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German Pages [569] Year 2019
Katrin Wille
Die Praxis des Unterscheidens
Historische und systematische Perspektiven
VERLAG KARL ALBER
https://doi.org/10.5771/9783495817360
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Katrin Wille Die Praxis des Unterscheidens
VERLAG KARL ALBER
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Katrin Wille
Die Praxis des Unterscheidens Historische und systematische Perspektiven
Verlag Karl Alber Freiburg / München
https://doi.org/10.5771/9783495817360 .
Katrin Wille The Praxis of Making Distinctions Historical and Systematic Perspectives In the course of the 20th century, highly normatively charged distinctions such as those between »human« and »animal« or »woman« and »man« were called into question. This has made it urgently necessary for us not only to reconsider such distinctions, but also to think about the ways in which we differentiate or draw distinctions between types of things in the first place. However, we cannot simply give a general overview of our praxis of making distinctions. Instead, we need to reflect on exemplary cases of specific ways in which we make distinctions. The present study does so by focusing on the distinction between »wish« and »will«. This distinction concerns our self-image as agents, and as such it reveals the experience of a discrepancy between that which we intend to do and want to do and that which we actually end up doing. The aim of this work—both the study of an exemplary case undertaken in the first part and the methodological groundwork provided in the second part—is to develop a framework for systematic research regarding our specific and concrete practices of making distinctions. In conjunction with Plato and Hegel, this study makes the case for a dynamic and dialectical method of making distinctions.
The Author: Katrin Wille studied philosophy, protestant theology, and history at the Universities of Münster and Munich. In 2000 she received her PhD at the LMU Munich. From 2006 to 2013 she taught at the Philipps University of Marburg. Since 2014 she has been a member of the Department of Philosophy at the University of Hildesheim. In 2017 she received her habilitation at the Friedrich Schiller University of Jena. Her research focuses on making distinctions, American pragmatism, feminism, German idealism, and forms of philosophical praxis.
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Katrin Wille Die Praxis des Unterscheidens Historische und systematische Perspektiven Im 20. Jahrhundert sind Zweifel an normativ hoch aufgeladenen Unterscheidungen aufgekommen, wie zwischen Mensch und Tier oder zwischen Frau und Mann, und dies hat die Dringlichkeit gesteigert, nicht nur über bestimmte Unterscheidungen zu streiten, sondern sich auf die Arten und Weisen unseres Unterscheidens selbst zu richten. Unsere Praxis des Unterscheidens lässt sich nicht als ganze überblicken, sondern nur exemplarisch an bestimmten Unterscheidungsvollzügen reflektieren. Dies geschieht in der vorliegenden Studie am Beispiel der Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille. Diese Unterscheidung betrifft unser Selbstverständnis als Handelnde und sie verweist auf die Erfahrung der Diskrepanz zwischen dem, was wir uns vornehmen und gerne tun würden, und dem, was wir tatsächlich tun. Das Ziel der exemplarischen Unterscheidungsstudie im ersten Teil wie der methodischen Grundlegung im zweiten Teil liegt darin, einen Grundriss spezifischer, inhaltsgesättigter und systematischer Unterscheidungsforschung zu entwerfen. Votiert wird in Auseinandersetzung mit Platon und Hegel für eine dynamische Weise dialektischen Unterscheidens.
Die Autorin: Katrin Wille ist 1971 in Göttingen geboren; Studium der Philosophie, Ev. Theologie und Geschichte an den Universitäten Münster und München. 2000 Promotion an der LMU München, 2006–2013 Akademische Rätin an der Philipps-Universität Marburg, seit 2014 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Philosophie der Universität Hildesheim, 2017 Habilitation an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Unterscheidungsforschung, amerikanischer Pragmatismus, Feminismus, Deutscher Idealismus sowie Praxisformen des Philosophierens.
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Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2018 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Umschlagmotiv: Sophie Taeuber-Arp, Komposition mit Kreisen Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-48988-8 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-81736-0
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Für Rolf, Naomi und Noel
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Inhalt
Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Allgemeine Einleitung: Zum Profil philosophischer Unterscheidungsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . i. Rückwirkungen zwischen Unterscheidungen und Unterscheidungsweisen: Drei Skizzen . . . . . . . . ii. Besonderheiten der doppelten Aufmerksamkeit auf Unterscheidungen als Unterscheidungen: Operativität und Anlassbezogenheit . . . . . . . . . . . . . . . iii. Die Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille . . iv. Aufbau der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . v. Zur Forschungslage . . . . . . . . . . . . . . . . . vi. Zum begrifflichen Feld . . . . . . . . . . . . . . . . vii. Zur Darstellungsform . . . . . . . . . . . . . . . .
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25 29 31 37 46 55
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Teil I: Die Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille Einleitung in den ersten Teil . . . . . . . . . . . . . . . . a) »Wünschen« und »Wollen« im alltäglichen Sprachgebrauch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Wunsch und Wille in der praktischen Philosophie c) Sachliches und methodisches Anliegen . . . . . .
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59 63 71
1. Kapitel: Beschreibungen: Wie wir wünschen und wie wir wollen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung zum ersten Kapitel . . . . . . . . . . . . a) Die Aufgabe von Beschreibungen . . . . . . b) Exemplarische Situationen . . . . . . . . . c) Zur Auswahl der exemplarischen Situationen
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77 77 78 83 86
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Inhalt
1.1 Wünschen und Wollen im reflexiven Selbstverhältnis . . 1.2 Wollen und Wunsch im Dialog . . . . . . . . . . . . . 1.3 Wünschen oder Wollen in der Beschreibung gesellschaftlicher Herausforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Kapitel: Analysen: Vom Wollen als mentale Anstrengung zur Muskelempfindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung zum zweiten Kapitel . . . . . . . . . . . . . . . a) Grenzen von Modellbildungen . . . . . . . . . . b) Die Aufgabe von Analysen . . . . . . . . . . . . c) Zur Auswahl der Autoren: Sigwart, Kant, Wittgenstein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Sigwart zur inneren Dramaturgie des Wollens und Wünschens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1 Das Phasenmodell des Wollens . . . . . . . . . 2.1.2 Die beiden Funktionen von Wünschen . . . . . 2.1.3 Kritische Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Kant: Von der »Aufbietung aller Mittel« zur »Realrepugnanz« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Willensbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Kausalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.3 Die Struktur des Wünschens . . . . . . . . . . 2.2.4 Ordnung praktischer Begriffe . . . . . . . . . . 2.2.5 Moralische Kritik und Selbstkritik . . . . . . . . 2.3 Wittgenstein: Über die Gefahr, Wunsch und Wille zu verwechseln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1 Wille und Muskelgefühl . . . . . . . . . . . . . 2.3.1.1 Wie über Wollen und Wünschen zu sprechen ist: Sinnvolle, sinnlose und unsinnige Sätze . . . . . . . . . . . . . 2.3.1.2 Wille und Leib . . . . . . . . . . . . . 2.3.2 Wittgensteins Warnung vor einer gefährlichen Verwechslung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3 Der umgreifende Charakter des Handelns . . . .
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92 102 108 115 115 116 119
. 122 . . . .
126 129 132 137
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142 145 152 159 174 195
. 203 . 206 . 208 . 214 . 218 . 233
Inhalt
3. Kapitel: Kritik: Handlungen bestehen nicht aus zwei Komponenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung zum dritten Kapitel . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Aufgabe von Kritik . . . . . . . . . . . . . . . b) Zur Auswahl der kritisierten Ansätze . . . . . . . . 3.1 Willensschwäche in der Kritik . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1 Alternative Beschreibungen: Welche Unterscheidungen bewirken was? . . . . . 3.1.2 Wie unterschieden wird: Praktisches Urteil, Handlung, Bewertung und Motivation . . . . . . 3.1.3 Unterscheidungskritische Figuren in der Debatte . 3.2 Kritik an der Reduktion von Wünschen auf Präferenzen . 3.3 Sachliche und methodische Konsequenzen aus der Kritik: Verschiebung der Aufmerksamkeit auf einen einfachen Begriff des Handelns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.1 Anschlussmöglichkeiten an die dialektische Handlungstheorie Hegels . . . . . . . . . . . . . 3.3.2 Zur Darstellungsform: Dialektische Erfahrungen . 4. Kapitel: Konstruktion: Handeln als dialektischer Prozess von Entwerfen und Gestalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung zum vierten Kapitel . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Aufgabe von Konstruktionen . . . . . . . . . . b) Was heißt »dialektisch«? . . . . . . . . . . . . . . c) Die Dialektik des Handelns . . . . . . . . . . . . . 4.1 Handeln als Zusammenspiel von Entwerfen und Gestalten 4.2 Erfahrungen von Verschiedenheit, Differenz und Gegensatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Rückwirkungen gestalten 1: Handeln heißt sich festlegen . 4.4 Rückwirkungen gestalten 2: Handeln heißt verkörpern . 4.5 Rückwirkungen gestalten 3: Handeln heißt anschließen . 4.6 Rückwirkungen gestalten 4: Handeln heißt ein Interaktionsangebot machen . . . . . . . . . . . . . . . Schluss des ersten Teils: Die Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille im Rahmen einer dialektischen Handlungstheorie . .
239 239 239 242 245 245 250 257 264
271 272 281 288 288 288 291 295 298 313 328 344 354 366 373
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Inhalt
Teil II: Unterscheidungsforschung als Methode Einleitung in den zweiten Teil . . . . . . . . . . . . a) Zum Ausdruck »Unterscheidungsforschung« b) Rückblick aus methodischer Perspektive . . c) Zum Aufbau des zweiten Teils . . . . . . .
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381 381 383 384
1. Kapitel: Warum Unterscheidungsforschung spezifisch ist Einleitung zum ersten Kapitel . . . . . . . . . . . . . 1.1 Aufmerksamkeit auf Unterscheidungen . . . . . . 1.2 Pragmatik von Unterscheidungen . . . . . . . . . 1.3 Unterscheidungsgewohnheiten . . . . . . . . . .
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387 387 389 392 400
2. Kapitel: Warum Unterscheidungsforschung inhaltsgesättigt ist Einleitung zum zweiten Kapitel . . . . . . . . . . . . . . . . a) Zur existentiellen Dringlichkeit von Unterscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Unterscheidungen zurücknehmen . . . . . . . . . c) In Unterscheidungen verstrickt . . . . . . . . . . . 2.1 Praktiken des Unterscheidens . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1 Verfahren, die Unterscheidung zwischen Sophist und Philosoph zu untersuchen . . . . . . . . . . 2.1.1.1 Begriffe teilen: dihaireisthai . . . . . . . . 2.1.1.2 Gegen-Sprechen: diapherein . . . . . . . 2.1.1.3 Verwechslungen auflösen: diakrinein 1 . . 2.1.1.4 Begriffe bestimmen: diorisasthai . . . . . 2.1.1.5 Selbstreflexives Unterscheiden: diakrinein 2 . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.2 Vier Praktiken des Unterscheidens . . . . . . . . 2.1.2.1 Einteilen . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.2.2 Kontrastieren . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.2.3 Bestimmen . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.2.4 Differenzieren . . . . . . . . . . . . . . .
406 406
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409 411 413 415 416 418 428 431 434 436 443 444 447 452 454
Inhalt
2.2 Strukturen von Unterscheidungen . . . . . . . . . . 2.2.1 Zurücknehmen von Unterscheidungen: Quellen und Bezüge . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Unterscheidungen und Unterschiede . . . . . 2.2.2.1 Verwendungen der Unterscheidung zwischen Unterscheidungen und Unterschieden . . . . . . . . . . . . . 2.2.2.2 Zurücknehmen statt Abstraktion . . . 2.2.3 Strukturen von Unterscheidungen analysieren 2.3 Unüberblickbarkeit und Vorgängigkeit . . . . . . . . 2.3.1 Im Gewimmel der Differenzen . . . . . . . . 2.3.2 Sich Differenzieren . . . . . . . . . . . . . .
. . 456 . . 457 . . 460 . . . . . .
461 465 473 479 481 494
3. Kapitel: Warum Unterscheidungsforschung systematisch ist . Einleitung zum dritten Kapitel . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Dialektisches Unterscheiden: Quellen und Bezüge . . . . 3.2 Die Tätigkeiten des Unterscheidens: Trennen und Beziehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Gegenseitige Abhängigkeit von Trennen und Beziehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2 Selbstreflexivität von Unterscheidungen . . . . . 3.3 Verschiedenheitserfahrungen, Differenzerfahrungen, Gegensatzerfahrungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Rückwirkungen erfahren . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.1 Trennen und Beziehen als Duplizität der Erfahrung 3.4.2 Die Selbstreflexivität von Unterscheidungen als Zurückgehen ins noch nicht Bestimmte . . . . . . 3.4.3 Rückwirkungen als spekulative Zurücknahme . . .
499 499 502
Schluss des zweiten Teils: Zum Sprachgebrauch Ausblick: Ethik des Unterscheidens
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507 510 513 515 523 524 528 530
. . . . . . . . 534
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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Danksagung
Eine philosophische Arbeit braucht Menschen, die inspirieren und Menschen, die die Durchführung ermöglichen. Die entscheidende Inspiration zu dieser Arbeit war sicher die Zeit des Lernens bei und Arbeitens mit Matthias Varga von Kibéd an der Ludwig-Maximilians-Universität München, in der mir die Tragweite der Arbeit am Unterscheidungsbegriff und an Praxisformen des Unterscheidens und auch die Kraft der Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille deutlich wurden. Aber eine Arbeit über die Praxis des Unterscheidens zu schreiben wäre immer noch Wunsch geblieben, wenn nicht andere hartnäckig und liebevoll zugleich den Schritt ins Wollen begleitet hätten: Rolf Elberfeld und Andrea Esser. Allen dreien bin ich zu tiefem Dank verpflichtet. Die Arbeit ist im November 2016 unter dem Titel »Die Praxis des Unterscheidens. Beschreibung, Analyse, Kritik und Konstruktion philosophischer Unterscheidungen am Beispiel von Wunsch und Wille« an der Philosophischen Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität Jena als Habilitationsschrift angenommen worden. Ich danke Gutachterin und Gutachtern Prof. Dr. Andrea Esser, Prof. Dr. Christoph Demmerling und Prof. Dr. Michael Hampe für ihre Bereitschaft, dies Projekt zu unterstützen und für ihre ausführlichen Stellungnahmen zu meiner Arbeit. Ich danke Anna Berres (†), die mich bei der Erstellung der Endfassung sehr unterstützt hat und die die Veröffentlichung nicht mehr erlebt, und Leon Krings für scharfe Augen und kritische Nachfragen.
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Allgemeine Einleitung: Zum Profil philosophischer Unterscheidungsforschung
Unterscheidungen zu treffen und zu verwenden gehört zu den grundlegenden Tätigkeiten menschlichen Lebens. Unterscheidungen wie die zwischen privat und öffentlich oder zwischen Kindern und Erwachsenen, Leben und Tod oder gut und schlecht prägen nicht nur unsere Lebenswelt, sondern auch die Wissenschaften. Es ist seit jeher eine der zentralen Aufgaben der Wissenschaften und der Philosophie, Unterscheidungen in ihrer Wirkung zu beschreiben, zu analysieren, zu kritisieren und neue Unterscheidungen ins Spiel zu bringen. Zu den Aufgaben der Philosophie gehört es, zu beschreiben, wie beispielsweise die Unterscheidung zwischen gut und schlecht verwendet wird, zu analysieren, was die eine Seite und was die andere im Verhältnis zueinander bedeuten, zu kritisieren, wenn die Bedeutungen unklar sind oder unausgewiesene Geltungsansprüche damit verbunden werden und eventuell andere Unterscheidungen vorzuschlagen, um Klarheit zu erzeugen und weitere Anschlüsse zu ermöglichen. Fragen, die das Philosophieren in Gang setzen und nötig machen, können Fragen danach sein, wie unterschieden werden kann und soll. In unserer lebensweltlichen und wissenschaftlichen Arbeit mit und an Unterscheidungen kommt es in den verschiedensten Zusammenhängen und aus den verschiedensten Gründen dazu, dass Schwierigkeiten im Umgang mit den jeweiligen sachhaltigen Unterscheidungen zu einer Reflexion auf andere Möglichkeiten führen, diese Unterscheidungen zu modellieren. Abhängig vom Problemdruck der sachhaltigen Unterscheidungen können sich Anforderungen ergeben, Unterscheidungen zu verteidigen, zurückzunehmen oder zu modifizieren. Sollen wir unterscheiden zwischen absolut und relativ Gutem? Was heißt das eine im Kontrast zum anderen, also was heißt absolut Gutes im Kontrast zu relativ Gutem? Wie sind die beiden kontrastierten Seiten aufeinander zu beziehen? Ist die Unterscheidung strikt oder graduell? Ist ein Zweck entweder relativ oder absolut gut oder gibt es noch weitere Möglichkeiten? Argumente, die zur Klärung solcher Fragen ins 17 https://doi.org/10.5771/9783495817360 .
Allgemeine Einleitung: Zum Profil philosophischer Unterscheidungsforschung
Feld geführt werden, weisen eine Besonderheit auf: Es werden der Bezug auf die Erfordernisse der Sache und der Bezug auf das Für und Wider verschiedener Unterscheidungsweisen miteinander verbunden. Manche Unterscheidungsweisen scheinen mit einer bestimmten Theorieform geradezu direkt verbunden zu sein. In der Frage nach der Art und Weise der Unterscheidung zwischen absolut und relativ Gutem gehört es beispielsweise zur kantischen Theorieform, strikte Unterscheidungen einzuführen und zu verteidigen. Dagegen gehört es zur Theorieform des Pragmatismus bei John Dewey, mit graduellen Unterschieden zu arbeiten, wie in diesem Beispiel oder auch in Bezug auf den graduellen Unterschied zwischen Geist und Körper. Mit Unterscheidungen zu arbeiten und über Unterscheidungen nachzudenken ist in der Philosophie in einem bestimmten Sinne eine Selbstverständlichkeit. Und wie immer bei Selbstverständlichkeiten, ist es nicht einfach zu sagen, warum man sie befragen sollte und wie man sie, wo sie doch überall wirksam sind, sinnvoll zum Gegenstand machen kann. Eine Evidenz dafür, dass und warum es sich lohnt, die Frage nach Unterscheidungen als Unterscheidungen zu stellen, kann nur aus Erfahrungen mit den Rückwirkungen zwischen den konkreten Unterscheidungen selber und den möglichen Weisen, wie sie zu treffen sind, entstehen. Kommen mehrere solcher Erfahrungen zusammen, kann die Überzeugung wachsen, dass es sich lohnt, dieses Wechselverhältnis zu einem eigenen Thema philosophischen Nachdenkens zu machen und so zu philosophieren, dass beides im Blick behalten werden kann. Ich verstehe diesen Versuch auch als kritischen Beitrag zu einer weit verbreiteten Tendenz, mit Unterscheidungen umzugehen. Vielfach ist eine Art und Weise des Unterscheidens derart gängig geworden, dass Alternativen und deren Möglichkeiten zu stark aus dem Blick geraten, nämlich die Art und Weise, Unterscheidungen als Einteilungen zu verstehen. Nach meinem Eindruck werden heute viele der großen »Debatten« – wie zum Beispiel die Debatte um Willensfreiheit – anhand der Einteilung von Positionen geführt. Oder, um ein anderes Beispiel zu nennen, gehen viele der neueren Lehrbücher dazu über, Disziplinen der Philosophie über Einteilungsschemata von Positionen zu erschließen. 1 Demgegenüber ist zunächst ein Problem1 Vgl. zum Beispiel Michael Quante, Einführung in die Allgemeine Ethik, Darmstadt 2006.
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Rückwirkungen zwischen Unterscheidungen und Unterscheidungsweisen
bewusstsein für das feine Zusammenspiel zwischen konkreten Unterscheidungen und Unterscheidungsweisen zu gewinnen und ich will deshalb zu Beginn drei kurze Skizzen möglicher philosophischer Erfahrungen mit diesem Zusammenspiel präsentieren.
i.
Rückwirkungen zwischen Unterscheidungen und Unterscheidungsweisen: Drei Skizzen
Erstens: An der kritischen Arbeit zur Geschlechterunterscheidung, die interdisziplinär mit Beteiligung der Philosophie geführt wurde und wird, lässt sich studieren, wie eine fundamentale, unser Leben in erheblichem Maße organisierende Unterscheidung wie die Geschlechterunterscheidung ihre Selbstverständlichkeit verliert und zum Gegenstand der Kritik wird. An diesem Beispiel kann deutlich werden, wie stark Unterscheidungen wirken, auf welche Weisen sie unverfügbar gemacht worden sind (z. B. durch Naturalisierungen) und wie sie anders entworfen werden könnten. Die Gender-Debatte, in der genau dies geleistet wird, lässt sich deshalb paradigmatisch als »Experimentierfeld mit Unterscheidungen« 2 rezipieren. Im Zentrum der Genderforschung und der feministischen Forschung stehen zwei Unterscheidungen, nämlich die zwischen Frauen und Männern und die zwischen sex und gender. Die Variationsbreite der Genderforschung leitet sich daraus ab, wie diese Unterscheidungen gebraucht werden oder wodurch sie ersetzt werden. Gegenstand historischer und gegenwartsbezogener Analysen ist, wie die Unterscheidung zwischen Frauen und Männern hierarchisch gewendet worden ist, wie sie Funktionsbereiche von Gesellschaften strukturiert hat und gegenwärtig (nicht mehr oder noch) strukturiert. Aus der Frage, ob und – wenn ja – wie die Unterscheidung verschiedene Funktionsbereiche von Gesellschaften strukturieren soll, entsteht anhaltender Regelungsbedarf in unseren normativen Systemen. Ein Beispiel dafür ist die EntscheiDiese Skizze habe ich in den beiden folgenden Studien weiter ausgeführt: Katrin Wille, »Gendering George Spencer Brown. Die Form der Unterscheidung und die Analyse von Unterscheidungsstrategien in der Genderforschung«, in: C. Weinbach (Hg.), Geschlechtliche Ungleichheit in systemtheoretischer Perspektive, Wiesbaden 2007, S. 15–51; Katrin Wille, »Unterscheidungsgewohnheiten, Unterscheidungsstrukturen – literarisch und philosophisch reflektiert«, in: I. Hotz-Davies/S. Schahadat (Hg.), Ins Wort gesetzt, ins Bild gesetzt. Gender in Wissenschaft, Kunst und Literatur, Bielefeld 2007, S. 32–55.
2
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Allgemeine Einleitung: Zum Profil philosophischer Unterscheidungsforschung
dung des Gerichtshofes der Europäischen Union vom 1. 3. 2011, dass die Beurteilung des Geschlechts als Risikofaktor in Versicherungsverträgen eine Diskriminierung sei. Die EU-Gleichstellungsrichtlinie von 2004 hat nach Urteil der Richter die Konsequenz, dass geschlechtsbezogene Verhaltenstendenzen (Männer fahren riskanter Auto, Frauen gehen öfter zum Arzt) keinen Unterschied in rechtlicher Hinsicht begründen dürfen. Das Diskriminierungsverbot bedeutet ein Unterscheidungsverbot in bestimmter Hinsicht und fordert zu einem differenzierten Umgang mit der Geschlechterunterscheidung auf. In den theoretischen Beiträgen der Gender-Forschung wird über die Legitimität der Geschlechterunterscheidung selbst gestritten, über die (historische?) Priorität von einer der (klassischerweise zwei) Seiten, über die Gliedrigkeit der Unterscheidung (Frauen, Männer, drittes Geschlecht?), über die angemessene Kontextualisierung der Unterscheidung (Stichwort: Intersektionalität). Die Geschichte des Gebrauchs der Unterscheidung zwischen sex und gender vom produktiven analytischen Instrument zur Selbstkritik am Paradigma der Gegenüberstellung von »gegebenem« sex und »gemachtem« gender ist häufig dargestellt und oft wiederholt worden; sie gehört geradezu zu den Kerngeschichten der Genderforschung über sich selbst. 3 Durch diese Reflexion wird im theoretischen Selbstverständnis ein dynamischer Umgang mit Unterscheidungen verankert und die Kritik an fixierten Entgegensetzungen, an Dichotomien, ist fast zum selbstverständlichen Credo geworden. 4 Unterscheidungen so zu verwenden, dass sie offen sind für Selbstkritik und dabei übliche BinärVgl. z. B.: Christina von Braun/Inge Stephan (Hg.), Gender@Wissen. Ein Handbuch der Gender-Theorien, Köln/Wien 2005, S. 32 oder Tatjana Schönwälder-Kuntze/Katrin Wille, »Einleitung«, in: T. Schönwälder-Kuntze/S. Heel/C. Wendel/K. Wille (Hg.), Störfall Gender. Grenzdiskussionen in und zwischen den Wissenschaften, Wiesbaden 2003, S. 13–23. Stefan Hirschauer sieht die differentia specifica innerhalb des weiten Feldes der Geschlechterforschung zwischen den einzelwissenschaftlichen Forschungen, die die Geschlechterunterscheidung zur Wissensproduktion einsetzen und der Geschlechtsdifferenzierungsforschung, die die Geschlechterunterscheidung zum Thema hat. Vgl. Stefan Hirschauer, »Wozu ›Gender Studies‹ ? Geschlechtsdifferenzierungsforschung zwischen politischem Populismus und naturwissenschaftlicher Konkurrenz«, in: Soziale Welt. Zeitschrift für sozialwissenschaftliche Forschung und Praxis 54 (2003), S. 461–482, S. 475. 4 Aus der Tradition der kritischen Theorie zum Beispiel Regina Becker-Schmidt, »Trennung, Verknüpfung, Vermittlung: zum feministischen Umgang mit Dichotomien«, in: G.-A. Knapp (Hg.), Kurskorrekturen. Feminismus zwischen Kritischer Theorie und Postmoderne, Frankfurt a. M./New York 1998, S. 84–125. Über die poststrukturalistische Auflösung von binären Oppositionen z. B. Claudia Breger, »Identi3
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Rückwirkungen zwischen Unterscheidungen und Unterscheidungsweisen
strukturen und unbewegliche Dichotomien vermieden werden können, erfordert mehr als Darstellungen ihrer Geschichte, Appelle oder Absichtserklärungen – es erfordert die kritische Reflexion auf die Ordnungen von Unterscheidungen überhaupt. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass in dieser Diskussion vielfach theoretische Unterstützung bei Denker_innen gesucht wurde, die sich im 20. Jahrhundert explizit mit dem Begriff der Differenz auseinandergesetzt haben und dass andersherum auch die Geschlechterunterscheidung ein geeignetes Material zu sein schien, um daran Formen der Differenz zu erproben. 5 Zweitens: Platon eröffnet den Sophistes scheinbar beiläufig mit der Wiederaufnahme eines abgebrochenen Gesprächsfadens. Sokrates setzt mit der Frage nach der Sachhaltigkeit der Unterscheidung zwischen Sophist und Philosoph das neue Gesprächsthema. Der Sophist steht in der platonischen Stilisierung nicht so sehr für einzelne historische Figuren einer Epoche, sondern vor allem für eine intellektuelle Praxis, nämlich eine solche, der die Selbstkritik fehlt. Demgegenüber soll der Philosoph für eine intellektuelle Praxis stehen, für die die systematische Selbstkritik charakteristisch ist. Diese Unterscheidung versteht sich nicht von selbst, denn was soll Selbstkritik heißen? Vielmehr muss sich in der philosophischen Reflexion zeigen, ob die Unterscheidung Überzeugungskraft hat oder ob sie sich als halt- und grundlos erweist, sodass eine stabile Grenze zwischen Sophist und Philosoph nicht gezogen werden kann. Ob die Unterscheidung gelingt oder nicht, hat erhebliche praktische Konsequenzen, was im Subtext der sogenannten Rahmenhandlung des Sophistes mitbehandelt wird. Steht sie nicht zur Verfügung, besteht nicht nur die Gefahr, dass unsere Urteile fehlgehen, wie die der Ankläger von Sokrates, die ihn als Protagonisten einer gesellschaftlich zersetzenden intellektuellen Praxis anklagen, verurteilen und hinrichten lassen, sondern auch die, dass solche Urteile noch nicht einmal kritisierbar sind. Bei Unterscheidungen mit einem solchen Gewicht sind Vorüberlegungen nötig. tät«, in: C. v. Braun/I. Stephan (Hg.), Gender@Wissen. Ein Handbuch der GenderTheorien, Köln/Wien 2005, S. 47–65. 5 Die Tatsache, dass philosophische Differenztheorien als ein theoretisches Unternehmen vor allem des 20. Jahrhunderts gelten können, mag auch damit zusammenhängen, dass im 20. Jahrhundert bestimmte Gegenstandsbereiche, in denen existentiell um Differenzen gestritten wurde und wird, wichtiger wurden, wie die Geschlechterunterscheidung und die Unterscheidung von Kulturen.
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Allgemeine Einleitung: Zum Profil philosophischer Unterscheidungsforschung
Wie soll die Unterscheidung thematisiert werden? Welche Verfahrensweisen stehen zur Verfügung? Sokrates macht dem Fremden Vorschläge für solche Verfahrensweisen. Er unternimmt dafür keine komplizierten philosophischen Ausführungen, sondern greift auf bekannte, in der geteilten intellektuellen Praxis gut verankerte Verfahren zurück. Im Dialog werden die Wechselwirkungen zwischen diesen Verfahrensweisen und der Unterscheidung zwischen Sophist und Philosoph mit sehr unterschiedlichen Ergebnissen durchgespielt. Die unreflektierte Verwendung einer dieser Verfahrensweisen führt sogar dazu, dass Philosoph und Sophist ununterscheidbar werden und der Anklage des Sokrates von dort her tatsächlich nichts entgegenzusetzen ist. Es ist deshalb eine grundsätzliche Kritik üblicher Verfahrensweisen des Unterscheidens nötig. 6 Drittens: Was sind »wirkliche« Unterschiede in der Welt und was sind Unterscheidungen, die wir aus bestimmten Gründen treffen, denen aber keine Unterschiede in der Welt entsprechen? Die Frage ist so alt wie berechtigt und es ist offensichtlich, inwiefern sie in den Diskussionen über die Geschlechterunterscheidung im Hintergrund steht. Trotz ihrer Berechtigung führt diese Frage schwierige Voraussetzungen mit sich. Rationaldistinktionen wurden in der scholastischen Diskussion solche Unterscheidungen genannt, die nur begrifflich-rationalen Charakter hatten. Durch rationale Unterscheidungstätigkeit werden verschiedene Hinsichten auf ein realidentisches Objekt unterscheidbar oder zwei verschiedene Begriffe als ein und dasselbe aufeinander bezogen, durch die aber nur ein Ding ausgedrückt werden soll. Realdistinktionen wurden demgegenüber solche genannt, die wirklich existierende Unterschiede zwischen verschiedenen Gegenständen wiedergeben. Mal mehr als Vermittlungsfigur, mal mehr als zentrale Unterart der Realdistinktion führte Johannes Duns Scotus (im Anschluss und vertiefender Weiterentwicklung von Heinrich von Gents distinctio intentionalis) die Formaldistinktion ein. Formal distinkt ist demnach das, was jeder unterscheidenden Tätigkeit des Intellektes vorausgeht, aber unabhängig von dieser nicht denkbar ist. Es lassen sich drei Fragekomplexe angeben, für die die Entwicklung einer dritten Form nötig wurde, nämlich das Universalienproblem, Ich führe diese Skizze in Teil II, Kapitel 2.1 weiter aus und zeige, inwiefern Platons Sophistes ein Schlüsseltext für das Nachdenken über Unterscheidungen als Unterscheidungen ist.
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Rückwirkungen zwischen Unterscheidungen und Unterscheidungsweisen
die Frage nach der Einheit eines trinitarischen Gottes und die christologische Frage nach der Unterschiedenheit und Zusammengehörigkeit der Naturen Christi. Es sei nur der erste Fragekomplex umrissen: Duns Scotus löste die scholastische Frage, ob Universalien etwas in der Sache oder etwas rein Begriffliches darstellen, indem er dafür argumentierte, dass Universalien nicht allein intellektualer, sondern realer Natur seien, aber so, dass die Realität der Universalien der intellektualen Tätigkeit vorausgehe, aber nur durch den begleitenden Intellekt präsent gehalten werden könne. Daniel Bolliger zeigt in seiner Studie Infiniti Contemplatio 7 eindrücklich, wie sich in der scotistischen Schule diese Distinktionenanalyse, die bei Duns Scotus intensiv bedacht, aber nicht terminologisch letztgültig bestimmt wurde, verselbstständigt hat und zu einer Reihe von zunächst vier (Essentialdistinktion, Realdistinktion, Formaldistinktion, Modaldistinktion), später sieben kanonisch gewordenen Distinktionsarten weiterentwickelt wurde, die wiederum zu immer weiteren Differenzierungsvorschlägen Anlass gaben, bis dann mehr und mehr Stimmen laut wurden, dieses Lehrstück gänzlich aufzugeben. Die Spuren dieser intensiv geführten Diskussion sind lange verwischt und auch in den Forschungsbeiträgen dazu findet man wenige Abhandlungen, die die Distinktionslehren ins Zentrum ihres Interesses stellen. 8 Zu der Frage, ob es sich um ein in jeder Hinsicht obsolet gewordenes Lehrstück der Philosophiegeschichte handelt oder ob es für unsere gegenwärtigen Diskussionen irgendwelche Anschluss7 Daniel Bolliger, Infiniti Contemplatio. Grundzüge der Scotus- und Scotismus-Rezeption im Werk Huldrych Zwinglis, Leiden/Boston 2002, vor allem S. 218–364. 8 Meine Vermutung ist, dass sich dennoch in diesen wenig bekannten und teilweise nicht übersetzten Traktaten viele wertvolle Differenzierungshinsichten finden. Um diese aber erschließen zu können und aus ihren damaligen polemischen Kontexten zu lösen, braucht es zunächst einen Rahmen, in Bezug auf was solche Differenzierungen verwendet werden können. Über einen solchen Rahmen will ich mich in dieser Arbeit erst einmal verständigen, um dann in weiteren Studien die damaligen Funde einbeziehen zu können. Inspirierend auf diesem Gebiet erscheint mir dazu das Vorgehen von Gilles Deleuze, der in seiner Spinoza-Rezeption versucht zu zeigen, wie Spinoza auch in dieses Gewirr von Unterscheidungsformen hinein eine systematisch überzeugende und in ihrer Konsequenz radikale Unterscheidungstheorie entwickelt, vgl. Gilles Deleuze, Spinoza et le problème de l’expression, Paris 1968. In deutscher Übersetzung: Gilles Deleuze, Spinoza und das Problem des Ausdrucks in der Philosophie, München 1993 (Übersetzung Ulrich Johannes Schneider). Ich nehme Deleuzes’ Revitalisierung der scholastischen Distinktionstypen in Teil II, Kapitel 2.3.2 auf.
