute: Industrie 4.0). Das führt dazu, dass ein beständig variabler Anteil der Menschheit in Arbeit ist bzw. einem Arbeitsmarkt zur Verfügung steht, und ein spezifisches Aufgebot an Reserve bietet. In den letzten Dekaden haben wir in Europa eine "Entsicherung" der Bürgerinnen und Bürger von den sozialstaatlichen Sicherungssystemen beobachten können und insbesondere in Europas Süden und Osten im Nachgang zur Finanz- und Schuldenkrise von 2007/8 eine breite Prekarisierung vor allem der Jugend erlebt. Dazu kommt aber andererseits, und damit verbunden, eine demographisch-anthropologische Dimension, insofern traditionelle Lebensstile im Zuge dieser Entwicklungen immer wieder zerstört und neue erfunden werden müssen. An dieser Stelle müssen wir allerdings vorsichtig sein und einen Kurzschluss vermeiden, der die ökonomischen Entwicklung automatisch mit einer Mobilisierung von Bevölkerungen kurzschließt, denn nicht jede Erfahrung von Arbeitslosigkeit oder ökonomischer Misere und nicht jede Landnahme führt unvermeidlich dazu, dass sich Menschen auf den Weg an einen anderen Ort machen, wo sie sich (mit welchen Absichten auch immer) niederlassen wollen. Selbst die Zerstörung von Lebensbedingungen führt nicht notwendigerweise zu menschlicher Mobilität. Wir wissen auch um jene stagnierende Bevölkerung, die einfach nicht weiter oder davon kommt, weil selbst da, wo die Bereitschaft vorliegt, ihnen schlicht die Mittel dazu fehlen, sich und ihre Familien in Bewegung zu setzen. Eine Prekarisierung der Lebensbedingungen kann folglich sowohl in sesshafter als auch in mobil(isiert)er Form auftreten. 19

19 Balibar, Étienne: Sur la situation des migrants dans le capitalisme absolu, 2019, URL: https://france.attac.org/nos-publications/les-possibles/numero-19-hiver-2019/dossierdes-migrations-et-discriminations-aux-gilets-jaunes/article/sur-la-situation-des-migrants-dans-le-capitalisme-absolu, (22.05.2019).

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"LOGISTIK WEBT GLOBALISIERUNG IN DIE MUSTERUNGEN DES ALLTAGS" Was hat diese Einschätzung zu Migration und Mobilität nun mit Logistik zu tun? Durch den Aufstieg der Logistik in der Ökonomie sind neue Konnektivitäten und neue Kollektivitäten entstanden, menschliche Arbeit ist in Lieferketten, von der Extraktion von Rohstoffen, über den Transport bis hin zu Produktions- und Distributionsstätten zusammengeschlossen. Insgesamt umfasst die Blüte der Logistik vor allem nach dem 2.Weltkrieg sehr viele Dimensionen dessen, was wir heute unter Globalisierung verstehen: Der Aufstieg der Logistikindustrie als zentrale Praxis von regionalen und globalen Distributions- und Zirkulationsketten, auch "logistische Revolution"20 genannt, bestimmt heute zunehmend die Bedingungen und Regeln auch der Produktion, einfach, indem sie Lagerkosten verringert und für eine Erhöhung von Profiten sorgt. Mehr noch, sie wird immer mehr zu einer Rationalität, die den ganzen Kreislauf von Produktion, Distribution und zunehmend auch unsere Konsumpraktiken organisiert. "Logistik webt Globalisierung in die Musterungen des Alltags"21 schreibt die Architektin und Stadtforscherin Clare Lyster und nimmt die Erfordernisse eines "Lifestyle of Convenience"22 unter Bedingungen einer "Kultur der Unmittelbarkeit" 23 in den Blick. Diese durch Digitalisierung und das Internet mögliche digitale Kultur basiert auf den Eigenschaften der Prädiktion und des Feedbacks24, von denen logistische Rationalitäten ebenso geprägt sind. Wie es Lyster beschreibt, kommt es in der Logistik darauf an, dass jemand irgendwo weiß, was wir wollen, wann wir es wollen, und wie sie es am besten dorthin bringen können, wo es gewollt wird/werden soll25. Die "Revolution in der Logistik"26, die in den 1960er Jahren stattfand und deren Geschichte sich durch die Einführung des standardisierten Schiffscontainers

20 Cowen, Deborah: The deadly Life of Logistics, Minneapolis: University of Minnesota Press 2014. 21 Lyster, Clare: Learning from Logistics: How Networks Change our Cities, Basel: Birkhäuser 2016. 22 Lyster, Clare: Our Addication To Amazon, Fedex And The Culture Of Immediacy, in: Utne Reader, 2014, URL: https://www.utne.com/economy/culture-of-immediacyzm0z14fzsau (22.05.2019), S. 5. 23 Vgl. ebd., S.8. 24 Beyes, Timon/Pias, Claus: Transparenz und Geheimnis, in: Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Bd. 2/2014 (2014), S. 111–117. 25 C. Lyster: Our Addication To Amazon, Fedex And The Culture Of Immediacy, S. 8. 26 D. Cowen: The deadly Life of Logistics.

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symbolisieren lässt27, brachte erhebliche Veränderungen in der Berechnung und Organisation von Wirtschaftsräumen und den zeit-räumlichen Konfigurationen mit sich. Es ermöglichte sowohl die intensive Reorganisation der Produktion jenseits der Werksmauern als auch die weitreichende Ausdehnung der "Lieferketten" über den Globus. Der Übergang von der "physischen Distribution" (wie sie früher genannt wurde) zur "globalen Logistik" war mit einem "Systemansatz" verbunden, der Produktion und Distribution innerhalb dessen integrierte, was der einflussreiche Management-Ökonom Peter Drucker bereits 1962 in einem Artikel für das Wirtschafts-Magazin Fortune für "den gesamten Geschäftsprozess" 28 beschrieb. Während die "physische Verteilung" zunächst nur mit dem Problem der Kostenminimierung nach der Produktion befasst war, ist die Logistik inzwischen, wie Deborah Cowen zeigt, an der Wertschöpfung über die Kreislaufsysteme hinweg29 interessiert. Logistik ist so gesehen ein Mobilitätsparadigma innerhalb der Wertschöpfungskette und arbeitet an der Grenze zwischen Produktion und Zirkulation bis hin zur Auslieferung. Ihre Optimierung bildet die Grundlage für die Entwicklung von ökonomischen Riesen wie Walmart und Amazon, deren logistische Technologien und Assemblagen heterogene Produktionsformen durch die Besetzung monopolistischer Positionen im Umlauf synchronisieren und letztlich beherrschen (vgl. Altenried 2018). Weit darüber hinaus ermöglichen und gestalten die neuen Grenzen logistischer Entwicklungen, die mit Digitalisierungsprozessen verbunden sind, neue Formen der Arbeitsorganisation, verwischen die Unterscheidung zwischen Leben und Arbeit im dystopischen Rahmen eines 24/7-Produktivitätsregimes, beflügeln das Funktionieren des Hochfrequenzhandels auf den globalen Finanzmärkten sowie das Entstehen von App-angetriebenen Sharing- und "Gig"Ökonomien und verändern städtische Räume und Lebensstile 30. Die Technik des effizient und optimiert in Kombination-Bringens ist das, was die Anthropologin Anna Tsing in ihrer Arbeit zum "supply-chain capitalism" 31 als sein Modell (jenes, des Kapitalismus) für das Denken von globaler

27 Holmes, Brian: Do Containers Dream of Electric People? The Social Form of Just-inTime Production, in: Open 21 (2011), S. 30–44. 28 Drucker, Peter: The economy's dark continent, in: Fortune 04/62 (1962), S. 265–270. 29 D. Cohen: The deadly Life of Logistics, Übersetzung MB. 30 Apicella, Sabrina/Bojadžijev, Manuela/Arnold, Sina (Hg.): Grounding Logistics. Ethnographische Zugriffe auf Logistik, Migration und Mobilität, Berlin: Panama Verlag 2018. 31 Tsing, Anna: Supply chains and the Human Condition, in: Rethinking Marxism 21, Nr. 20 (2009), S. 148–76.

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Standardisierung und zunehmenden Lücken bezeichnet hat, für das die Nutzung der "bestehenden Vielfalt" und die Schaffung von Nischen und Verbindungen zwischen Differenzen zentral wird. Es führt, diagnostiziert sie vor zehn Jahren, zu einem globalen Zustand, in dem Corporate Governance mit "Kontingenz, Experimenten, Verhandlungen und instabilen Verpflichtungen"32 koexistiert. Der "globale Zustand" ist darum eben nicht der einer räumlichen oder institutionellen Homogenisierung, wie es Szenarien von Globalisierung lange gezeichnet haben. Während Tsing logistische Netzwerke (auch in ihrem jüngsten Buch über die Verbreitung des Matsutake-Pilzes33) einerseits untersucht, operationalisiert sie andererseits zugleich das Denken der Logistik für die Anthropologie. So geht es um die "Rationalität" oder "Logik" der Logistik: ihrem Drängen nach einer just-intime und to-the-point-Optimierung. Es geht aber auch um die Nutzung der Bedingungen und Mittel, die an einem spezifischen Ort vorhanden sind und das In-Verbindung-setzen mit unterschiedlichen lokalen Spezifika, also einer Verknüpfung mit lokalen Arrangements, die eine gewisse, auch legale, Autonomie der Komponenten gewährleistet (denn die Lieferketten basieren auf subcontracting, outsourcing). Diese Aspekte erklärt Tsing zu den Kennzeichen des sich verallgemeinernden supply-chain-capitalism. So betont sie, lebt Logistik von der Aushandlung von Vielfalt "vor Ort". Mit anderen Worten, die Logistik nutzt nicht nur die vorhandene Vielfalt für sich, sondern produziert auch Vielfalt, schafft oder revitalisiert Nischentrennungen, z.B. durch den Bau von Zonen, Korridoren und anderen Spezialtopographien, die die Wirtschaftsleistung anleiten und begütigen. Es wäre deshalb ein Fehler nur zu betonen, wie sich die Logistik an die lokalen Gegebenheiten anpasst und von diesen profitiert, vielmehr geht es zugleich um ihre Fähigkeit, Welten auch zu erschaffen34. Die kombinatorische Kraft logistischer Operationen hat einen wesentlichen Einfluss auf die Zusammensetzung von Arbeit35. Die Herausbildung einer ethnographischen Perspektive auf/durch Logistik oder Logistik als ein epistemisches Instrument zu entwickeln, schließt an die Flexibilität globaler Lieferketten und die Prägungen durch die Just-in-time-Produktions- und Zirkulationsformen an, die bestimmen, wer beschäftigt wird, woher die Leute kommen, wie lange sie bleiben

32 Ebd., S. 151. 33 Tsing, Anna: Der Pilz am Ende der Welt: Über das Leben in den Ruinen des Kapitalismus, Berlin: Matthes & Seitz 2018. 34 Neilson, Brett/Rossiter, Ned/Samaddar, Ranabir (Hg.): Logistical Asia, Singapore: Palgrave Macmillan 2018. 35 Neilson, Brett: »Five theses on understanding logistics as power«, in: Distinktion: Scandinavian Journal of Social Theory 13(3) (2012), S. 322–39.

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dürfen, wo gearbeitet und welche Art von Arbeit geleistet wird. Logistische Systeme und ihre Rationalitäten regeln folglich Arbeit – sie regeln aber, so das Argument hier, auch die Mobilität, nicht nur von Waren, Daten und Kapital, sondern eben auch die von Menschen. Im Anschluss an solche Überlegungen stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von Logistik und Migration: Beginnt sich die Logik und Rationalität der Logistik auf die Phänomene heutiger Bevölkerungsbewegungen und ihrer Regulation zu übertragen? Diese Frage haben wir uns nach dem "Sommer der Migration" zu stellen begonnen: Die Inflation logistischer Terminologie im Bereich des Migrationsmanagements – vom Hotspot-Konzept der Europäischen Kommission zur Entstehung von transnationalen Flucht-Korridoren bis hin zu Online-Plattformen zur Unterstützung der lokalen (Arbeitsmarkt-)Integration von Geflüchteten – sind Anzeichen dafür, dass wir es mit einer neuen Rationalität des Migrationsmanagements zu tun haben könnten. Könnte es sein, dass logistische Prinzipien, die sich am markantesten in dem Leitbild einer Just-in-time- und To-the-point-Produktion und -Distribution von Waren ausdrücken, zunehmend auch auf die Regulation der Bewegung von Menschen übertragen werden? Logistische Technologien würden dann nicht nur die Mobilität von Gütern, Kapitalien und Daten, sondern auch die von Menschen durch Raum und Zeit prognostizieren, vermessen, organisieren und überwachen. Und die Frage der Logistik wäre nicht nur ein Schlüssel zum Verständnis der Gütermobilität, sondern auch der Mobilität von Menschen. 36

VON DER AUTONOMIE DER MIGRATION ZU LOGISTISCHEN GRENZLANDSCHAFTEN Nachdem ich die transdisziplinäre Öffnung von Logistik zu kulturwissenschaftlichen und anthropologischen Ansätzen hin zu Fragen nach menschlicher Mobilität eröffnet habe, stellt sich in anderer Richtung die Frage nach der Eröffnung der Logistik aus der Perspektive der Migrationsforschung. Seit Anfang der 2000er Jahre habe ich mit zahlreichen anderen zur Entwicklung des so genannten "Autonomie der Migration"-Ansatzes beigetragen. Ursprünglich als Analyse von "Kämpfen der Migration"37 in Europa und anderswo in der Welt verwurzelt, hat dieser Ansatz eine entscheidende Rolle gespielt, um die "turbulente Natur"38 der

36 M. Altenried et. al. (Hg.): Logistische Grenzlandschaften. 37 M. Bojadžijev: Die windige Internationale. 38 TRANSIT MIGRATION Forschungsgruppe: Turbulente Ränder. Neue Perspektiven auf Migration an den Grenzen Europas, Bielefeld: transcript 2007.

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zeitgenössischen Migration zu beleuchten, die subjektiven Herausforderungen, die sie durchziehen. Wichtige Konzepte wie Staatsbürgerschaft und Grenzen wurden durch die Entwicklung dieses Ansatzes produktiv gemacht und umgedacht, was schließlich sowohl etablierte Vorstellungen "des Politischen" als auch die Grenzen der "Migrationsforschung" in Frage stellte39. Viele haben in der Diskussion dieses Ansatzes immer wieder darauf hingewiesen, dass die Reduktion der "Autonomie der Migration" auf einen bloßen Slogan beschränkt ist oder sogar das Risiko der "Romantisierung von Migration" birgt. Vor allem aber kam es im Zuge dieser Debatte und in mehreren Varianten dieses Ansatzes zu Verschiebungen, in denen die Verstrickung von Migration in sich verändernde Formationen mobiler Arbeit – die in den ersten Forschungsagenden noch an erster Stelle standen – irgendwie marginalisiert wurde, wenn sie nicht vollständig verloren ging. Die Frage nach dem Verhältnis zwischen den subjektiven und "strukturellen" Aspekten der Migration, die von Anfang an bei dem Ansatz verfolgt wurde, taucht somit wieder auf. Logistik liefert uns hier einen neuen Blickwinkel auf die Beziehungen zwischen Migration und den Transformationen des kapitalistischen Wirtschaftens und ermöglicht eine Untersuchung, die Migration in einer Landschaft lokalisiert, die mehr und mehr von der turbulenten Entstehung eines neuen Mobilitätsparadigmas geprägt ist. Die Betonung der Mobilität in der Perspektive auf logistische Grenzlandschaften verbindet diese Perspektive durchaus, und wie bereits erwähnt, mit dem sogenannten "mobility turn" in den Sozial- und Kulturwissenschaften. Ihnen geht es um die grundlegende Bedeutung der Zusammenhänge zwischen Migration und heterogenen Mobilitäten (von Objekten, Kapital, Informationen). Eine frühe Herausbildung dieses Ansatzes findet sich bereits 1990 in Arjun Appadurais Arbeit "Disjuncture and Difference in the Global Cultural Economy" 40, es sind dann aber insbesondere Tim Cresswell41 und John Urry/Mimi Sheller42, die die konstitutive Rolle von Mobilität für Politik und Gesellschaft, Wirtschaft, Kultur und Raum betonen und mit denen sich die "Mobility Studies" als Forschungsfeld zu etablieren beginnt. Allerdings ist mein Eindruck, dass es in der "Mobilitätsforschung" eine weit verbreitete Tendenz ist, Hierarchien, Differenzierungen, Spannungen

39 Vor allem Mezzadra, Sandro/Neilson, Brett: Border as Method. Or, the Multiplication of Labor, Durham/London: Duke University Press 2013. 40 Appadurai, Arjun: »Disjuncture and Difference in the Global Cultural Economy«, in: D. a. Economy, Theory, Culture & Society 7 (1990), S. 295–310. 41 Cresswell, Tim: On the Move: Mobility in the Modern Western World, New York: Routledge 2006. 42 J. Urry/M. Sheller: The New Mobilities Paradigm.

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und Konflikte im Bereich der "Mobilitäten", ihre Umkämpftheit, eher herunterzuspielen. Mit Logistik als epistemischem Instrument lässt sich dagegen untersuchen, wie Macht und Ausbeutung auf der einen Seite, Kämpfe und Widerstände auf der anderen Seite sich in diesem Konfliktfeld reproduzieren und verändern. Es mag verwundern, warum ausgerechnet Logistik, die "Kunst und Wissenschaft vom Erschaffen netzwerkartiger Beziehungen" 43 die Kommunikation, Transport und ökonomische Effizienz optimiert und steigert, für eine Analyse von Konfliktfeldern taugt. Angesichts von logistischer Rationalität, die immerzu Effizienz und Reibungslosigkeit zu implizieren scheint, müssen wir uns immer wieder auch die Kritik am Konnektivitäts- und Relationsdenken in Erinnerung rufen. In der anthropologischen Diskussion haben Candea et al.44 dafür plädiert, weder Relationen noch Elemente in unseren Konzepten zu priorisieren und den Blick auch für unterschiedliche Praktiken und Formen des "detachment", den Prozessen des Auflösens von Beziehungen zu widmen. Eine analytische Indifferenz gegenüber Momenten der Störung, der Unterbrechung und des Zusammenbrechens von Netzwerken, ihrer Nicht-Aktivität, oder schöner noch wie es der Medienwissenschaftler Ned Rossiter als "logistische Albträume" bezeichnet hat, soll hier ein zentrales Moment der Analyse ausmachen45. Das Bild eines "glatten" Umlaufraums, das von der Logistik selbst projiziert wird, ist auch in der kritischen Logistikforschung der letzten Jahre stark vorherrschend. Eine Analyse von Logistik und Migration muss aber die Reibungsverluste, Spannungen und Lücken hervorheben, die für das Studium der Logistik allgemein relevant sind. Auch im Bereich der Logistik – wie in modernen Migrationsregimen – verflechten sich humanitäre und Logiken der Sicherheit mit ökonomischen Berechnungen, während sie ständig gezwungen sind, sich mit der Herausforderung der Beharrlichkeit und des Erfindungsreichtums von Migrierenden auseinanderzusetzen. Es ist nicht so, dass in der Migrationsforschung die wachsende Relevanz von Infrastrukturen und Logistik nicht auf mehrfache Weise bereits erfasst worden wäre, aber letzterer Begriff wird im Zusammenhang mit Migration selten erwähnt:

43 S. Mezzadra/B. Neilson: Border as Method. Or, the Multiplication of Labor, S.12. 44 Candea, Matei/Cook, Joanna/Trundle, Catherine/Yarrow, Thomas (Hg.): Detachment. Essays on the limits of relational thinking, Manchester: Manchester University Press 2015. 45 Vgl. Rossiter, Ned: Software, Infrastructure, Labor. A Media Theory of Logistical Night-mares, New York: Routledge 2016.

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Etwa in der "Migrationsökonomie" mit dem Begriff der "Migrationsindustrie"46; oder mit dem Begriff der Viapolitik von William Walters 47, der die Frage des "Transports", dem Kerngeschäft der Logistik, aufwirft; sowie mit der wachsenden Rolle, die eine Vielzahl von Agenturen und Maklern bei der Vermittlung von Arbeitsmigration spielen, wie sie die Anthropologen Johan Lindquist und Xiang Biao48 mit dem Begriff der "Migrationsinfrastruktur" bezeichnen. Das sind Begriffe und Felder, die auf die zunehmende Relevanz in der Diskussion hinweisen. Dennoch wird Logistik in diesen Schriften selten erwähnt. Auch der sich entwickelnde, alles andere als homogene Bereich der kritischen Logistikstudien, den ich zuvor umrissen habe, ist bislang sicher kein etabliertes Feld.

DREI PERSPEKTIVEN FÜR DEN ZUSAMMENHANG VON MIGRATION UND LOGISTIK Eine Annäherung an den Zusammenhang von Migration und Logistik haben wir im Forschungsprojekt zu logistischen Grenzlandschaften 49 zunächst in drei Dimensionen definiert: Erstens muss betont werden, dass Migrant*innen selbst ihre eigene Infrastruktur und Logistik aufbauen. Auch dies ist nicht neu und erstreckt sich auf die Organisation von Kommunikations-, Sozial- und Handelsinfrastrukturen, die sich überkreuzen und die Reproduktion von migrantischen Gemeinschaften über verschiedene geographische Räume hinweg ermöglichen. Erwähnenswert sind die in den letzten Jahren in Paris von Dana Diminescu koordinierten Arbeiten über "digitale Diasporen"50, um aufzuzeigen, wie die neuen Kommunikationstechnologien diese Infrastrukturen verändert und die Landschaft des "Transnationalismus" der Migrant*innen weiter ausgebaut, verändert und erschwert haben. Vor allem aber ist es in den letzten Jahren zu einer qualitativen Veränderung in der Entwicklung der selbstorganisierten migrantischen Logistik

46 Gammeltoft-Hansen, Thomas/Sørensen, Ninna Nyberg (Hg.): The migration industry and the commercialization of international migration, London/New York: Routledge 2013. 47 Walters, William: Migration, vehicles, and politics: Three theses on viapolitics, in: European Journal of Social Theory 18 (4) 2015, S. 469-488. 48 Xiang, Biao/Johan Lindquist: Migration Infrastructure, in: International Migration Review 48, 2014, S. 122-148. 49 Altenried, Moritz et. al. (Hg.): Logistische Grenzlandschaften. 50 Diminescu, Dana: Introduction: Digital methods for the exploration, analysis and mapping of e-diasporas, in: Social Science Information 51/4 (2012), S. 451-458.

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für den Grenzübertritt gekommen, wie sich 2015 im "Sommer der Migration" in Europa und in der Folge in der zivilen Seenotrettung besonders deutlich gezeigt hat51. Eine wachsende Zahl von Forschungen beschäftigt sich insbesondere mit der Nutzung von Smartphones, sozialen Medien und anderen digitalen Technologien durch Flüchtlinge und Migrant*innen52. Die Bildung von selbstorganisierten logistischen Infrastrukturen impliziert oft Verhandlungen mit einer Vielzahl von formellen und informellen Akteuren und ist ein wichtiges materielles Beispiel für die Autonomie der Migration, die nur schwer zu untersuchen ist. Parallel zur Entwicklung dieser Praktiken der logistischen Selbstorganisation von Migrant*innen werden die Grenzregime, zweitens, selbst zunehmend "logistisch" gestaltet. Die Debatten und Entwicklungen rund um die Krise des europäischen Grenzregimes sind in dieser Hinsicht ein gutes Beispiel. Man denke nur an Schlüsselwörter wie Hotspot, Korridore und Plattformen, die in diesen Debatten und Entwicklungen eine wichtige Rolle spielen. Erste wissenschaftliche Untersuchungen53 haben begonnen, das, was die Europäische Kommission "Hotspot-Ansatz" nennt, aus dem Blickwinkel zu untersuchen, wie sich das europäische Grenzund Migrationsregime logistisch zu reorganisieren beginnt, neue Kanäle und neue Mobilitätsmuster zu erschließen und mit beharrlichen Mitteln und Praktiken der differentiellen Ein- und Ausgrenzung, Hierachisierung und Blockierung zu

51 Vgl. Heller, Charles: Wo die Überquerung ins Stocken kommt. Die Bekämpfung der »flüssigen Gewalt« von Grenzen im Mittelmeer – ein Interview, in: Texte zur Kunst, Heft 114 (29), Juni 2019, S. 83-98. 52 Vgl. Arnold, Sina/Görland, Stephan Oliver/Abbas, Samira: »Digitalisierung

und

selbstorganisierte migrantische Logistik«, in: Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung (Hg.): Solidarität im Wandel?, Berlin: Humboldt-Universität 2017, S. 286-296. 53 Heller, Charles/Pezzani, Lorenzo: Ebbing and Flowing: The EU’s Shifting Practices of (Non-) Assistance and Bordering in a Time of Crisis. URL: http://nearfuturesonline.org/ebbing-and-flowing-the-eus-shifting-practices-of-non-assistance-and-bordering-in-a-time-of-crisis/ (24.05.2019); Kasparek, Bernd: »Routen, Korridore und Räume der Ausnahme«, in: Sabine Hess/Bernd Kasparek/Stefanie Kron/Mathias Rodatz/Maria Schwertl/Simon Sontowski (Hg.): Der lange Sommer der Migration. Grenzregime III, Berlin/Hamburg: Assoziation A 2016, S. 38–53; Tazzioli, Martina/Garelli, Glenda: Containment beyond detention: The hotspot system and disrupted migration movements across Europe, in: Environ Plan D (Environment and Planning D: Society and Space) 48/1 (2018), URL: https://doi.org/10.11772F0263775818759335 (24.05.2019) und Vradis, Antonis/Papada, Evie/Painter, Joe: New borders. Hotspots and the European migration regime, London: Pluto Press 2019.

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artikulieren. Die Verhärtung des Grenzregimes verläuft allerdings alles andere als reibungslos; sie trägt weniger dazu bei, den Grenzübertritt von Migrant*innen und Flüchtlingen sicherer zu machen, wie die täglichen Nachrichten vom Mittelmeer zeigen. Dennoch ist die "Logistifizierung" des Grenzregimes im Gange und einer der Aspekte, aus denen es untersucht werden muss, sind die konstitutiven Spannungen (und die notwendige Artikulation) zwischen seinem "Nah-Raum" und seinen globalen Verflechtungen. Drittens hat die "Logistifizierung" des Migrationsregimes mit den sich wandelnden Konfigurationen von Arbeit und Mobilität sowie mit der Position der mobilen Arbeitenden innerhalb dieser Transformationen zu tun. Zunächst einmal muss betont werden, dass das neue Mobilitätsparadigma, das mit den jüngsten Entwicklungen der Logistik verbunden ist, die Transformation von Arbeit heute prägt. Die Entwicklung und der Aufstieg der so genannten "Gig Economy" oder Plattformarbeit – an dem Unternehmen wie Uber und Deliveroo, Amazon Mechanical Turk und Fiverr beteiligt sind – hat dazu geführt, so zeigt sich, wenngleich das noch weiter zu untersuchen sein wird54, dass viele derjenigen, die für diese Plattformen arbeiten, Migrant*innen sind. Gleiches gilt für die Logistikbranche im engeren Sinne. In den Lagern von Amazon, DHL oder UPS, den logistischen Zentren Europas, sind zahlreiche Migrant*innen oder Saisonarbeitskräfte tätig. Wie wir in unserem Forschungsprojekt zur "Integration" von Geflüchteten in den Arbeitsmarkt in Berlin zu zeigen versucht haben55, ist eine Vielzahl von Agenturen und Vermittlern hier tätig. Die Rolle der Leiharbeitsfirmen bei der Verwaltung von "entsandten" Arbeitnehmern in Europa, die Vielzahl von legalen und illegalen Vermittlern oder "Gangmastern", die die Anwerbung und Ausbeutung von Saisonarbeitern in der Landwirtschaft erleichtern, oder die Kette der Unteraufträge im Bausektor sind nur drei solcher Beispiele, die wir vorgefunden haben. Es ist leicht zu erkennen, dass es einen entscheidenden Zusammenhang zwischen

54 Vgl. das Forschungsprojekt Digitalisierung von Arbeit und Migration, www.platformmobilities.net und hier: Altenried, Moritz/Bojadžijev, Manuela/Wallis, Mira: Research Labour Mobility in Digital Times, https://www.law.ox.ac.uk/research-subjectgroups/centre-criminology/centreborder-criminologies/blog/2018/05/researching (23. Mai 2019). 55 M. Altenried et. al. (Hg.): Logistische Grenzlandschaften, sowie Altenried, Moritz/Bojadžijev, Manuela/ Höfler, Leif/Mezzadra, Sandro/Wallis, Mira: »Arbeit, Migration und Logistik. Vermittlungsinfrastrukturen nach dem Sommer der Migration«, in: movements. Journal for Critical Migration and Border Regime Studies 4 (2) (2018), URL: http://movements-journal.org/issues/07.open-call/03.altenried,bojadzijev,hofler,mezzadra,wallis--arbeit-migration-und-logistik.html.

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dieser zunehmenden Vermittlung von Arbeitsmigration und umfassenderen Flexibilisierungsprozessen gibt, die Arbeitsmärkte und Volkswirtschaften im Zuge der Krise des Postfordismus und der Entstehung des "Neoliberalismus" neugestaltet haben. Unter diesen Bedingungen ist die Nachfrage nach Arbeitsmigrant*innen bei weitem nicht rückläufig, wird aber immer schwerer durch die digitale "Politik der Datafizierung" fass- bzw. messbar56. Sowohl die räumlichen als auch die zeitlichen Koordinaten der Migration werden durch eine Reihe von Entwicklungen zunehmend kompliziert. Eine logistische Rationalität verspricht, die Umsetzung dessen, was wir zugespitzt als die "Just-in-time"- und "To-The-Point"-Migration bezeichnet haben – was zugleich als ideales politisches Ziel für das "Migrationsmanagement" erscheinen mag. Die Einführung und Feinabstimmung von "Punktesystemen" in vielen Ländern und Regionen der Welt ist Teil dieser Entwicklungen. Nehmen wir zur Anschauung eine grundlegende Definition, zum Beispiel die des Logistikwissenschaftlers Reinhardt Jünemann57, einem Pionier in der Erforschung des Themas in Deutschland: "Die logistische Aufgabe", schreibt er, "besteht darin, die richtige Menge der richtigen Objekte am richtigen Ort in der richtigen Qualität zur richtigen Zeit und zu den richtigen Kosten bereitzustellen" – und, wie man hinzufügen kann, dem "richtigen Kunden" mit dem "entsprechenden Lebensstil". Ist dies nicht eine gültige Definition vieler zeitgenössischer Einstellungsverfahren für temporären und flexible Arbeitende wie es Migrant*innen in vielen Teilen der Welt sind? Mit der Abwandlung des Leitsatzes von Jünemann ließe sich so zum Schluss kommen, wonach der logistische Auftrag des Migrationsregimes darin besteht, die richtige Menge der richtigen Arbeitskräfte als Gegenstände der Logistik der Migration, zum richtigen Ort, mit den richtigen Skills, zum richtigen Zeitpunkt und (ergänzend) für die richtige Dauer, zu den richtigen Lohnkosten zur Verfügung zu stellen. Bevölkerungspolitisch impliziert diese Logik jedenfalls die Allokation von Arbeitskraft so zu regieren, dass das Verhältnis von fluider, latent mobiler und stagnierender Bevölkerung, das Verhältnis von verschiedenen Graden der Im/Mobilität bzw. Im/Mobilisierung, logistisch zu steuern und staatlich zu regulieren ist. Für die Entwicklung neuer epistemischer Zugänge, die diese Richtung einschlagen, wäre dann die Krise der Begriffe der Migration selbst ein Symptom. Der wichtigste, wenn nicht der Unterschied zwischen den Waren der Logistik besteht bei der Logistik der Migration darin, dass es sich bei mobilen Bevölkerungen

56 Bigo, Didier/Isin, Engin/Ruppert, Evelyn (Hg.) Data Politics: Worlds, Subjects, Rights, London: Routledge 2019. 57 Jünemann, Reinhardt: Materialfluß und Logistik. Systemtechnische Grundlagen mit Praxisbeispielen, Berlin: Springer 1989, S. 18.

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nicht um "Objekte", sondern vielmehr um Subjekte handelt. Und natürlich hat dies eine der zentralen Perspektiven für ethnographische Untersuchungen dieses Konfliktfeldes eröffnet.

Flucht, Zwangsmigration, Gewaltmigration? Begriffe und Konzepte der Forschung Jochen Oltmer

Die Begriffe ‘Flüchtling‘ oder ‘Refugees‘ erweisen sich in den wissenschaftlichen, aber auch in den politischen, medialen und öffentlichen Debatten der vergangenen Jahre als umstritten. Die Positionierungen aus der Forschung für oder gegen deren Verwendung sind mannigfaltig: Die Einen verweisen darauf, dass sie einen seit langem etablierten Rechtsbegriff meinen, wenn sie von ‘Flüchtlingen’ bzw. ‘Refugees’ sprechen. Wegen des damit zugewiesenen spezifischen Schutzstatus, der als ein hohes Gut verstanden werden müsse, seien ‘Flüchtlinge’ bzw. ‘Refugees’ eindeutig von anderen Migrantinnen und Migranten zu unterscheiden.1 Die Anderen wenden gegen den Begriff ein, es handele sich um eine (national-)staatliche Ordnungskategorie. Deren Verwendung verenge die Beobachtungsperspektive einer vornehmlich sozialwissenschaftlich betriebenen Forschung, die ein soziales Phänomen reflexiv und ohne die Leitplanken einer Statusfrage zu thematisieren habe. 2 ‘Flüchtling’ sei außerdem negativ konnotiert, nicht zuletzt aufgrund der herabsetzenden Endung auf ‘ling’.3 Er gebe nur vor, 1

Hathaway, James C.: »Forced Migration Studies: Could We Agree Just to ›Date‹?«, in: Journal of Refugee Studies 20 (2007), S. 349–369; Feller, Erika: »Refugees are not Migrants«, in: Refugee Survey Quarterly 24 (2005), S. 27–35.

2

Bakewell, Oliver: »Conceptualising Displacement and Migration: Processes, Conditions, and Categories«, in: Khalid Koser/Susan Martin (Hg.), The Migration-Displacement Nexus: Patterns, Processes, and Policies, Oxford 2011, S. 14–28; Gupte, Jaideep/Mehta, Lyla: »Disjunctures in Labelling Refugees and Oustees«, in: Joy Moncrieffe/Rosalind Eyben (Hg.), The Power of Labelling. How People are Categorized and Why It Matters, London 2007, S. 64–79.

3

Stefanowitsch, Anatol: »Flüchtlinge und Geflüchtete«, Bremer Sprachblog, 1.12.2012, http://www.sprachlog.de/2012/12/01/fluechtlinge-und-gefluechtete/; s. auch die Be-

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geschlechtsneutral zu sein, verstärke aber die falsche Vorstellung, ‘Flucht’, also das, was ‘Flüchtlinge’ ausmache, sei ein männliches Phänomen.4 In den 1990er Jahren führten in den englischsprachigen ‘Refugee Studies‘ intensive Debatten um das Selbstverständnis zur Abwendung von der Fokussierung auf Begriff und Konzept der ‘Refugees‘. Der Begriff ‘forced migration‘ etablierte sich, die ‘Forced Migration Studies‘ bildeten sich heraus.5 Auslöser der Debatte war vor allem die Feststellung, dass ‘refugees‘ eine privilegierte Form von ‘displaced persons‘ seien: Aufgrund einer Politik der Staaten des Globalen Nordens, die die Bewegung von Schutzsuchenden auf ihre Territorien zu verhindern trachte, wachse die Zahl der Menschen, die insbesondere als ‘internally displaced persons‘ (IDPs, ‘Binnenvertriebene‘) keinen Schutzstatus im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention oder nationaler asylrechtlicher Regelungen zu erwarten hätten.6 Zur Ausformung von ‘Refugee Studies‘ und ‘Forced Migration Studies‘ trug die große (meistenteils anwendungsbezogene) Nachfrage nach ihren Ergebnissen bei. Hinzu traten die intensiven Debatten um Konzeptionalisierungen und Methodologien, die die Entwicklung eines gemeinsamen wissenschaftlichen Horizonts förderten. Anwendungsbezogene wie grundlagenorientierte Forschung in diesem Feld haben die Kenntnisse über Fluchtbewegungen und ihre Folgen insbesondere seit der Wende zum 21. Jahrhundert immens erweitert. Dass sich ‘Refugee Studies‘ und ‘Forced Migration Studies‘ trotz aller Diskussionen um Begriffe und Schwerpunkte weiterhin zu verständigen vermögen, ist auch der Tatsache geschuldet, dass es sich faktisch um eine einzige, relativ gut abgrenzbare Forschungsrichtung handelt, die in erster Linie einer Leitperspektive innerhalb eines weiten Themenkomplexes folgt: der Fokus auf die Unterstützung und den Schutz von Zufluchtsuchenden – den Schutzbedarf und den Umfang des Schutzes, die

gründung für die Wahl von ‚Flüchtling‘ als Wort des Jahres 2015 durch die Gesellschaft für deutsche Sprache, https://gfds.de/wort-des-jahres-2015/ 4

Krause, Ulrike: »Die Flüchtling – der Flüchtling als Frau. Genderreflexiver Zugang«, in: Cinur Ghaderi/Thomas Eppenstein (Hg.), Flüchtlinge, Wiesbaden: Springer VS 2017, S. 79–93.

5

Zetter, Roger: »Refugees and Refugee Studies – A Label and an Agenda«, in: Journal of Refugee Studies 1 (1988), S. 1–6; Black, Richard: »Fifty Years of Refugee Studies. From Theory to Policy«, in: International Migration Review 35 (2001), S. 57–78; Bakewell, Oliver: »Research beyond the Categories. The Importance of Policy Irrelevant Research into Forced Migration«, in: Journal of Refugee Studies 21 (2008), S. 432– 453.

6

Chimni, B.S.: »The Birth of a ‚Discipline’. From Refugee to Forced Migration Studies«, in: Journal of Refugee Studies 22 (2009), S. 11–29.

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Akteure, Instrumente und (Infra-)Strukturen des Schutzes, die breite gesellschaftliche Aushandlung von Schutz, die Legitimation des Schutzes, den Zugang zu Schutz bzw. die Verweigerung des Schutzes, einschließlich der Erfahrungen und Folgen, die sich aus Schutz oder Nicht-Schutz für die gesellschaftliche Positionierung und die Teilhabe von Zufluchtsuchenden bzw. Menschen mit einem Schutzstatus ergeben.7 Angesichts dieses Schwerpunkts bleibt die Auseinandersetzung mit der Frage nachrangig, warum sich jene Menschen, die als Forschungsgegenstand firmieren, in welcher Konstellation und unter welchen Umständen mit welchen Konsequenzen in Bewegung gesetzt haben bzw. setzen. Für die ‘Refugee Studies‘ ist eine Debatte darüber sogar belanglos, weil sie sich auf den rechtlichen Status oder auf eine administrativ-politische Zuordnung als ‘persons of concern‘ des UN-Hochkommissars für Flüchtlinge (UNHCR) zurückziehen. Die weiter reichende Perspektive der ‘Forced Migration Studies‘ hebt in der Regel den Zwangscharakter der in den Blick genommenen Bewegung hervor. Reflektiert wird dabei in der Regel nicht, auf welche Weise ‘Zwang‘ konzeptionell gefasst werden kann und worin das Zwanghafte besteht.8 Auch die ‘Flucht‘ selbst, also der Prozess des Bewegens, der auf die Suche nach einem sicheren Ort ausgerichtet ist, steht nicht im Fokus von ‘Refugee Studies‘ und ‘Forced Migration Studies‘.9 Konsequenz dieses geringeren Interesses ist eine bislang nicht sehr ausgeprägte Auseinandersetzung um die zentralen Begriffe, die die Mobilisierung und die Mobilität der ‘persons of concern‘ der Forschung abbilden: ‘Flucht‘, ‘Vertreibung‘, ‘Displacement‘, ‘Zwang‘, ‘forced‘, ‘coerced‘… Vor diesem Hintergrund sind die folgenden knappen Bemerkungen in einem ersten Schritt bemüht, deutlich zu machen, auf welche Weise ‘Refugee Studies‘, ‘Forced Migration Studies‘, ‘Flüchtlingsforschung‘ und ‘Zwangsmigrationsforschung‘ die jeweils behandelten Bewegungen konzeptualisieren. In einem zweiten Schritt werden diese Perspektiven kritisch eingeordnet, es folgt abschließend eine kurze Auseinandersetzung mit dem Potential, das das Konzept der ‘Gewalt‘ für

7

Neumann, Klaus: »Das Journal of Refugee Studies. Ein Beitrag zur Geschichte eines Forschungsfeldes«, in: Zeitschrift für Flüchtlingsforschung 1 (2017), S. 140–157.

8

Gibney, Matthew: »Is Deportation a Form of Forced Migration?«, in: Refugee Survey Quarterly 32 (2013), S. 116–129, hier S. 129.

9

Davenport, Christian A./Moore, Will H./Poe, Steven C.: »Sometimes you just have to leave: Domestic Threats and Forced Migration, 1964–1989«, in: International Interactions 29 (2003), S. 27–55, hier S. 29f.; BenEzer, Gadi/Zetter, Roger: »Searching for Directions: Conceptual and Methodological Challenges in Researching Refugee Journeys«, in: Journal of Refugee Studies 28 (2015), S. 297–318.

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eine Forschung bieten könnte, die sich der Frage widmet, warum Menschen in spezifischen Konstellationen genötigt werden bzw. sie sich genötigt sehen, räumliche Bewegungen zu unternehmen.

AUF DER SUCHE NACH EINEM GEGENSTAND: ‘FORCED MIGRATION‘, ‘FLUCHT‘, ‘ZWANGSMIGRATION‘, ‘MIGRATION‘? Der Terminus ‘forced migration‘ verweise, wie David Turton in einer vielzitierten Publikation hervorhebt, auf verschiedene Formen von „coerced human movements“. Gemeint seien Menschen, bei denen die Hintergründe der Bewegung Ausfluss von Ungerechtigkeit und Menschenrechtsverletzungen seien. Gemeint sein könnten aber auch – noch weitreichender – Phänomene globaler Ungleichheit, die, wie Turton eine Formulierung Zygmunt Baumans aufgreifend hervorhebt, dazu führen, dass Menschen danach streben, „to escape ‘the discomforts of localised existence’” in einer Welt „in which the difference between the rich and the poor can increasingly be seen as a difference between the rich minority, who are able to travel freely […], and the poor majority”. 10 Der Begriff der ‘coerced human movements‘ repräsentiere demnach einen Großteil der Migrationsbewegungen weltweit. Angenommen wird damit, eine ‘erzwungene‘ (‘forced‘/‘coerced‘) Migration lasse sich von einer ‘freiwilligen‘ Migration unterscheiden, wobei in der Regel ‘freiwillig‘ mit ‘ökonomisch motiviert‘ und ‘erzwungen‘ mit ‘politisch forciert‘ übersetzt wird. Anthony H. Richmond machte bereits 1988 darauf aufmerksam, dass eine solche Dichotomie von unhaltbaren Prämissen ausgeht: Jedes Individuum sei beständig Beschränkungen und Nötigungen ausgesetzt. Nur selten könne eine gänzlich freie Entscheidung für eine Bewegung beobachtet werden. 11 Aus diesem Grund, so Richmond weiter, sei es sinnvoll, zwischen ‘proaktiven’ und ‘reaktiven’ Handlungen zu entscheiden: Könne ein Individuum eine räumliche Bewegung aufgrund einer rationalen Wahl initiieren, um eine Nutzenmaximierung durch eine Migration zu erzielen, sei von einer ‘proaktiven’ Bewegung zu

10 Turton, David: Conceptualising Forced Migration, Oxford: Refugee Studies Centre 2003, S. 8. 11 Richmond, Anthony H.: »Sociological Theories of International Migration. The Case of Refugees«, in: Current Sociology 36 (1988), H. 2, S. 7–25, hier S. 14.

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sprechen. Reagiere aber jemand auf eine weitreichende Beschränkung und Behinderung seiner oder ihrer Freiheit, sei das Handeln ‘reaktiv‘. 12 Der Vorschlag Richmonds hält an einer binären Unterscheidung fest, die nur zu einer leichten Variation der Dichotomie ‘freiwillig’/’unfreiwillig’ führt, wenn er ‘Bewegungen zur Nutzenmaximierung’ (also ökonomisch motiviert = proaktiv) einerseits und ‘Nötigung zur Bewegung’ (also unfreiwillig = reaktiv) andererseits ausmacht. Eine Innovation stellt allerdings der Vorschlag dar, ‘proaktiv’ und ‘reaktiv’ als Extrempositionen auf einer Skala zu verstehen. Auftrag der Forschung sei es, die Hintergründe der Mobilisierung aller Migrantinnen und Migranten zwischen diesen Extrempositionen einzuordnen. Solche Skalen, die von einer gänzlichen Freiheit einer Entscheidung für eine Bewegung und einem Maximum massiver Nötigung zur Migration reichen, sind in der Folge verschiedentlich genutzt worden. In diesen Kontext gehören auch die Zuordnungen Zolbergs, Suhrkes und Aguayos für die Zwangsseite der Skala: Ihre Typologie der Handlungsmöglichkeit von ‘Refugees’ unterscheidet ‘Activists’ von ‘Targets’ und ‘Victims’. ‘Aktivisten’ nahmen aktiv (mit politischen Mitteln oder mit Gewalt) den Kampf gegen das herrschende politische System auf. ‘Ziele/Zielscheiben’ hingegen waren als Angehörige von Minderheiten Diskriminierungen oder Verfolgungen ausgesetzt, flohen deshalb. ‘Opfer’ wiederum erlebten ziellose Gewalt.13 Franck Düvell fragt nach dem Gehalt des Politischen in den Definitionen von ‘Zwangsmigration’ und bezweifelt die Tragfähigkeit des Begriffs ‘Zwang’: „Während erzwungene Migration politisch definiert ist, weil ihre Ursachen im politisch motivierten Verhalten Dritter liegen, ist die ökonomisch begründete freiwillige Migration ihrer politischen Dimension beraubt.“ Das Ökonomische erscheine damit als akteurslos, Wirtschaft werde also als ein Funktionsbereich definiert, der ohne politische Entscheidungen und ohne Wechselverhältnisse zum Politischen auskomme. „Migration zum Zweck des ökonomischen Überlebens ist, weil sich die Migranten die Umstände ihrer Migration nicht selbst zuzuschreiben haben, durchaus auch als unfreiwillige Migration zu betrachten. Und sie kann sehr wohl eine Form von politisch erzwungener Migration sein, wenn nämlich wirtschaftspolitische Entscheidungen den Verbleib von Menschen an einem Ort unmöglich machen, weil ihnen beispielsweise die Lebensgrundlage entzogen

12 Ders.: »Reactive Migration: Sociological Perspectives on Refugee Movements«, in: Journal of Refugee Studies 6 (1993), S. 7–24. 13 Zolberg, Aristide R./Suhrke, Astri/Aguayo, Sergio: Escape from Violence. Conflict and the Refugee Crisis in the Developing World, New York/Oxford: Oxford University Press 1989, S. 39.