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Allgemeine Einleitung: Zum Profil philosophischer Unterscheidungsforschung
möglichkeiten gibt, finden sich so gut wie keine Überlegungen. Der Versuch, Vermittlungsformen zwischen Unterscheidungen zu finden, die in eine frontale Gegenüberstellung gebracht werden, ist dagegen nach wie vor lebendig. Nur scheint, soviel kann man schon aus den wenigen Zeilen zu den scholastischen Distinktionstraktaten entnehmen, Vorsicht geboten gegenüber dem Ansinnen, solche Vermittlungsformen terminologisch festzulegen und in Abstraktion von ihren Anwendungsfeldern zu diskutieren. Differenzierungen sind kein Selbstzweck und die jeweiligen Inhalte dürfen nicht aus dem Blick geraten. Vor allem die ersten beiden Skizzen zeigen, wie man in der Beschäftigung mit einer konkreten Unterscheidung darauf kommen kann, über die Weisen, wie die Unterscheidungen getroffen werden, sowie deren Wechselwirkungen mit den sachlichen Unterscheidungen nachzudenken. Die Diskussion um die Geschlechterunterscheidung und die Dramaturgie des Sophistes veranschaulichen die praktische Wirksamkeit solcher Überlegungen. Philosophische Erfahrungen dieser Art legen nahe, auch in Bezug auf andere Unterscheidungen verstärkt auf die Wechselwirkungen zwischen konkreten Unterscheidungen und den jeweiligen Unterscheidungsweisen zu achten und geradezu eine doppelte Aufmerksamkeit auszubilden. Mit einer solchen doppelten Aufmerksamkeit bewegt man sich gezielt in einem Spannungsfeld zwischen den Eigendynamiken eines Sachzusammenhangs, in dem jede konkrete Unterscheidung steht, auf der einen und den abstrakten Reflexionen über den Begriff der Unterscheidung als solchen auf der anderen Seite. Es kann immer passieren, dass die sachliche Beteiligung absorbierend wirkt und die reflexive Distanz auf die jeweiligen Unterscheidungsweisen unmöglich macht. Und andererseits mag sich immer wieder die Versuchung aufdrängen, den Begriff des Unterscheidens unter Absehung inhaltlicher Unterscheidungen zu diskutieren und daraus Unterscheidungsweisen abzuleiten, in Form einer Art Liste festzuhalten und für verbindlich zu erklären. Die dritte der oben angeführten Skizzen kann als eine Art historische Lektion über die Problematik und den Leerlauf eines solchen Unterfangens gelten. Mit der doppelten Aufmerksamkeit ist demgegenüber der Anspruch verbunden, die Arbeit an und mit konkreten Unterscheidungen und den jeweiligen Unterscheidungsweisen im Horizont von Alternativen in ein produktives Wechselverhältnis
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Besonderheiten der doppelten Aufmerksamkeit auf Unterscheidungen
zu bringen. In diesem Sinne bedeutet diese doppelte Aufmerksamkeit Reflexion auf Unterscheidungen als Unterscheidungen. In der Mehrzahl der philosophischen Textproduktionen der Vergangenheit und Gegenwart taucht diese doppelte Aufmerksamkeit sporadisch auf. Es sind in der Regel Probleme mit konkreten Unterscheidungen, die dazu führen, die Perspektiven auf Unterscheidungen als solche einzunehmen, über Weisen des Unterscheidens nachzudenken und Unterscheidungen z. B. als »analytische« im Unterschied zu »ontologischen« zu qualifizieren oder die dichotome Geschlechterunterscheidung durch eine dreigliedrige zu ersetzen. Der Ausdruck »Unterscheidungsweisen« dient als Sammelausdruck für die vielfältigen Möglichkeiten, wie konkrete Unterscheidungen qualifiziert, modelliert oder prozessiert werden können. Ich will in dieser Arbeit die erwähnten philosophischen Erfahrungen ernst nehmen und demgegenüber den Vorschlag machen, die doppelte Aufmerksamkeit kontinuierlicher auszubilden und systematischer zu entwickeln. In den bisherigen Überlegungen sind zwei Einsichten über Unterscheidungen angedeutet worden, die für die Ausbildung der doppelten Aufmerksamkeit sehr wichtig sind und deshalb explizit gemacht werden sollen. Die erste Einsicht bezieht sich auf den operativen Charakter von Unterscheidungsweisen, die zweite auf die Anlassbezogenheit von Unterscheidungen.
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Besonderheiten der doppelten Aufmerksamkeit auf Unterscheidungen als Unterscheidungen: Operativität und Anlassbezogenheit
Unterscheidungen sind ein Thema der Philosophie und ein Medium des Philosophierens, das nicht verlassen werden kann. Die Beschäftigung mit dem Wie des Unterscheidens ist in der Philosophie meist operativ und selten thematisch, um eine Unterscheidung von Eugen Fink aufzunehmen. Bei Fink heißt es zu der Unterscheidung: Aber in der Bildung der thematischen Begriffe gebrauchen die schöpferischen Denker andere Begriffe und Denkmodelle, sie operieren mit intellektuellen Schemata, die sie gar nicht zu einer gegenständlichen Fixierung bringen. […] Ihr begriffliches Verstehen bewegt sich in einem Begriffsfeld, in einem Begriffsmedium, das sie selber gar nicht in den Blick zu nehmen vermögen. […] Das so umgängig Verbrauchte, Durchdachte, aber nicht
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Allgemeine Einleitung: Zum Profil philosophischer Unterscheidungsforschung
eigens Bedachte eines philosophierenden Denkens nennen wir die operativen Begriffe. 9
Thematische Begriffe sind die inhaltlichen Gegenstände philosophischer Untersuchungen, wie die Begriffe Wunsch und Wille oder Geist und Körper, Sein und Nichts. Operative Begriffe sind die, die dabei verwendet und selber nicht zum Gegenstand der Betrachtung werden. Das Begriffsfeld des Unterscheidens dient in den meisten philosophischen Abhandlungen als Mittel, ohne selbst zum Gegenstand der Reflexion zu werden, oder Reflexionen auf Unterscheidungen kommen auch vor, treten dann aber wieder in den Hintergrund. Analog zu einer Wendung von Fink formuliert, wird die operative Verwendung von Unterscheidungsqualifikationen in der thematischen Auslegung selber nicht mehr geklärt. 10 Dies ist ein wichtiger Befund, der nicht nur ein Defizit markieren soll. Denn daran wird deutlich, dass Unterscheidungen meist den Charakter von selbstverständlichen Werkzeugen haben, die einfach verwendet werden und nur dann, wenn ihre Funktionalität in Frage steht, selbst zum Gegenstand der Betrachtung werden. Daraus schließe ich, dass die Thematisierung von Unterscheidungen bei der genauen Betrachtung der Verwendungen von Unterscheidungen ansetzen muss, darin liegt ihr pragmatischer Boden. Und zweitens schließe ich daraus, dass die Thematisierung nie vollständig sein kann, sondern selber auch Verwendung von Unterscheidungen ist, die in einer weiteren Thematisierung zum Gegenstand gemacht werden könnte. Das Nachdenken über Unterscheidungen als Unterscheidungen braucht Anlässe. Kann man die Beschäftigung mit Unterscheidungen selbst von Anlässen ablösen? Kann man eine reine Theorie des Unterscheidens entwerfen und den uneinheitlichen Sprachgebrauch klären, ordnen, reformieren und prinzipiell festlegen? Es gibt Vorschläge dieser Art, ich werde noch Bezug darauf nehmen, aber keiner dieser Vorschläge hat sich durchgesetzt und ist ohne Widerspruch geblieben. Ein Grund dieser mangelnden Übereinkunft scheint mir zu sein, dass sich die Erfordernisse je nach Problem ändern und dass sich der Allgemeinheitsanspruch einiger Autoren als an bestimmte Probleme gebunden erweist. Die Anlassbezogenheit der Reflexion auf Unterscheidungen ist etwas, das mir von höchster Bedeutung zu sein Eugen Fink, »Operative Begriffe in Husserls Phänomenologie«, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 11 (1957), S. 321–337, S. 324 f. 10 Ebd., S. 326. 9
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Besonderheiten der doppelten Aufmerksamkeit auf Unterscheidungen
scheint. Andererseits sind es immer wieder Reflexionen über Unterscheidungen selbst gewesen, die in der Philosophiegeschichte wichtige Veränderungen zur Folge gehabt haben. Der Name für eine Art von Reflexion über Unterscheidungen selbst ist sogar zu einem Schlagwort geworden: Dualismuskritik. Viele Varianten von Dualismuskritik haben in der Geschichte der Philosophie zu Umordnungen von Unterscheidungen geführt, exemplarisch sei auf die Dualismuskritik von Georg Wilhelm Friedrich Hegel oder die von John Dewey verwiesen. Hegel ist als Kritiker von Dualismen bekannt und zunehmend wieder rezipiert. 11 In seinem philosophischen Werk finden wir kritische Auseinandersetzungen mit bestimmten Dualismen, wie, um nur einige zu nennen, Geist und Natur, Anschauung und Begriff, Gott und Welt. Als »Dualismus« wird in der Regel die Auffassung bezeichnet, dass es zwei Arten oder Kategorien von Dingen oder Prinzipien gibt und dass diese beiden Arten von Dingen oder Prinzipien fundamental verschieden seien. Hegels Kritik geht aber viel weiter, er kritisiert nicht nur verschiedene Dualismen, sondern er kritisiert die Figur dualistischen Unterscheidens und zeigt, in welchen Bahnen philosophisches Denken verlaufen muss, um dualistische Unterscheidungen zu erkennen und zu überwinden. Das Problem dualistischen Unterscheidens besteht, so könnte man Hegels Klage über »Entzweiungen« übersetzen, darin, dass dualistische Unterscheidungen zwar für manche Erfahrungsbereiche einen produktiven Rahmen zur Verfügung stellen – dies gilt sicher in vielen Hinsichten für den sogenannten cartesischen Dualismus zwischen Natur und Geist im Hinblick auf die Entwicklung der modernen Naturwissenschaften. Durch den in der Regel allgemeinen Geltungsanspruch der dualistischen Unterscheidung sind dann aber andere Erfahrungsbereiche wie z. B. unsere soziale Praxis oder auch künstlerische Erfahrung nicht mehr verständlich und werden in der Folge marginalisiert oder für irrational erklärt. Denn dadurch entsteht ein reduziertes Selbstverständnis des Menschen, das mit Hegel und seinen Rezipienten als »Entfremdung des Menschen von sich selbst« beschrieben werden kann. Die Kritik an Dualismen darf dabei aber nicht selber dualistisch verfahren, indem dualistischem Unterscheiden Einheitsformeln geVgl. z. B. Ludwig Siep, Der Weg der Phänomenologie des Geistes. Ein einführender Kommentar zu Hegels »Differenzschrift« und »Phänomenologie des Geistes«, Frankfurt a. M. 2000, S. 82.
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Allgemeine Einleitung: Zum Profil philosophischer Unterscheidungsforschung
genübergestellt werden. Ein solches Vorgehen greift zu kurz, weil es erstens von einer Struktur Gebrauch macht, deren konkrete Spielarten gerade kritisiert werden sollen und weil es zweitens der oben angedeuteten bereichsspezifischen Berechtigung von Dualismen nicht Rechnung tragen kann. Die Kritik muss also »immanent« vollzogen werden, es muss die »Logik« dualistischen Unterscheidens in einer Weise analysiert werden, die die Grenzen dieses Unterscheidens deutlich werden lässt und die alternative Weisen des Unterscheidens aufzeigen kann. Auch der Pragmatist Dewey ist ein nachdrücklicher Kritiker von Dualismen. In vielen seiner Texte finden sich Angriffe auf dualistische Traditionen des Denkens, die er durch seine Beiträge in neue Bahnen lenken will. Eine der grundlegenden Auffassungen, von der her er gegen eine Reihe von Dualismen argumentieren kann, ist seine Überzeugung vom praktischen Charakter der Realität. 12 Erkenntnisprozesse machen einen Unterschied in den Dingen und für die Dinge. Damit rüttelt Dewey an dualistischen Konzeptionen von Theorie und Praxis, Vernunft und Wille und rückt den Begriff der Handlung ins Zentrum der theoretischen Aufmerksamkeit. Ich habe diese beiden Spielarten von Dualismuskritik etwas ausführlicher skizziert, weil sie mir für meine Reflexion auf Unterscheidungen als solche besonders wichtig geworden sind und weil beide Autoren in ihren Überlegungen über Unterscheidungen selbst besonders weit gegangen sind. Bei den hegelschen Texten ist dies offensichtlicher als bei denen von Dewey. Aber natürlich ist der zum Schlagwort gewordene Ausdruck »Dualismuskritik« nicht auf hegelianische oder pragmatistische Formen des Philosophierens festgelegt, im Gegenteil. Ein Blick in sehr verschiedene Diskurse und Debatten der Philosophie zeigt die themen- und methodenübergreifende Verwendung. 13 Die Kritik an Dualismen ist aber nur eine, besonders bekannt gewordene Weise, über Unterscheidungen als solche John Dewey, Does reality possess practical character (1908), MW.4.125–142. Vgl. z. B. die vehemente Diskussion zwischen Dualisten und Dualismuskritikern in der analytischen Philosophie des Geistes über die Auffassung, ob es sich beim Mentalen und beim Physischen (oder bei Geist und Körper oder Geist und Gehirn) um radikal verschiedene Arten von »Entitäten« handelt. Vgl. dazu den Überblicksartikel mit einem Schwerpunkt auf den dualistischen und dualismuskritischen Argumenten: Howard Robinson, »Dualism«, in: E. N. Zalta (Hg.), The Stanford Encyclopedia of Philosophy (online): http://plato.stanford.edu/archives/spr2016/entries/dualism/ (abgerufen am 31. 3. 2016).
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Die Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille
nachzudenken. Ich meine nun, dass es sich lohnt, den Fokus auf Unterscheidungen selbst zu weiten und Unterscheidungen, die einen Problembezug haben, systematisch auf ihre Wirkungen und Varianten hin zu untersuchen, also den Anlassbezug von Unterscheidungen wie die Reflexion auf Unterscheidungen selbst in doppelter Aufmerksamkeit zu verbinden. Diese Verbindung hat zur Folge, dass zwar keine allgemeine Theorie des Unterscheidens entworfen wird, aber dennoch die Reflexion auf Unterscheidungen intensiviert und systematisiert wird. Ich nenne ein solches Vorgehen »Unterscheidungsforschung« und will mit dem Ausdruck »Forschung« den offenen, experimentellen Charakter betonen, der einerseits in der Pflicht steht, Klärungen zu Sachfragen, die uns hier und heute angehen, beizutragen, und der andererseits eine Aufmerksamkeit auf Varianten des Unterscheidens und deren erhebliche Konsequenzen entwickelt und mitführt und dazu auch gezielte, »experimentelle« Untersuchungen, wie z. B. den Entwurf von Situationen möglichen Unterscheidungsgebrauchs, anstellt. 14 Unterscheidungsforschung in diesem Sinne soll nicht zu vage, sondern spezifisch, nicht zu abstrakt, sondern inhaltsgesättigt und nicht zu sporadisch, sondern systematisch sein. Es ist das Ziel der allgemeinen Einleitung, den Rahmen dafür abzustecken und das Vorgehen zu plausibilisieren.
iii. Die Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille Welche konkrete Unterscheidung ist geeignet für eine solche Untersuchung, welche ist wirkungs- und implikationsreich, aber nicht zu grundsätzlich? Diese Frage führt in eine eigentümliche Bedrängnis, einen »embarras de richesse«, denn es ließe sich natürlich prinzipiell mit jeder Unterscheidung arbeiten. Besonders geeignet ist eine Unterscheidung, die einen klaren phänomenalen Boden hat, also nicht zu abstrakt ist und keine Art Totalunterscheidung ist wie Alles und Nichts, Sein und Nichtsein oder Denken und Sein, die zudem verschiedene theoretische Entfaltungen erhalten hat und in der konsequenten Durcharbeitung doch große Innovationskraft für Handlungstheorie und praktische Philosophie entwickeln kann. Ich wähle die Unterscheidung zwischen Wille und Wunsch oder zwischen den Die Wahl der Bezeichnung »Unterscheidungsforschung« wird in der Einleitung in den zweiten Teil ausführlicher gerechtfertigt.
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Allgemeine Einleitung: Zum Profil philosophischer Unterscheidungsforschung
Aktivitäten Wünschen und Wollen, um damit in doppelter Aufmerksamkeit zu arbeiten. Es gilt also, sich sowohl in das sachliche Feld zu vertiefen, in das diese Unterscheidung gehört, wie auch die Unterscheidung als Unterscheidung zu betrachten. Ich skizziere in diesem Abschnitt zunächst das sachliche Feld und stelle im nächsten Abschnitt dar, wie ich die Untersuchung in doppelter Aufmerksamkeit aufbaue. Die Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille gehört in der praktischen Philosophie nicht zu den Großunterscheidungen, sondern führt ein unscheinbareres Dasein. Es gibt sogar Stimmen, die diese Unterscheidung als philosophische Unterscheidung für überholt und das englische desire als Grundbegriff des Praktischen für ausreichend halten. 15 Mir erscheint die Unterscheidung dagegen lebensweltlich relevant und philosophisch folgenreich für den Willensbegriff und das Verständnis von Handlung. Die alte und auch gegenwärtig immer noch diskutierte Frage nach dem Verhältnis unserer Zwecksetzungen zu den Realisierungen im konkreten Handeln steht notorisch vor zwei Problemen. Das eine Problem hängt mit unseren Erfahrungen zusammen, dass die Realisierung im Handeln oft von Ereignissen durchkreuzt wird, für die wir nichts können und die uns nicht zuzurechnen sind. Wir sind auf dem Weg zu einem wichtigen Termin und werden in einen Unfall verwickelt, sodass wir nicht pünktlich erscheinen können. Der Erfolg unserer Handlungen ist auch abhängig von solchen Faktoren, über die wir keine Verfügungsgewalt haben. Diese Erfahrung ist in der philosophischen Theoriebildung viel bedacht worden in Bezug auf die Frage nach der Zuschreibung von Verantwortung und auch in Bezug auf die Konsequenzen unserer Einstellungen zum Leben. Die stoische Empfehlung, eine innere Einstellung zu entwickeln, die sich unabhängig von den Wechselfällen des Schicksals macht, folgt aus einer intensiven Beschäftigung mit diesen Erfahrungen. Das andere Problem ist hierbei, die Situationen, in denen wir nicht verantwortlich zu machen sind dafür, dass unsere Handlungen nicht zum Erfolg führen, von solchen zu unterscheiden, in denen wir dafür verantwortlich zu machen sind. So geben wir zum Beispiel nur vor, einen Zweck zu verfolgen, oder wir unterbrechen dessen Umsetzung vorzeitig. Mit diesen beiden Problemen müssen sich eine Konzeption des Handelns und eine Kon-
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Dies wird in der Einleitung in den ersten Teil ausführlich behandelt.
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Aufbau der Arbeit
zeption des menschlichen Willens auseinandersetzen und beidem Rechnung tragen. Zu diesem Problemkomplex gehört die Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille, die in der Tradition oft verwendet wurde, um eine Grenze zu ziehen zwischen den Zwecksetzungen, die den Bogen bis zur Realisierung halten, und denjenigen, die dies nicht tun. Die Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille steht für die Erfahrung einer wichtigen Bruchlinie oder Differenz im Selbstverständnis von uns als Handelnden. Sie markiert gleichzeitig einen Anspruch an die praktische Theoriebildung. Es muss ein Begriff des Handelns entwickelt werden, der dieser Differenzerfahrung systematisch Rechnung trägt. Dabei sind alltagssprachliche Verwendungen der Ausdrücke »wünschen« und »wollen«, alltägliche Erfahrungen und philosophische Reflexionen ins Verhältnis zu setzen. Für eine Theorie des Handelns stellt sich die Frage, wie mit dieser Differenzerfahrung umgegangen wird, welcher Rang ihr zugemessen wird, wie sie beschrieben, analysiert und in die grundbegriffliche Rahmung eingebettet wird. Wird sie als Begrenzung marginalisiert und als Grenzphänomen erwähnt und verwendet? Oder wird sie gar irrationalisiert? Oder wird sie, wie hier vorgeschlagen, als Ausgangspunkt der Überlegungen zum menschlichen Handeln verwendet?
iv. Aufbau der Arbeit Im ersten Teil wird die Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille mit doppelter Aufmerksamkeit auf die sachlichen Dynamiken und die jeweiligen Unterscheidungsweisen bearbeitet (Teil I: Die Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille). Ich setze an bei der Wirklichkeit unseres Unterscheidungsgebrauchs. Dafür ist es wichtig, die Erfahrungszusammenhänge aufzurufen, die bei dieser Unterscheidung im Hintergrund stehen. Deshalb beschreibe ich im ersten Kapitel mögliche Erfahrungen in exemplarischen Situationen, die ich teils aus der Literatur gewonnen und teils zu diesem experimentellen Zweck entworfen habe. Mit der Beschreibung ist die erste Aufgabe der Unterscheidungsforschung genannt, die darin besteht, auf Unterscheidungen aufmerksam zu werden und die Wirkungen von Unterscheidungen im Hinblick auf die Ermöglichung und Verhinderung von Anschlüssen ernst zu nehmen und darzustellen (1. Kapitel: Beschreibungen: Wie wir wünschen und wie wir wollen).
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Im zweiten Kapitel des ersten Teils wende ich mich drei Analysen zu, mit deren Hilfe das philosophische Gewicht der Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille deutlich werden kann. Ich beginne im ersten Abschnitt mit der sehr plastischen Präsentation eines klassischen Bildes vom Wollen durch Christoph von Sigwart. Wollen ist demnach eine innere, mentale Anstrengung. Die Umsetzung im Außen muss in der Regel erfolgen, aber ihr kommt kein eigener Wert für den Akt des Wollens zu. Der Wunsch hat als schwächste Art des Wollens eine Grenzfunktion. Im zweiten Abschnitt wird ein Gedankengang mitvollzogen, der in die Problematiken dieses Bildes hineinführt. Immanuel Kant sieht sich aufgrund von kritischen Nachfragen zu Erfahrungen des Wünschens genötigt, den Willen enger an die Handlung zu binden. Im dritten Abschnitt kommt ein expliziter Kritiker dieses Bildes zu Wort. Ludwig Wittgenstein nimmt im freien Anschluss an Arthur Schopenhauer eine eigentümliche Identifikation des Wollens mit dem Handeln (bzw. der Muskelempfindung) gegenüber dem mit der Handlung nicht verbundenen Wünschen vor. Die Analyse des philosophischen Gebrauchs von Unterscheidungen, hier der Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille, ist die zweite Aufgabe der Unterscheidungsforschung (2. Kapitel: Analysen: Vom Wollen als mentale Anstrengung zur Muskelempfindung). Aus dieser Profilierung der Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille ergeben sich kritische Ansatzpunkte gegenüber bestimmten Begriffsbildungen in dem Feld der praktischen Philosophie und der Handlungstheorie, wie zum Beispiel dem Konzept der Willensschwäche. Mein Anliegen im dritten Kapitel ist es, exemplarische Unterscheidungskritik zu üben. Die dritte Aufgabe der Unterscheidungsforschung liegt darin, Hinsichten für eine Unterscheidungskritik zu gewinnen, um Formen des verkürzten und problematischen Unterscheidungsgebrauchs kritisieren zu können (3. Kapitel: Kritik: Handlungen bestehen nicht aus zwei Komponenten). Im vierten Kapitel wird folgendes Problem aufgenommen: Wenn die genaue Analyse der Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille es nahelegt, den Willen eng an die Handlung zu binden, ergeben sich daraus Konsequenzen für das Verständnis des Handelns. Welche Rolle spielt das »geistige« Moment der Absicht oder Intention, welche Rolle die Verwirklichung? Wie muss der Zusammenhang gedacht werden, damit sowohl Erfahrungen der Differenz zwischen beidem (wie zum Beispiel bei Wünschen) wie auch die (teilweise spannungsvolle) Zusammengehörigkeit von Intention und Verwirklichung (wie 32 https://doi.org/10.5771/9783495817360 .
Aufbau der Arbeit
im Falle des Wollens) verständlich werden? Es ist nötig, den Rahmen der Betrachtung zu ändern und die Aufmerksamkeit auf den Begriff des Handelns selbst zu verschieben. Es wird, etwas plakativ gesagt, ein konstruktiver Vorschlag für eine dialektische Handlungstheorie vorgelegt, in dem die Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille kontextualisiert werden kann. Die vierte Aufgabe der Unterscheidungsforschung liegt in dem konstruktiven Votum für eine dialektische Entfaltung von Unterscheidungen (4. Kapitel: Konstruktion: Handeln als dialektischer Prozess von Entwerfen und Gestalten). Da es für die zu entwerfende Unterscheidungsforschung charakteristisch ist, mit doppelter Aufmerksamkeit auf konkrete Unterscheidungen und auf die verwendeten Unterscheidungsweisen zu arbeiten, sollen diese vier Aufgaben, Beschreibung, Analyse, Kritik und Konstruktion im ersten Teil anhand der konkreten Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille durchgeführt werden und die doppelte Aufmerksamkeit und das methodische Selbstverständnis der Unterscheidungsforschung im zweiten Teil eigens zum Thema gemacht und gerechtfertigt werden. Woher werden diese Perspektiven und Methoden gewonnen? Was sind die Quellen und was sind die Gründe für ihre Auswahl und Ausgestaltung? Der ganze zweite Teil der Arbeit ist der fünften Aufgabe der Unterscheidungsforschung gewidmet, nämlich die Beschreibungen, Analysen, Kritiken und Konstruktionen zu reflektieren, methodisch transparent zu machen und zu rechtfertigen. Als Leitfaden dafür dienen die drei Ansprüche an die Unterscheidungsforschung, die weiter oben erwähnt worden sind: Unterscheidungsforschung solle nicht zu vage, sondern spezifisch, nicht zu abstrakt und formal, sondern inhaltsgesättigt und nicht zu sporadisch, sondern systematisch sein (Teil II: Unterscheidungsforschung als Methode). Im Zentrum des ersten Kapitels steht die Frage, was es heißt und wie es möglich ist, eigens auf Unterscheidungen und zunächst vor allem auf die Wirksamkeit von Unterscheidungen zu achten. Spezifisch wird die Ausbildung der doppelten Aufmerksamkeit dann, wenn die praktischen Wirkungen von Unterscheidungen einer Beschreibung zugänglich gemacht werden können. Die Beschäftigung mit den Wirkungsweisen von Unterscheidungen nenne ich »Pragmatik von Unterscheidungen«. Methodische Anregungen hierfür habe ich vor allem von der Philosophie des Pragmatismus aufgenommen wie auch von dem amerikanischen Phänomenologen Robert Sokolowski, der in einem Aufsatz mit dem Titel The Method of Philoso33 https://doi.org/10.5771/9783495817360 .
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phy: Making Distinctions 16 die reflexive Wirkung von Unterscheidungen betrachtet (1. Kapitel: Warum Unterscheidungsforschung spezifisch ist). Das zweite Kapitel ist der Auseinandersetzung mit dem gewidmet, was bisher möglichst offen »Unterscheidungsweisen« genannt wurde. Dies dient als Sammelausdruck für die vielfältigen Möglichkeiten, wie konkrete Unterscheidungen qualifiziert, modelliert und prozessiert werden können. Hinsichtlich der Frage, wie ein Überblick über Unterscheidungsweisen zu bekommen ist, liegen zwei Wege nahe, die mir aber beide problematisch erscheinen. Einmal wäre ein induktives Vorgehen vorstellbar, das es erfordern würde, den lebensweltlichen und wissenschaftlichen Unterscheidungsgebrauch wie die Texttraditionen auf Unterscheidungsweisen abzusuchen, diese quasi enzyklopädisch zu sammeln und dann Hypothesen über sinnvolle Klassifikationsmöglichkeiten zu bilden. Zum anderen kann ein deduktiver Weg beschritten werden, der von einem möglichst abstrakten Begriff des Unterscheidens selbst ausgeht und grundlegendere wie spezifischere Weisen des Unterscheidens abzuleiten versucht. Problematisch scheint mir an beiden Wegen, dass der Anlassbezogenheit des Unterscheidens bei dem Bestreben, Muster des Unterscheidens zu suchen, nicht genügend Rechnung getragen wird. Und zudem laufen beide Untersuchungen Gefahr, sich bei der Betrachtung des Gegenstands »Unterscheidung« schon auf eine Weise des Unterscheidens festzulegen, durch die andere Weisen des Unterscheidens ermittelt werden sollen. Ich will demgegenüber vorschlagen, den Anfang mit einer Reflexion auf die Relation zwischen konkreten Unterscheidungen und möglichen Unterscheidungsweisen zu machen und dadurch der Anlassbezogenheit bzw. Inhaltssättigung von Unterscheidungen Rechnung zu tragen. Diese Einsicht habe ich in meinen Lektüren des platonischen Dialogs Sophistes gewonnen, weshalb im ersten Abschnitt des zweiten Kapitels eine Deutung des Dialogs skizziert wird, um diese Relation zu entfalten. Dabei werden vier sehr grundlegende Verfahren, mit Unterscheidungen umzugehen, in ihren Möglichkeiten und Grenzen diskutiert, die ich »Praktiken des Unterscheidens« nenne. Damit ist eine erste Hinsicht, den Sammelausdruck »Unterscheidungsweisen« zu konkretisieren, gewonnen. Vgl. Robert Sokolowski, »The Method of Philosophy: Making Distinctions«, in: The Review of Metaphysics 51 (1998), S. 515–532.
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Aufbau der Arbeit
Die Erfahrung mit den Praktiken des Unterscheidens macht es möglich, im zweiten Abschnitt einen Weg der Einfaltung oder Kondensierung von Varianten des Unterscheidens zu beschreiten, an dessen Ende ein offenes Relationsgeflecht von Aspekten des Unterscheidens steht. Von dort her lässt sich verständlich machen, wie durch die Konstellierung und Relationierung der Seiten und der Qualitäten von Grenzziehungen verschiedene »Strukturen von Unterscheidungen« gebildet werden können. Diese zweite Hinsicht, den Sammelausdruck »Unterscheidungsweisen« zu konkretisieren, gewinne ich in einer sehr freien Auseinandersetzung mit den Laws of Form von George Spencer Brown. Es geht mir dabei im Unterschied zu früheren Beschäftigungen 17 nicht um den Text als solchen und seine systemtheoretischen Verarbeitungen, sondern um geeignete Orientierungen für die Ausbildung der doppelten Aufmerksamkeit. Diese Bemühungen, den Sammelausdruck »Unterscheidungsweisen« zu entfalten, produzieren eine Reihe von Problemen, um die es im dritten Abschnitt gehen soll. Es muss sehr deutlich auf die Beschränkung hingewiesen werden, dass Praktiken des Unterscheidens und Strukturen von Unterscheidungen die nicht-begrifflich fassbaren, aber dennoch hoch wirksamen unscheinbar kleinen Unterschiede vernachlässigen. Es ist ein wichtiges Anliegen des Differenzdenkens von Gilles Deleuze, diesen unscheinbaren Unterschieden Gehör zu verleihen (2. Kapitel: Warum Unterscheidungsforschung inhaltsgesättigt ist). Während es im zweiten Kapitel darum ging, die philosophischen Hintergründe für die analytischen Mittel, mit denen im ersten Teil gearbeitet wurde, aufzuzeigen und zu rechtfertigen, wird im dritten Kapitel ein philosophisches Plädoyer für dialektisches Unterscheiden artikuliert. Ich setze bei einer sehr allgemeinen Überlegung zum Unterscheiden an: Unterscheidungen zu verwenden bedeutet, das Unterschiedene zu trennen und aufeinander zu beziehen. Unterscheiden wir zum Beispiel die Aktivität etwas zu wünschen von der Aktivität etwas zu wollen durch den Verweis auf den weniger oder stärker aus-
17 Katrin Wille (zusammen mit T. Schönwälder-Kuntze/T. Hölscher), George Spencer Brown. Eine Einführung in die »Laws of Form«, 2. überarb. Aufl., Wiesbaden 2009. Vgl. auch den Versuch einer Kontextualisierung: Katrin Wille, »Theories of difference in the 20th Century: Spencer-Brown’s Contribution«, in: Cybernetics and Human Knowing 20 (2013), S. 142–148.