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worden ist.“ Konsequent sei es deshalb, „zwischen politisch erzwungener und ökonomisch erzwungener sowie tatsächlich freiwilliger Migration zu unterscheiden“.14 Deshalb müsse auch diskutiert werden, solche Hintergründe von Bewegungen, die als ‘Zwang’ verstanden werden, in die Regelungen der Genfer Flüchtlingskonvention aufzunehmen. Das gelte etwa für Faktoren wie ausgeprägte Armut 15, Umweltveränderungen bzw. Umweltkatastrophen16 oder Folgen von großangelegten Entwicklungsprojekten.17 Alle Menschen, die aufgrund solcher Kräfte existentiell bedroht seien und das Herkunftsland verlassen müssten, so argumentiert Alexander Betts im Rahmen seines Konzepts der ‘survival migration’, seien auf Unterstützung und auf Schutz angewiesen.18 ‘People in distress’19, ‘distress migrants’20 oder ‘crisis migrants’21 bilden weitere Kategorien und Begriffe für als schutz- und unterstützungsbedürftig verstandene Menschen in Bewegung, die aus unterschiedlichen Gründen nicht unter die Regelungen der Genfer Flüchtlingskonvention fallen. Aus Sicht von Heaven Crawley und Dimitris Skleparis sind solche Überlegungen nicht in der Lage, die komplexen Erfahrungen von Menschen einzuordnen,

14 Düvell, Franck: »Soziologische Aspekte: Zur Lage der Flüchtlinge«, in: Markus Ottersbach/Claus-Ulrich Prölß (Hg.), Flüchtlingsschutz als globale und lokale Herausforderung, Wiesbaden: Springer VS 2011, S. 29–49, hier S. 36f. 15 Dummett, Michael: On Immigration and Refugees, London: Routledge 2001, S. 37; Foster, Michelle: International Refugee Law and Socio-Economic Rights: Refuge from Deprivation, Cambridge: Cambridge University Press 2007. 16 Nümann, Britta: Umweltflüchtlinge? Umweltbedingte Personenbewegungen im internationalen Flüchtlingsrecht, Baden-Baden: Nomos 2004; Kälin, Walter: »Klimaflüchtlinge oder Katastrophenvertriebene?«, in: Vereinte Nationen. Zeitschrift für die Vereinten Nationen und ihre Sonderorganisationen 5 (2017), S. 207–212. 17 De Wet, Chris J.: Development-Induced Displacement: Problems, Policies and People, New York: Berghahn 2006. 18 Betts, Alexander: »Survival Migration: A New Protection Framework«, in: Global Governance 16 (2010) S. 361–382. 19 Goodwin-Gill, Guy: »Non-Refoulement and the New Asylum Seekers«, in: Virginia Journal of International Law 26 (1986), S. 897–918. 20 Collinson, Sarah: Globalisation and the Dynamics of International Migration. Implications for the Refugee Regime, Genf: United Nations High Commissioner for Refugees 1999. 21 Martin, Susan/Weerasinghe, Sanjula/Taylor, Abbie: »What is Crisis Migration?«, in: Forced Migration Review 45 (2014), S. 5–9.

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die in den vergangenen Jahren das Mittelmeer gen Norden bzw. Nordwesten überquerten. 22 Sie greifen stattdessen Konzepte und Begriffe wie ‘mixed migrations’/’mixed flows’/’mixed motivations’ auf und verweisen darauf, dass eine Unterscheidung zwischen ‘Flüchtlingen’ und ‘Migranten’ für die Analyse des Prozesses der Migration belanglos sei, weil häufig Menschen mit unterschiedlichen Motiven zusammen reisten. Zudem könnten Menschen auch beiden Kategorien zugleich angehören oder die Kategorien wechseln. Keineswegs für jede Migration lasse sich ein linearer Ablauf ausmachen: Menschen, die vor einer Bedrohung geflohen seien, würden sich nicht selten im Zuge ihrer jahrelangen Bewegung aus Gründen des Erwerbs zwischenzeitlich niederlassen oder umgekehrt sich Menschen, die aus Erwerbsgründen in einem anderen Land lebten, im Kontext des Umsturzes des dortigen politischen System zu einer Weiterwanderung genötigt sehen.23 Darüber hinaus sei häufig auch deshalb gar nicht zwischen einer kriegsund erwerbsbedingten Bewegung zu unterscheiden, weil Krieg massiv Ressourcen zerstöre und Erwerbsmöglichkeiten einschränke. Auch eine politische Verfolgung gehe nicht selten mit einer Beschränkung oder gar einem Verbot wirtschaftlicher Betätigung und Erwerbstätigkeit einher. Obgleich diese relativierenden Beobachtungen über die Eindeutigkeit der Hintergründe und Bewegungsmuster ‘erzwungener’ Mobilität auf Ergebnisse diverser empirischer Untersuchungen der vergangenen zwei Jahrzehnte zurückgreifen können, bleibt zu fragen, ob sie für alle Bewegungen gelten, die Gegenstand von ‘Forced Migration Studies’ oder ‘Zwangsmigrationsforschung’ sein könnten: Ist also jede Fluchtbewegung in das Muster der ‘mixed migrations’ zu fügen, lassen sich Verschleppungen, Evakuierungen, Vertreibungen, Umsiedlungen, Deportationen als ‘mixed migrations’ kennzeichnen? Erhebliche Zweifel sind angebracht. Erhebliche Zweifel sind allerdings vor dem Hintergrund der oben skizzierten Perspektiven auch angebracht in Hinsicht auf die Frage, ob sich der Begriff des Zwanges derart operationalisieren lässt, dass deutlich wird, auf welche Weise sich eine erzwungene von einer nicht-erzwungenen Migration unterscheiden lässt. Was meint Zwang überhaupt?

22 Crawley, Heaven/Skleparis, Dimitris: »Refugees, Migrants, Neither, Both: Categorical Fetishism and the Politics of Bounding in Europe’s ›Migration Crisis‹«, in: Journal of Ethnic and Migration Studies 44 (2018), S. 48–64, hier S. 50f. 23 Van Hear, Nicholas/Brubaker, Rebecca/Bessa, Thais: Managing Mobility for Human Development: The Growing Salience of Mixed Migration, New York: UNDP 2009.

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EIN ZWANG ZUR RÄUMLICHEN BEWEGUNG? Eine ausführliche Auseinandersetzung über die wissenschaftliche Verwendung des Konzepts ‘Zwang’ kann an dieser Stelle nicht geleistet werden: Allein die Politische Theorie führt seit Jahrhunderten eine intensive Debatte über die Abgrenzung der Begriffe Macht, Zwang und Gewalt. Für die neuere Diskussion über den ‘Zwang’ entwickelte im Anschluss an Thomas Hobbes, John Locke, Immanuel Kant und John Stuart Mill insbesondere Robert Nozick in den späten 1960er Jahren weiterführende Perspektiven: Er sortierte die unterschiedlichen Begriffsverwendungen entlang der je spezifischen Antworten auf die zentralen Fragen, auf welche Weise das einem Zwang unterliegende Subjekt sowie die Form und das Ziel des Zwangs konzipiert worden waren.24 Eine weite Perspektive markiert Andreas Braune in seiner umfänglichen Abhandlung über den Zwang „als das Andere der Freiheit“. Zwang könne verstanden werden als „die Gruppe der Handlungen und die Gruppe der Strukturen, deren Abwesenheit gewährleistet sein muss, um in den gleichen Genuss personaler Rechte und gleicher autonomieermöglichender Subjektivierungschancen zu kommen“. Die Komplexität des Konzeptes bestehe darin, dass Zwang nicht nur als ‘das Andere der Freiheit’ zu verstehen sei, sondern auch als ein „Garant der gleichen Freiheit. Dabei ist es gerade die Eigenschaft Freiheit einzuschränken, die dies ermöglicht.“25 Zwang gewährleiste Freiheit vom Zwang. Diese (weite) Perspektive verweist auf die klassische sozialwissenschaftliche Frage nach dem Verhältnis von (gesellschaftlichen) Strukturen und (individuellen) Handlungen bzw. den Grenzen und Spielräumen der Selbstbestimmung des Einzelnen im Kontext gesellschaftlicher Begrenzungen und Beschränkungen. Eine deutlich engere Begriffsverwendung, die Zwang im Sinne von ‘coercion’ versteht, fokussiert auf einen intentionalen Eingriff in die Handlungsfreiheit eines individuellen oder kollektiven Akteurs mit dem Ziel, dessen Handlungsoptionen (erheblich) zu beschränken und dessen Handeln in einer spezifischen Weise zu verändern. Um eine solche Handlungsänderung zu erreichen, werden Konse-

24 Nozick, Robert: Coercion, in: Sidney Morgenbesser/Patrick Suppes/Morton White (Hg.), Philosophy, Science, and Method, New York: St. Martin's Press 1969, S. 440– 472. 25 Braune, Andreas: Das Andere der Freiheit. Zwang und Heteronomie in der politischen Theorie der Moderne, Baden-Baden: Nomos 2016, S. 521 (Hervorhebung im Original).

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quenzen26 angedroht bzw. angedrohte Konsequenzen umgesetzt. 27 In seiner Ausprägung als intentionaler Eingriff zur massiven Beschränkung von Handlungsoptionen eines Akteurs ist der Begriff Zwang hier deutlich enger gefasst als im Falle des eben formulierten Zwangs als Ergebnis formeller oder informeller Regeln, die sich auf soziale Beziehungen und Strukturen zurückführen lassen, also beispielsweise auf das von Franck Düvell angesprochene Marxsche Diktum vom „stumme[n] Zwang der ökonomischen Verhältnisse“.28 Auf welche Weise können, den Debatten um eine solche engere Konzeption folgend, Menschen dazu gebracht werden, ihr Handeln ‘unter Zwang’ zu ändern? Verwiesen wird dabei sowohl auf die Androhung oder Anwendung von Gewalt gegen den Körper der Person, als auch auf finanzielle Konsequenzen für die zu Zwingenden, auf wirtschaftliche Sanktionen bzw. auf ihre Subsistenz betreffende Maßnahmen. Menschen oder Kollektive könnten zudem Diskriminierungen oder Marginalisierungen bzw. Exklusion als soziale Konsequenzen angedroht werden, Bevormundungen, Indoktrinationen oder Manipulationen seien ebenfalls zu verstehen als eine Möglichkeit, eine Handlungsänderung herbeizuführen bzw. durchzusetzen.29 Mindestens drei Handlungsmöglichkeiten ergeben sich für jene, die dem Zwang zur Handlungsänderung unterliegen, übertragt man die Überlegungen Albert O. Hirschmans auf den hier skizzierten Zusammenhang: eine Anpassung, eine Verweigerung oder eine Abwanderung als Exit-Strategie, die das Ziel verfolgt, sich dem Einfluss des zwingenden Akteurs zu entziehen.30 Flucht ließe sich in diesem Sinne also als eine Handlung verstehen, die darauf ausgerichtet ist, den

26 Der Begriff ‘Konsequenzen‘ wird hier favorisiert. A. Braune: Das Andere der Freiheit, S. 521, spricht demgegenüber von der »Androhung von Übeln«, in einem neueren Papier der Hessischen Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung ist wiederum von der »Androhung von Kosten« die Rede; Frieden und Zwang: Das neue Forschungsprogramm der HSFK, hg.v. Leibniz-Institut Hessische Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung, Frankfurt a.M.: HSFK 2018, S. 6f. 27 Anderson, Scott: Coercion in: The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Winter 2017 Edition), https://plato.stanford.edu/archives/win2017/entries/coercion/ 28 Marx, Karl: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Bd. 1, Berlin: Dietz 1962, S. 765. 29 A. Braune, Das Andere der Freiheit, S. 516. 30 Hirschman, Albert O.: Exit, Voice and Loyalty. Responces to Decline in Firms, Organizations and States, Cambridge, MA: Cambridge University Press 1970 und, mit Bezug auf Migrationen: ders.: Abwanderung, Widerspruch und das Schicksal der Deutschen Demokratischen Republik, in: Leviathan 20 (1992), S. 330–358.

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Einflussbereich des Akteurs zu verlassen, der eine Handlungsänderung der Fliehenden zu erzwingen sucht. Jenseits einer solchen Konstellation reicht allerdings in einer zentralen Hinsicht das Konzept des Zwangs nicht aus, um die räumliche Mobilisierung von Menschen einzuordnen: Die Debatte um den Begriff ist sich darin einig, dass Zwang als Instrument zur Herbeiführung einer Handlungsänderung per definitionem die Anerkennung voraussetzt, dass jener Akteur, der Adressat des Zwangs ist, einen Willen hat: „Im Zwang erkennt der Zwingende den Zwangsadressaten als frei handelnde und rational wählenden Person an“. Das gilt auch für den Fall, dass physische Gewalt angedroht oder eingesetzt wird, um eine Handlungsänderung herbeizuführen. Das gilt allerdings dann nicht, wenn physische Gewalt eingesetzt wird, „die instrumentell ist und den Körper des Adressaten als Ding behandelt, ohne seinen Willen anzusprechen“. 31 Daraus folgt: Soll Gewalt eine Handlungsänderung herbeiführen, dann handelt es sich um ein Instrument des Zwangs. Soll keine Handlungsänderung herbeigeführt werden, weil der Körper der/des Anderen als Objekt verstanden, er benutzt, bewegt oder verändert wird, dann handelt es sich nicht um ein Instrument des Zwangs. Bezieht man diese Perspektive auf die Mobilisierung von Menschen, lässt sich zeigen, dass viele Formen räumlicher Bewegung, die als Zwangsmigration bezeichnet werden, keinem Zwang unterliegen, sondern als eine Folge der Anwendung von Gewalt zu verstehen sind: Eine Deportation eines Menschen zur Arbeit oder der Transport einer bzw. eines Versklavten dient dazu, seinen oder ihren Körper zu (be)nutzen. Es geht hier keineswegs darum, eine Handlungsänderung herbeizuführen. Bei einer Vertreibung, einer Verschleppung oder einer Umsiedlung werden Körper bewegt, der Wille der zu Vertreibenden ist für die vertreibenden Akteure bedeutungslos. Selbst für den skizzierten Fall eines räumlichen Ausweichens aus dem Einflussbereich des Zwangsakteurs (= Flucht) werden, wie die Debatte deutlich macht, verschiedene Zwangsmittel (s. etwa unter den oben genannten: das Aussetzen finanzieller Härten, die politische oder soziale Marginalisierung, die Diskriminierung) unterschiedlich wahrgenommen und damit zu unterschiedlichen Reaktionen führen: Die Einen perzipieren ein solches Zwangsinstrument als derart furchteinflössend und einschneidend, dass dessen Androhung zur vom Zwangsakteur erwünschten Handlungsänderung führt (eine ‘Anpassung’ in der Diktion Hirschmans). Die Anderen hingegen verstehen es als weniger gewichtig und lassen sich nicht auf die Handlungsänderung ein (eine ‘Verweigerung’ in der Diktion Hirschmans). Gewalt allerdings ist Niklas Luhmann zufolge „nahezu universell

31 A. Braune, Das Andere der Freiheit, S. 349f.

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verwendbar“: Ihr Androhung wird (beinahe) immer Furcht und Angst auslösen, weil ihre Anwendung zu Schmerzen führt. Anders als andere Zwangsmittel ist Gewalt deshalb „für den Betroffenen nicht ignorierbar“.32 Androhungen und Anwendungen von Gewalt bilden mithin „perhaps the only techniques that work against virtually every person“.33 Gälte es also von ‘Gewalt’ anstelle von ‘Zwang’ zu reden, wenn darüber nachgedacht wird, die Hintergründe räumlicher Bewegung von Menschen zu erklären, die mit Begriffen wie Vertreibung, Umsiedlung, Menschenhandel/Sklavenhandel, vielleicht auch Flucht versehen werden?

MOBILISIERT GEWALT? Gewaltforschung unterscheidet in der Regel zwischen schädigender Gewalt (‘violence’) und ermächtigender Gewalt (‘power’), die das staatliche Gewaltmonopol begründet. Dass aus dem staatlichen Gewaltmonopol hervorgehende Gewalt violente Gewalt sein kann, mithin sich ‘power’ und ‘violence’ überlappen (können), muss dabei berücksichtigt werden.34 Eine weite Verwendung des Begriffs bezieht Gewalt auf ungleiche gesellschaftliche Strukturen und politische Prozesse. 35 Besondere Aufmerksamkeit findet seit langem der Begriff der ‘strukturellen Gewalt’, den Johan Galtung 1969 prägte. Sein Ansatz zielt auf die Erforschung der Strukturen und Effekte von Ungleichheit und Abhängigkeit insbesondere des Globalen Südens gegenüber dem Globalen Norden. Die ‘Dritte Welt’ ungleicher Lebenschancen und dadurch verursachten Massenelends sei, so Galtung, ein Ergebnis struktureller Gewalt, die Entbehrung und Tod aufgrund von Hunger, Krankheiten und Katastrophen nicht verhindere, obgleich die dafür nötigen materiellen, finanziellen und technischen Möglichkeiten zur Verfügung stünden. Während die Verletzung des Körpers eines Menschen auf einen Täter als Person zurückgeführt werden können, sei etwa Ungleichheit in den Einkommensverhältnissen und bei den Bildungschancen nicht individuellen oder kollektiven Akteuren

32 Luhmann, Niklas: Macht, 4. Aufl. Konstanz: UVK 2012, S. 74 (Hervorhebungen im Original). 33 Anderson, Scott: Coercion as Enforcement, in: Social Science Research Netzwork, November 2008, http://dx.doi.org/10.2139/ssrn.1294669, S. 22. 34 Benjamin, Walter: »Zur Kritik der Gewalt«, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 2, Teil 1, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1980, S. 179–203. 35 Riel, Raphael van: Gedanken zum Gewaltbegriff, Hamburg: Forschungstelle Kriege, Rüstung und Entwicklung der Universität Hamburg 2005, S. 3.

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zuzuschreiben, sondern Element von Strukturen. Weil die Strukturen, die zu Wohlstandsgefälle, Klimawandel oder Armut führen, Ergebnis menschlichen Handelns seien, müsse auch strukturelle Gewalt als menschengemachte Gewalt gelten, die nicht unmittelbar – wie im Falle physischer Gewalt – auf Körper destruktiv einwirke, aber indirekt töte oder beschädige. Die Kritik an einem solchen weiten Gewaltbegriff spricht von einer „Überdehnung“36, die eine Operationalisierung und Differenzierung erschwere. 37 Da alle sozialen Beziehungen durch Hierarchien, Machtgefälle und Ungleichheit gekennzeichnet seien, müsse folglich jede Differenz von Lebenschancen und Handlungsmöglichkeiten als Gewalt bezeichnet werden. Außerdem trage der Begriff der strukturellen Gewalt dazu bei, Gewaltverhältnisse zu verschleiern, weil das konkrete gewaltförmige Handeln von Individuen und Kollektiven unsichtbar bleibe. Andere Begriffe als jener der Gewalt seien besser geeignet, die von Galtung problematisierten Zusammenhänge zu erfassen. Riekenberg und Lessenich verweisen beispielsweise auf den Begriff der ‘sozialen Ungleichheit’38, Schroer auf den der ‘Exklusion’.39 Eine enge Verwendung des Begriffs Gewalt meint absichtsvolle Handlungen von Akteurinnen und Akteuren oder spezifische Relationen zwischen ihnen, aus denen physische (oder auch psychische) Schädigungen resultieren. Eine so verstandene Gewalt, definiert als vorsätzlicher Angriff auf körperliche Unversehrtheit, hat entweder ihre Intention im Vollziehen der Gewalttat selbst oder soll als Drohung zu einer Unterwerfung anderer Akteure führen. In der deutschsprachigen Forschung wird häufig auf die Überlegungen Heinrich Popitz verwiesen, der Gewalt als intentionale körperliche Verletzung fasst, die entweder ihre Intention im Vollziehen der Gewalttat selbst hat oder als Drohung zu einer Unterwerfung anderer Akteure führen soll.40 Mit Bezug auf die eben diskutierten Konzeptualisierungen des Begriffes Zwang hieße das: Die Gewalt im Popitzschen Sinne kann auf den Willen eines Akteurs ausgerichtet sein und nach einer Handlungsänderung

36 Schroer, Markus: »Gewalt ohne Gesicht. Zur Notwendigkeit einer umfassenden Gewaltanalyse«, in: Leviathan 38 (2000), S. 434–451, hier S. 436–439. 37 R. van Riel, Gedanken zum Gewaltbegriff, S. 8–16, M. Schroer, Gewalt ohne Gesicht, S. 439. 38 Riekenberg, Michael: »Staatsterror in Lateinamerika«, in: Birgit Enzmann (Hg.), Handbuch Politische Gewalt. Formen – Ursachen – Legitimation, Wiesbaden: Springer VS 2013, S. 349–362, hier S. 350; Lessenich, Stephan: Neben uns die Sintflut. Die Externalisierungsgesellschaft und ihr Preis, Berlin: Hanser 2016, S. 39. 39 M. Schroer, Gewalt ohne Gesicht, S. 446. 40 Popitz, Heinrich: Phänomene der Macht, 2. Aufl. Tübingen: Mohr 1992, S. 48.

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streben (und wäre damit synonym zum engeren Begriff Zwang zu verstehen). Sie kann aber auch den Körper des Akteurs nutzen wollen, ohne eine Handlungsänderung anzustreben. Demnach böte der Begriff der Gewalt eine weitere Perspektive als der Begriff Zwang. Konzeptionelle Angebote von Seiten der Gewaltforschung, die Bedeutung von Gewalt für die räumliche Mobilisierung von Menschen zu erklären, sind rar.41 Einen unmittelbaren Bezug auf räumliche Bewegungen stellt allerdings Jan Philipp Reemtsma her. Er spricht in einem differenzierten Modell von drei Formen physischer Gewalt: Die ‘autotelische Gewalt’ verweist auf das Ziel, Körper zu zerstören.42 Die ‘raptive Gewalt’ strebt danach, einen Körper zu benutzen. Reemtsma lässt deutlich werden, dass dabei sexuelle Handlungen im Vordergrund stehen.43 Als weitere Form tritt die ‘lozierende Gewalt’ hinzu, die sich auf die Veränderung des Ortes bezieht, an dem sich ein Körper befindet. Reemstma unterteilt sie in ‘dislozierende Gewalt’ und ‘captive Gewalt’. „Lozierende Gewalt behandelt den Körper des anderen als Masse, der ein Ort zugewiesen wird. Sie verfügt ‘Weg von dort!’ oder ‘Dorthin!’. Man könnte auch von ‘dislozierender’ und ‘captiver’ Gewalt sprechen. Lozierende Gewalt richtet sich nicht auf den Körper als solchen, sondern auf den Körper als verschiebbare Masse. Er ist im Weg oder muss irgendwo hingebracht werden, an einen speziellen Ort, wo er gebraucht wird“. 44 Dislozierende Gewalt wolle einen Körper entfernen (ohne ein räumliches Ziel vorzugeben), captive Gewalt hingegen ziele darauf, einen Körper einem definierten Ziel zuzuführen und dort festzuhalten.45 Ergänzen lässt sich ein weiteres (drittes) lozierendes Element, das Reemtsma nicht direkt erwähnt, das aber aus den Handlungsmöglichkeiten jener resultiert, die von Gewalt betroffen sind oder betroffen sein könnten. Weil Menschen danach streben, von der Gewalt nicht betroffen zu

41 Um nur ein Beispiel zu nennen: Im Register des umfangreichen Überblickswerks ‘Gewalt. Ein interdisziplinäres Handbuch‘ lassen sich nur acht Einträge zum Stichwort ‘Migration’ finden. Etwas intensiver wird die räumliche Bewegung von Menschen nur im Kontext der Bearbeitung des Stichworts ‘Klimawandel‘ diskutiert. Eine systematische Auseinandersetzung des Wechselverhältnisses von Migration und Gewalt findet nicht statt. Begriffe wie Flucht oder Vertreibung finden sich im Register gar nicht; Gudehus, Christian/Christ, Michaela (Hg.): Gewalt. Ein interdisziplinäres Handbuch, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2013. 42 Reemtsma, Jan Philipp: Vertrauen und Gewalt. Versuch über eine besondere Konstellation der Moderne, Hamburg: Hamburger Edition 2013, S. 106. 43 Ebd., S. 113–116. 44 Ebd., S. 106. 45 Ebd., S. 108.

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sein und getroffen zu werden, reagieren sie auf die Androhung von Gewalt: Sie unterwerfen sich oder weichen (räumlich) aus. Welchen Folgerungen lassen die Kategorisierungen Reemstmas für die Verflechtung von Gewalt und Migration zu? Dislozierende Gewalt verweist auf Fluchtbewegungen und Vertreibungen. In beiden Fällen lassen sich eindeutig benennbare Täter ausmachen, also intentional handelnde Akteure, die die Entfernung von Körpern betreiben, ohne ein räumliches Ziel zu benennen oder einen Ort auszuweisen, der als räumliches Ziel zu dienen vermag. Deportationen, Verschleppungen (auch in Form von Sklaven- oder Menschenhandel) und Umsiedlungen (etwa von als ‚Minderheiten‘ markierten Kollektiven) hingegen können als Formen captiver Gewalt verstanden werden. Körper werden vor dem Hintergrund spezifischer Ziele (also intentional) von eindeutig benennbaren Tätern entfernt mit dem Ziel, sie an einen definierten Ort zu führen und dort festzuhalten. Der Begriff der Deportation kann auf die beiden anderen von Reemtsma verwendeten Gewaltformen bezogen werden: Der Körper als Hindernis wird räumlich verlagert und nach der Deportation im Kontext autotelischer Gewalt zerstört. Oder: Der Körper als Hindernis wird räumlich verlagert und nach der Deportation andernorts benutzt – vornehmlich als Arbeitskraft. Oder: Der Körper als Hindernis wird räumlich verlagert, nach der Deportation andernorts als Arbeitskraft genutzt, schließlich zerstört, weil er seine Funktion als Arbeitskraft verloren hat.

SCHLUSS Folgt man diesen Perspektiven, gilt es mehrerlei näher zu untersuchen: Aus welchen Gründen üben Individuen, Kollektive und Institutionen lozierende Gewalt aus? Wie begründen sie, Körper räumlich beseitigen zu wollen bzw. beseitigt zu haben? Welche Ziele will lozierende Gewalt erreichen? Welche Strukturen und welche Dynamiken ermöglichen oder forcieren lozierende Gewalt als Handlung bzw. als Praxis, welche wirken hemmend und beendend? Welche Formen lozierender Gewalt lassen sich ausmachen? In welchem Verhältnis steht in unterschiedlichen Konstellationen lozierende Gewalt zu autotelischer und raptiver Gewalt? Die erwähnten Formen der Gewaltmigrationen sind nur schwerlich ohne politische Intention und (staatliche) Organisation, zum Teil auch nicht ohne (längerfristige) Planung, vorstellbar. Hier erscheint als sinnvoll, die von Reemstma vorgeschlagenen Kategorisierungen zu ergänzen um Ansätze, die auf die Unterscheidung von Mikro- und Makrogewalt erweisen, die jüngst in der Diskussion um Hintergründe, Bedingungen und Formen von Gewalt an Gewicht gewonnen haben. Ekkart Zimmermann lässt eine Definition von Makrogewalt im Titel eines

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Aufsatzes aufscheinen, wenngleich er den Begriff im Text nicht erklärt: „Makrogewalt: Rebellion, Revolution, Krieg, Genozid“.46 Makrogewalt erscheint hier als Gewaltereignis größeren und großen Maßstabs, das ohne Intention und Organisation nicht auszukommen vermag. Zimmermann setzt Makrogewalt mit ‘politischer Gewalt’ gleich – „politische Gewalt kann definiert werden als Akte der Zerstörung und Verletzung, deren Ziel, Wahl der Objekte und Opfer, Umstände, Ausführung und/oder (beabsichtigte) Wirkungen in der Beeinflussung des Verhaltens anderer Personen oder Institutionen bestehen“. 47 Makrogewalt ist Imbusch zufolge entweder Gewalt eines organisierten Kollektivs oder Gewalt eines Kollektivs, die durch Organisationen toleriert, legitimiert oder gar angetrieben werden, sie werden „durch den Staats- und Herrschaftsapparat nicht bekämpft, sondern durch ihn gerade angeordnet, ausgelöst, über besondere Mechanismen häufig angestachelt und gefördert, zumindest aber gedeckt und durch einen normativ veränderten kollektiven Referenzrahmen wenigstens entschuldigt oder sogar systematisch verschleiert“. 48 Zur Illustration solcher Ereignisse nennt er „Verbrechen wie Völker- oder Massenmorde, Verbrechen und Untaten in Zusammenhang mit Kriegen, Kriege selbst, nukleare Vernichtung, totalitäre und autoritäre Herrschaftssysteme und Staatsterrorismus, Verfolgung von Minderheiten etwa bei Kultur- und Religionskonflikten, aber auch Massaker, Pogrome sowie bestimmte revolutionäre und konterrevolutionäre Bewegungen etc.“49

Formen, die auf Bewegungen von Menschen verweisen, benennt Imbusch nicht, die Kenntnis der Geschichte und Gegenwart von Migrationen lässt aber darauf schließen, dass Ereignisse wie Kriege, Minderheitenverfolgungen, Revolutionen oder Maßnahmen autoritärer politischer Systeme regelmäßig Menschen mobilisier(t)en und zur Bewegung im Raum nötig(t)en. Dass Fluchtbewegungen, Vertreibungen, Deportationen als Ergebnis von Makrogewalt verstanden werden können, lässt auch Imbusch Hinweis auf die „überindividuellen Verletzungs- und Schädigungsmotive gegenüber designierten Gruppen“ vermuten, „die aufgrund

46 Zimmermann, Ekkart: »Makrogewalt: Rebellion, Revolution, Krieg, Genozid«, in: Günter Albrecht/Axel Groenemeyer (Hg.), Handbuch soziale Probleme, Bd. 2, 2. Aufl., Wiesbaden: Springer 2012, S. 861–885. 47 Ebd., S. 862. 48 Imbusch, Peter: Moderne und Gewalt. Zivilisationstheoretische Perspektiven auf das 20. Jahrhundert, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2005, S. 29f. 49 P. Imbusch, Moderne und Gewalt, S. 30.

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bestimmter askriptiver Merkmale oder der identifizierbaren Zugehörigkeit zu einer Gruppe zu Opfern werden“.50 Auch dieser Hinweis lässt deutlich werden, dass eine intensive Auseinandersetzung mit den Ansätzen und Perspektiven der Gewaltforschung einen zentralen Beitrag leisten könnte, Begriffe und Konzepte von Migrations-, Flucht-, Flüchtlingsforschung zu reflektieren und zu überarbeiten.51

50 Ebd., S. 43. 51 Wichtiger Ansatz: Bank, André/Fröhlich, Christiane/Schneiker, Andrea: »The Political Dynamics of Human Mobility: Migration out of, as and into Violence«, in: Global Policy 8 (2018), Supplement 1, S. 12–17.

Assimilation, Integration, Kohäsion, Partizipation – oder: Was wird hier eigentlich verhandelt? Walter Leimgruber

In der politischen und medialen Diskussion werden Migration, die Herausforderungen der wachsenden Mobilität und die Chancen und Risiken von Integration pausenlos verhandelt. Doch müsste von etwas viel Grundsätzlicherem die Rede sein, nämlich von der Ausgestaltung demokratischer und staatlicher Macht, von Kohäsion und Partizipation angesichts vielfacher Herausforderungen zunehmend mobiler und global verfasster Gesellschaften. Denn diese Herausforderungen stellen die bisherigen Prinzipien demokratischer Teilhabe auf nationalstaatlicher Ebene in Frage und verlangen nach neuen Lösungen.1

VON ASSIMILATION BIS TRANS Lange Zeit war die Ausgangslage klar: Die Migrantinnen und Migranten sind Bittstellende, die sich an die Anforderungen der Gesellschaften, in die sie einwandern anzupassen haben. In Einwanderungsnationen wie den USA wurde das Bild des „melting pot“ kreiert, des Schmelztiegels, der die unterschiedlichen Herkunftskulturen zu einer neuen Kultur vereinte. Diese Vorstellung wurde allerdings im Laufe der Zeit in Frage gestellt, weil die Akzeptanz verschiedener kultureller Lebensweisen in der Realität sehr unterschiedlich war und nicht alle Gruppen in einem

1

Die Fussnoten enthalten aufgrund des beschränkten Platzes wenige weiterführende Literaturhinweise. Teile der Argumentation finden sich auch in früheren Aufsätzen von mir.

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homogenen amerikanischen Lebensstil aufgingen, was mit den Bildern der „salad bowl“ oder des „cultural mosaic“ beschrieben wurde.2 In europäischen Staaten, die sich nicht als Einwanderungsländer definierten, dominierte das Bild der Assimilation, verstanden als einseitige Anpassung. Kultur wird dabei – bildlich gesprochen – als eine Art geistiges Gepäckstück, als kompakter Mentalrucksack verstanden, den man in ein neues gesellschaftliches Umfeld mitbringt, dort in den Schrank stellt und durch einen neuen ersetzt. Das Problem dieses Konzepts liegt in der Frage, wie man eine als homogen verstandene Kultur einfach ablösen und ersetzen kann. Die Vertreterinnen und Vertreter dieser Konzepte in der Politik betonen, wenn es um ihre eigene Kultur geht, dass diese eine traditionsreiche und tief verwurzelte Sache sei, die es zu respektieren gelte, verlangen aber von anderen, diese Verwurzelung sei aufzugeben und durch eine vollständig neue Kulturpackung zu ersetzen. Aus diesem Grund ist das Assimilationskonzept im Laufe der Forschung als gescheitert betrachtet worden, um aber in den letzten Jahren mit einer Reihe von Anpassungen erneut diskutiert zu werden.3 Der Begriff Integration, der den Assimilationsbegriff ablöste und für lange Zeit die Diskussion beherrschte, wird von manchen Autoren und Autorinnen ähnlich oder gleich wie der Begriff der Assimilation verwendet. Wissenschaftlich unterscheiden sich Integrationsansätze aber vom Assimilationskonzept, weil sie nicht von einer „kugelförmigen“, einheitlichen und integralen Kultur ausgehen, sondern mit dem Modell einer differenzierten und segmentierten modernen Gesellschaft arbeiten.4 In dieser sind die Individuen in verschiedenen Bereichen aktiv und müssen sich primär auf jenen gesellschaftlichen Ebenen integrieren, die für sie wichtig sind: Für die Arbeitsmigrantin ist dies ein anderer Ort als für den politischen Flüchtling, für den Unternehmer ein anderer als für die Wissenschaftlerin. Nicht die Gesellschaft als Gesamtheit mit ihrer wie auch immer verstandenen Kultur, sondern die Teilhabe an einzelnen Bereichen bildet den Ausgangspunkt der Integration. Diese ist daher ein vielschichtiger Prozess, der sich auf mehreren Ebe-

2

D’Innocenzo, Michael/Sirefman, Josef P. (eds.): Immigration and Ethnicity. American Society – ›Melting Pot‹ or ›Salad Bowl‹, New York: Greenwood 1992.

3

Alba, Richard/Nee, Victor: Remaking the American Mainstream. Assimilation and Contemporary Immigration, Cambridge, Mass.: HUP 2003; Koopmans, Ruud: Assimilation oder Multikulturalismus? Bedingungen gelungener Integration, Münster: Lit 2017.

4

Grundlegend dazu immer noch die Arbeiten von Hartmut Esser, z.B.: Integration und ethnische Schichtung (= MZES Arbeitspapiere Nr. 40). Mannheim 2001.

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nen und in unterschiedlichen Tempi und Gewichtungen vollzieht und zu unterschiedlichsten Verlaufsformen führt. Als weiteres Element enthalten Integrationskonzepte häufig den Hinweis, dass Integration Aufgabe der gesamten Gesellschaft und nicht nur der Zugewanderten ist, und dass beide Seiten zu lernen und sich in ihren strukturellen Voraussetzungen anzupassen haben. In der Schweiz wurde lange Zeit von „fördern und fordern“ gesprochen, um Anspruch wie Erwartung zu betonen, auch das in der Regel auf alle involvierten Parteien bezogen.5 Von vielen Migrantinnen und Migranten und v. a. auch von Angehörigen der zweiten Generation wird der Begriff „Integration“ heute abgelehnt, auch im Fach ist die Skepsis gross.6 Immer häufiger findet sich die Bezeichnung in der Tat in Gesetzen, welche die Integrationsanforderungen für Migrierende definieren und die primär als Druckmittel eingesetzt werden. Deshalb wirkt „Integration“ politisch oft nur als einseitiger Forderungskatalog. Sie benötigt aber zwei Seiten, Migrierende können sich nicht integrieren ohne Gegenseite, die ihrerseits ihre Strukturen und Prozesse anpasst. Und sie benötigt zwei Ebenen, die der Verpflichtung und die der Förderung. Ohne fördernde Massnahmen zwischen Sprachunterricht und Diskriminierungsschutz funktioniert Integration nicht, das Konzept „fördern und fordern“ galt ursprünglich daher für die lokale Gesellschaft und deren Institutionen genauso wie für die Migrierenden, was heute häufig ausgeblendet wird. 7 Das Konzept der Multikulturalität galt lange als Gegenentwurf zum Assimilationsansatz. Es thematisiert die Verschiedenheit von Kulturen innerhalb eines Staats bei gleichzeitiger Gewährleistung individueller Rechte durch den Staat. In seiner klassischen Form geht es von einer Existenz deutlich unterscheidbarer, in sich homogener, ethnisch definierter Kulturen in einer Gesellschaft gleicher

5

Ehret, Rebekka: Leitbild und Handlungskonzept des Regierungsrates zur Integrationspolitik des Kantons Basel-Stadt, Basel 1999; Sancar-Flückiger, Annemarie: »Integrationsleitbilder und Integrationspolitik: zur kontroversen Leitbild-Debatte in Zürich, Bern und Basel«, in: Dietrich, Helmut et al. (Hg.): Flüchtlinge, Migration und Integration, Zürich: Widerspruch 1999, S. 137–145.

6

Hess, Sabine/Binder, Jana/Moser, Johannes (Hg.): No integration?! Kulturwissenschaftliche Beiträge zur Integrationsdebatte in Europa, Bielefeld: Transcript 2009; Schinkel, Willem: Imagined Societies. A Critique of Immigrant Integration in Western Societies, Cambridge: CUP 2017.

7

Eidgenössische Migrationskommission (EKM): Integration – kein Messinstrument, sondern die Aufgabe aller. Empfehlungen, 18.12.2017. https://www.ekm.admin.ch/ dam/data/ekm/dokumentation/empfehlungen/empf_integration_aufgabe_d.pdf (16.3.2019).

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Bürgerinnen und Bürger aus. Jede Kultur bekommt Gestaltungsraum zuerkannt, so dass auf der Basis gegenseitiger Toleranz ein Miteinander, häufig auch eher ein Nebeneinander geschaffen wird, das von der Unterscheidung „öffentlich“ und „privat“ lebt. Während im öffentlichen Bereich allgemeingültige Regeln gelten, sind im privaten Bereich vielfältige Lebensformen akzeptiert. 8 Die Trennung zwischen einem öffentlichen Bereich, in dem gegenseitige Toleranz vorausgesetzt wird, und gleichzeitiger privater kultureller Freiheit funktioniert allerdings nicht. Denn diese Trennung ist ein spezifisch westliches Konstrukt, das in anderen Gesellschaften meist nicht existiert. Zudem ist in vielen Fällen nicht klar zuordenbar, ob bestimmte Verhaltensweisen in den öffentlichen oder privaten Bereich gehören, etwa bei der einfach erscheinenden Frage, welche Kleidung man trägt. Kritisiert wird weiter, dass die Grundlage des Konzepts ein statischer Kulturbegriff ist, der die einzelnen Personen zu Gefangenen ihrer ethnischen Herkunftskulturen macht und sich damit kaum vom Kulturkonzept der Assimilationstheorie unterscheidet. Machtwirksame Aspekte der sozialen und der ökonomischen Stellung oder des Geschlechts bleiben weitgehend ausgeblendet.9 Die nächste Phase der Forschung konzentrierte sich vermehrt auf den Austausch, auf transnationale und transkulturelle Beziehungsebenen, die durch die Migration entstehen. Beziehungsnetze, Produktion, Konsum und Politik lassen prozessuale „Landschaften“ entstehen, die global miteinander verbunden sind, ohne dass noch territoriale Zusammenhänge bestehen. 10 Auch auf der Ebene der Identität müssen sich die Individuen mit vielen Aspekten der Zugehörigkeit – sozial, kulturell, geschlechtlich, bildungsbezogen, berufsmässig etc. – auseinandersetzen, die nicht einfach zugewiesen oder von Generation zu Generation weiter gegeben werden, sondern gewählt werden können oder müssen. Sie werden zu „Touristen“ und „Vagabunden“ (Zygmunt Bauman). 11

8

Baumann, Gerd et al. (eds.): Multiculturalism. Critical concepts in Sociology. 4 vols. London: Routledge 2011.

9

Neubert, Stefan et al. (Hg.): Multikulturalität in der Diskussion. Neuere Beiträge zu einem umstrittenen Konzept, Wiesbaden: Springer 2013.

10 Bauböck, Rainer/Feist, Thomas (eds.): Diaspora and Transnationalism. Concepts, Theories and Methods, Amsterdam: AUP 2010; Appadurai, Arjun: »Global Ethnoscapes: Notes and Queries for a Transnational Anthropology«, in: Fox, Richard G. (Ed.): Recapturing Anthropology. Working in the Present, Santa Fe: School of American Research Press 1991, pp. 191–210. 11 Hall, Stuart et al. (eds.): Questions of Cultural Identity, London: Sage 2011; darin v. a. Bauman, Zygmunt: »From Pilgrim to Tourist or a Short History of Identity«, pp. 18– 36.

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Transnationale Theorien verweisen darauf, dass Migration ein Netzwerk erzeugt, das sich zwischen Staaten und über staatliche Strukturen und Gesellschaften hinweg aufspannt und zugleich deren Strukturen verändert. 12

ZUGEHÖRIGKEITEN, WERTE UND WANDEL Anders als von vielen Forschenden angenommen, spielt der Staat aber weiterhin eine wichtige Rolle und wird nicht verschwinden, denn auch für viele Migrierenden bleiben die Staatsbürgerrechte eine zentrale Grösse ihrer sozialen Positionierung. Zwar beobachten wir eine Flexibilisierung und Öffnung, erkennbar etwa in der zunehmenden Akzeptanz der mehrfachen Staatsbürgerschaft oder im gemeinsamen Raum der EU-Bürgerschaft. Über den Nationalstaat legen sich also neue Ebenen der Zugehörigkeit. Doch in welchen transnationalen „Räumen“ Migrierende auch immer leben, ein quasi freischwebender, vom Staat vollständig losgelöster Zustand ist nicht zu erkennen. Und es ist gerade diese Zugehörigkeit, die eine andere Perspektive als die Dualisierung zwischen Migrierenden auf der einen und Herkunfts- wie Ankunftsgesellschaft auf der anderen Seite nahelegt, die den meisten Migrationstheorien inhärent ist, nämlich einen gesamtgesellschaftlichen Blick, der alle gleichermassen betrifft: Einen Kohäsionsprozess, der Zugehörigkeit erzeugt. Die entsprechenden Bemühungen sind dabei nicht ausschliesslich auf Migrierende ausgerichtet, sondern auf alle, die in vielfältigen Konstellationen und Zugehörigkeiten und auch in vielfältigen Mobilitäten leben. Kohäsion betrifft in heutigen ebenso diversen wie mobilen Gesellschaften alle.13 Alle, die in einem Staat zusammenleben, aber auch alle, die in und zwischen mehreren Staaten leben, so dass sich das Modell singulärer und ausschliesslicher Zugehörigkeit zunehmend auflöst. Was wir aktuell in den meisten westlichen Gesellschaften erleben, ist allerdings eine sehr spezifische Art dieses Kohäsionsprozesses, eine Art regressive und rückwärtsgewandte Kohäsion, die angesichts verschiedenster Herausforderungen versucht, das kohäsive Element wieder stärker zu betonen und dabei v. a. auf zwei Elemente setzt: Erstens auf Rückwärtsgewandtheit und Orientierung an einem

12 Levitt, Peggy/Jaworsky, Nadya: »Transnational Migration Studies: Past Developments and Future Trends«, in: Annual Review of Sociology 33 (2007), pp. 129–156. 13 Vgl. zur Diskussion um Kohäsion: Schiefer, David/Noll, Jolanda: »The Essentials of Social Cohesion. A Literature Review«, in: Social Indicators Research: An International and Interdisciplinary Journal for Quality-of-Life Measurement 132/2 (2017), pp. 579–603.

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angeblichen historischen Idealzustand, den es in Wirklichkeit so nie gegeben hat und der nur dargestellt werden kann unter Ausblendung historischer Ausschlussprozesse wie auch früherer Mobilitäten und Wanderungsbewegungen. 14 Und zweitens auf den Ausschluss von bestimmten Gruppen, nicht nur, aber auch von Migrierenden bzw. von spezifischen migrantischen Gruppen. Aus Furcht vor Krisen, Bedeutungsverlust oder Terrorbedrohung werden ordnungs- und sicherheitspolitische Forderungen nach Renationalisierung und Grenzschliessung aufgestellt. Diese Suche nach Zusammenhalt führt daher zur Suche nach Stützen, an denen man sich festhalten kann, etwa zur Suche nach Heimat, die so sehr im Trend liegt, dass sogar „Heimatministerien“ benötigt werden. In einer klaren Abgrenzung vom „Fremden“ soll definiert werden, welche Werte Allgemeingültigkeit besitzen.15 Dabei wird häufig übersehen, dass Wertedebatten nicht einfach mit „eigen“ und „fremd“, mit Migration und Globalisierung zusammenhängen, sondern grundlegendes Element jeder Gesellschaft sind. Vieles ist heute selbstverständlich, was eben noch heftig umstritten war. Man denke etwa an den schnellen Bedeutungsverlust der Religion, die sich wandelnden Geschlechterrollen oder die Einstellung zu gleichgeschlechtlicher Liebe; alles Bereiche, die wenig mit Migration und Globalisierung zu tun und die sich in den letzten Jahren grundlegend verändert haben. Die Vorstellung des Schaffens eines Konsenses gültiger Werte übersieht den Wandel und betont zu sehr die historische Kontinuität. Und sie übersieht, dass gerade die konstante Auseinandersetzung um Werte wesentliches Element demokratischer gesellschaftlicher Kohäsion ist, so dass Werte nicht einfach verordnet oder stabil gehalten werden können. Allerdings kann diese grundlegende Debatte dann problematisch werden, wenn die Menge der Änderungen und Herausforderungen so gross wird, dass sie primär Angst vor der Zukunft erzeugt. In diesem Fall entsteht eine gesellschaftliche Schliessungsbewegung, die sich wiederum auf angeblich schon immer gültige Werte beruft, wie wir das aktuell erleben. Sichtbar wird dabei das Gefühl von Zerrissenheit der Gesellschaft einerseits, des Individuums andererseits. Dieses Gefühl, das heute weite Teile der Gesellschaft erfasst hat, kennen ausgerechnet Migrantinnen und Migranten bestens. Aus der Auseinandersetzung zwischen Herkunftsgebiet und

14 Leimgruber, Walter: »Constructing a Home. Heimat as Expression of Privilege, Belonging, Exclusion, and Identity«, in: Moser, Johannes et al. (eds.): Ways of Dwelling. Crisis – Craft – Creativity, Journal for European Ethnology and Cultural Analysis, Supplement, vol. 1, 2019, pp. 142–167. 15 Zimmermann, Olaf/Geissler, Theo: Wertedebatte. Von Leitkultur bis kulturelle Integration, Berlin: Deutscher Kulturrat 2018; Sommer, Andreas Urs: Werte. Warum man sie braucht, obwohl es sie nicht gibt, Metzler: Stuttgart 2016.

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neuem Lebensmittelpunkt ergibt sich für sie häufig eine Konstellation des Zerrissenseins zwischen den Wertvorstellungen und kulturellen Erwartungen von „hier“ und von „dort“. Offensichtlich ist es in den letzten Jahrzehnten zu einer Art Migrantisierung der gesamten Gesellschaft gekommen. Durch verschiedene gesellschaftlichen Entgrenzungsprozesse sind die Erfahrungen der Zerrissenheit allgemein geworden. Dem „schwachen“ Migrierenden von damals stehen daher nicht mehr der starke Staat und die selbstbewusst auftretende Gesellschaft der Assimilations- und Integrationsära gegenüber, sondern ein zutiefst verunsichertes Gemeinwesen. Wenn ich von regressiver Kohäsion spreche, meine ich die gesellschaftliche Suche nach Lösungen in vielen Bereichen, bei denen gerne zuerst die Migration konkret oder die Globalisierung abstrakt verantwortlich gemacht wird. In Wirklichkeit aber sind Prozesse am Werk, die auf die gesamte Gesellschaft einwirken und die nicht einfach eine Ursache haben: Da ist etwa der Wandel in der Arbeitswelt, das Verschwinden von ganzen Arbeitsbereichen und die Verschiebung der Produktion von Gütern und Dienstleistungen in Länder, in denen Lohnund Produktionskosten tief sind.16 Eine weitere Baustelle betrifft die sich grundlegend verändernde demographische Ordnung. Es gilt neue Lösungen zu finden für das Verhältnis von Arbeitsplätzen und Rentensystem, von schwindender Bevölkerung und Arbeitskräftebedarf.17 Eine dritte fundamentale Veränderung stellen die Gleichstellung der Geschlechter und neue Partnerschafts- und Familienmodelle dar, die dazu führen, dass die klassische Einpersonen-Ernährer-Familie verschwinden wird und für die Betreuung von Kindern und Alten neue Lösungen gesucht werden müssen.18 Solche Veränderungen rufen immer Ängste und Gegenreaktionen hervor. Erfolgreich können sie nur dann sein, wenn sie die Menschen nicht nur verunsichern, sondern auch eine Zukunftsperspektive bieten. Nur dann kann ein Kohäsionsprozess entstehen, der nicht repressiv ist, sondern progressiv, indem er versucht, neue Entwicklungen ebenso wenig auszuschliessen wie spezifische Gruppen, die für

16 Sweet, Stephen/Meiksins, Peter: Changing Contours of Work. Jobs and Opportunities in the New Economy, Los Angeles: Sage 2017. 17 Véron, Jacques/Pennec, Sophie/Legare, Jacques (eds.): Ages, Generations and the Social Contract. The Demographic Challenges Facing the Welfare State, Dordrecht: Springer 2007. 18 Nadai, Eva/Nollert, Michael (Hg.): Geschlechterverhältnisse im Post-Wohlfahrtsstaat, Weinheim: Beltz Juventa 2015; Esping Andersen, Gøsta: »A Social Model for MidCentury Europe«, in: Bonoli, Giuliano/Bertozzi, Fabio (éds.): Les nouveaux défis de l'Etat social, Lausanne: Presses polytechniques et universitaires romandes 2008, pp. 235–252.

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diese verantwortlich gemacht werden. Ein Prozess also, der Kohäsion inkludierend statt exkludierend herstellt und die Partizipation möglichst aller Mitglieder einer Gesellschaft anstrebt.

WELCHE RECHTE FÜR WELCHE GRUPPEN? Bevor wir uns mit den Herausforderungen der Partizipation beschäftigen, gilt es eine grundlegende Problematik moderner Gesellschaften in den Blick zu nehmen: Was deren Mitgliedern als Rechte und Pflichten zugestanden wird, hat einen entscheidenden Wandel erfahren, was die Zuordnung dieser Rechte und Pflichten zu bestimmten Gruppen betrifft: Denn diese Ebenen haben sich im Laufe der Herausbildung moderner National- und Sozialstaaten unterschiedlich entwickelt: Die Aufklärung und die Französische Revolution brachten erstens die Idee der Menschenrechte, der Gewissens-, Meinungs-, Rede-, der Versammlungsfreiheit, die zentral sind für die Herausbildung der westlichen Gesellschaft, auch wenn ihre Durchsetzung lange gedauert hat und immer wieder gefährdet ist. Länger dauerte es zweitens mit den politischen Rechten, dem demokratischen Stimm- und Wahlrecht, das vielerorts erst im 20. Jahrhundert durchgesetzt wurde. Und schliesslich kamen drittens die sozialen Rechte hinzu, die mit dem Ausbau der Sozialstaaten entstanden und die Individuen absichern mit Arbeitslosen-, Kranken- und Rentenkassen. Die bürgerlichen, die politischen und die sozialen Rechte bilden seit dem Beginn des Sozialstaates die Trias der staatlichen Zugehörigkeit, erklärte Thomas H. Marshall in seinem berühmten Essay von 1950.19 Über lange Zeit hinweg wurden sie nationalstaatlich gedacht, geschaffen mit Blick auf die Staatsbürgerinnen und -bürger. Heute aber gelten sie für viele weitere Menschen. Wir sind daher auf den unterschiedlichsten Ebenen mit Rechten ausgestattet. Die politischen Rechte gehören noch immer den Staatsbürgerinnen und -bürgern der einzelnen Staaten. Die Menschenrechte hingegen wurden zu universell geschützten Rechten, sind nicht an einen bestimmten legalen Status des Individuums gebunden. Viele davon werden nicht mehr durch staatliches Recht geregelt, sondern durch Vereinbarungen auf internationaler Ebene. Die sozialen Rechte wiederum gehören einer anders definierten Gruppe, die in einem Land einen bestimmten Aufenthaltsstatus besitzt, der jedoch nicht von der Staatsbürgerschaft abhängig ist. Es entstand daher ein Zwischenstatus zwischen

19 Marshall, Thomas H.: Citizenship and Social Class and Other Essays, Cambridge: CUP 1950.

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Staats- und Weltbürger, etwa „denizen“ oder „Wohnbürger“20 genannt. Gleichzeitig werden aber die entscheidenden Weichenstellungen gerade im Bereich der Sozialpolitik von den Staatsangehörigen getroffen, wesentliche Teile der Betroffenen ausgeschlossen. Die Einheit von Staat, Recht und Bürgerin bzw. Bürger ist nicht mehr gegeben. Das heisst, dass die Regeln der Partizipation – wer hat das Recht, sich wann und in welchem Rahmen am politischen Entscheidungsprozess zu beteiligen – neu gedacht werden müssen. Die grösste Attraktivität der europäischen Staaten liegt nach Ansicht vieler aber nicht in der Möglichkeit politischer Partizipation, sondern in der Zugehörigkeit zu einem sozialstaatlichen Netz. Dieses wird durch die Zuwanderung zunehmend strapaziert, lautet eine populäre Behauptung migrationsskeptischer Gruppen. Migration und Ausbau des Sozialstaats sind in der Tat zwei widerstreitende Entwicklungen der Moderne.21 In der Frühen Neuzeit waren die Gemeinden zuständig für die so genannte Armenfürsorge. Arme, die kein Gemeindebürgerrecht besassen, wurden vertrieben; die Niederlassungsfreiheit war unbekannt. Mit der Nationalstaatenbildung wurde erstmals die freie Mobilität innerhalb staatlicher Grenzen möglich. Im Laufe der Zeit entwickelten alle westlichen Staaten ein immer dichteres Netz sozialer Abfederung. Neben Steuern, Militärdienst und demokratischen Rechten entstand damit eine weitere Ebene der Verbindung zwischen dem Staat und seinen Bürgerinnen und Bürgern, die den Prozess der Binnenintegration förderte. Im gleichen Zeitraum wurde die Grenz- und Einwanderungspolitik restriktiver. Denn je stärker die Rechte der Bürgerinnen und Bürger ausgeweitet wurden, desto eindeutiger musste definiert werden, wem diese zustanden und wem nicht. Insgesamt entstand damit ein wachsender Widerspruch zwischen der Einbindung in den Wohlfahrtsstaat und den politischen Ausschlussmechanismen. Dieser Widerspruch veränderte die politische Landschaft grundlegend. Je stärker die Migration wuchs, desto deutlicher wandten sich grosse Teile der Arbeiterschaft von den Linksparteien, die den Ausbau des Sozialstaates erkämpft hatten, ab und den Rechtspopulisten, die gegen die Migration kämpfen, zu. Die Arbeiter waren

20 Hammar, Thomas: Democracy and the Nation State: Aliens, Denizens and Citizens in a World of International Migration, Aldershot: Avebury1990; Bauböck, Rainer: »Gleichheit, Vielfalt und Zusammenhalt«, in: Volf, Patrick/ders.: Wege zur Integration, Klagenfurt/Celovec: Drava 2001, S. 11–41, hier S. 26. 21 Wimmer, Andreas: »Binnenintegration und Aussenabschliessung. Zur Beziehung zwischen Wohlfahrtsstaat und Migrationssteuerung in der Schweiz des 20. Jahrhunderts«, in: Bommes, Michael/Halfmann, Jost: Migration in nationalen Wohlfahrtsstaaten, Theoretische und vergleichende Untersuchungen. Osnabrück: Rasch 1998, S. 199–221.

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lange Zeit selber Ausgeschlossene gewesen und hatten sich ihre politische und soziale Integration hart erkämpft. Immer mehr von ihnen wie auch viele Angehörige des diffusen „Mittelstandes“ sind heute der Meinung, die Migrierenden würden von den sozialen Institutionen profitieren, ohne zu ihnen beigetragen zu haben, während sie selber Gefahr laufen würden, wegen der wachsenden Konkurrenz ihre Arbeitsplätze wie auch ihre sozialen Rechte zu verlieren.22 Eine Liberalisierung des Migrationsregimes ist historisch gesehen daher eher mit einer Schwächung sozialstaatlicher Integration verbunden. In den letzten Jahren konnte man beobachten, wie dieser für Nationalstaaten postulierte Effekt auch bei der EU spielte, allerdings in der umgekehrten Richtung. Der Ausbau der ökonomischen, politischen und sozialen Vernetzung zwischen den EU-Mitgliedern fördert (wie vor einem Jahrhundert bei der Entstehung der Nationalstaaten) interne Mobilität unter dem Grundsatz der Personenfreizügigkeit, zugleich aber auch die Abschottung nach aussen. Die EU versucht immer intensiver, ihre Aussengrenzen abzusichern, um die innere Mobilität zu schützen. Viele europäische Gesellschaften haben im Übergang zur nationalstaatlichen und industriellen Moderne die bürgerlichen und politischen Rechte von einer lokalen bzw. regionalen Ebene auf eine nationale übertragen. Sie müssen sich nun wohl Gedanken machen, wie Partizipation in einer zumehend mobilen und interdependenten Gesellschaft aussehen könnte. Genügt in einer Welt, in der immer mehr Menschen in zwei oder mehr Staaten Teile ihres Lebens verbringen, der Nationalstaat als Aktionsradius der Demokratie? Das bisherige Versprechen dieses Nationalstaates ist die exklusive Deckungsgleichheit von Gesellschaft, Politik und Territorium, also von sozialem, politischem und geografischem Raum. Nun haben wir es spätestens seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs bei einer zunehmenden Anzahl grenzüberschreitender Prozesse mit einer Emanzipation des sozialen vom geografischen Raum zu tun, so dass beide immer weniger übereinstimmen. Weit auseinander liegende geografischen Räume werden durch Technik und Kommunikation miteinander verbunden. Gleichzeitig werden die sozialen Räume komplexer: Einerseits werden sie immer heterogener, verschachtelter und durchmischter, andererseits weiten sie sich auch aus, bilden geografisch nicht mehr verbundene Einheiten, die weit entfernt lebende Communities durch moderne Technik einen gemeinsamen sozialen Raum ohne geografische Grundlage

22 Häusermann, Silja: »Der Preis des Erfolgs. Die Linke verliert mehr und mehr Wähler an rechtsnationale Parteien. Wie lässt sich dieser Trend umkehren?«, in: NZZ, 15.2.2017; Banting, Keith/Kymlicka, Will (eds.): Multiculturalism and the Welfare State. Recognition and Redistribution in Contemporary Democracies, Oxford: OUP 2009.

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herstellen lassen. 23 Wenn soziale Gruppen aber losgelöst vom geografischen Raum existieren können, ist räumliche Nähe keine notwendige Bedingung für gemeinsame politische Rechte mehr. Der Nationalstaat verliert als Referenzrahmen für wirtschaftliche, soziale und politische Prozesse an Bedeutung. Wie aber könnten bürgerschaftliche Modelle jenseits eines ausschliesslich flächenräumlich gedachten Staates funktionieren? Bevor man sich dieser Frage zuwendet, muss geklärt werden, wie Staatszugehörigkeit eigentlich definiert wird. Ihr zentrales Element ist das Bürgerrecht. In Ländern wie der Schweiz, aber auch in vielen anderen Staaten ist ein immer höherer Anteil der Bevölkerung eingewandert. Gegenwärtig liegt in der Schweiz der Ausländeranteil bei einem Viertel der Bevölkerung. Mehr als ein Drittel hat einen so genannten Migrationshintergrund, d. h. mindestens ein Elternteil ist eingewandert. Mehr als 40 Prozent der Ehschliessungen sind binational.24 Das Bild der Nation als eine homogene Gruppe von Menschen, die sich durch eine gemeinsame Geschichte verbunden ist und die auf der Basis dieser gemeinsamen Herkunft Bürgerrechte besitzt, ist daher immer weniger zutreffend. Das ius sanguinis, wie dieses Abstammungsprinzip zur Begründung staatlicher Zugehörigkeit genannt wird, macht daher immer weniger Sinn als Legitimation der Staatszugehörigkeit, auch wenn es für weite Teile Europas noch immer bestimmend ist. Zwar besteht schon heute die Möglichkeit, eingebürgert zu werden, ohne diese Abstammung vorweisen zu können, aber dieses Prozedere gilt als Ausnahme, nicht als Prinzip staatlicher Zugehörigkeit. Allerdings ist die breite Durchmischung der Bevölkerung nicht ganz so neu, wie sie manchmal dargestellt wird. Bereits der sich rasch modernisierende schweizerische Bundesstaat des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts zum Beispiel sah sich mit einer wachsenden Einwanderung konfrontiert, so dass 1914 15 Prozent der Bevölkerung Ausländer waren, in Städten wie Lugano 30.8, Basel 37.6 und Genf 40.4 Prozent. Dass dieser Anteil nicht noch grösser war, dafür sorgte die damalige Politik der raschen Einbürgerung. Bis nach dem Ersten Weltkrieg betrug die Wartefrist für den entsprechenden Antrag gerade mal zwei Jahre. Vor allem liberale Kreise störten sich daran, dass ein immer grösserer Teil der Bevölkerung von der politischen Partizipation ausgeschlossen war. Manche verlangten sogar eine Zwangseinbürgerung der zweiten Generation auf der Basis des

23 Pries, Ludger: »The Approach of Transnational Social Spaces: Responding to New Configurations of the Social and the Spatial«, in: Ders. (ed.): New Transnational Social Spaces. International Migration and Transnational Companies, London: Routledge 2001, pp. 3–33. 24 http://www.binational.ch/de/?Vorbemerkungen___Allgemeines (16.3.2019).

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ius soli, welches den Geburtsort als entscheidend ansieht. Die klassischen Einwanderungsländer wie die USA, Kanada, Australien und Neuseeland bürgerten ohnehin schnell ein, ihr Verständnis von Zugehörigkeit beruhte immer schon auf dem ius soli. Die europäischen Staaten haben diese Möglichkeit aber nie akzeptiert. Was sich hingegen immer stärker durchsetzt, sind Doppel- oder Mehrfachbürgerschaften.25 Lange Zeit war der Widerstand dagegen gross. Vor allem Auswanderungsländer fördern aber die doppelte Staatsbürgerschaft immer stärker, weil sie befürchten, sonst die Verbindung zu ihren ausgewanderten Bürgerinnen und Bürgern zu verlieren. In diversen Ländern sind Auslands-Staatsangehörige mit eigenen Sitzen im Parlament vertreten. Man spricht auch von „extraterritorialer Staatsbürgerschaft“. 26 Noch fehlt das Pendant zu dieser Entwicklung, nämlich Sitze für Einwanderinnen und Einwanderer im Parlament der Einwanderungsstaaten. Wenn Statistiken über die Bevölkerung einzelner Staaten veröffentlicht werden, dann sind diese in der Regel binär aufgeteilt in Inländer und Ausländer. Nicht berücksichtigt werden die doppelten und mehrfachen Staatsbürgerschaften. Bezieht man diese in die Berechnungen ein, entsteht ein neues Bild von Gesellschaft: Nicht das Bild eines Entweder – Oder, Inländer – Ausländer, sondern das Bild eines zunehmenden Sowohl als Auch, sowohl Inländer als auch Ausländer. 2016 besassen 23,9 Prozent aller Schweizerinnen und Schweizer, die über 15 Jahre alt sind, eine mehrfache Staatsbürgerschaft, bei den in der Schweiz lebenden Personen waren es 13 Prozent. Von den Schweizern im Ausland können sogar drei Viertel auf mehrere Pässe zurückgreifen. Durch die hohe Anzahl binationaler Ehen wächst die Zahl der Mehrfachbürgerinnen und -bürger qua Geburt sehr schnell.

25 Blatter, Joachim/Sochin D’Elia, Martina/Buess, Michael: Bürgerschaft und Demokratie in Zeiten transnationaler Migration: Hintergründe, Chancen und Risiken der Doppelbürgerschaft. Studie im Auftrag der EKM, Bern: BBL 2018; vgl. auch Faist, Thomas/Kivisto, Peter (eds.): Dual Citizenship in a Globalizing World, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2007. 26 Bauböck, Rainer: »The Rights and Duties of External Citizenship«, in: Citizenship Studies 13/5 (2009), pp. 475–499; Collyer, Michael: »A Geography of Extra-territorial Citizenship: Explanations of external Voting«, in: Migration Studies 2/1 (2014), pp. 55–72.

Assimilation, Integration, Kohäsion, Partizipation | 77

AKTIONSRADIEN DER DEMOKRATIE Die heutige Verteilung der Rechte schliesst einen wesentlichen Teil der Bewohnerinnen und Bewohner eines Staates von einer politischen Beteiligung aus. Wie hoch darf deren Anteil sein, ohne dass die Demokratie ihre Legitimation verliert? Demokratietheoretisch lässt sich kaum begründen, dass wesentlichen Anteilen der Bevölkerung entsprechende Rechte vorbehalten werden. Demokratie basiert auf einer universalistischen Logik der Zugehörigkeit, nationalstaatliche Zugehörigkeit hingegen auf einer exkludierenden. Hier liegt ein wesentlicher Widerspruch nationalstaatlicher Demokratie, der sich mit zunehmender Mobilität stärker akzentuiert.27 Kann im Extremfall eine Minderheit Demokratie praktizieren und die Mehrheit ausschliessen? Die Möglichkeit der schnelleren demokratischen Beteiligung unabhängig von der Staatsbürgerschaft auf zunächst lokaler und regionaler Stufe könnte hier einen ersten Schritt darstellen. In vielen Staaten findet deshalb eine intensive Debatte über neue Formen der Bürgerschaft und der Partizipation statt. In der französischen Sprache gibt es einen Ausdruck für diese grundlegende Form von Partizipation: citoyenneté. Als citoyen, citoyenne gelten nicht einfach Personen, die zufällig Bürgerin oder Bürger eines Landes sind, sondern Personen, die sich kümmern, die mit ihrer Haltung und ihrem Engagement diese Gesellschaft erst ausmachen, die sich verantwortlich fühlen für ihr Umfeld und ihre Umwelt. 28 In einer historischen Betrachtung stellen wir fest, dass tatsächlich immer weitere Gruppen in den politischen Entscheidungsprozess einbezogen worden sind. Zudem ist auch eine räumliche Expansion politischer Rechte zu erkennen. Lange Zeit waren es die Gemeinden und Städte, die Rechte vergaben, sei das in der griechischen Polis, sei das in den Städten und Gemeinden des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Diese lokalen Rechte spielen in der Entwicklung hin zur Moderne eine zentrale Rolle. Mit dem Nationalstaat entstand dann die Gleichsetzung von staatlicher Zugehörigkeit in Form der Staatsbürgerschaft und der Ausübung der demokratischen Rechte. Anders als dieses heute dominierende Verständnis von

27 Perchinig, Bernhard: »Migration, Integration und Staatsbürgerschaft – was taugen die Begriffe noch?«, in: Langenthaler, Herbert (Hg.): Integration in Österreich. Sozialwissenschaftliche Befunde, Innsbruck: Studienverlag 2010, S. 13–33; Bauböck, Rainer (ed.): Migration and Citizenship. Legal Status, Rights and Political Participation, Amsterdam: AUP 2006; Isin, Engin F./Saward, Michael (eds.): Enacting European Citizenship, Cambridge: CUP 2013. 28 Vgl. auch Serrut, Louis-Albert: De la citoyenneté. Histoire et émergence d'un concept en mutation, Paris: Editions du Cygne 2016.

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Bürgerschaft als spezifische juristische Rechte und Pflichten umfassende Zuschreibung an ein einzelnes Subjekt versteht ein Teil der neueren Citizenship-Forschung Bürgerschaft in Anlehnung an citoyenneté-Konzepte zunehmend als soziale Praxis, durch welche Individuen und Kollektive ihre Rechte behaupten, erkämpfen oder verlieren können: Praxen, die Engin F. Isin einerseits als (bewusste) „acts of citizenship“ und andererseits als (unreflektierte) habituelle Praktiken sieht.29 Die gesellschaftliche Reproduktion des bürgerschaftlichen Status wird in den alltäglichen sozialen Praktiken verortet und kann als doing citizenship verstanden werden. Bürgerschaft geht hier also von Partizipation und Engagement, aber auch von der Vielfalt der beteiligten Gruppen aus. Grade für vielfältige Gesellschaften bleibt aber die zentrale Frage, ob es ihnen gelingt, eine „inclusive political culture“ herzustellen.30 Lange wurde auf der staatlichen Ebene die Einheit und Gleichheit der Menschen hervorgehoben, in den Städten hingegen liegt die Betonung auf Diversität und Differenz.31 Städte sind seit jeher Orte der Vielfalt, sie organisieren „the being together of strangers“32, sind aber gleichzeitig auch immer Orte, an denen ein intensiver Kohäsionsprozess dafür sorgt, dass sie als Strukturen funktionieren. Bürgerschaft wird in diesen Ansätzen also nicht ausschließlich über die Rechte definiert, die der Staat garantiert, sondern über die Handlungen, Verhaltensweisen und Praktiken der Menschen, nicht als statisches, sondern als dynamisches Konzept verstanden, nicht als etwas, das wir qua Geburt haben, sondern als etwas, das wir erarbeiten. Allerdings stellt sich sogleich die Frage, wer das Recht hat darüber zu entscheiden, wer an einem gewissen Ort leben, wer sich in bestimmten Städten und Staaten aufhalten darf. So sehr Urban Citizenship-Theorien davon ausgehen, dass alle, die in einer bestimmten Stadt sind, ungeachtet ihrer rechtlichen Stellung Möglichkeiten der Partizipation haben sollten, so sehr halten die Staaten daran fest, Einreisen kontrollieren und sanktionieren zu können. Selbst an Orten grosser Offenheit, was neue Partizipationsformen betrifft, ist keine Entwicklung hin zur prinzipiellen Aufgabe der Idee der Staatsbürgerschaft, die nur unter gewissen Bedingungen erworben werden kann, zu verzeichnen. Dass an manchen Orten zwischen der urbanen und nationalen Ebene noch weitere Ebenen liegen (Kantone, Distrikte, Bundesländer), macht die

29 Isin, Engin F./Nielsen, Greg M. (eds.): Acts of Citizenship, London: Zed 2008; Smith, Michael P./McQuarrie, Michael (eds.): Remaking Urban Citizenship: Organizations, Institutions, and the Right to the City, New Brunswick: Transaction 2012. 30 Zukin, Sharon: The Cultures of Cities, Malden: Blackwell 1995, p. 44. 31 Sandercock, Leonie: Towards Cosmopolis: Planning for Multicultural Cities, New York: John Wiley 1998, p. 183. 32 Young, Iris M.: Justice and the Politics of Difference, Princeton: PUP 1990, p. 237.

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Auseinandersetzung nicht einfacher. Dennoch ist die Frage der Partizipation innerhalb dieser komplexen Konstellationen weiter zu denken und weiter zu entwickeln. Weitergedacht werden muss auch, wie staatsbürgerschaftliche Modelle jenseits des flächenräumlichen Staates funktionieren könnten. Die EU hat mir ihrer Bürgerinitiative, die in Wirklichkeit einem Petitionsrecht entspricht, ein solches Instrument etabliert, das aber nicht wirklich als Agens demokratischer Mitbestimmung funktioniert.33 Solche Bestrebungen müssen erweitert werden, etwa auf der Ebene grenzüberschreitender Entscheidungsprozesse, da diese häufig Bewohnerinnen und Bewohner einer Region gemeinsam betreffen, selbst wenn sie in verschiedenen Staaten leben. Vorstellbar wäre auch, dass man Angehörigen benachbarter Staaten Sitze in nationalen Parlamenten zugesteht und länderübergreifende regionale Parlamente schafft. Und schliesslich sind auch transstaatliche Konzepte der politischen Partizipation notwendig zur Sicherung demokratischer Strukturen in einer transnationalen Gesellschaft.34 Auf allen Ebenen von lokal bis global muss Partizipation neu gedacht, müssen multilevel oder multilayered citizenship regimes entwickelt werden.35 Staatliche Zugehörigkeit und die mit ihr verbundenen Rechte werden sich von der Exklusivitätsvorstellung, die ihnen heute noch innewohnt, lösen und sich Richtung multipler Zugehörigkeiten wandeln, auch wenn eine solche Entwicklung aktuell eher utopisch wirkt. Die Demokratien stehen an vielen Orten unter dem Druck illiberaler Forderungen, welche die enge Verflechtung von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten nicht akzeptieren. Ein Rückzug auf nationalstaatliche Konzepte dürfte keine ausreichende Antwort auf diese Herausforderung bieten. Was also verhandelt werden muss, sind grundlegende Fragen der

33 Hieber, Thomas: Die Europäische Bürgerinitiative nach dem Vertrag von Lissabon – Rechtsdogmatische Analyse eines neuen politischen Rechts der Unionsbürger. Diss. St. Gallen 2013. 34 Kivisto, Peter/Faist, Thomas: »The Boundaries of Citizenship: Dual, Nested, and Global«, in: Dasgupta, Samir/Nederveen Pieterse, Jan (eds.): Politics of Globalization. New Delhi: Sage 2009, pp. 356-376; Linklater, Andrew: »Cosmopolitan Citizenship«, in: Isin, Engin F./Turner, Bryan S. (eds.): Handbook of Citizenship Studies. London: Sage 2002, pp. 317–332. 35 Maas, Willem: »Multilevel Citizenship«, in: Shachar, Ayelet et al. (eds.): The Oxford Handbook of Citizenship (OUP, erscheint 2017) pp. 644–668; Yuval‐Davis, Nira: »The Multi‐layered Citizen«, in: International Feminist Journal of Politics, 1/1 (1999), pp. 119–136.

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gesellschaftlichen Kohäsion und Partizipation im Zeitalter der Globalisierung, so wie sie mit der Bildung der Nationalstaaten im 19. Jh. neu ausgehandelt wurden. Weil aber heute zukunftsweisende Perspektiven weitgehend fehlen (damals öffneten Liberalismus und Sozialismus neue Horizonte), das Partizipations-Narrativ des globalen Zeitalters noch nicht gefunden ist, verharren die westlichen Gesellschaften im Zustand der Abwehr und der Regression und fokussieren primär auf Migrierende als Verkörperung des Wandels, ohne die Fragen der gesamtgesellschaftlichen Transformation wirklich anzupacken.

Zeiten

Mobilität, Grenzen und das Paradox der Demokratie Heidrun Friese Borders have guards and the guards have guns. Joseph H. Carens, Aliens and Citizens: The case for open borders

Während Europa beileibe nicht den Großteil von Geflüchteten aufnimmt und ein nicht unerheblicher Teil transnationaler Migranten in Europa – und nicht etwa in den Staaten Afrikas – geboren wurde,1 schaffen öffentliche Debatten bedrohliche und rassistisch geframte Kriegs- und Krisenszenarien, fordern Grenzen und Souveränität, nicht ohne dabei Ethik und Moral gegen ‚Realpolitik‘ auszuspielen: „Haben uns durch übertriebenen Moralismus in Europa unglaubwürdig gemacht“, so Heinrich A. Winkler.2 „Es geht um eine Politik des moralischen Realismus“,

1

UNHCR (http://www.unhcr.org/dach/de/services/statistiken, 26.7.18). UM International Migration Report 2017, S. 9 (https://www.un.org/en/development/desa/popula tion/migration/publications/migrationreport/docs/MigrationReport2017_Highlights. pdf, 26.7.18).

2

Schuster, Jacques: Interview mit Heinrich August Winkler. Die Welt Online 29.7.18 (https://www.welt.de/politik/deutschland/plus180137096/Heinrich-August-WinklerHaben-uns-in-Europa-unglaubwuerdig-gemacht.html, 30.7.2018). »Kontrolle und Empathie«, so fassen Gesine Schwan und Gerald Knaus diese Spannung zusammen (http://www.spiegel.de/politik/deutschland/gesine-schwan-und-gerald-knaus-uebereine-neue-fluechtlingspolitik-a-1215309.html, 3.8.18). Sie nehmen auf, was Didier Fassin als »humanitäre Vernunft« darstellt, die sich mit dem Sicherheitsdispositiv mischt. Fassin, Didier: Humanitarian Reason. A Moral History of the Present, Berkeley/Los Angeles: California UP 2012. Vgl. Friese, Heidrun: Flüchtlinge: Opfer – Bedrohung – Helden. Zur politischen Imagination des Fremden, Bielefeld: transcript 2017.

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so wird der Politikberater Gerald Knaus zitiert,3 auf dessen Vorschlag auch das Milliardenabkommen mit der Türkei zurückgeht. An seinen Grenzen lässt Europa Menschen sterben.4 „Malta, die Schleuser und die Gutmenschen Italiens und der ganzen Welt sollen wissen, dass dieses Schiff in keinem italienischen Hafen anlegen KANN und DARF, haben wir uns verstanden?“, textete der italienische Innenminister und Chef der Lega im Juli 2018 auf Facebook, nicht ohne diese Anweisung mit einem lustigen Emoij zu garnieren 😉.5 Damit sollten die Häfen für Seenotretter – gegen italienisches Seerecht, gegen internationale Konventionen und Abkommen – geschlossen werden und im Sommer 2018 verweigerte der Minister dem Schiff der italienischen Küstenwache, der Ubaldo Diciotti zunächst die Anlandung der aus Seenot Geretteten. Tatsächlich ist die Ordnung von Zirkulation ein zentraler Teil der Beziehungen zwischen der EU und den ehemaligen Kolonien geworden. „Souverän ist, wer über den Transit herrscht“6 und so zielt die Governance transnationaler Mobilität auf die Externalisierung, die Multiplikation von Grenzen und deren umfassende Kontrolle. Daneben stehen die Bemühungen der EU mit dem Rabat-Prozess seit 2006, dem Khartoum-Prozess mit dem Jahr 2014. Dieser findet seine Weiterführung im Valetta Action Plan, der „Better Migration Management“ und den European Union Emergency Trust Fund for Africa (EUTF) beinhaltet.“7 „Ströme steuern, Leben retten“ ist die Devise, die Managementlogiken, Militäreinsätze mit humanitärer Legitimation verbindet.8

3

Breyton, Ricarda: »Man darf die Dinge nicht treiben lassen«. Die Welt Online 30.7.18 (https://www.welt.de/politik/deutschland/plus180173608/EU-Fluechtlingskrise-Esgeht-um-eine-Politik-des-moralischen-Realismus.html, 30.7.2018).

4

Auf den zentralen Mittelmeerroute sind zwischen 1.1. und 21.3.2019 mindestens 160 Menschenleben zu beklagen, die absolute Zahl ist damit auf dem Niveau von 2016, doch hat sich die Todesrate pro (versuchter) Überfahrt erheblich erhöht. Sie lag 2018 bei 3.4% und 2019 bei 12,1% (https://missingmigrants.iom.int/region/mediterranean ?migrant_route%5B%5D=1376, 21.3.19). Todespolitiken haben Tote im Mittelmeer nicht verhindert, wie die offizielle Propaganda behauptet.

5

Matteo Salivini (https://www.facebook.com/salviniofficial/photos/a.1015167091220 8155.1073741827.252306033154/10155913057848155/?type=3&theater=, 13.7.2018, 7:15 / Gefällt 79.108 Mal, 16.877 Kommentare, 12.510 Mal geteilt).

6

Avanessian, Armen: Diese Menschenschwärme. Die Zeit, 36, 3.9.15 (www.zeit.de/ 2015/36/fluechtlinge-migration-kapitalismus-rassismus/komplettansicht, 19.9.15).

7

European Commission (https://ec.europa.eu/trustfundforafrica/ 6.8.18).

8

Europäische Kommission/ Hohe Vertreterin der Union für Außen- und Sicherheitspolitik 2017 (http://europa.eu/rapid/press-release_MEMO-17-135_en.htm, 27.3.19).

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Derzeitige Debatten entzünden sich an ökonomischen, politischen, sozialen und kulturell gedachten Spannungen um Migration und bearbeiten Fragen nach Souveränität und globaler Gerechtigkeit. Etwas vereinfachend, lassen sich die Diskussionen der politischen Philosophie drei diskursiven Feldern zuordnen:9 Liberale Versionen sehen erstens, gute Gründe für die Beschränkung der Bewegungsfreiheit. Diesen Versionen schließen sich auch utilitaristische und/oder konsequentialistische Positionen an, die sich u.a. auf Max Webers Unterscheidung zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik berufen. Zweitens plädieren derzeitige Versionen für erneuerte Formen eines Kosmopolitismus und plädieren für Freizügigkeit und Niederlassungsfreiheit. Drittens fordern Ansätze der Dekonstruktion „bedingungslose Gastfreundschaft“, sie betonen die absolute ethische Forderung nach der Aufnahme von Anderen.10 Trotz ihrer Unterschiedlichkeit arbeiten alle Positionen an dem grundlegenden „Paradox der Demokratie“, 11 die Staatsbürger privilegiert und damit einschließend und auschließend ist. Liberale Demokratien sind zudem durch die Spannung zwischen universellen Prinzipien (alle Menschen haben denselben moralischen Wert) und partikularen politischen Gemeinschaften gekennzeichnet, die ein Recht auf autonome Deliberation haben. Nun werden Auseinandersetzungen um Mobilität auch und gerade digital geführt. Im Mai 2015 habe ich im Leserforum von Zeit Online den ersten Kommentar gepostet. Gerade die Befindlichkeiten der ‚bürgerlichen Mitte‘ schienen mir aufschlussreich, um derzeitige politische Verschiebungen ermessen zu können und nachzuvollziehen, wie Souveränität, Grenzen, Abschiebungen, Seenotrettung verhandelt werden.12 Im Weiteren wird versucht, einerseits die Durchdringung des offiziellen Diskurses zu Grenzsicherung und Seenotrettung mit derzeit populären ‚Meinungen‘ zu skizzieren, die das Grenzregime alltäglich mitschaffen und legitimieren. Andererseits soll gezeigt werden, dass sich diese auch in Perspektiven der politischen Philosophie finden. In notwendigerweise sehr verkürzter Form

9

Friese, Heidrun: Grenzen der Gastfreundschaft. Die Bootsflüchtlinge von Lampedusa und die europäische Frage, Bielefeld: transcript 2014, S. 86-114.

10 Derrida, Jacques/Dufourmantelle, Anne: De l’hospitalité, Paris: Calmann-Lévy 1997, S. 29. 11 Mouffe, Chantal: Das demokratische Paradox, Wien/Berlin: Turia & Kant 2013. 12 Bis zum 30.12.18 habe ich 505 posts zu Migration und Search and Rescue (SAR) im Mittelmeer verfasst. Im Folgenden werden keine Usernamen angegeben. Die unkorrigierten Kommentare wurden dokumentiert, indexiert und gesichert. Vgl. Friese, Heidrun: Der Fremde als Feind. Mikrorassismus Online, in Heidrun Friese/Marcus Nolden/Miriam Schreiter (Hrsg.): Alltagsrassismus. Theoretische und empirische Perspektiven nach Chemnitz, Bielefeld: transcript 2019 (im Erscheinen).

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werden diese im Hinblick auf Begründungen für Grenzen angesprochen. Ich werde mich auf die Erörterung liberaler Positionen beschränken müssen. Wie jedoch deutlich werden wird, sprechen diese das grundlegende Paradox der Demokratie an: Nationalstaaten beruhen auf der Trinität Volk-Territorium-Staat. Damit kommen auch Fragen nach Souveränität, Territorium und Grenze in den Blick. Wendy Browns jüngste Überlegungen zu den neuen Mauern werden hier im Zentrum stehen,13 nimmt sie doch die symbolische und performative Dimension, die Materialität von Grenzen in den Blick, die in der politischen Philosophie bislang eher vernachlässig wurden, in populären Diskursen aber einen zentralen Raum einnehmen.

DAS GRENZREGIME: OFFIZIELL-POPULÄRE DISKURSE Derzeitige Politiken zielen auf die Überwachung von Seegrenzen und die Regierung von Mobilität. Mare Nostrum, die Mission Sophia/ EUNAVFOR MED ab April 2015 dienten kaum der Kontrolle des Seegebiets, gemeinsamer Intelligence und dem Kampf gegen sog. ‚Schleuser‘ und Ölschmuggler. 14 Doch zugleich werden Souveränität, Sicherheitsdiskurse und Feindschaftslogik mit humanitärer Legitimation versehen. Auch wenn die Kooperationsbemühungen der EU mit den ehemaligen Kolonien kaum bekannt sind, haben sich offizielle Governance von Mobilität und offizielle Sprachregelungen auch dank medialer Verbreitung erfolgreich durchgesetzt. Debatten um Mobilität zeichnen die Figuren der sozialen Imagination von mobilen Menschen als Feind oder Opfer,15 rufen dementsprechend entweder Souveränität (‚Sicherheit‘) oder Ethik (‚Humanität‘) an oder vermischen ‚humanitäre‘ Legitimationsfiguren – ‚Kampf gegen Menschenhandel‘ – mit der Legitimation militärisch-polizeilicher Eingreiftruppen, Rechtsbruch und permanentem Ausnahmezustand. Die Rolle von NGOs ist diesen Figuren angeschlossen, die Alltagsmeinung bearbeitet diese und sucht nach Legitimation:

13 Brown, Wendy: Mauern. Die neue Abschottung und der Niedergang der Souveränität, Berlin: Suhrkamp 2018. 14 H. Friese Flüchtlinge, S. 62-63. 15 H. Friese: Flüchtlinge; Friese, Heidrun: »Representations of Gendered Mobility and the Tragic Border-Regime in the Mediterranean«, in Serena Giusti/Leila S. Talani (Hg.). Women in the Mediterranean, London: Routledge 2018, S. 81-96.

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„Es geht doch überhaupt nicht um Rettung aus Seenot. Seenot herrscht, wenn ein Schiff unverschuldet durch Havarie, Sturm etc. in wirkliche Not gerät. Das ist aber hier nicht der Fall. Hier versuchen Menschen, die viel Geld für Schlepper gezahlt haben, illegal Europa zu erreichen. Wer diese Menschen ‚rettet‘, um sie nach Europa zu bringen, macht doch mit den Schleppern gemeinsame Sache und ist einfach nur ein illegaler Schleuser. Wenn die Menschen wirklich in Seenot wären, wäre der nächste rettende Hafen in Libyen und nicht in Italien, Malta oder Spanien. So aber machen sich die Kapitäne solcher NGOs mitschuldig am wachenden Flüchtlingsstrom. Sie gehören vor Gericht gestellt!“ (#133, 18 likes).16

Nun unterscheidet das Seerecht nicht zwischen ‚verschuldeter‘ oder ‚unverschuldeter‘ Seenot und SAR-missions sind rechtliche Pflicht unabhängig von der Frage, ob es sich nun um ‚illegale‘ Migranten handelt oder nicht.17 In Verkennung – und meist aus schlichter Unkenntnis – der internationalen Bestimmungen, was als sicherer Hafen (Place of Security/ POS) zu werten ist, in Verkehrung von internationalen Konventionen und Rechtsnormen kann private Seenotrettung dann auch in der Alltagsmeinung kriminalisiert werden und wird zum ‚Fährbetrieb‘ des ‚Flüchtlingsstroms‘, der falsche ‚Anreize‘ setzt (und die von der Migrationsforschung in die Debatte gebrachten Push- und Pull-Faktoren aufnimmt). „‚seevölkerrechtlichen Pflicht – nämlich der Rettung von in Seenot geratenen Menschen‘ Das wäre auch in Ordnung, wenn nicht erstens der einzige Zweck der Fahrten die Rettung wäre und man damit eine Art Fährbetrieb in Gang setzt, der überhaupt erst die Leute in See stechen bzw. sich in Seenot begeben lässt und zweitens man die Menschen nicht nach Europa bringen würde, was einen zusätzlichen Anreiz setzt, sich in den Lager-/Folterstaat

16 Kommentar, Artikel »Sea-Eye rettet 17 Menschen im Mittelmeer.« Vanessa Vu/Juliane Frisse, 29.12.18 (https://www.zeit.de/politik/ausland/2018-12/eenotrettung-sea-eyegerettete-migranten-verweigerung-uebergabe-lybien?cid=23379220#cid-23379220, 25.3.19). 17 Im Kontext von SAR sind folgende internationalen Konventionen zentral: SOLAS (Safety Of Life At Sea, 1974), die Hamburger Konvention (1979), sowie die UN Convention on the Law of the Sea (UNCLOS, 1982). Es gelten die Richtlinien der International Maritime Organization (IMO, MAC 167-78), die Ergänzungsbestimmungen der SOLAS und SAR Konventionen, der Resolution 167(78) des Maritime Safety Committee (MSC, 2004) und der operative Plan (SOP 009/15), der den Place of Safety (POS) bestimmt. SAR-missions sind abgeschlossen, wenn der POS erreicht ist. Erst am 27.6.18 wurde der IMO die libyschen SAR-Zone (RCC-Libya) in die Database (GISIS) eingetragen (https://gisis.imo.org/Public/COMSAR/NationalAuthority.aspx?CID=LBY, 29.6.18).

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Libyen zu begeben. Lasst es die offizielle Küstenwache machen und die bringt die Leute zurück ans Ufer. Dann ist in wenigen Wochen das Schlepperwesen vorbei und niemand ertrinkt mehr oder begibt sich in den gefährlichen Staat Libyen“ (#12, 101 likes). 18

„Die Geiselnehmer sind wohl eher die Rettungsorganisationen. ‚Lasst uns rein und unsere Fracht von Bord, oder wir lassen sie an der langen Kette verhungern!‘“ (#8.4, 43 likes, Antwort auf #8.2).19 Noch unabhängig davon, dass vor dem Ertrinken Gerettete hier zur ‚Fracht‘ werden, die wieder und wieder erhobene Forderung lautet, die Menschen an die nordafrikanischen Ufer zurückzubringen und die Ankunft der Unerwünschten in Europa zu verhindern. „Und so werden die bewunderten Helden von gestern die Buhmänner von heute. Europa ist nun mal schon recht dicht besiedelt, da sind Reibereien mit den vielen, hm, Flüchtlingen unvermeidbar. Egal wie heftig so manch einer an die Moral appelieren mag: die allgemeine Stimmung ist längst gekippt, ‚refugees wellcome‘ existiert nur noch in einigen Köpfen. Wenn die wackeren Seeretter ihre Prinzipien weiter hochhalten wollen werden sie bald unangenehme Entscheidungen treffen müssen: wenn sie sich nicht bald gezwungen sehen wollen aufzugeben müssen sie nach legalen oder weniger legalen Schlupflöchern suchen, um weitermachen zu können. Und sie werden dabei immer weniger Ansehen geniessen“ (#23, 52 likes).20

Begründet werden diese Forderungen mit Bevölkerungsdichte, dem biopolitischen Hinweis auf die Überbevölkerung Afrikas oder damit, dass ‚Wir nicht alle Probleme lösen können‘. Im Zentrum stehen dann auch ökonomische Kosten- und Nutzenrechnungen. Zwei Gruppen von Versatzstücken machen die Register dieser Rede aus: biopolitische und ökonomische Elemente. Mobilität wird einer utilitaristischen und konsequentialistischen Logik eingeschrieben, die wir gleich noch

18 Kommentar, Artikel »Malta verlangt von NGO Ende der Rettungsmissionen.« Vanessa Vu, 26.9.18 (https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2018-09/zivile-seenot rettung-mittelmeer-fluechtlinge-malta-hafen-sea-eye?cid=22408934#cid-22408934, 25.3.19). 19 Kommentar, Artikel »Migranten verlassen italienisches Rettungsschiff.« 26.8.18 (https://www.zeit.de/politik/ausland/2018-08/rettungsschiff-diciotti-italien-fluechtlingematteo-salvini?cid=22040582#cid-22040582, 25.3.19). 20 Kommentar, Artikel »Panama will Rettungsschiff ›Aquarius‹ Flagge entziehen.« 23.9.18 (https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2018-09/seenotrettung-aquariuspanama?cid=22366654#cid-22366654, 25.3.19).

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näher betrachten werden. Was hier allein zählt, ist das eingesetzte Bedrohungsszenarium durch fremde ‚Massen‘, nicht die Rechte von Individuen. Viele Kommentare vermischen zugleich die öffentliche und die private Sphäre, sie richten sich an subjektivem Gefühl und eigener Alltagserfahrung aus, die zum einzig möglichen (normativen) Beurteilungskriterium werden und so auch den politischen Raum prägen. „Das Menschenrecht auf Leben spricht niemand den Migranten ab. Es ist dort zu gewähren, wo die Menschen zu Hause sind. Nicht in der Wüste, nicht in libyschen Lagern und auch nicht in Europa. Die Bedingungen in den Herkunftsländern müssen sich ändern und das ist die ureigenste Aufgabe der Menschen vor Ort. Nicht die Flucht in die bessere Welt des Westens. Wenn ich in einer Bruchbude hause, muss ich die entrümpeln und renovieren, statt über die Terrassentür in das gepflegte Haus meines Nachbarn zu ziehen“ (#23.3, 9 likes).

21

Nicht nur die Aufforderung, der ‚Heimat‘ zur Verfügung zu stehen, argumentativen Boden bereitet auch die Bindung von Nationalstaat an Homogenität: „Was wir erleben ist ein Siechtum der EU. Es scheint, dass es vom Fluechtlingsproblem beschleunigt wird, vorauszusehen war es jedoch schon vorher. Schlussendlich werden wir wieder Nationalstaaten haben, deren sprachliche, kulturelle oder ethnische Homogenität allerdings von den Politikern zerstoert wurde“ (#103, 2 likes).22

Erst die Zusammenbindung von Volk, Territorium und Staat erlaubt in dieser Perspektive Solidarität und Sozialstaat. Hier siegt die Normativität des Bestehenden. Die historisch relativ junge politische Konfiguration des modernen Nationalstaates wird als einzig gültige, mögliche Organisationsform des politischen Raumes und der Organisation von Solidarität gesehen und beurteilt als naiv, ‚weltfremd‘ alles, was diese Ordnung befragt und politischer Veränderung überhaupt erst zugänglich macht. „Geben Sie einfach mal ‚Flüchtlinge‘ bei Google ein und schauen Sie in die ‚News‘-Sektion. Die meisten Artikel drücken nach wie vor auf die Tränendrüse und kommen über

21 Ebd. 22 Kommentar, Artikel »Von der Realität überholt. Österreichs Kanzler Sebastian Kurz will Außengrenzen schützen.« Ulrich Ladurner 4.7.18 (https://www.zeit.de/politik/ ausland/2018-07/sebastian-kurz-oesterreich-eu-aussengrenzen-asylpolitik?cid=210208 17#cid-21020817, 23.3.19).