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geprägten Handlungsbezug, dann trennen wir beide vermittels der je anderen Beziehung auf die Handlung. Wir beziehen aber auch beide aufeinander, indem sie im Verhältnis zueinander gemeinsam thematisiert werden. In der Regel wird bei dem Gebrauch von Unterscheidungen der Aspekt der Trennung mehr betont. Dies legt sich schon durch das Wort »unterscheiden« nahe, in dem die Tätigkeit des Scheidens und Auseinandernehmens explizit Erwähnung findet. 18 Demgegenüber tritt der Aspekt der Beziehung in den Hintergrund und scheint nachgeordnet zu sein. Diese Asymmetrie zwischen den beiden Aspekten ist charakteristisch für den Begriff des Unterscheidens. Diese sehr allgemeine Überlegung lässt den enormen Variationsspielraum für verschiedene Modellierungen von Unterscheidungen ahnen. Der Aspekt des Trennens kann sehr verschieden ausgestaltet werden, sei es in Form von sehr strikten oder offeneren Formen, mit je anderen Konsequenzen für die sich ergebende Beziehung zwischen dem Getrennten. Außerdem deutet sich in dieser allgemeinen Überlegung eine Dynamik an. Das Zusammenspiel der beiden Aspekte des Trennens und Beziehens scheint sich erst im Gebrauch der Unterscheidungen zu zeigen und der Aspekt des Beziehens entbirgt seine genaue Gestalt in einigen Fällen erst in den Konsequenzen, die die Aktivitäten des Trennens für die Aktivitäten des Verbindens haben. Im Mittelpunkt des dritten Kapitels steht die angedeutete Dynamik der beiden Aspekte, deren beständige gegenseitige Rückwirkung und Korrektur. Für die Entwicklung eines solchen Unterscheidungsgebrauchs ist die Auseinandersetzung mit Hegels Phänomenologie des Geistes besonders wichtig, wie auch die mit dem Pragmatismus in der Spielart von Dewey. Beide sind hier nicht primär als Dualismuskritiker rezipiert, wie sie zu Beginn eingeführt wurden, sondern als Unterscheidungsdialektiker, die unseren Unterscheidungsgebrauch in Form von »Erfahrungsgestalten« reflektieren (3. Kapitel: Warum Unterscheidungsforschung systematisch ist). 19 Dies wird vor allem in der deutschen Sprache sehr deutlich. Die Betonung des Aspektes der Trennung gilt aber auch für das griechische und lateinische Wortfeld, auf das sich die englischen Wörter »difference«/»different«, »distinction«/»distinct« und die französischen »différence«/»différent«, »distinction«/»distingué« zurückbeziehen. Vgl. dazu Abschnitt vi dieser Einleitung und auch die Auseinandersetzung mit dem begrifflichen Feld im Sophistes von Platon in Teil II, Kapitel 2.1.1. 19 An dieser Stelle scheint mir eine Bemerkung für den folgenden Umgang mit Fußnoten wichtig. Für den Versuch, verschiedene thematische Felder in einer Fragestellung zu verbinden, sind Verweise und Querbezüge in Form von Fußnoten ausgespro18
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Zur Forschungslage
v.
Zur Forschungslage
Es ist eine gut begründete akademische Praxis, zu Beginn eines Projektes die Forschungslage und dann das Forschungsdesiderat zu skizzieren. Zu dem methodischen Anliegen der Unterscheidungsforschung, der philosophischen Arbeit mit doppelter Aufmerksamkeit, gibt es keine aktuelle Debatte, an die ich einfach anschließen könnte. Und auch in der philosophischen Tradition gibt es keine kontinuierliche Reflexion über diesen thematischen Zusammenhang oder eine bestimmte Schule, die besonders einschlägig wäre. Texte, Autor_innen und Fragestellungen, die sich als Anknüpfungspunkte anbieten, entstammen deshalb sehr verschiedenen Epochen, Traditionen und philosophischen Selbstverständnissen. Ich will den Versuch machen, drei größere Diskussionskontexte zu skizzieren, die für mein Anliegen besonders wichtig sind, um meine Anknüpfungen und meine Kritik daran zu plausibilisieren. Erstens: Wer über Unterscheidungen nachdenken will, könnte auch bei dem Begriffspaar »Identität« und »Differenz« oder »Einheit« und »Unterschied/Unterscheidung« ansetzen, das zu den metaphysischen Grundbegriffen der westlichen Tradition des Philosophierens gehört. Damit gerät allerdings eine unüberschaubare Menge philosophischer Textproduktion in den Blick, die sich nicht bewältigen lässt. Denn man kann nicht sagen, dass sich eine Traditionslinie von Unterscheidungstraktaten über das Zusammenspiel zwischen Sachhaltigkeit und Formung von Unterscheidungen gebildet hat, die aneinander anschließen und traditionsbildend gewirkt haben. Solche Linien ließen sich in fokussierten Lektüren herausarbeiten und es liegen verschiedene Skizzen dazu vor. Ein solches Vorgehen muss notwendig hochgradig selektiv und typisierend sein. In seinen Überlegungen zur philosophischen Interpretation hat Robert Brandom solche Interpretationen »de traditione« 20 genannt und zwei anderen Arten von philosophischer Interpretation, die er »de dicto«- und »de re«- Lektüre nennt und damit die problematische Gegenüberstellung zwischen so-
chen wichtig. Um den Umfang der Fußnoten nicht über das erforderliche Maß hinaus ansteigen zu lassen, habe ich an vielen Stellen darauf verzichtet, Hinweise auf weiterführende interessante Fragestellungen und Forschungsliteratur zu geben. 20 Vgl. Robert Brandom, Tales of the mighty dead, Cambridge, MA, 2002, S. 107– 111.
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genannten »exegetischen« und sogenannten »systematischen« Interpretationen aufruft, an die Seite gestellt. Für die Interpretation »de traditione« soll das Gespräch mit der Tradition (talking with the tradition) in Bezug auf eine Frage oder ein Problem kennzeichnend sein. Darin werden gedankliche Linien sichtbar, die sich über verschiedene Autoren und Zeiten hinweg entwickelt haben. Einen Versuch, eine Traditionslinie zum Begriffspaar Identität und Differenz herzustellen, hat Werner Beierwaltes in dem gleichnamigen Buch Identität und Differenz unternommen. 21 Beierwaltes betont die Kontinuität eines Denkens, in dem die Einheit des Ganzen durch die Differenz des Einzelnen hindurch gedacht wird. Seine bestimmende Grundansicht zu diesem Zusammenhang ist neuplatonisch und von dort her erschließt er eine gedankliche Linie in ihren Umformungen und Weiterentwicklungen. Die Funktion der Differenz in der neuplatonischen und der platonischen Philosophie bilden den Ausgangspunkt, die in der christlichen Trinitätslehre, bei Aurelius Augustinus, Meister Eckart, Nikolaus Cusanus, Giordano Bruno, Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Georg Wilhelm Friedrich Hegel und als Negation von Hegel bei Theodor W. Adorno weiterverfolgt wird. Ein solcher Versuch zeigt zwar, dass die Art, wie über Differenz nachgedacht und welche Funktion der Differenz beigemessen wird, weitreichende philosophische Konsequenzen hat und dass darüber philosophische Koalitionen und Fronten hergestellt werden können. Solche philosophischen »Makroperspektiven« tendieren aber zu Vereinheitlichungen und verdecken den Blick auf den konkreten Unterscheidungsgebrauch und dessen Anlässe. Josef Simon macht den Versuch, die Verschiedenartigkeit der Konzeptualisierungen von Differenz herauszustellen, die den begrifflichen Rahmen für Denkrichtungen und Epochen darstellen. Er markiert in seinem Artikel »Differenz« im Handbuch philosophischer Grundbegriffe sechs wichtige Stationen der westlichen Philosophie des metaphysischen Nachdenkens über Identität und Differenz. 22 Auch dieser Versuch, zwar nicht eine mehr oder weniger kontinuierliche gedankliche Linie, aber doch sechs zentrale Stränge des Differenzdenkens heraus zu präparieren, zwingt in die philosophische Makroperspektive. Mit meinem Verständnis von Unterscheidungsforschung in doppelter Aufmerksamkeit nehme Werner Beierwaltes, Identität und Differenz, Frankfurt a. M. 1980. Josef Simon, »Differenz«, in: H. Krings/H. M. Baumgartner/C. Wild (Hg.), Handbuch philosophischer Grundbegriffe, 6 Bde., Bd. 2, München 1973–1974, S. 309–320.
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Zur Forschungslage
ich Abstand von diesem hermeneutischen Weg der Typisierung von Begriffskonstellationen. Um den Kontrast zu dem von mir vorgeschlagenen Vorgehen deutlich werden zu lassen, stelle ich Simons Stationen des Differenzdenkens der Tradition etwas ausführlicher vor als nur durch die Nennung von Stichworten und Namen. Dabei werden außerdem Differenzfiguren präsentiert, die teilweise in meiner Auseinandersetzung mit einigen Texten im zweiten Teil in ganz anderer Weise wieder vorkommen. Simons Darstellung setzt mit der aristotelischen Figur der spezifischen Differenz (differentia specifica) ein. Der spezifischen Differenz kommt bei Aristoteles eine logische und eine metaphysische Funktion zu. Als logischer Begriff gehört die spezifische Differenz zum aristotelischen Organon, dessen Aufgabe es ist, grundlegendes Werkzeug für die Wissenschaften zur Verfügung zu stellen. Die spezifische Differenz ist das begriffliche Merkmal, um Arten einer Gattung voneinander zu unterscheiden. Genus proximum und differentia specifica bilden die beiden Bestandteile einer Definition. Metaphysisch gewendet liefert die spezifische Differenz die Wesensbestimmung einer Sache. Die spezifische Differenz bedeutet das Wesen der Sache selbst und beinhaltet gerade keinen Abstand, keine Differenz dazu (in Bezug auf den Menschen z. B. die Bestimmung der Vernünftigkeit). Davon ist nach der Rekonstruktion von Simon noch eine Differenz zweiter Stufe bei Aristoteles zu unterscheiden, die notwendige Folgebestimmungen der spezifischen Differenzen ausdrückt (in Bezug auf den Menschen z. B. das Lachenkönnen oder der aufrechte Gang). Differenzen werden also verstanden als das, was das Wesen oder die Identität einer Sache ausmachen. Insgesamt betont Simon für die Antike den Vorrang des Identitätsdenkens und die Tendenz, Differenzen, seien es sprachliche oder sei es die Vielheit der Meinungen, als metaphysisch nachrangig, ja sogar als Schein abzuwerten. Die zweite Station setzt nach Simon mit der praktischen Emanzipation der Differenz im christlichen Denken an. Der Standpunkt des endlichen Menschen, der durch die Unmöglichkeit vollkommener Erkenntnis und durch die Vielheit differierender Ordnungen gekennzeichnet ist, ist der praktische Ausgangspunkt, dem weiterhin der Vorrang des Identitätsprinzips als vollkommene Einheit Gottes, in der Theorie gegenübergestellt wird. Dieser Aufbau eines Gegensatzes ermöglicht eine Umkehrung in der neuzeitlichen Philosophie, in der vom Faktum differierender Lehren ausgegangen und die vollkommene Identität zu einer Idee wird. 39 https://doi.org/10.5771/9783495817360 .
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Die dritte Station ist für Simon durch zwei Gedanken gekennzeichnet, die beide mit der Mathematisierung des philosophischen Denkens bei Gottfried Wilhelm Leibniz zu tun haben. Der erste Gedanke betrifft die Auflösung des Substanzdenkens durch die Einführung von Funktionen. Prädikate werden zu Funktionen, die nicht mehr die Wesensbestimmung einer Sache angeben. Funktionen sind begriffliche Beziehungen, die konstitutiv unbestimmt sind und (mindestens) eine Leerstelle (notiert als Variable x) mit sich führen, die ausgefüllt werden muss, um die Funktion zu erfüllen. Subjekte werden zu Individualausdrücken, die in die Funktion eingesetzt werden können. Differenz wird hier als Differenz zwischen unbestimmter Funktion und ihren möglichen Einsetzungen gedacht. Erst wenn beides zusammenkommt, werden Identitäten gebildet. Simon durchbricht hier die historische Folge seiner Stationen und scheint Leibniz und Gottlob Frege als Entwickler dieses Gedankens zu verstehen. Der zweite Gedanke besteht im Denken des Kontinuums, das durch die Differentialrechnung, die den Umgang mit unendlich kleinen Differenzen erlaubt, möglich wird. Begriffliche Differenz und infinitesimale Differenz sind voneinander zu unterscheiden. Die Identifizierung von Gegenständen erfolgt über begriffliche Differenzen und nicht über die infinitesimale Differenz, die kein Unterscheidungskriterium bietet. Für die vierte Station konturiert Simon die transzendentale Differenz als Form des funktionalen Denkens. Aus in der Anschauung Gegebenem, nicht weiter Bestimmbarem, wird vermittels der »logischen Funktionen zu urteilen« erst ein bestimmter identischer Gegenstand. Identität wird also durch die Anwendung von Denkfunktionen auf das davon zu differenzierende Gegebene in der Anschauung immer erst konstituiert. Simon versteht die Philosophie Hegels als Reaktion auf das aristotelische Differenzverständnis wie auf die funktionale Differenz zwischen unbestimmtem Gegebenem und identitätsbildenden Denkfunktionen. Zum einen ist auch das (aristotelische) Verständnis von Identität als in der Sache liegende, innere Bestimmung als selbst ein Unterschiedenes aufzufassen. Zum anderen ist die Einseitigkeit beider Auffassungen zu überwinden. Es ist einseitig, wie Aristoteles von der Substanz auszugehen (die im Satz vom Subjektbegriff bezeichnet wird) und von dort nach der spezifischen Differenz (die im Satz an der Prädikatstelle ausgedrückt wird) zu fragen. Und es ist ebenso einseitig, von den begrifflichen Funktionen auszugehen (die im Satz durch 40 https://doi.org/10.5771/9783495817360 .
Zur Forschungslage
das Prädikat ausgedrückt sind) und diese durch die Einsetzung von Individuenkonstanten zu vervollständigen. Vielmehr geht es um eine konsequente gegenseitige Bestimmung beider Seiten, in sprachlichen Termini gesagt, des Subjektes durch das Prädikat und des Prädikats durch das Subjekt. Die sechste Station, Martin Heideggers ontologische Differenz, deutet Simon nur knapp an und es bleibt offen, ob er Heideggers Einforderung einer Differenz zwischen identifizierendem Denken und der Offenheit des Seins als eigenen wichtigen Beitrag zur Kenntnis nehmen wollte. 23 Teilweise hat Simons Versuch den Charakter, eine eigene Dynamik der Entwicklung des Differenzbegriffs herauszuarbeiten, teilweise kann der Übergang zwischen den verschiedenen Stationen nicht geleistet werden, sondern die Stationen sind Abbreviaturen je eigener Differenzgeschichten, die keinen größeren Zusammenhang bilden. Ob dieses doppelte Bauprinzip von Simon intendiert ist oder nicht, sei dahingestellt, aber es zeigt etwas über die Art der Suche nach einer möglichen Tradition des Differenzdenkens. Es wird sich keine Linie der konsequenten Weiterentwicklung finden lassen, sondern es gibt mehrere solcher Linien, Abbrüche durch Neueinsätze und das Wiederauftauchen von Motiven in sehr verschiedenen geschichtlichen Konstellationen. Die Geschichte und Gegenwart des Differenzdenkens ist wahrscheinlich weniger mit der Metaphorik einer Traditionslinie zu erfassen, denn als Topik, als Feld mehr oder weniger eng verbundener Arten und Weisen, Differenz und konkrete Differenzen zu denken. Das zeigt, dass es sich hier um ein eigenes Forschungsfeld handelt und es wichtig ist, Relationierungen zwischen Identität und Differenz aus den hoch abstrakten Traktaten herauszudestillieren. Ich meine, dass solche Lektüren der Tradition ausgesprochen fruchtbar sind und sich das Nachdenken über Unterscheidungen ohne solche Lektüren nicht vertiefen lässt. Diese Texte sind für das Nachdenken über Unterscheidungen aber nicht nur deshalb wichtige Quellen, weil sie uns helfen, geschichtliche Begriffsprägungen zu verstehen, sondern auch, weil sie unsere Aufmerksamkeit auf Unterscheidungs-
Simon lässt wichtige Beiträge unberücksichtigt. Nicht genannt und ausgesprochen wichtig ist Nikolaus Cusanus, vor allem die Schrift De non aliud, vgl. Nikolaus von Kues, De non aliud. Nichts anderes, hrsg. v. K. Reinhardt/J. M. Machetta/H. Schwaetzer, Münster 2011. Cusanus spielt allerdings eine große Rolle für die Traditionslinie, die Beierwaltes entwirft.
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muster schärfen und kritische Distanzen zu gegenwärtigen Tendenzen ermöglichen. Trotzdem will ich mit dieser Arbeit höchstens indirekt einen Beitrag dazu leisten, weil es mir darum geht, über Unterscheidungen als solche nachzudenken und die Anlassbezogenheit solchen Nachdenkens nicht aus dem Blick zu verlieren, sondern dieser durch den systematischen Einbezug konkreter Unterscheidungsstudien Rechnung zu tragen. Mein Weg in diese nicht überschaubare Topik des Differenzdenkens nimmt seinen Ausgang bei einer konkreten Unterscheidung und fragt nach den Möglichkeiten und Konsequenzen, konkrete Unterscheidungen verschieden zu modellieren. Aus diesem großen Diskussionszusammenhang, Traditionslinien des Differenzdenkens zu gewinnen, sind für meinen Versuch, Rückwirkungen zwischen Unterscheidungen und Unterscheidungsweisen zu reflektieren, Platons Dialog Sophistes und Hegels Phänomenologie des Geistes besonders wichtig. Ich rezipiere diese Texte aber vielmehr als Beiträge zur Unterscheidungsforschung, denn als Glieder in einer Traditionskette des Differenzdenkens. Zweitens: Solch typisierende Lektüren wie die von Simon sind wichtige Medien der Kritik an Figurationen des Denkens und viele Autoren, die sich im 20. Jahrhundert kritisch mit den Begriffen »Identität« und »Differenz« auseinandergesetzt haben, haben solche teilweise sehr kreativen Lektüren vorgelegt. 24 Eine Formel, die diese Kritik fokussieren sollte, war immer wieder, Differenz statt Identität (wie in der Tradition) zu denken. Deshalb kann man im 20. Jahrhundert davon sprechen, dass sich (nicht nur) philosophische Differenztheorien herausgebildet haben. Es ist wieder ein eigener Forschungsgegenstand, diese Differenztheorien in einen Überblick zu bringen und ihre Verhältnisse untereinander zu bestimmen. Einige Autoren haben hier Versuche vorgelegt, zum Beispiel Heinz Kimmerle mit der Studie Philosophien der Differenz. In dem Vorschlag von Kimmerle wird eines sehr betont, was mir für die Differenztheorien des 20. Jahrhunderts kennzeichnend zu sein scheint. Diese Theorieansätze verstehen sich in engem Zusammenhang zu gesellschaftlichen Veränderungen der Spätmoderne und reagieren auf Probleme und Herausforderungen. Die Auseinandersetzung mit diesen Problemen könnte man Hier sind vor allem die Studien von Deleuze zu Spinoza (Spinoza et le problème de l’expression, Paris 1968), Leibniz (Le Pli – Leibniz et le baroque, Paris 1988) und Nietzsche (Nietzsche et la Philosophie, Paris 1962) zu nennen.
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Zur Forschungslage
einen Streit um existentielle Differenzen nennen, wie prominent um die Geschlechterunterscheidung und die Unterscheidung von Kulturen. Kimmerle nennt das Differenzdenken auch einen »Weg zur interkulturellen Philosophie« 25 und er behandelt zur Geschlechterdifferenz mit großem Nachdruck die Ansätze von Luce Irigaray und Julia Kristeva. Dies sind sicher nicht die einzigen existentiellen Differenzen, aber schon diese Beispiele machen verständlich, warum das Nachdenken über Differenzen statt Identitäten im 20. Jahrhundert von Beginn an und in hohem Maße interdisziplinär verlaufen ist. Die ethnologischen Forschungen von Claude Lévi-Strauss spielen eine große Rolle, um Differenzen zwischen Kulturen zu thematisieren; ebenfalls die psychoanalytischen Forschungen, die das Selbst als selbstdifferente Struktur darstellen, das sich selbst nie transparent und intelligibel werden kann. Auch die semiotischen Forschungen von Ferdinand de Saussure sind zu nennen, die Zeichen als Differenzierungsgefüge aufweisen. Es ändert sich der Blick auf Textlichkeit, auf das Selbst, auf Kulturen. Etwas pauschal könnte man sagen, dass für die verschiedenen differenztheoretischen Ansätze des 20. Jahrhunderts verschiedene Phänomene und Erfahrungen im Vordergrund stehen und einen prominenten Bezugspunkt für deren Forschungen abgeben. Für Jacques Derrida ist es das textuelle Gewebe, das immer und fortwährend Verschiebungen produziert. Und für Deleuze sind es die Differenzen der Immanenz, in die Subjekte eingeschrieben sind. Für Jean-François Lyotard ist es der Widerstreit, das unvermeidliche Unrecht, durch den eigenen Ausdruck anderen die Möglichkeit zu ihrem Ausdruck zu nehmen. Für den theoretischen Soziologen Niklas Luhmann, den ich zusammen mit dem Mathematiker George Spencer Brown zu den Differenztheoretikern des 20. Jahrhunderts zähle, ist es das gesellschaftliche Paradigma der funktionalen Differenzierung, das seinen Ausgangspunkt bildet und gleichzeitig durch seinen theoretischen Rahmen Aufklärung erfährt. 26 Diese und andere Ansätze lassen sich natürlich nicht ohne Verluste auf einen gemeinsamen Nenner brinHeinz Kimmerle, Philosophien der Differenz. Eine Einführung, Würzburg 2000, S. 46. 26 Niklas Luhmann zeigt Konvergenzen zwischen Dekonstruktion und Systemtheorie auf und schlägt ansatzweise eine Übersetzung von Theoriesprachen vor. Niklas Luhmann, »Dekonstruktion als Beobachtung zweiter Ordnung«, in: H. de Berg/ M. Prangel (Hg.), Differenzen. Systemtheorie zwischen Dekonstruktion und Konstruktivismus, Tübingen 1995, S. 9–59. 25
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gen. Aus einer interpretativen Vogelperspektive gesprochen ließe sich sagen, dass das gemeinsame Anliegen dieser Ansätze in der Kritik an vereinheitlichendem Denken besteht, und den harmonisierenden und totalisierenden Einheitsbildungen Formen der Differenz gegenübergestellt werden. Dafür ist es wichtig, dass die Philosophie erfahrungsgesättigter arbeitet, ihre Verflechtung mit gesellschaftlichen und historischen Veränderungen immer in die Betrachtung miteinbezieht und dadurch die Undurchlässigkeit ihrer Grenzen aufgibt. Das Problem an solchen Charakterisierungsversuchen aus der Vogelperspektive ist, dass sich damit noch keinesfalls von selbst versteht, worauf nun diese Charakterisierung zu Recht angewandt werden kann und worauf nicht. Kimmerle zählt zu den Philosophien der Differenz zum Beispiel Friedrich Nietzsche, Theodor W. Adorno, Martin Heidegger, Gilles Deleuze, Jean-François Lyotard, Jacques Derrida, Luce Irigaray, Julia Kristeva und verschiedene Ansätze der interkulturellen Philosophie. Die Akte der Urteilskraft, die zu solchen Einschlüssen und Ausschlüssen führen, sind durch philosophische Vorlieben und kontingente Kenntnisse geprägt. Daraus ist zu schließen, dass solche Begriffsbildungen wie »Philosophien der Differenz« oder »Differenztheorien« mehr als Abkürzung für eine Art, über Differenzen nachzudenken, stehen sollen, denn als Kriterium für den vollständigen Einschluss und Ausschluss von denkerischen Produkten. In Hinsicht auf die Subsumption von Fällen unter die Regel kommt diesen Begriffsbildungen bewusst Vagheit und Offenheit zu. Ich teile mit den Differenztheorien des 20. Jahrhunderts das Einklagen eines höheren Erfahrungsbezugs und die Einschätzung, dass die Beschäftigung mit der Vielfalt von Unterscheidungsmöglichkeiten und der Widerständigkeit von Unterscheidungen intensiviert werden sollte. Ich will mit dieser Arbeit den Versuch machen, einige aus meiner Sicht sehr wichtige Einsichten aufzunehmen und für die Ausbildung der doppelten Aufmerksamkeit auf Unterscheidungen, um die es mir geht, fruchtbar zu machen. Im vorherigen Abschnitt über den Aufbau der Arbeit wurde deutlich, aus welchen Gründen ich auf zwei Autoren aus diesem Diskussionszusammenhang, Spencer Brown und Deleuze, besonders Bezug nehme. Drittens: Es scheint mir wichtig, eine andere Art von Texten zusammenzufassen, in denen Philosoph_innen die Arbeit mit Unterscheidungen oder mit bestimmten Unterscheidungsformen in eigenen kleineren Studien explorieren. Ich beziehe mich hier vor allem auf 44 https://doi.org/10.5771/9783495817360 .
Zur Forschungslage
einen Autor, der in seinen philosophischen Arbeiten auf die Wichtigkeit des Themas der Unterscheidungen gestoßen ist und in zwei Aufsätzen eigens darüber nachgedacht hat. 27 Einer seiner Aufsätze trägt den programmatischen Titel The Method of Philosophy: Making Distinctions. Sokolowski versteht Philosophie insgesamt als Treffen von Unterscheidungen. Dabei interessiert ihn weniger, welche Unterscheidungen in der Philosophie getroffen wurden und welche besonders wichtig sind, sondern vielmehr, wie Unterscheidungen getroffen werden und wie die Erscheinungsweise von Unterscheidungen phänomenologisch zu beschreiben ist. Er zeigt an Beispielen von Alltagssituationen auf, dass die explizite Einführung einer Unterscheidung eine kontemplative Wirkung hat, an die die Philosophie anschließen kann. Das Treffen von Unterscheidungen markiert den Konnex zwischen Alltagserfahrung und philosophischer Reflexion. Aus seinen phänomenologischen Beschreibungen entwickelt Sokolowski auch weitreichende Vorschläge zum Sprachgebrauch, die ich im nächsten Abschnitt zum begrifflichen Feld diskutieren werde. Insgesamt sind seine Überlegungen eine wichtige Quelle, auf die ich mich vor allem für die Beschreibung der doppelten Aufmerksamkeit im ersten Kapitel des zweiten Teils beziehe. Zu dieser Gruppe von Reflexionen über Unterscheidungen gehören auch Überlegungen, die Josef König mit seiner ausführlichen Einleitung unter dem Titel Der Begriff eines formalen oder radikalen Unterschieds in die Thematik seiner Vorlesung im Sommersemester 1953 angestellt hat. 28 Königs Text ist vor allem deshalb interessant, weil er den langwierigen Prozess schildert, wie er durch ein Unbehagen an einer Sachunterscheidung, der zwischen theoretischen und praktischen Sätzen, dazu kommt, die Formungen der Inhalte durch Unterscheidungen eigens zu betrachten. Er beschreibt dieses Vorgehen selber als »eigenartige logische Reflexion, die in dem gewöhnlichen, rein den Sachen zugewendeten Nachdenken, nicht vor-
Robert Sokolowski, »Making Distinctions«, in: The Review of Metaphysics 32 (1979), S. 639–676 (wiederabgedr. in ders., Pictures, Quotations and Distinctions. Fourteen Essays in Phenomenology, Kapitel 3: Making Distinctions, Notre Dame/ London 1992, S. 55–91 und ders., »The Method of Philosophy: Making Distinctions«, in: The Review of Metaphysics 51 (1998), S. 515–532. 28 Vgl. Josef König, »Der Begriff eines formalen oder radikalen Unterschieds«, in: ders., Der logische Unterschied theoretischer und praktischer Sätze und seine philosophische Bedeutung, hrsg. v. F. Kümmel, Freiburg/München 1994, S. 75–190. 27
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Allgemeine Einleitung: Zum Profil philosophischer Unterscheidungsforschung
kommt.« 29 Sein konstruktiver Vorschlag, nämlich die Theoriefigur des radikalen Unterschieds, ist für mein Anliegen weniger wichtig, als die Kontraste, die er zu deren Gewinnung aufbaut und die Schilderung des Wechsels der Aufmerksamkeit auf die Weisen des Unterscheidens selbst. Ich werde mich im nächsten Abschnitt zum begrifflichen Feld und an einigen weiteren Stellen der Arbeit auf Königs Kontrastbildungen beziehen.
vi. Zum begrifflichen Feld Aus der Anlassbezogenheit von Unterscheidungen folgt ein Sprachproblem. Der Sprachgebrauch für das breite und diffuse Wortfeld des Unterscheidens ist ausgesprochen uneinheitlich. Wie soll hier eine spezifische oder gar systematische Beschäftigung mit Unterscheidungen möglich sein, ohne über Anlässe hinaus sprachliche Regelungen zu treffen? Das ist ein schwieriges Problem, das sich in verschiedenen Phasen meiner Beschäftigung mit Unterscheidungen beständig neu gemeldet hat. Alle Versuche, eine Terminologie zu entwerfen und konsistent zu verwenden, sind nämlich an den Anlässen, über inhaltliche Unterscheidungen nachzudenken, sowie an den verschiedenartigen Texten der Tradition, die für meine Beschäftigung besonders wichtig sind, regelrecht zerbrochen. Mittlerweile erscheint mir dies nicht mehr als Unvermögen, eine überzeugende und belastungsfähige Terminologie aufzubauen, sondern als sachlich ernstzunehmende Widerständigkeit von Unterscheidungen. Die Konsequenz daraus ist nun, eine Sprache für die Beschreibungen, Analysen und Konstruktionen zu entwickeln, die genügend Variationsspielraum lässt und einen Grad an Vagheit behält, der eine Vielfalt von Anwendungen erlaubt und der den Blick auf die Sache nicht durch terminologische Streitigkeiten verstellt. Die sprachlichen Vorschläge, die ich bisher gemacht habe, die Rede von »Unterscheidungsweisen«, »Praktiken des Unterscheidens«, »Strukturen von Unterscheidungen« sind nicht als strenge Terminologien zu verstehen, die eindeutige Anwendungskontexte haben und deshalb strikt einzuhalten sind. Vielmehr soll mit diesen sprachlichen Vorschlägen der Versuch gemacht werden, die Aufmerksamkeit auf Unterscheidungen als Unterscheidungen je etwas anders auszurichten. 29
Ebd., S. 102.
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Zum begrifflichen Feld
Diese Vorschläge haben einen sprachlichen Kontext, nämlich das breite und diffuse Wortfeld des Unterscheidens, das im Folgenden thematisiert werden soll: Zum direkten sprachlichen Feld gehören »Unterscheidung«, »Unterscheiden«, »Unterschied«, »Verschiedenheit«. Dazu kommen die Ausdrücke, die aus den alten Sprachen in den Sprachgebrauch aufgenommen sind: »Distinktion«, »Division«, »Differenz«, »Diskrimination«, »Diszernibilität«, verwandte Ausdrücke sind vielleicht noch »Disparatheit«, »Heterogenität«. Im Griechischen findet sich eine Fülle von Ausdrücken, wie zum Beispiel: »διαφορά« 30 (diaphora), »διορισμός« (diorismos), »ἑτερότης« (heterotēs), »διαιρεῖσϑαι« (dihaireisthai), »διακρίνειν« (diakrinein), »διορίσασϑαι« (diorisasthai), »διαφέρειν« (diapherein), »διαγιγνώσκειν« (diagignōskein). Und im Lateinischen gehören dazu: »distinctio«, »divisio«, »diversitas«, »differentia«, »discernere«, »distinguere«, »dividere«, »differre«. Bei aller Bandbreite möglicher Verwendungen findet sich eine zentrale Differenzierung, die im Deutschen in den Ausdrücken »Unterschied« auf der einen Seite und »Unterscheidung« auf der anderen Seite festgehalten ist. Unterschiede bestehen, sie gibt es in der Wirklichkeit, während Unterscheidungen getroffen werden, also durch intellektuelle Aktivitäten entstehen. Es gehört mit zum Nachdenken über Unterscheidungen, diese Differenzierung auszubuchstabieren. 31 Diese sprachliche Situation macht auch die hohe Kreativität verständlich, die die französischen Differenzdenker bei der Bildung von Neologismen an den Tag gelegt haben, wodurch sie das sprachliche Feld wiederum bereichern: »différance« (Derrida), »différend« (Lyotard). Dazu kommt noch eine Menge von Qualifikationen, durch die Abstufungen von Unterscheidungen vorgenommen werden. Qualifikationen von Unterscheidungen sind zum Beispiel Adjektive wie »trennscharfe«, »kategoriale«, »strikte« Unterscheidungen oder »graduelle« Unterscheidungen, »analytische« und »begriffliche« Unterscheidungen oder Unterscheidungen »in der Sache«. Genauso wird aber unterschieden zwischen »ontologischen« Unterscheidungen Hier und im Folgenden wird das sprachliche Feld des Unterscheidens in griechischer Schrift und in lateinischer Umschrift angeführt, andere griechische Begriffe werden dagegen nur in Umschrift angegeben; dabei bezeichnet ē den griechischen Buchstaben η (ēta), ō den Buchstaben ω (ōmega). 31 Im Englischen taucht häufiger eine weitere Bedeutungsverschiedenheit auf. »Distinct« ist der Gegenbegriff zu »identical« und bedeutet non-identical, während »different« der Gegenbegriff zu »similar« ist und non-similar meint. 30
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Allgemeine Einleitung: Zum Profil philosophischer Unterscheidungsforschung
oder Unterscheidungen von »Hinsichten« oder »Perspektiven«. Die kurze Auflistung von verschiedenen Weisen des Unterscheidens zeigt, dass solche differenzierenden Qualifikationen in philosophischen Untersuchungen immer wieder nötig werden. Dennoch gibt es keine Systematik solcher Qualifizierungen, durch die deutlich werden würde, welche verschiedenen Aspekte von Unterscheidungen hier eigentlich je verschieden qualifiziert werden. 32 Die Forderung liegt nahe, mit Hilfe einer einheitlichen Terminologie Übersicht über das Unterscheidungsvokabular zu schaffen. Dies hatte zum Beispiel seinerzeit Karl L. Reinhold eingeklagt: Obwohl »die sinnverwandten Wörter […] Verschiedenheit und Unterschied« zu den »unentbehrlichsten und gebräuchlichsten« Termini der Logik und Metaphysik gehörten, würden diese Kategorien besonders in der deutschen Philosophie ungeklärt verwendet. 33 Eine Auseinandersetzung mit dem sprachlichen und begrifflichen Feld des Unterscheidens zeigt aber, dass in die Ordnung dieses Feldes philosophische Überzeugungen eingehen und diese Ordnung nicht unabhängig von diesen Überzeugungen vorgenommen werden kann. Dies soll mit den folgenden Überlegungen zu Verwendungsweisen der Termini »Unterscheidung«, »Unterschied«, »Verschiedenheit« deutlich werden. Einige terminologische Ordnungsvorschläge der Tradition haben Spuren im alltäglichen Sprachgebrauch hinterlassen. Ordnungsvorschläge für dieses sprachliche und begriffliche Feld finden sich zum Beispiel in philosophischen Lexika. Sven Knebel versucht im Historischen Wörterbuch der Philosophie in seinen drei Artikeln »Unterscheiden; Unterscheidung«, »Unterschied« und »Verschiedenheit« folgende begriffsgeschichtliche Differenzierung, deren Hauptaugenmerk auf antiken und mittelalterlichen Autoren, vor allem Aristoteles und dem mittelalterlichen Aristotelismus liegt: Unterscheiden; Unterscheidung: Die Bandbreite griechischer Ausdrücke ist groß. Als meist gebräuchlichen Ausdruck für »UnterKönig deutet Wendungen wie »ist scharf zu unterscheiden«, »muss streng auseinandergehalten werden«, »ist strikt zu trennen« als Hinweise darauf, dass nach neuen Weisen des Unterscheidens gesucht wird. Er zeigt dies für Husserls Unterscheidung zwischen Generalisierung und Formalisierung in den Ideen zu einer reinen Phänomenologie. Vgl. König, »Der Begriff eines formalen oder radikalen Unterschieds«, a. a. O., S. 102 ff. 33 Carl Leonhard Reinhold, Grundlegung einer Synonymik für den allgemeinen Sprachgebrauch in den philosophischen Wissenschaften, Kiel 1812, S. 26 ff. 32
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Zum begrifflichen Feld
scheidung« nennt Knebel »diorismos«. 34 Für die Tätigkeit des Unterscheidens werden die Verben »diakrinein« (als Gegenbegriff zu »synkrinein«), »diagignōskein« und »diorisein« ohne einheitliche Bedeutungsvariationen verwendet. Der lateinische Ausdruck für Unterscheidung ist »distinctio«. Für die Tätigkeit des Unterscheidens wird das Verb »discernere« eher im Hinblick auf die Wahrnehmung und Erfassung der Nichtidentität numerisch verschiedener Dinge und Ereignisse benutzt, während das Verb »distinguere« eher in Bezug auf das Denken und die Erfassung der Nichtidentität von Begriffen, Bedeutungen, Beziehungen, Sachverhalten gebraucht wird. Knebel stellt den begriffsgeschichtlichen Stationen, die er markiert, die allgemeine Verwendung von »Unterscheidung; Unterscheiden« als Leistung des Bewusstseins voran, die sowohl als Wahrnehmungsakt als auch auf der Ebene des Denkens, wenn auch in sehr verschiedener Qualität, erfolgt. Terminologische Bedeutung erhalten »Unterscheiden; Unterscheidung« und »distinctio« durch ihre Funktion in den Gegensatzpaaren Unterscheidung/distinctio zu Identiät/identitas und Unterscheidung/distinctio zu Verworrenheit/confusio. Knebels begriffsgeschichtliche Spur setzt bei dem zweiten Gegensatzpaar an und schlägt einen Bogen von der platonischen Kritik an der Eristik mittels Differenzierung von Bedeutungshinsichten des Gesagten über Aristoteles zu den scholastischen ausgefeilten Methodiken der Differenzierung von Mehrdeutigkeiten. Knebel nennt paradigmatisch dafür eine lexikalische Bestimmung von »distinctio«: »Eine Unterscheidung ist die Darlegung von Mehrdeutigkeit; und die Abtrennung des einen Teils, mit dem die Wahrheit des Satzes nicht vereinbar ist, unter Beibehaltung des andern Teils.« 35 Die scholastische Verfeinerung dieser Distinktion von Mehrdeutigkeiten zieht auch eine intensiv betriebene ontologische Theoriebildung nach sich, die den ontologischen Status von Distinktionen bestimmt. Das Ergebnis ist eine niemals verbindlich gewordene, im Gegenteil hoch umstrittene Klassifikation von Distinktionstypen, die heutzutage außerhalb
34 Sven Knebel, »Unterscheiden; Unterscheidung«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 11, S. 308–310, S. 308. 35 »Distinctio […] est multiplicis sensus explicatio; et separatio unius partis, cum qua veritas propositionis stare non potest, […] altero relicto.« (Georgius Reeb, Thesaurus Philosophorum, seu Distinctiones et Axiomata Philosophica (1642), hrsg. v. J. M. Cornoldi Brixen 1871, S. IX, zitiert nach Knebel: »Unterscheiden; Unterscheidung«, S. 309).