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ethisch-moralisches Kleinklein nicht hinaus. Texte, die die Unmöglichkeiten realistisch aufzeigen, sind doch eher rar gesäht“ (#31.1, 22 likes).

„Deutschland wird nicht die Verwerfungen in der Welt durch die aktuell vorherrschende Herangehensweise ändern können und ein Sozialstaat funktioniert nur in den Grenzen einer mehr oder weniger homogenen Gesellschaft mit vergleichbaren Wertmaßstäben“ (#31.7 4 likes), so die weit verbreitete Ansicht.23 Nun verweigern diese Sichtweisen sich der Frage, wie liberale Demokratien ohne normative Grundlagen zu denken sind, eben die normativen Grundlagen, die dann ja auch – gegen ebendiese Anderen – beständig angerufen werden, sollen sich die Ankommenden doch ‚integrieren‘ und zur demokratischen Grundordnung und deren Werte und Normen bekennen. Ethik und Moral stehen hier einmal gegen Realismus und Politik. Sie werden aber auch gegen den politischen Raum ausgespielt, diesem abgespalten und ihm entgegensetzt. Damit wird auch deutlich, dass Mobilität einem Teil der Menschheit nicht zusteht, nicht zustehen darf, soll die eingesetzte, homogen gedachte und angerufene Ordnung nicht beschädigt werden. „Das ist eher Ansichtssache. Auch ein Schily (SPD) hatte die Idee von Aufnahmezentren in Afrika, oder gar ein gewisser Herr Macron, seines Zeichens Frankreichs Präsident. So unsinnig kann es also gar nicht sein;) Klar muss zudem sein, dass wir Souveränität zurückgewinnen müssen. Es kann nicht angehen, dass jedwede Person eine jahrelange Aufnahme und Versorgung in Europa erzwingen kann. Das wäre – angesichts der Bevölkerungsentwicklung in vielen Herkunftsstaaten und der anschwellenden Zahl der Migrationswilligen – das Ende von allem, vor allem des Sozialstaates“ (#72.4, 15 likes).24 „Italien sollte besser seine Grenzen schützen statt rumzujammern oder wenn es das nicht kann muss Frontex aufgerüstet werden. Wer illegal nach Europa einreisen kann den sollte man auch illegal nach Lybien zurück schiffen“ (#1.4, 11 likes).25

23 Kommentar, Artikel »Seehofer fordert von Merkel mehr Einsatz für Ankerzentren«, 5.8.18 (https://www.zeit.de/politik/deutschland/2018-08/sommerinterview-horst-see hofer-ankerzentren-csu?cid=21698930#cid-21698930, 23.3.19). 24 Kommentar, Artikel »AfD will Asylbewerber nach Afrika schicken«, 21.8.17 (https://www.zeit.de/politik/2017-08/alternative-fuer-deutschland-asylbewerber-afrikamittelmeerrroute?cid=14658793#cid-14658793, 23.3.19). 25 Kommentare zum Artikel »Giuseppe Conte will am Euro festhalten« 5.6.18 (https://www.zeit.de/politik/ausland/2018-06/italien-giuseppe-conte-antrittsrede-regierungsprogramm-asylpolitik?cid=20406697#cid-20406697, 23.3.19).

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Einsicht in Komplexität ist hier kaum deutlich, resolut werden einfache Rezepte entworfen. Die Aufforderung zum Rechtsbruch basiert nicht nur auf einer Logik, die Auge um Auge fordert, sie teilt die Emphase, mit der derzeit Grenzen gefordert, gebaut und (symbolisch) überhöht werden und – wie wir noch sehen werden – das sichern sollen, was an Souveränität längst verloren ist. ‚Take back control‘ ist längst zum populistischen Schlachtruf im Krieg gegen mobile Menschen geworden. Diese – weitgehend konsensuellen – Perspektiven zeigen einmal mehr die Vermischung des humanitären und des Sicherheits- und Abwehrdiskurses. Die vermeintliche Klarheit der Aussagen und der knappen Handlungsanweisungen, die an subjektiver und der unmittelbaren Erfahrungen des Alltags, des häuslichen Kreises und seiner Angehörigen ausgerichtet sind, basieren auf einer sie konstituierenden Negation, der Negation der Rechte von Anderen, die eigenes Privileg absichert. Sie verweigern sich dem Anspruch anderer auf Rechte, sie negieren sowohl die individuelle Autonomie von Migranten, als auch deren gleichen moralischen Wert. Kurz: Sie negieren gemeinsame Zugehörigkeit.

PERSPEKTIVEN DER POLITISCHEN PHILOSOPHIE Mobilität fordert die Demokratie heraus. Sie verweist auf das „Paradox der Demokratie“,26 den genuin undemokratischen Moment, in dem eine politische Gemeinschaft sich als solche konstituiert. Zentrales Kennzeichen der Demokratie ist die Autonomie eines demos, der polis, in der die Bürger die öffentlichen Angelegenheiten bestimmen und sich selbst Gesetze geben. Diese Zirkularität – ein demos entscheidet, wer den demos begründet – begründet Mitgliedschaft und ist damit sowohl einschließend als auch ausschließend. 27 Modernen Nationalstaaten und liberalen Demokratien sind weitere Spannungen eingeschrieben: Sie berufen sich auf universalistische Prinzipien, während sie eine partikulare, abgegrenzte politische Gemeinschaft artikulieren. Zugleich beruhen Nationalstaaten auf der Kongruenz von Volk, Territorium und Staat, auf Souveränität und der „westphälischen Grammatik.“28 Auch die Spannung zwischen Staat/Nation und den Menschenrechten ist Teil dieser Konstellation, sie zeigen sich auch in Debatten um globale Gerechtigkeit, die sich am Nationalstaat ausrichten.

26 C. Mouffe: Paradox. 27 H. Friese: Gastfreundschaft, S. 20. 28 Benhabib, Seyla: The Rights of Others: Aliens, Residents and Citizens, Cambridge: Cambridge UP 2004.

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Mobilität fordert Nationalstaaten heraus. Als Erbe von Feudalismus und Absolutismus wurde dieser als (ethnisch) homogen gedacht, Sesshaftigkeit und territoriale Verbundenheit als der Normalfall, Mobilität dagegen als Störung gesehen. Wir haben diese Vorstellung eben auch in den Alltagsdiskursen gesehen. Historisch bedeutsam wurde der Nationalstaat zu einem Zeitpunkt, an dem sich die imaginierte gesellschaftliche Statik bereits aufgelöst hatte und durch Appelle an Nationalgefühl, Nationalismus, nationalem Chauvinismus und Rassenwahn gesichert werden sollten. Erschüttert wurde das „nationalstaatliche Prinzip“ zum einen durch „das Auftreten der massenhaften Staatenlosigkeit zwischen den beiden Weltkriegen“,29 zum anderen untergrub der Imperialismus die nationalstaatlichen Prinzipien weiter. Nicht umsonst widmet sich Hannah Arendt – nach ihrem Text We Refugees (1943)– 30 in Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft der ‚Flüchtlingsfrage‘, setzt sich mit den „Aporien der Menschenrechte“ auseinander und kommt zu dem Schluss:31 „Das Asylrecht gerät also dauernd mit den internationalen Rechten der Staaten in Konflikt, die in keiner Domäne souveräner sind, als wo es sich um ‚Emigration, Naturalisation, Nationalität und Ausweisung‘ handelt“. 32 Die Menschenrechte reduzieren Flüchtende auf das nackte Leben und schneiden sie von der politischen Gemeinschaft ab. Doch Gleichheit, so betont sie gegen das Naturrecht, „ist uns nicht gegeben, sondern wird durch eine vom Prinzip der Gerechtigkeit geleitete menschliche Organisation produziert. Als Gleiche sind wir nicht geboren, Gleiche werden wir als Mitglieder einer Gruppe erst kraft unserer Entscheidung, uns gegenseitig gleiche Rechte zu garantieren.“33

In diesem Sinne geht es um das „Recht, Rechte zu haben“, das Recht auf Mitgliedschaft in einem Gemeinwesen und so erst Mensch zu sein. Ein Gemeinwesen, das dieses negiert, spricht sich selbst das Menschsein ab.34

29 H. Arendt: Nationalstaat, S. 2. 30 Arendt, Hannah: Wir Flüchtlinge, Stuttgart: Reclam 2016 [1943]. 31 Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft, München: Piper 1998, S. 559-625. 32 H. Arendt: Elemente, S. 585. 33 Arendt, Hannah: Es gibt nur ein einziges Menschenrecht. Die Wandlung IV, Dezember 1949, S. 754-770, hier S. 764 (http://www.hannaharendt.net/index.php/han/article/ viewFile/154/273, 27.3.2019). 34 H. Friese: Gastfreundschaft, S. 87, 99.

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Die Spannung zwischen Staat/Nation und den Menschenrechten ist mit der Französischen Revolution und der Erklärung der Menschenrechte deutlich geworden, als die als souverän konzipierte Nation sich zur Quelle der Menschenrechte erklärte und so nichts Anderes anerkannte „als sich selbst“.35 „Volkssouveränität und Menschenrechte“, so Arendt, bedingen und garantieren sich gegenseitig, während ‚der‘ Mensch einem Staatsvolk einverleibt wurde, ohne dass Rechte wirksam gesichert und garantiert werden konnten. Vor dem Hintergrund dieser Zeitdiagnose überraschen derzeitige Positionen der politischen Philosophie, die den Nationalstaat zur Legitimierungsgrundlage von Grenzen, der Einschränkung von Mobilität, politischer Mitgliedschaft und Partizipation machen. Liberale politische Theorien sind ja zunächst individueller Autonomie, Freiheit, dem Schutz der legitimen Interessen des Einzelnen und des gleichen moralischen Wertes von Menschen verpflichtet. Offene Grenzen, so das Argument, untergraben erstens staatliche Souveränität und damit zweitens, demokratische Deliberation und drittens, zeitigen sie verheerende Konsequenzen. Diese Position kommt in argumentative Bedrängnis, wenn Rechte – und damit auch das Recht auf Freizügigkeit – nicht prinzipiell allen zugestanden sind, sondern die eigenen Staatsangehörigen vor anderen bevorzugt werden. Mit welcher Begründung können transnationale Mobilität und individuelle Freiheit eingeschränkt werden? Andreas Cassees Plädoyer für offene Grenzen verneint die Frage, ob Staaten „nach Maßgabe der Interessen und Vorlieben ihrer Bürger unilateral“ den Ausschluss von Migranten „beschließen dürfen“, ist eine solche Position doch „moralisch unhaltbar“.36 In Analogie zwischen innerstaatlicher und transnationaler Freizügigkeit, mit dem zentralen Hinweis auf individuelle Autonomie, die ein „Recht auf Bewegungsfreiheit“ begründet, lässt sich eine umfassend begründete „kosmopolitische Version der Vertragstheorie der Gerechtigkeit“ entwickeln. 37 Um diese Perspektive zu stützen, setzt er sich mit liberalen Versionen auseinander, wie sie von Christopher H. Wellman, Ryan Pevnick, David Miller und prominent von John Rawls oder – in der kommunitaristischen Version – von Michael Walzer

35 H. Arendt: Elemente, S. 489-490. 36 Cassee, Andreas: Globale Bewegungsfreiheit. Ein philosophisches Plädoyer für offene Grenzen, Berlin: Suhrkamp 2016, S. 17. 37 Cassee: Bewegungsfreiheit, S. 234-235.

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vorgetragen werden. 38 Im Anschluss an Cassee und sein Fragen, worauf „ein Recht auf Ausschluss eigentlich ein Recht“ sei,39 seien diese kurz dargestellt. Christopher H. Wellmann, der das Recht auf Ausschluss, ja sogar der an Leib und Leben bedrohten Flüchtenden affirmiert, verankert dieses in politischer Selbstbestimmung und der Assoziationsfreiheit. Nun sind Rechte individueller Selbstbestimmung in privaten, „self-regarding affairs“ sicherlich unstrittig. Die Frage ist jedoch, ob diese gleichermaßen für Kollektive in Anschlag gebracht werden können.40 Wellmann argumentiert nun, dass weder (materielle) Ungleichheit (das egalitäre Prinzip), noch die Beschränkung individueller Vertragsfreiheit und Eigentumsrechte (dadurch, dass bspw. ein eingeladener Gast nicht beherbergt werden darf) durch staatliche Beschränkungen verletzt werden. Dagegen ist festzustellen, dass Aufnahmepolitiken nun beileibe keine „moralfreie Zone“ sind, „in der jede Entscheidung moralisch so legitim ist wie die andere“. Auch stellt sich die Frage, „worauf“ Vereinigungsfreiheit überhaupt ein Recht ist und schließlich, wie sich das Recht auf „territorialen Ausschluss“ zur „Mitgliedschaft in einer politischen Gemeinschaft“ verhält. Folgen wir der Argumentation von Cassee, so bietet die Vereinigungsfreiheit als Begründung für Ausschluss „kein überzeugendes Argument dafür, dass wir einen frei zugänglichen öffentlichen Raum nur mit unseren Mitbürgerinnen teilen sollten, nicht aber mit den Angehörigen anderer Staaten“.41 Begründet Wellman das Recht von Staaten auf Selbstbestimmung und Ausschluss durch die Vereinigungsfreiheit, so sucht Ryan Pevnick dieses in

38 Wellman, Christopher H.: »Immigration und Assoziationsfreiheit«, in: Frank Dietrich (Hg.), Ethik der Migration. Philosophische Schlüsseltexte, Berlin: Suhrkamp 2017, S. 121-148; Pevnick, Ryan: Immigration and the Constraints of Justice. Between Open Borders and Absolute Sovereignty, Cambridge: Cambridge UP 2011; Miller, David: »Einwanderung: Das Argument für Beschränkungen«, in: Andreas Cassee/ Anna Goppel (Hg.): Migration und Ethik, Münster: mentis 2014, S. 47-65. Miller, David: Strangers in Our Midst. The Political Philosophy of Immigration, Cambridge/London: Harvard UP 2016. Miller, David: »Immigration und territoriale Rechte«, in: Frank Dietrich (Hg.), Ethik der Migration. Philosophische Schlüsseltexte, Berlin: Suhrkamp 2017, S.77-97; Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt am M.: Suhrkamp 1979; Rawls, John: The Law of Peoples, Cambridge/Ma.: Harvard UP 1999; Walzer, Michael: Spheres of Justice: A Defense of Pluralism and Equality, New York: Basic Books 1983. 39 A. Cassee: Bewegungsfreiheit, S. 21. 40 Vgl. A. Cassee: Bewegungsfreiheit, S. 41. 41 A. Cassee: Bewegungsfreiheit, S. 49, 52, 68.

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kollektiven Eigentumsrechten (associative ownership). Die Mitglieder einer politischen Gemeinschaft haben demnach einen privilegierten Anspruch auf Güter und Leistungen, haben sie diese doch durch ihre Arbeit und Beiträge in Vergangenheit und Gegenwart erst hervorgebracht und bilden daher die Grundlage kollektiven Selbstbestimmungsrechts.42 Mit Cassee können hier vier Einwände geltend gemacht werden, die „aneignungstheoretische Prämissen“, „historisches Unrecht“, „Territorialität“, sowie „Unfreiwilligkeit und die Asymmetrie zwischen Einwanderern und neuen Generationen“ in den Blick nehmen.43 Tatsächlich unterscheidet Pevnick nicht hinreichend zwischen unterschiedlichen Ebenen von Eigentumsansprüchen und deren jeweiliger Reichweite (beruht das Argument doch weitgehend auf dem Modell freiwilliger Vereinigungen) und kann damit nicht hinreichend deutlich machen, wie genau das Recht auf Ausschluss von Einwanderern, die Verweigerung ihrer Anteilhabe nun plausibel legitimiert werden kann. Auch der liberale Nationalismus David Millers beruft sich auf territoriale Rechte,44 um Einwanderungsbeschränkungen zu legitimieren und damit auch individuelle Freiheit einzuschränken. Seine Argumentation entwickelt sich einmal im Hinblick auf Eigentumsrechte und zum anderen im Hinblick auf die Freiheiten. Wie also lassen sich bestimmte territoriale Rechte begründen, warum kann ein Staat „Autorität über irgendein bestimmtes Territorium beanspruchen“?45 Das Argument Pevnicks wird hier aufgenommen, denn zum einen hat die „Nation als Ganzes einen legitimen Anspruch auf den gesteigerten Wert [...], den das Territorium“ gegenwärtig „besitzt“ und dieser Wert ist notwendigerweise an das Territorium gebunden, zum anderen hat das Staatsgebiet auch eine historische symbolische Bedeutung. 46 Das eingeführte kulturalische Argument wird näher qualifiziert, denn Einwanderungsbeschränkungen lassen sich durch die „Ziele“ einer Gesellschaft, „nationale Werte“, einem „gemeinsamen Identitätsgefühl“47 und „öffentlicher Kultur“ legitimieren.48 Argumente für ein moralisches Recht auf Mobilität, das sich auf Freizügigkeit, aus dem Recht auf Auswanderung oder auf Gründe globaler Gerechtigkeit stützt, werden von Miller zurückgewiesen. Das Recht auf Ausschluss durch nationale Gemeinschaften soll im Hinblick auf die Einschränkung von (individueller)

42 A. Cassee: Bewegungsfreiheit, S. 71-72. 43 A. Cassee: Bewegungsfreiheit, S. 75-93. 44 D. Miller: Einwanderung, D. Miller: Strangers, D. Miller: Immigration. 45 D. Miller: Immigration, S. 80. 46 D. Miller: Immigration, S. 82, 83. 47 D. Miller: Immigration, S. 88, 90. 48 D. Miller Einwanderung, S. 56

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Freiheit durch die Unterscheidung zwischen „bloßen Freiheiten“ und „grundlegenden Freiheiten“ gestützt werden.49 Während letztere ein Recht begründen, gilt dies für erstere nicht. „Worauf Menschen legitimerweise einen Anspruch erheben können, ist der Zugang zu einem angemessenen Angebot an Optionen“, die, wie Miller meint, „heute alle Staaten“ bieten.50 Miller erklärt Ausschluss zum zentralen Merkmal von Nationalstaaten (was derzeit tatsächlich der Fall ist), ohne jedoch die Frage zu stellen, ob genau dieser Ausschluss nicht dazu führt, dass Nationen ungerecht sind und also zu fragen, ob Beschränkungen der Bewegungsfreiheit moralisch zu rechtfertigen sind. Tatsächlich bleibt weitgehend unbegründet, warum das Interesse „nationaler Gemeinschaften“ an Einwanderungsbeschränkungen gewichtiger sein sollte als die „Interessen von Einwanderungswilligen“. 51 Zentraler Referenzpunkt liberaler Versionen und der Verteidigung von Ausschlussregelungen ist sicherlich John Rawls Theorie der Gerechtigkeit.52 In dieser vertragstheoretischen Konstruktion von Gerechtigkeitsprinzipien soll in der (hypothetischen) Wahlsituation, dem Urzustand, die Beteiligten hinter dem „veil of ignorance“ gleichsam ‚verschwinden’ – da sie keine Kenntnis ihrer Stellung im gesellschaftlichen Leben, ihrer Interessen etc. haben und sich so auf rationale grundlegende Prinzipien, Grundstrukturen der Gerechtigkeit verständigen. Nun ist dagegen lang schon eingewendet worden, dass dieses Gedankenexperiment bereits durch die Strukturen eines geschlossenen Systems, des Nationalstaats und seiner Grenzen bestimmt ist. Demokratische Gesellschaften werden als „complete and closed social system“ gesehen, in das man mit der Geburt eintritt und mit dem Tode verlässt. Dementsprechend hat die Politik für Territorium und Bevölkerungsgröße Verantwortung zu übernehmen, auch wenn Grenzen sich historischen Zufällen verdanken. Diese Verpflichtung beinhaltet „a qualified right to limit immigration“.53 Nationalstaatliche Grenzen sind ein notwendiges, konstitutives Attribut der politischen Ordnung und Immigration kann eingeschränkt werden „to protect a people’s political culture and its constitutional principles“. 54 Nationalstaaten werden zum Container homogen gedachter (politischer) Kultur. Gleichzeitig befürwortet Rawls ökonomische Hilfspflichten, fordert „to assist burdened societies“. 55 Wirtschaftliche Hilfe dient also vordinglich der Abwehr

49 D. Miller: Einwanderung, S. 49; Cassee: Bewegungsfreiheit, S. 138. 50 D. Miller: Einwanderung, S. 51. 51 A. Cassee: Bewegungsfreiheit, S. 147, 148. 52 J. Rawls: Theorie und J. Rawls: Laws. 53 J. Rawls: Laws, S. 38-9. 54 J. Rawls: Laws, S. 39. 55 J. Rawls: Laws, S. 105-113.

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unerwünschter Mobilität und, was noch gewichtiger ist, diese Argumentation spielt die individuelle Freiheit eines autonomen Individuums gegen das Recht einer autonomen politischen Gemeinschaft aus, diese zu verhindern und wiederholt damit die Spannung zwischen individueller und kollektiver Autonomie.56 Auch Joseph Carens Klassiker des Plädoyers für offene Grenzen, hat sich mit John Rawls auseinandergesetzt und liest Rawls gegen Rawls: „I want to claim that many of the reasons that make the original position useful in thinking about questions of justice within a given society also make it useful for thinking about justice across different societies“.57 Folgen wir seinem Argument, gibt es drei Einwände: „One of the primary goals of the original position is to minimize the effects of such contingencies upon the distribution of social benefits“ und so ist es erstens,58 moralisch nicht zu rechtfertigen, warum die Kontingenz von Geburt und Abstammung die Privilegien von Staatsbürgerschaft begründen sollten. Zweitens können Restriktionen von Einwanderung nicht mit möglichen geringeren ökonomischen Wohlstand der Staatsbürger begründet werden, müsste doch gezeigt werden können, dass die derzeitigen Bürger sich schlechter stellten als die Immigranten, denen der Aufenthalt verwehrt wird: „But even if this could be established, it would not justify restrictions on immigration because of the priority of liberty. So, the economic concerns of current citizens are essentially rendered irrelevant”.59 Drittens können die möglichen Auswirkungen auf Geschichte und Kultur kein moralisches Gewicht haben, solange die grundlegenden liberalen Werte unangetastet bleiben. Auch die Positionen des Utilitarismus halten genauerer Betrachtung kaum stand. Grundlegendes Prinzip des Utilitarismus ist Nutzen und seine Maximierung. Nun ist einmal ungeklärt, ob damit der Nutzen in Termini von Glück und öffentlicher Wohlfahrt oder in Termini von Präferenzen und/oder Interessen gemeint sein soll. 60 Noch unabhängig davon stellt sich die Frage: Nutzen für wen? Für Einzelne, die ebenso gut von Migranten profitieren könnten wie die Gesamtheit der Bürger? Konsequent gedacht, würde das Nutzenprinzip nicht unbedingt die bereits ansässigen Staatsbürger privilegieren und wie Carens bemerkt: „The gains and losses of aliens would count just as much. Now the dominant view among both classical and neoclassical economists is that the free mobility of capital and labor is

56 H. Friese: Gastfreundschaft, S. 91-92. 57 Carens, Joseph H.: Aliens and Citizens: The Case for Open Borders, in Review of Politics, 49, 2: (1987), S. 251-273, hier S. 255. 58 J. Carens: Aliens, S. 261. 59 J. Carens: Aliens, S. 262. 60 J. Carens: Aliens, S. 263.

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essential to the maximization of overall economic gains. But the free mobility of labor requires open borders. So, despite the fact that the economic costs to current citizens are morally relevant in the utilitarian framework, they would probably not be sufficient to justify restrictions”.61

Auch konsequentialistische Sichtweisen orientieren sich an den möglichen Folgen offener Grenzen für die jeweilige politische Gemeinschaft.62 Während also einmal das Paradox der Demokratie und die prinzipielle Gleichheit an Wert und Recht aller Menschen und ihrer individuellen Freiheit – also das Prinzip von (transnationaler) Freizügigkeit und damit „the case for open borders“ betont werden, 63 so fordert die konsequentialistische Position, die Handeln eben an möglichen Folgen für Kollektive ausrichtet, die Einschränkung von Freizügigkeit, etwa weil offene Grenzen Wohlstand beeinträchtigen oder kulturelle Identität verändern könnten. Zudem, so das Argument, könne es kaum die Pflicht von Staaten sein, die Bürger anderer Staaten aufzunehmen und sei es höchstens eine Aufgabe, die Lebensbedingungen derer zu verbessern, die sich sonst auf den Weg in die Wohlstandsgesellschaften aufmachen. Hilfspflichten bestehen dann bestenfalls darin, die Probleme ‚vor Ort‘ zu lösen und damit auch so zu tun, als ob Europa nicht längst vor Ort gewesen wäre. Nun leidet die konsequentialistische Moral ja nicht nur an dem Mangel, dass Folgen vorherzusehen kaum jemals möglich ist – es sei denn, man verfügte über einen vollständigen Überblick über alle Situationen und das sowohl der vergangenen, der gegenwärtigen als auch der zukünftigen. Zudem unterliegen vermeintliche Folgen dann selbst wieder der (normativen) Bewertung und divergierender Interpretationen. Auch schließen sie historische Kontingenz aus und müssen einen gesetzmäßig abgesicherten Zusammenhang zwischen Ursache und (langfristiger) Wirkung annehmen, was im Hinblick historischer Kontingenz nun tatsächlich mehr als heroisch ist. Individuelle Entscheidung und Handeln werden dann auch an rational choice gebunden und im ökonomischen Paradigma aggregiert. Ökonomie wird zum einzigen Realitätsprinzip. Damit ist das Kalkül von Kosten und Nutzen als universell gedachte Grundlage menschlichen Handelns auserkoren und gilt für das Selbstverhältnis und seine Optimierungsanstrengungen ebenso wie für Governance. Ökonomische Theoriebildung kennt so auch für Mobilität nur mechanische push- und pull-Faktoren.

61 J. Carens: Aliens, S. 263. 62 H. Friese: Flüchtlinge, S. 77-78. 63 J. Carens: Aliens, 2013.

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Auch die normative Beurteilung von Mobilitätspolitiken nach den Kriterien der von Max Weber als „gesinnungsethisch“ oder „verantwortungsethisch“ bezeichneten Maximen ethisch orientierten Handelns, wie sie etwa von Konrad Ott verteidigt werden, nehmen Begründungsfiguren konsequentialistischer Moral auf, orientiert sich verantwortungsethisches Handeln doch an den „(voraussehbaren) Folgen“ und hat für diese „aufzukommen“. 64 Wir haben diese Sicht eben auch schon im populären Diskurs gesehen. Warum, so bleibt zu fragen, beunruhigt sich ein Verantwortungsethiker jedoch nicht durch die Frage, dass er/sie die Folgen der Abschottung zu tragen hat? Nun leidet diese Argumentation nicht nur daran, dass den als gesinnungsethisch Markierten (grünlinken Akademikern) vorgeworfen wird, im Verein mit Schleppern und Bildern von Refugees Welcome Migranten anzulocken, somit die „Ursache für Migration“ zu bilden und political correctness zu praktizieren.65 Die vielen Fremden schüren, so die Argumentation, dann Fremdenhass und Rassismus, gefährden den „inneren Frieden“, der Verantwortungsethikern ein „hohes Rechtsgut“ ist und zudem steigern Zuwanderer den ökologischen „Ressourcenverbrauch in den Aufnahmeländern“.66 Auch eine solche Sichtweise haben wir eben im populären Diskurs gesehen. Nun kann man ja – und das auch als Verantwortungsethiker – einwenden, warum die Ankunft von ‚Fremden‘ nicht als Chance gesehen wird, verkrustete gesellschaftliche Verhältnisse zu reformieren und damit zugleich den Nutzen aller zu mehren, anstatt den Status quo als ewig, unveränderbar und richtig zu sehen. Das Problem der Argumentation ist nicht nur, dass sie sich weitgehend auf Befürchtungen stützt, die zu Fakten umgedeutet werden und vor allem eines deutlich machen sollen: Migranten sind eine zu vermeidende gesellschaftliche Last und ihre Beschränkung also legitimierbar. Vor dieser treten zudem die Gültigkeit des Rechts und internationaler Konventionen zurück, sie werden zugunsten von vermeintlich ‚pragmatischen’ Lösungen gegen die „Völkerwanderung“ 67 aufgegeben und damit soll eigentlich nur eines gesichert werden: Ein als angestammt erachtetes Privileg, das in diesem Kontext ja nicht zufällig an die postkoloniale Situation und Rassismus gebunden ist. Deutlich wird eine dezidiert eurozentrische Sicht, in der die Ansprüche und Rechte anderer nicht zählen, wenn Migration als

64 Weber, Max Politik als Beruf. Vortrag, in Gesammelte politische Schriften, Tübingen: Mohr 1988 [1919] (http://www.zeno.org/Soziologie/M/Weber,+Max/Schriften+zur+ Politik/Politik+als+Beruf#F3290, 15.8.2018). 65 Ott, Konrad: Zuwanderung und Moral, Stuttgart: Reclam 2016, S. 18, 14, 30. 66 K. Ott: Zuwanderung, S. 67, 69-71. Hier wird der Topos vom Fremden als Parasiten aufgenommen. Vgl. H. Friese: Flüchtlinge, S. 35-36. 67 K. Ott: Zuwanderung, S. 67-69.

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– vermeintliche – Last für den privilegierten Teil der Menschheit gesehen wird. Diese Sichtweise offenbart zugleich Formen des Othering, die sich orientalistischer Imagination bedient: „Man stelle sich folgende Entscheidungssituation vor: Das Oberhaupt eines orientalischen oder afrikanischen Familienverbandes trifft wie traditionell üblich sämtliche ökonomischen Investitionsentscheidungen [...]. Die Matriarchin möchte Vermögen und Wohlergehen ihres Familienverbandes maximieren [...]. Die letzte Entscheidung ist eine rationale PortfolioEntscheidung“,

so weiß Ott aus dem ‚Orient‘ und aus ‚Afrika‘ zu berichten.68 Der phantasievollen Schilderung der die afrikanische ‚Matriarchin‘ angeblich beherrschenden Handlungslogik folgt der Vorschlag zur Eindämmung der Anwesenheit von persons of color auf dem europäischen Kontinent auf dem Fuße: Durch Rückführungsabkommen mit den Eliten Afrikas soll das Risiko „ökonomischen Fehlschlags“ erhöht werden und schon wird die afrikanische ‚Matriarchin‘ in „Zukunft verstärkt im Inland investieren“, was für alle „besser“ wäre, schon im Hinblick auf den Braindrain und die lokale Vorhaltung „reformerischer Kräfte“ –69 ein Echo der eben schon gesehenen Anweisung, doch die ‚Heimat aufzubauen‘. Koloniale Vorstellungswelt trifft auf imaginäre Ethnographie des unheimlichen, schwarzen Kontinents und auf (vermeintliche) Verantwortungsethik.70 Die ökonomistische Aggregierung individueller Lebensentwürfe – und das ist der entscheidenden Punkt – negiert einem Gutteil der Menschheit Autonomie und schneidet sie von einer Freiheit ab, die offenbar nur von dem privilegierten und weißen Teil der Menschheit in Anspruch genommen werden soll. Warum dem Einzelnen – der immer nur ein Leben hat – nun Kollektivansprüchen (etwa seine Energien für das ‚eigene Land’ einzusetzen und/oder sich gar mit einem diktatorischen Regime zu identifizieren) Genüge zu tragen hätte ist ebenso unklar, warum es einem Individuum zugemutet werden sollte, in einer der Diktaturen der Welt sich festhalten zu lassen, anstatt sein/ihr Leben in die Hand zu nehmen und vor den Umständen zu fliehen. Warum nun ausgerechnet der Nationalstaat die Probleme lösen sollte, die seine Etablierung erst geschaffen haben, bleibt ebenso undeutlich wie sie die Frage nach globaler Gerechtigkeit beantwortet oder das Paradox der Demokratie auch nur gesehen wird. Otts Auseinandersetzung mit gesinnungsethischen und verantwortungsethischen Argumenten gerät damit zu einer Legitimierung derzeitiger

68 K. Ott: Zuwanderung, S. 77. 69 Ebd. 70 H. Friese: Gastfreundschaft, S. 131.

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Umstände. Sie verteidigt – und darauf hat Carens hingewiesen, nichts anderes als bestehende Ungerechtigkeit und feudalähnliches Privileg: „The current restrictions on immigration in Western democracies [...] are not justifiable. Like feudal barriers to mobility, they protect unjust privilege”. 71 Auch die utilitaristische und/oder konsequentialistische Begründungen von Mobilitäts- und Einwanderungsrestriktionen zeigen also Inkonsistenzen oder schwache Begründungen. Dies gilt auch für die kommunitaristische Version, wie sie von Michael Walzer vertreten wird, der sich ja gegen den normativen Individualismus richtet und sich u.a. auf das Recht zur (kulturellen) Selbstbestimmung von Staaten und Nationen beruft, von Kollektiven also, die „auch der politische Ausdruck eines gemeinsamen Lebens und (sehr häufig) einer nationalen ‚Familie‘“ verstanden werden,72 richtet „sich unsere unmittelbar spontane Wohltätigkeit“ doch „eher auf unseren eigenen Freunde und Verwandten“ –73 es wird gleich auf diese Argumentationsfigur zurückzukommen sein. Tatsächlich – und wir haben das eben gesehen – kommen nicht nur liberalegalitäre Positionen wie die von John Rawls in die Verlegenheit, wenn Grenzen „prevent individuals from moving freely, and living, working, and voting in whatever part oft he globe thy see fit“, wenn die Allokation von Gütern an Mitgliedschaft gebunden wird und stillschweigend die moralische Gleichheit von Personen mit der von Staatsbürgern vermengt und die eine durch die andere ersetzt wird.74 Im Kontext eines in Geburt, Herkunft und Verwandtschaftstermini argumentierender Position verwundern das Grenzspektakel und die symbolischen Aktionismen derzeitiger Politiken und populistischer Wallungen dann wenig, die zu reetablieren versuchen, was im Angesicht von Mobilität am modernen Nationalstaat längst seine Unzulänglichkeit erwiesen hat. Das Beharren auf Grenzen und Souveränität im Angesicht „souveräner Impotenz“,75 globalisierter Ökonomien und transnationaler Praktiken von Bürgern lässt die Paradoxien der Demokratie nur umso deutlicher hervortreten.

71 J. Carens: Aliens, S. 270. 72 Walzer, Michael: Mitgliedschaft und Zugehörigkeit, in: Frank Dietrich (Hg.), Ethik der Migration. Philosophische Schlüsseltexte, Berlin: Suhrkamp 2017, S. 29-47, hier S. 4445. 73 M. Walzer: Mitgliedschaft, S. 44. 74 Kymlicka, Will: Territorial Boundaries. A Liberal Egalitarian Perspective, in: David Miller/ Sohail H. Hashimi (Hg.), Boundaries and Justice: Diverse Ethical Questions, Princeton: Princeton UP 2001, S. 249-275, hier S. 249. 75 W. Brown: Grenzen, S. 49.

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Humanität und Sicherheit, so der neue Schlachtruf offizieller Governance von Mobilität, der auch im populären Diskurs aufgenommen wird. An Grenzen läßt man Menschen sterben und sie markieren postkoloniale „Necropolitics“.76 Souveränität wird an diesen Orten ausbuchstabiert,77 Souveränität übersetzt ihre brutale Materialität in Grenzbefestigungen – bereits Hannah Arendt spricht von „polizeilich organisierte[r] Gesetzlosigkeit“:78 „today, it seems, borders are becoming more and more important not as military or economic practices but as spaces and instruments for the policing of a variety of actors, objects and processes whose common denominator is their ‚mobility‘“.79

Die neuen Grenzen richten sich, wie Wendy Brown feststellt, nicht länger „gegen Invasionsarmeen“, sie richten sich „gegen nichtstaatliche transnationale Akteure“. 80 Souveräne Nationalstaaten beherrschen „das Feld der globalen politischen Beziehungen nicht mehr exklusiv“ und sie haben auch „kein Monopol auf viele der es strukturierenden Mächte mehr“.81 Statt „Ausdruck einer wiederauflebenden Souveränität des Nationalstaats sind die neuen Mauern Ikonen seines Untergangs“.82 Mauern, so zeigt Brown nachdrücklich, haben eine ikonisch-theatralische Position, die sich aus der „Erosion staatlicher Souveränität und nationalstaatlicher Einheit“ speisen, und die „die psychischen, politischen wirtschaftlichen und kulturellen Leben sowohl der Nationen als auch ihrer Subjekte durchfluten“. 83 Tatsächlich konstituieren sich Alltagssubjektivitäten durch Forderungen nach Grenzen, die Kontrolle, Übersicht, Einheit und homogene Identität sichern sollen. Die neuen Grenzen tragen damit zu nichts anderem als zur Aufrechterhaltung eines obsoleten Schauspiels der „Aufrechterhaltung von Souveränität“ bei.84 Sie inszenieren in Raum und Zeit eine im Zuge neoliberaler Globalisierung tatsächlich verloren gegangene Souveränität, sie stützen und mobilisieren Nationalismen und

76 Mbembé, Joseph-Achille: Necropolitics, in Public Culture, 15, 1, 2003, S. 11-40. 77 S. Benhabib: Rights. 78 H. Arendt: Elemente, S. 599. 79 Walters, William: Border/Control, in European Journal of Social Theory, 9, 2, 2006, S. 187-203, hier S. 188. 80 W. Brown: Mauern, S. 41. 81 W. Brown: Mauern, S. 46. 82 Ebd. 83 W. Brown: Mauern, S. 135. 84 W. Brown: Mauern, S. 148.

Mobilität, Grenzen und das Paradox der Demokratie | 103

Xenophobie. Sie sind auch an Entwicklungen gebunden, in denen die Erosion staatlicher Souveränität mit der „bedrohten Souveränität des Subjekts“ eng verknüpft ist,85 sollte im liberalen Verständnis politische Souveränität doch die „Souveränität des Subjekts“ sicherstellen und vergrößern. 86 In der Spätmoderne, so kommt sie zu dem Schluss, löst sich auch Carl Schmitts Fassung des Politischen auf: War souverän der „‚der über den Ausnahmezustand entscheidet‘“, das Politische an die Unterscheidung von Freund und Feind gebunden, so „beherrscht oder begrenzt“ Souveränität nicht länger das Politische oder die Ökonomie. 87 Doch nicht nur globale Waren- und Finanzströme, auch und gerade transnationale Praktiken tragen zur alltäglichen Erosion nationalstaatlicher Grenzen und vermeintlich stabiler und eindeutiger Identitäten bei, eine Entwicklung, auf die u.a. auch Zygmunt Baumann lang schon aufmerksam gemacht hat. 88 Die Grenzspektakel im Mittelmeer, dem ‚besorgten‘ Bürger algorithmisch getrimmt auf facebookseite, twitter-account oder Zeit Online gespült, induzieren den vielfach angerufenen ‚Kontrollverlust‘ und lassen nach Souveränität, Ordnung, Kontrolle und Grenze rufen. Doch sie können bestenfalls als Pharmakon dienen, das verheißt, was an nationalstaatlicher ‚Ordnung‘ lang verloren ist. Das Grenzspektakel und seine Akteure sollen dem imaginierten Schutz vor unerwünschter Mobilität, vor Migranten dienen – den Wiedergängern des Kolonialismus und dem Alptraum des privilegierten Bürgers und seiner Furcht, ebenso zum gehassten ‚Wirtschaftsflüchtling‘ zu werden.89 Grenzen sollen einhegen, was an Macht, Dezision und Autonomie längst erodiert ist. Zugleich scheitern die neuen Mauern an ihren Aufgaben. Weder lassen sich Souveränität und ihre Insignien wiederherstellen, noch lassen sich diejenigen aufhalten, die das Privileg auf Mobilität untergraben. Grenzen sind materialisierter Teil des Paradoxes der Demokratie und ihrer antidemokratischen Grundlage, sie verweisen auf die Spannungen des Begriffes von Souveränität und damit des Nationalstaates.

85 W. Brown: Mauern, S. 127. 86 Ebd. 87 W. Brown: Mauern, S. 133-134. 88 Bauman, Zygmunt: Die Angst vor den anderen. Ein Essay über Migration und Panikmache, Berlin: Suhrkamp 2016, S. 62-67. 89 Bauman, Zygmunt: »Tourists and Vagabonds«, in: Globalization. The Human Consequences, New York: Columbia UP 1988, S. 77-103.

Umkämpfte Zeitlichkeiten Temporale Bedingungen und Effekte des Regierens von Flucht und Geflüchteten vor Ort Philipp Schäfer

Die Praktiken und Politiken des Regierens von Migration sind in erheblichem Maße verzeitlicht wie verzeitlichend. Dies möchte ich zu Beginn dieses Textes anhand einer Begegnung im Winter 2015 verdeutlichen. Beim Besuch einer behelfsmäßig zur Notunterbringung von etwa 200 asylsuchenden Personen hergerichteten ehemaligen Leipziger Schule lernte ich den jungen syrischen Wirtschaftsstudenten Rafik kennen.1 Wie hunderttausend andere hatte der Endzwanziger zuerst das Ägäische Meer zwischen der Türkei und Griechenland in einem Schlauchboot durchquert, um seinen Weg dann, von nationalen wie europäischen Identifizierungssystemen nicht erfasst, entlang der Balkan-Route Richtung Westund Nordeuropa fortzusetzen. „I have never given any fingerprints“, so erklärte mir Rafik im Gespräch, „because I know it will slow my procedure for me, the paper, even in Greece.“2 In Wien bestiegen er und seine Begleiter*innen einen

1

Die folgenden Ausführungen basieren auf einer mehrjährigen Forschungsarbeit zur Aufnahme und Unterbringung Geflüchteter im lokalen Migrationsregime Leipzigs. Die im Rahmen der Forschung durch Interviews, teilnehmende Beobachtungen und Dokumentenanalysen gewonnenen Daten wertete ich mit Hilfe der Grounded Theory-Methodologie aus und führte sie zu Konzepten und Kategorien zusammen (vgl. Strauss, Anselm L./Corbin, Juliet: Basics of Qualitative Research. Grounded Theory Procedures and Techniques, Newbury Park: Sage 1990). Das in diesem Aufsatz beispielhaft zur Explikation meiner analytischen Überlegungen herangezogene Datenmaterial sowie die angeführten Namen sind dabei – soweit möglich und von meinen Gesprächspartner*innen erwünscht – anonymisiert.

2

Interview mit Rafik, 03.12.2015.

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Zug, der sie nach Deutschland bringen sollte. In München angekommen, wurden sie von der Polizei aufgegriffen, einer Gesundheitsuntersuchung unterzogen und Rafik in einer provisorischen Erstaufnahmeeinrichtung untergebracht. Mit seiner Ankunft in Deutschland und der Registrierung durch die Bundesbehörden änderte sich die Dynamik seiner Flucht. Während Rafik, seine Begleiter und so viele andere im Sommer des Jahres 2015 in einem „Akt der kollektiven Mobilität“3 noch ihr Schicksal in die Hand genommen und europäische Grenzen überwunden hatten, sahen sie sich nun in ein Verfahren verstrickt, das sie zwar kaum durchschauen konnten, dessen Abläufe dem neuen Alltag in Deutschland jedoch seinen spezifischen Rhythmus geben sollten. Im weiteren Gesprächsverlauf schilderte mir Rafik die Tage und Wochen in einer vom Freistaat Sachsen im Spätsommer 2015 in der Sporthalle der Universität Leipzig eingerichteten interimsmäßigen Landeserstaufnahmeeinrichtung. Seine Schilderungen zeichneten das Bild eines vom Warten auf Informationen, auf den nächsten Verfahrensschritt und auf die Weiterverteilung an eine kommunale Unterkunft geprägten Alltags. „One of the things that when people arrive to this camp, most of them feel disappointed because they have different points, a different idea about Germany, you know? Like when you arrive in Germany you will have a house, you will have a school and then you have a job and so everything is perfect. And it is like this, but it has a long, it needs a lot of long time, you know?”4

Immer wieder gerieten die temporalen Horizonte der Geflüchteten, auf die Rafik an den verschiedenen Stationen seiner Flucht nach Europa traf, in Konflikt mit der Zeitlichkeit des Aufnahme- und Asylverfahrens. Während Rafik für sich beanspruchte, geduldig auf die nächsten Schritte gewartet zu haben, beobachtete er bei vielen anderen Ungeduld, Langeweile und Frustration. All ihre Erwartungen und die Zeiträume, innerhalb derer sie diese zu realisieren im Stande sein glaubten, wurden durch einen Zustand der akuten Fremdbestimmung strapaziert. Räumlich vermittelt wird diese Differenz im obigen Interviewausschnitt in der Vorstellung eines eigenen Hauses, das Geflüchtete in Deutschland erwarte, und der erzwungenen Massenunterbringung in einer Landeserstaufnahmeeinrichtung. Die Gemeinschafts-, Not- und Interimsunterkünfte, in denen Geflüchtete der Aufnahme oder dem weiteren Verlauf ihrer Verfahren harren, werden so zum Schauplatz einer

3

Tsianos, Vassilis/Kasparek, Bernd: »Zur Krise des europäischen Grenzregimes: eine regimetheoretische Annäherung«, in: Widersprüche 4 (2015), S. 8-22, hier S. 9.

4

Interview mit Rafik, 03.12.2015.

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verdichteten Erfahrung gedehnter, heteronomer Zeit. 5 Elena Fontanari hat für diese Orte den Begriff der threshold, der Schwelle, vorgeschlagen.6 Indem solche Schwellenorte die turbulenten Bewegungen der Migration zumindest temporär unterbrechen, entschleunigen sie diese und machen sie so regierbar. Diese einführenden Überlegungen zeigen, dass die Praktiken der Migration selbst sowie die Versuche ihrer Kontrolle in besonderer Weise temporal dimensionalisiert sind. Sie verlaufen in unterschiedlichen Geschwindigkeiten und sind durch verschiedene Periodizitäten segmentiert, nehmen multiple Trajektorien an und unterliegen spezifischen Rhythmen. Dabei steht die gelebte und turbulente Zeit der Migration mit der zähen, kontrollierten Zeit staatlicher Verfahren in einem permanenten Konfliktverhältnis, das auf der Gleichzeitigkeit zweier unterschiedlicher temporaler Eigendynamiken beruht. Aufbauend auf meinen Forschungen über die Aushandlung und (Ko-)Produktion von Flucht und Geflüchteten im lokalen Migrationsregime Leipzigs gehe ich an dieser Stelle den temporalen Bedingungen und Effekten der Regierung von Migration vor Ort auf den Grund. Diesen Erkundungen stelle ich im Folgenden zunächst einige theoretische Bemerkungen voran.

EINIGE VORÜBERLEGUNGEN ZUR UMKÄMPFTEN ZEITLICHKEIT DER REGIERUNG VON MIGRATION Zwar ist die Fülle der in der Migrationsforschung diskutierten empirischen Phänomene mit offensichtlichem Zeitbezug groß, zeittheoretische Überlegungen haben jedoch auch im so betitelten „Zeitalter der Migration“ 7 nur wenig Eingang in die betreffenden Fachdebatten gefunden. Diesen Befund bestätigen die Migrationsforscher*innen Melanie Griffiths, Ali Rogers und Bridget Anderson und fügen hinzu, dass es Beiträgen der Migrationsforschung bisher ebenso wenig gelungen sei, zeittheoretische Debatten entscheidend zu befruchten.8

5

Vgl. Kobelinsky, Carolina: »Le temps dilaté, l’espace rétréci«, in: Terrain 63 (2014), S. 22-37.

6

Vgl. Fontanari, Elena: »Confined to the Threshold«, in: City 5 (2015), S. 714-726.

7

Vgl. Castles, Stephen/de Haas, Hein/Miller, Mark J.: The Age of Migration. International Population Movements in the Modern World, New York: Guilford Press 2013.