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Allgemeine Einleitung: Zum Profil philosophischer Unterscheidungsforschung
von scholastischen Expertisen über die sogenannten Formalitätentraktate des 14.–17. Jahrhunderts völlig unbekannt ist. Unterschied: Der griechische Terminus für Unterschied ist »diaphora«, der lateinische »differentia«. Knebel nimmt hier die aristotelische Bestimmung und Tradierung auf, die vom Unterschied terminologisch dann spricht, wenn der Gesichtspunkt, unter dem in anderer Beziehung Identisches voneinander verschieden ist, thematisiert werden soll. 36 Die zentrale Quelle, an der sich die mittelalterliche Kommentartradition abarbeitet, ist die Isagoge von Porphyrios. Der Unterschied wird dort als Beschaffenheit bestimmt, und zwar als diejenige Beschaffenheit, die zwei Teilklassen von Gegenständen disjungiert, indem sie allem, was unter a fällt, beigelegt, und allem, was unter b fällt, abgesprochen wird. 37 Verschiedenheit: Der griechische Ausdruck ist »heterotēs« und der lateinische »diversitas«. Auch hier zeichnet Knebel vor allem die begriffsgeschichtliche Linie nach, die durch die Tradierung der aristotelischen Bestimmung entstanden ist. 38 Aristoteles nämlich bestimmt die Verschiedenheit in Abgrenzung zum Unterschied (diaphora). Was verschieden ist, muss nicht in etwas verschieden sein, während, was sich unterscheidet, sich in etwas unterscheidet, das es mit dem anderen gemeinsam hat. 39 In der aristotelischen Tradition des Mittelalters wird »diversitas« als eine in der Substanzkategorie fundierte kategoriale Relation bestimmt. Knebel weist darauf hin, dass diese Termi36 Knebel, »Unterschied«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 11, S. 310–313. 37 Porphyrios, »Isagoge in Categorias Aristotelis«, in: A. Busse (Hg.), Porphyrii Isagoge et in Aristotelis Categorias commentaria, Berlin 1887, S. 1–22, S. 10, 22 f., zitiert nach Knebel, »Unterschied«, S. 311. 38 Knebel, »Verschiedenheit«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 11, S. 879–885. 39 »Denn das, was verschieden ist, braucht nicht gegen das, gegen welches es ein Verschiedenes ist, durch etwas verschieden sein; denn jedes Seiende überhaupt ist entweder dasselbe oder verschieden; was aber von etwas unterschieden ist, muss durch etwas unterschieden sein; es muss also für beide etwas Identisches geben, wodurch sie sich unterscheiden.« (leicht veränderte Übersetzung von Hermann Bonitz/Horst Seidl) Die Stelle lautet im Original: »τὸ μὲν γὰρ ἕτερον καὶ οὗ ἕτερον οὐκ ἀνάγκη εἶναι τινὶ ἕτερον: πᾶν γὰρ ἢ ἕτερον ἢ ταὐτὸ ὅ τι ἂν ᾖ ὄν: τὸ δὲ διάφορον τινὸς τινὶ διάφορον, ὥστε ἀνάγκη ταὐτό τι εἶναι ᾧ διαφέρουσιν.« (Aristoteles, Met. X 3, 1054b23–28).
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nologie weitgehend stabil geblieben sei, bis der Leibnizianismus »diversitas« und »distinctio« koextensiv gemacht habe. Aus dem Ordnungsversuch lassen sich folgende Tendenzen der Bedeutung benennen. Unterscheidung ist eine Tätigkeit des Bewusstseins, Unterschiede sind Beschaffenheiten der Wirklichkeit, Verschiedenheit ist eine Realrelation. Der Zusammenhang zwischen Unterscheidung und Unterschied kann auf der Grundlage so angegeben werden, dass Unterscheidungen bestehende Unterschiede festhalten. Diese im Aristotelismus verwurzelte Differenzierung hat Spuren in unserem Sprachgebrauch hinterlassen, natürlich ohne Einheitlichkeit und Konsistenz. Wenn dieser begrifflichen Zuordnung auch einige Plausibilität zukommt, sind mehrere Zuordnungen hoch erläuterungsbedürftig. Es stellt sich zum Beispiel die Frage, wie das Verhältnis zwischen Unterscheidungen als Akten des Bewusstseins und bestehenden Unterschieden gedacht wird und wie man dabei der Tatsache Rechnung trägt, dass diese Unterscheidung zwischen Unterscheidungen und Unterschieden selbst wieder – als Unterscheidung – ein Akt des Bewusstseins ist. Es ließe sich auch einiger Zweifel daran anbringen, die Wirklichkeit, wie sie auch außerhalb der menschlichen Erkenntnismöglichkeiten existiert, als Ordnung bestehender Unterschiede und nicht als Zusammenspiel von Unterscheidungsprozessen zu konzeptualisieren. Dies würde eine Erweiterung des Verständnisses von Unterscheidungen nach sich ziehen, die nicht nur auf Operationen des Bewusstseins beschränkt, sondern als genauer zu bestimmende Prozesse aufzufassen wären, von denen die Operationen des Bewusstseins eine Form darstellen. Diese und andere mögliche Fragen machen verständlich, wie es zu anderen begrifflichen Bestimmungen und Zuordnungen gekommen ist. 40 Ich will hier einen ebenso plausiblen anderen Vorschlag für die Bestimmung der Bedeutung der Begriffe »Unterscheidung« und »Unterschied« und deren Verhältnis nennen. Der schon erwähnte Phänomenologe Sokolowski differenziert zwischen Unterscheidungen und Unterschieden so, dass damit zwei Arten ausgedrückt werden sollen, mit Unterschieden umzugehen. Von »Unterschieden« reden wir da, wo eben diese Unterschiede einfach aufgenommen werden. Unterschiede kann man aufnehmen oder Einen anderen Ansatzpunkt für die begriffliche Ordnung wählt zum Beispiel auch Platon. Vgl. dazu die Ausführungen zum Sophistes in Teil II, Kapitel 2.1.1.
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Allgemeine Einleitung: Zum Profil philosophischer Unterscheidungsforschung
nennen. »Unterscheidungen« sind demgegenüber explizit entwickelte Unterschiede. Man kann also Unterscheidungen treffen oder vollziehen und nicht nennen oder aufnehmen. Wenn die Entwicklung von Unterschieden nicht interessiert oder nicht mitvollzogen werden kann, dann gibt es Unterschiede ohne Unterscheidungen. Sokolowskis Beispiel hier sind subtile künstlerische Wahrnehmungen, die ein Laie nicht teilen kann, sondern der nur den Hinweis auf Unterschiede aufnehmen kann. Bei einer Unterscheidung wird der sichtbar, der die Unterscheidung vollzieht und der, für den sie vollzogen wird. In den meisten Fällen gehen die Vorschläge für die Bestimmung der Bedeutung der Grundbegriffe wie »Unterscheidung«, »Unterschied«, »Verschiedenheit« und mögliche andere wie »Differenz« nicht aus abstrakten Überlegungen zu diesen Grundausdrücken hervor. Vielmehr erwächst die Relevanz solcher grundbegrifflichen Überlegungen aus sachlichen Schwierigkeiten. Eines von verschiedenen möglichen Beispielen, wo Autoren über sachliche Schwierigkeiten zu einer Kritik an dem aristotelischen Ordnungsmodell gelangt sind, ist das folgende: Für König ergibt sich die Notwendigkeit, über verschiedene Formen von Unterschieden nachzudenken, durch die Beschäftigung mit dem Unterschied zwischen theoretischen und praktischen Sätzen. Nach König gilt für eine Reihe von Unterschieden, dass sie bzw. die voneinander unterschiedenen Seiten nicht in ihrer philosophischen Tiefe verstanden werden können, wenn sie als (aristotelische) Unterschiede, die sich durch eine bestimmte Beschaffenheit in etwas unterscheiden, das sie mit dem jeweils anderen gemeinsam haben, also kurz gesagt als Arten einer Gattung, aufgefasst werden. Dies gilt für Unterschiede wie die zwischen Tier und Mensch, zwischen Geistigem und Materiellem, zwischen Ding und Eigenschaft wie auch und prominent für den Unterschied zwischen theoretischen und praktischen Sätzen. Die Ausdrücke »theoretisch« und »praktisch«, eigentlich vertraut aus Lebenswelt und Theoriesprache, werden erst verständlich, wenn die Art, wie sie voneinander zu unterscheiden sind, auch mitverstanden wird. Andererseits sind die voneinander Unterschiedenen auch nicht einfach völlig heterogen. Es ist ein anderer Unterschied freizulegen, der weder Artunterschied innerhalb einer Gattung noch Heterogenität (aristotelische Verschiedenheit) ist, König nennt diesen Unterschied »radikalen Unterschied«. Damit ist ein Unterschied gemeint, für den die Perspektive des Entspringens von Unterschieden in praktischen Vollzügen relevant ist. 52 https://doi.org/10.5771/9783495817360 .
Zum begrifflichen Feld
Hiermit sind verschiedene Ordnungsvorschläge angedeutet, in die methodische Richtungsentscheidungen einfließen. Wie für die Phänomenologie charakteristisch, setzt Sokolowski bei dem »Wie der Gegebenheit« von Unterscheidungen oder Unterschieden an, um begriffliche Differenzierungen vorzuschlagen. Und bei König entzündet sich seine Kritik an den terminologischen Ordnungsvorschlägen der aristotelischen Tradition an der »praxeologischen« Überzeugung, dass die Erzeugung von Unterschieden in praktischen Vollzügen – sein Stichwort ist »unmittelbares Verhalten« – den Ausgangspunkt des Nachdenkens bilden sollte. Folgen damit die sprachlichen und terminologischen Vorschläge den methodischen Richtungen der Philosophie? Ich denke, dass die unbefriedigende Antwort ist: ja und nein. Ich ziehe daraus die folgenden Konsequenzen: Was ist nun aus diesen Überlegungen für den Sprachgebrauch zu schließen? Es scheint mir deutlich, dass es Differenzierungen im Sprachgebrauch braucht und dass es keine einheitliche Regelung geben kann. Zu berücksichtigen ist die Anlassbezogenheit des Nachdenkens über Unterscheidungen und die Abhängigkeit von verschiedenen philosophischen Methoden. Die Differenzierungen dürfen nicht zu feingliedrig sein, dann sind sie nicht mehr überschaubar und nicht flexibel genug einsetzbar. Dies kann man auch an den unübersichtlichen Differenzierungen der Scholastik nachvollziehen. Dann hätte man nämlich in der Unterscheidungssprache selbst Unterschiede erzeugt, die keinen Unterschied mehr machen, die also ihren Sachbezug verlieren und keinen relevanten Informationswert haben. Es würde, mit Sokolowski gesagt, »überunterschieden« (overdistinguish). 41 Die andere Gefahr liegt darin, ganz auf Differenzierungen zu verzichten, wenn einheitliche Verwendungen sowieso aussichtslos erscheinen. Dann ergäbe sich aber das gegenteilige Problem zu »unterunterscheiden« (underdistinguish). Ich will im Folgenden erläutern, inwiefern ich versuche, Differenzierungen vorzuschlagen, mit denen ich möglichst nicht unterunterscheide und nicht überunterscheide. Die Differenzierungen, die ich hier verwenden und entwickeln möchte, stehen, wie in dem Abschnitt zur »Forschungslage« schon angedeutet, in einer gewissen Spannung zueinander. Die Texte, aus denen ich diese Vorschläge gewonnen habe, entstammen sehr verschiedenen philosophischen Kontexten und es wird jeweils anderes an Unterscheidungen thematisiert. 41
Sokolowski, »Making Distinctions«, a. a. O., S. 657.
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Allgemeine Einleitung: Zum Profil philosophischer Unterscheidungsforschung
Die Unterscheidungen zielen auf Verschiedenes und lassen sich nicht wie in einem einheitlichen Ganzen zusammenfügen. Ich glaube, dass gerade diese Verschiedenheit darin, was an Unterscheidungen zu betrachten ist und wie die Aufmerksamkeit geleitet werden kann, nicht reduzierbar ist. Bei meiner Verarbeitung der Texte ist mir deutlich geworden, dass die Differenzierungen bis zu einem gewissen Grad tatsächlich als Werkzeug der Reflexion auf Unterscheidungen verwendet werden können, ohne sich auf die philosophische Richtung, aus der die Texte kommen bzw. die sie mitbegründet haben, festzulegen. Im Falle der Bearbeitung des Sophistes lässt sich sagen, dass die sehr allgemein gefassten Praktiken des Unterscheidens auch außerhalb des platonischen Philosophierens als Differenzierungshinsichten verwendet werden können. Ich werde von diesem Differenzierungswerkzeug zum Beispiel ausführlich bei der Analyse von kantischen Texten Gebrauch machen. Die Fragen allerdings, wie nun die Verbindungen und Abhängigkeiten zwischen den Praktiken eingeschätzt werden und welche Praktik andere möglicherweise fundieren kann, führen hinein in den Kern der platonischen Philosophie. Dies kann sicher nicht mehr einfach als verallgemeinerbares »Werkzeug« eingesetzt werden. Gleiches gilt für die Differenzierungen, die aus der Beschäftigung mit den Laws of Form gewonnen sind. Diese sind bis zu einem Grad unabhängig von konstruktivistischen Überlegungen und erlauben es nach meinem Eindruck, Strukturen von Unterscheidungen zu thematisieren. Der Anspruch geht dahin, eine Art »Organon« für die Beschreibung und Analyse von Unterscheidungen vorzuschlagen. Ziel eines solchen »Organons« ist es gerade nicht, eine spezielle Theorie des Unterscheidens oder eine philosophische Position zu entwickeln, sondern die Aufmerksamkeit auf verschiedene Arten des Unterscheidungsgebrauchs richten, diesen beschreiben und analysieren zu können. Diese relative Unabhängigkeit zwischen dem Sprachgebrauch und den methodischen Richtungsentscheidungen gilt nicht für Formen der Unterscheidungskritik und für den konstruktiven Aufbau einer bestimmten Perspektive auf Unterscheidungen. Mit meinen Überlegungen zur »Dialektik des Unterscheidens« im dritten Kapitel des zweiten Teils will ich konstruktiv eine bestimmte Sicht und einen bestimmten Umgang mit Unterscheidungen favorisieren. Dafür werden terminologische Vorschläge entwickelt, die an die Dynamik des Unterscheidungsgebrauchs rückgebunden bleiben.
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Zur Darstellungsform
vii. Zur Darstellungsform Die philosophische Arbeit mit doppelter Aufmerksamkeit auf die konkreten Unterscheidungen und die Unterscheidungsweisen macht sowohl Vertiefungen in den sachlichen Kontext der konkreten Unterscheidung als auch in die Frage nach Unterscheidungen als Unterscheidungen nötig, wie auch den Wechsel der Perspektiven. Dies bringt besondere Anforderungen an die Darstellungsform mit sich. Um Vertiefungen in die Sache oder in die Frage nach Unterscheidungen als Unterscheidungen zu ermöglichen, sind hinführende Darstellungen nötig. Diese Funktion übernehmen die Einleitungen, die gerade im ersten Teil recht ausführlich sind. Da in den Einleitungen zu den beiden Teilen wie auch zu den einzelnen Kapiteln sowohl die sachlichen Problemkontexte, die Diskussionslagen wie auch die jeweiligen Aufgaben der Unterscheidungsforschung entfaltet werden, habe ich die Einleitungen in Abschnitte untergliedert, deren Überschriften anzeigen, ob es um inhaltliche oder methodische Fragen geht. Von diesem Verfahren und der Untergliederung der Abschnitte wurde in dieser allgemeinen Einleitung schon Gebrauch gemacht. Von den fünf genannten Aufgaben der Unterscheidungsforschung: Beschreibung, Analyse, Kritik, Konstruktion und methodische Reflexion machen vor allem die Beschreibung und die Konstruktion besondere Darstellungsformen nötig. Um den Gebrauch von Unterscheidungen zu beschreiben, müssen sprachliche Handlungen, aber auch nicht-sprachliche Handlungen einbezogen werden. Um hier einen Grad an Feinheit und Präzision zu erreichen, an den sich philosophische Analysen anschließen können, schlage ich teilweise in der Philosophie ungewöhnlichere Wege ein, die in den jeweiligen Kapiteln aus der Sache heraus zu motivieren sind. Dies gilt ebenso für den konstruktiven Vorschlag dialektischen Unterscheidens, für das kennzeichnend ist, Erfahrungen zu induzieren und zu reflektieren. Die Suche nach angemessenen sprachlichen Darstellungsformen gehört seit Anbeginn zur Philosophie. Gottfried Gabriel hat die Vielfalt der literarischen Formen in der Philosophie erinnert und damit gezeigt, dass Philosophie keineswegs auf einige wenige Formen der Darstellung festgelegt ist. 42 Mit dem Folgenden mache
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Vgl. Gottfried Gabriel, »Literarische Form und nicht-propositionale Erkenntnis in
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Allgemeine Einleitung: Zum Profil philosophischer Unterscheidungsforschung
ich den Versuch, eine Form der Darstellung zu finden, die den fünf Aufgaben der Unterscheidungsforschung adäquat ist.
der Philosophie«, in: G. Gabriel/C. Schildknecht (Hg.), Literarische Formen der Philosophie, Stuttgart 1990, S. 1–26.
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Teil I: Die Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille
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Einleitung in den ersten Teil Das Vokabular des Strebens und Begehrens hält viele Differenzierungen bereit. Wir sprechen zum Beispiel davon, dass wir etwas beabsichtigen, vorhaben, begehren, anstreben, etwas wünschen oder wollen. In der Alltagssprache macht es sicher einen Unterschied, in bestimmten Situationen das eine oder eher das andere zu sagen. Es kann in einem Gespräch andere Anschlüsse provozieren, wenn man sagt: »Ich habe vor, morgen zu dem Vortrag zu gehen«, oder aber, wenn man sagt: »Ich will morgen zu dem Vortrag gehen.« Das hat aber nicht zur Folge, dass jeder der Ausdrücke eine scharf umrissene Bedeutung hätte. Vielmehr finden wir häufig vorkommende Unterschiede zwischen Redeweisen, die wir aber nicht konsequent durchhalten, in der Regel ohne für abweichende Verwendungen korrigiert zu werden. Dieser Gebrauch bietet oftmals Bezugspunkte für wissenschaftliche Terminologiebildung und für Klassifikationen wie auch für die philosophische Weiterentwicklung von Unterscheidungen. Für eine philosophische Beschäftigung mit der Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille oder Wünschen und Wollen 1 empfiehlt es sich deshalb, zuerst einmal den Gebrauch der Ausdrücke zu studieren.
a)
»Wünschen« und »Wollen« im alltäglichen Sprachgebrauch
In unserer Alltagssprache haben die verbalen, substantivischen und adjektivischen Formen »wünschen«, »Wunsch« oder »wünschenswert« breite Verwendung. Was wir wünschen, kann sich auf Sachverhalte oder Gegenstände richten, die jenseits unserer Einflussmöglichkeiten stehen und vielleicht auch auf etwas, was prinzipiell nicht erreichbar ist. So wünschen wir uns zum Beispiel, dass morgen für unseren Ausflug gutes Wetter ist oder wir wünschen uns, dass diese oder jene Sportlerin den Wettkampf gewinnen möge und wir können uns sogar wünschen, was gegen die Grundgesetze des Lebens ver-
Ich verwende im Folgenden die Substantive »Wunsch« und »Wille« wie die substantivierten Verben »Wünschen« und »Wollen« austauschbar. Beide grammatischen Formen dienen meist als Abkürzung für Tätigkeitskomplexe, die weiterhin näher zu bestimmen sind. Wird eher auf konkrete Tätigkeiten Bezug genommen, gebrauche ich die Verbformen »wünschen« und »wollen«.
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Einleitung in den ersten Teil
stößt, wie sich zu wünschen, unsterblich zu sein. Wünsche haben verschiedenste Adressaten, sie können sich an den Lauf der Welt, der jenseits individueller Einflussmöglichkeiten steht, richten, an andere, auf die wir durch unsere Wünsche und vor allem durch die Art und Weise, wie wir die Wünsche äußern, Einfluss nehmen und nicht zuletzt an uns selbst. Wünschen in diesem Sinne ist eine Aktivität, mittels derer wir oft Anteilnahme an den Geschicken anderer nehmen und ausdrücken, von Geburtstagswünschen bis zu Wünschen, dass anderen (wie einem selbst) gelingen möge, was sie sich vornehmen oder dass die Umstände dafür günstig sein mögen. Wünsche haben auch die Funktion, die Phantasie oder Einbildungskraft für das Entwerfen möglicher Zustände einzusetzen, die entweder eine individuelle positive Funktion haben oder sich auf allgemeinere Zustände beziehen können, so etwa: »Ich wünsche mir eine gerechtere Welt.« In dieser spezielleren Verwendung, für die der nicht vorhandene Zugriff auf die Mittel charakteristisch ist, sind die Aktivitäten des Wünschens von den Aktivitäten des Wollens abzugrenzen, für den gerade der Zugriff auf Mittel und der Einsatz derselben kennzeichnend sind. Diese Abgrenzung scheint auf den ersten Blick klar zu sein und es gibt auch eine Menge von Beispielen, für die diese genau treffend ist. Szenen wie diese: Der Vater verabschiedet seine Tochter mit den Worten: »Ich wünsche dir heute viel Glück bei der Klausur. Hoffentlich kommt das Thema dran, das du gut geübt hast«, und: Der Vater sagt gegen Ende des Mittagessens zu seiner Tochter: »Bitte warte noch einen Moment. Ich will erst noch aufessen«, zeigen diese Verwendungen. Der Anwendungsbereich vom substantivischen »Wollen« oder »Willen«, vom verbalen »wollen« und adjektivischen »willentlich« scheint enger zu sein als der vom »Wünschen«. Können wir wollen, dass morgen das Wetter schön wird oder dass dieser oder jener Sportler den Wettkampf gewinnt? In alltäglichen Situationen sind zwei Arten von Reaktionen auf Sätze wie: »Ich will, dass morgen schönes Wetter wird«, möglich. Die eine Art von Reaktion nimmt die durch das Verb »wollen« ausgedrückte Intensität des Anliegens auf, z. B.: »Ja, du hast recht, das ist wichtig für das Gelingen des Festes.« Die andere mögliche Art von Reaktion korrigiert eine Überdehnung der Semantik des Ausdrucks »wollen«, wenn es sich auf Gegenstände und Sachverhalte richtet, auf die wir keinen Einfluss haben, z. B. mit dem Satz: »Was du alles willst! Wir können nur hoffen, dass es morgen nicht regnet und wir müssen überlegen, was wir machen, wenn es 60 https://doi.org/10.5771/9783495817360 .
Einleitung in den ersten Teil
doch regnet.« In Reaktionen wie der zweiten taucht die Unterscheidung zwischen Wünschen und Wollen wieder auf. Hier sind aber nicht nur, wie oben, die größere Entschiedenheit und die Ausrichtung auf die Handlung das, was den Unterschied ausmacht, sondern auch noch unsere Möglichkeit der Einflussnahme auf den gewollten oder gewünschten Gegenstand. Betrachten wir folgende Verwendungen: »Ich wünsche mir, immer Verständnis für andere zu haben«, und: »Ich will heute anders mit der angespannten Situation umgehen. Ich will, dass es nicht wieder zu Tränen kommt.« Die Unterscheidung wird dann besonders deutlich, wenn in den Beispielsätzen die Ausdrücke »wünschen« und »wollen« jeweils durch den anderen ersetzt werden, also: »Ich will immer Verständnis für andere haben«, und: »Ich wünsche mir, heute anders mit der angespannten Situation umzugehen. Ich wünsche, dass es nicht wieder zu Tränen kommt.« Die Ersetzung verändert den Sinn erheblich: »Ich will« transportiert deutlich größere Entschiedenheit und eine Ausrichtung auf die Handlung. »Ich wünsche« vermittelt demgegenüber weniger entschiedene Verwirklichungsabsichten und kann auf grammatischer Ebene gut durch einen irrealen oder potenzialen Konjunktiv umschrieben werden, wie: »Würde ich doch immer Verständnis für andere haben.« Die gegenseitige Ersetzung in den beiden Sätzen könnte in einer konkreten Kommunikationssituation sicher durchgehen, vielleicht aber auch Rückfragen provozieren, wie z. B.: »Meinst du, das gelingt dir, immer Verständnis zu haben?«, oder: »Wenn du es dir wünscht, warum machst du es dann nicht?« Diese vorstellbaren Entgegnungen setzen genau da an, wo die übliche Zuordnung vom Wollen zum real möglichen Handeln und vom Wünschen zum Entwurf von Möglichkeiten irritiert zu sein scheint. Die Unterscheidung zwischen Wünschen und Wollen in unserer Alltagssprache zeigt sich mehr an dem Reaktionsspektrum des Gegenübers als an klaren Verwendungsregeln und -restriktionen. Es ist möglich und nicht sinnlos und unverständlich zu sagen, man wolle unsterblich sein oder man wolle immer nur das Beste. Aber es ist möglich, dass Irritationen und Korrekturen des Gegenübers die Unterscheidung einbringen und einklagen. Die Tatsache, dass die Begrenzung der legitimen Verwendung von »Wollen« und »Wünschen« in der Alltagssprache keineswegs scharf ist, macht es möglich, dass sich die Unterscheidung auch anders, zum Beispiel über die leibliche Dimension des Sprechens wie die Stimmlage manifestieren kann. 61 https://doi.org/10.5771/9783495817360 .
Einleitung in den ersten Teil
Man könnte mit sehnsuchtsvoller Stimme sagen: »Ich will niemals mehr grob zu anderen sein und immer Verständnis haben.« Man könnte auch mit entschiedener Stimme sagen, dass man sich wünscht, heute anders mit der angespannten Situation umzugehen. Nun ist die sehnsuchtsvolle Stimmlage das Ausdrucksmedium für die weniger große Entschiedenheit. Und die entschiedene Stimmlage ist Ausdruck für die Ausrichtung auf die eigenen Handlungen in einer gestaltbaren Situation. Dies zeigt, dass die Unterscheidung in der Alltagssprache mit leiblichen Ausdrucksformen zusammenhängt. Statt eines Satzes oder einer entschiedenen Stimmlage kann natürlich auch eine Körperhaltung, eine Bewegung oder die Art und Weise, in einen Raum einzutreten, eine Ausrichtung auf Handlungen in einer gestaltbaren Situation realisieren oder eben auch nicht. Nun gibt es aber einen Phänomenbereich, in dem die Abgrenzung weniger einfach und dennoch ausgesprochen wichtig für die Möglichkeit bestimmter Interaktionen ist. Jemand nimmt sich immer wieder etwas vor, was prinzipiell im Rahmen seiner Möglichkeiten liegt: »Ich will wirklich diese Aufgabe erledigen«, sagt er sich selbst und anderen immer wieder – und tut es nicht. Wie oft kann man bei sich selbst und anderen erleben, wie Absichten, Vorhaben oder Pläne, die man fasst, und unser Handeln oder Tun auseinanderfallen. Wir nehmen uns vor, gesünder zu leben und tun es nicht. Wir beabsichtigen, den unangenehmen Anruf morgen zu tätigen, und tun es nicht. Wir planen zusammen mit Freunden einen Ausflug und halten den Plan nicht ein. In diesen und ähnlichen Situationen kann es natürlich verschiedenste Gründe dafür geben, dass wir von unseren Absichten, Vorhaben und Plänen abweichen. Der Ausflug zum Beispiel könnte wegen unerwarteter Krankheit abgesagt werden müssen oder der Anlass für den unangenehmen Anruf hätte sich inzwischen aufgelöst haben können. Dann erleben wir das Abweichen zwischen Absicht, Vorhaben oder Plan und unserem Handeln oder Tun aber nicht als Auseinanderfallen, sondern als angemessene Anpassung an veränderte Bedingungen. Absichten, Vorhaben oder Pläne auf der einen und Handeln oder Tun auf der anderen Seite fallen dann auseinander, wenn sie einen Zusammenhang bilden sollen, also wenn der Anspruch erhoben wird, Absichten, Vorhaben oder Pläne durch Handeln oder Tun zu erfüllen. Nur dann, wenn ein solcher Anspruch besteht, reden wir eigentlich auch erst von Absichten, Vorhaben oder Plänen und nicht von Vorstellungen, wie etwas sein könnte, oder von Phantasien über Zustände, denen kein Anspruch auf Verwirklichung eigen 62 https://doi.org/10.5771/9783495817360 .
Einleitung in den ersten Teil
ist. Erfahren wird das Auseinanderfallen von Vorhaben, Plänen, Absichten auf der einen und dem Handeln, Tun auf der anderen Seite dann, wenn der Anspruch einer Erfüllung oder Verwirklichung besteht, dem Anspruch aber nicht Genüge getan wird. Solche Situationen sind Anlässe dafür, die Unterscheidung zwischen Wünschen und Wollen zu verwenden. Die Unterscheidung könnte in solchen Situationen in reflexiver Absicht verwendet werden, um eine Situation einzuschätzen und das weitere Handeln daran zu orientieren. Die Unterscheidung wird in solchen Situationen nicht verwendet, um das ganze Bedeutungsspektrum des Wünschens oder auch das des Wollens zu thematisieren oder diesem gerecht zu werden. Sie wird gebraucht, um einen uneingelösten Anspruch einzugestehen, festzustellen oder zu kritisieren.
b)
Wunsch und Wille in der praktischen Philosophie
In sehr verschiedenen philosophischen Abhandlungen über menschliches Begehren findet sich eine Grenzziehung zwischen den Formen des Begehrens, die im Zentrum des Interesses stehen und den eigentlichen Gegenstandsbereich ausmachen, und Phänomenen, die als problematische Randerscheinungen eingestuft werden. Zu diesen abgrenzungswürdigen Randerscheinungen gehört das »bloße Wünschen«. »Bloßes Wünschen« wird als nicht ernsthaft und nicht auf Handlungen ausgerichtet charakterisiert. Es ist auffällig, dass viele dieser Grenzziehungen einerseits mit großem Nachdruck vorgetragen werden, die Abgrenzung scheint also wichtig zu sein. Andererseits wird in der Regel wenig argumentative Mühe aufgewandt, im Gegenteil, sie erfolgt oft nur in wenigen Sätzen oder einer Randbemerkung. Diese Art von Abgrenzung findet sich bei sehr verschiedenen Autoren in der Tradition und in der Gegenwart und es scheint sich um keine Grenzziehung zu handeln, die in Fragen der praktischen Philosophie auf irgendeine Schulrichtung festlegt. Bei John Locke zum Beispiel kommen den Begehrungen (desire) verschiedene Stärkegrade in Abhängigkeit von dem empfundenen Unbehagen zu. Der unterste Grad, der kaum zum Mitteleinsatz motiviert, sind die matten Wünsche (faint wishes). 2 Damit ist eine Grenze »For whatever good is propos’d, if its absence carries no displeasure nor pain with it; if a Man be easie and content without it, there is no desire of it, nor endeavour after it;
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Einleitung in den ersten Teil
zur Antriebslosigkeit markiert, denn die Begehrungen sind Affekte, deren Funktion es ist, den Antrieb zum Handeln zu geben oder den Willen (will) 3 zu bestimmen (determine). Kant grenzt den Willen als »Aufbietung aller Mittel« vom bloßen Wunsch ab 4, der damit ex negativo als mangelnde Bereitschaft zur Verwirklichung charakterisiert wird. Es verwundert nicht, wenn ein an den Konsequenzen des Handelns interessierter Philosoph wie Dewey eine ähnliche Abgrenzung mit allem Nachdruck an verschiedenen Stellen seines Werkes vollzieht und Begehren (desire) als aktive Relation zwischen Organismus und Umwelt vom bloßen Wünschen (mere wish), Fantasien und Träumereien abgrenzt. 5 Und in einer neueren Studie über das Wollen there is no more but a bare Velleity, the term used to signifie the lowest degree of Desire, and that which is next to none at all, when there is so little uneasiness in the absence of any thing, that it carries a man no farther than some faint wishes for it, without any more effectual or vigorous use of the means to attain it.« (John Locke, An Essay concerning Human Understanding (London 1689/1690), hrsg. v. P. H. Nidditch, Oxford 1975, II.20.6; die römische Ziffer bezieht sich auf das Buch, die zweite Ziffer auf das Kapitel und die dritte Ziffer auf den Abschnitt). Ich will an dieser Stelle eine Bemerkung zum Umgang mit den verschiedenen Wissenschaftssprachen machen. Da es mir wichtig erscheint, mit verschiedenen Wissenschaftssprachen umzugehen und nicht nur auf Englisch oder nur in der eigenen Sprache zu arbeiten, zitiere ich sogenannte Primärliteratur oft in der Originalsprache und, wenn es sich um für meine Fragestellung sehr wichtige Passagen handelt, auch noch in einer deutschen Übersetzung. Bei englischen Texten der Gegenwart, die auch die deutsche Diskussion stark geprägt haben, verwende ich teilweise auch nur die deutschen Übersetzungen, die ich als eigenen philosophischen Beitrag betrachte. 3 Der Wille ist der Akt des Geistes, der Begehrungen (desires) zu seinem Gegenstand hat und diese kritisch prüfen kann. Ebd., II.21.47: »For the mind having in most cases, as is evident in Experience, a power to suspend the execution and satisfaction of any of its desires, and so all, one after another, is at liberty to consider the objects of them; examine them on all sides, and weigh them with others.« 4 »Wenngleich durch eine besondere Ungunst des Schicksals oder durch kärgliche Ausstattung einer stiefmütterlichen Natur es diesem Willen gänzlich an Vermögen fehlte, seine Absicht durchzusetzen, wenn bei seiner größten Bestrebung dennoch nichts von ihm ausgerichtet würde und nur der gute Wille (freilich nicht etwa als ein bloßer Wunsch, sondern als die Aufbietung aller Mittel, so weit sie in unserer Gewalt sind) übrig bliebe: so würde er wie ein Juwel doch für sich selbst glänzen, als etwas, das seinen vollen Wert in sich selbst hat.« (Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA 4:394). 5 »Because valuations in the sense of prizing and caring for occur only when it is necessary to bring something into existence which is lacking, or to conserve in existence something which is menaced by outside conditions, valuation involves desiring. The latter is to be distinguished from mere wishing in the sense in which wishes occur in the absence of effort. ›If wishes were horses, beggars would ride.‹ There is something lacking, and it would be gratifying if it were present, but there is either no
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Einleitung in den ersten Teil
markiert Gottfried Seebaß mit dem bloßen Wünschen die Grenze des Gattungsbegriffs »Wollen«, der sich durch »motivationale Qualifikation« von dem motivational unqualifizierten bloßen Wünschen unterscheidet. 6 Die Liste der Beispiele ließe sich ohne Schwierigkeiten verlängern. 7 Diese Grenzziehung scheint also über die Schulen und Zeiten hinweg eine erhebliche Rolle für die Abgrenzung des handlungswirksamen Begehrens zu spielen und vor allem auch für das »rationale Begehren«, wie das Wollen gegenüber anderen Formen des Begehrens traditionell bestimmt wird. Für eine genaue und ausführliche Klärung dieser Funktion müssten natürlich alle Theorien unter Berücksichtigung der jeweils eigenen Terminologie genauer studiert werden. Dies soll für einige der genannten Autoren und einige noch nicht genannte im Folgenden auch geschehen. An dieser Stelle genügt es, sich die verschiedenen Passagen vergleichend anzusehen und einige gemeinsame Aspekte herauszuheben. Neben der Gemeinsamkeit der Abgrenzungsfunktion ist nun weiter auffällig, dass in allen angeführten Passagen das bloße oder matte Wünschen als problematischer »Zustand« qualifiziert wird. Es scheint sich um eine problematische Variante des Wünschens zu handeln. Es werden Zustände kontrastiert, nämlich handlungswirksame und handlungsunwirksame Formen des Begehrens. Als Prototyp der letzteren gilt das »bloße« Wünschen. Die pejorative Verwendung von »bloß« scheint ein Problem des projektiven Charakters von Wünschen, auch losgelöst von den Zwängen der Umstände Entwürfe machen zu können, anzuzeigen, das darin besteht, den Anstrengungen der Umsetzung zu entfliehen. energy expended to bring what is absent into existence or else, under the given conditions, no expenditure of effort would bring it into existence – as when the baby is said so cry for the moon, and when infantile adults indulge in dreams about how nice everything would be if things were only different. The designata in the cases to which the names ›desiring‹ and ›wishing‹ are respectively applied are basically different.« (John Dewey, Theory of Valuation (1939), LW.13.204). 6 »Ist bzw. in welcher Weise ist der gesuchte Gattungsbegriff, der Phänomene des ›bloßen Wollens‹ und komplette willentliche Verrichtungen einschließt, aber von ›bloßen Wünschen‹ und anderen (offenbar) nicht willensgetragenen Erscheinungen in seinem begrifflichen Umfeld zu unterscheiden sein sollte, über den fokalen, möglicherweise aber definitorisch nicht hinreichenden optativischen Kern hinaus zu qualifizieren […]?« (Gottfried Seebaß, Wollen, Frankfurt a. M. 1993, S. 79). 7 Vgl. z. B. zu Hinweisen über Stellen aus Texten des 19. Jahrhunderts bei Christoph Fehige, »Wunsch I«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 12, S. 1077– 1085.
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Einleitung in den ersten Teil
Letzteres halten realistisch gesonnene Denker für eine erhebliche Gefahr und Beeinträchtigung des Handlungsvermögens. Ich habe bisher auf das weit verbreitete Vorkommen einer Abgrenzung und auf damit zusammenhängende Kontrastierungen von verschieden bewerteten Zuständen verwiesen. Der Anlass für solche Abgrenzungen scheint darin zu bestehen, eine problematische Grenze aufzuzeigen. Wird diese Grenze überschritten, hat man es mit problematischen Zuständen zu tun. Sehen wir auf die vielfältigen Redeweisen, in denen wir alltagssprachlich »Wünschen« und »Wollen« verwenden, dann ist damit ein bestimmter Ausschnitt des semantischen Spektrums des Wünschens in den Mittelpunkt gerückt, nämlich solche Wünsche, bei denen der gewünschte Sachverhalt nicht prinzipiell außerhalb unserer Realisierungsmöglichkeit liegt. Bei den Wünschen, Geschehenes ungeschehen zu machen oder unsterblich zu sein, bedarf es keiner Aufmerksamkeit für die Situation, ob hier etwas gewollt oder gewünscht wird. Die weite Verbreitung lässt auf die Wichtigkeit dieser Abgrenzung schließen, die Kürze, mit der diese Abgrenzung vollzogen wird und die Selbstverständlichkeit der negativen Bewertung des bloßen Wünschens legt allerdings den umgekehrten Schluss nahe. Diese Abgrenzung dient als Mittel zu anderen theoretischen Zwecken und ist kaum Gegenstand eigener ausführlicherer Untersuchungen. 8 Dies ist einerseits nachvollziehbar, denn das sachliche Gewicht dieser Abgrenzung hängt mit der Frage nach der Handlungswirksamkeit menschlichen Begehrens zusammen und gehört in den Kontext handlungstheoretischer Überlegungen. Andererseits bleibt durch eine zu knappe Beschäftigung mit dieser Abgrenzung ein Feld unterbelichtet, in dem phänomenaler und theoretischer Reichtum eigentümlich konvergieren. Wünschen kommt im Feld der praktischen Philosophie aber nicht nur als bloßes Wünschen zu Abgrenzungszwecken vor, sondern Wünschen im Allgemeinen ist auch dort wichtig, wo Ordnung in das Feld praktischer Begriffe 9 gebracht werden soll. Meist hat die UnterscheiEine gewisse Ausnahme stellen Texte aus dem 19. Jahrhundert dar, die in einem Umfeld erstarkenden Interesses an der philosophischen Psychologie entstanden sind, wie zum Beispiel Christoph von Sigwarts Studie »Der Begriff des Wollens und sein Verhältnis zum Begriff der Ursache« (1879), in: ders.: Kleine Schriften, Zweite Reihe, Bd. 2, Freiburg/Tübingen 1881, S. 115–211. Vgl. dazu Teil I, Kapitel 2.1. 9 Ich meine mit dem Ausdruck »praktische Begriffe« die Begriffe der praktischen Phi8
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Einleitung in den ersten Teil
dung zwischen Wünschen und Wollen kein besonderes Gewicht, vielmehr werden verschiedene Spielarten menschlichen Begehrens, z. B. Willkür, Wunsch und Wille (wie bei Kant in der Metaphysik der Sitten) ins Verhältnis gesetzt. Die klassischen Unterscheidungskriterien zwischen Wünschen und anderen Arten des Begehrens sind erstens das Verhältnis zu den Mitteln, die zur Realisierung der Handlung nötig sind, und zweitens die Einschätzung der Erreichbarkeit des erstrebten Ziels. 10 Von einem »Wunsch« reden wir dann, wenn nicht die nötigen Mittel zur Erreichung des Ziels eingesetzt werden. Vom »Willen« sprechen wir dann, wenn genau das zutrifft. Und von »Wünschen« reden wir weiterhin dann, wenn der Glaube besteht, dass das gewünschte Ziel unerreichbar ist. Wir wollen dagegen dann etwas, wenn wir glauben, dass eine Realisierung möglich ist. 11 Ein wichtiges Beispiel für eine Ordnung praktischer Begriffe findet sich in der Nikomachischen Ethik von Aristoteles. Er bringt dabei diese beiden Unterscheidungskriterien ins Spiel und ordnet die Begriffe dennoch in einem entscheidenden Punkt anders, als es in modernen Texten üblich ist. Aristoteles entwickelt im vierten Kapitel des dritten Buchs der Nikomachischen Ethik einen für seine praktische Philosophie zentralen Begriff, den der prohairesis. Er grenzt den Begriff gegen andere ab, um seine Kontur zu entwickeln. Dafür ist auch die Unterscheidung zwischen prohairesis und boulēsis 12 wichtig. Boulēsis kann sich auf Unerreichbares richten, prohairesis bezieht sich dagegen nicht auf Unmögliches. Aristoteles’ Beispiele für unerreichbare Gegenstände der boulēsis sind Unsterblichkeit oder der losophie, nicht vorsprachliche Fähigkeiten der Bedeutungsgebung, wie es Christoph Demmerling und Dirk Schröder vorschlagen. Vgl. Dirk Schröder/Christoph Demmerling, »Fähigkeiten und praktische Begriffe«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 61 (2013) 5–6, S. 753–768. 10 Locke, An Essay concerning Human Understanding, II.20.6. 11 Locke macht diesen Unterschied mit der rhetorischen Frage deutlich: »For though a man would prefer flying to walking, yet who can say he ever wills it? Volition, ’tis plain, is an Act of the Mind knowingly exerting that Dominion it takes it self to have over any part of the Man, by imploying it in, or witholding it from any particular Action.« (Ebd., II.21.15). 12 NE III 4, 1111b19–30. Es ist interessant, verschiedene Übersetzungen für boulēsis und prohairesis zur Kenntnis zu nehmen. Für »boulēsis«: Eugen Rolfes: »Wille« und »Wollen«; Olof Gigon: »Wollen«; Ursula Wolf: »Wunsch«; William David Ross: »wish«. Für »prohairesis«: Eugen Rolfes: »Entschließung« und »Willenswahl«; Olof Gigon: »Entscheidung«, »Wille«, »Willensentscheidung«; Ursula Wolf: »Vorsatz«; William David Ross: »choice«.
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Einleitung in den ersten Teil
Sieg eines bestimmten Athleten in einem Wettkampf. Die Beispiele sollen zeigen, dass sich boulēsis auf das Ziel und prohairesis mehr auf die zum Ziel führenden Mittel bezieht. Aristoteles unterscheidet hier das Zielsetzungsvermögen, boulēsis, vom Vermögen, geeignete Mittel zu wählen, prohairesis. Der Begriff boulēsis begreift demnach Wünsche mit ein, und zwar solche, bei denen der Anspruch zu handeln nicht besteht (das wären Wünsche, die sich auf Gegenstände richten, die nicht in unserer Gewalt stehen), aber auch Wünsche, die gegenüber der Umsetzung in Handlungen offen sind. Im Kontrast zum üblichen modernen Willensbegriff, bei dem die Zwecksetzung und die Ausrichtung auf die Mittel zusammengenommen sind, isoliert Aristoteles die prohairesis als die Fähigkeit, den Handlungsbezug herzustellen. Aristoteles’ Vorschlag, eine eigene Tätigkeit nur für die Ausrichtung auf die Mittel anzunehmen, die prohairesis, macht darauf aufmerksam, wie qualitativ verschieden die Ausrichtungen auf Ziele und die auf die dahin führenden Wege sind. Es scheint mir eine wichtige Einsicht zu sein, die Umsetzung von Zwecken oder Zielen nicht als automatischen Schritt, der keine begrifflichen Herausforderungen birgt, zu verstehen. Allerdings fragt es sich, ob es überzeugend ist, den Schnitt zwischen Zielsetzung und Mitteleinsatz so scharf zu legen, dass bei der Mittelwahl ganz von den Zwecksetzungen und der Rückwirkung auf die Zwecke abgesehen werden kann. 13 Für den Zusammenhang hier reicht es zu sehen, dass die Fokussierung auf die Mittel oder auf die Zwecke den Kontrast dieser beiden Tätigkeitsformen sehr scharf klarstellt. Die oben erwähnten »bloßen Wünsche« nun, bei denen der bestehende Anspruch an den Einsatz von Mitteln nicht erfüllt wird, können durch den Schnitt, den Aristoteles zwischen Ausrichtung auf Ziele und Ausrichtung auf die Wege zu ihnen zieht, gar nicht untergebracht werden und erhalten in der aristotelischen Systematik einen anderen Ort. Das Phänomen, dass das Subjekt einen berechtigten Anspruch Christof Rapp hat in seinen Interpretationen versucht, eine Korrektur an dem Bild vorzunehmen, Aristoteles kümmere sich gar nicht um die Setzung der Zwecke, die ihm vorgegeben zu sein scheinen. Vgl. Christof Rapp, »Freiwilligkeit, Entscheidung und Verantwortlichkeit (III 1–7)«, in: O. Höffe (Hg.), Aristoteles: Die Nikomachische Ethik, Berlin 1995, S. 109–134 wie auch ders./Klaus Corcilius (Hg.), Beiträge zur Aristotelischen Handlungstheorie, Stuttgart 2008; ders., »Αντιμετωπίζοντας την αριστοτελική έννοια της βούλησης (Tackling Aristotle’s Notion of the Will)«, in: S. Efthymiadis/C. Panayides/P. Thanassas (Hg.), Readings of Aristotle, Nicosia 2014, S. 51–69.
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Einleitung in den ersten Teil
auf Realisierung nicht erfüllt, behandelt Aristoteles unter dem Begriff der akrasia. 14 Mit akrasia oder Willensschwäche ist das Phänomen des Handelns wider besseres Wissen 15 gemeint. Das bloße Wünschen könnte insofern als eine Spielart der akrasia gelten, als dass der bloß Wünschende weiß, dass der Anspruch so und so zu handeln zu Recht besteht und er diesem Wissen entgegen die Handlung unterlässt. Damit rückt das Phänomen des bloßen Wünschens in die Nähe der Irrationalität und es fragt sich, ob es auf diese Weise angemessen erfasst ist. 16 In der gegenwärtigen Diskussion finden wir die Tendenz, einen weiten Begriff des Wünschens zu verwenden, der mit Bedürfnissen oder Interessen identifiziert wird; im Englischen steht dafür der Ausdruck »desire« zur Verfügung. Desire ist ein allgemeiner Terminus für die subjektiven psychischen Zustände, die Akteure haben und die ihr Handeln erklären. Wünschen in diesem Sinne umfasst verschiedene Stärkegrade und es ist weder nötig, begrifflich zwischen Formen des Wünschens noch zwischen Wunsch und Wille zu unterscheiden. Diese Position wird David Hume zugeschrieben 17 und an sie wird noch vielfach in der gegenwärtigen Diskussion angeschlossen. Die englische Sprache verfügt zwar über die Unterscheidung zwischen »will« und »wish«, in der neueren Literatur wird aber von diesen sprachlichen Differenzierungsmöglichkeiten wenig Gebrauch gemacht. Zum Teil findet sich sogar explizit Kritik daran, die besagt, es sei für die Analyse von Handlungen wie für ethische Reflexionen völlig ausreichend, von »Wünschen« (desires) zu sprechen. Anna Kusser zieht diese theoretische Grenzlinie in ihrer Studie über die Kritisierbarkeit von Wünschen in aller Deutlichkeit, indem sie kritisiert, dass die Unterscheidung zwischen dem handlungsrelevanten Wollen und dem NE VII 2–11, 1145b10–1152a36. Vgl. aus der breit geführten Diskussion dazu z. B. Thomas Spitzley, Handeln wider besseres Wissen. Eine Diskussion klassischer Positionen, Berlin/New York 1992 und ders. (Hg.), Willensschwäche, Paderborn 2005. 16 Vgl. dazu die kritischen Überlegungen in Teil I, Kapitel 3.1. 17 Die Auffassung, Wünsche (desire) als nicht weiter zu rechtfertigende Grundelemente für rationales Handeln anzusehen, wird als als »humesch« oder »humeanisch« bezeichnet. Dabei wird auf verschiedene Passagen des humeschen Werkes Bezug genommen, z. B. David Hume, A Treatise of Human Nature (1739/40), hrsg. v. L. A. Selby-Bigge, 2. Aufl., hrsg. v. P. H. Nidditch, Oxford 1978, II.3.3. (Die römische Ziffer bezieht sich auf das Buch, die zweite Ziffer auf den Teil und die dritte Ziffer auf den Abschnitt). 14 15
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Einleitung in den ersten Teil
nicht handlungsrelevanten Wünschen fundamental wirke, bei genauerem Hinsehen aber oberflächlich sei. Es reiche aus, einen allgemeinen Wunschbegriff zu verwenden, mit Hilfe dessen Grade der Handlungsrelevanz von Wünschen, die sich zum Beispiel in der Bereitschaft zeigen, Nachteile in Kauf zu nehmen, differenzierbar seien. 18 Damit wird die Unterscheidung explizit zugunsten der einen Seite, der Wünsche, aufgehoben. Andere Autoren, wie Peter Stemmer, nehmen die Auflösung der Unterscheidung zugunsten der Rede vom Wollen vor: »Ich verwende die Ausdrücke ›Wunsch‹ und ›Wünsche‹ nur als Vertreter für das fehlende Substantiv zu ›wollen‹. Ich unterscheide also nicht zwischen ›wollen‹ und ›wünschen‹, spreche vielmehr durchgängig vom ›wollen‹.« 19 Liegt nun eine Homonymie vor, sodass grundsätzlich Verschiedenartiges verwirrenderweise und fälschlicherweise gleich bezeichnet wird, wenn in allen diesen Fällen von »Wünschen« gesprochen wird? Sollten drei Arten von Wünschen unterschieden werden oder drei ganz verschiedene Begriffe gebildet werden für erstens das, was Bedürfnisse, Interessen oder, in etwas ungebräuchlich gewordener Ausdrucksweise, »Begehrungen« im Allgemeinen ausmacht, zweitens für die Ausrichtung auf Gegenstände, die außerhalb unserer Realisierungsmöglichkeiten stehen und drittens für die Zusammenhänge, in denen wir unsere Handlungsmöglichkeiten zur Erreichung von Zielen nicht ausschöpfen? Oder handelt es sich hierbei um eine Paronymie, die sich dadurch auszeichnet, dass ihre verschiedenen Bedeutungen inhaltliche Verwandtschaften und Abhängigkeiten voneinander aufweisen? An dieser Stelle reicht es aus, diese Fragen zu stellen. Der Einsatzpunkt für mögliche Antworten soll im ersten Kapitel dieses ersten Teils bei der Verwendung der Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille oder Wünschen und Wollen in problematischen Situationen genommen werden. Die Unterscheidung kann in solchen Situationen eine reflexive Wirkung entfalten und eine Deutung anbieten, die das künftige Handeln orientiert. Im zweiten Kapitel werden Textstudien vorgenommen. An die ausgewählten Texte von Sigwart, Kant und
Anna Kusser, Dimensionen der Kritik von Wünschen, Frankfurt a. M. 1989, S. 15. Peter Stemmer, »Was geht voraus: das Wollen den Gründen oder die Gründe dem Wollen?«, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 66 (2012), S. 187–217, S. 199. Wiederabgedr. in: ders., Begründen, Rechtfertigen und das Unterdrückungsverbot. Studien zu Moral und Normativität, Berlin/Boston 2013, S. 139–165.
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Einleitung in den ersten Teil
Wittgenstein ist die Frage zu richten, wie die Bedeutungsvielfalt des Wünschens jeweils analysiert und gedeutet wird und welche Rolle die Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille dabei spielt.
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Sachliches und methodisches Anliegen
Die Unterscheidung zwischen handlungswirksamem Begehren und bloßem Wünschen oder, etwas breiter gefasst, zwischen Wollen und Wünschen, steht für Konflikterfahrungen zwischen unseren Vorstellungen und unserem Handeln, die im individuellen Selbstverhältnis, in sozialen Interaktionen oder auch in gesellschaftlichen Zusammenhängen virulent werden können. Darin liegt der phänomenale Reichtum der Unterscheidung. Und theoretisch herausfordernd ist diese Unterscheidung deshalb, weil dadurch die Frage aufgeworfen wird, ob sich eigentlich unabhängig vom Handeln erkennen lässt, ob ein Akteur etwas will oder etwas (bloß) wünscht. Wollen als handlungswirksames Begehren und Wünschen als schwaches, handlungsunwirksames Begehren zu definieren, ist zunächst nicht mehr als eine nominale Definition, deren Wirklichkeitsbezug aufgewiesen werden muss. Vielfach wurde der Versuch unternommen, den Wirklichkeitsbezug über die verschiedenen Qualitäten psychischer Zustände herzustellen. Wollen wurde oft als mentale Anstrengung qualifiziert und (bloßes) Wünschen im Gegenzug als vollständiger Mangel an Anstrengung. Eine genauere Auseinandersetzung mit den Erscheinungsweisen von Wünschen und Wollen zeigt aber, dass hierdurch nur ein bestimmter Ausschnitt eingefangen werden kann. Besonders wichtig scheint es mir zu sein, die mögliche emotionale Intensität von (bloßen) Wünschen zu berücksichtigen, die hinsichtlich ihrer Handlungsunwirksamkeit als »bloß« zu bezeichnen sind. In diesem Sinne bloß Wünschende können selbst überrascht davon sein, wenn die Handlung zur Verwirklichung des Gewünschten ausbleibt. Dies kann leicht als pathologisches Sonderphänomen zur Seite geschoben werden, wenn man im eigenen Beispielreservoir nur einige extreme Fälle mitführt und die Aufmerksamkeit auf das Wollen als rationales und handlungswirksames Begehren verengt. 20 HandlungsDie Rationalität wie die Handlungswirksamkeit des Wollens liegen in der Gestaltung des Handlungsverlaufes, nicht in der Qualität der Handlungsgründe und auch nicht in der Qualität der gewollten Inhalte.
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Einleitung in den ersten Teil
wirksamkeit ist überhaupt gar kein Merkmal, das dem einen psychischen Zustand zukommt und einem anderen fehlt, sondern höchstens legitim als abkürzende Rede für die Gestaltung eines Handlungsverlaufs. Die Unterscheidung zwischen Wünschen und Wollen führt dahin, Gestaltungen von Handlungsverläufen sowie die Rolle, die Formen der Nichtgestaltung und Gestaltungsabbrüche dabei spielen, besser zu verstehen. Über diese Gestaltungen kann und muss weit mehr gesagt werden, als es meist üblich ist, wenn von »Umsetzung« oder »Realisierung« des Gewollten gesprochen wird. Hierbei wird suggeriert, es handele sich um einen nachgeordneten Akt, durch den »nur« die Mittel für bereits bestimmte Zwecke eingesetzt werden. Genauer betrachtet ist der Prozess der Gestaltung aber von einer Art Logik der Rückwirkungen gekennzeichnet, durch die sich das, was gewollt wird, verändert. Dies ist genauer beschreibbar und analysierbar. Der Ausdruck »Logik« ist hier weit im Sinne einer »Regelhaftigkeit«, durch die bestimmte Schlussfolgerungen möglich werden, verwendet. Es ist hierbei nicht die Anwendung von Methoden der philosophischen Disziplin der Logik gemeint. 21 Die Unterscheidung zwischen Wünschen und Wollen entspringt genau an diesem Prozess der Gestaltung einer Handlung. Wollen bedeutet, diesen Prozess kreativ zu durchlaufen und Wünschen bedeutet, ihn nicht zu beginnen oder abzubrechen. In der Debatte über Handlungen und Handlungsgründe kann man sehen, dass immer noch viel mehr Gewicht auf die Analyse des Handlungssubjekts gelegt wird. Die handlungstheoretischen Ansätze im Anschluss an Wittgenstein und Gilbert Ryle haben dies zwar von Anfang an kritisch reflektiert, prägen die Diskussionen aber erst in Manche Logiker mögen eine solche weite Verwendung ärgerlich finden, ich will aber dafür plädieren, den Ausdruck »Logik« nicht auf bestimmte Verfahrensweisen oder auf Expertenwissen einzuengen. Eine Verwendung des Ausdrucks wie die folgende aus einem Aufsatz von Christoph Menke ist charakteristisch für die Form von Genauigkeit und Halbkodifizierung, die mir wichtig zu sein scheint: »Und worin besteht die Logik ihres Unterschieds: Sind die disziplinären und die ästhetisch-existentiellen Übungen zwei verschiedene Klassen oder aber zwei verschiedene Vollzugsweisen von Übungen?« (Christoph Menke, »Zweierlei Übung. Zum Verhältnis von sozialer Disziplinierung und ästhetischer Existenz«, in: A. Honneth/M. Saar (Hg.), Michel Foucault: Zwischenbilanz einer Rezeption. Frankfurter Foucault-Konferenz 2001, Frankfurt a. M. 2003, S. 283–299, S. 285). »Logik des Unterschieds« meint hier Regeln, aus denen für die weitere Verwendung der in Frage stehenden Unterscheidung etwas folgt.
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Einleitung in den ersten Teil
der letzten Zeit wieder etwas stärker. 22 Es gibt immer mehr Stimmen, die eine Integration der subjektiven Seite und der des Handlungsverlaufes fordern, um die Einseitigkeit des bisherigen Diskurses zu überwinden. 23 Doch eine solche »Integration« ist oft nur ein Zusammenfügen von beiden Seiten, während die Frage offen bleibt, wie diese zusammenhängen. Was ist überhaupt der Grund für diese Unterscheidung? Was ist ihre Plausibilität, wie müssen wir die Unterscheidung vielleicht treffen, damit nicht immer wieder eine nachgeschobene »Integrationsnotwendigkeit« entsteht? Denn die Forderung nach einer Integration von getrennt gehaltenen Aspekten ist ein Indiz dafür, dass der jeweilige Unterscheidungsgebrauch sehr grundsätzlich reflektiert werden sollte. Ich will von unserer Handlungspraxis her an diese Frage herangehen bzw. noch spezifischer, von einem Phänomen, das uns immer wieder stutzig macht und Charakterzüge eines puzzles hat, die in der analytischen Diskussion gern Ausgangs- und Bezugspunkte von Debatten sind. Gemeint ist die Erfahrung einer Differenz, eines Abstandes, eines Bruches, der uns manchmal selber überraschen kann. Was ist das für ein Phänomen? Wie ist es handlungstheoretisch zu erfassen? Sich auf die Unterscheidung zwischen Wünschen und Wollen einzulassen bedeutet, einen Begriff menschlichen Handelns zu entfalten, der bei der Durchführung ansetzt. Dieses Handlungsverständnis ist in der Stimmenvielfalt der handlungstheoretischen Beiträge eindeutig eine Minderheitenposition, die von pragmatistischen Handlungstheoretikern und auch einigen Interpreten der hegelschen Handlungstheorie vertreten wird. 24 Ich meine nun, dass gerade der Weg über die Unterscheidung zwischen Wünschen und Wollen es erlaubt, pragmatistische und idealistische Beiträge zu verbinden und zu einer dialektischen Handlungstheorie weiterzuentwickeln, die zum Ziel hat, die »Logik« der Rückwirkungen genauer und konkreter darzustellen, als es bisher der Fall ist. Dies ist eine Verbindung, die sich nicht von selbst versteht, auch nicht in Bezug auf handlungsAnne Mazuga, Ausdruck und Zuschreibung: Konzeptionen des menschlichen Handelns bei H. L. A. Hart, Elizabeth Anscombe und A. I. Melden, Berlin/Boston 2013. 23 Vgl. Ralf Stoecker (Hg.), »Einleitung«, in: ders., (Hg.), Handlungen und Handlungsgründe, Paderborn 2002, S. 7–32, S. 32 mit Bezug auf Frederick Stoutland, »Responsive Action and the Belief-Desire Model«, in: Grazer Philosophische Studien 61 (2001), S. 83–106. 24 Vgl. dazu Teil I, Kapitel 3.3 und Kapitel 4. 22
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theoretische Fragen. Ist nicht die pragmatistische Handlungstheorie, wie sie zum Beispiel von Dewey entwickelt wurde, bewusst orientiert an Routinen und habitualisierten Handlungen, in denen gerade kein Abstand zwischen Absicht und Durchführung besteht? Und sind nicht die hegelsche Theorie und das dialektische Vorgehen im Kern Abarbeitungen an Differenzen, Brüchen, Abstandserfahrungen, durch die Weiterentwicklungen entstehen? Diese Spannung zwischen den beiden Ansätzen ist sicher präsent und gewählt, wenn auch die Bezüge zwischen der hegelschen Theorie und dem Pragmatismus intensiv thematisiert worden sind und die hegelsche Theorie als (neo-)pragmatistischer Beitrag zu gegenwärtigen Debatten eingebracht worden ist. 25 Die Abstands- und Differenzerfahrungen, wie sie hier zum Ausgang der Untersuchung gewählt werden, scheinen mir gerade die Herausforderungen zu markieren, denen sich eine Theorie des Handelns zu stellen hat, um die konkreten Vollzüge der Handlungsgestaltung, die immer auch abgebrochen werden können, genau in ihrer »Logik« darzustellen. Damit ist das sachliche Anliegen des ersten Teils angezeigt. Das methodische Anliegen ist eng damit verwoben. Ich nehme eine Unterscheidung zum Ausgangspunkt, die Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille. Wie kommen Unterscheidungen vor? In der Lebenswelt und unserer alltäglichen Sprache wie auch in theoretischen Ausarbeitungen und Reflexionen werden viele Unterscheidungen verwendet, ohne eigens thematisiert zu werden; sie bleiben, um die Unterscheidung aus der allgemeinen Einleitung aufzunehmen, operativ. Hier wie dort entfalten sie ihre Wirksamkeit, hier wie dort »leben« sie. Also müssen wir sie auch an beiden Orten aufsuchen. Über manche Unterscheidungen gibt es direkte Diskussionen, die diachron verfolgt werden können oder deren Bezugnahmen in sogenannten »Debatten« nachvollziehbar sind. Beispiele dafür sind die Debatten um die Geschlechterunterscheidung und um die Leib-Seeleoder Körper-Geist-Unterscheidung. Andere Diskussionen über Unterscheidungen verlaufen indirekter oder gar nebeneinander her und können durch eine theoretische Fragestellung aufeinander bezogen werden. Die Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille ist von Z. B. Antje Gimmler, »Hegel as Pragmatist«, in: W. Egginton/M. Sandbothe (Hg.), The Pragmatic Turn in Philosophy: Contemporary Engagements between Analytic and Continental Thought, Albany 2004, S. 47–66.