8

Vgl. Griffiths, Melanie/Rogers, Ali/Anderson, Bridget: »Migration, Time and Temporalities: Review and Prospect«, in: COMPAS Research Resource Paper 2013, siehe https://www.compas.ox.ac.uk/2013/migration-time-and-temporalities-review-and-pro spect/, S. 1.

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Diese mangelnde Theoretisierung erstaunt nicht zuletzt daher, da Zeit seit jeher zwar ein umstrittener, jedoch zentraler Gegenstand sozialtheoretischer Unternehmungen ist. Aus der Gesamtheit der vielfältigen und komplexen zeittheoretischen Überlegungen erweisen sich für die hier eingenommene Perspektive vor allem zwei Befunde als hilfreich, nämlich die, dass Zeit stets im Plural zu denken ist und Zeiterfahrungen sozial hergestellt sind.9 Bereits frühe soziologische und anthropologische Arbeiten brechen mit der Vorstellung, dass Zeit einen universellen Charakter besitze..10 In ihrem wegweisenden Aufsatz Social Time. A Methodological and Functional Analysis stellen Pitirim A. Sorokin und Robert K. Merton der kontinuierlichen astronomischen, ontologisch vorausgesetzten Zeit eine mitunter konflikthafte Pluralität verschiedener diskontinuierlicher Zeitlichkeiten gegenüber. 11 Insbesondere wissenssoziologisch und phänomenologisch informierte Überlegungen wie die Alfred Schütz’ und Thomas Luckmanns zur Zeitlichen Struktur der alltäglichen Lebenswelt betonen im Anschluss daran die soziale Konstruiertheit von Zeit.12 Sie zeigen, dass individuelle wie kollektive Zeiterfahrungen über lange Aushandlungsprozesse sozial hergestellt und stabilisiert werden und eröffnen so Möglichkeiten zur kulturvergleichenden Analyse unterschiedlicher temporaler Modalitäten. Ohne die sozialtheoretische Debatte an dieser Stelle zu vertiefen, lässt sich feststellen, dass die Migrationsforschung von einer Integration sozialtheoretischer Perspektiven auf Zeit nur profitieren kann. Umgekehrt können auch Ansätze einer

9

Einen besseren Überblick über zeittheoretische Debatten in der Soziologie bieten Barbara Adam und Armin Nassehi (vgl. Adam, Barbara: Time and Social Theory, Cambridge: Polity Press 1994; Nassehi, Armin: Die Zeit der Gesellschaft. Auf dem Weg zu einer soziologischen Theorie der Zeit. Neuauflage mit einem Beitrag »Gegenwarten«, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2008). Zum Stand zeittheoretischer Überlegungen in der Kulturanthropologie vgl. Munn, Nancy: »The Cultural Anthropology of Time. A Critical Essay«, in: Annual Review of Anthropology 21 (1992), S. 93-123.

10 Vgl. Durkheim, Émile: Die elementaren Formen religiösen Lebens. Das totemistische System in Australien, Frankfurt a.M./Leipzig: Verlag der Weltreligionen 2010 (1912); Mauss, Marcel/Hubert, Henri: »Étude sommaire de la représentation du temps dans la religion et dans la magie«, in: Dies., Mélanges d’histoire des religions, Paris: Librairie Félix Alcan 1929, S. 189-229. 11 Vgl. Sorokin, Pitirim A./Merton, Robert K.: »Social Time. A Methodological and Functional Analysis«, in: American Journal of Sociology 5 (1937), S. 615-629. 12 Vgl. Schütz, Alfred/Luckmann, Thomas: Strukturen der Lebenswelt, Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft 2003.

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neueren Migrationsforschung, deren Fokus auf der Emergenz und (Ko-)Produktion der Regierung von Migration liegt, sozialtheoretische Debatten über Zeit bereichern. Vor allem die Migrations- und Grenzregimeperspektive erweist sich als geeignet, nicht nur zu einem besseren Verständnis der „temporalen Ökonomien“13 des Regierens von Flucht und Geflüchteten beizutragen, sondern auch, um die von Griffiths et al. vermisste Brücke zwischen Migrationsforschung und Sozialtheorie der Zeit zu schlagen. Unter dem Eindruck des Kalten Krieges entwickelt, spiegeln die ersten regimetheoretischen Beiträge der 1980er Jahre vor allem sich verschiebende globale politische Kräfteverhältnisse wider. An die Seite staatlicher Akteur*innen, so die Erkenntnis, treten vermehrt nicht-staatliche Akteur*innen zur Kanalisierung internationaler politischer Problemfelder. 14 Mitte der 1990er Jahre greifen Arbeiten der Forschungsgesellschaft Flucht und Migration den Begriff auf und erweiterten ihn um eine normative Dimension.15 In den letzten Jahren erfährt dieser neue Regimebegriff nicht zuletzt in der deutschsprachigen Migrationsforschung verstärkte Aufmerksamkeit. 16 Vor allem aus den Border Studies stammen dabei Versuche, den Begriff methodologisch neu auszuloten und zu verorten. Ethnographische Analysen des europäischen Grenzregimes liefern dazu einen wichtigen methodischen Beitrag. Indem sie ihren Fokus von Grenzen auf Grenzpraktiken verschieben, schaffen sie Raum für ein Verständnis von Migrationsregimen, das auf der (all-)täglichen (Re-)Produktion von Institutionen beruht.17 Migrationsregime sind in dieser Lesart emergente und fluide sozio-politische Ordnungen,

13 Andersson, Ruben: »Time and the Migrant Other. European Border Controls and the Temporal Economics of Illegality«, in: American Anthropologist 4 (2014), S. 795-809. 14 Vgl. Krasner, Stephen D. (Hg.): International Regimes, Ithaca: Cornell University Press 1983. 15 Vgl. Forschungsgesellschaft Flucht und Migration: Polen. Vor den Toren der Festung Europa, Berlin/Göttingen: Schwarze Risse/Rote Straße 1995. 16 Vgl. Transit Migration Forschungsgruppe (Hg.): Turbulente Ränder. Neue Perspektiven auf Migration an den Grenzen Europas, Bielefeld: transcript 2007; Oltmer, Jochen: »Einführung: Europäische Migrationsverhältnisse und Migrationsregime in der Neuzeit«, in: Ute Frevert/Jochen Oltmer (Hg.), Europäische Migrationsregime. Themenheft Geschichte und Gesellschaft, Zeitschrift für historische Sozialwissenschaft, 1 (2009), S. 5-27; Hess, Sabine/Kasparek, Bernd (Hg.): Grenzregime: Diskurse, Praktiken, Institutionen in Europa, Berlin/Hamburg: Assoziation A 2010. 17 Vgl. Hess, Sabine/Tsianos, Vassilis: »Ethnographische Grenzregimeanalyse. Eine Methodologie der Autonomie der Migration, in: Sabine Hess/Bernd Kasparek (Hg.), Grenzregime: Diskurse, Praktiken, Institutionen in Europa, Berlin/Hamburg: Assoziation A 2010, S. 243-264.

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„die in immer wieder zu erneuernde (oder umzuwerfende) institutionelle Kompromisse münden.“18 Die Akteur*innen, die sich an diesen Auseinandersetzungen beteiligen, beziehen ihre Strategien aufeinander, folgen jedoch keiner zentralen, systematischen Logik. Vielmehr müssen Regime als Resultate von „waves after waves of quick fixes to emergencies“19 verstanden werden. Mit der Betonung der Emergenz und Situativität des Regierens von Migration auf der einen Seite, und der Annahme, dass Versuche der Kontrolle von Migration konflikthaften Aushandlungsprozessen unterliegen, öffnet die Regimeperspektive den Blick auf Zeit als Medium, mit dem und durch das gesellschaftliche Konflikte um migrationsbezogene Vielfalt ausgetragen werden. In diesen Debatten werden einerseits spezifische Zeitvorstellungen diskutiert und produziert, andererseits aber auch mittels Zeit verschiedene Ideen von Gesellschaft verhandelt. Machtanalytisch betrachtet ist Zeit hier sowohl Problem als auch Instrument der Regierung von Flucht und Geflüchteten in lokalen Migrationsregimen.20 Auch wenn die vorangegangen Ausführungen aufgrund des hier zur Verfügung stehenden Raumes notwendigerweise überblicksartig bleiben mussten, möchte ich sie dennoch als Einladung und Plädoyer verstanden wissen, zeittheoretische Überlegungen und Ansätze der neueren Migrationsforschung stärker in Dialog zu bringen. Die Kombination sozialtheoretischer Überlegungen zur Pluralität und sozialen Konstruiertheit von Zeit mit Ansätzen der Grenz- und Migrationsregimeforschung bildet den Ausgangspunkt meiner Untersuchung zum Problem der Zeit der Regierung von Migration.

18 Tsianos, Vassilis/Karakayali, Serhat: »Transnational Migration and the Emergence of the European Border Regime: An Ethnographic Analysis«, in: European Journal of Social Theory 3 (2010), S. 373-387, hier S. 14. 19 Sciortino, Giuseppe: »Between Phantoms and Necessary Evils: Some Critical Points in the Study of Irregular Migrations to Western Europe«, in: Anita Böcker/Betty de Hart/Ines Michalowski (Hg.), Migration and the Regulation of Social Integration (= IMIS-Beiträge, Band 24), Osnabrück 2004, S. 17-44, hier S. 32. 20 Simon Noori, geb. Sontowski, führt dafür den Begriff der tempo-politics in die Debatte ein. Noori zeigt, wie das von der EU geplante sogenannte Smart Borders Package Grenzen dadurch zu regieren versucht, indem es die Geschwindigkeit grenzüberschreitender Bewegungen, den Zeitpunkt der Grenzkontrolle sowie die Verweildauer von Drittstaatsangehörigen im Schengen-Raum zum Gegenstand der Regulierungsbemühungen macht (vgl. Sontowski, Simon: »Speed, Timing and Duration: Contested Temporalities, Techno-Political Controversies and the Emergence of the EU’s Smart Border«, in: Journal of Ethnic and Migration Studies 2017. Siehe https://doi.org/10.1080/1369183X. 2017.1401512, S. 2).

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DAS PROBLEM DER ZEIT. VON KONFLIGIERENDEN TEMPORALEN MODALITÄTEN Durch meine Feldforschungen erhielt ich Einblicke in die lokalstaatliche Welt der Asylverwaltung, deren temporale Modalität die des Verfahrens ist. Dies beginnt beim eigentlichen rechtlichen Asylverfahren und setzt sich über den gesamten Prozess der Aufnahme und Unterbringung asylsuchender Personen vor Ort fort. Aus der Innenperspektive dieser Welt gilt in erster Linie: Verfahren benötigen Zeit – und die ist in der Spätmoderne mit ihren komplexen, administrativen Organisationen, so der Systemtheoretiker Niklas Luhmann, knapp geworden. Termine und Fristen bestimmen den Zeithorizont bürokratischer Praxis. Gleichzeitig schultert die in Ressorts, Behörden, Abteilungen und Dezernaten funktional ausdifferenzierte, moderne Verwaltung eine erhebliche Last der Koordination sowie Konsensbildung. Sie gerät in Zeitnot und „muß sich, sollen Aufwand und Leistung gleichbleiben, verlangsamen.“21 Mit anderen Worten: Sie gerät in einen „Selbstlauf“22, wie es einer meiner Gesprächspartner treffend formulierte. Kontinuierlich und methodisch kontrolliert folgt ein Verfahrensschritt auf den anderen, bis das Denk-, Sag- und Machbare soweit eingegrenzt sind, dass das Verfahren einen positiven oder negativen Ausgang findet, oder in ein weiteres Verfahren mündet. Dem langsamen, durch die sachgebundene, regelkonforme und methodische Bearbeitung und Erledigung von Amtsgeschäften rhythmisierten Verfahrensgang stehen auf der anderen Seite die eigendynamischen und insbesondere in den Spätsommermonaten des Jahres 2015 beschleunigten Praktiken der Migration gegenüber. Erinnert sei an dieser Stelle wieder an Rafik, den jungen syrischen Studenten, der sich im Laufe des Jahres 2015 mit Hunderttausenden auf die Flucht machte, um sein Glück in Europa zu suchen und dessen Weg ihn schließlich bis nach Leipzig führte. Eben diese Eigendynamik der Flucht als „Weigerung der Massen, sich regieren zu lassen“23 wurde theoretisch gefasst in den Überlegungen zur Autonomie der Migration.24 Aufbauend auf den Arbeiten der Wirtschafts- und

21 Luhmann, Niklas: Politische Planung. Aufsätze zur Soziologie von Politik und Verwaltung, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 1994, S. 150. 22 Interview mit dem Oberbürgermeister der Stadt, 20.07.2015. 23 Moulier Boutang, Yann: »Europa, Autonomie der Migration, Biopolitik«, in: Marianne Pieper/Thomas Atzert/Serhat Karakayali/Vassilis Tsianos (Hg.), Empire und die biopolitische Wende. Die Internationale Diskussion im Anschluss an Negri und Hardt, Frankfurt am Main: Campus 2007, S. 169-178, hier S. 172. 24 Vgl. Moulier Boutang, Yann: »Interview«, in: Materialien für einen neuen Antiimperialismus 5 (1993), S. 29-56; Mezzadra, Sandro: »The Gaze of Autonomy: Capitalism,

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Politikwissenschaftler Yann Moulier Boutang und Sandro Mezzadra konzipieren Vertreter*innen dieses Ansatzes Migration nicht als abhängige Variable, sondern als eigenständige gesellschaftliche Kraft,25 die in besonderer Weise von den sozialen wie politischen Kämpfen Migrierender dynamisiert wird und sich durch „Momente des Exzesses und der Unkontrollierbarkeit gegenüber staatlichen Praktiken der Regulation und Kontrolle“26 auszeichnet. Den Vorwurf der Romantisierung entkräftend, entwickelt der Soziologe Stephan Scheel ein relationales Konzept der Autonomie der Migration, das „Grenzregime aus der Perspektive der Migration und unter dem Gesichtspunkt ihrer sozialen und politischen Kämpfe betrachtet“27, Autonomie jedoch nicht im Sinne vollkommener Unabhängigkeit missversteht, sondern vielmehr als die „Initiierung einer Konfliktbeziehung zwischen Migration und den Versuchen ihrer Kontrolle.“28 Die Tragweite dieser Konfliktbeziehung für lokale Praktiken und Politiken der Aufnahme und Unterbringung asylsuchender Personen verdeutlicht die folgende Interviewsequenz, die ich dem Gespräch mit einer leitenden Mitarbeiterin des für die Unterbringung und Versorgung Geflüchteter zuständigen Sozialamts der Stadt Leipzig entnommen habe. Darin schildert mir meine Gesprächspartnerin die für die Einholung einer Genehmigung zum Bau einer Unterkunft für asylsuchende Personen notwendigen Schritte: „Ein typisches Beispiel ist für mich: Wir haben noch 2014 schon angefangen noch auch mit anderen weiteren Unterkünften zu planen, also die Containerstandorte, die jetzt endlich fertig werden. Da hatten wir viele Diskussionen mit dem Bauordnungsamt, die ja als Bauaufsicht immer wieder auch sagen, Brandschutz und dies und dies und dies, die tatsächlich, trotzdem es immer schwieriger wurde und wir die Unterkünfte in immer kürzerem Abstand brauchten, haben die gesagt: Nö, die Vorschrift ist so. Ich brauche erst den

Migration and Social Struggles«, in: Vicky Squire (Hg.), The Contested Politics of Mobility. Borderzones and Irregularity, New York/London: Routledge 2011, S. 121-142. 25 Vgl. Bojadžijev, Manuela/Karakayali, Serhat: » Autonomie der Migration. 10 Thesen zu einer Methode«, in: Transit Migration Forschungsgruppe (Hg.), Turbulente Ränder. Neue Perspektiven auf Migration an den Grenzen Europas, Bielefeld: transcript 2007, S. 203-209, hier S. 208. 26 Scheel, Stephan: »Das Konzept der Autonomie der Migration überdenken? Yes, please!«, in: movements. Journal for Critical Migration and Border Regime Studies 2 (2015). Siehe http://movements-journal.org./issues/02.kaempfe/14.scheel--autonomieder-migration.html 27 Ebd. 28 Ebd.

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Brandschutzplaner, dann brauch ich ein Brandschutzkonzept, dann brauch ich einen Brandschutzprüfer und dann brauch ich dies und brauch ich dies und brauch ich dies. Und ich brauche für eine Baugenehmigung drei Monate, wo ich sage: Leute, wir brauchen in 14 Tagen ein Haus, da könnt ihr nicht für die Baugenehmigung dieses Hauses schon ein Vierteljahr brauchen.“29

Die angeführte Interviewsequenz verrät, dass die Zahlen asylsuchender Personen, die der Stadt Leipzig vom Innenministerium des Landes Sachsen zugewiesen und die von den lokalen Unterbringungsbehörden untergebracht werden müssen, bereits 2014 stark stiegen. Zwei Jahre zuvor, im Sommer 2012, hatte der Stadtrat ein neues Wohnkonzept verabschiedet, dass die Unterbringung Geflüchteter in kleinen, dezentral über die Stadt verteilten Unterkünften und schließlich den Bezug des eigenen Wohnraums vorsah.30 Vor dem Hintergrund steigender Zuweisungszahlen verzögerte sich nun die Umsetzung des kurz zuvor beschlossenen Unterbringungskonzepts. Vor allem die Suche nach und Anmietung der dringend benötigten Unterkünfte stellte die zuständigen Unterbringungsbehörden vor erhebliche Herausforderungen. Neben bautechnischen, feuerschutzrechtlichen oder finanziellen Einschränkungen verkomplizierten institutionelle Zuständigkeiten diesen Prozess und zogen ihn weiter in die Länge. Es zeigt sich: Die Institutionen, Prozesse und Akteur*innen des Verfahrens behaupten eine Welt, die auch und vor allem zeitlich von der Welt getrennt ist, die es da zu verwalten gilt. Dies drückt auch Luhmann aus, wenn er schreibt, dass die sachliche Ordnung der Bürokratie im Fortschreiten der Zeit niemals verloren gehen dürfe. 31 In einer solchen Welt braucht die Einholung einer Baugenehmigung drei Monate. Gleichzeitig landet diese durch das Verfahren dynamisierte Welt wiederholt auf dem harten Boden der beschleunigten (post-)migrantischen Realität, in der Menschen sich durch Flucht Mobilität (wieder) massenhaft aneignen. In einer solchen Welt braucht man in 14 Tagen ein Haus. Zeit ist für die an der Regierung von Flucht und Geflüchteten beteiligten Akteur*innen, inklusive der Geflüchteten selbst, auf der einen Seite ein Problem,

29 Interview mit einer Mitarbeiterin des Sozialamts, 18.08.2016. 30 Vgl. Stadt Leipzig: Konzept »Wohnen für Berechtige nach dem Asylbewerberleistungsgesetz in Leipzig« 2012. Auf die mehrjährige, mitunter erhitzte Leipziger Dezentralisierungsdebatte und die lokale Produktion von Asyl gehe ich an anderer Stelle in einem von Sophie Hinger und Andreas Pott mitverfassten Aufsatz ein (vgl. Hinger, Sophie/Schäfer, Philipp/Pott, Andreas: »The Local Production of Asylum«, in: Journal of Refugee Studies 4 (2016), S. 440-463). 31 Vgl. N. Luhmann: Politische Planung, S. 144.

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indem von ihr wahlweise immer zu wenig oder zu viel da ist, oder indem Zeit wahlweise stets zu langsam oder zu schnell vergeht, um die eigenen Projekte voranzubringen (das eigene migrantische Projekt oder die selektive Kontrolle von Mobilität). Auf der anderen Seite dient Zeit den an der Regierung von Flucht und Geflüchteten beteiligten Personen aber auch als Instrument zur Durchsetzung eigener Interessen. Im Kampf um Zeit betreiben sie ein permanentes Spiel aus Beschleunigung und Verzögerung, dem ich mich im Folgenden widmen möchte.

VERZÖGERTE ZEIT Aus der Sicht der oben zitierten Verwaltungsmitarbeiterin verläuft Flucht in arrhythmischen, kontingenten Konjunkturen. Das 2012 verabschiedete Unterbringungskonzept manifestiert diesen Eindruck. Das Konzept klärt auf, dass die Zahl der Leipzig zugewiesenen Geflüchteten im Verlauf der 1990er Jahre kontinuierlich anstieg, über die 2000er jedoch wiederum so stark sank, dass sich im Jahr 2010 im gesamten Stadtgebiet von einst fünf nur noch zwei Gemeinschaftsunterkünfte zur Unterbringung asylsuchender Personen in Betrieb befanden.32 Der dann folgende erneute Anstieg der Zuweisungszahlen stellte die lokale Asylverwaltung vor die Herausforderung, die zahlreichen Neuankömmlinge mit ausreichend Wohnraum zu versorgen. Diesem dynamischen, unregelmäßigen Auf und Ab entgegnen die zuständigen Behörden mit Taktiken und Techniken der Verzögerung – sie lassen warten. Den libanesisch-australischen Anthropologen Ghassan Hage bemühend, stellt Warten für asylsuchende Personen eine existenzielle Kategorie sozialen Lebens dar – Hage stellt dem das situative bzw. soziale Warten gegenüber.33 Auf lange Sicht warten Geflüchtete auf die Beantwortung ihrer Asylverfahren, auf die Erlaubnis zum Ergreifen einer Erwerbsarbeit – auch um durch die Ermöglichung der Flucht angehäufte Schulden zurückzahlen zu können. Auf kurze Sicht sind es vor allem behördliche Öffnungs- und Sprechzeiten, Fristen und Termine zur Antragsstellung, die (Nicht-) Verfügbarkeit amtlicher und anderer Autoritäten oder die durch Arbeitsverbote erzwungene Untätigkeit, die dem Alltag Geflüchteter ihren spezifischen, verzögerten Rhythmus verleihen. Schauplatz des Wartens sind für einen Großteil asylsuchender Personen die Gemeinschaftsunterkünfte, in denen sie mit Beginn ihrer Registrierung zwangsuntergebracht sind. Die Gemeinschaftsunterkunft für Geflüchtete ist Ort der absoluten Konfrontation mit sich selbst. Die

32 Stadt Leipzig: Wohnen für Berechtigte nach dem AsylbLG, S. 5. 33 Hage, Ghassan (Hg.): Waiting, Melbourne: Melbourne University Press 2009.

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Möglichkeiten selbstständigen Gestaltens sind aufgrund von Arbeitsverboten oder Mobilitätsbeschränkungen stark eingeschränkt. Insbesondere die erwachsenen Bewohner*innen, so erklärt mir die Mitarbeiterin einer psychosozialen Betreuungseinrichtung, „haben halt eigentlich meistens gar nix zu tun. Also die haben keinerlei Aufgaben, die können auch nichts gestalten um sich herum, weil sie halt meistens lediglich ein Bett haben.“34 In ihrer 2010 veröffentlichten Studie L’accueil des demandeurs d’asile untersucht die Anthropologin Carolina Kobelinsky die verschiedenen Politiken und Erfahrungen des Wartens in französischen Aufnahmezentren für asylsuchende Personen. Warten, so Kobelinsky, „est incontestablement imposée aux demandeurs d’asile, elle est une réalité quotidienne et une expérience complexe“35 – ihnen unanfechtbar auferlegt, ist Warten für Geflüchtete alltägliche Realität. Langeweile stellt dabei zwar nur eine, jedoch eine besonders dominante Dimension der Erfahrung dar, warten zu müssen.36 Die Beschäftigung mit und in der „temps dilaté“37, der gedehnten Zeit, erweist sich dabei vor allem als Erfahrung von Abwesenheit positiver Attribute: keine Freuden, kein Geschmack, keine Wünsche und Sehnsüchte, kein Interesse. 38

34 Interview mit einer Mitarbeiterin einer psychosozialen Betreuungseinrichtung, 19.07.2016. Auch Katharina Inhetveen stellt in ihrer Analyse der Politischen Ordnung des Flüchtlingslagers fest, dass die dort Lebenden nicht das Handlungsproblem hätten, »sich in einem engen Zeitregime Chancen zur selbstbestimmten Verwendung von Zeit zu sichern. Vielmehr stehen sie vor der Aufgabe, ihre Zeit, ihren Alltag innerhalb der begrenzten Möglichkeiten, die ein Flüchtlingslager bietet, auszufüllen und zu nutzen.« (Inhetveen, Katharina: Die politische Ordnung des Flüchtlingslagers. Akteure – Macht – Organisation. Eine Ethnographie im Südlichen Afrika, Bielefeld: transcript 2010, S. 365). 35 Kobelinsky, Carolina: L’accueil des demandeurs d’asile. Une ethnographie de l’attente, Paris: Éditions du Cygne 2010, S. 244. 36 Ebd., S. 148. 37 Kobelinsky, Carolina: (2014) »Le temps dilaté, l’espace rétréci«, in: Terrain 63 (2014), S. 22-37. 38 C. Kobelinsky: L’accueil des demandeurs d’asile, S. 147f. Nicht zuletzt daher wartete und wartet eine wachsende Zahl Geflüchteter in Leipzig auf den Auszug aus der Gemeinschaftsunterkunft und den Bezug einer eigenen Wohnung. Ihre Bemühungen werden durch den knappen Wohnungsmarkt, Vorurteile auf Vermieter*innenseite sowie, wenn sie noch staatliche Unterstützungsleistungen beziehen, durch ein zwingendes amtliches Prüfverfahren erschwert, mit dem die Angemessenheit des Wohnraums evaluiert werden soll.

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Während das gelangweilte Warten in Gemeinschaftsunterkünften von Kobelinsky lediglich als bürokratischer Effekt diskutiert wird, konzipieren Efthimia Panagiotidis und Vassilis Tsianos die Dehnung beziehungsweise Verzögerung von Zeit als Praxen des Regierens von Migration sowie camps als „Entschleunigungsmaschinen“39. Denn die Kapazität, warten lassen und über die Zeithorizonte anderer Verfügungsgewalt ausüben zu können, macht Warten zur Machtfrage. 40 Die Verzögerung und Entschleunigung der als unkalkulierbar und plötzlich wahrgenommenen Praktiken der Migration ermöglicht den Akteur*innen der lokalen Asylverwaltung, diese Praktiken zumindest temporär stillzustellen und den staatlichen Kontrollanspruch zu behaupten. Doch auch Geflüchtete können Migrationsbürokratien warten lassen und sich so verloren gegangene Zeit- und Handlungsspielräume zurückerobern. Erinnert sei an dieser Stelle an Rafiks erfolgreiche Bemühungen, seine vorzeitige Erfassung durch europäische wie nationale Identitätsfeststellungssysteme zu verhindern – und auch andere Geflüchtete berichteten mir von der geläufigen Grenzpraxis, sich die Fingerkuppen mit chemischen Substanzen zu verätzen, um so die Registrierung durch das EURODACSystem zu verzögern, einem europäischen Fingerabdruckvergleichssystem. Doch auch vor Ort, in Leipzig, lassen Geflüchtete die mit ihrer Verwaltung zuständigen Behörden und street-level bureaucrats 41 immer wieder warten, indem sie ihre Pässe verschwinden lassen, um einer Abschiebung zu entgehen, oder, ganz alltäglich, indem sie nicht zu vereinbarten Termin erscheinen.

BESCHLEUNIGTE ZEIT Die bisherigen Ausführungen haben gezeigt, dass vor allem staatliche Akteur*innen, aber auch Geflüchtete durch Taktiken und Techniken der Verzögerung bestrebt sind, entweder die Eigendynamik der Migration regierbar zu machen, oder sich eben solchen Regierungsversuchen durch Entzug und Manipulation zu entziehen. Der lokalen Asylverwaltung gelingt es dabei in Zeiten sinkender oder konstant bleibender Asylantragszahlen noch leichter, die eigene temporale Modalität

39 Panagiotidis, Efthimia/Tsianos, Vassilis: »Denaturalizing ‚Camps’. Überwachen und Entschleunigen in der Schengener Ägäis-Zone«, in: Transit Migration Forschungsgruppe (Hg.), Turbulente Ränder (2007), S. 82. 40 Göttlich, Andreas: »To Wait and Let Wait. Reflections on the Social Imposition of Time«. In: Schutzian Research 7 (2015), S. 47-64. 41 Lipsky, Michael: Street-Level Bureaucracy: Dilemmas of the Individual in Public Services, New York: Sage 2010.

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gegenüber konkurrierenden temporalen Modalitäten Geflüchteter durchzusetzen. In turbulenten Zeiten droht der ‚normale Verwaltungsablauf‘ jedoch zusammenzubrechen. Als sich Anfang September 2015 tausende Geflüchtete am Budapester Bahnhof Keleti entschieden, nicht mehr länger warten zu wollen, ihr Schicksal selbst in die Hand nahmen und sich auf den Fußweg Richtung Österreich machten, zwang dies die österreichischen wie deutschen Behörden zur kurzfristigen Öffnung ihrer Grenzen.42 Die folgende Kettenreaktion lies auch die Zahl der von der Stadt Leipzig unterzubringenden Geflüchteten stark ansteigen. Im Laufe des Jahres nahm die Stadt 4.230 asylsuchende Personen sowie 680 unbegleitete minderjährige Geflüchtete auf, 62 Prozent davon allein in den Monaten Oktober bis Dezember. 43 Hinzu kam eine schwankende, bis zu vierstellige Zahl an Personen, die in den vom Freistaat in der Stadt neu errichteten Landeserstaufnahmeeinrichtungen untergebracht waren, bevor sie an die Kommunen zur sogenannten Folgeunterbringung verteilt wurden.44 Im von meiner Gesprächspartnerin im Sozialamt so betitelten „sogenannten heißen Herbst 2015“45 wurde das temporale Problem zwischen der prozeduralen Zeit der lokalstaatlichen Asylverwaltung und der Zeit der Migration offensichtlich. Die Differenz zwischen den verschiedenen temporalen Modalitäten war nun so ausgeprägt, dass eine Anpassung der bürokratischen Zeitlichkeiten an die der Migration unausweichlich schien. Ad hoc-Lösungen waren gefragt, wo bisher umständliche Verteilungssysteme und Aufnahmeverfahren die Unterbringung asylsuchender Personen gewährleisten sollten. Aus Dezernaten, Abteilungen und Ressorts wurden Krisenstäbe und Task Forces. Eine dezernatsübergreifende Projektgruppe unterstützte das Leipziger Sozialamt bei der Suche und Anmietung von Unterkünften zur Unterbringung der zahlreichen Neuankömmlinge – „damit das alles schneller geht“46. Erinnert sei an dieser Stelle an den von der Mitarbeiterin des Leipziger Sozialamts kritisierten zeitlichen Abstand zwischen der Entscheidung, ein Gebäude zur Unterbringung Geflüchteter herzurichten und der durch die notwendige Einholung verschiedener Gutachten in die Länge gezogenen faktischen Inbetriebnahme des Objekts. Die pauschale Mittelfreigabe durch den Stadtrat ermöglichte dem

42 Speer, Marc/Kasparek, Bernd: »Of Hope: Ungarn und der lange Sommer der Migration«. http://www.bordermonitoring.eu/ungarn/2015/09/of-hope vom 07.09.2015. 43 Stadt Leipzig: »Aktueller Sachstand und weitere Planungen für die Unterbringung von Geflüchteten in der Zuständigkeit der Stadt Leipzig«, Stand vom 25.10.2016. 44 ter Vehn, Evelyn: »Ernst-Grube-Halle in Leipzig ist keine Flüchtlingsunterkunft mehr: 32 Asylbewerber in Kaserne untergebracht«, in: http://www.lvz.de vom 05.02.2016. 45 Interview mit einer Mitarbeiterin des Sozialamts, 18.08.2016. 46 Ebd.

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Leipziger Oberbürgermeister, Entscheidungen zur Inbetriebnahme von Objekten zur Unterbringung Geflüchteter direkt und ohne vormals notwendige, aber langwierige Entscheidungsfindungsverfahren durchzusetzen. Um der Statik der Verwaltung zu entgehen, musste sie zumindest temporär außer Kraft gesetzt werden. Legitimiert wurde die „Entbürokratisierung“47 des lokalen Asylverwaltungsapparats dabei durch exzeptionalistische Krisen- und Notstandsargumente.48 Diese ermöglichten es den kommunalen Akteur*innen ebenso, bei der Aufnahme und Unterbringung Geflüchteter wieder groß zu denken. Überall in der Stadt eröffneten (und schlossen) mehr oder weniger notdürftig hergerichtete Einrichtungen, die mitunter hunderten von asylsuchenden Personen zumindest vorübergehend eine Bleibe bieten sollten. Immer wieder musste die lokale Asylverwaltung improvisieren, zum Beispiel wenn es um die Unterbringungsstandards in den zahlreichen Provisorien ging. Zur Betreuung der zahlreichen Neuankömmlinge wurde zudem rasch eine Vielzahl schlecht oder gar nicht ausgebildeter Menschen eingestellt, deren Verträge oft auf wenige Monate befristet und deren Arbeitseinsätze an einem Ort häufig nur von kurzer Dauer waren. Auch die an der Aufnahme und Unterbringung Asylsuchender interessierte Öffentlichkeit vergrößerte sich und erhöht den (Zeit-)Druck auf die lokalen Unterbringungsbehörden weiter. Nichtsdestotrotz blieben kostspielige und anderweitig umstrittene Großprojekte wie die Inbetriebnahme von Turn- und Messehallen, ehemaligen Baumärkten, Schulen oder Zeltlagern als provisorische Notunterkünfte insofern leicht zu rechtfertigen, solange die Unvorhersehbarkeit der Ankunft von Geflüchteten und der temporäre Charakter von Massenunterkünften betont wurden.

SCHLUSSBETRACHTUNG Grenzüberschreitende Migration folgt beschleunigten, mithin kontingenten temporalen Rhythmen. In immer kürzeren, nur schwer zu antizipierenden Abständen treiben Katastrophen, Kriege und sonstige Krisen Abertausende in die Flucht – so gesehen in den Jahren 2014 und 2015, als sich unzählige Menschen Richtung Europa aufmachten, um vor allem dem Bürgerkrieg in Syrien zu entfliehen, unter ihnen auch Rafik, den ich zu Beginn des Aufsatzes vorstellte und mit dem dieser Beitrag auch enden soll. Das, was Rafik nach seiner Ankunft und Registrierung in

47 Interview mit dem Oberbürgermeister der Stadt, 20.07.2015. 48 Mountz, Alison/Hiemstra, Nancy: »Chaos and Crisis: Dissecting the Spatiotemporal Logics of Contemporary Migrations and State Practices«, in: Annals of the Association of American Geographers 2 (2014), S. 382-390, hier S. 386.

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München und seiner Weiterverteilung nach Leipzig erlebte, lässt sich am besten als Erfahrung verzögerter Zeit beschreiben. Denn in einer Gegenbewegung zu den beschleunigten und kontingenten Rhythmen, in denen sich Menschen alleine oder kollektiv über Grenzen hinwegsetzen, verlangsamen sich die mit der Regierung dieser Bewegungen betrauten Akteur*innen, Institutionen und Prozesse. Den Praktiken wie Subjekten der Migration nicht nur räumlich, sondern vor allem zeitlich entrückt, lassen sie diese warten. Werden die Geschwindigkeiten, mit denen sich Flüchtende über Ländergrenzen hinweg bewegen, allerdings so hoch, dass der Verwaltungsablauf zusammenzubrechen droht, ist eine Anpassung der Zeit des Verfahrens an die Zeit der Migration unausweichlich: „politics shifts to a ‚muddling through’ […] with temporary and provisional solutions ensuring that issues keep reappearing on the agenda.“49 Der permanenten Gefahr ausgesetzt, anachronistische Entscheidungen zu treffen, stellen die Akteur*innen der lokalen Asylverwaltung Vorläufigkeit auf Dauer. Im Angesicht dessen, dass morgen schon alles anders sein kann, als gestern erwartet, beschleunigen Ausnahmezustandsregelungen wie die pauschale Mittelausschüttung zur Beschaffung von Asylunterkünften den statischen Verwaltungsapparat. Das hier deutlich werdende Wechselspiel aus Verzögerung und Beschleunigung liegt in einem permanenten Konfliktfall begründet, der auf der Gleichzeitigkeit zweier unterschiedlicher temporaler Modalitäten beruht: die Zeitlichkeit der Migration mit ihren unregelmäßigen, kontingenten, mitunter eruptiven Rhythmen auf der einen, und die langsame, regelmäßige Zeitlichkeit des Verfahrens auf der anderen Seite. Indem sich Menschen über Grenzen hinwegsetzen und vor Ort, in ihren mehr oder weniger freiwilligen Destinationen, die verfahrensförmige Bearbeitung ihrer Bewegungen in Gang setzen, gereicht das unrhythmische Verhältnis der Zeit der Migration und der Zeit des Verfahrens den Beteiligten zum Problem. Ich habe im Vorangegangen jedoch auch versucht zu zeigen, wie Zeit für die an der Regierung von Migration beteiligten Akteur*innen nicht nur ein Problem, sondern in Form temporaler Taktiken und Techniken der Verzögerung und Beschleunigung ebenso ein Instrument der Regierung selbst ist. Dabei verspricht insbesondere die Verbindung von Ansätzen der Migrations- und Grenzregimeforschung und ihrem Fokus auf die Ko-Produktion und Emergenz der Regierung von Migration mit sozialtheoretischen Überlegungen zu Multitemporalität und sozialer Konstruiertheit von Zeiterfahrungen, zu einem besseren Verständnis dieses konfliktreichen temporalen Verhältnisses beizutragen.

49 Rosa, Hartmut: »The Speed of Global Flows and the Pace of Democratic Politics«, in: New Political Science 4 (2005), S. 445-459, hier S. 452.

Angekommen? Verortungen im Kontext von Flucht und Vertreibung in der SBZ und DDR Ira Spieker

Zwangsumsiedlungen, Aussiedlungen, Vertreibungen gelten seit Ende des Ersten Weltkrieges als probates Mittel, um Nationalitätenkonflikte zu befrieden – eine Folge der Nationalstaatsidee, die sich in Europa im 19. Jahrhunderts durchsetzte.1 Gegen Ende des Zweiten Weltkrieges bewegten sich geschätzte 20 Millionen Menschen auf den Straßen des Deutschen Reiches: Außer Flüchtlingen und Vertriebenen waren es hauptsächlich ehemalige Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter, Kriegsgefangene, ehemalige KZ-Häftlinge, Ausgebombte sowie Angehörige der Wehrmacht. Etwa vierzehn Millionen Menschen hatten ihre Heimat durch den Zweiten Weltkrieg, durch Flucht und Vertreibung aus den ehemals deutschen Gebieten im östlichen Europa verloren und zogen nun Richtung Westen. Mehr als vier Millionen von ihnen verblieben in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ), der späteren DDR. Eine Million war es allein in Sachsen, etwa ein Viertel der Bevölkerung. Dieses Verhältnis besteht noch heute: Ein Viertel der bundesdeutschen Bevölkerung stammt aus einer Familie, die von Flucht und Vertreibung nach dem Zweiten Weltkrieg betroffen war. Im Folgenden sollen der Umgang mit und die Auswirkungen von diesen Bevölkerungsverschiebungen am Beispiel der Entwicklungen in der SBZ und DDR thematisiert werden, denn in beiden deutschen Staaten manifestierten sich bemerkenswerte Unterschiede. In den Westzonen wurde das Koalitionsverbot für

1

Jan Piskorski nennt das 20. Jahrhundert das Jahrhundert der Vertreibungen: Piskorski, Jan M.: Die Verjagten. Flucht und Vertreibung im Europa des 20. Jahrhunderts, München 2013; vgl. weiterhin Benedict Anderson: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts, Frankfurt/M. 2005.

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Flüchtlinge und Vertriebene bereits 1948 aufgehoben. Die Bildung von Interessenverbänden und Stärkung des politischen Einflusses war eine Folge davon; erinnert sei auch an das Ministerium für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte. Die Forschungslage ist im westlichen Teil Deutschlands recht dicht – mit unterschiedlichen Implikationen und politischen Vorzeichen. Angefangen von der sogenannten Vertriebenen-Volkskunde in der unmittelbaren Nachkriegszeit über einen deutlichen „Einbruch“ in den 1960er/70er-Jahren, als sich das politische Klima allmählich änderte. In den 1970er- und 1980er-Jahren überwog die Auseinandersetzung mit Vertreibung in Bezug auf die Aufrechnung der deutschen Verbrechen, gefolgt von einem Opferdiskurs, einer Selbstviktimisierung der bundesdeutschen Gesellschaft. Nach 1989/90 ist eine deutliche Erweiterung der Perspektiven zu verzeichnen.2 Insbesondere ab 2000 sind verstärkt komparatistische Ansätze zu verzeichnen, verbunden mit einer sukzessiven Annäherung in Bezug auf deutsche, polnische und tschechische Geschichtsnarrative. In der DDR gab es keine vergleichbaren Einrichtungen und Forschungen. Das Thema Flucht und Vertreibung war in der Öffentlichkeit des jungen sozialistischen Staates generell tabu; zu groß war die Furcht vor revanchistischem Gedankengut und Rückkehrwünschen in die „alte Heimat“.3 Spätestens seit der Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze im Jahr 1950 seitens der DDR sollte das Thema aus dem öffentlichen Diskurs verschwinden. Parallel dazu fanden weitere Umdeutungsleistungen statt: Die ehemaligen Feinde waren mittlerweile in der offiziellen Terminologie zu Freunden aus den „sozialistischen Bruderstaaten“ stilisiert.4 Erst seit den 1970er/1980er Jahren entstanden erste Studien über die Umsiedlung und die (gelungene) Integration in der SBZ/DDR. Zudem lag die zeitliche Grenze der Untersuchungen stets im Jahr 1952; zu diesem Zeitpunkt endete die Aktenüberlieferung.5

2

Vgl. etwa die Folgestudie: Köhle-Hezinger, Christel (Hg.): Neue Siedlungen – Neue Fragen. Eine Folgestudie über Heimatvertriebene in Baden-Württemberg – 40 Jahre danach. Ein Projekt des Ludwig-Uhland-Instituts für empirische Kulturwissenschaft der Universität Tübingen, Tübingen 1995.

3

Vgl. beispielsweise Flach, Werner/Kouschil, Christa: Kreuzritter in Trachten. Organisierter Revanchismus und seine Macher, Leipzig/Jena/Berlin 1984.

4

Harnisch, Kerstin: »Lebenswege und Lebenschancen. Biographien aus drei Generationen der DDR-Gesellschaft«, in: Meyer, G./Riegel, G./Strützel, G. (Hg.): Lebensweise und gesellschaftlicher Umbruch in Ostdeutschland, Jena 1992, S. 102–127, hier S. 107.

5

In Anspielung an diese Forschungslücke: Gerald Christopeit: »Verschwiegene vier Millionen. Heimatvertriebene in der Sowjetischen Besatzungszone und der DDR«, in: Jahrbuch für deutsche und osteuropäische Volkskunde 38 (1995), S. 220–251.

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In der SBZ erfolgte die Aufnahme der Flüchtlinge und Vertriebenen vor dem Hintergrund einer umfassenden Transformation des gesellschaftlichen Systems. Aus politischen Gründen sollte den Neuankommenden keine Sonderstellung oder gar ein Opferstatus zugestanden werden. Die forcierte Integration spiegelt sich auch in ihrer Benennung wider: Aus Flüchtlingen und Vertriebenen wurden bereits im Herbst 1945 „Umsiedler“ – ein Begriff, der das Unfreiwillige des Ortswechsels, die Unmöglichkeit der Rückkehr verschleiert. Spezifische Einrichtungen und Institutionen, die Eingliederungs- und Unterstützungsmaßnahmen koordinierten, wurden zwischen 1948 und 1952 bereits wieder aufgelöst. Der Integrationsprozess galt nun als abgeschlossen und sollte sich nicht länger in entsprechenden Verwaltungsvorgängen niederschlagen.6 Die Realität sah jedoch anders aus: Dieses Kapitel der Nachkriegsgeschichte war keinesfalls abgeschlossen, wie das auch die Verarbeitung in Kunst und Literatur zeigte. Die politischen (Um-)Deutungen und inoffiziellen Schweigegebote prägten zwar die öffentliche Wahrnehmung und auch die Formen und Foren des Erinnerns, konnten jedoch das Bedürfnis, zu erzählen und den Erinnerungen einen konsistenten Rahmen zu geben, nicht nachhaltig unterdrücken.

FREMDE – HEIMAT – SACHSEN: FORSCHUNGSFELD UND DESIGN Etwa Dreiviertel aller Flüchtlinge lebte auch in Sachsen zunächst auf dem Land. Hier waren die Lebens- und Arbeitsbedingungen unmittelbar nach Kriegsende wesentlich günstiger als in den zum Teil großflächig zerstörten Städten. Hier gab es noch Unterkünfte sowie Vorräte und die Möglichkeit der Selbstversorgung, wenngleich das natürlich nicht für alle galt. Bis weit in die fünfziger Jahre hinein war der Bezug von Nahrungsmitteln rationiert. In der Landwirtschaft wurden dringend Arbeitskräfte benötigt. Angebot und Bedarf passten jedoch nicht unbedingt zusammen: Viele der Flüchtlinge kamen aus der Stadt und hatten einen Beruf erlernt, der nicht im Entferntesten im Dorf benötigt wurde oder gar Ähnlichkeit hatte mit den Arbeiten, die auf einem Bauernhof anfielen. Um die Verteilung von Arbeitskräften, die Versorgung und Unterbringung so vieler Menschen nach Kriegsende zu sichern und zu optimieren, wurde das sogenannte Neubauernprogramm entwickelt: Möglichst viele kleine Parzellen Land sollten möglichst viele Menschen

6

Ausführlicher hierzu Friedreich, Sönke/Spieker, Ira: »Ausgrenzen und anerkennen. Umsiedlerfamilien in der ländlichen Gesellschaft der SBZ und frühen DDR«, in: Zeitschrift für Volkskunde 109 (2013) 2, S. 205–235.

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ernähren. Die politische und praktische Voraussetzung hierfür bildete die Bodenreform. „Bodenreform“ steht als Sammelbegriff für die großangelegte Umverteilung von Grundbesitz, aber auch von Gebäuden, Maschinen, Vieh und Inventar. Von Herbst 1945 bis 1948 wurden in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) alle diejenigen entschädigungslos enteignet, deren Landbesitz mehr als 100 Hektar umfasste. Außer den Großgrundbesitzern wurden auch vermeintliche und tatsächliche NS-Profiteure enteignet. Die Bodenreform sollte in erster Linie die alten Herrschaftsstrukturen (Großgrundbesitz aus früheren Guts- und Grundherrschaftsverhältnissen) zerstören, die Ernährung der Bevölkerung sichern, aber auch die Eingliederung der Flüchtlinge erleichtern – ihnen dabei helfen, sich in der neuen Heimat zu „erden“. Denn außer landarmen Bauernfamilien und ehemaligen Landarbeiter/innen bildeten Flüchtlinge die größte Gruppe, der Land zugeteilt wurde. Obwohl das Land eigentlich verlost werden sollte, gab es häufig Unregelmäßigkeiten. Flüchtlinge, die nicht an den gewachsenen Dorfstrukturen teilhaben konnten, wurden daher nicht selten benachteiligt. Sowohl die Bodenreform wie auch das Neubauernprogramm folgten der Logik der „antifaschistisch-demokratischen Umwälzung“: Wiederaufbau, Beseitigung der materiellen Notlage und Neuansiedlung waren mit dem Versuch verknüpft, das gesellschaftspolitische System zu festigen – hierfür stand das angestrebte Bündnis zwischen Arbeiterklasse und den nunmehr „werktätigen“ Bauern. Das Konzept Neubauernprogramm hatte jedoch keinen dauerhaften Erfolg. Die Wirtschaftsfähigkeit der Höfe war zumeist nicht gegeben: Es fehlte an Ausstattung, Maschinen und Vieh. Häufig fehlten auch profunde landwirtschaftliche Kenntnisse. Die politischen Intentionen ließen sich ebenfalls nicht erwartungsgemäß umsetzen. Zudem wurde bereits 1952 mit der Kollektivierung begonnen, der Zusammenfassung aller landwirtschaftlichen Betriebe in landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG). Das geschah zunächst freiwillig, bis 1961 wurde dieser Prozess dann unter massivem Druck abgeschlossen. Diese Entwicklung bedeutete für all diejenigen Neubauernfamilien, die sich eine wirtschaftlich erfolgreiche und selbstbestimmte Existenz aufgebaut hatten, einen erneuten Bruch, zeitweise als „zweite Enteignung“ bezeichnet.7 Auf den ersten Blick ergibt sich eine bemerkenswerte Diskrepanz zwischen der kurzen Zeitspanne des Bestehens der Neubauernstellen und der umfassenden Bedeutung, die sie für die Agrargeschichte der DDR, den Strukturwandel der ländlichen Gesellschaft und das „Gesicht“ der Dörfer sowie die staatliche Neuformierung insgesamt hatten und haben. Das wirtschaftliche, soziale und ideologische Konstrukt „Neubauer“ verschwand nicht mit seiner realen Existenz bzw. dem

7

Bretschneider, Uta: »Vom Ich zum Wir«?: Flüchtlinge und Vertriebene als Neubauern in der LPG, Leipzig 2016.