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der letzteren Art. Deshalb ist es nötig, Fragestellung und Ausgangsverständnis der Unterscheidung zu klären, um dann das Material auswählen, auswerten und aufeinander beziehen zu können. Eine Unterscheidung verweist auf Situationen, in denen sie getroffen und verwendet wird, und deshalb sind in einem ersten Kapitel mögliche Situationen beschrieben, in denen der Anwendungsbereich der Unterscheidung sichtbar wird. Unterscheidungen in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stellen, erfordert ein hohes Maß an Konkretheit. Denn Unterscheidungen sind Operationen, die in bestimmten Kontexten möglich sind und dort bestimmte Funktionen erfüllen. Mögliche Kontexte und mögliche Situationen müssen exemplarisch dargestellt werden (1. Kapitel: Beschreibungen: Wie wir wünschen und wie wir wollen). Jede neu eingeführte Unterscheidung verändert das Gefüge der Unterscheidungen, die zu ihrem Kontext gehören. Eine Unterscheidung konsequent zu verfolgen und in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu rücken, heißt, diesen Veränderungen und diesen Konsequenzen für andere Unterscheidungen nachzugehen. In der sachlichen Skizze wurde deutlich, wie die Unterscheidung zwischen Wünschen und Wollen, von der primären Abgrenzungsfunktion angefangen, weitere Kreise zieht und Fragen aufwirft, die zu deren Thematisierung in ausgreifenderen Überlegungen nötigen. Ansätze zu einer solchen »Entwicklungsgeschichte« der Unterscheidung zwischen Wünschen und Wollen finden sich bei einigen Theoretikern, nach meiner Kenntnis vor allem bei Kant, einigen nachkantischen Beiträgen zur philosophischen Psychologie und bei Wittgenstein. Ich will im zweiten Kapitel dieses Teils solche »Entwicklungsgeschichten« der Unterscheidung zwischen Wünschen und Wollen zum Gegenstand der rekonstruktiven Analyse machen. »Rekonstruktiv« nenne ich die Analyse deshalb, weil diese Entwicklungsgeschichten von den jeweiligen Autoren nicht selber dargestellt worden sind, sondern sich nur durch eine Zusammenschau verschiedener Textstellen ergeben. Die analytischen Werkzeuge haben den Zweck, den Funktionswandel der Unterscheidungen in den Blick zu bekommen (2. Kapitel: Analysen: Vom Wollen als mentale Anstrengung zur Muskelempfindung). Die (rekonstruktive) Analyse der Entwicklungsgeschichten deutet in die Richtung einer Engführung von Wollen und Handeln, die in der sachlichen Skizze oben angedeutet wurde. Denn erst durch den Handlungsverlauf lässt sich die Unterscheidung zwischen Wünschen 75 https://doi.org/10.5771/9783495817360 .
Einleitung in den ersten Teil
und Wollen treffen. Aus den Beschreibungen des ersten Kapitels und den Analysen des zweiten Kapitels ergibt sich eine Vielfalt von kritischen Konsequenzen gegenüber laufenden handlungstheoretischen Debatten. Ich will exemplarisch von den gewonnenen Einsichten her Unterscheidungskritik an einigen Diskussionen üben, in denen »unterunterschieden« (underdistinguish) wird, weil sie die Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille für überflüssig halten. Im dritten Kapitel soll gezeigt werden, dass die Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille ein kritisches Potenzial gegenüber der Diskussion um Willensschwäche birgt und das Konzept mit begrifflichem Gewinn ersetzen kann (3. Kapitel: Kritik: Handlungen bestehen nicht aus zwei Komponenten). Im vierten Kapitel dieses Teils wird eine Verschiebung der Aufmerksamkeit von der Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille auf den Begriff der Handlung selber nötig. Mit ständiger Rückbindung an mögliche Anwendungssituationen der relevanten Unterscheidungen wird gezeigt, wie das herkömmliche Bild eines Akteurs, der im Handeln eigene Interessen umsetzt, Schritt für Schritt erodiert (und wir es dennoch immer wieder verwenden müssen) und wie stattdessen im Rahmen eines konstruktiven Aufbaus Rückwirkungen zu gestalten sind, die erst bestimmen, was eigentlich die Absicht eines Akteurs ist. In diesem vierten Kapitel ist konstruktiv die »Logik der Rückwirkungen« zu erarbeiten. Dies geschieht in Anlehnung an und Weiterentwicklung von Texten Deweys und Hegels Phänomenologie des Geistes (4. Kapitel: Konstruktion: Handeln als dialektischer Prozess von Entwerfen und Gestalten).
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1. Kapitel: Beschreibungen: Wie wir wünschen und wie wir wollen
Einleitung zum ersten Kapitel In der Einleitung in den ersten Teil wurde den Verwendungsweisen der sprachlichen Ausdrücke »Wünschen« (»Wunsch«, »wünschenswert« etc.) und »Wollen« (»Wille«, »willentlich« etc.) nachgegangen. Anhand verschiedener Beispiele wurde sowohl das Spektrum der Anwendungen deutlich wie auch der Kontrast zwischen Wünschen und Wollen. Daran zeigten sich die begrifflichen Konturen der Ausdrücke »Wünschen« und »Wollen«. Die philosophische Analyse setzt bei diesen begrifflichen Konturen an und entwickelt sie weiter. Dies wird das Thema des zweiten Kapitels dieses ersten Teils zur Unterscheidungsanalyse sein. Vorher stellt sich aber die Frage, was für ein Gemisch von möglichen Empfindungen und leiblichen Vollzügen durch die Anwendung der Ausdrücke »Wünschen« und »Wollen« eigentlich zusammengefasst wird? Wie konkret drückt es sich aus, etwas zu Wünschen oder etwas zu Wollen? Welche Erfahrungen werden mit diesen sprachlichen Ausdrücken transportiert? Dies sind die Fragen dieses ersten Kapitels, in dem Beschreibungen von möglichen Erfahrungen des Kontrastes zwischen Wünschen und Wollen vorgeschlagen werden. Die Beschreibungen von Erfahrungen des Kontrastes zwischen Wünschen und Wollen beschränken sich auf Formen des selbstbezüglichen Wünschens, also auf Situationen, in denen das wünschende Subjekt sich auf Gegenstände bzw. Sachverhalte richtet, deren Realisierung nicht vollständig außerhalb der eigenen Einflussmöglichkeiten liegt. Erfahrungen dieses Kontrastes können in sehr verschiedenen Kontexten gemacht werden. Drei mögliche Kontexte will ich in diesem Kapitel etwas ausführlicher skizzieren, nämlich das reflexive Selbstverhältnis, Interaktionen zwischen mehreren Beteiligten und kulturdiagnostische Beobachtungen. Die Beschreibungen sind dargestellte und reflektierte Skizzen von Situationen und keine Beispiele. Beispiele für Verwendungswei77 https://doi.org/10.5771/9783495817360 .
1 · Beschreibungen: Wie wir wünschen und wie wir wollen
sen von Wünschen und Wollen wurden in der Einleitung in den ersten Teil gegeben, um Aufmerksamkeit zu erzeugen und diese auf sprachliche Vollzüge und Erfahrungen, die wir kennen und teilen, auszurichten. Dabei stand die deiktische Funktion von Beispielen im Vordergrund: »Schau hierhin und dorthin, dies ist gemeint.« Beschreibungen leisten demgegenüber noch etwas anderes.
a)
Die Aufgabe von Beschreibungen
Der Ausdruck »Beschreibung« hat eine Reihe von Konnotationen und es gibt wissenschaftliche Spezialverwendungen, zu denen der Gebrauch hier ins Verhältnis gesetzt werden muss. Oberflächlich betrachtet werden Beschreibungen oft als reines Sammeln von Daten verstanden und dem Interpretieren oder Auswerten der Beschreibung gegenübergestellt. Diese einfache Gegenüberstellung ist vielfach kritisiert worden und die Möglichkeit, reine Daten zu sammeln, nur zu sagen, wie es ist, ohne Färbung durch einen Standpunkt, ist als Fiktion entlarvt worden. Friedrich Kaulbach hat in seiner Studie zum Begriff der Beschreibung gezeigt, dass »Beschreibung« einer der Leitbegriffe der Neuzeit für die Natur- wie für die Geisteswissenschaften ist. 1 Anhand von viel Material aus beiden Bereichen zeichnet er den Relevanzgewinn dieses Begriffs nach und skizziert Funktion und Methodik, die der Beschreibung in verschiedenen Theorietraditionen zukommt, wie zum Beispiel in der empiristischen, der transzendentalphilosophischen und der hermeneutischen. Trotz aller Verschiedenheit dieser theoretischen Richtungen arbeitet Kaulbach die geteilten philosophischen Implikationen heraus und profiliert diese für eine »Philosophie der Beschreibung«, nämlich Leiblichkeit, Standpunktbezogenheit und Geschichtlichkeit. Jede Beschreibung geschieht von einem leiblichen Standpunkt aus (»Ich bin hier«) und in dem methodisch geleiteten Wechsel der Standpunkte kann der zu beschreibende Gegenstand als ganzer in Erscheinung treten. Die Übergänge von einem Standpunkt zum anderen vollziehen sich aber in der Zeit und erzeugen eine Geschichte von Bewegungen durch Standpunkte hindurch. 2 Diese drei Dimensionen, die nach Kaulbach für Friedrich Kaulbach, Philosophie der Beschreibung, Köln/Graz 1968. Vgl. z. B. die zusammenfassenden Überlegungen zu diesen drei Dimensionen der Beschreibung ebd., S. 466–470.
1 2
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Einleitung zum ersten Kapitel
Beschreibungen überhaupt gelten, treffen sicher auch das Verständnis von Beschreibung in der phänomenologischen Tradition, auf die Kaulbach sich kaum bezieht. »Beschreibung« kann zum Beispiel für die Philosophie Edmund Husserls als einer der zentralen und sehr differenziert entwickelten Methodenbegriffe gelten. Ich will einige der phänomenologischen Überlegungen als Bezugspunkt und Reibungsfläche für die Beschreibungen von Unterscheidungen nutzen. Ernst Wolfgang Orth zeigt in seinen Überlegungen zur Beschreibung bei Husserl die Doppeldeutigkeit der Beschreibung als Intuition, als einfaches Zusehen, und als Reduktion, als bewusstes Arrangieren solchen Zusehens. 3 Husserls Ausführungen zur Beschreibung tendieren mal mehr in die eine, mal mehr in die andere Richtung, insgesamt scheint diese Doppeldeutigkeit systematisch zur phänomenologischen Praxis des Beschreibens zu gehören. Die Betonung des einfachen Zusehens trägt dem Unterschied zwischen Beschreibung und konstruktiver Theoriebildung Rechnung (Gegenbegriffe zur Beschreibung sind bei Husserl »theoretische Deduktion«, »theoretische Konstruktion«, »freie deutende Interpretation«), sowie der Wirklichkeitsnähe, die nicht zugerichtet, sondern in ihrer Eigen- und Widerständigkeit zur Geltung kommt. Andererseits wird in Beschreibungen etwas sichtbar, und für Beschreibungen wird von einem Rahmen für die Beschreibung Gebrauch gemacht. Orth thematisiert verschiedene »Reduktionstypen«, innerhalb derer beschrieben werden kann. 4 Damit scheint mir etwas Wichtiges für Beschreibungen festgehalten zu sein, nämlich, dass durch Beschreibungen etwas entdeckt, aufgedeckt und sichtbar gemacht wird und dies durch eine Weise des »Hinblickens« möglich wird. In diesem Hinblicken und Zusehen können sich neue Aufmerksamkeiten ausbilden, die die Weisen des Hinblickens wiederum verändern und vertiefen. Diese Mitte zwischen Zusehen und Arrangieren des Zusehens kann durch eine systematisch fortschreitende Beschreibung gehalten werden, in der ausgehend von dem, was einfach nur identifizierend aufgefasst wird, in immer weiteren Schichten zur Beschreibung der Vgl. dazu: Ernst Wolfgang Orth, »Beschreibung in der Phänomenologie Edmund Husserls«, in: ders. (Hg.), Perspektiven und Probleme der Husserlschen Phänomenologie. Beiträge zur neueren Husserl-Forschung, Freiburg/München 1991, S. 8–45, S. 28. Orth zeigt hier eine Ähnlichkeit zu Wilhelm Diltheys Verständnis von Beschreibungen als »Sehen-lassen«, ebd., S. 27. 4 Ebd., S. 40. 3
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1 · Beschreibungen: Wie wir wünschen und wie wir wollen
Akte weitergegangen wird, durch die das identifizierend Aufgefasste konstituiert wird. Besonders prägnant wird diese Systematik der Beschreibung in der Art, wie Husserl sie entwickelt und verwendet hat, sicher in seiner Beschreibung der Ding-Wahrnehmung. 5 Solche Beschreibungen vollziehen Reflexionsschleifen, in denen die Konstitutionsvollzüge unseres Bewusstseins offengelegt werden. Während die Beschreibung traditionell der Erklärung, die situationsunabhängig ist und die wesentlichen Eigenschaften einer Sache trifft, gegenübergestellt wurde als das, was situationsabhängig ist und zeitgebundene, zufällige Eigenschaften anführt, interessiert die phänomenologische Praxis der Beschreibung gerade der Zusammenhang zwischen den zufälligen und den wesentlichen Eigenschaften. 6 So gesehen erklärt sich auch die pragmatistisch klingende frühe Forderung Husserls in Bezug auf zunächst mathematische Begriffe, dass sie an konkreten Phänomenen auszuweisen seien, von denen diese abstrahiert sind und dass die Art dieses Abstraktionsvorgangs klarzulegen sei. 7 Eine solche sich in Reflexionsschleifen vollziehende Beschreibung erzeugt mögliche Auslegungen und wirkt so selbst schon theoriegenerativ bzw. erzeugt theoretische Anschlussmöglichkeiten. Um sich über die Bedeutung und die Art von Beschreibungen als Teil der philosophischen Arbeit klar zu werden, scheint mir der Anschluss an eine weitere Theorietradition ausgesprochen wichtig und fruchtbar. Der amerikanische Pragmatismus hat die Rolle der praktischen Wirkungen von Begriffen sehr intensiv betont und den Einbezug von detaillierten Auseinandersetzungen mit unserer Praxis gefordert. Wenn auch der Ausdruck »Beschreibung« anders als in den phänomenologischen Traditionen kein Terminus des Pragmatismus ist, ist doch das methodische Selbstverständnis des Pragmatismus eines, das dazu auffordert, mögliche Verwendungssituationen von Begriffen (und Unterscheidungen) zu entwerfen, um deren Konsequenzen und Implikationen reflektieren zu können. Dies findet einen dichten Ausdruck in der pragmatischen Maxime von Charles Sanders Peirce: Vgl. z. B. die Darstellung der Grundidee in einer nicht-husserlschen Sprache von Robert Sokolowski, Introduction to Phenomenology, Cambridge/New York 2000, S. 17–21. 6 Vgl. Orths Hinweis auf die Schulphilosophie, Orth, »Beschreibung in der Phänomenologie Edmund Husserls«, a. a. O., S. 22. 7 Ebd., S. 31. Orth bezieht sich auf Husserls Ausführungen dazu in der Philosophie der Arithmetik. 5
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Einleitung zum ersten Kapitel
»Consider what effects, which might conceivably have practical bearings, we conceive the object of our conception to have. Then, our conception of these effects is the whole of our conception of the object.« 8 Diese hat verschiedene Differenzierungen erfahren, bei Peirce selber und bei den jüngeren Pragmatisten. Ich will die interne Variabilität und Deutungsnotwendigkeit, was mit »effects« und »practical bearings« genau gemeint ist, aufnehmen und vorschlagen, dies auch als phänomenale Wirkung und Anschluss an lebenspraktische Situationen aufzufassen. So verstanden impliziert die pragmatische Maxime auch die Aufforderung: »Überlege, welche Wirkungen auf Handlungsebene die Unterscheidung hat und welche Anschlüsse an Handlungen sie ermöglicht.« Ich werde darauf in den Überlegungen zur Pragmatik von Unterscheidungen wieder zurückkommen. 9 Der Begriff »Beschreibung« ist zu vielfältig verwendet worden, als dass er in seiner Bedeutung auf eine der genannten Verwendungen festgelegt wäre. Ich ziehe ihn wegen der genannten positiven Bezüge auf die Konzepte der dichten Beschreibung 10 und der phänomenologischen Beschreibung 11 dem Begriff der Darstellung und dem technischeren Begriff der Deskription vor. Die Beschreibung ist ein wichtiger eigener, methodisch geleiteter Schritt. Wie die Beschreibungen von Unterscheidungen eingebettet und wie sie genau zu vollziehen sind, soll im Einzelnen erst aus der konkreten Betrachtung hervorgehen. Charles S. Peirce, »How to Make Our Ideas Clear« (1878), in: CP 5.388–410, 5.402. Ich zitiere Peirce nach den Collected Papers of Charles Sanders Peirce (CP), 8 Bde., Bde. 1–6, hrsg. v. C. Hartshorne/P. Weiss; Bde. 7–8, hrsg. v. A. W. Burks, Cambridge, MA, 1931–1935, 1958. Die erste Ziffer gibt den Band an, die zweite den Abschnitt. 9 Vgl. Teil II, Kapitel 1.2. 10 Clifford Geertz nimmt die Wendung »dichte Beschreibung« (thick description) von Gilbert Ryle auf, um die Verschränkung von vermeintlichen Daten und Auslegungen, die für jede Ethnographie unhintergehbar ist, zu betonen. Vgl. Clifford Geertz, Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt 2003 (Übersetzung Brigitte Luchesi u. Rolf Bindemann). 11 Beschreibungen zeigen, dass Gegenstände erst in einem durch Relationen bestimmten Feld zugänglich werden und sich mit dem Wechsel von Perspektiven verändern. Sehr eindrucksvoll führt Kurt Lewin dies in seiner frühen phänomenologisch-gestaltpsychologischen Beschreibung »Kriegslandschaft« vor. Vgl. Kurt Lewin, »Kriegslandschaft« (1917), in: Kurt-Lewin-Werkausgabe Bd. 4: Feldtheorie, hrsg. v. C.-F. Graumann, Bern/Stuttgart 1982, S. 315–325. Vgl. dazu Christian Bermes, »Philosophische ›Feldforschung‹. Der Feldbegriff bei Cassirer, Husserl und Merleau-Ponty«, in: D. Rustemeyer (Hg.), Formfelder, Würzburg 2006, S. 9–26, S. 16. 8
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1 · Beschreibungen: Wie wir wünschen und wie wir wollen
Eine Beschreibung in diesem Sinne ist etwas anderes als das Geben eines Beispiels. Ein Beispiel dient in der Regel der Veranschaulichung und Konkretisierung einer allgemeinen, auf abstrakter Ebene gewonnenen Einsicht und soll diese dadurch verständlicher machen. 12 An einem Beispiel können Evidenzen gewonnen werden und die theoretische Arbeit dient dazu, diese Evidenzen zu sichern oder zu erklären. Eine Beschreibung teilt die Konkretion und Anschaulichkeit von Beispielen. Beschreibungen evozieren Situationen, machen Situationen, die bekannt sind, verständlich. Es findet ein Wiedererkennungseffekt statt, wie auch bei Beispielen, aber es wird etwas auf eine bestimmte Struktur hin beschrieben. Die Struktur wird in ihrem konkreten Wirken sichtbar und so sind Übertragungen auf andere Situationen möglich, wie ein Verstehen, ein Durchschauen der Situationen. Die Beschreibung stellt also in konkreter Weise vor, was die Situation zu einer Situation eines solchen Typs macht, sie gibt sozusagen ein solches token, das als token eines bestimmten types erkennbar wird. Diese Art von Beschreibung ist eine von modellgebender Konkretion, denn es wird gleichzeitig mittransportiert, wie weitere Beschreibungen möglich wären. Es geschieht eine Ausbildung der Aufmerksamkeit, auf was geachtet werden kann, welche kleinen Regungen Bedeutung haben und welche eher nicht und wie sich eine allgemeinere Struktur manifestieren und konkrete Wirksamkeit entfalten kann. Eine solche Beschreibung hat mehr zu tun mit dem, was Kant in der Tugendlehre »Exempel« im Unterschied zum »Beispiel« nennt: Beispiel, ein deutsches Wort, was man gemeiniglich für Exempel als ihm gleich geltend braucht, ist mit diesem nicht von einerlei Bedeutung. Woran ein Exempel nehmen und zur Verständlichkeit eines Ausdrucks ein Beispiel anführen, sind ganz verschiedene Begriffe. Das Exempel ist ein besonderer Fall von einer praktischen Regel, sofern diese die Thunlichkeit oder Unthunlichkeit einer Handlung vorstellt. Hingegen ein Beispiel ist nur das Besondere (concretum), als unter dem Allgemeinen nach Begriffen (abstractum) enthalten vorgestellt, und blos theoretische Darstellung eines Begriffs. 13
Eine Beschreibung ist als Aufforderung zu verstehen, sich diese zum Exempel zu nehmen, um die gewonnenen Einsichten auf andere BeVgl. zur Rückwirkung von Beispielen auf die philosophischen Inhalte: Mirjam Schaub, Das Singuläre und das Exemplarische. Zu Logik und Praxis der Beispiele in Philosophie und Ästhetik, Zürich 2010. 13 Kant, MS TL AA 6:479–480, Anm. 12
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Einleitung zum ersten Kapitel
reiche zu übertragen und das eigene Handeln an diesen Einsichten zu schärfen und zu orientieren. Dies gilt nicht nur, wie die kantische Rede von der »Thunlichkeit« es nahelegt, für moralische Beurteilungen, sondern für jede Orientierung im Denken und Handeln. Aus diesen allgemeinen Überlegungen zur philosophischen Beschreibung soll für die angemessene Beschreibung des Gebrauchs von Unterscheidungen und deren Wirkungen Folgendes gelten: Angemessen ist eine Beschreibung dann, wenn darin eine besondere Situation so dargestellt ist, dass 1) die darin wirksame Struktur erkennbar wird, die für ähnliche Situationen auch gilt, 2) dadurch Aufklärung und Erkenntnis und eine reflexive Einstellung auf diese Art von Erfahrung erreicht werden kann, 3) die Beschreibung sowohl einen Referenzpunkt als auch eine Herausforderung für theoretische Begriffsbildungen liefern kann. Derart beschriebene Situationen nenne ich »exemplarische Situationen«. In einer exemplarischen Situation ist die Erscheinungsweise des theoretischen Gegenstandes so herausgearbeitet, dass sich philosophische Analysen direkt daran anschließen und daran abarbeiten können.
b)
Exemplarische Situationen
Wie kommt man nun zu solchen exemplarischen Situationen? Was sind geeignete Quellen für solche Beschreibungen? Eine wichtige Quelle ist sicher das große Reservoir an genauen und hoch reflektierten Beschreibungen, das die Literatur bietet. In der Philosophie wurde zu verschiedenen Zeiten immer wieder, aber auch in der letzten Zeit, vielfach darauf hingewiesen, dass die Einbeziehung von literarischen Beschreibungen wichtig und förderlich sein kann. Neben dem allgemeinen Nachdenken über positive Wirkungen von Literatur für die moralische Erziehung und die Ausbildung von Einbildungskraft ist auch zu beobachten, dass immer mehr Autor_innen literarische Beispiele bemühen, um die Konkretion ihrer philosophischen Analysen zu intensivieren. 14 Dadurch ändert sich aber auch das Formbewusstsein des Philosophierens selbst und es ist nicht verwunderlich, sondern konsequent, dass das Verhältnis von Philosophie und LiteraVgl. z. B. Beate Rössler, Der Wert des Privaten, Frankfurt a. M. 2001, S. 41 ff.; Rahel Jaeggi, Entfremdung. Zur Aktualität eines sozialphilosophischen Problems, Frankfurt a. M. 2005, S. 71 ff.
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1 · Beschreibungen: Wie wir wünschen und wie wir wollen
tur unter den Stichworten Literatur in der Philosophie und auch Philosophie als Literatur thematisiert wird. Mit der gleichwertigen Betonung der Beschreibung gegenüber den »üblichen« philosophischen Formen des Argumentierens, Analysierens, Kritisierens und der Entwicklung von Erklärungen und Lösungsvorschlägen soll für die Erweiterung philosophischer Formen plädiert und einer gegenwärtig wirksamen Tendenz zur Standardisierung des Stils und der Terminologie, z. B. in der Neigung zur Verwendung abkürzender Klassifizierungen, entgegengewirkt werden. In Beschreibungen wird anders als in dem Geben von Beispielen oder auch Beispielfeldern deren deiktische Funktion zu einer Plastizität gesteigert, indem die Erscheinungsweise in einem möglichen Kontext gezeigt wird. Beschreibungen müssen einen Kontext mitliefern, in dem die Pragmatik, hier des Kontrastes zwischen Wünschen und Wollen, entfaltet werden kann. Dazu gehören Medien, innerhalb derer der Kontrast sichtbar werden kann, wie z. B. in der Beschreibung aus der Perspektive der ersten Person das eigene Erleben, in der Beschreibung einer Interaktion die dialogisch verwendete Sprache, eingebettet in leibliche Vollzüge, in der Beschreibung eines gesellschaftlichen Phänomens die Beobachtungssprache. Das komplizierte Netz von Handlungszusammenhängen, sprachlichen und nicht-sprachlichen, äußeren und inneren Handlungen, aus dem sich Unterscheidungen aufbauen, wird durch Beschreibungen reflexiv zugänglich. Es liegt nahe, dieses feine Netz von Handlungen in exemplarischen Situationen zu gestalten, die aus der Literatur entnommen, eigens entworfen oder durch Beobachtung von Diskursen gewonnen werden. Nach diesen Überlegungen zur Beschreibung und zum Exempel im Unterschied zum Beispiel sind nun noch einige Hintergründe für die Verwendung des Ausdrucks »Situation« darzustellen. Eine Situation ist ein komplexer Zusammenhang, innerhalb dessen erst bestimmte einzelne Akteure, Themen oder Unterscheidungen identifiziert werden können. Der Begriff »Situation« ist für verschiedene philosophische Richtungen und einzelne Autoren von großer Bedeutung. Bei dem Pragmatisten Dewey kann der Begriff als handlungstheoretischer Grundbegriff gelten, 15 in der phänomenologischen Tradition John Dewey, Logic: The Theory of Inquiry (1938), LW.12.72 ff. Die wichtige Funktion von unbestimmten Situationen als Anlass für Forschung bei Dewey wird in der Einleitung in den zweiten Teil zum Thema gemacht.
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Einleitung zum ersten Kapitel
ist »Situation« ebenfalls ein zentraler Begriff. Ich skizziere einige Überlegungen zum Situationsbegriff aus eben dieser Tradition, die mir für das Verständnis der exemplarischen Situationen wichtig erscheinen. 16 »Immer in Situationen zu stehen« gehört für die phänomenologischen Beschreibungen unauflöslich zum Menschen und ist Konstitutionsbedingung von Selbstbewusstsein. Der Mensch, sein Ich, sein Selbst sind nicht isolierbar aus den Situationen, in denen er steht, ohne dass sich Mensch, Ich oder Selbst auflösen. Dies zeugt von der nicht reduzierbaren Bezogenheit und Einbettung jedes Einzelnen in »seine« Situation(en). In der situativen Bezogenheit des Menschen bilden sich erst weitere Unterscheidungen heraus, wie zum Beispiel die zwischen einer mentalen Innenwelt und einer externen Außenwelt. Dabei interessiert, wie diese hochgradige Konstruktion von innen und außen in menschlichen Grundsituationen hervorgeht, modelliert wird und verschwimmt. Der Mensch steht in Situationen bzw. in ineinander geschichteten Situationen und nicht ihnen gegenüber. Situationen sind zeitlich (geschichtlich) und räumlich verfasst, haben keine festen Grenzen und sind in Ausschnitten erfahrbar. Sie liefern Rahmenbedingungen für die Gestaltungsspielräume und Gestaltungsnotwendigkeiten des Menschen. Situationen liegen deshalb unterhalb der Schwelle der Vergegenständlichung; es ist nicht möglich, gegenständliches Wissen von ihnen zu haben. Charakteristisch für die Verwendung des Ausdrucks »Situation« ist die Betonung der Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit von Situationen. Diese Bedeutungsschicht der Singularität und Individualität muss aber im Zusammenhang mit dem Gedanken der wechselseitigen Implikationen von Situationen dargestellt werden, wie »Innensituationen« in »Umfassungssituationen« enthalten und Situationen auf Situationen bezogen sind. Dabei werden Grundsituationen des Menschen herauskristallisiert (wie Ungesichertheit, Orientierungsbedürftigkeit), die dann immer in individuellen, das heißt einmaligen und unwiederholbaren Situationen erfahren und gelebt werden. Denn nur, wenn der Mensch von solchen Grundsituationen konkret betroffen ist, von ihnen angegangen wird oder ihren Aufforderungscharakter »empfindet«, wird eine Situation zu »seiner« individuell Ich orientiere mich in meiner Darstellung an den Ausführungen von Heinrich Rombach, Strukturanthropologie. »Der menschliche Mensch«, Freiburg/München 1987, S. 152 ff.
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1 · Beschreibungen: Wie wir wünschen und wie wir wollen
gelebten Situation. Dies zeigt, dass Situationen nicht äußerliche Gegebenheiten sind, sondern in konkreten Vollzügen erst geschaffen werden. Nur wenn dieses Implikationsverhältnis von Grundsituationen (als strukturelle Situationstypen) und individuellen, konkreten Situationen übersehen wird, können sich theoretische Fronten aufbauen. Denn mit dem philosophischen Situationsbegriff wird versucht, das Problem des Auseinanderfallens von Einzelnem, Individuellem auf der einen und Allgemeinem, Strukturellem auf der anderen Seite durch die Anlage der Situations-Begrifflichkeit zu unterlaufen. Gerade die gegenseitigen Implikationen von Situationen sind für das Verfahren, Serien von Variationen herzustellen, besonders wichtig.
c)
Zur Auswahl der exemplarischen Situationen
Ich will im Folgenden die Auswahl der exemplarischen Situationen motivieren, die dann im Einzelnen dargestellt und reflektiert werden. Die erste exemplarische Situation zum reflexiven Selbstverhältnis macht eine Anleihe in der Literatur. Es sind zwei Passagen aus einem Roman nebeneinandergestellt, der insgesamt als literarische Reflexion auf künstlerische Schaffensprozesse verstanden werden kann, in der der langwierige Übergang vom Wünschen, künstlerisch tätig zu sein, zur Gestaltung des künstlerischen Prozesses nachvollzogen wird. Es handelt sich um Marcel Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit (À la recherche du temps perdu). Im ersten Abschnitt dieses Kapitels werden diese beiden Passagen präsentiert und ausgewertet (1.1 Wünschen und Wollen im reflexiven Selbstverhältnis). Unter dem Vielen, das über diesen Roman gesagt worden ist und noch gesagt werden kann, ist die hier gewählte Perspektive lediglich eine Fokussierung auf nur eine Dimension dieses komplexen Kunstwerks. Die mikrologischen literarischen Reflexionen auf die Arbeit des menschlichen Bewusstseins erstrecken sich auf das Erinnern, das Zeit- und Naturerleben wie auch auf die subtilen, teilweise fast unmerklichen Formen sozialer Gewalt. In der hier verfolgten Lektüre stehen die minutiösen Beschreibungen der Erfahrungen des Protagonisten im Vordergrund, wie der Wunsch, literarisch tätig zu sein, im Kindes- und Jugendalter auftaucht und im Erwachsenenalter gleichermaßen inspirierende wie quälende Wirkungen entfaltet. Erst im letzten Stück des umfassenden Werkes vollzieht sich der Übergang in die literarische Gestaltung. Proust beschreibt diesen Prozess erbar86 https://doi.org/10.5771/9783495817360 .
Einleitung zum ersten Kapitel
mungslos genau, erbarmungslos zäh und reflektiert ihn gleichzeitig. Die Reflexion zeigt sich natürlich in der Art der Darstellung, in der detaillierten und langsamen Durchleuchtung, die weit entfernt von der Schnelligkeit von Alltagserfahrungen ist. 17 Dadurch sind die Alltagsvollzüge so verlangsamt und in einer solchen Ausführlichkeit ausgebreitet, dass leibliche Empfindungen, Gefühle und Kognitionen im Zusammenspiel nachvollziehbar werden. Diese »sezierende« Beschreibungsart überführt Proust an vielen Stellen in explizite Reflexionen und philosophische Ausführungen über Subjektivität, Zeit oder Erinnerung, immer rückgebunden an die Situationen. Robert Pippins Proust-Lektüre ist eine, die Proust als geeigneten Autor präsentiert, zu der Kontrasterfahrung zwischen Wünschen und Wollen kompetente literarische Reflexionen zu liefern. Im Werk werde dargestellt, dass »Selbstsein« und »Werden, wer man ist« nicht eine Art Treue zu einer inneren Essenz bedeuten, sondern eine Frage des konkreten Handelns und Verhaltens in Auseinandersetzung mit anderen sei. Ein zentrales Thema ist in seiner Perspektive die Relation zwischen Überzeugungen und ihrem Ausdruck in Handlungen: »[I]t manifests these tensions [between reflection and action] more than perhaps any other book, or so I am trying to claim.« 18 Solche Beschreibungen bieten natürlich ideale und direkte Anknüpfungspunkte für theoretische Analysen und Konstruktionen, wirken gleichzeitig decouvrierend und leiten dadurch zur Selbstund Sozialkritik an. Prousts Beschreibungen aufmerksam mitzuvollziehen, bedeutet auch, sein reflexives Selbstverhältnis wie aber auch die Beobachtungsfähigkeit sozialer Interaktionen zu verfeinern und zu vertiefen. Mit einem reflexiven Selbstverhältnis ist weit mehr gemeint als die Einnahme einer »Erste-Person-Perspektive«, die die PerVgl. zu einer philosophischen Interpretation der Gewinnung von Zeit durch die Kopräsenz von erinnerndem und erinnertem Bewusstsein bei Wolfgang Marx und Andreas Eckl: Wolfgang Marx, »Prousts ästhetischer Realismus«, in: W. Hirdt (Hg.), Europas Weg in die Moderne, Bonn/Berlin 1991, S. 57–72; ders., »Das ›Wunder der Analogie‹. Reflexionen zum Kernproblem der Ästhetik von Marcel Proust«, in: Romanische Forschungen 102 (1990) 1, S. 42–57; Andreas Eckl, »Ein Zugang zum philosophischen Werk von Wolfgang Marx«, Kurzvortrag anlässlich der Eröffnung der Marx-Bibliothek in der Kueser Akademie für Europäische Geistesgeschichte 13. Juli 2013 (online): http://www.wolfgang-marx.eu/nachklangandreaseckl.html (abgerufen am 31. 3. 2016). 18 Robert Pippin, »On ›Becoming Who One Is‹ (and Failing). Proust’s Problematic Selves«, in: ders., The Persistence of Subjectivity. On the Kantian Aftermath, Cambridge [u. a.] 2005, S. 307–338, S. 316. 17
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1 · Beschreibungen: Wie wir wünschen und wie wir wollen
spektive des subjektiven Erlebens ist. Im reflexiven Selbstverhältnis wird dieses Erleben artikuliert. Artikulationen als Gliederungen von Sinn vollziehen sich mittels der lautlichen und ikonischen Gliederung des Sprechens und Schreibens. Diese Abhängigkeit des Sinns von der physischen, materiellen sowie sinnlichen Gliederung beim Sprechen und Schreiben zeigt die unauflösliche gegenseitige Abhängigkeit von subjektivem Erleben und öffentlich geteilter Sprache. Diese Verwendung der Literatur ist vor dem Hintergrund des ebenso engen wie problematischen Verhältnisses zwischen Literatur und Philosophie in der Geschichte des Denkens noch etwas weiter zu thematisieren. Ich nutze Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit als Beobachtungsergebnis von alltäglichen Unterscheidungen, an die die philosophische Reflexion anschließen kann. Wenn ich auf diese Weise literarische Darstellung und philosophische Unterscheidungsarbeit ins Verhältnis setze, dann kommt der Literatur die Rolle zu, filigrane Beschreibungen der leiblichen, affektiven und kognitiven Wirkungen von im Alltag wirksamen Unterscheidungen zu geben, die sichtbar machen, was im Alltag selbst im Untergrund verbleibt. Die Philosophie knüpft an diese plastische Gestalt mit ihren begrifflichen Reflexionen an. Literarische Analysen wie die Suche nach der verlorenen Zeit von Proust reichen in die Philosophie hinein und die Philosophie erhält die Chance, das Allgemeine im Besonderen wirken zu sehen. Das Verhältnis von Literatur und Philosophie ist in der Geschichte der Philosophie immer wieder und auch derzeit ein viel diskutiertes Thema. Mich interessieren hier nicht so sehr die Perspektiven, Literatur als Beitrag zur moralischen Erziehung zu verstehen 19 oder zur Erfahrungserweiterung 20 oder als eigenen Gegenstand philosophischer Reflexion mit Fragen nach dem Wesen von Fiktionalität 21. Vielmehr soll die literarische Beschreibungskunst helDafür treten vor allem Richard Rorty, Martha Nussbaum und Iris Murdoch ein. Vgl. Richard Rorty, »Grausamkeit und Solidarität«, in: ders.: Kontingenz, Ironie und Solidarität, Frankfurt a. M. 1991, S. 229–320; Martha C. Nussbaum, Poetic Justice. The Literary Imagination and Public Life, Boston 1995; Iris Murdoch, »Vision and Choice in Morality«, in: dies: Existentialists and Mystics. Writings on Philosophy and Literature, London 1997, S. 76–98. 20 Dafür tritt Gottfried Gabriel ein, vgl. z. B.: Gottfried Gabriel, Zwischen Logik und Literatur. Erkenntnisformen von Dichtung, Philosophie und Wissenschaft, Stuttgart 1991. 21 Vgl. dazu Íngrid Vendrell Ferran, »Das Paradoxon der Fiktion«, in: T. Klauk/ T. Köppe (Hg.), Fiktionalität. Ein interdisziplinäres Handbuch, Berlin/Boston 2014, S. 313–337. 19
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Einleitung zum ersten Kapitel
fen, in die Aufmerksamkeit zu heben, wie sich Wünschen und wie sich Wollen vollzieht. Wer in der Philosophie genaue Beschreibungen versucht, ist mit der weit verbreiteten Meinung konfrontiert, dass es eine begriffliche Ebene, auf die es eigentlich ankomme und eine Illustrationsebene von Beispielen, die hierarchisch niederrangig sei, gebe. 22 Demgegenüber soll mit Hilfe von Beschreibungen das Wie »durchforscht« werden – darin liegt die Affinität der Unterscheidungsforschung zur Phänomenologie. Die zweite exemplarische Situation, die im zweiten Abschnitt dieses Kapitels entwickelt wird, ist konstruiert und wählt einen institutionellen Interaktionszusammenhang (1.2 Wollen und Wunsch im Dialog). Die fingierten Variationen haben keine literarische Dichte und Fülle, sondern sind künstliche, experimentelle Situationen. Die Künstlichkeit und Dürre mag irritierend, ja sogar störend wirken. Es gibt aber einen wichtigen Grund, dass für die Anwendung der Unterscheidung in einem Gespräch im Rahmen einer Institution mit einer solchen Konstruktion gearbeitet wird. Anders als literarische Vorlagen sind solche Konstruktionen nämlich weiter gestaltbar und variierbar. Es sind leicht überschaubare »Serien« von kleinen Veränderungen herzustellen, die jeweils Verschiedenes deutlich machen und mehrere Anschlüsse nahelegen. Die Herstellung vergleichbarer Serien auf der Basis literarischer Vorlagen in Form von veränderten Dialogen zum Beispiel, erschiene mir mit sehr eingeschränktem literarischem Talent eine noch größere stilistische Zumutung zu sein. Die vielfache Variation der in diesem Kapitel präsentierten exemplarischen Situation wird im vierten Kapitel dieses Teils für die Konstruktion eines dialektischen Theorierahmens wichtig werden. Ich habe eine Aufeinanderfolge von Gesprächen im Rahmen eines Teams einer nicht weiter spezifizierten Institution gewählt. Den Anlass für diese Gespräche bildet die Einschätzung eines Teammitgliedes, ein Kollege werde von der Teamleiterin ungerecht behandelt. Dies ist ein Typ von Situation, der in allen möglichen Teams vorkommen kann und der in beruflichen Kontexten sicher eine andere Dynamik entfaltet, als wenn ungerechte Behandlung als privates Problem auftaucht. Für die Wahl eines solchen Themas ist mein InteMirjam Schaub problematisiert diese hierarchische Zuordnung in ihrer Studie über die Rolle von Beispielen in der Philosophie. Vgl. Schaub, Das Singuläre und das Exemplarische. Zu Logik und Praxis der Beispiele in Philosophie und Ästhetik, a. a. O.
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1 · Beschreibungen: Wie wir wünschen und wie wir wollen
resse an der Beschreibung von Gruppenprozessen und Formen von Diskriminierung in Gruppen ausschlaggebend gewesen. Besonders herausfordernd erscheint mir dabei die schwer fassbare Ebene der Missachtung und des Verstoßes gegen nicht kodifizierbare Regeln, Ansprüche und Verbindlichkeiten, die Gruppen in erheblichem Maße organisieren. Oft sind Formen von Diskriminierung ausgesprochen subtil, wie die ungleiche Verteilung von Aufmerksamkeit durch Blickkontakt aufgrund von Eigenschaften, die in der Situation irrelevant sind. Subtile Formen von Diskriminierung erfordern detaillierte Beschreibungen und Mikroanalysen, sonst entgehen sie unserer Aufmerksamkeit und bleiben nur als schales Gefühl zurück. Auch wenn die Formen von ungerechter Behandlung, die in der von mir konstruierten exemplarischen Situation demgegenüber sehr viel gröber und sichtbarer sind, ist doch eine hohe Konkretion und Detailliertheit in der Schilderung der Abläufe nötig. Dies erfordert eine Ausführlichkeit, die sicher ungewöhnlich ist und die im Kontrast zu den handlichen Erwähnungen von Beispielen steht, wie sie vielfach üblich sind. Der Mut zur (relativen) Genauigkeit und Langsamkeit in der Entwicklung der exemplarischen Situation ist angefacht durch die unübertreffliche Exaktheit, die aus meiner Sicht Prousts literarische Meisterschaft ausmacht. Proust schreibt in einem Brief: »[A]uf der äußersten Spitze des Besonderen kommt das Allgemeine zur Entfaltung.« 23 Darin drückt sich die Auffassung und wohl auch die Erfahrung aus, dass allgemeingültige Einsichten und Strukturen nicht in Abhebung von Besonderheiten zur »Entfaltung« kommen, sondern im Gegenteil in einer bestimmt vollzogenen Vertiefung in eben diese Besonderheiten. Die dritte exemplarische »Situation« für den dritten Abschnitt dieses Kapitels ist von ganz anderer Art. Es geht mir hier um die Beschreibung von Konsequenzen, die sich aus der Verwendung verschiedener Unterscheidungen für gesamtgesellschaftliche Fragen ergeben (1.3 Wünschen oder Wollen in der Beschreibung gesellschaftlicher Herausforderungen). Ich wähle die Themenbereiche Organtransplanta-
Im französischen Original lautet die Passage: »[C]’est à la cime même du particulier qu’éclot le général.« (Marcel Proust, »Brief an Daniel Halévy, 19. Juli 1919«, in: Marcel Proust, Choix de lettres, hrsg. v. P. Kolb, Paris 1965, S. 246; Zitiert nach: Roland Barthes, Die Vorbereitung des Romans (1978–1980), Frankfurt a. M. 2008, 30–31, Anm. 5 (Übersetzung Horst Brühmann)).
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Einleitung zum ersten Kapitel
tion und Patientenverfügung, in denen ich keine Expertin bin und mich deshalb auf die Expertise anderer stützen muss, weil an ihnen die wirklichkeitserzeugende Kraft von Unterscheidungen bis in sehr konkrete und existentiell wichtige gesellschaftliche Entscheidungen besonders deutlich wird. In dieser Beschreibung ist zudem die Verschränkung mit einer anderen Unterscheidung sichtbar, der für die Analyse von Wittgenstein hohe Relevanz zukommt, nämlich die Verschränkung des Willens mit der leiblichen Empfindung. Welche Funktion haben nun die drei Beschreibungen im Ganzen? Sie haben zunächst einen Selbstzweck, sie sind für sich wichtig. Aber sie haben auch eine Funktion für die folgenden Kapitel. Im zweiten Kapitel werden diese Beschreibungsgewinne zu den Analysen der Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille ins Verhältnis gesetzt. Die erste Beschreibung zu Wünschen und Wollen im reflexiven Selbstverhältnis ziehe ich in der kritischen Auseinandersetzung mit der Analyse heran, die Sigwart zur inneren Dramaturgie des Wollens vorlegt. 24 Die zweite Beschreibung zu Wünschen und Wollen im Dialog wird wichtig, um die Relevanz nachzuvollziehen, die Kant der Unterscheidung für moralische Kritik und Selbstkritik beimisst. 25 Und an die dritte Beschreibung im Kontext gesamtgesellschaftlicher Herausforderungen kann mit Wittgensteins Überlegungen zum Verhältnis von Wollen und Körper wieder angeschlossen werden. 26 Bei diesen Rückbezügen ist zu fragen, was an den Beschreibungen durch die Analysen besonders hervorgehoben und was abgeblendet wird. Die Beschreibungen sind zudem wichtig für das vierte Kapitel, denn hier entwickele ich vor allem die zweite Beschreibung, die dialogische Situation, für die schrittweise Entfaltung des Gedankens variierend fort. Dialektisches Unterscheiden wird dort selber als Erfahrung bestimmt. Beschreibungen, Analysen und Konstruktionen sind also wechselweise aufeinander zu beziehen. Das Verhältnis ist nicht einseitig in dem Sinne, dass den Beschreibungen eine Art Autorität zukäme und die Analysen einseitig daran geprüft würden oder andersherum, dass die Beschreibungen nach Maßgabe der Analysen oder Konstruktionen entworfen sind. Gerade im vierten Kapitel zur Unterscheidungs24 25 26
Vgl. Teil I, Kapitel 2.1.3. Vgl. Teil I, Kapitel 2.2.5. Vgl. Teil I, Kapitel 2.3.3.
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1 · Beschreibungen: Wie wir wünschen und wie wir wollen
konstruktion stellt sich die Frage, was für weitere Beschreibungen nötig werden. Mit den folgenden drei Beschreibungen ist also erst ein Anfang gemacht.
1.1 Wünschen und Wollen im reflexiven Selbstverhältnis Wenn man Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit als Inszenierung der Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille liest, dann kann man dies entweder an der Komposition einzelner Szenen, Figuren und Kapitel wie auch des ganzen Werkes aufweisen oder einzelne Passagen auswählen. Letzteres scheint mir für mein Anliegen, die konkrete Erscheinungsweise von Wünschen und Wollen zu beschreiben, geeigneter zu sein. Eine Gesamtdeutung ist ein Beitrag zur Proust-Philologie. Es lassen sich im Gesamtwerk nun Passagen finden, die als Choreographie des Wünschens und des Wollens aus der Perspektive des Wünschenden und Wollenden gelten können und auch Passagen, in denen aus der Perspektive des Beobachters die Unterscheidung zwischen Wünschen und Wollen auf das Verhalten anderer angewandt wird. Diese anderen sind zum Teil verallgemeinerte Charaktertypen, die als Deutungsfolie für bestimmte konkrete Akteure herangezogen werden oder auch andere Figuren, die in den sozialen Kontext des Ich-Erzählers gehören. Wenn auch für die Anwendung der Unterscheidung bei Proust bestimmte Personengruppen und Charaktertypen im Vordergrund zu stehen scheinen – er nennt den Typen des Trägen, die religiösen Herzen oder die Künstlerseelen, auch die Süchtigen –, so wird doch aus der Fülle deutlich, dass der Unterscheidung zwischen Wünschen und Wollen der Rang einer anthropologischen Grundunterscheidung zukommt. 27 Es werden im Folgenden zwei Passagen nebeneinandergestellt. Die erste kann als Choreographie des Wünschens gelten, die zweite als Choreographie des Wollens. Beide Passagen stammen aus sehr Vgl. Marcel Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, 6. Aufl., Frankfurt a. M. 1993, 10 Bde., Band VIII, S. 2858 und Band IX, S. 3567 (Übersetzung Eva Rechel-Mertens). Dies wird besonders deutlich in einer Reflexion auf das Verhalten von Menschen angesichts von Bedrohungen ihrer Existenz für die Pariser Zeitung L’Intransigeant. Auf die Vorhersage einer Katastrophe würden Menschen Proust zufolge mit der Produktion von Wünschen beginnen, was sie alles tun würden, wenn die Katastrophe ausbliebe. Vgl. den Hinweis auf diesen Text bei Jean-Yves Tadié, Marcel Proust, Frankfurt a. M. 2008, S. 906–907.
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Wünschen und Wollen im reflexiven Selbstverhältnis
verschiedenen Kontexten in der Entwicklung des Romans, die erste aus dem Band Die Gefangene (La Prisonnière) und die zweite aus dem letzten Band Die wiedergefundene Zeit (Le Temps Retrouvé). In der Komposition des Gesamtwerkes verweisen die Stellen aufeinander, das wird in der Passage aus dem letzten Band deutlich. Beide Passagen sind aus der Perspektive des Protagonisten geschrieben. Der Kontext der ersten Passage ist der folgende: Der Protagonist hat Albertine, mit der er in Paris in seiner elterlichen Wohnung zusammenlebt, zugesagt, seiner Arbeit, dem literarischen Schreiben, nachzugehen, wenn er nicht zusammen mit ihr einen Ausflug unternehme. Er bleibt zu Hause, verweilt im Bett und hängt seinen Gedanken und Empfindungen nach, ob seine Zusage, die er gestern unter anderen Bedingungen gegeben hat, heute, wo die Dinge doch anders stünden, er sich anders fühle, das Licht und das Wetter anders seien als gestern, noch gelte. In diese Überlegungen hinein gehört die Skizze eines Charakters, des Trägen, der unter Bedingungen der Entscheidung oder der Bedrohung Wünsche und Projekte entwirft und sich diesem Als-Ob voller Enthusiasmus hingibt, ohne seine realen Möglichkeiten zu berücksichtigen und ohne, im Falle des Schwindens der Bedrohung, irgend etwas zu tun. Auf diese Figur verweist nun die folgende Passage zurück: Ich machte es wie er, und wie ich es immer schon gemacht hatte seit meinem alten Entschluss, mich ans Schreiben zu begeben, der so weit zurücklag, mir aber von gestern zu stammen schien, weil ich ihn immer von einem Tag zum andern als noch nicht gefasst betrachtet hatte. Ich machte es ebenso auch an diesem Tag und ließ wieder, ohne irgendetwas zu tun, seine Regenschauer und hellen Durchblicke zwischen Wolken vorüberziehen, während ich den festen Vorsatz fasste, mit der Arbeit am nächsten Tage zu beginnen. Doch unter einem wolkenlosen Himmel war ich dann der gleiche nicht mehr; der goldene Ton der Glocken enthielt wie der Honig nicht nur Licht, sondern vermittelte auch die Empfindung von Licht […]. 28 Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, a. a. O., Bd. VIII, S. 2858–2859. Die zitierte Stelle lautet im französischen Original: »Je faisais comme lui, et comme j’avais toujours fait depuis ma vieille résolution de me mettre à écrire, que j’avais prise jadis, mais qui me semblait dater d’hier, parce que j’avais considéré chaque jour l’un après l’autre comme non avenu. J’en usais de même pour celui-ci, laissant passer sans rien faire ses averses et ses éclaircies et me promettant de commercer à travailler le lendemain. Mais je n’y étais plus le même sous un ciel sans nuages; le son doré des cloches ne contenait pas seulement, comme le miel, de la lumière, mais la sensation de la lumière […].« (Marcel Proust, À La Recherche Du Temps Perdu, hrsg. v. J.-Y. Tadié, Paris 1999, S. 1664).
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Hier wird in minutiöser Dramatik das Tun des Nichtstuns entfaltet. Es ist eine Fülle von Aktivitäten beschrieben, deren Ergebnis äußeres Nichtstun ist. Die Aktivitäten sind die Anknüpfung und Fortsetzung einer in die Vergangenheit reichenden Gewohnheit, einen früheren Entschluss und den damit verbundenen Anspruch auf Umsetzung zu erinnern und ihn als unvollständig und unerfüllt zu betrachten. Daran schließt sich eine doppelte Aktivität, nämlich zum einen die Besonderheiten der gegenwärtigen Situation in alle Feinheiten hinein zu empfinden, das Wetter, die Lichtverhältnisse und zum anderen den Entschluss für die nahe Zukunft, den morgigen Tag zu erneuern und sich zu versprechen, morgen an die Umsetzung zu gehen. All diese Aktivitäten, die eine Gewohnheit aktualisieren und fortsetzen, verdrängen die Aktivitäten, auf die der Entschluss sich zu richten scheint, die Arbeit des literarischen Schreibens zu beginnen. Der Entschluss als Anspruch auf eine Verhaltensänderung (hier aus dem Modus der Empfindung in das literarische Beschreiben von Empfindungen zu gehen) weist eine eigentümliche Zeitlichkeit auf. Der Anspruch wird als aktuell und gegenwärtig wahrgenommen, da er über einen längeren Zeitraum kontinuierlich als uneingelöster Anspruch wirkt (… von einem Tag zum anderen …) 29, und dessen zeitliches Entstehen in die eigene biographische Vergangenheit zurückreicht (… seit meinem alten Entschluss …). In der Vorstellung wird die Einlösung des Anspruchs, die Verhaltensänderung in die nächste Zukunft verschoben (… am nächsten Tag …), das scheint die Tatenlosigkeit des Augenblicks (… ohne irgendetwas zu tun …) 30 und damit das Auseinanderfallen von Vorstellung und Tun zu rechtfertigen. In Form einer Verhandlung mit sich selbst und einem Versprechen gegenüber sich selbst kann dem festen Vorsatz für die nahe Zukunft Gewicht verliehen werden, indem zum Beispiel, wie im Falle des skizzierten Charaktertypus, die Verhaltensänderung an das Eintreten anderer Ereignisse gekoppelt wird, derart: Wenn das und das geschafft ist, wenn das und das gut geht, dann tue ich aber wirklich das und
Um die Rückbindung der auswertenden Überlegungen an die Situation zu gewährleisten, erinnere ich mit diesen Ausschnitten an wichtige Einzelheiten der literarischen Szene. 30 Proust beschreibt dies als Trägheit (… liegen …), die gleichzeitig eine Empfindungsintensität ermöglicht, durch die zugänglich wird, was die Umstände mit ihm machen und wie er sie empfindet. Dem kann er im äußeren Zustand von Trägheit nachgehen. 29
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Wünschen und Wollen im reflexiven Selbstverhältnis
das. 31 Tritt nun der sich selbst gegenüber festgesetzte Zeitpunkt ein, stellt sich ein eigentümliches Kontinuitäts- und Diskontinuitätserleben ein, denn einerseits scheint der gestrige Vorsatz auf die nun aktuelle, intensiv erlebte Situation nicht zu passen, in der alles anders scheint, man selbst, die Umstände (… doch unter einem wolkenlosen Himmel war ich dann der gleiche nicht mehr …) und die Anforderungen an die Situation. Es wird also Diskontinuität zu der Situation, in der der Vorsatz gefasst und erneuert wurde, erlebt. In der mahnenden Stimme andererseits, dass der Anspruch an die Verhaltensänderung aber weiter zu Recht bestehe, meldet sich die empfundene Kontinuität. 32 Die Choreographie des Wollens, die auf die Choreographie des Wünschens rückbezogen ist, gehört zu der Darstellung des großen Wendepunktes des Geschehens, die in der zweiten Hälfte des letzten Bandes Die wiedergefundene Zeit gegeben wird. Der Protagonist ist der Verzweiflung nahe und hadert mit so gut wie allem, mit seiner Lebensführung, den gesellschaftlichen und historischen Umständen, mit seiner literarischen Qualifikation und der Literatur überhaupt. Die Erlösung aus dieser Situation kommt unerwartet durch ein leibliches Erinnern von intensiven Empfindungen, die die Quelle des literarischen Schaffens darstellen. Das Besondere an diesen wiedererinnerten Empfindungen ist, dass sie nicht wie vereinzelte Bilder rauschhaft und enthusiasmierend auftauchen und ebenso schnell und wirkungslos wieder abtauchen, sondern dass diese erinnerten Empfindungen die Umgebung und den Widerschein bedeutungsgebender Zusammenhänge in sich tragen und eben das die Kraft freisetzt, diese Empfindungen und ihre sinnstiftenden Implikationen literarisch zu modellieren. 33 Die Seiten, auf denen dies entfaltet wird, gehören zu den dichtesten Passagen des gesamten Werkes, in denen Proust seine eiVgl. die der zitierten Stelle direkt vorangehende Passage: Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, a. a. O., Bd. VIII, S. 2858. 32 Diese und die folgende Passage aus Prousts Werk wie auch einige der auswertenden Überlegungen dazu finden sich in meinem Text: »Wunsch und Wille. Arbeit an einer Unterscheidung«, in: L. Leeten (Hg.), Moralische Verständigung. Formen einer ethischen Praxis, Freiburg/München 2013, S. 209–238, vgl. vor allem S. 221–224. 33 Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, a. a. O., Bd. X, S. 3980: »Ich begriff, dass die Summe aller Materialien des literarischen Werkes mein vergangenes Leben war; ich begriff, dass sie in oberflächlichen Vergnügungen, in Trägheit, in Zärtlichkeit, im Schmerz zu mir gekommen und von mir gespeichert waren […].« 31
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gene Art von literarisch-philosophischer Reflexion vorführt. 34 Und dies ist der Kontext der Stelle, die hier als »Choreographie des Wollens« gelesen werden soll: Beiläufig bemerkte ich, dass in dem Kunstwerk, zu dessen Inangriffnahme ich mich schon ganz bereit fühlte, ohne dass ich mich bewusst dazu entschlossen hatte, große Schwierigkeiten sich ergeben würden, müsste ich doch die aufeinanderfolgenden Teile in einem Material ausführen, das sehr verschieden von demjenigen wäre, das zu der Erinnerung an Morgenstunden am Meeresufer oder Nachmittagen in Venedig passte […]. Ich ging sehr rasch über das alles hinweg, da mich weit zwingender die Aufgabe rief, nach dem Grunde jenes Glücks, dem Wesen der Gewissheit zu forschen, mit der es mich überwältigte – eine in früherer Zeit zunächst noch hinausgeschobene Untersuchung. 35
Der kontrastive Rückbezug auf die »Choreographie des Wünschens« ist ganz deutlich in dem Hinweis, dass den hier beschriebenen Tätigkeiten kein Entschluss vorausging und in der absetzenden Bemerkung, dass nun etwas angegangen wird, was in früherer Zeit (von der wir in der »Choreographie des Wünschens« gelesen haben) noch mit hohem Aufwand und ebensolcher Dramatik hinausgeschoben wurde. Erlebt wird eine eigene Art von Bereitschaft für das, was zu tun ist, die keine Vorstellung von dem, was zu tun ist, darstellt, sondern den Übergang zum Tun selber bildet. Das wird hier deutlich angesichts von Schwierigkeiten der Umsetzung, über die rasch hinweggegangen wird, ohne sich davon einnehmen zu lassen. Es wird eine Bezogenheit auf die Aufgabe empfunden, die es zu erfüllen gilt, hier Einige der philosophischen Lektüren von Proust oder Rezeptionen von Proust beziehen sich ausführlich auf diese Passagen, vgl. Marx, »Das ›Wunder der Analogie‹. Reflexionen zum Kernproblem der Ästhetik von Marcel Proust«, a. a. O., aber auch Pippin, »On ›Becoming Who One Is‹ (and Failing). Proust’s Problematic Selves«, a. a. O. 35 Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, a. a. O., Bd. X, S. 3940–3941. Im französischen Original lautet die Passage: »Et au passage je remarquais qu’il y aurait là, dans l’œuvre d’art que je me sentais prêt déjà, sans m’y être consciemment résolu, à entreprendre, de grandes difficultés. Car j’en devrais exécuter les parties successives dans une matière en quelque sorte différente, et qui serait bien différente de celle qui conviendrait aux souvenirs de matins au bord de la mer ou d’après-midi à Venise […]. Je glissais rapidement sur tout cela, plus impérieusement sollicité que j’étais de chercher la cause de cette félicité, du caractère de certitude avec lequel elle s’imposait, recherche ajournée autrefois.« (Proust, À La Recherche Du Temps Perdu, a. a. O., S. 2265). 34
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Wünschen und Wollen im reflexiven Selbstverhältnis
die Erforschung des Grundes der besonderen ästhetischen Empfindungen. Die Bereitschaft manifestiert sich wie erwähnt nicht als Entschluss, sondern steigt im Empfinden teils leiblich, teils emotional, teils kognitiv auf (… schon ganz bereit fühlte, ohne dass ich mich bewusst dazu entschlossen hatte …). Die Schwierigkeit, die genannt und über die hier hinweggegangen wird, nimmt die Reflexion aus dem Kontext der Stelle über die Unterscheidung zwischen der erinnernden Vorstellung von Tatsachen oder Tatsachenabfolgen und dem sinnlichen Wiedererleben von Eindrücken in ihrer Empfindungsumgebung auf. Letzteres ist die ästhetische Aufgabe (gegenüber einem falsch verstandenen Realismus), die sich zudem der Schwierigkeit gegenübersieht, auf das Medium der Schrift (… in einem Material ausführen …) angewiesen zu sein, das in die Aufeinanderfolge zwingt, mittels dessen aber auch die sinnliche Gesamtgestalt nachvollziehbar wird, die den Wirklichkeitsgehalt gewährt. Zugänglich werden soll eine Wirklichkeit, die nicht das einfache Erleben selbst ist, sondern das Wiedererleben, durch das die Gemeinsamkeit verschiedener Erlebnisse in einer empfindbaren Reflexion sichtbar werden kann. Die Verschiedenheit zwischen den Empfindungen und ihrem literarischen Ausdruck wird betont (im französischen Original der zitierten Passage ist dies durch die Wiederholung von différente noch deutlicher: dans une matière en quelque sorte différente, et qui serait bien différente). Hier wird die grundlegende literarische Herausforderung benannt, teilweise vorsprachliche und nicht-sprachliche oder anders-sprachliche Erfahrungen und Empfindungen in literarischer Sprache (wieder) zu erzeugen, notwendig zu verändern und zu steigern. In der Stelle wird deutlich, wie der Protagonist mit dieser Aufgabe umgeht. Er gestaltet diesen Weg nämlich über Gewichtungen der nötigen Schritte, indem über das Nachsinnen der Schwierigkeiten hinwegzugehen und zuerst und »weit zwingender« mit der Erforschung (recherche) dieser besonderen sinnstiftenden Empfindungen zu beginnen ist. Der kontrastive Rückbezug der späteren Passage auf die frühere macht schon deutlich, dass hier nicht nur zwei verschiedene Zustände oder Erfahrungsweisen dargestellt werden, sondern dass beide Erfahrungsformen aufeinander bezogen sind. Genau das erlaubt es, sie als zwei Seiten einer kontrastierenden Unterscheidung aufzunehmen und ins Verhältnis zu setzen. Proust macht dies an vielen Stellen seines Werkes auch explizit, zum Beispiel im Kontext der »Choreo97 https://doi.org/10.5771/9783495817360 .
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graphie des Wünschens«. Diese Stellen haben einen anderen Charakter, weil hier nicht die Erfahrungen selber aufgewiesen werden, sondern über beide Erfahrungsformen und ihr Verhältnis nachgedacht wird. Während die »Choreographien des Wünschens und Wollens« aus der Perspektive des Teilnehmens geschrieben sind, werden diese anderswo unter Anwendung der Unterscheidung beider beobachtet oder reflektiert. An den beiden Stellen, die hierfür als Beispiel herangezogen werden, zeigt sich das auch daran, dass der Autor keine eigenen Erfahrungen darstellt, sondern über den Charaktertypen des Trägen oder über eine Figur des Romans, Albertines Freundin Andrée, reflektiert. Die erste Passage stammt wie erwähnt aus dem direkten Kontext der »Choreographie des Wünschens« und geht ihr voraus. Für den Charaktertypen des Trägen trifft Folgendes zu: Er sieht es [sein Dasein] nach Maßgabe seiner Wünsche, nicht wie – so weit die Erfahrung es ihn gelehrt hat – er selbst es zu gestalten verstand […]. 36
Hier wird die Unterscheidung aus der Beobachterperspektive, mit einem reflexiven Abstand zu den Erfahrungen des Wünschens und Gestaltens, angewendet. Die beide Erfahrungsformen trennende Negation »nicht« scheidet die eine von der anderen Seite. Auf der einen Seite steht das Sehen des eigenen Daseins nach Maßgabe der eigenen Wünsche und auf der anderen Seite das Sehen des eigenen Daseins so weit man es selbst zu gestalten versteht im Rahmen der Grenzen und Möglichkeiten der eigenen Erfahrung. Zur Beobachtung und Reflexion des Charaktertyps des Trägen wird keine begriffliche Gegenüberstellung verwendet, wie in einer theoretischen Abhandlung die Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille terminologisch eingeführt und bestimmt würde, 37 sondern es wird die Pragmatik, die mit einer begrifflichen Unterscheidung abgekürzt wird, in aller Prägnanz vorgeführt. Es werden also Verhaltensweisen und Handlungsformen kontrastiert, auf deren genaue Bezeichnung es hier nicht ankommt. Die Entfaltung dieser Verhaltensweisen und Handlungsformen findet sich in den beiden (und möglichen anderen) »Choreographien«.
Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, a. a. O., Bd. VIII, S. 2858. Die Passage lautet im französischen Original: »Il la [sa vie] voit selon son désir, non telle que son expérience lui a appris qu’il savait la rendre […].« (Proust, À La Recherche Du Temps Perdu, a. a. O., S. 1664). 37 In Teil I, Kapitel 2 wird eine Reihe solcher theoretischen Vorschläge analysiert. 36
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Wünschen und Wollen im reflexiven Selbstverhältnis
Die zweite Stelle, in der beobachtend die beiden Erfahrungsformen kontrastiert werden, findet sich in dem vorletzten Band des Werkes, genau zwischen Die Gefangene und Die wiedergefundene Zeit, mit dem Titel Die Entflohene (Albertine disparue). Kontexte sind diesmal nicht direkt der Durchbruch der literarischen Schaffenskraft oder die Techniken der Ablenkung, Verzögerung und Aufschiebung, sondern die Beziehung zwischen dem Protagonisten und Albertine. Albertine ist tot und die ehemals quälende Frage, ob Albertine »eigentlich«, »im Grunde ihres Wesens« lesbisch sei oder nicht, ist immer noch offen, wenn auch, längere Zeit nach ihrem Tod, weniger quälend. Andrée, die ehemals enge Freundin Albertines, sucht nun das Gespräch mit dem Protagonisten und berichtet darin auch von den lesbischen Beziehungen, die beide miteinander unterhielten. Dem Bericht über dieses »Geständnis« gehen nun Reflexionen über die Wahrscheinlichkeit oder Unwahrscheinlichkeit voraus, ob Andrée »die Wahrheit« sagt oder den Protagonisten mit einem erfundenen Bericht verletzen will, um sich aufgestauten Grolls gegen ihn zu entledigen. Für diese Abwägung stellt der Protagonist auch allgemeine Überlegungen über Wahrheit und Lüge und den Charakter von Andrée an, die den Schein erzeugt, eine andere zu sein, als sie ihrer »verborgenen Natur« nach ist: Doch wie alle Wesen, die, wenn sie sich in dem einen Zustand befinden, sich einen besseren wünschen, jedoch, da ihnen dieser nur durch ihre Wünsche bekannt ist, nicht begreifen wollen, dass die Grundbedingung dafür wäre, mit ihrem früheren Zustand zu brechen – wie Neurastheniker oder Morphinisten, die zwar geheilt sein wollen, aber zugleich nicht zulassen möchten, dass man ihnen ihre Manien oder ihr Morphium entzieht, oder wie jene der Religion zugewandten Herzen oder Künstlerseelen, die, obschon der Welt verhaftet, sich nach Einsamkeit sehnen, sich aber diese doch in einer Form vorstellen, die keinen absoluten Verzicht auf ihr früheres Dasein einschließt. 38
38 Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, a. a. O., Bd. IX, S. 3567. Die Passage lautet im französischen Original: »Seulement comme tous les êtres qui dans un certain état en désirent un meilleur, mais ne le connaissant que par le désir, ne comprennent pas que la première condition est de rompre avec le premier – comme les neurasthéniques ou les morphinomanes qui voudraient bien être guéris, mais pourtant qu’on ne les privât pas de leurs manies ou de leur morphine, comme les cœurs religieux ou les esprits artistes attachés au monde qui souhaitent la solitude mais veulent se la représenter pourtant comme n’impliquant pas un renoncement absolu à leur vie antérieure […].« (Proust, À La Recherche Du Temps Perdu, a. a. O., S. 2059).