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Abschluss der Kollektivierung. Die Siedlungsstruktur, Hausbauten und Straßennamen in den Dörfern weisen nach wie vor auf die „Neubauernzeit“ hin, und auch im Gedächtnis der Bevölkerung selbst ist der Status „Neubauernfamilie“ oder das Projekt „Neubauernhof“ bis heute verankert. Hier zeigt sich ein folgenreicher Unterschied zwischen beiden deutschen Staaten: Bodenreform und Neubauernprogramm hinterließen ihre Spuren im familiären Gedächtnis und Selbstverständnis, prägten den gesellschaftlichen Transformationsprozess. Die „Landnahme“ – in der Bundesrepublik weder vorgesehen noch möglich – beförderte zum einen die Partizipation am Gemeindeleben am neuen Ort und gewissermaßen die Verwurzelung, zum anderen ist die Ressource Land (bis heute) ein hochgradig emotional besetztes Gut aufgrund der bäuerlicher Arbeits- und Erbpraxis. Auseinandersetzungen um Besitzverhältnisse nach 1989/90 waren daher nicht nur durch die ökonomischen Faktoren bestimmt. Diese Gemeingelage bildete den Ausgangspunkt für unser Forschungsprojekt „Fremde – Heimat – Sachsen“, realisiert am Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde (Dresden).8 Ein Ansatz, der die Schnittmenge Flüchtlinge und Neubauernfamilien fokussiert, analysiert eine Gesellschaftsgruppe, in der sich der soziale Wandel bündelt. Auf diese Weise konnten wir Anpassungsleistungen und Brüche in (generationenübergreifenden) Identitätskonstruktionen sowie Wechselwirkungen zwischen Neu- und Altbürgern am konkreten Beispiel untersuchen und an das Untersuchungsgebiet rückbinden. Durch die unterschiedlichen Zugänge lassen sich zudem Wirkungsweisen und Grenzen staatlicher Einflussnahme identifizieren. Außerdem können die Wahrnehmung von Selbst- und Fremdbildern, der Umgang mit biografischen Verwerfungen sowie Kompensationsstrategien transparent gemacht und Erklärungsangebote für die unterschiedliche Verarbeitung von Verlusterfahrungen definiert werden. Zwei Untersuchungsgebiete standen dabei im Fokus: zum einen das Leipziger Land sowie zum anderen die Oberlausitz – und damit zwei sehr unterschiedlich strukturierte ländliche Regionen. Das stadtnahe Leipziger Land war von der Besitzstruktur durch kleine und mittelgroße Bauerngüter geprägt. Die Oberlausitz grenzt an die polnische sowie die

8

Das Projektteam bestand aus Uta Bretschneider, Sönke Friedreich, Nadine Kulbe, Ursula Schlude und Ira Spieker; das Vorhaben wurde finanziert von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, dem Sächsischen Staatsministerium des Innern sowie dem ISGV. Zu Forschungsdesign und zentralen Ergebnissen sowie weiterführender Literatur s. Spieker, Ira/Friedreich Sönke (Hg.): Fremde – Heimat – Sachsen. Neubauernfamilien in der Nachkriegszeit, Beucha/Markkleeberg 2014 (zugleich Sächsische Landeszentrale für politische Bildung).

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tschechische Republik; die waldreiche und hügelige Region ist gutsherrschaftlich geprägt und hat bis heute einen starken Anteil an sorbischer Bevölkerung. Das Forschungsprojekt war multimethodisch angelegt: Die Datenbasis wurde auf der Grundlage einer Interviewstudie sowie durch eine umfangreiche Recherche in Archiven auf lokaler und auf übergeordneter Ebene erhoben. Das Interviewsample besteht aus Gesprächen mit mehr als 60 Personen, darunter vor allem Einzelinterviews, aber auch Gespräche mit zwei oder mehreren Personen.9 Die Interviewpartner/innen gehören den Jahrgängen 1921 bis 1965 an, d.h. es wurden auch Angehörige der zweiten und dritten Generation befragt. Die Einbeziehung eines derart breiten Altersspektrums folgt der Annahme, dass sich traumatische Erlebnisse, wie sie auch im Kontext von Flucht und Vertreibung bestehen, bis in die dritte Generation fortsetzen. Die Forschungsliteratur der letzten Jahre zu Kriegskindern und Kriegsenkeln trägt dem mittlerweile Rechnung. 10 Die meisten Befragten stammten aus einer Neubauernfamilie, darüber hinaus wurden aber auch Alteingesessene befragt.

VERORTUNGEN: EMOTIONAL, SOZIAL, REAL Sich in der „neuen Heimat“ zu verorten, war ein Prozess, der auf mehreren Ebenen stattfand. Sowohl die Erlebnisse und Erfahrungen wie die Erzählungen in der Retrospektive sind emotional eingebettet.11 Aber auch für die Erhebungssituation und den Interpretationsrahmen spielen unterschiedliche Dimensionen von

9

Die Interviews wurden als Audiodatei sowie als Transkript samt weiteren Unterlagen (wie Fotografien und Dokumente) in das Lebensgeschichtliche Archiv des ISGV eingepflegt (Teilprojekt 45: Neubauernfamilien); der Bestand steht für weitere Forschungen zur Verfügung.

10 Reulecke, Jürgen: »Die wiedergefundene Vergangenheit. Generationelle Aspekte der neueren deutschen Erinnerungskultur«, in: Gansel, Carsten/Zimniak, Paweł (Hg.), Kriegskindheiten und Erinnerungsarbeit. Zur historischen und literarischen Verarbeitung von Krieg und Vertreibung, Bamberg 2012, S. 15–30. Aus der Fülle der Literatur seien die populärwissenschaftlichen »Bestseller« genannt von Bode, Sabine: Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen, Stuttgart 20. Aufl. 2015; dies.: Kriegsenkel: Die Erben der vergessenen Generation, Stuttgart 25. Aufl. 2019. 11 Vgl. Spieker, Ira: »Unfassbares. Narration und Biographie im Kontext von Flucht und Vertreibung«, in: Beitl, Matthias/Schneider, Ingo (Hg.): Emotional turn?! Europäischethnologische Zugänge zu Gefühlen und Gefühlswelten, Wien 2016, S. 107–125.

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emotionalen Konzepten eine Rolle.12 Die Kategorie „Gefühle“ meint sowohl Primäremotionen (z.B. bei der Erhebungssituation), umschreibt vor allem aber Haltungen und Einstellungen, die den erzählten Situationen und Erlebnissen immanent sind oder aber die aus der Retrospektive reflektiert werden. Sie sind also sowohl inkorporiert als auch inskribiert – zwei Zustände, die sich ggf. sogar bedingen oder als Praktiken beeinflussen. In Interviewsituationen und ggf. auch bei der Analyse oder Verwertung von Interview können Emotionen kommunikative Handlungen leiten oder bestimmen. Die Biografien der befragten Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, unterschiedlich zum Beispiel in Hinblick auf Herkunftsgebiet, Alter und sozialen Hintergrund, weisen eine Gemeinsamkeit auf, den „kollektiven historisch-biographischen Bruch“:13 das einschneidende Erlebnis von Flucht oder Vertreibung und den darauf folgenden mühevollen Aufbau einer neuen Existenz. Viele Extremerfahrungen wie Hunger und Kälte, Tod naher Angehöriger, Angst und den Verlust ehemals gültiger Verhaltensnormen teilten sie zwar mit den Alteingesessenen. Die Solidarität bzw. das Verständnis füreinander war trotz des in vielerlei Hinsicht geteilten Schicksals begrenzt. Die sozialen Beziehungen wurden in erster Linie durch Konkurrenz um knappe Ressourcen, durch Misstrauen und Neid geprägt, die in jeweilige Ab- und Ausgrenzungsstrategien mündeten und räumliche ebenso wie soziale und emotionale Verortungen leiten. Ein Beispiel dafür bieten die Konflikte um Wohnraum. Viele Flüchtlinge wurden bei der einheimischen Bevölkerung einquartiert, die ihre Kammern und Stuben zum Teil bereitwillig, zum Teil aber auch erst auf Zwangsanweisung räumten. Die drangvolle Enge sowie die gemeinsame Nutzung von Küchen, Waschküchen und Toiletten stellte eine große Herausforderung für alle Betroffenen dar, weiterhin auch die Bedrohung der eigenen Ressourcen. „In Schönbach, da haben wir bei einem Bauern gewohnt. […] Da hat meine Mutter dann gefragt – wir haben in so einer alten Kammer geschlafen – ob sie uns wenigstens mal bissel

12 Bendix, Regina: »Was über das Auge hinausgeht. Zur Rolle der Sinne in der ethnographischen Forschung«, in: Schweizerisches Archiv für Volkskunde 102 (2006), S. 71– 84; Scheer, Monique: »Emotionspraktiken. Wie man über das Tun an die Gefühle herankommt«, in: Beitl/Schneider (Hg.): Emotional turn?!, S. 15–36 sowie allgemein der dgv-Kongress 2015: Braun, Karl et al. (Hg.): Kulturen der Sinne. Zugänge zur Sensualität der sozialen Welt, Würzburg 2017. 13 Vgl. Engelhardt, Michael v.: »Die Bewältigung von Flucht und Vertreibung. Zum Verhältnis von Lebensgeschichte, Gesellschaftsgeschichte und biographisch-historischer Identität«, in: Endres, Rudolf (Hg.): Bayerns vierter Stamm, Köln 1998, S. 215–251.

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Stroh geben, wo wir drauf schlafen können. Und da hat die Frau gesagt: ‚Und was sollen wir dann unserm Viehzeug geben zum Einstreuen?‘“ (Ernst Wischnowski, * 1939 in Schlesien).14

Hier wird das Wohl des Viehs – ein wertvolles Kapital für die Wirtschaftsfähigkeit eines Hofes – über das Wohl von „Fremden“ gestellt. Solche demütigenden Erfahrungen von Ablehnung kränken auch heute noch. Axel Honneth zufolge basieren soziale Anerkennungssysteme auf drei Säulen: auf rechtlicher Anerkennung, auf sozialer Wertschätzung sowie auf emotionaler Zuwendung.15 In Bezug auf die Situation von Flüchtlingen und Vertriebenen in der unmittelbaren Nachkriegszeit bedeutet das, dass sie zwar sofort und umstandslos als deutsche Staatsbürger anerkannt wurden, die beiden anderen Formen der Anerkennung waren hingegen defizitär oder wurden überhaupt nicht erfüllt. Die Anerkennung als erwünschtes Mitglied der Gesellschaft, als Träger von Kapitalien, von Status, von Wissen auf der menschlich-caritativen Ebene fehlte weitgehend. In Konkurrenzsituationen wie in der Mangelgesellschaft der Nachkriegszeit werden unterschiedliche Strategien von „Etablierten“ und „Außenseitern“ manifest:16 Die stilisierte Konkurrenz oder die vermeintlich niedrigere Stellung in der Rangliste nach dem Vieh sollte die Flüchtlinge – ebenso wie die häufig vorgenommene Etikettierung als Fremde, als Nicht-Deutsche – abwerten und sprach dadurch jedweden Ansprüchen ihre Berechtigung ab. Polarisierungen in „deutsch“ und „nicht-deutsch“, in „fremd“ und „hiesig“, „richtig“ und „falsch“ vollzogen Ausgrenzungen und dienten zugleich als Legitimationsstrategien hierfür. Gefühle motivieren hier soziales Handeln, formieren Gruppenzusammenhänge. Bei der Analyse von Interviewpassagen wird deutlich, welche Bedingungen den Neuanfang erleichterten oder erschwerten und wie eine retrospektive Bewertung der Erlebnisse die Adaption an die aufnehmende Gesellschaft widerspiegelt. Dabei spielen Strategien der Gruppenbildung – der sozialen und emotionalen Verortung – eine wesentliche Rolle. Dem engeren Familienverband kam auch in Bezug auf emotionale Sicherheit die größte Bedeutung zu. Bis die Männer aus der Kriegsgefangenschaft heimkehrten, oblag den Frauen die Verantwortung und Entscheidungsgewalt über alle Lebens- und Arbeitsbereiche. Viele übernahmen auch

14 Die Namen der Interviewpartner/innen sind anonymisiert; die Zitate leicht überarbeitet, d.h. der Schriftsprache angeglichen. 15 Honneth, Axel: Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, Frankfurt/M. 1992, S. 211. 16 Vgl. Elias, Norbert/ Scotson, John L.: Etablierte und Außenseiter, Frankfurt/M. 1993 [1965].

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Bodenreformland und Neubauernstellen, um eine Existenzgrundlage für die Familie zu schaffen – in der Hoffnung darauf, nach der Rückkehr ihrer Ehemänner eine Basis für die gemeinsame Wirtschaft geschaffen zu haben. „Man redet immer von den Eltern, dabei waren die Väter überhaupt nicht anwesend zu der Zeit“, kommentierte Ingrid Weber (* 1936 in Schlesien) diese Situation. Aber auch, wenn der Familienvater aus der Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt war, stellte er nicht unbedingt eine vollwertige Arbeitskraft dar. Denn viele Männer hatten den Krieg versehrt an Leib und Seele überlebt: „Dann hat der Vater hier gesiedelt. Aber die Mutter hat die Hauptarbeit gehabt, weil der Vater den Arm zerschossen hatte. Hat immer noch geeitert und alles und Splitter – das war schlimm“ (Dirk Matuschek, * 1942 in Schlesien). Die folgende Aussage eines Interviewpartners nimmt ebenfalls auf die Funktion Familie Bezug: „Jedenfalls war das Eingewöhnen für uns dadurch so leicht, dass wir ja hier als Familie zusammen blieben.“ Und er fährt fort: „Ich hab‘ beizeiten angefangen, hier im Kirchenchor zu singen und im Posaunenchor zu blasen. Da waren ja auch Alteingesessene bei.“ Diese Information weist aber nicht (nur) auf den Versuch bzw. das Gelingen der „Integration“ hin, sondern leitet über zu den Erfahrungen mit der Gruppe der „Anderen“: „Ja, da hat man schon gemerkt, dass die nicht grade gut auf uns zu sprechen waren. Vor allen Dingen waren die dann – ich will nicht sagen, neidisch, aber die haben sich gewundert, wie das sein kann, dass wir mit nichts herkamen und nun so gut vorankommen. Ja, wir haben uns eben bemüht, und wir haben gewusst, wie man es irgendwie machen kann“ (Georg Leipold, *1934 in Schlesien).

Die Erfahrung von Neid oder zumindest Skepsis wird mit der eigenen Kompetenz erklärt und kompensiert. Die Gruppe der Neuankommenden formierte sich im positiven Sinne als eine von Experten und erfolgreichen Bauern. Dabei spielten die Bedingungen in der Aufnahmegesellschaft eine zentrale Rolle – in diesem Fall die landwirtschaftliche Expertise und die hierarchische Struktur des betreffenden Dorfes, wie auch die Aussage eines anderen Mitgliedes dieses Familienverbandes bestätigt: „Für unsere Familie war es noch besonders schwer, in ein typisches Rittergutsdorf zu kommen. Ein Beispiel: Im Juni sind wir angekommen, es waren noch keine Kartoffeln gesteckt, und die Landbevölkerung, die Beschäftigten vom Rittergut – niemand hatte ihnen gesagt, was zu machen ist. Da ist dann mein Onkel auf den Hof gegangen und hat gesagt: ‚Wir müssen noch Kartoffeln stecken. Wo habt ihr denn Samen?‘ Und dann hat er die Leute

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animiert, dass die noch Kartoffeln stecken gegangen sind“ (Dieter Wollny, *1943 in Schlesien).

Hier fand quasi ein Rollentausch statt: Die Flüchtlinge aus Schlesien hatten ein größeres landwirtschaftliches Fachwissen und übernahmen nun gewissermaßen die Führung. Die selbst vorgenommene Abgrenzung der Gruppe der vermeintlich Ausgegrenzten basierte – den Erzählungen zufolge – auch auf anderen Indikatoren. Das waren beispielsweise Bildung, Lebensstandard sowie Kindererziehung. In diesen Bereichen erkannten die vermeintlichen Statusniedrigeren ihr Potential und konnten sich gegenüber der als „unzivilisiert“ dargestellten Aufnahmegesellschaft positionieren. Zudem reagierten die Flüchtlinge auf Beleidigungen zum Teil ebenfalls mit Abwertungen: „Und dann hieß es eigentlich immer, zu LPGZeiten sowieso […]: ‚Na ja, das sind ja Hergelaufene aus Polen‘, wo [unser] Vater dann gesagt hat: ‚Die sollen ganz stille sein. Die können ja nicht mal ordentlich Deutsch sprechen‘" (Dieter Wollny, * 1943 in Schlesien). Die gegenseitigen Selbst- und Fremdwahrnehmungen widersprachen sich dabei durchaus. Ehemalige (geflüchtete) Bauernfamilien grenzten sich gegenüber früheren ortsansässigen „Hofearbeitern“ ab. Sie nahmen die Dorfbevölkerung, die wiederum die „Fremden“ größtenteils ablehnte und als minderwertig einstufte, als ungebildet und „unzivilisiert“ wahr und mit schlechten Umgangsformen. Auch räumlich wurde eine Trennung vollzogen. Oftmals ließen sich die Neusiedler in eigenen Straßenzügen, Dorfmarken oder gar in einer komplett neu gegründeten Siedlung nieder – eine Praxis, die nicht nur den Bebauungsplänen der Kommunen geschuldet war. Von den Einheimischen wurden diese Neubaugebiete oftmals misstrauisch und teilweise neidisch beäugt – schon allein deswegen, weil durch das staatlich forcierte Neubauernbauprogramm Häuser und Wirtschaftsgebäude entstanden, die alle verfügbaren Baumaterialien banden. Obwohl die Vorgaben strikt waren und lediglich den Bau kleinster Wirtschaftsanlagen genehmigten, die weder ausreichend Raum zum Wohnen noch zum Wirtschaften vorsahen, galten die Bauherren aus Sicht der Einheimischen als begütert: „Schlesier haben sich in D. auf einer Straße, auf dem Feld dann angesiedelt, am Rande des Dorfes. Die hießen dann immer die ‚Neureichen‘ – bis heute“ (Käthe Giesler, * 1940 in Schlesien). Die spöttische Gleichsetzung Neubauern – Neureiche etikettierte Familien, Siedlungsgebiete und Haustypen, die sich deutlich vom bisherigen Dorfbild abhoben. Diese exponierte Lage hatte zwar etwas Abgrenzendes, wurde jedoch auch als eine Art „Sicherheitsabstand“ empfunden, der das Konfliktpotential minimierte. Wohnen und Wirtschaften in einem abgelegenen Baugebiet – oder gar in einer eigens gegründeten Siedlung – bedingte eine relativ vertraute Umgebung, die auch Schutz bot.

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Waren es zunächst „Schicksalsgruppen“ wie die Ausgebombten, „Umsiedler“ oder „Frauenfamilien“, über die sich Zugehörigkeiten definierten, sollte später der allgemeine Bildungsanspruch eine egalitäre Grundstruktur garantieren und das humanistische Potential nutzen. Die Statusgrenzen wurden durchlässiger, d.h. die Schichtzugehörigkeit spielte nicht länger die entscheidende Rolle.17 Während das mittlere Lebensalter sich als höchst sensibler Zeitraum in Bezug auf biografische Brüche und deren Folgen erwies, eröffnete sich für Kinder und Jugendliche ein breites Spektrum an Partizipationsmöglichkeiten, die z.T. staatlicherseits gefördert waren. Dazu zählten zum einen Bildungsangebote, die insbesondere für Flüchtlingskinder Aufstiegschancen bereithielten und Anerkennung durch Leistung versprachen. Das Bildungssystem der DDR hatte eine stärkere, tragende Funktion als in der Bundesrepublik: Der mentale Aspekt von Sicherheit und Geborgenheit spielte vor allem für (real oder emotional) „vaterlose” Kriegskinder eine wichtige Rolle in Bezug auf die Loyalität gegenüber dem Staat. Negative Gefühle wie Trauer, Wut und Enttäuschung sollten durch gemeinsame Aktivitäten kompensiert, der Entwurzelung Stabilität entgegengesetzt werden. Die FDJ vermittelte den Jugendlichen das Gefühl von Selbstständigkeit, eigenem Gestaltungspielraum und persönlicher Bedeutung. Die Anerkennung in der Gruppe, als erwünschtes Mitglied einer Gesellschaft war dabei zentral. Die erste FDJ-Generation erlebte die Anfänge der Organisation als relativ frei bestimmt, unbeeinflusst vom Zugriff der Erwachsenen. „Ja, und man war mit Elan dabei. Die Zeit war eben, weil man den Krieg miterlebt hat, also das war eine tolle Zeit, ist wirklich wahr. […] Man hat das mit Spaß und Freude alles gemacht nach dieser schweren Zeit, die vorher war. […] Das ging jedem so. Die waren alle mit Begeisterung dabei“ (Karla Fügmann, * 1937 in Schlesien).

Die Euphorie des Neuanfangs und der Wille zum Wiederaufbau wurden als Gemeinschaftsgefühl generiert und der Apathie und Destruktivität in Krisenzeiten gegenübergestellt. „Also, es war eine Lust: Der Krieg war zu Ende, eine Freude, ein Tatendrang! Alle wollten Friedenszeiten wiederherstellen“ (Else Lohmann, * 1936 in Sachsen). Negative Emotionen wurden ebenso durch gemeinsame

17 Badstübner-Peters, Evemarie: »… aber stehlen konnten sie …« Nachkriegskindheit in der Sowjetischen Besatzungszone, in: Mitteilungen aus der kulturwissenschaftlichen Forschung 16 (1993) 33, S. 233–272, hier S. 244.

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Aktivitäten wie durch ideologische Slogans aufgefangen und transformiert; kindliche „Fröhlichkeit“ gewissermaßen kollektiv verordnet.18

EMOTIONALES FLUCHTGEPÄCK: GENERATIONELLES ERBE Erzählen, das Vermitteln von Erfahrungen, dient der Bewältigung von Erlebnissen, auch der Versöhnung und der Annäherung innerhalb der eigenen Familie. Während jedoch zwischen Eltern und Kindern in den meisten Familien der Generationenkonflikt zu spüren ist und Austausch, Interesse und Nähe verhindern kann, herrschen zwischen Großeltern und Enkelkindern andere Regeln und Kommunikationsstrukturen: Sie sind sozusagen natürliche Verbündete, das Erzählen füllt gewissermaßen den familiären „Traditionsspeicher“. 19 Die Herkunftsgeschichte der Eltern und Großeltern bildet, wie auch ihre Flucht- oder Vertreibungserfahrung, einen mehr oder weniger gewichtigen Identitätsbaustein auch im Selbstbild der Kinder und Enkel. Angehörige der nachfolgenden Generationen (der 1950er- und 1960er-Geburtsjahrgänge) zeigen recht unterschiedlich motivierte Bedürfnisse, sich und ihre Geschichte mit der geografischen Herkunft der Familien in Beziehung zu setzen und damit verschiedene Stränge ihrer individuellen Identität zu entwirren. Der Anlass hierfür kann eine innerfamiliäre Krisensituation bieten, beispielsweise der Tod eines (Groß-)Elternteils oder biografische Veränderungen. Krisen nehmen für die Identitäts(re)konstruktion und ihre Narrationen eine zentrale Rolle ein: Sie sind diskursiver Rahmen und zugleich ein Abstractum, das es erlaubt, Ereignisse nicht nur nachzuerzählen, sondern Zusammenhänge und Verläufe nachzuverfolgen bzw. herzustellen.20 Thomas Balschuweit hat sich als Angehöriger der zweiten Generation intensiv mit der (Familien-)Geschichte auseinandergesetzt. Er ist im Westen Deutschlands aufgewachsen und entwickelte bereits früh ein Gespür für sein „Anderssein“: Die

18 Stürmer, Verena: Kindheitskonzepte in den Fibeln der SBZ/DDR 1945-1990 (Beiträge zur historischen und systematischen Schulbuchforschung), Bad Heilbrunn 2014, S. 157. 19 Lehmann, Albrecht: Reden über Erfahrung. Kulturwissenschaftliche Bewusstseinsanalyse des Erzählens, Berlin 2007, S. 58; Vgl. auch Welzer, Harald: Familiengedächtnis. Über die Weitergabe der deutschen Vergangenheit im intergenerationellen Gespräch, in: WerkstattGeschichte 30 (2001), S. 61–64. 20 Meyer, Carla/Patzel-Mattern, Katja/Jasper-Schenk, Gerrit: Krisengeschichte(n). »›Krise‹ als Leitbegriff und Erzählmuster in kulturwissenschaftlicher Perspektive – eine Einführung«, in: Dies. (Hg.), Krisengeschichte(n). »Krise« als Leitbegriff und Erzählmuster in kulturwissenschaftlicher Perspektive, Stuttgart 2013, S. 9 - 26, hier S. 12.

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Eltern verfügten nicht über Erbstücke wie beispielsweise Möbel aus Familienbesitz, es gab keine nahen Angehörigen in der unmittelbaren Umgebung. Als historisch interessierter und politisch engagierter Jugendlicher stieß er aber auch im linksalternativen Freundeskreis auf Unverständnis und Ablehnung: In der Bundesrepublik der 1970er-Jahre galt die Beschäftigung mit Flucht und Vertreibung als revanchistisch. Das Agieren der Interessenverbände wie des Bundes der Vertriebenen hatte das politische Klima eindeutig geprägt. Thomas Balschuweit schildert das auslösende Moment für sein Interesse an der „Heimat“ der Mutter wie folgt: „‚Zuhause‘ hieß es ja immer. Also ich hab’s immer so mitgehört, muss allerdings sagen, dass ich mich so in die Geschichte erst richtig reingekniet habe, als meine Mutter gestorben ist. Das ist ein bisschen komisch, vorher war das irgendwie so ein bisschen tabu. Ich bin nie mit ihr zusammen nach Schlesien gefahren, und erst nachdem sie dann gestorben ist, sagte ich mir: ‚Jetzt musst du dir das alles ganz genau anschauen.‘ Und dann hab ich erst richtig stark angefangen zu graben, in der eigenen Geschichte und dann auch in der schlesischen Geschichte“ (Thomas Balschuweit, * 1951).

Hier wird sozusagen einer doppelten Fehlstelle begegnet. Erst mit dem Tod der Mutter und dem damit verbundenen Verschwinden der Geschichten, die sie hätte erzählen können, entwickelte Thomas Balschuweit das Bedürfnis, die „Erinnerungsorte“ seiner Mutter aufzusuchen und mehr darüber zu erfahren. In vielen Interviews finden sich Bekundungen des Bedauerns, es versäumt zu haben, die Eltern nach ihren Erlebnissen zu befragen. Die Beschäftigung mit der Familiengeschichte wird sehr bewusst als Teil der eigenen Identitätskonstruktion reflektiert. Das Gefühl, anders zu sein oder nicht ganz dazu zu gehören, teilt auch Susanne Wagner, die als Kind schlesischer Eltern im Leipziger Land aufwuchs. Erstmals im Erwachsenenalter hörte sie von ihren Schwiegereltern, einem alteingesessenen Bauernpaar, den Ausspruch „Die von draußen“. Damit waren die Flüchtlinge und Vertriebenen der Nachkriegszeit gemeint – und zwar noch in den 1970er-Jahren. Susanne Wagner erinnert diese Kränkung bis heute, die sich in die Erzählungen und Erinnerungen ihrer Eltern fügte, vermeintlich „Menschen zweiter Klasse [zu sein] oder halt nicht dazu gehörig“, wie sie es empfand. Weiterhin findet sich bei ihr dieselbe Einschätzung wieder wie bei Thomas Balschuweit – nämlich die Herkunftsgeschichte als Teil der eigenen Geschichte und Teil der eigenen Identität – oder vielmehr die Suche danach. Heimat wird quasi zu einem emotionalen Ort: „Und für mich kommt auch manchmal die Frage: Was ist man denn, wenn die Eltern beide von Schlesien sind? Was ist man, was bin ich denn?“ (Susanne Wagner, * 1953). Diese Position des „dazwischen“ lässt sich mit der Kategorie „in-between“ in Beziehung setzen, die Homi Bhabha für sein Konzept des „Dritten Raumes“ als sowohl

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zeitliche wie räumliche Dimension verwendet hat. Dieser „Dritter Raum“ meint ein Neben-, Mit- und Übereinander verschiedener kultureller Elemente, in dem Differenzen verhandelt werden und das wegen seiner Grenzdimensionen durch Spannungen geprägt ist.21 Für den Prozess der Identitätskonstruktion folgt daraus, dass Identität nicht durch den Bezug zum Ursprung vermeintlicher (kultureller) Wurzeln konstruiert wird, sondern durch das In-Beziehung-Setzen verschiedener Elemente – auch und gerade der Gegenwart. Damit wird nicht der Verlust oder eine Fehlstelle betont, sondern die Produktion einer neuen, individuellen „Mischform“. Hybridität als Resultat von historischen und kulturellen Entwicklungen, von Übersetzung und Transformation beschreibt kein Substitut, sondern etwas Neues und Eigenes. Die Auseinandersetzung der nachfolgenden Generation – häufig durch das Gefühl motiviert – „du bist anders als die anderen“ – findet oftmals sehr aktiv und produktiv statt: Neben dem Engagement in Geschichtsvereinen und der Weiterbildung in Bezug auf das Thema Flucht und Vertreibung ist hier vor allem die Mitarbeit im kommunalen Umfeld zu nennen. Beispielsweise helfen die Angehörigen der nachfolgenden Generationen beim Aufbau von Städtepartnerschaften (zu polnischen oder tschechischen Gemeinden) mit, sie organisieren bzw. vermitteln Wanderausstellungen. Diese Aktivitäten sind Ausdruck einer bewussten und aktiven Aneignung. Das Schaffen von Materialisierungen geht weit über den Akt der Kompensationen hinaus – hierdurch wird gewissermaßen die Deutungshoheit über die familiale Vergangenheit (zurück) erlangt. Die biografischen Verortungen finden im „Dritten Raum“ eine Plattform: Anstelle einer Festschreibung von (kultureller) Identität werden hier plurale Optionen eröffnet. Bei der Positionierung der familialen Geschichte handelt es sich also weder um „Heimat“, noch um „Fremde“, sondern um einen Ort von imaginärer Geografie.

GEGENWÄRTIGES: INTERPRETATIONSMUSTER UND POLITIKEN In Bezug auf Flucht und Vertreibung sowie die Aufnahmegesellschaft bildet Erzählen eine erhebliche psychosoziale Leistung: Denn die biografische Konstruktion der Interviewpartner/innen beinhaltet in den meisten Fällen eine Erzählung von Integration und Toleranz. Erfahrungen von Ablehnung und Ausgrenzung werden zumeist nur kurz thematisiert oder tauchen als Einsprengsel in einer Erfolgsgeschichte auf: „Das waren schwere Zeiten! Wir waren nicht gerade willkommen hier.“ Solche Aussagen werden dann aber oftmals im Verlauf des weiteren

21 Bhaba, Homi: The Location of Culture, London 1994, S. 218.

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Gespräches relativiert: „Also, gut sind wir immer mit den Menschen hier ausgekommen. […] das war bloß, wie wir her kamen, dass da jeder dachte, ‚Na, jetzt kommen noch mehr Leute hierher. Es ist so (schon) kein zu Essen da.‘ Und: ‚Bringen sie noch mehr hierher.‘ Also, das konnte man sich ja manchmal auch vorstellen, wie das den Leuten damals ging“ (Viktoria Arndt, *1925 in Ungarn). Diese verständnisvolle und versöhnliche Grundhaltung wird von erheblichen (Um-)Deutungen getragen. Das Verständnis dieser ehemaligen Flüchtlinge für die erlebten Situationen und Positionen bildet die eigentliche integrative Leistung und war die Voraussetzung für ein möglichst konfliktarmes und konstruktives Zusammenleben. Das giIt auch für den übergeordneten Kontext: Denn in Bezug auf die polnische und tschechische Bevölkerung in der „alten Heimat“ herrscht bei den meisten ebenfalls Empathie vor. Man ist sich bewusst, dass diese Menschen ebenso von Vertreibungen und Umsiedlungen betroffen waren. Dass die Erfahrung, die Heimat verlassen zu müssen, sich im neuen Zuhause fremd zu fühlen und als fremd wahrgenommen zu werden, eine gemeinsame Erfahrung, geteiltes Leid ist. Individuelle Geschichten schaffen so Verständnis für die (Zeit-)Geschichte. Kurz nach dem Abschluss unserer eigentlichen Projektphase eskalierte die weltpolitische Lage: Bewaffnete Konflikte und Hungersnöte zwangen Millionen von Menschen, vor allem aus dem Nahen Osten sowie aus afrikanischen Staaten, ihre Heimat zu verlassen. Die Bundesrepublik Deutschland nahm – zunächst mit eher hilfsbereit gestimmter Bevölkerung – zahlreiche Geflüchtete auf. Zu diesem Zeitpunkt gab es weiterhin Anfragen für Vorträge über Flucht und Vertreibung im Kontext des Zweiten Weltkrieges. Bei der Vorbereitung auf diese Vorträge konnte ich nun autoethnografisch nachvollziehen, dass und wie die wissenschaftliche Auswertung ebenfalls durch sinnlich-emotionale Faktoren geprägt ist sowie durch jeweilige Erkenntnisinteressen und äußere Begleitumstände geleitet. Das betrifft nicht nur das disziplinäre Umfeld (z.B. Wissenschaftsmilieus und Denkkollektive), sondern auch (gesellschafts-)politische Entwicklungen. Denn bei der erneuten Analyse der Interviews, die nun eigentlich in „steriler Textform“ vorlagen, berührten mich die persönlichen Schilderungen und die verhandelten Themen auf einer anderen – assoziativen-emotionalen – Ebene. Textpassagen trafen plötzlich vermeintlich aktuelle Aussagen und schilderten Erlebnisse, die zeitgleich (d.h. 70 Jahre später) durchaus ähnlich formuliert und empfunden wurden und daher eine unmittelbare Präsenz erhielten; sie ließen sich nunmehr in ihren Konsequenzen nachvollziehen. Durch die „Wiederholung“ von erschütternden Erfahrungen fanden die Texte fanden quasi einen anderen Zugang zu mir; Interpretation und Intention wurden durch gegenwärtige Ereignisse geleitet. Denn bestimmte Bilder, Narrative und Metaphern vom „Fremden“ werden tradiert: In den zeitgenössischen Berichten ist, genauso wie in der aktuellen Berichterstattung (und wie

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bereits im 19. Jahrhundert), in Bezug auf Zuwanderungen von einer Schwemme, von Flut usw. die Rede. Fluchtbewegungen werden mit Naturkatastrophen assoziiert und folglich als Bedrohung dargestellt, die es abzuwehren gilt. Diese Prozesse zu veranschaulichen, quasi als Nebeneffekt wissenschaftlichen Erkenntnisinteresses, birgt politisches Potential: Vergleichende Studien mit subjektzentriertem Ansatz brechen die Anonymisierung von Darstellungen auf und können durch die Individualisierung von Lebenswegen für (global-)politische Prozesse sensibilisieren – und dadurch die Behauptungen und Forderungen rechtspopulistischer Protestbewegungen aufgreifen und zugleich argumentativ widerlegen. 22

22 Ein Beispiel hierfür bietet der Beitrag von Bretschneider, Uta: »Bitte flüchten Sie weiter…! Abgewiesene Flüchtlinge heute und nach dem Zweiten Weltkrieg«, in: Bünz, Enno et al. (Hg.): Sachsen: Weltoffen! Mobilität – Fremdheit – Toleranz, Dresden 2016, S. 100–105. Diese populärwissenschaftliche Publikation, gefördert von der Sächsischen Staatsministerin für Integration und Gleichstellung sowie dem Ausländerbeauftragten, hat eine Auflage von 3.000 Exemplaren und wird kostenlos abgegeben.

Räume

„Wir haben schon genug Probleme hier.“ Konflikte um städtische Transformation und den Zuzug von Geflüchteten Jan Lange & Manuel Liebig

Mit dem „langen Sommers der Migration“1 ist die Verschränkung der Handlungsfelder der Stadtentwicklung und der kommunalen Migrationspolitik forciert worden.2 Quartieren wird dabei ein hohes Integrationspotential zugeschrieben, demzufolge die jeweiligen Sozialräume angesichts fortschreitender Polarisierung und Differenzierung der Bevölkerung als Kitt für Zusammenhalt und Teilhabe, aber auch für das Zusammenwachsen von bereits Ansässigen und neu Hinzuziehenden mobilisiert werden können. Führt man sich den konkreten Zuzug von Geflüchteten in städtische Quartiere vor Augen, zeichnet sich jedoch jenseits vereinheitlichender Steuerungsintentionen des Staates ein Bild von „Ankunftsquartieren“ ab, welches das gesamte Spektrum von enthemmter rassistischer Gewalt bis hin zur beständigen und mittlerweile teils über solide Strukturen verfügende Willkommenskultur abdeckt.3

1

Hess, Sabine/Kasparek, Bernd/Kron, Stefanie/Rodatz, Mathias/Schwertl, Maria/Sontowski, Simon (Hg.): Der lange Sommer der Migration GRENZREGIME III. Berlin: Assoziation A 2016.

2

Vgl. allgemein zum Wandel städtischer Integrationspolitik u.a. Pütz, Robert/Rodatz, Matthias: »Kommunale Integrations- und Vielfaltskonzepte im Neoliberalismus. Zur strategischen Steuerung von Integration in deutschen Großstädten«, in: Geographische Zeitschrift 101 (2013), S. 166-183.

3

Vgl. u.a. für die beiden Pole Bojadžijev, Manuela/Braun, Katherine/Opratko, Benjamin/Liebig, Manuel: »Rassismusforschung in Deutschland. Prekäre Geschichte, strukturelle Probleme, neue Herausforderungen«, in: Tina Dürr/Reiner Becker (Hg.), Leerstelle Rassismus? Analysen und Handlungsmöglichkeiten nach dem NSU, Frankfurt am

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Die unterschiedlichen Verläufe der Ankunftsepisoden sollen hier als Ausgangspunkt für einige Überlegungen zum Zusammenhang von städtischen Transformationsprozessen und der Ablehnung von Geflüchteten dienen. Wie der Zuzug von Letzteren von bereits Ansässigen gedeutet wird, hängt, so argumentieren wir, wesentlich mit der Wahrnehmung des Viertels durch die Bewohner_innen und der daraus subjektiv abgeleiteten soziokulturellen Position im Gesellschaftsgefüge zusammen.4 Um diesen Nexus aufzuschlüsseln zeichnen wir im Folgenden nach, wie Geflüchtete vor dem Hintergrund quartiersbezogener Transformationsprozesse als verräumlichte Bedrohung entworfen werden. Wir tun dies anhand eigener Forschungen, die wir zwischen Frühjahr und Herbst 2016 im Kosmosviertel, einem Ortsteil Altglienickes im Berliner Bezirk Treptow-Köpenick, durchgeführt haben.5 In diesem lokalen Kontext stießen wir vor dem Hintergrund des angekündigten Zuzugs von Geflüchteten auf zunehmend ablehnende Haltungen und Ängste auf Seiten der Bevölkerung sowie auf einen sich zuspitzenden Konflikt zwischen Anwohnenden, Politiker_innen, Verwaltung, Unterstützenden und den Geflüchteten selbst. In dieser Konfliktsituation kristallisierte sich eine

Main: Wochenschau Verlag 2019, S. 59–73; Leutloff-Grandits, Carolin: »Bürgerschaftliches Engagement zwischen den Bedürfnissen geflüchteter Menschen und staatlicher Politik: Das ›Willkommensbündnis Steglitz-Zehlendorf‹ in Berlin«, in: Simon Goebel et al. (Hg.), FluchtMigration und gesellschaftliche Transformationsprozesse, Wiesbaden: Springer VS 2018, S. 165-190. 4

Vgl. Friedrichs, Jürgen/Leßke, Felix/Schwarzenberg, Vera: Fremde Nachbarn. Die sozialräumliche Integration von Flüchtlingen, Wiesbaden: Springer 2019.

5

Der Beitrag ist eingebettet in eine umfangreichere Arbeit, die auf staatliche Regulierungsprozesse von Fluchtmigration fokussiert und diese in den Feldern Recht, Arbeiten und Wohnen ethnographisch nachzeichnet. Die hier vorliegende Arbeit stützt sich methodisch auf zwei Kernbausteine: erstens auf sieben semistrukturierte Interviews und Wahrnehmungsspaziergänge mit verschiedenen Bewohner_innen, zweitens auf teilnehmende Beobachtungen bei vier Protestveranstaltungen gegen die Unterbringung von geflüchteten Menschen im Kosmosviertel. Vgl. zu den weiteren Forschungen: Lange, Jan/Liebig, Manuel: »Rechtssubjekt werden. Zur Aneignung des Rechts aus der Perspektive der Migration«, in Ove Sutter (Hg.), Die Gegenwart der Zukunft im Alltag (=Bonner Beiträge zur Alltagskulturforschung), Münster: Waxmann (im Erscheinen); Lange, Jan/Liebig, Manuel: »Hand in Hand in die postmigrantische Arbeitsgesellschaft? Aushandlungen um Arbeit für Geflüchtete im Spiegel handwerklicher Kleinbetriebe zwischen Leistung und Inklusion«, in: Gökce Yurdakul et al. (Hg.), Witnessing the Transition: Refugees, Asylum-Seekers and Migrants in Transnational Perspective, Berlin 2017, 165-184.

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affektgeladene Diskussion heraus, die auf kulturalisierende Bilder zurückgreift und auf Basis „moralischer Paniken“6 das Zusammenleben im Stadtviertel problematisiert und dieses damit erst konstruierte. Die in den Interviews und Gesprächen mit Anwohnenden auftretende Argumentation der ‚überforderten Nachbarschaft‘ ruft emotionale und lokal situierte Begründungsmuster auf den Plan, in denen gesamtgesellschaftliche und insbesondere städtische Transformationsprozesse reflektiert und auf die Figuration der Migration ausgelagert werden. So sind es insbesondere emotionale Bezüge zum alltäglichen Sozialraum, die innerhalb einer sich wandelnden gesellschaftlichen und als Verschlechterung der eigenen individuellen Lebensumstände gedeuteten Konstellation wirkmächtig werden. Die daraus erwachsene ablehnende Haltung gegenüber Geflüchteten nimmt der Beitrag in den Blick und fragt nach dahinter liegenden Formationen: Wie wird der Zuzug von Geflüchteten verhandelt? Wie konstruieren Debatten darum ‚das Eigene‘ und Probleme im Stadtviertel? Welche Identitäten und Zugehörigkeiten scheinen auf?

GEGEN „RECHTS LIEGEN LASSEN“ – FÜR EINEN LEBENSWELTLICHEN ZUGANG 2019 hat Bernd Jürgen Warneken der auf die Alltagskultur der Menschen fokussierenden Europäischen Ethnologie kritisch in das Stammbuch geschrieben, „dass ausgerechnet die NachfolgerInnen der Volkskunde sich in der öffentlichen Diskussion um diejenigen, die heute ‚Wir sind das Volk‘ rufen, wenig zu Wort melden.“7 Die zitierte politische Parole hatte im Anschluss an den Sommer der Migration Konjunktur und präformierte einen gesellschaftlichen Selbstverständigungsprozess, indem die entworfenen Schreckensszenarien des massenhaften Zuzugs von Geflüchteten wiederkehrenden Mustern folgten.8 Nikolai Huke analy-

6

Cohen, Stanley: Folk devils and moral panics, Oxford: Martin Robertson 1980.

7

Warneken, Bernd Jürgen: »Rechts liegen lassen? Über das europäisch-ethnologische Desinteresse an der Lebenssituation nichtmigrantischer Unter- und Mittelschichten«, in: Timo Heimerdinger/Marion Näser-Lather (Hg.), Wie kann man nur dazu forschen? Themenpolitik in der Europäischen Ethnologie, Wien: Selbstverlag des Vereins für Volkskunde 2019, S. 117.

8

Jäger, Margarete/Wamper, Regina: »Ströme, Fluten, Invasionen. Der Fluchtdiskurs 2015 in deutschen Leitmedien«, in: Tina Dürr/Reiner Becker (Hg.), Leerstelle Rassismus? Analysen und Handlungsmöglichkeiten nach dem NSU, Frankfurt am Main: Wochenschau Verlag 2019, S. 124-135.

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siert den Zusammenhang von medialen Darstellungen von Migration und dem Alltagshandeln von Akteur_innen und greift hierbei auf das in den Cultural Studies entwickelte Konzept der Moralpanik zurück. Hierbei wird eine stereotypisierte Gruppe als Gefahr für eine soziale Stabilität und imaginierte moralische Ordnung identifiziert. Huke versteht Moralpanik als Reaktion auf ein Ereignis, das als „Symbol eines breiteren Prozesses des Verfalls, der sozialen Desintegration und der Zerstörung des gesellschaftlichen Zusammenhalts“ 9 fungiert. In diesen emotional geführten Debatten werden Bedrohungsszenarien entworfen und darüber Raumordnungen verhandelt. Vassilis Tsianos spricht mit Bezug auf den öffentlichen Raum in der Stadt von „urbanen Paniken“10. Gemeinsam mit Klaus Ronneberger erweitert er die Perspektive aus den Cultural Studies unter Rückgriff auf den Soziologen Stanley Cohen und beschreibt Moralpaniken als „elitäre Initiativen zur autoritären Bewältigung eines sozialen Wandels“11. Die eingangs von Bernd Jürgen Warneken festgestellte Leerstelle erscheint insbesondere dann als unbefriedigend, wenn man die Positionen der in jüngster Zeit entbrannten Diskussion über die aktuellen Terraingewinne der politischen Rechten sichtet. Hier findet sich einerseits die bekannte Äquivalenzkette, der zufolge rechte Einstellungen stringent auf sozioökonomische Abstiegserfahrungen und verschärfte Verteilungskämpfe zurückzuführen seien. Dementgegen steht eine Lesart des Rassismus als tradierte, Ungleichwertigkeit legitimierende und im Alltag präsente Weltanschauung.12 Während sich die monokausale Betrachtungsweise als ökonomistischer Kurzschluss und damit von soziokulturellen Konfigurierungen weitgehend befreit charakterisieren lässt, verspricht der zweite Erklärungsansatz eine Befragung gesellschaftlicher Sinnhorizonte. Aktuell harrt diese

9

Huke, Nikolai: »Die neue Angst vorm schwarzen Mann«, in: sub\urban. Zeitschrift für kritische Stadtforschung 7 (2019), S. 69-92, hier S. 71.

10 Tsianos, Vassilis: »Urbane Paniken. Zur Entstehung des antimuslimischen Urbanismus«, in: Duygu Gürsel/Zülfukar Çetin/Allmende e.V. (Hg.), Wer MACHT Demo_kratie? Kritische Beiträge zu Migration und Machtverhältnissen, Münster: Edition Assemblage 2013, S. 23-43. 11 Tsianos, Vassilis/Ronneberger, Klaus: Panische Räume, in: StadtBauwelt 193 (2012), S. 40-49, hier S. 48. 12 Bojadžijev, Manuela: »Zur Entwicklung kritischer Rassismustheorie«, in: Martin Dirk/Susanne Martin/Jens Wissel (Hg.), Perspektiven und Konstellationen kritischer Theorie, Münster: Verlag Westfälisches Dampfboot 2015, S. 49-71; Dowling, Emma/van Dyk, Silke/Graefe, Stefanie: »Rückkehr des Hauptwiderspruchs? Anmerkungen zur aktuellen Debatte um den Erfolg der Neuen Rechten und das Versagen der ›Identitätspolitik‹«, in: Prokla 3 (2017), S. 411-420.

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Perspektive aber noch weitgehend eines ethnographischen Blicks, der Lebensverhältnisse und diskursive Verhandlungen insbesondere auf lokaler Ebene ins Zentrum rückt. Ein solcher Zugriff distanziert sich von einer Debatte, die zunehmend auch im deutschsprachigen Sprachraum unter dem Stichwort white trash geführt wird und die Verantwortung für komplexe gesellschaftspolitische Entwicklungen einem ‚abgehängten‘ Milieu zuschreibt.13 Notwendig scheinen hingegen Forschungen, die sich – in diesem Falle – den Ablehnenden von Geflüchteten zuwendet, die vorfindlichen Diskurse und Praktiken mit den historischen Kontexten und gegenwärtigen Umständen zusammen denkt und an Fragen gesellschaftlicher Entwicklungen rückbindet.14 Um diese auf der Handlungsebene des alltäglichen Erlebens zu fundieren, bieten insbesondere Konzepte relationaler Soziologien produktive Anknüpfungspunkte. So lässt sich die angesichts des Ankommens von Geflüchteten im Wohnumfeld zunehmende Abwehr mit Pierre Bourdieu als Ausdruck eines Prozesses deuten, in dem die Kategorien und Schemata der Beurteilung bestimmter sozialer Gruppen unter Druck geraten.15 Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die bisherige sozialräumliche Verortung erodiert, bzw. Erfahrungen der Deklassierung gemacht werden. Unserer Meinung nach ist es sinnvoll als einen Auslöser solcher Prozesse nicht allein erwerbsbiographische, bzw. ökonomische Modifikationen anzunehmen. So kann beispielsweise auch die Stigmatisierung oder der Verfall des Wohnortes als Abwertung der eigenen sozialen Position erfahren werden.16 In beiden Fällen kann

13 Vgl. Wollrad, Eske: »White Trash. Das rassifizierte ›Prekariat‹ im postkolonialen Deutschland«, in: Claudio Altenhain/Anja Danilina/Erik Hildebrandt (Hg.), Von »Neuer Unterschicht« und Prekariat. Gesellschaftliche Verhältnisse und Kategorien im Umbruch. Kritische Perspektiven auf aktuelle Debatten, Bielefeld: transcript, S. 35-47. 14 So etwa Kleffner, Heike/Meisner, Matthias (Hg.): Unter Sachsen. Zwischen Wut und Willkommen, Berlin: Christopher Links Verlag 2017. 15 Laut Pierre Bourdieu ringen soziale Gruppen permanent um die Durchsetzung ihrer spezifischen Sichtweisen und Deutungen. Das Konkurrieren um materielle Güter wird demnach flankiert durch eine symbolische Dimension des Kampfes um die angeführten Kategorien und Beurteilungsschemata (vgl. Bourdieu, Pierre: »Die Logik der Felder«, in: Pierre Bourdieu/Loïc Wacquant (Hg.), Reflexive Anthropologie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1996, S. 132). 16 Dies deshalb, weil es keinen physischen Raum gibt, der nicht von Hierarchien und sozialen Abständen, die sich entlang Kapitalausstattung von Individuen realisieren, durchzogen ist. Der soziale Raum ist demnach dem physischen Raum inhärent. Verschlechtert sich die Ausstattung oder Anbindung des Letzteren, kann dies von – immer auch verorteten – Einzelnen als Anzeiger der Fragilität der eigenen Stellung gelesen werden.

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das auftreten, was Bourdieu den „Hysteresis-Effekt“ nennt. Die Neusortierung der objektiven Strukturen findet keine Entsprechung in den Dispositionen der Subjekte, da ihr – auf die Ausbildung persistenter Muster ausgelegter – Habitus Praktiken erzeugt, die mit früheren und nun überkommenen Produktionsbedingungen nicht kompatibel sind.17 Effekt des dann als konservativer Faktor wirksamen Habitus können Entfremdungsgefühle sowie ein grundsätzlicher Unwillen gegenüber der aktualisierten Ausgangslage sein, was Bourdieu auch als „zerrissenen Habitus“ bezeichnet.18 Um diesen mit einer ablehnenden Haltung gegenüber Geflüchteten zusammenzudenken, lässt sich produktiv an die Figurationsanalyse anschließen, wie sie von Norbert Elias und John Scotson in ihrer Gemeindestudie über Winston Parva entwickelt wurde.19 Darin wird auf der Alltagsebene nachgezeichnet, wie sich über einen langfristigen Zeitraum in einer Eigendynamik soziale Ungleichheiten und die diesen zugrunde liegenden Machtstrukturen innerhalb einer Figuration herausbilden. Unter Figurationen verstehen die Autoren sich wandelnde und prozesshafte Beziehungsgeflechte, die zwischen Menschen in wechselseitiger Abhängigkeit und in alltäglichen Interaktionen hervorgebracht und verändert werden.20 Die Studie führt die oben mit Bourdieu durch die Trägheit des Habitus gegründete Entfremdungserfahrung auf einen Wandel der Machtbalance in einem Vorort der von Industrie geprägten Stadt Leicester zurück: Eine Gruppe von Alteingesessenen („Etablierte“) wird mit dem Zuzug bislang Fremder („Außenseiter“) konfrontiert und reagiert mit Unsicherheit und Bedrohungsgefühlen. In dieser Figuration gewinnen die Etablierten Macht über die Außenseiter durch Selbstzuschreibung eines Gruppencharismas und die Ausgrenzung und Stigmatisierung der Anderen. Gleichwohl reicht die alleinige Präsenz der Außenseitergruppe aus, um sich bedroht zu fühlen – dies umso stärker, desto mehr die ehemals verbürgte gesellschaftliche Position ins Wanken geraten ist. Diese Perspektive ist für die hier behandelte Thematik insofern von Bedeutung, dass die sozialen

17 Bourdieu, Pierre: Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1987, S. 116. 18 Bourdieu, Pierre: Ein soziologischer Selbstversuch, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002, S. 113. 19 Elias, Norbert/Scotson, John: Etablierte und Außenseiter, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1990. Zur Bedeutung der Forschung für die Stadtforschung vgl. Lenz, René: »Norbert Elias und John L. Scotson: Etablierte und Außenseiter«, in: Frank Eckhardt (Hg.), Schlüsselwerke der Stadtforschung, Wiesbaden: Springer 2017, S. 239-259. 20 Vgl. Hüttermann, Jörg: Figurationsprozesse der Einwanderungsgesellschaft. Zum Wandel der Beziehungen zwischen Alteingesessenen und Migranten in deutschen Städten Bielefeld: transcript 2018, S. 13f.

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Prozesse weder auf reine strukturelle systemische Aspekte noch auf charakterlichen Merkmale eines Individuums zurückgeführt werden. So können gesellschaftliche Entwicklungen mit subjektorientierten Konsequenzen in den Blick genommen werden. Es gilt für die hier dargestellten Akteur_innen, Rahmen und Schema für eine Sinngebung in einer von Verunsicherungserfahrungen geprägten Realität herzustellen, also Denk- und Handlungsprozesse anzustoßen, um die um einen herum passierenden Vorgänge erklärbar zu machen und mit Sinn aufzuladen. Damit einher geht die symbolische Erhöhung des eigenen Selbstwertgefühls in Abwertung der als fremd wahrgenommenen Gruppe: „Immer wieder lässt sich beobachten, dass Mitglieder von Gruppen, die im Hinblick auf ihre Macht anderen, interdependenten Gruppen überlegen sind, von sich glauben, sie seien im Hinblick auf ihre menschliche Qualität besser als die anderen“21. Dies möchten wir anhand einiger empirischer Eindrücke im Kosmosviertel zeigen.

EIN EIGENER KOSMOS Das Kosmosviertel wurde zwischen 1987 und 1991 errichtet. Als Baustein einer noch zu Zeiten der DDR geplanten Großbausiedlung sollte es insbesondere von den Mitarbeiter_innen der DDR-Fluglinie Interflug und deren Familien bewohnt werden und als Vorzeigeviertel fungieren – analog dem Viertelnamen tragen die Straßen verheißungsvolle Namen wie Venus- Sirius und Uranusstraße. Heute liegt die Siedlung am äußersten Stadtrand Berlins. Im Südosten grenzt sie an den Flughafen Schönefeld, im Norden wird sie durch die A113 vom im Bezirk Neukölln gelegenen Ortsteil Rudow getrennt. Mit der Autobahn verfügt das Kosmosviertel damit zwar über eine direkte Verkehrsanbindung, ist aber zugleich in erhöhtem Maße von Lärm- und Luftbelastungen betroffen. Bebaut ist die Siedlung nahezu komplett mit drei-, acht- und elfgeschossigen Wohnblocks des in der DDR Anfang der 1970er-Jahre entwickelten Typs WBS 70, zwischen denen Gehwege und auf der Nord-Süd-Achse ein öffentlicher Grünzug mit Freiflächen und Sport- und Spielplätzen verlaufen. Im Zentrum des Wohngebietes befinden sich entlang einer Ladenzeile verschiedene Nahversorgungseinrichtungen. Gegenwärtig leben im Kosmosviertel knapp 6000 Menschen. Die Zusammensetzung der lokalen Bevölkerung weist dabei im gesamtstädtischen Vergleich verschiedene Spezifika auf. Zum einen liegt der Anteil von Menschen im Alter von über 65 Jahren bei etwa einem Sechstel, der Anteil der Menschen unter 18 Jahren bei fast einem Fünftel, was den Berliner Durchschnitt unter-, bzw. überschreitet.

21 N. Elias/J. Scotson: Etablierte und Außenseiter, S. 7.

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Zugleich leben in der Siedlung bislang verhältnismäßig wenig Menschen mit eigener oder familiärer transnationaler Migrationserfahrung – prozentual liegt der Anteil im Verhältnis zum Berliner Durchschnitt bei einem Drittel. Allerdings ist das Viertel in den letzten Jahren von der Verschärfung der sozialen Lage ihrer Bewohner_innen gekennzeichnet. So beziehen Stand 2015 ein knappes Drittel der dort lebenden Menschen staatliche Transferleistungen. Der Arbeitslosenanteil ist mit 15% fast doppelt so hoch wie der Berliner Durchschnitt.22 Die jeweiligen Anteile haben sich in den letzten Jahren erhöht. Sie stehen in direktem Zusammenhang mit den fortschreitenden und auch in die städtischen Randlagen ausstrahlenden Gentrifizierungs- und Verdrängungsprozessen. Aufgrund der vergleichsweise günstigen Mieten ist das Kosmosviertel zu einem Zuzugsgebiet von insbesondere einkommensschwachen Haushalten geworden, welche die steigenden Mieten in zentralerer Wohnlage nicht mehr tragen können. Verschärft wurde diese Situation durch einen sich zuspitzenden Konflikt rund um energetische Sanierungen und damit verbundene Mieterhöhungen, von denen in den letzten Jahren tausende von Mieter_innen betroffen waren. Die Schönefeld Wohnen GmbH und Co. KG hatte im Kosmosviertel in den 1990er-Jahren über 1800 Wohnungen von der Stadt gekauft und im Anschluss eine Wohnungspolitik verfolgt, die von den betroffenen Mieter_innen immer wieder als mangelhaft beschrieben wird. So wurden Reparaturen nicht durchgeführt, Ansprechpartner_innen seien nicht erreichbar gewesen und semi-öffentliche Flächen um die Wohneinheiten dem Verfall überlassen worden. 2017 erfolgten Sanierungsarbeiten, in Folge derer die Mieter_innen Mietbescheide mit der entsprechenden Kostenumlage erhielten. Gegen diese Entwicklungen formierte sich 2017 ein breiter Bürgerprotest, der seitdem mit vielfachen Aktionen auf sein Anliegen aufmerksam macht.23 Bereits zuvor hatte es im Kosmosviertel immer wieder Proteste gegeben. Als 2016 Pläne für eine Gemeinschaftsunterkunft für Geflüchtete öffentlich gemacht wurden, die auf einer Brachfläche am Rande des Viertels errichtet werden sollte, kam es in der Folge zu mehrmaligen Versammlungen von Anwohnenden, an

22 Ausführliche Statistiken zum Kosmosviertel und eine Aufschlüsselung der sozialen Indikatoren sind über das Amt für Statistik Berlin-Brandenburg als auch über das Monitoring des städtebaulichen Förderprogramms »Soziale Stadt« einsehbar: http://www. stadtentwicklung.berlin.de/wohnen/quartiersmanagement/de/kosmosviertel/index.shtml (zuletzt geprüft: 21.3.2019). 23 Siehe dazu unter anderem die Homepage des »Mieterprotest Kosmosviertel«: http://mieterprotest-kosmosviertel.de/index.php?id=35&no_cache=1 (zuletzt geprüft: 17.2.2019).

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denen auch Vertreter_innen der rechtsextremen NPD teilnahmen. Das ‚Tempohome‘ ist ein Dorf aus Wohncontainern als temporäre Unterbringungsmöglichkeit bis zur regulären Verteilung der Geflüchteten in Wohnungen. Neben den Wohncontainern wird an den Standorten auch ein Wachschutz bzw. Pförtner installiert sowie eine Umzäunung des Geländes vorgenommen. Diese Form der Unterbringung ermöglicht ein relatives Privatleben im Familienverband in Selbstversorgung.24 Aufgrund der räumlichen Verfügbarkeit sah der Senat in Alt-Glienicke einen ‚Doppelstandort‘ vor, der Platz für etwa 500 Personen bietet. In den Mobilisierungen gegen die geplante Unterkunft wurden klassische Argumente seitens der Anwohnenden gegen eine Flüchtlingsunterkunft bemüht, die Sicherheitsaspekte herausstellten und auf mangelnde Mitsprache verwiesen. In der Zeit dieser aufgeheizten Stimmung besuchen wir öfter das Kosmosviertel, sprechen am Rande der Demonstrationen mit Teilnehmenden und verabreden uns für Wahrnehmungsspaziergänge in den darauffolgenden Tagen. 25

DAS KOSMOSVIERTEL ALS WAHRNEHMUNGSUND ERFAHRUNGSRAUM Die durch die städtische Infrastruktur bedingte räumliche Separierung als auch die starke Konzentration einkommensschwacher Haushalte dominiert das Kosmosviertel seit der Fertigstellung der letzten Wohneinheiten Anfang der 1990er Jahre. Heute überwiegen in den Darstellungen der Bewohner_innen hingegen

24 Die Container mit Wohneinheiten bis zu vier Personen sehen allerdings eine relativ geringe Wohnfläche vor, was von Flüchtlingsinitiativen und den Geflüchteten selbst kritisiert wird (Vgl. Vey, Judith: Leben im Tempohome. Qualitative Studie zur Unterbringungssituation von Flüchtenden in temporären Gemeinschaftsunterkünften in Berlin,

ZTG

Discussion

Paper

40

(2018).

https://www.tu-berlin.de/filead-

min/f27/PDFs/Discussion_Papers_neu/discussion_paper_Nr._40_18.pdf (zuletzt geprüft: 15.3.2019)). 25 Auf die Methode des Wahrnehmungsspaziergangs gehen wir aus Platzgründen nicht weiter ein. Verstanden werden kann sie als ein mobiler Forschungsansatz, der Forschenden einen Zugang zu den Lebensräumen der Beforschten über die klassische und räumlich ruhig gestellte Methode des Interviews ermöglicht. Vgl. dazu u.a. Kusenbach, Margarethe: »Mitgehen als Methode. Der Go-Along in der phänomenologischen Forschungspraxis«, in: Jürgen Raab (Hg.), Phänomenologie und Soziologie. Theoretische Positionen, aktuelle Problemfelder und empirische Umsetzungen, Wiesbaden: Springer 2008, S. 349-358.

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Kategorien, die das Viertel subjektiv entlang der zwei Themenstränge der Verschlechterung der Wohn- und Lebenssituation im Quartier und der Zuwanderung ordnen. Dies zeigt sich beispielsweise im Falle des 34-jährigen und als Elektroniker für Betriebstechnik auf einer großen industriellen Betriebsanlage im Nordosten Berlins arbeitenden Uwe Melzka. Er ist 1994 nach der Scheidung der Eltern mit seiner Mutter aus Grünau in das Kosmosviertel gezogen und lebt heute mit seiner Lebensgefährtin und zwei Kindern in einer 3-Zimmer-Wohnung. Das Ankommen als Kind im Viertel beschreibt er als „große Freiheitserfahrung“. Während er am alten Wohnstandort der Familie nur in Begleitung habe draußen spielen dürfen, war er nach dem Umzug zunehmend mit den anderen Kindern des Viertels unterwegs. Seine Mutter habe ihm dies insbesondere deshalb zugestanden, weil ihr das Kosmosviertel dato als „eine eigene kleine Welt, wo sich alle kennen und man mit aufpasst“ erschien. Die aus der Kindheit vor Ort stammenden Kontakte stellen heute die zentralen Bezugspunkte seines sozialen Netzes dar. Bei einem Wahrnehmungsspaziergang durch das Kosmosviertel kommen wir an einem Brunnen mit einer metallenen Kugel vorbei, die sich früher um sich selbst drehte. Das Wasser ist seit Jahren abgestellt, der Platz um den Brunnen ist verlassen und weißt jüngere und ältere Spuren von Vandalismus auf. Wir bleiben stehen und Uwe Melzka erzählt: „Im Sommer, also wenn es heiß war, dann war das also unser Bad. Rein, raus, Wer kann die Kugel festhalten und so. Den ganzen Sommer. Heute ist hier keiner mehr. Und die Kinder sind auch weniger geworden. Sind weg. Und die da sind, die kenn ich nicht. Kindern von welchen, die erst hergezogen sind. Die anderen sind alt geworden. Guckt euch das an, alles kaputt. Kaputt wie alles hier. Ich sage das ist stellvertretend für alles hier. Man hat sich nicht gekümmert. Wir sind schon lange genug das Auffangbecken für die, die es woanders nicht mehr schaffen. Also auch hier: Keine Flüchtlinge! Wir haben schon genug Probleme hier.“26

In dem Zitat verbinden sich die vergangenen Erfahrungen mit dem gegenwärtigen Erleben eines Ortes. Grundlegend fungieren Plätze hier aber auch im Rahmen von Wahrnehmungsspaziergängen mit weiteren Viertelbewohner_innen als „confluences of events, emotions, memories and artefacts remarkable for being connected through time by experience and artefact. Concident places are, therefore, individual and collective, a tying together of imbroglios of traces“ 27. Ihre

26 Uwe Melzka, Interviewtranskript, 4.11.2016. 27 Anderson, Jon/Moles, Kate: Walking into Coincident Places, in: Qualitative Research 9 (2008), S. 5.

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Materialität gibt dabei den Impuls für die Explikation eines subjektiven Raumerlebens, das stark auf die Zuwanderung ins Viertel Bezug nimmt und von einem Verlust und der Romantisierung des ehemals Vertrautem geprägt ist. Für die 58-jährige Kathrin Seifert ist es hingegen dieser Verlust, der sie ins Viertel gebracht hat. Nachdem sie vor vier Jahren aufgrund einer chronischen Krankheit in Frührente ging und kurz darauf die Miete für ihre damalige Wohnung in Kreuzberg nach einer Sanierungsmaßnahme erhöht wurde, konnte sie sich diese nicht länger leisten und zog um. Den Umzug ins Kosmosviertel beschreibt sie als „Verschlechterung“, da sie zunächst keine Kontakte hatte und nun zudem eine deutlich kleinere und dunklere Wohnung als zuvor bewohnte. Bei der Einordnung ihres aktuellen Wohnviertels unterscheidet sie zwischen den „Alteingesessenen“ und den „Neuen“28, worunter eigentlich auch sie selbst zu fassen sei. Da sie sich aber im Unterschied zu den anderen in den letzten Jahren Zugezogenen Mühe gemacht habe, die bereits Ansässigen kennenzulernen und an Aktivitäten im Viertel immer teilgenommen habe, sei sie heute „eigentlich Alteingesessene, kenne jeden und alles, weiß was hier läuft.“ Diese im Gespräch getroffene Abgrenzung lässt sich als eine Strategie verstehen, mittels derer ihr die Einnahme einer legitimen weil ortskundigen Position möglich wird. Von dieser aus entwirft sie in Hinblick auf das Ankommen von geflüchteten Menschen im Kosmosviertel kein Szenario, das ihre eigene positive Erfahrung aufgreift, sondern entwickelt eine dualistische Perspektive: „Die Flüchtlinge kommen her und kriegen sofort alles. Ich habe mir das hier alles selber aufgebaut. Da kommen jetzt aber junge Männer, die sind zwanzig, einundzwanzig, und die kriegen alles. Wohnung, hier, kein Problem, Essen, na klar, Sprachunterricht sowieso, Kitabetreuung und so. Ich sehe das überhaupt nicht ein, warum nicht zuerst die eigenen Leute dran sein sollen. Das ist ein deutsches Viertel. Immer gewesen. Da müssen wir doch jetzt zusammenstehen, damit man uns hört. Weil für uns Deutschen gehen die Mieten weiter rauf. Dann wird man überall verdrängt. Sogar jwd. [Janz weit draußen]. Dann wird noch stärker gekämpft um das wenige, das noch da ist.“29

28 Paul Mepschen sieht in nativistischen Diskursen um Zugehörigkeiten in einem Stadtviertel in Amsterdam die Unterscheidung in ›autochthone‹ Ansässige und ›allochthone‹ Fremde, die wirkmächtig soziale Gruppierungen konstruieren (vgl. Mepschen, Paul: Everyday autochthony. Difference, discontent and the politics of home in Amsterdam, Amsterdam 2016). 29 Kathrin Seifert, Interviewtranskript, 01.10.2016.

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Die Darstellung von Kathrin Seifert verweist darauf, dass bereits vor dem Ankommen von Geflüchteten eine im „Alltagsverstand“30 der Anwohnenden präsente Figuration existierte, in der zwischen „Alteingessenen“ und neu Hinzuziehenden differenziert wurde. Hierbei bildete insbesondere die vermutete prekäre ökonomische Lage Letzterer für die Alteingesessenen das zentrale Vehikel zur Behauptung der eigenen dominierenden Position im Viertel. Der Aufbau der Container an der Peripherie des Kosmosviertels sowie das angekündigte Avancieren der Geflüchteten führt jedoch nicht im Sinne eines Zugewinns einer ‚dritten Gruppen‘ zu einer Ausdifferenzierung der Figuration. Vielmehr wird die – im Vokabular von Elias/Scotson als Außenseiter bezeichnete – Gruppe der Hinzuziehenden migrantisiert und kulturalisiert sowie dadurch eine sukzessive Neudefinition der Selbstzuschreibung in Form einer Ergänzung durch nationalistische Kategorien vorgenommen. Diese Verschränkung wird insbesondere deutlich in den Zukunftsentwürfen des Lebens im Kosmosviertel seitens der Anwohnenden. So spricht Uwe Melzka von einer „doppelten Verdrängung“. Diese werde sich darin äußern, dass „die Flüchtlinge alles besetzen. Also das Wohnen ist das eine. Dass die kommen und viele von uns raus müssen. Aber eben auch kulturell. Die Anlage hier, wie die dann aussieht? Überall Kopftücher und Kinder, die auf Arabisch rumschreien? Dass der Bäcker dann Fladenbrot verkauft. Will ich nicht. Das ist nicht meine Kultur. Dann gehöre ich hier nicht mehr her“.31 Deutlich wird hier zudem, dass – gemäß dem eigenen identitätsaffirmativen Bezug auf die öffentlichen Räume des Wohnumfeldes – die Geflüchteten als kulturell Andere immer auch in einer räumlichen Dimension als Bedrohung des Eigenen entworfen werden. Diese Perspektive teilt auch Klaus Bolte, den wir am Rande einer der Demonstrationen, die sich gegen den Zuzug von Geflüchteten in das Kosmosviertel richtet, treffen. Wir verabreden uns für den nächsten Tag, damit er uns sein Viertel zeigen kann. Der untersetzte Mitt-40er ist unweit des heutigen Standorts des Kosmosviertels in Ost-Berlin aufgewachsen. Dorthin zog er mit seiner Mutter kurz nach Fertigstellung Anfang der 90er Jahre. Klaus Bolte bestreitet seinen Lebensunterhalt über die Anstellung bei einer Zeitarbeitsfirma, die Sicherheitspersonal am nahegelegenen Flughafen Schönefeld einsetzt. So komme er „schon über die Runden“. Dennoch verweist er auf die seiner Meinung nach zunehmenden prekarisierten Beschäftigungsverhältnisse: „Früher haste ‘ne Ausbildung gemacht, dann warst du was. Jetzt geben sie dir ‘ne Anstellung, ein Tag, eine Woche, einen

30 Sutter, Ove: »Alltagsverstand. Zu einem hegemonietheoretischen Verständnis alltäglicher Sichtweisen und Deutungen«, in: Österreichische Zeitschrift für Volkskunde 119 (2016), S. 41-70. 31 Uwe Melzka, Interviewtranskript, 4.11.2016.

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Monat, ja? Und dann darfste schauen wo du bleibst. Hab mein Leben lang gearbeitet.“32 Nun müsse er aber immer wieder auf Sozialhilfe zurückgreifen. Dies kratze schon an seinem Selbstbewusstsein, meint er. „Aufm Amt sitzen dann immer die ganzen Familien, die sind nicht von hier, sprechen kein Deutsch, kriegen aber alles hinterhergeworfen. Bis am Ende nix mehr da ist.“ Als wir an der Brache vorbeikommen, auf der die Container für die Unterbringungen entstehen sollen, deutet Klaus auf die Wiese. „Hier soll dieser ganze Multi-Kulti-Wahnsinn hin. Weiß nicht, ob man in dem Kiez dann noch wohnen kann. Das Viertel wurde runtergewirtschaftet, wir werden ausgepresst wie die letzte Zitrone, und die Flüchtlinge bekommen schön was Neues auf die grüne Wiese gebaut, am besten gleich mit Fernseher und so.“

Für Klaus Bolte ergibt sich aus dem anstehenden Zuzug das Gefühl einer Konkurrenzsituation. Er fürchtet um einen verschlechterten Zugriff auf sozialstaatliche Ressourcen, auf die er vor dem Hintergrund seines eigenen Lebensweges angewiesen ist. Im Gegensatz zu den Geflüchteten habe er etwas zum gesellschaftlichen Wohlstand beigetragen und dies solle honoriert werden – insbesondere aufgrund seiner im Zuge von Arbeitsverhältnissen geleisteten jahrelangen Sozialabgaben. Immer wieder betont er, dass er sich aber nicht „in die rechte Ecke stellen“ lasse. Die von Klaus Bolte formulierten Eindrücke spiegeln ein Ohnmachtsgefühl hinsichtlich der eigenen Lebensperspektive sowie gegenüber den strukturellen Bedingungen. In dieser Konstellation erfüllt die Abgrenzung und Abwertung der ‚Anderen‘ die Funktion, Zugehörigkeit herzustellen und somit die als ‚eigen‘ konstruierte Gruppe der Alteingesessenen aufzuwerten. In der gefühlten Abwärtsspirale ergibt sich so eine symbolische Erhöhung des Selbstwertgefühls. Geflüchtete werden darin zu einer Chiffre für den sozialen Status der Akteur_innen und des Viertels. Sie verhandeln damit die eigene Position im sozioökonomischen Kräftefeld sowie andere negative Aufladungen der eigenen Lebenswelt und der darin enthaltenen Möglichkeitsräumen.

RESÜMEE UND AUSBLICK Die hier dargestellten Einblicke in die Auseinandersetzungen im Kosmosviertel beruhen auf einer ethnographischen Herangehensweise: sich mit einem offenen Blick durch ein Forschungsfeld zu bewegen ermöglicht es, die Spannungen

32 Klaus Bolte, Interviewtranskript 23.10.2016. Ebenso die anschließenden Zitate.

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offenzulegen und verschiedene Aspekte des Zusammenlebens und die Verhandlungen komplexer Konstellationen in alltäglichen Lebenswelten aufeinander zu beziehen. Die stetige Analyse und Dekonstruktion der feldspezifischen Figurationen, die wir zeigen konnten, verweisen dabei auf ganz anders gelagerte Problemlagen und Herausforderungen für städtische Gesellschaften. In den Fallanalysen konnten wir so auf grundlegendere Fragen um Wandel und Persistenz eingehen, die den tatsächlichen oder subjektiv empfundenen Krisen zugrunde liegen. Dies weist auf den Versuch hin, „die sich rapide wandelnde soziale Realität“ zu untersuchen, „um die langfristig wirkenden Kräfte und Logiken dieses Wandels zu verstehen“.33 Dabei verschränken sich in den Ausschnitten massenmedial vermittelte politische Diskurse mit den Imaginationen über Migration und Geflüchtete sowie der Reflexion über lokale, gelebte Erfahrungen.34 Nachbarschaft wird dabei von den Akteur_innen je für sich selbst in sozialer Praxis hergestellt. 35 In affektgeladenen Auseinandersetzungen wird das Bild einer ‚überforderten Nachbarschaft‘ gezeichnet und das eines „sozialen Problemquartiers“36 reproduziert, welches die konstruierten ‚Anderen‘, ihre imaginierten Wert- und Moralvorstellungen und die zu befürchtenden Handlungen nicht aushalten kann. So erscheint dann Migration in den alltagsbezogenen Erzählungen als eine Projektionsfläche für allerlei Problemlagen des Viertels und seiner Bewohner_innen, während Geflüchtete selbst in den Argumentationen zu „leeren Signifikanten“ werden.37 Dies meint, dass sie als soziale Konstrukte mit einer spezifischen Funktion fungieren, denen keine endgültige Bedeutungszuschreibung oder profunde Realitätsbezüge zu Grunde liegen. Diese soziale Konstruktion basiert auf einem tradierten Wissensfeld inklusive spezifischer

33 Beck, Stefan/Knecht, Michi: »Jenseits des Dualismus von Wandel und Persistenz? Krisenbegriffe der Sozial- und Kulturanthropologi«, in: Thomas Mergel (Hg.), Krisen verstehen. Historische und kulturwissenschaftliche Annäherungen, Frankfurt am Main: Campus 2012, S. 63. 34 Vgl. Mepschen: Everyday autochthony, S. 62f. 35 Kefalas, Maria: Working-Class Heroes. Protecting Home, Community, and Nation in a Chicago Neighborhood, Berkeley: University of California Press 2003, S. 14. 36 Adam, Jens: ›Kaum noch normale Berliner‹. Stadtethnologische Erkundungen in einem ›sozialen Problemquartier‹. Berlin: LIT 2005. 37 Vgl. Mepschen: Everyday autochthony, S. 63; Panizza, Francisco (Hg.): Populism and the mirror of democracy, London/New York: Verso 2005.

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Stereotypen und Imaginationen, mittels derer der_die Andere erst hergestellt wird.38 Die hier dargestellten Akteur_innen Uwe Melzka, Kathrin Seifert und Klaus Bolte bedienen sich in ihrer moralpanischen Argumentation an Strategien der Bewältigung. Sie nehmen ihre momentane Lebenssituation als vernachlässigt und ungerecht wahr und laden die neu entstehende Konstellation mit dem Zuzug von Geflüchteten emotional auf, indem sie bestehende Problemlagen darauf projizieren werden. Diese „coping strategies“ verschaffen in als krisenhaft erlebten Momenten die Möglichkeit, die Lebenswelt zu ordnen und „to locate increasingly elusive resources.“ Hierunter fassen die Kultur- und Sozialanthropolog_innen Susana Narotzky und Niko Besnier „relations of trust and care, economies of affect, networks of reciprocity encompassing both tangible and intangible resources, and material and emotional transfers that are supported by moral obligations“.39 Auch Konrad Köstlin versteht Kompensation als kulturelle Technik, um in einer sich transformierenden Welt Orientierungspunkte herzustellen.40 Zur gleichen Zeit gehen diese Bewältigungsstrategien aber mit der Abwertung der ‚Anderen‘ einher, indem Kategorien von Menschen marginalisiert und der Zugang zu Ressourcen gewaltvoll bestritten wird.41 Dies schlägt sich in der Forderung nach sozialer Exklusion von Migrant_innen nieder42, wie wir sie im Kosmosviertel vorfinden. Über die ethnographische Beobachtung und das Eintauchen in den „Mikrokosmos“ eines städtischen Quartiers 43, in dem polarisierende Aushandlungsprozesse und Konflikte ausgetragen werden, können wir mit dem ethnographischen Spürsinn44 vielschichtige Themenbereiche und Phänomene aufeinander beziehen. Der alltäglich erlebte Raum wird mit bestimmten Erfahrungen, Gefühlen und

38 Vgl. Castro Varela, María do Mar/Mecheril, Paul (Hg.): Die Dämonisierung der Anderen. Rassismuskritik der Gegenwart, Bielefeld: Transcript 2016. 39 Narotzky, Susana/Besnier, Niko: »Crisis, Value, and Hope: Rethinking the Economy«, in: Current Anthropology 55 (2014), S. 6. 40 Köstlin, Konrad: »Folklore, Folklorismus und Modernisierung«, in: Schweizerisches Archiv für Volkskunde 87 (1991), S. 46-66. 41 Narotzky/Besnier: Crisis, S. 6. 42 Böhnisch, Tomke/Cremer-Schäfer, Helga: »Coping with social exclusion. From Acceptance to Indignation«, in: Heinz Steinert/Arno Pilgram (Hg.), Welfare policy from below. Struggles against social exclusion in Europe, Ashgate: Farnham 2007, S. 77–90. 43 Vgl. Wade, Manuela: Mikrokosmos Stadtviertel. Lokale Partizipation und Raumpolitik, Bielefeld: Transcript 2015. 44 Lindner, Rolf: »Serendipity und andere Merkwürdigkeiten«, in: Vokus. Volkskundlichkulturwissenschaftliche Schriften 22 (2012), S. 5-11.

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Vorstellungen aufgeladen. So entsteht eine „emotionale Ortsbezogenheit“ 45, die den Raum und die ihn bewohnenden weiteren Akteur_innen bewertet und vor dessen Hintergrundfolie sich Handlungsmuster ableiten lassen. In den Debatten in dem von einem spezifischen sozialen Milieu gekennzeichneten Viertel erleben wir eine Auseinandersetzung um soziale Veränderungen, eine Reflexion der jeweils eigenen gesellschaftlichen Positionierung sowie Diskurse um Zugehörigkeit. Hierzu gesellt sich die Abgrenzung und Enttäuschung gegenüber etablierten politischen Repräsentant_innen als auch als elitär empfundenen planerischen Prozessen sowie – und dies rückt Geflüchtete als konkrete Projektionsfläche mehr und mehr in den Vordergrund – ablehnende Haltungen gegenüber Migrant_innen. Migration fungiert aus dieser Perspektive für die Befragten als ein Vehikel, um Probleme sichtbar zu machen. Sie ist somit als „sozialer Seismograph“ 46 lesbar, anhand dessen gesellschaftliche Fragestellungen ausgehandelt werden.

45 Klückmann, Matthias: »Im Quartier zuhause – Zur emotionalen Ortsbezogenheit in einem multi-ethnischen Stadtteil«, in: Olaf Schnur/ Phillipp Zakrzewski/Matthias Drilling (Hg.), Migrationsort Quartier. Zwischen Segregation, Integration und Interkultur, Wiesbaden: Springer 2013. 46 Bojadžijev, Manuela: »Migration as Social Seismograph: an Analysis of Germany’s ›Refugee Crisis‹ Controversy«, in: International Journal of Politics, Culture, and Society 31 (2018), S. 335–356.

Umkämpfte Im-/Mobilitäten Die soziale Produktion von Nichtabschiebbarkeit im transinsularen Raum Sarah Nimführ

„Wir verdienen ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht“, steht auf dem Demonstrationsbanner der protestierenden Geflüchteten. Es ist Sommer 2015 und ich laufe zusammen mit Abu1 und zahlreichen weiteren Geflüchteten durch die Hauptstraße Vallettas. Abu lernte ich im Vorfeld der Demonstration beim Valletta Bus Terminal kennen, wo sich die Demonstrationsgruppe formierte. Während wir durch das Valletta City Gate laufen fängt Abu an von seiner Geschichte zu erzählen. Er kommt aus dem Niger und ist schon seit über zehn Jahren in Malta. Ohne Papiere. 2005 wurde er als 15-Jähriger nach einer riskanten Überquerung des Mittelmeers vom maltesischen Militär, der Military Rescue Unit (MRU), gerettet. Aufgrund seiner damaligen Minderjährigkeit hat Abu einen temporären Schutzstatus erhalten, der ihm partiellen Zugang zu Rechten ermöglichte. Mit Erreichen der Volljährigkeit wurde der Schutzstatus allerdings nicht verlängert. Es hätten keine relevanten Gründe für eine Schutzbedürftigkeit vorgelegen. Ein erneutes Asylgesuch wurde abgelehnt und eine Abschiebeanordnung gegen Abu erlassen. Gleichzeitig verlor er jeglichen gesetzlich geregelten Anspruch auf Grundversorgung. Die Abschiebung wurde aber nie vollzogen. Identifikations- oder Reisedokumente hat er keine erhalten und Aussicht auf eine Regularisierung seines Aufenthalts gibt es nicht.2 „Wie wird es mir gehen, wenn ich alt bin und immer noch hier bin? Wie

1

Zum Schutz der Gesprächs- und Interviewpartner*innen wurden alle in diesem Beitrag genannten Personennamen sowie Institutionen anonymisiert. Alle Interviews, Gespräche und Zitate wurden von mir ins Deutsche übersetzt.

2

Seit Ende November 2018 wurde ein Regularisierungsprogramm eingeführt. Anspruchsberechtigte können eine Aufenthaltsgenehmigung für zwei Jahre beantragen,

156 | Sarah Nimführ

werde ich ohne Rente und ohne medizinische Versorgung leben, wenn ich nicht mehr arbeiten kann?“3 fragt Abu mich. Die Demonstrationsgruppe bleibt vor dem Parlamentsgebäude stehen. Ein Mann hält eine Ansprache. Die Menge klatscht Beifall und zeigt Zustimmung. Um mich herum stehen zahlreiche Demonstrant*innen. Unter ihnen viele Männer, aber auch vereinzelt Frauen und Familien. Die Kinder schwenken kleine Fahnen mit der Maltaflagge. Überall sind beschriftete Plakate zu sehen, die in die Luft gehalten werden: „Gott gibt allen Menschen gleiche Rechte. Niemand sollte ohne Rechte leben“, „Wir sind Sklaven für Maltas Wirtschaft” und „Geboren ohne Staatsbürgerschaft.“ Die Protestbewegung wurde durch eine migrantische Freiwilligenorganisation initiiert. Etwa 200 Geflüchtete, hauptsächlich aus afrikanischen Staaten südlich der Sahara, nahmen am Demonstrationsmarsch durch die maltesische Hauptstadt teil. Sie demonstrierten gegen Rassismus und Diskriminierung sowie den mangelnden Zugang zu Bildung und zur Gesundheitsversorgung. Die meisten der Demonstrant*innen hatten keinen Schutzstatus, waren aber, wie Abu, gleichzeitig nicht abschiebbar. In einer erheblichen Anzahl von Fällen ist die Durchführung von Abschiebungen trotz einer erteilten Abschiebeanordnung nicht möglich. Dieser so genannte „deportation gap“4 ist auf verschiedene rechtliche und faktische Gründe zurückzuführen. So kommt es, dass abgelehnte Asylsuchende über mehrere Jahre hinweg in einem rechtlichen Dazwischen leben: sie dürfen weder in Malta bleiben, noch können sie den Inselstaat geregelt verlassen. Ohne Aussicht auf einen Aufenthaltsstatus wird ihnen soziale Inklusion erschwert bzw. verunmöglicht und gleichzeitig bleiben ihnen legale Möglichkeiten Malta zu verlassen, verwehrt. 5 Obgleich die Bewegungsfreiheit nicht abschiebbarer Geflüchteter aufgrund fehlender Reisedokumente eingeschränkt ist, können multilineare Migrations-

wenn sie bestimmte Integrationsmaßnahmen erfüllen (Grech, Daniela: »Rejected asylum seekers will not need annual certificate to remain in Malta. First step in mending ›system that has been broken for far too long‹«, in: Times of Malta vom 15. November 2018,

https://www.timesofmalta.com/articles/view/20181115/local/rejected-asylum-

seekers-will-not-need-annual-certificate-to-remain-in.694391 vom 21.12.2018. 3

Gespräch im Juli 2015, Malta.

4

Gibney, Matthew J.: »Asylum and the Expansion of Deportation in the United Kingdom«, in: Government & Opposition 43, 2 (2008), S. 146-167, hier: S. 149.

5

vgl. auch Nimführ, Sarah/Otto, Laura/Samateh, Gabriel: »Denying while demanding integration. An analysis of the integration paradox in Malta and refugees’ coping strategies«, in Sophie Hinger/Reinhard Schweitzer (Hg.), Politics of (Dis)Integration, Cham: Springer 2019, im Erscheinen.

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bewegungen beobachtet werden. Diese hängen meist von den Möglichkeiten ab, die sich auf ihrem Weg eröffnen. Durch Praktiken der Aneignung6 können Geflüchtete dem „permanenten Zwischenzustand“7 trotz aller Widrigkeiten zunächst entkommen. Wenn Geflüchtete es schaffen, Malta in Richtung europäisches Festland zu verlassen, verursachen ihr fehlender Aufenthaltsstatus und die Folgen der Dublin-Regelung 8 allerdings häufig auch in den Folgemigrationsländern Probleme und neue Herausforderungen. Die Auswirkungen der Nichtabschiebbarkeit wirken also auch über die physischen Grenzen des Inselstaates hinaus. Andere hingegen, wie z. B. Abu, bleiben mangels Opportunitäten sich Mobilität anzueignen, auf unbestimmte Dauer in Malta ‚gefangen‘. Während sie physisch weitgehend immobilisiert werden, versuchen sie innerhalb des Inselstaates ihre soziale (aber auch physische) Mobilität zu verhandeln. Nicht abschiebbare Geflüchtete sind demzufolge mit unterschiedlichen Graden sozialer und physischer Mobilität ausgestattet. Anknüpfend daran, gehe ich in diesem Beitrag auf die ko-produzierte Herstellung und Umgehung von Immobilität durch verschiedene fluchtmigrierende und migrationskontrollierende Akteur*innen ein. Wie werden soziale und physische Im-/Mobilitäten verhandelt? Mit welchen Praktiken eignen sich Geflüchtete Mobilität an?

6

Stephan Scheel folgend, verstehe ich unter Praktiken der Aneignung eine »Rekodierung« von migrationskontrollierenden Instrumenten. Praktiken der Aneignung beruhen darauf, Regeln und Normen zu simulieren, um sie dann heimlich zu brechen, anstelle die formalen und informalen Regeln des Grenzregimes offen herauszufordern. Vgl. Scheel, Stephan: »Das Konzept der Autonomie der Migration überdenken? Yes, please!« in: movements. Journal for Critical Migration and Border Regime Studies 1, 2 (2015), S. 1-15, hier: S. 10f.

7

Menjívar, Cecilia: »Liminal Legality: Salvadoran and Guatemalan Immigrants’ Lives in the United States« in: American Journal of Sociology, 111, 4 (2016), S. 999-1037.

8

Die Dublin-Regelung legt fest, welcher EU-Mitgliedsstaat für die Durchführung eines Asylverfahrens zuständig ist. Zuständiger Mitgliedsstaat ist der Staat, durch den Asylsuchende zum ersten Mal in die EU eingereist sind. Ein (erneuter) Asylantrag in einem anderen EU-Mitgliedsstaat ist nur in bestimmten Fällen möglich, in der Regel werden Betroffene in das EU-Land zurückgeschoben, in welchem sie zuerst in die EU eingereist sind.

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THEORETISCH-ANALYTISCHE RAHMUNG Um Einblicke in die Praktiken von Geflüchteten und die Rolle verschiedener Akteur*innen sowie Faktoren zu geben, bedarf es eines methodischen und analytischen Rahmens, der die Komplexität des Abschieberegimes und seine inhärenten Widersprüche, Konflikte, sowie konkurrierenden Logiken und Interessen berücksichtigt.9 Zwischen 2015 und 2018 führte ich in Malta und Italien eine ethnografische Grenzregimeanalyse10 durch, die eine Kombination aus diskursanalytischen und ethnografischen Ansätzen umfasst. Spezifische Momente meiner Erhebungen untermauere ich in diesem Beitrag mit den Kategorien Erving Goffman’s totaler Institution11, um den Narrativen des ‚Eingesperrt-Seins‘ Rechnung zu tragen. Die ‚Abgeschlossenheit‘ bzw. das ‚Eingesperrt-Sein‘ ist keine Kategorie, die deduktiv von mir gesetzt wurde, sondern die ich emisch-induktiv aus dem Material gehoben habe. Die Geflüchteten, die ich kennenlernte, wiederholten immer wieder, dass Malta für sie wie ein ‚Freiluftgefängnis’ sei. Goffman versteht unter der totalen Institution die „Handhabung einer Reihe von menschlichen Bedürfnissen durch die bürokratische Organisation“12, welche unter anderem auch Klöster, Gefängnisse, Internate und militärische Einrichtungen umfassen.13 Er beschreibt die totale Institution als einen geschlossenen Komplex, „der durch die Beschränkungen des sozialen Verkehrs mit der Außenwelt sowie der Freizügigkeit, die häufig direkt in die dingliche Anlage eingebaut sind, wie verschlossene Tore, hohe Mauern, [...] Wasser“14, charakterisiert ist. Obgleich Malta aufgrund seiner Inselbeschaffenheit von Wasser umgeben ist, grenze ich mich von diesem ‚Containerbegriff‘ ab.

9

Vgl. auch Zapata-Barrero, Ricard/Yalaz, Evren: »Introduction: Preparing the Ways for Qualitative Research in Migration Studies«, in dies. (Hg.), Qualitative Research in European Migration Studies, Cham: Springer 2018, S. 1-8, hier: S. 3.

10 Vgl. Hess, Sabine/Tsianos, Vassilis: »Ethnographische Grenzregimeanalysen. Eine Methodologie der Autonomie der Migration«, in: Sabine Hess/Bernd Kasparek (Hg.), Grenzregime. Diskurse. Praktiken. Institutionen in Europa, Hamburg/Berlin: Assoziation A. (2010), S. 243-264. Während meiner Aufenthalte habe ich 22 Geflüchtete, die als nicht abschiebbar klassifiziert waren, näher kennengelernt. Zudem führte ich ethnografische Interviews mit 27 institutionalisierten Akteur*innen durch. 11 Goffman, Erving: Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp [1973] 2016. 12 Ebd. S. 18. 13 Ebd. S. 16. 14 Ebd. S. 15f.

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Ich verstehe den Inselstaat Malta als Äußerungsort, der sämtliche Elemente der bürokratischen Organisation der Bedürfnisse von Geflüchteten fasst, aber auch „über den Äußerungsort hinausweisenden Erklärungsgehalt besitzt“15. Um die von den Geflüchteten erlebte Isolation und Unbeweglichkeit mit den transinsularen Vernetzungen und Mobilitäten analytisch zu verknüpfen, greife ich auf das Konzept der islandscape zurück.16 Dies erlaubt Malta nicht allein durch seine physischen Grenzen, also begrenzt durch das Meer, als beschränkt und abgegrenzt zu sehen. Stattdessen liegt der Fokus auf der transnationalen Eingebundenheit des Inselstaates und den Bewegungen von und auf der Insel. Die Auswirkungen der Nichtabschiebbarkeit, die auch jenseits Maltas wirkmächtig werden, können durch die Betonung der Dynamiken und (geo-)politischen Verbindungen des Inselstaates analytisch erfasst und gerahmt werden. Gleichzeitig kann einem methodologischen Insularismus17 entgegengewirkt werden.

DAS MALTESISCHE GRENZ- UND ABSCHIEBEREGIME Maltas Reaktion auf die so genannte Bootsmigration ist geprägt von einem restriktiven, politischen Diskurs und einer Verdrängung der Geflüchteten an die

15 Täubig, Vicki: Totale Institution Asyl. Empirische Befunde zu alltäglichen Lebensführungen in der organisierten Desintegration, Weinheim und München: Juventa 2009, S. 56. 16 Das von Cyprian Broodbank entworfene Konzept der islandscape habe ich zusammen mit Laura Otto in Form einer ethnologischen Adaption weiterentwickelt. In unserer Adaption stehen Praktiken des Verbindenden, die Aushandlungen der Machtbeziehungen zwischen den verschiedenen Akteur*innen des Grenzregimes sowie der Blick auf die Grenze als sozial-relationales Verhältnis im Fokus. Vgl. Nimführ, Sarah/Otto, Laura: Overcoming Islandism. Reflections on Islandscape as an Analytical Tool in Research on and about Islands. Unveröffentlichtes Konferenzpaper, Zhejiang University’s Ocean College Zhoushan/China 2018; Broodbank, Cyprian: An Island Archaeology of the Early Cyclades, Cambridge: Cambridge University Press 2000. 17 Nimführ/Otto 2018: Overcoming Islandism. Vgl. hierzu den methodologischen Nationalismus als Ausgangsgedanken in Wimmer, Andreas/Glick Schiller, Nina: »Methodological Nationalism and beyond: Nation-State Building, Migration and the Social Sciences«, in: Global Networks 2, 4 (2002), S. 301-334.

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Ränder der Gesellschaft.18 Dies spiegelt sich insbesondere im gegenwärtigen politischen Diskurs wieder, bei welchem die Versicherheitlichung der Grenze 19 sowie die Notwendigkeit des Schutzes vor „gefährlichen/unerwünschten Eindringlingen“20 stets betont wird. Bereits 2009 verkündete der damalige maltesische Innenminister: „Aufgrund Maltas Größe kann man nicht von der Regierung erwarten, dass illegale Immigranten auf die Straßen gelassen werden [...]. Das würde ein falsches Signal senden und eine Katastrophe für das Land bedeuten.“21 Das immer wiederkehrende Argument des begrenzten Raums dient als Legitimation einer ausnahmslosen Inhaftierungspolitik jedes Asylsuchenden, der ungeregelt nach Malta einreist. Als einziges Land in der Europäischen Union (EU) erlässt Malta unmittelbar nach der Ankunft der Geflüchteten automatisch eine Abschiebeanordnung und inhaftiert diese in Detention Center. 22, 23 Wenn Geflüchtete einen Asylantrag stellen wird die Abschiebeanordnung für die Dauer des Asylprozesses ausgesetzt. Im Falle einer Asylablehnung steht Betroffenen eine Abschiebung bevor. In den meisten Fällen ist diese jedoch nicht durchführbar, da

18 Vgl. u. a. Klepp, Silja: »A Double Bind: Malta and the Rescue of Unwanted Migrants at Sea, a Legal Anthropological Perspective on the Humanitarian Law of the Sea«, in: International Journal of Refugee Law 23, 3 (2011), S. 538-557. 19 Vgl. Gerard, Alison/Pickering, Sharon: »Gender, Securitization and Transit: Refugee Women and the Journey to the EU«, in: Journal of Refugee Studies 27, 3 (2014), S. 338-359. 20 Pisani, Maria: »›We are going to fix your vagina, just the way we like it.‹ Some reflections on the construction of (sub-saharan) african female asylum seekers in Malta and their efforts to speak back«, in: Postcolonial Directions in Education 2, 1 (2013), S. 6899, hier: S. 78. 21 Minister for Justice and Home Affairs zitiert nach Calleja, Claudia: »Doing away with detention would spell disaster«, in: Times of Malta vom 18.04.2009, http://www. timesofmalta.com/articles/view/20090418/local/doing-away-with-detention-wouldspell-disaster.253274 vom 18.12.2019. 22 Vgl. Mainwaring, Cetta: »Constructing a Crisis: The Role of Immigration Detention in Malta«, in: Population, Space and Place 18 (2012), S. 687-700 Calleya, Stephen/Lutterbeck, Derek: Managing the Challenges of irregular Migrants in Malta, 2008, http:// www.tppi.org.mt/~user2/reports/Irregular-Migration/Report.pdf vom 18.12.2018. 23 Im Jahr 2016 wurde die Aufnahme- und Inhaftierungspolitik Maltas nach Aufforderung der EU reformiert. Fortan wird vor Inhaftierung die Schutzbedürftigkeit überprüft und im Falle einer nicht zumutbaren Haft von einer Inhaftierung abgesehen. Die maximale Haftdauer wurde von 18 auf neun Monate verkürzt (Common Standards and Procedures for Returning Illegally Staying Third Country Nationals Regulations, SL 217.12).

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Abschiebungen von Malta kostspielig sind und es nur wenige Rückübernahmeabkommen zwischen Malta und den Herkunfts- oder Transitstaaten gibt.24

DIE PRODUKTION VON IMMOBILITÄT Die meisten der kennengelernten Geflüchteten, die von Libyens Küsten aufbrachen, hatten Italien zum Ziel. Das ist unter anderem auch darauf zurückzuführen, dass sie Malta nicht kannten. „Wir hatten nie vor, hierher zu kommen. Ich habe das erste Mal von Malta gehört, als wir gerettet wurden“25, erzählte Blaze, der Malta 2010 zusammen mit seiner Frau Jessica erreichte. Nach ihrer Rettung durch die MRU wurden sie im Detention Center inhaftiert. Die einzige Möglichkeit sich tagsüber im ‚Freien‘ aufzuhalten bestand durch die stundenweise Nutzung von kleinen, betonierten Innenhöfen. Bei einem Rundgang durch das Detention Center erklärte mir der leitende Generaloberst, dass die Geflüchteten hier ausreichend Freizeit- und Beschäftigungsmöglichkeiten hätten: Sie haben Brettspiele, sie können Fußball und Basketball spielen [...], sie haben Außenbereiche, selbstverständlich mit hohen Mauern [...]. Aber sie können noch herumlaufen, wir haben kein Einschließsystem. Selbst wenn sie sich nicht in den Innenhöfen aufhalten, können sie sich ja in den Fluren frei bewegen. 26

Die vielen Soldaten, das Überwinden mehrerer Sicherheitsschleusen und nicht zuletzt die vergitterten Räumlichkeiten, die ich während des Rundgangs zu sehen bekam, machten eine Atmosphäre eines Gefängnisses und der totalen Kontrolle allerdings offensichtlich. Die einzige Möglichkeit, die Mauern des Detention Center während der Haftzeit zumindest stundenweise zu verlassen, stellen Arztbesuche dar. „Ein paar Mal habe ich einige Leute zum Dolmetschen in ein Krankenhaus begleitet, weil ihr Englisch nicht gut war. […] Ich habe das regelmäßig angeboten, ich wäre sonst verrückt geworden hinter diesen Mauern,“ 27 erzählte mir Ebrima, der 2013 in

24 Vgl. EMN (2016): Returning Rejected Asylum Asylum Seekers: challenges and good practices. Malta National report. https://ec.europa.eu/home-affairs/sites/homeaffairs/ files/what-we-do/networks/european_migration_network/reports/docs/emn-studies/ emn-studies-19a_malta_2016_rejected_asylum_seekers_en.pdf vom 1.02.2019. 25 Gespräch im Oktober 2015, Malta. 26 Interview am 20. April 2016, Malta. 27 Gespräch im Juli 2015, Malta.

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Malta ankam und elf Monate im Detention Center verbrachte. Der Übersetzungsjob wurde von ihm als Möglichkeit genutzt, um zumindest für ein paar Stunden, das Detention Center verlassen zu können. Goffman bezeichnet diese Jobs als „ausbeutbare Posten“28, die Individuen ergreifen, um sich zumindest ein Stück ihrer Selbstidentität zu bewahren und die gleichermaßen vom Personal des Detention Center toleriert wurden, da ihnen die Dienste der Geflüchteten auch nützlich waren. Ein weiteres Beispiel so genannter „sekundärer Anpassungsmaßnahmen“ 29 stellte das Ansammeln von persönlichem Besitz dar, was im Detention Center verboten war: „Wir haben Zucker, Salz und andere Dinge gesammelt, um sie zu verkaufen oder gegen andere Güter einzutauschen“, berichtete Ebrima. So entstand ein wirtschaftliches Austauschverhältnis zwischen den Geflüchteten, aber auch mit dem Personal. Buba, der im Sommer 2013 mit demselben Boot angekommen ist wie Ebrima, bestätigte diese Praktiken: Um das Leben im Detention Center menschlicher zu gestalten, haben wir begonnen, mit dem Sicherheitspersonal zusammenzuarbeiten. Wir dachten, dass dies uns helfen könnte, unsere Situation zu verbessern. Wir mussten für alles bezahlen, nichts gab es umsonst. Unsere Währung waren Lebensmittel, die uns zur Verfügung standen. Wenn Du Zigaretten wolltest, musstest Du sie für etwas eintauschen. Nescafé war eine besonders beliebte Tauschware.30

Goffman bezeichnet diese Zusammenarbeit mit dem Personal als „ein wichtiges inoffizielles Mittel des Einander-Benützens.“31 Eine solche Beziehung bedarf „ein gewisses Maß an gegenseitigem Vertrauen hinsichtlich der Realität … was jede Seite anbietet.“32 In der häufig angespannten Beziehung zwischen inhaftierten Geflüchteten und den Mitarbeiter*innen zeigten sich aber asymmetrische Machtverhältnisse. Buba erläuterte diese problematische Kooperation: Wenn Du Dich nicht so verhältst, wie sie wollen, bestrafen sie Dich. Eines Tages wurde ich von einem Sicherheitsbeamten beschuldigt, dass ich versucht hätte zu fliehen. Für diese

28 E. Goffman: Asyle, S. 213. 29 Ebd. S. 59. 30 Gespräch im April 2018, Malta. 31 E. Goffman: Asyle, S. 262. 32 Ebd. S. 253.

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ungerechtfertigte Anschuldigung musste ich zusätzlich 158 Tage im staatlichen Gefängnis verbringen.33

Eine Möglichkeit das Detention Center vor Ablauf der Haftdauer zu verlassen, stellen besondere gesundheitliche Umstände dar. Die Gründerin einer lokalen NGO erzählte mir in einem Interview von solchen vorzeitigen Entlassungen: „Im Jahr 2004 bin ich regelmäßig im Detention Center gewesen. […] Viele Frauen wurden schwanger, weil sie wussten, dass sie früher entlassen werden, wenn sie schwanger sind“.34 Blaze und seine Frau verbrachten acht Monate im Detention Center. Dann wurden sie aufgrund Jessicas Schwangerschaft vorzeitig entlassen und in einem der Open Center untergebracht. Unabhängig von ihrem Aufenthaltstitel können Geflüchtete nach ihrer Inhaftierungszeit in diesen Aufnahmezentren für maximal zwölf Monate wohnen. Die Open Center sind eingezäunt und nur durch eine Sicherheitsschleuse passierbar, obwohl es als ‚offene’ Institution gilt. Durch die eingezäunten und häufig in der Peripherie befindlichen Open Center bleiben die Bewohner*innen für die Gesellschaft unsichtbar und werden kriminalisiert sowie immobilisiert. Dies hat meist auch Auswirkungen nach Auslaufen des Unterkunftsvertrages, wenn sich Geflüchtete auf dem privaten Wohnungsmarkt eine Bleibe suchen müssen. Insbesondere aufgrund Diskriminierungen gegenüber Personen aus Subsahara-Afrika, gestaltet sich die Wohnungssuche schwierig. „Wenn man sich auf eine Wohnungsanzeige meldete, hieß es immer, dass die Wohnung nicht mehr verfügbar sei”35, erinnerte sich Buba. Goffman bezeichnet diesen Stigmatisierungsprozess als „Diskulturation“ 36 : „Wenn der einzelne dadurch, daß er Insasse geworden ist, einen niedrigen proaktiven Status gewonnen hat, dann wird man ihn draußen in der Welt mit Vorbehalt begegnen.“37 Diese Diskulturation äußerte sich in vielen alltäglichen Lebensbereichen und untermauern das Gefühl der Unerwünschtheit, weshalb einige der Geflüchteten Malta verlassen wollten.

33 Skypegespräch im April 2018. 34 Interview am 21. Juli 2015, Malta. 35 Skypegespräch im Mai 2018. 36 E. Goffman: Asyle, S. 76. 37 Ebd.

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DAS VERLASSEN DER INSEL Buba versuchte sich lange mit seinem eingeschränkten Leben in Malta zu arrangieren. Zusammen mit seiner schwangeren Verlobten Emily, die EU-Staatsbürgerin ist, lebten sie in einer Einzimmerwohnung im Norden der Insel. Vor der Geburt ihres gemeinsamen Kindes wollten sie heiraten. Die maltesische Bürokratie ermöglichte diesen Wunsch jedoch nicht: Sie haben uns gesagt, dass wir ein Ehefähigkeitszeugnis brauchen. Wir haben viel Geld und Zeit für die Beschaffung dieses Dokuments investiert. Als wir ihnen das Zertifikat vorlegten sagten sie uns „Nun brauchen wir dies und jenes Zertifikat“. Sie haben uns immer beschäftigt gehalten, anstelle uns zu erlauben endlich zu heiraten.38

An diesem Beispiel zeigt sich der Verlust der bürgerlichen Rechte. Vorgesehene Rollen, wie beispielsweise das Verheiratet-Sein, bleiben in bestimmten Lebenssituationen vorenthalten, was Goffman als den „bürgerlichen Tod(es)“ 39 definiert. Buba war frustriert, da er jahrelang mit den maltesischen Behörden kooperierte und sie ihn trotzdem daran hinderten, ein geregeltes Leben zu führen. „All meine Bemühungen waren umsonst,“ rekapitulierte er. 40 Goffman führt dies auf die Konstruktion der totalen Institution zurück: Manchmal werden solche [ausbeuterischen] Posten mit dem Hintergedanken an die Nutzungsmöglichkeiten gesucht [...] während in Wirklichkeit seine besondere Art, von dieser Aufgabe zu profitieren, einen Keil zwischen ihn und die gesteigerten Erwartungen der Anstalt hinsichtlich seiner Person treibt.41

Da alle Versuche scheiterten seinen Aufenthaltsstatus zu legalisieren bzw. mit dem Leben fortzufahren, spielte das Verlassen der Insel für Buba eine große Rolle. Seine Mobilität war rechtlich abhängig von einer Aufenthaltserlaubnis und damit einhergehenden Reisedokumenten, zu denen er aber keinen Zugang bekam. „Es ist verrückt, Du musst nochmal fliehen, diesmal von Malta“, beschrieb er die Situation.42

38 Gespräch im August 2016, Italien. 39 E. Goffman: Asyle, S. 26. 40 Gespräch im August 2016, Italien. 41 E. Goffman: Asyle, S. 213. 42 Gespräch im August 2016, Italien.

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Es gibt verschiedene Möglichkeiten die Insel ungeregelt zu verlassen, die sämtlichen Behörden auch bekannt sind.43 Maßgeblich verantwortlich ist die Tatsache, dass eine Reise von Malta in andere EU-Staaten innerhalb des SchengenRaums44 stattfindet und somit keine regelmäßigen Kontrollen durchgeführt werden. Eine Möglichkeit stellt eine Flugreise dar, wie mir ein leitender Polizeibeamte der Einwanderungspolizei berichtete: Erfahrungen haben uns gezeigt, dass sie [Geflüchtete] versuchen die Reisedokumente ihrer Landsleute zu verwenden, die in anderen EU-Staaten leben. Wenn ich jetzt ein Nigerianer wäre, der in Spanien lebt und eine Aufenthaltserlaubnis für Spanien habe, würde ich meinen Pass an den Nigerianer geben, der in Malta mit einem doppelten Asylablehnungsbescheid lebt. So kann er versuchen damit Malta nach Spanien zu verlassen. Wie Sie wissen gibt es keine Grenzkontrollen zwischen Malta und Spanien.45

Durch das Reisen mit Dokumenten anderer Personen oder mit gefälschten Pässen bedienen sich Geflüchtete des Repertoires, welches das Grenzregime vorgibt: das Reisen mit einem Pass. Durch die Vortäuschung von Konformität werden „Migrierende zu Komplizen ihrer Kontrolle.“46 Für Ebrima, der einen Onkel in Spanien hatte, verlief das selbstständige Verlassen Maltas über eine solche Komplizenschaft problemlos. Obwohl er Malta sehr mochte, sah er keine andere Möglichkeit, als den Inselstaat zu verlassen. „Ich mag Malta wirklich. Aber in Malta ohne Papiere zu leben, ist wie dauerhaft im Kreisverkehr zu laufen.“47 Ebrima war froh, nach Jahren wieder bei einem Teil seiner Familie leben zu können. Manchmal kommt es allerdings dazu, dass am Check-in-Schalter die Reisedokumente genauer betrachtet werden. Vermutet der*die Flughafenmitarbeiter*in eine andere Identität, kommt die Polizei ins Spiel. Suma, der im Sommer 2013 aus dem Senegal nach Malta kam, versuchte mehrmals nach Italien zu kommen. Beim

43 Durch das Sichtbarmachen von informellem Wissen und Praktiken von Fluchtmigrierenden besteht die Gefahr, dass das produzierte Wissen von migrationskontrollierenden Akteur*innen gegen Geflüchtete verwendet werden kann. Ich gebe deshalb nur solches Wissen preis, das den lokalen Behörden und Vertreter*innen weiterer Institutionen schon bekannt gewesen ist. 44 Der Schengen-Raum umfasst 26 europäische Staaten, die gemäß dem »Schengen-Abkommen« eine Pass- und Grenzkontrolle an den gemeinsamen Grenzen abgeschafft haben. 45 Interview am 27. Oktober 2015, Malta. 46 S. Scheel, Autonomie der Migration, S. 10. 47 Gespräch im Juli 2015, Malta.

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ersten Mal wurde er von der Polizei am Flughafen aufgegriffen und erhielt eine viermonatige Gefängnisstrafe wegen des Versuchs der „irregulären Ausreise“. Aber die Haft schreckte Suma nicht davon ab, es erneut zu versuchen. Er erreichte schließlich bei seinem zweiten Versuch Italien, indem er sich für die Überfahrt mit dem Katamaran nach Sizilien entschied. Buba war voller Hoffnung, nachdem er erfahren hatte, dass Suma es geschafft hatte, das Meer abermals zu überqueren. Er sprach mit vielen Leuten, um herauszubekommen, welcher Weg am besten zu bereisen und welche Tageszeit die sicherste sei und in welcher Jahreszeit die wenigsten Sicherheitsmaßnahmen ergriffen wurden.48 Buba hatte sich somit nicht nur gegen, sondern auch innerhalb des Sicherheitsdispositivs Bewegungsfreiheit verschafft. 49 Nachdem Buba sicher in Italien angekommen war, unterhielten wir uns über seine Entscheidung der ‚zweiten Flucht‘: Wir haben bereits das Detention Center überlebt […] Und was ist die Alternative? Es nicht versuchen? Dann sitzt Du auf der Insel fest […] Ich hatte keine Angst, ich war einfach glücklich, wieder mein eigenes Leben in die Hand nehmen zu können. 50

Aufgrund von Kontakten, den richtigen Momenten und Begegnungen war es Buba, Ebrima und Suma möglich, sich Mobilitätspraktiken anzueignen. Derartige Kontakte und Möglichkeiten hatten weder Abu noch Blaze und Jessica. Letztere sehnten sich nach einem geregelten, sicheren Leben. Insbesondere aufgrund ihrer beiden Kinder war der Wunsch groß, mögliche Sicherheiten woanders zu suchen. „Wir versuchen schon seit fast fünf Jahren hier Fuß zu fassen. Aber wir befinden uns immer noch in einer unsicheren Situation,“ erzählte mir Blaze bei einem meiner Besuche.51 Als ich die Familie ein halbes Jahr später wieder besuchte, fragte mich Blaze, ob ich ihm nicht Kontakte verschaffen könnte, damit er Malta mit seiner Familie Richtung Deutschland verlassen könne: Ich habe einen Freund, der es geschafft hat Malta zu verlassen. Er ist jetzt in Deutschland. Er lebt dort illegal, weil er sonst nach Malta zurückgeschoben wird. Wie soll ich Pässe für eine ganze Familie bekommen? Das ist nicht möglich. Gibt es da nicht bestimmte Gesetze,

48 Vgl. auch E. Goffman: Asyle, S. 206: »Will man das System wirksam ausbeuten, dann muß man es genau kennen«. 49 Vgl. S. Scheel: Autonomie der Migration, S. 9. 50 Skypegespräch im Mai 2018. 51 Gespräch im Oktober 2015, Malta.

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auf die wir uns berufen können oder kennst Du Möglichkeiten wie wir endlich ohne all diese Unsicherheiten in Deutschland leben könnten?52

Trotz aller Anstrengungen konnte sich die Familie keine Mobilitätspraktiken aneignen. Unter anderem auch, weil ich ihnen nicht das gewünschte Wissen und Kontakte bereitstellen konnte. Die Beispiele von Blaze und Abu verdeutlichen, dass je nach Ausprägung der Handlungsmacht bestimmte Praktiken der Aneignung möglich sind. Familien haben es dabei besonders schwer, sich Mobilität anzueignen.

IM-/MOBILITÄTSPHÄNOMENE JENSEITS DER INSEL Nach erfolgreicher Reise von Malta in ein anderes EU-Land bevorzugten einige Geflüchtete ein unentdecktes Leben. Durch ein erneutes Asylgesuch wären sie der Gefahr ausgesetzt aufgrund der Dublin-Verordnung nach Malta zurückgeschoben zu werden. Suma wollte dies nicht riskieren und lebte zunächst mehrere Monate ‚unter dem Radar‘ in Rom. Auch Ebrima, der Malta nach mehreren Jahren verließ, zog es vor, unentdeckt bei seinem Onkel in Spanien zu leben. Um seiner Familie einen regulären Aufenthalt zu ermöglichen, beantragte Buba in Italien erneut Asyl. Die Chancen hier Asyl zu bekommen, seien höher als in Malta, sagte seine Anwältin, die sich besonders so genannten Dublin-Fällen angenommen hatte. Häufig käme es auch nicht zu einer Rückschiebung, wie mir ein Mitarbeiter einer lokalen, karitativen NGO in Rom berichtete: „Wenn sie Deine Fingerabdrücke im System finden beginnt das Dublin-Prozedere. [...] Aber von Italien schicken sie selten jemanden zurück, da dies sehr kompliziert ist.“ 53 Die italienischen Behörden sind aber von der Entscheidung der maltesischen Behörden abhängig. Manchmal steht nach einem Jahr Wartezeit immer noch eine Antwort Maltas aus, ohne die kein neues Asylverfahren begonnen werden kann. „Meine Anwältin sagte mir, dass sie Malta jetzt fragen würden, ob sie mich zurückwollen. Wir haben noch keine Antwort. Aber ich bin glücklich, hier zu sein. Alles ist besser als Malta,” erklärte mir Buba als ich ihn und seine Familie in Italien besuchte.54 Somit befand Buba sich auch jenseits von Malta erst einmal in einem ‚Dazwischen‘.

52 Gespräch im April 2016, Malta. 53 Interview am 16. August 2016, Italien. 54 Gespräch im August 2016, Italien.

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In Malta wurden viele Geschichten erzählt, dass das Leben auf dem europäischen Festland einfacher und besser wäre. Allerdings berichtete mir Buba, dass es besonders zu Beginn in Italien sehr schwierig gewesen sei. Eine Wohnung ohne Arbeit bzw. ohne Nachweis eines Arbeitsverhältnisses zu finden gestaltete sich schwierig, denn eine Arbeitserlaubnis erhielt er nicht. Im Gegensatz zu anderen Geflüchteten entschied Buba sich gegen eine informelle Arbeitsaufnahme, um sein erneutes Asylgesuch nicht zu gefährden. Tatsächlich arbeiteten aber viele Geflüchtete ohne Aufenthaltserlaubnis in Italien und wurden dadurch auch zu Opfern ausbeuterischer Verhältnisse. So berichtete der Programmdirektor einer internationalen, humanitären Hilfsorganisation: „Sie werden durch ihre Arbeit sehr ausgebeutet. Ihre Krankheiten stehen in Verbindung mit ihren Lebens- und Arbeitsbedingungen [...] sie arbeiten sehr viel und bis sie nicht mehr können, weil sie keinen Arbeitstag verlieren möchten“.55 Buba verdiente sich Geld durch kleine Tauschgeschäfte. Außerdem boten sich die Geflüchteten gegenseitig verschiedene Dienstleistungen an: Nähen, Haare schneiden, dolmetschen. Der Umschlagplatz für solche Dienstleistungen war ein kleiner Park, in dem sich die Geflüchteten täglich trafen. An einem Tag begleitete ich Buba und Emily dorthin. Wir saßen auf einer der Bänke und unterhielten uns. Die Geflüchteten teilten ihre Erlebnisse und boten sich gegenseitig Unterstützung an. Einige konnten Italienisch sprechen und anderen vor Gericht, bei Anwält*innen oder bei Behörden mit ihren Sprachkenntnissen helfen. Nach dem zuversichtlichen Verlauf Bubas Asylgesuchs, entschied sich Suma dann doch einen erneuten Asylantrag zu stellen. Aus finanziellen Gründen konnte er sich keine anwaltliche Unterstützung leisten, sodass er seinen Antrag selbst einreichte. Dabei gab sich der Senegalese Suma nun als Gambier aus, in der Hoffnung, dass dies einen positiven Bescheid ermöglichen würde. Da die Beweislast auf die Antragsteller*innen verlagert wird, schreiben Geflüchtete manchmal ihre Geschichten um, um sich in die Definition der politischen Verfolgung einfügen zu können. „Viele müssen eine Geschichte erzählen. Denn wenn sie nach den Regeln spielen, werden sie keinen Erfolg haben, egal wie verzweifelt ihre Situation ist“, erläuterte Emily.56 Sumas erneutes Asylgesuch wurde abgelehnt. Aus Angst vor einer möglichen Rückschiebung verließ er Italien und reiste weiter nach Deutschland. Dort lebte er wieder ohne Aufenthaltsstatus. Buba hingegen konnte Emily nach fast zwei Jahren Wartezeit in Italien endlich heiraten. Ende 2018 erhielt er eine fünfjährige EUAufenthaltserlaubnis und lebt heute mit seiner Familie in Holland.

55 Interview am 16. August, Italien. 56 Gespräch im August 2016, Italien.

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DAS LEBEN IM DAZWISCHEN ALS NORMALITÄT? Nicht abschiebbare Geflüchtete erleben den Inselstaat Malta trotz seiner transnationalen Eingebundenheit als geschlossenen und einengenden Raum. Die Metaphern des „Gefängnisses“ und „Gefangen-Seins“ beziehen sich aber weniger auf die Geografie der Insel, sondern auf die Atmosphäre und Umgebung, die Geflüchtete bei ihrer Ankunft, und auch noch Jahre danach, erleben. Aufgrund kontinuierlicher Beschränkungen und Entzugs ihrer Bewegungsfreiheiten finden sich betroffene Geflüchtete in „sozialen Arrangements“ 57 wieder, die unter der Autorität des maltesischen, aber auch EUropäischen Grenzregimes 58 angelegt sind. Die Folgen der Nichtabschiebbarkeit sind kein alleiniges Produkt des Inselstaates, sondern seine Wirkmächtigkeit entfaltet sich erst durch die transnationale Einbettung Maltas in das EUropäische Grenzregime und damit auch über die insularen Grenzen hinaus. Da ein in Malta erhaltener Asylablehnungsbescheid und eine anschließende Nichtdurchführbarkeit der Abschiebung auch in den Folgemigrationsländern Auswirkungen auf das Leben von Geflüchteten hat, spreche ich von der sozialen Produktion der Nichtabschiebbarkeit im transinsularen Raum. Anknüpfend an meinen empirischen Erhebungen wurde deutlich, dass in diesem transinsularen Raum scheinbar gegensätzliche Akteur*innen – Geflüchtete vs. Regierende – in einem Kontinuum von Praktiken agieren. Wohingegen Goffman die Beziehung zwischen den Akteur*innen seiner Studien dichotomisiert 59, gehe ich nicht von einem Subjekt-Objekt-Verhältnis aus. Die Rollen der jeweiligen Akteur*innen sind kontextabhängig und spricht allen Involvierten Handlungsmacht zu. Dennoch sind die Aushandlungen um Bleiberecht und/oder Bewegungsfreiheit in der jeweiligen Situation relational zu denken. Der Grad der Handlungsmacht korreliert mit den Möglichkeiten der Mobilitätsaneignung. Ob die Bemühungen und Aushandlungen der Geflüchteten ihnen tatsächlich Möglichkeiten bieten sich Mobilität anzueignen, hängt aufgrund der asymmetrischen Beziehung zwischen den Akteur*innen, auch von den Absichten und Bemühungen der Menschen ab, mit denen Geflüchtete Kooperationen eingehen oder versuchen Kontakt aufzunehmen.

57 Vgl. E. Goffman: Asyle. 58 Mit der Bezeichnung »EUropäisches« Grenzregime möchte ich in Anlehnung an Maurice Stierl der Gleichsetzung von Europa und EU entgegenwirken und gleichzeitig das EU-europäische Projekt nicht auf die Institutionen der EU reduzieren. Vgl. Stierl, Maurice: »Contestations in death. The role of grief in migration struggles«, in: Citizenship Studies 20, 2 (2016), S. 173–191. 59 Vgl. E. Goffman: Asyle, S. 18.

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Vor dem Hintergrund meiner Forschung lassen sich sowohl widerständige als auch konziliante Praktiken der Mobilitätsaneignungen feststellen, wobei ich von einem fließenden, ineinandergreifenden Übergang ausgehe. Bei beiden Formen sind ausreichend Kenntnisse sowie Kontakte über und im System notwendig. Dabei ist es wichtig zu erwähnen, dass Mobilitätsaneignungen angestrebt und angewandt wurden, weil Betroffene dies mussten und nicht zwingend, weil sie es wollten.60 Die Widerstandspraktiken manifestieren sich einerseits in sichtbarer Form, beispielsweise durch das aktive Erkämpfen von Mobilitätsrechten. Abu, und viele weitere Geflüchtete auch, entschieden sich das Grenzregime „offen herauszufordern“61, um sich Zugang zu verwehrten Rechten zu verschaffen. Andererseits zeigen sich unsichtbare Formen von Widerstandspraktiken durch das Rekodieren von Kontrollmechanismen und die Nutzung von Lücken des Systems sowie Umschreibungen der Asylnarrative. So erwirkten Blaze und Jessica durch eine Schwangerschaft eine vorzeitige Entlassung aus dem Detention Center. Suma und Buba bauten auf die Reisefreiheit des Schengen-Abkommens. Ebrima hingegen umging das System durch eine Komplizenschaft mit der Kontrollinstanz62 indem er sich mittels Nutzung eines fremden Passes Mobilität aneignete. Und Suma versuchte im Folgemigrationsland durch die Angabe einer anderen Staatsbürgerschaft einen Schutzstatus zu erhalten. Gegenüber diesen Widerstandspraktiken zeichnen sich auch Praktiken der Konzilianz ab. Innerhalb des Detention Centers konnten sich Ebrima und Buba durch Tauschgeschäfte ein menschenwürdigeres Leben ermöglichen. Formen des Tausches wurden auch außerhalb der Haft genutzt wie am Beispiel des Dienstleistungstausches deutlich wurde. Kooperationen mit verschiedenen Akteur*innen fasse ich ebenfalls als Praktiken der Konzilianz. Ebrima und Buba boten den migrationskontrollierenden Akteur*innen ihre Unterstützung an, um später von möglichen Vorzügen zu profitieren, was sich jedoch als Irrtum herausstellte. Ebrima, Buba und Suma konnten sich zunächst erfolgreich Mobilität aneignen und den Inselstaat in andere EU-Länder verlassen. Die Mobilitätsaneignung deute ich dabei nicht allein als reaktiv, sondern vor allem als aktives Verhalten in Form einer „gelebte[n] Praxis der Selbstermächtigung.“ 63 Dennoch bleiben trotz

60 Vgl. hierzu Hoffmann, Felix/Otto, Laura: »Zur Post-Autonomie der Migration. Junge Geflüchtete zwischen kämpferischer und friedlicher Agency« in: movements. Journal for Critical Migration and Border Regime Studies (2019, im Erscheinen). 61 S. Scheel: Autonomie der Migration, S. 10. 62 Vgl. ebd. 63 Ebd. S. 11.

Umkämpfte Im-/Mobilitäten | 171

erfolgreicher Folgemigration soziale Mobilitätsformen umkämpft. Während Buba nach einigen Jahren den Kreislauf des ewigen Dazwischen – zumindest temporär – durchbrechen konnte, verblieben Suma und Ebrima auch jenseits Maltas in einem deregulierten Schwebezustand. Der Beitrag hat die Produktivität der stetigen Aushandlungen und Auseinandersetzungen um Mobilität sowie die Auswirkungen der Handlungsmacht der Geflüchteten hervorgehoben. Durch die permanente Anpassung ihrer Praktiken an sich verändernde soziale Bedingungen, werden diese Bedingungen auch von verschiedenen Akteur*innen modifiziert. Geflüchtete durch Mobilitätsbeschränkungen und -entzug dauerhaft in ein rechtliches und physisches Dazwischen zu relegieren scheint ‚Normalität‘ geworden zu sein. Manche können diesem Dazwischen nicht entkommen. Sie sind zwar in die EU- und/oder maltesische Asylbürokratie integriert, werden jedoch offiziell ihrer Rechte beraubt und von jeglichen Unterstützungsmöglichkeiten abgeschnitten. Andere hingegen finden immer wieder Hoffnung und Auswege, denn „[m]it der Zeit lernt man, daß einige Handlungen dazu beitragen, den Aufenthalt zu verlängern oder zumindest nicht zu verkürzen, während andere ein Mittel sind, um [...] [den Schwebezustand] zu verkürzen.“64

64 E. Goffman: Asyle, S. 57.

Räume des Asyls Deutschlernen und die Rolle von Raum für die lokale Aushandlung von Asylregimen 1 Martina Blank

EINLEITUNG Asylregime werden in „Verhandlungszonen des Lokalen“ 2 alltäglich auf lokaler Ebene ausgehandelt. Ein Kristallisationspunkt solcher Aushandlungsprozesse ist in Deutschland der Spracherwerb. Für eine bestimmte Phase des Ankommens bildet er einen entscheidenden Teil des Alltags von Geflüchteten und ist geprägt von staatlichen Vorgaben und dem Imperativ der Integration 3. Zentral dafür sind die 1

Für Vorarbeiten danke ich Andre Mascarinas, für hilfreiche Zuarbeit Afra Höck und für ihre kritischen Anmerkungen und wertvollen Hilfestellungen Robert Pütz, Mathias Rodatz, Jan Kordes und Denis Guth.

2

Pott, Andreas/Tsianos, Vassilis S.: »Verhandlungszonen des Lokalen: Potentiale der Regimeperspektive für die Erfoschung der städtischen Migrationsgesellschaft«, in: Jürgen Oßenbrügge/Anne Vogelpohl (Hg.), Theorien in der Raum- und Stadtforschung, Münster: Westfälisches Dampfboot 2014, S. 116-135.

3

Bundesregierung: Der Nationale Integrationsplan, Berlin: Presse- und Informationsamt der Bundesregierung 2007. Vgl. Zur Nieden, Birgit: »›... und deutsch ist wichtig für die Sicherheit!‹«, in: Sabine Hess/Jana Binder/Johannes Moser (Hg.), No integration?!, Bielefeld: Transcript 2009, S. 123-136; Stevenson, Patrick/Schanze, Livia: »Language, migration and citizenship in Germany«, in: Guus Extra/Massimiliano Spotti/Pet Van Avermaet (Hg.), Language Testing, Migration and Citizenship, London: Bloomsbury 2009; Varela, Castro/Do Mar, María: »Integrationsregime und Gouvernementalität«, in: Mechtild Gomolla et al. (Hg.), Bildung, Pluralität und Demokratie, Hamburg: Helmut-Schmidt-Universität 2015, S. 66-83.

174 | Martina Blank

Integrationskurse. Anerkannte Asylbewerber*innen sind zu Teilnahme und erfolgreichem Abschluss nach §44 und §44a des Aufenthaltsgesetzes berechtigt und verpflichtet. Verpflichtet, als dass bei Nichtbesuch Sozialleistungen gekürzt werden können und das Nichtbestehen des Abschlusstests Auswirkungen auf die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis haben kann. Berechtigt, als dass die Kosten anteilig vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) übernommen werden4. Der offizielle Spracherwerb macht Integration zu einer messbaren und kontrollierbaren Leistung von Migrant*innen und die Deutschlehrer*innen zu deren Kontrolleur*innen5. Daneben gibt es vielerorts ergänzende Regelungen und Angebote. Die Stadt Frankfurt am Main übernimmt z. B. teilweise die Kursfinanzierung für Geflüchtete, die aufgrund geringer Bleibeperspektive keinen Anspruch auf BAMF-Förderung haben6. Von großer Bedeutung sind außerdem selbstorganisierte und ehrenamtliche Angebote zum Spracherwerb. Einige dieser ehrenamtlichen Angebote orientieren sich an den offiziellen Vorgaben, während andere alternative Praxen des Deutscherwerbs erproben7 und fast alle Lerngruppen stehen in einem mehr oder weniger ambivalenten Ergänzungsverhältnis zum staatlichen Angebot. Ehrenamtliche Deutschlernangebote und ihre Nutzung durch Geflüchtete erweisen sich so bei näherer Betrachtung als Teil der lokalen Aushandlung des Asylregimes: Verschiedene, sich teils ergänzende, sich teils widersprechende Institutionen, Diskurse, Strategien und Akteure treffen an konkreten Orten aufeinander und bringen gemeinsam je spezifische Konstellationen und Handlungsoptionen hervor. Dies gilt auch für das Angebot eines stadtteilbasierten Helfer*innennetzes in Frankfurt a.M., das im Folgenden betrachtet wird. Das Netzwerk besteht aus ca. 40 aktiven und 60 passiven Mitgliedern, die seit 2015 Hilfen für Geflüchtete in einem Frankfurter Stadtteil organisieren. Dazu gehören Patenschaften, eine Fahrrad-Reparatur-Gruppe, eine Ausflugsgruppe u. v. m. Außerdem gibt es zwei

4

Normalerweise liegt die Obergrenze für die Kostenübernahme bei 600 bis 900 Unterrichtseinheiten (UE). Bei Alphabetisierungsbedarf können bis zu 1200 UE in Anspruch genommen werden. Das BAMF übernimmt nur einen Teil der Kosten, die Teilnehmer*innen müssen sich zu 50%, seit Juli 2016 mit 1,95 Euro pro UE an den Kosten beteiligen, außer sie sind leistungsberechtigt nach SGBII, dann übernimmt das Jobcenter den Eigenanteil.

5

B. Zur Nieden: ... ›und deutsch ist wichtig für die Sicherheit!‹, S. 127 & 134.

6

https://fluechtlinge-frankfurt.de/deutsch-lernen-2/#toggle-id-7 vom 25.01.2019.

7

Vgl. Heinemann, Alisha M. B.: »Alles unter Kontrolle?«, in: Zeitschrift für Weiterbildungsforschung 41/1 (2018), S. 79-92.

Räume des Asyls | 175

Angebote zur Unterstützung beim Deutschlernen: einen Deutschlerntreff sowie eine Hausaufgabenhilfe. Obgleich mit unterschiedlichen Konzepten gestartet, ähneln sich die beiden Angebote sehr. Der Deutschlerntreff wurde 2016 ins Leben gerufen und findet montags und donnerstags am frühen Abend statt. In der Regel treffen hier drei bis acht Helfer*innen auf ebenso viele Geflüchtete, so dass zumeist Einzelbetreuung gewährleistet ist. Andernfalls wird in Gruppen gearbeitet. Inhaltlich orientiert sich die Arbeit an den mitgebrachten Aufgaben aus Integrationskursen, Berufsschule u. ä. Manchmal kommen auch Menschen ohne eigene Lernvorgaben, dann wird improvisiert. Die Hausaufgabenhilfe wurde im Spätsommer 2017 ins Leben gerufen und findet dienstags und mittwochs am späten Nachmittag statt. Sie war ursprünglich für geflüchtete Kinder gedacht, wird aber auch von Erwachsenen als Ergänzung zu den Integrationskursen oder als Ersatz für fehlende Deutschlernangebote genutzt. Das zahlenmäßige Verhältnis von Helfer*innen und Lernenden ähnelt jenem des Deutschlerntreffs. Auch inhaltlich ähneln sich die Angebote, nur dass in der Hausaufgabenhilfe zusätzlich Kinder betreut werden. Die Hauptdifferenz zwischen beiden Angeboten ist auch aus Sicht der Ehrenamtlichen der Veranstaltungsort: Während der Deutschlerntreff gezielt auf ein Lernen außerhalb von Sammelunterkünften für Geflüchtete gerichtet ist, war die Hausaufgabenhilfe von Beginn an als Angebot innerhalb einer der drei im Stadtteil gelegenen Sammelunterkünfte gedacht. Wie gezeigt wird, entsteht dabei mehr als ein örtlich differenziertes Angebot. Vielmehr, so die hier verfolgte These, ko-produzieren die beteiligten Akteure spezifische Räume des Asyls, die als Verräumlichung der Aushandlung von Asylregimen je unterschiedliche Ausprägungen vor Ort materialisieren. Im Folgenden möchte ich dafür zunächst einige grundsätzliche Überlegungen zum Verhältnis von Regimen und Räumen vorstellen, um anschließend die Produktion von Räumen des Asyls am eingeführten Beispiel des Deutschlernens im Stadtteil zu rekonstruieren und damit die Bedeutung von Raumproduktionen für Regimeprozesse zu verdeutlichen. Meine Ausführungen stützen sich auf eine neunmonatige teilnehmende Beobachtung verschiedener Deutschlernangebote und anderer flüchtlingsbezogener Aktivitäten zwischen November 2017 und Juni 2018 sowie Gespräche und Interviews mit Hauptamtlichen, Ehrenamtlichen und Geflüchteten. Die Ergebnisse werden im Folgenden anonymisiert vorgetragen.

176 | Martina Blank

REGIME & RAUM Die wissenschaftliche Debatte zu Flucht und Migration wird seit einiger Zeit von Regimeperspektiven befruchtet8. Bei aller Uneinheitlichkeit ist allen Regimeperspektiven an einer Öffnung des Forscher*innenblicks auf die Komplexität der vorgefundenen Situationen gelegen9. Dazu gehört auch die Rolle von Raum. Denn Migration ist eine ganz offensichtlich räumliche Praxis und Raum im Reden über Migration allgegenwärtig10. Pott und Tsianos schlagen vor, „Raum als Medium bzw. Mechanismus der Formung und Stabilisierung von Regimen zu konzipieren“11. Dies lässt sich auf Asylregime übertragen. In Anschluss an Pott und Tsianos verstehe ich Regime als „integrierte, sich historisch wandelnde Handlungs- und Gestaltungsarenen mit spezifischen Konstellationen individueller, kollektiver und institutioneller Akteure“12. Asylregime betrachte ich als auf den Komplex Flucht und Asyl bezogene Teile von Migrationsregimen13, die über eigene Akteurskonstellationen und eigene institutionelle, rechtliche, diskursive und politische Settings verfügen. Dazu gehören z. B. besondere Rechte und Pflichten 14 , spezifische

8

Für einen ersten Überblick: Pott, Andreas/Rass, Christoph/Wolff, Frank (Hg.): Was ist ein Migrationsregime? What Is a Migration Regime?, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2018.

9

Horvath, Kenneth/Amelina, Anna/Peters, Karin: »Re-thinking the politics of migration«, in: Migration Studies 5/3 (2017), S. 301-314; Rass, Christoph/Wolff, Frank: »What Is in a Migration Regime?«, in: A. Pott/C. Rass/F. Wolff (Hg.), Was ist ein Migrationsregime?, S. 19-64.

10 Pott, Andreas: »Migrationsregime und ihre Räume«, in: A. Pott/C. Rass/F. Wolff (Hg.), Was ist ein Migrationsregime?, S. 107-135, hier S. 111-113. 11 A. Pott/V.S. Tsianos: Verhandlungszonen des Lokalen, S. 118. 12 Ebd., S.121. 13 Vgl. Müller, Doreen: Flucht und Asyl in europäischen Migrationsregimen, Göttingen: Universitätsverlag Göttingen 2010. 14 Sare, Semira: »Rechtliche Rahmenbedingungen der neuen Einwanderungen«, in: Rauf Ceylan/Markus Ottersbach/Petra Wiedemann (Hg.), Neue Mobilitäts- und Migrationsprozesse und sozialräumliche Segregation, Wiesbaden: Springer Fachmedien 2018, S. 51-67.

Räume des Asyls | 177

Diskurse15 und Diskursproduzent*innen16, eigene zivilgesellschaftliche Organisationsformen und Unterstützungsstrukturen17, gesonderte Wohnformen18 u. v. m. Die Aushandlung von Asylregimen wird von der Produktion spezifischer Räume des Asyls begleitet, die diese materialisieren und damit formen und stabilisieren. Diese Produktion von Räumen des Asyls findet auch auf lokaler Ebene statt; Hinger et al. sprechen von einer „local production of asylum“ 19. Lokalspezifische rechtliche Vorgaben und Diskurse finden sich z. B. in Konzepten zu kommunalen Integrationsmaßnahmen und Unterbringungskonzepten für Geflüchtete20. Arbeiten, die sich mit Sammelunterkünften befassen, zeigen, dass Raum vor Ort umkämpft bleibt und ständig neu verhandelt wird21. Auch Untersuchungen zu Protest und Aktivismus22 zeigen, wie sich Geflüchtete Räume aneignen, sie transformieren oder neu hervorbringen. Zu den Aushandlungen vor Ort gehören außerdem Alltagspraxen von Helfer*innen. Ihre Arbeit äußert sich lokal unterschiedlich, ist zumeist an spezifische Orte (Beratungsstelle, Unterrichtsraum, Fahrradwerkstatt)

15 Hess, Sabine/Karakayali, Serhat: »New Governance oder Die imperiale Kunst der Regierens«, in: Transit Migration Forschungsgruppe (Hg.), Turbulente Ränder, Bielefeld: transcript 2007, S. 39-55. 16 Oeltjen, Ole: »Die Interessenvertretung der >Anderen