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In der Passage wird, wieder aus einer beobachtenden Perspektive, eine andere Sicht auf die Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille eingenommen. Die Unterscheidung kann nämlich diagnostisch eingesetzt werden. Der Charaktertyp des Trägen gehört auf die Seite des Wünschens, die im Kontrast zur anderen Seite steht, der des gestaltenden Handelns im Rahmen der eigenen Erfahrungen. Hierfür ist es wichtig, die Grenze scharf zu ziehen, damit der Kontrast sichtbar wird und eine Einordnung einzelner »Fälle« möglich ist. Dies ist aber nicht die einzige Funktion von Unterscheidungen insgesamt und auch nicht von der zwischen Wunsch und Wille. In der Anwendung, die hier vorgeführt wird, ist die Frage vielmehr, was geschehen muss, um von der einen Seite auf die andere zu gelangen, also um vom Wünschen zum Wollen überzugehen. Andrée wird deutlich der Seite des Wünschens zugeordnet. Sie gehört zu den Wesen, die sich einen besseren Zustand wünschen, diesen Zustand aber nur in ihren Wünschen ausmalen (… mais ne le connaissant que par le désir …), ihn nur durch die eigene Vorstellung kennen und nicht in Rückbezug auf die eigenen Gestaltungserfahrungen und Möglichkeiten. Soweit gilt für Andrée, was für den Charaktertypen des Trägen auch gilt. Hinzu kommt nun, dass eine Grundbedingung dafür genannt wird, die Grenze hin zum Wollen zu überschreiten. Und die besteht gemäß der Beobachtung des Autors darin, mit dem Zustand, aus dem heraus man Wünsche für bessere Zustände produziert, zu brechen. Solche Wünsche haben, so die hiermit angedeutete psychologische Diagnose, eine stabilisierende Funktion für einen zwar immer wieder als schlecht empfundenden Zustand, der sich aber doch aus verschiedenen Gründen (die sich für Träge, Religiöse, Künstler, Süchtige und andere je anders darstellen) als unverzichtbar erweist. Hier zeigt sich in nuce die sich selbst stabilisierende Widersprüchlichkeit dieses Lebens in Wünschen und gleichzeitig auch die Möglichkeit einer Auflösung. Diese Wirkung von Unterscheidungen könnte man im Unterschied zur diagnostischen Wirkung die reflexive nennen. Da, wo die Unterscheidung eingesetzt wird, um Möglichkeiten und Kräfte für die Grenzüberschreitung zu mobilisieren, könnte man von einer transformativen Wirkung von Unterscheidungen sprechen. 39
Diese Überlegungen zu verschiedenen Wirkungen von Unterscheidungen im konkreten Gebrauch werden in Teil II, Kapitel 1.2 aufgenommen und fortgesetzt.
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Wünschen und Wollen im reflexiven Selbstverhältnis
Mit dieser ersten Beschreibung sollten nun vor allem die Erfahrungen deutlicher werden, die mit den Begriffen Wunsch und Wille abgekürzt werden. Diese Erfahrungen sind natürlich so vielfältig und für zukünftige Variationen offen, dass sie nicht vollständig in einen Überblick gebracht werden können. Und doch gibt es, so meine ich, exemplarische Erfahrungsbeschreibungen, in denen besonders typische, besonders häufig anzutreffende Dynamiken aufgewiesen werden. In einem literarischen Werk, das sich auch als Darstellung von Choreographien des Wünschens und des Wollens wie als Beschreibung der Anwendung der Unterscheidung zwischen beidem in diagnostischer, reflexiver und transformativer Wirkung lesen lässt, sind exemplarische Beschreibungen zu erwarten. Solche Beschreibungen sind aber nicht nur aus veranschaulichenden, illustrativen Gründen wichtig, sondern sie stecken auch die Herausforderungen für die philosophische Analyse ab. Die eine Herausforderung ist eindringlich markiert: Die Choreographie des Wünschens zeigt die Aporie des Entschlusses. Wann ist ein Entschluss ein Entschluss zu handeln und wann klafft zwischen (vermeintlichem) Entschluss und Handlung eine unüberwindliche Kluft? Sieht man sich die Choreographie des Wünschens an, dann scheint es völlig unmöglich zu sein, vom (vermeintlichen) Entschluss zum Handeln zu kommen. Eine ähnliche Beobachtung macht William James in einem ganz anderen Kontext. 40 Das ist überraschend, denn eine weitverbreitete Meinung ist sicher die, dass etwas zu wollen darin besteht, einen Entschluss zu fassen und dann zu handeln. Willensstarke und entschlusskräftige Menschen sind ein und dieselben. Gestehen wir der Beschreibung der exemplarischen Situation zu, dass sie keine Beschreibung eines Einzelfalles ist, sondern dass sie exemplarisch und konkret zugleich ist, dann müssen wir diesen Punkt in der philosophischen Analyse prüfen und uns Rechenschaft über die Rolle des Entschlusses im Falle des Wollens abgeben. Mit dieser Beschreibung sind vor allem die Subtilitäten der Unterscheidung zwischen Wünschen und Wollen im reflexiven Selbstbezug und in der Beobachtung des Verhaltens Einzelner angeklungen. Dies ist nicht die einzige Dimension, vielmehr kann die Unterscheidung ihre diagnostische, reflexive und transformative Wirkung ebenso auch in Interaktionen zwischen mehreren entfalten. Dem wende ich mich jetzt in der zweiten Beschreibung zu. 40
Vgl. dazu Teil I, Kapitel 2.3.2.
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1 · Beschreibungen: Wie wir wünschen und wie wir wollen
1.2 Wollen und Wunsch im Dialog In der zweiten Situation werden Erfahrungen thematisiert, die dazu Anlass geben könnten, die Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille im Gespräch zu verwenden. Wie in der ersten Beschreibung geht es darum, Erfahrungen aus der Perspektive Beteiligter darzustellen. Ich will hier keine literarischen Beschreibungen verwenden, sondern kleine Szenen entwerfen, die im vierten Kapitel dieses Teils variiert und durch Einbezug kleiner Veränderungen in verschiedene Richtungen entwickelt werden können. Durch den Entwurf von Situationen soll eine Art von Mitvollzug evoziert werden, sei es mit den geschilderten Erfahrungen oder in der Übertragung auf andere Situationen. Dieser Mitvollzug ist deshalb möglich, weil mit den exemplarischen Situationen keine nur persönlichen Erfahrungen dargestellt werden sollen, sondern Regularitäten von Interaktionen, die zum Selbstverständnis von Handelnden gehören. Erfahrungen sind konkret und in Situationen möglich, die zu einer bestimmten Zeit, an einem bestimmten Ort mit bestimmten Beteiligten und deren Sensibilitäten stattfinden. Diese Konkretion ist unwiederholbar und unübertragbar und deshalb braucht es eine bestimmte Variationsbreite an Erfahrungen und Situationen, um das Zusammenspiel von Konkretion und Regularität zu sehen. In der Erzeugung dieser Variationsbreite durch Veränderungen der dargestellten Interaktionen liegt ein experimentelles Moment. 41 Im Unterschied zu Gedankenexperimenten, in denen meist Situationen entworfen werden, die in unserer Welt nicht vorkommen oder nicht vorkommen können, um daran die Haltbarkeit bestimmter theoretischer Annahmen zu prüfen, geht es mir bei dem Experimentieren mit exemplarischen Situationen darum, gerade bei geteilten Erfahrungen
Dieses Selbstverständnis von philosophischer Arbeit als Experimentieren ist für den Pragmatismus z. B. bei Peirce und Dewey kennzeichnend. Unter Bezugnahme darauf schreibt Michael Hampe treffend: »Das Experimentieren in der Philosophie besteht nun darin, dass begriffliche Konstellationen erzeugt und erkundet werden. Experimentieren mit Begriffen ist ein Erwägen von Unterscheidungsgewohnheiten und damit auch eine Untersuchung möglicher Handlungsformen. Dieser Umgang mit Begriffen kann als ein explorativ experimenteller charakterisiert werden.« (Michael Hampe, »Denken, Dichten, Machen und Handeln. Anmerkungen zum Verhältnis von Philosophie, Wissenschaft und Technik«, http://www.phil.ethz.ch/fileadmin/ phil/files/Antrittsvorlesung_Hampe.pdf, Zugriff 31. 3. 2016).
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Wollen und Wunsch im Dialog
anzusetzen und deren Wandelbarkeit und Variabilität genauer als gewöhnlich üblich zu betrachten. Es gehört zum Entwurf einer exemplarischen Situation, einen Eindruck von den Umständen und den beteiligten Personengruppen zu geben. Damit kann deutlich werden, welche Art von Erfahrungen mit einer Unterscheidung ausgedrückt sein sollen oder wie die Verwendung einer Unterscheidung eine Situation verändern kann. Als Exempel im oben skizzierten Sinne steht die Situation für soziale Interaktionen im Allgemeinen, die nie neutral, sondern immer machtförmig und durchzogen von expliziten und impliziten widerstreitenden Ansprüchen sind. Die Situation ist ganz alltäglich, nicht außergewöhnlich und wirkt deshalb vielleicht auf den ersten Blick banal. Es geht um Fragen, die uns im institutionellen Rahmen, aber auch darüber hinaus ständig beschäftigen: Wann werden hierarchische Beziehungen überdehnt? Woran zeigt sich das? Wer ist wann zur Verantwortung zu ziehen? Welche Formen des Widerstands gibt es? Diese Fragen kann man sehr prinzipiell diskutieren und kann sich leicht dramatische Situationen und außergewöhnliche Bedingungen vorstellen, die dabei als Beispiele herangezogen werden. Ich will demgegenüber eine Situation unter Normalbedingungen entwerfen, die voller Unbestimmtheiten und Unsicherheiten ist, ob Handlungsbedarf besteht oder nicht. Da ich mit dieser Situation im vierten Kapitel intensiv weiterarbeiten werde, fällt diese Darstellung ungewöhnlich ausführlich aus und irritiert damit die Erwartungen an einen philosophischen Text. Vorweg noch eine Bemerkung zu den gewählten Namen der Dialogpartner. Ich verwende für diese Situation hochgradig typisierte Namen: Frau Wollen exemplifiziert Aktivitäten des Wollens und Herr Wunsch verhält sich so, wie es Wünschende tun. Damit wirken die Namen zunächst wie Zuschreibungen von Verhaltensmustern. In den Variationen dieser Ausgangssituation, die im vierten Kapitel vorgenommen werden, wird diese vermeintliche Stabilität der Rollen schnell an ihre Grenzen geführt. In einer der Variationen z. B. resigniert Frau Wollen, in einer anderen wendet sich der Eindruck, Herrn Not müsse geholfen werden. Es wird dabei auch deutlich, wie brüchig und problematisch solche Zuschreibungen sind und wie leicht sich Situationen und die Rollen der Beteiligten wenden können. Ich beginne zunächst damit, den Rollen eine möglichst scharfe Kontur zu geben: In einem Team von fünf Kolleg_innen wird ein Kollege, Herr Not, von der Chefin offensichtlich ungerecht behandelt. Die unge103 https://doi.org/10.5771/9783495817360 .
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rechte Behandlung reicht von abwertenden Bemerkungen, Benachteiligungen in der Weitergabe von Aufgaben, nämlich zu viel und zu wenig herausfordernd, bis zu mangelndem Blickkontakt im Gespräch. Zwei Kolleg_innen sehen Herrn Not leiden und überlegen, wie man ihn unterstützen könnte. Sie nehmen sich vor, sich beim nächsten Teamgespräch mit der Chefin deutlich sichtbar auf die Seite von Herrn Not zu stellen. Da die Chefin ziemlich aggressiv, scharf und auch unfair werden kann, wenn sie öffentlich kritisiert wird, überlegen sich die beiden ein indirektes Vorgehen. Sie wollen sich gegenseitig die Bälle zuwerfen, darüber berichten, wie sie eine ihnen beiden zugewiesene Aufgabe nicht ohne die Expertise von Herrn Not erledigen hätten können und die Bitte äußern, den Arbeitsbereich entweder an Herrn Not zu übergeben oder ihn ihnen zur Unterstützung zur Seite zu stellen. – Das Gespräch findet statt, die eine Kollegin, Frau Wollen, beginnt wie besprochen mit diesem Thema, der andere Kollege, Herr Wunsch, weicht dem Blick aus, reagiert abwehrend und ergreift nicht wie verabredet das Wort. Die Aktion versandet. Stellen wir uns nach diesen Ereignissen vor, dass Frau Wollen, enttäuscht und ohne Verständnis für das Verhalten von Herrn Wunsch, das Gespräch mit ihm sucht und ihn folgendermaßen zur Rede stellt: Wo: »Wir haben doch mehrfach darüber gesprochen, dass wir uns das nicht mehr gefallen lassen, dass die Chefin einen von uns so behandelt. Ich habe dir in dem Gespräch eine Vorlage gegeben, indem ich das und das gesagt habe, warum hast du mich nicht unterstützt, warum hast du nichts gesagt? Warum hast du weggeguckt? Hast du unerwartet Angst gehabt? Oder hast du mich getäuscht? Wolltest du mich vor der Chefin auflaufen lassen? – Oder war es ein bloßer Wunsch von dir, mal mutig zu sein, mal Farbe zu bekennen, du wolltest mich und Herrn Not wohl gar nicht unterstützen!« Soweit die aufgebrachte Frau Wollen zu Herrn Wunsch. 42
Frau Wollen nennt drei mögliche Gründe für das Nicht-Einhalten der Verabredung. Der erste Grund, unerwartete Angst, könnte als eine Spielart von Willensschwäche dargestellt werden. Willensschwäche sei hier wie üblich verstanden als Konflikt zwischen dem, was der Handelnde zwar für das Richtige hält, aber nicht tut, und dem, was seine Leidenschaften und Begierden Abweichendes zu fordern schei-
Längere Wortwechsel oder Wortbeiträge werden in eine szenische Darstellungsform gebracht. Einzelne Sätze der Dialogpartner werden nicht eigens abgehoben.
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Wollen und Wunsch im Dialog
nen und dem er nachgibt. 43 Der zweite genannte Grund ist Täuschung. Herr Wunsch hätte dann seine Unterstützungsabsicht nur vorgetäuscht, sein Verhalten im Gespräch zeigt seine eigentliche Absicht. Und der dritte Grund ist der, dass Herr Wunsch zwar den Wunsch hatte, den unglücklichen Kollegen Not zu unterstützen, aber keine Bereitschaft, den möglicherweise nicht einfachen Weg der Umsetzung zu gehen. Ich will den beiden folgenden Fragen nachgehen, nämlich wie sich im Gespräch zwischen den Kolleg_innen herauskristallisieren könnte, dass es sich um den dritten Grund handelt, also um einen (bloßen) Wunsch, den Kollegen zu unterstützen und zweitens wie dieser Grund sich von den beiden anderen abgrenzen ließe. In der skizzierten Situation könnte Herr Wunsch antworten, dass es nicht wirklich richtige Angst gewesen sei, ja ein bisschen vielleicht, dass er sich plötzlich einfach nicht mehr sicher gewesen sei, was er genau sagen solle, und ob der Plan vielleicht doch nicht so gut sei, oder ob der Zeitpunkt vielleicht falsch gewählt wäre. Im Gespräch mit Frau Wollen vorher sei er ja selbst ganz begeistert von der Idee gewesen und hätte es schon richtig vor sich gesehen, wie sie der Chefin endlich mal etwas entgegensetzt hätten, wie der arme Herr Not endlich mal kollegiale Hilfe bekommen hätte. Aber in der Situation selbst sei die Begeisterung wie verflogen und es wären diese ganzen Fragen aufgekommen, ob der Plan und der Zeitpunkt nicht noch mal überdacht werden müssten. Ja, wenn er es jetzt so betrachte, dann sei es wohl mehr ein Wunsch gewesen und er habe es nicht wirklich gewollt. Es sei bitter und es tue ihm leid, aber so sei es gewesen. – Eine solche Reaktion könnte erfolgen, wenn der Grund für das Verhalten von Herrn Wunsch war, dass er sich zwar gewünscht hatte, Herrn Not zu unterstützen, es aber nicht wollte. Anknüpfend an die Überlegungen zur alltagssprachlichen Verwendung der Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille in der Einleitung in den ersten Teil könnte man festhalten, dass der Wunsch eine Vorstellung ist, die Empfindungs- und Gefühlsqualitäten erzeugt, die uns in eine erfüllte und zuversichtliche, manchmal geradezu berauschende Stimmung, Herr Wunsch spricht von seiner »BeIch nehme den vielfach üblichen und an dieser Stelle naheliegenden Begriff »Willensschwäche« zunächst auf, um ihn dann mit Rückgriff auf die entwickelte Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille zu kritisieren und durch die Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille zu ersetzen. Vgl. dazu explizit Teil I, Kapitel 3.1.
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geisterung«, versetzt. Die Differenzerfahrung zwischen Wünschen und Wollen hat eine phänomenale Nähe zu dem, was man »Willensschwäche« nennen kann, wie auch zur Selbsttäuschung. Die Nähe zur sogenannten Willensschwäche liegt in der Diskrepanz zwischen (theoretischer) Einsicht und praktischer Umsetzung, allerdings ohne das klare Bewusstsein des »Handelns wider besseres Wissen« (meist aufgrund von zu starken sinnlichen Begierden), wie es, jedenfalls in vielen Rekonstruktionen, für das Phänomen der Willensschwäche charakteristisch sein soll. Im Falle des Wünschens im Unterschied zum Wollen wird eine Diskontinuität zwischen der gewünschten Vorstellung und dem situativen konkreten Handeln empfunden oder bewusst erzeugt. In diesem Moment der bewussten Manipulation einer Situation liegt die Nähe zur (Selbst-)Täuschung. Täuschung ist hier keine bewusste Irreführung Dritter über Tatsachen, wie es in der juristischen Definition heißt, sondern hat eine Qualität von Selbsttäuschung, die damit in der Interaktion immer auch eine Täuschung anderer ist. Es ist der Versuch, eine Einsicht bei sich (und anderen) zu verhindern. Und genau wegen der Implikation von epistemischen und veridischen Bedingungen, scheint mir die Qualifikation der Situation als Selbsttäuschung unangemessen. Wer sich selbst täuscht, hat ein wie immer geartetes Wissen darum, dass er sich täuscht, und der Sachverhalt, über den er sich täuscht, ist falsch. 44 In Situationen des Wünschens geht es nicht um das Vermeiden einer Einsicht, sondern um den positiv besetzten Entwurf von Möglichkeiten, durch den die Anforderungen an die konkrete Gestaltung gewissermaßen »überflogen« werden. Die nötigen Vorbereitungen für die Gestaltung werden nicht getroffen, sondern aufgeschoben, relativiert oder für unpassend erklärt. Die damit einhergehende Empfindungsqualität ist oft gekennzeichnet von einem leichten Schuldbewusstsein, einer Schwere und Trägheit oder einem Unwohlsein mit sich selbst. In der zweiten Sequenz der entworfenen Situation, dem Gespräch zwischen Frau Wollen und Herrn Wunsch über die TeamKathi Beier legt eine philosophische Analyse der Selbsttäuschung vor. Diese besteht aus der Spannung zwischen vier Bedingungen des Begriffs »Selbsttäuschung«: 1. Wissensbedingung (Festhalten an Überzeugungen, von denen man weiß oder ahnt, dass sie falsch sind), 2. Wahrheitsbedingung (die Sachverhalte, über die sich die jeweiligen Personen täuschen, sind falsch), 3. Intentionalitätsbedingung (Selbsttäuschung erfolgt intentional, nicht von außen), 4. Bedingung der Bedeutsamkeit (die Akzeptanz der Wahrheit wäre sehr belastend, die Selbsttäuschung ist wichtig für die jeweilige Person). Vgl. Kathi Beier, Selbsttäuschung, Berlin 2010, S. 27 ff.
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Wollen und Wunsch im Dialog
besprechung, wird deutlich, dass Frau Wollen Herrn Wunsch einen Vorwurf macht: »Warum hast du mich im Stich gelassen? Warum hast du mir etwas zugesagt, was du dann nicht getan hast?« Ihre Nachfragen, was denn der Grund dafür gewesen sein könnte, zeigen, dass sie verstehen will, was geschehen ist, um ihrer Bewertung der Situation eine angemessene Wendung zu geben. Für Frau Wollen ist ein moralisches Problem entstanden, sie fühlt sich im Stich gelassen und schlecht behandelt. Sie macht Herrn Wunsch einen moralischen Vorwurf. Dieser Vorwurf ist aber noch im Zustand der Offenheit und Unbestimmtheit und Frau Wollen drängt nach Weiterbestimmung der Qualität des Vorwurfs. Soll sie dem anderen einen Vorwurf der Schwäche machen, aus zu großer Angst nicht gehandelt zu haben? Das wäre sicher die mildeste Form des Vorwurfs. Oder soll sie Herrn Wunsch den Vorwurf der Täuschung machen? Das wäre ein sehr starker moralischer Vorwurf. Oder soll sie Herrn Wunsch den Vorwurf der moralischen Wankelmütigkeit machen, als jemand, dessen Wort man nicht trauen kann, ja, der sich selbst nicht trauen kann? Frau Wollen sucht mit ihren Fragen nach dem Gegenstand für die weitere moralische Verständigung. Das, was sie im vorbereitenden Gespräch für die Willensäußerung von Herrn Wunsch gehalten hat, war im Rückblick gesehen keine Äußerung seines Willens. Welcher Wille äußert sich durch seine Handlungen im Teamgespräch mit der Chefin? Ein durch die Übermacht des Affekts der Angst durchkreuzter Wille? Oder der Wille zur Täuschung? Oder das Eingeständnis, den eigenen Wunsch zum Willen erklärt zu haben? Mit Entschlüssen oder Versprechen gegenüber sich selbst werden, wie im Falle des reflexiven Selbstverhältnisses in der ersten Beschreibung, Ansprüche gegenüber sich selbst erhoben. Im Falle einer Vereinbarung wie der zwischen Frau Wollen und Herrn Wunsch bestehen diese Ansprüche aber auch gegenüber anderen. Genau dieses Spiel mit der Entstehung und Berechtigung von Ansprüchen und der Nichterfüllung derselben macht die Kontrasterfahrung zwischen Wünschen und Wollen zu einem moralischen Problem. Mit dem konstruierten Gespräch sollte ausprobiert werden, was es bedeuten könnte, wenn einer der Interaktionspartner die Unterscheidung zwischen Wünschen und Wollen in einer dialogischen Situation verwendet. Aus welchem Grund könnte sie verwendet werden und was bewirkt das bei dem einen Gesprächspartner und was bei dem anderen? Dabei ist es weniger wichtig, ob bei der Verwendung der 107 https://doi.org/10.5771/9783495817360 .
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Unterscheidung die Wörter »Wunsch« und »Wille« vorkommen. Wahrscheinlich hätte die Dialogsequenz sogar weniger künstlich geklungen, wenn Frau Wollen zu Herrn Wunsch gesagt hätte: »Weißt du, wenn ich so darüber nachdenke, dann scheint es mir fast so, als hättest du dir einfach in der Rolle gefallen, aktiv zu werden und Hilfe zu leisten. Was das eigentlich heißt, scheinst du dir aber nicht klargemacht zu haben.« Die explizite Verwendung der Unterscheidung wirkt demgegenüber artifiziell. Die terminologisch explizite Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille einzubringen, bedeutet, die Ausdrucksqualitäten unter einen Begriff zu fassen und unsichtbar zu machen. Damit scheint das Anliegen, das Frau Wollen als Akteurin antreibt, nämlich ihren moralischen Vorwurf adäquat vorzubringen, gegenüber einem diagnostischen Interesse, ob es sich um einen Fall von (bloßem) Wünschen gehandelt hat oder nicht, eigentümlich abgeschwächt. Dies zeigt, dass die explizite Verwendung der Ausdrücke »Wünschen« und »Wollen« schon einen Wechsel in die Beobachterperspektive markiert. In der dritten Beschreibung wird ganz gezielt eine Beobachterperspektive eingenommen, um die Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille für die Beschreibung gesellschaftlicher Herausforderungen einzusetzen.
1.3 Wünschen oder Wollen in der Beschreibung gesellschaftlicher Herausforderungen In der modernen Gesellschaft haben wir viele Orte, an denen die Willensäußerung Einzelner oder auch von Kollektiven zentral ist wie im Recht, in jedem Vertrag zwischen Individuen oder zwischen Institutionen. Die Willensäußerung wird in klaren juristischen Abläufen vollzogen und was zählt, sind die vollzogenen Handlungen, die als Willensäußerungen gelten und nicht die Frage, ob jemand »wirklich« wollte oder nur wünschte, was er zu wollen vorgab. Im Zuge der neuen medizinischen Möglichkeiten tauchen Felder auf, in denen die Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille auch institutionell wichtig wird und in denen Gestaltungsbedarf besteht. Zwei Beispiele, die ich hier aufnehme, sind die Organspende und die Patientenverfügung. Im Falle der Organspende sind wir mit dem Phänomen konfrontiert, dass ein hoher Prozentsatz der Bevölkerung sich in Umfragen positiv zur Organtransplantation allgemein und zur eigenen 108 https://doi.org/10.5771/9783495817360 .
Wollen und Wunsch im Dialog
Spendebereitschaft äußert (rund 75 %), dass aber nur ca. 12 % einen Organspendeausweis besitzen. 45 Diese Diskrepanz zwischen erklärter Absicht und dem Handeln wird oft als »paradox« beschrieben. In der Diskussion sind zwei Erklärungsversuche dominant. Zum einen wird irrationale Angst als Erklärung für das abweichende Handeln angegeben. Zum anderen wird das Handeln gar nicht als abweichend aufgefasst, vielmehr zeigen die Absichtserklärungen die hohe Akzeptanz und der fehlende Schritt zum Organspendeausweis habe nur äußerliche Gründe, wie z. B. Bequemlichkeit oder Überlastung durch die Komplexität der Aufgaben des Alltags. Beide Erklärungsversuche schlagen verschiedene Motive vor, die hinter dem Faktum stehen könnten, dass die Zahl der Besitzer eines Organspendeausweises so niedrig ist. Diesem Vorgehen liegt eine bestimmte Auffassung von dem Verhältnis zwischen Überzeugungen bzw. Absichtsäußerungen und Handlungen zugrunde. In den Überzeugungen bzw. Absichtserklärungen drücke sich die »Akzeptanz« aus. (Was soll das heißen? Dass jemand etwas gut findet, etwas zu tun bereit ist, dass die Person etwas will?) Und Handlungen sind verstanden als bloße Umsetzungen der Überzeugungen. Für den Fall, dass diese Umsetzung nicht erfolgt, kann man auf hindernde Faktoren schließen, die den Überzeugungen äußerlich sind, entweder irrationale Emotionen oder bestimmte Abläufe der äußeren Welt. Diese Auffassung von dem Verhältnis von Überzeugungen und Handlungen ist problematisch, was noch zu zeigen ist. 46 Wie stellt sich die Situation dar, wenn sie mit Hilfe der Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille beschrieben wird? Die Befragten äußern in den Umfragen ihren Wunsch, die Praxis der Organspende zu unterstützen und dafür im gegebenen Falle die eigenen Organe zur Verfügung zu stellen. (Möglicherweise folgen sie auch einfach dem Wunsch, die Antwort zu geben, die der Interviewer von ihnen zu erwarten scheint. 47) Ihr Wille manifestiert sich in ihren Ich folge hier dem Beschreibungsangebot der Situation, das Andrea Esser gibt. Vgl. Andrea Esser, »Irrationale Angst oder vernünftiger Zweifel?«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 60 (2012) 3, S. 428–429. Ich erweitere diesen Vorschlag durch den Einbezug der Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille. 46 Vgl. dazu ausführlich Teil I, Kapitel 4. 47 Vgl. zum Problem »sozial erwünschter Antworten« bei sensitiven Fragen zum Beispiel Roger Tourangeau/Ting Yan, »Sensitive questions in surveys«, in: Psychological Bulletin 133 (2007) 5, S. 859–883 und allgemeiner dazu: Rainer Schnell, SurveyInterviews, Wiesbaden 2012. 45
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Handlungen. Die 12 %, die einen Organspendeausweis besitzen, wollen die Praxis unterstützen, die restlichen 63 % wollen es nicht, sondern wünschen es. Sie haben in den Umfragen ihren Wunsch geäußert, der nicht in eine Umsetzung gemündet ist. Wünsche werden meist in Abstraktion von der Konkretion von Situationen gebildet und geäußert. Es liegt in der Struktur von Wünschen, dass die tatsächlichen Handlungen dann andere sein können. Fast könnte man den Irrationalitätsvorwurf umdrehen: Ist es rational, in abstrakter Weise eine Praxis zu bewerten und einen Entschluss dazu zu fassen, ohne die Konkretion der Situation zu bedenken, diese zu entwerfen und in den damit verbundenen leiblichen Vollzügen durchzuspielen? Die Ethnologin Vera Kalitzkus ist in ihrem Buch mit dem Untertitel: Warum wir Organspenden richtig finden und trotzdem davor zurückschrecken der »Rationalität« dieser Diskrepanz auf der Spur, und zwar durch genaue Beschreibungen der praktischen Vollzüge von Organspendern und Organempfängern und der Praktiken aller Beteiligten, der Personen, die es betrifft, der Angehörigen, der Ärzt_innen und der Pfleger_innen. Eine leitende Idee ihrer Analysen besteht darin, die Differenz zwischen einer körperlichen und einer leiblichen Beschreibung der Praktiken herauszustellen. Die leibliche Beschreibung bezieht die Empfindungsqualitäten, die Wirkungen auf die Gefühle und die Konsequenzen für die Gestaltung des Abschiednehmens mit ein. Die Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille kann also auch zur Beschreibung von kulturellen und gesellschaftlichen Phänomenen verwendet werden und dadurch deutlich machen, dass sich der »Wille des Volkes« in Handlungen und nicht in abstrakten Umfragen manifestiert. Umfragen können allenfalls die Wünsche abbilden, die nicht in allen Feldern Prognosen auf die Handlungen erlauben. Auch die Praxis der Patientenverfügung müsste mit dieser Begrifflichkeit beschrieben werden. In Patientenverfügungen wird oft ein Wunsch und nicht der Wille niedergelegt, und es ist in der konkreten Situation noch einmal neu zu sehen, ob sich der Wille des Patienten möglicherweise in sprachlichen und nicht-sprachlichen Vollzügen abweichend von den früheren Wünschen äußert. Ein instruktives Beispiel dafür, dass diese Unterscheidung die Praxis der Patientenverfügung gut erschließt, ist der »Fall Walter Jens«. Jens äußerte vor seiner Demenz den Wunsch nach aktiver Sterbehilfe im Falle von Demenz und zeigte dann aber bei der eingetretenen Demenz deutliche Anzeichen
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Wollen und Wunsch im Dialog
von Lebenswillen. Theda Rehbock nimmt diesen Fall zum Anlass, genau die angedeutete Konsequenz zu ziehen: Zunächst ergibt sich aus den obigen Überlegungen die These, dass die mündlichen oder schriftlichen Äußerungen, etwa in Form einer Patientenverfügung, nicht als ein Sterbewille im eigentlichen Sinne, sondern als ein auf die noch offene Zukunft bezogener Wunsch, unter bestimmten Bedingungen nicht leben zu müssen und das Leben zu beenden, zu verstehen ist. Der Wille im eigentlichen Sinne ist unmittelbar verbunden mit dem Bestreben, das Gewollte herbeizuführen, und mit dem Bewusstsein, selbst dazu in der Lage zu sein. 48
Dass der »Fall Walter Jens« kein Einzelfall ist, zeigt zum Beispiel die literarische Verarbeitung von Erfahrungen, die der Pfarrer und Schriftsteller Ulrich Knellwolf als Seelsorger in einem Altenheim gemacht hat. In seiner kleinen Geschichte »Patientenverfügung«, die Knellwolf mit Nachdruck als Geschichte und nicht als Fallbeispiel verstanden wissen will, weil Geschichten sich an alle wenden und auf das charakteristische Detail zielen, schildert er die Situation eines alten Mannes. 49 Dieser legt nach dem Eintritt ins Altenheim mit aller Bestimmtheit in einer Patientenverfügung fest, dass keine lebensverlängernden Maßnahmen vorgenommen werden sollen. Im Heim geht es ihm gesundheitlich schlecht und er hadert mit seiner Umgebung und sich selbst. Dann trifft er Emma, eine andere Bewohnerin des Heims und innerhalb kurzer Zeit wandelt sich sein Lebensgefühl vollständig. Deutlich sichtbar für alle ist, dass er und Emma sich des Lebens freuen. Plötzlich erkrankt er ernstlich und es stellt sich die Frage, was sein »mutmaßlicher Wille« ist, wie es im Fachjargon heißt. Die Tochter klagt die Einhaltung der Patientenverfügung ein, die Heimleitung zögert, Emma ist verzweifelt. Was ist richtig, was ist falsch? Der Erzähler einer Geschichte lässt dies offen, während diese Frage bei einem Fallbeispiel von Expert_innen entschieden werden muss. Der »Fall Walter Jens« wie die Geschichte von Knellwolf zeigen in aller Deutlichkeit die Problematik des InstruVgl. Theda Rehbock, »Wie kann ich wissen, was du willst? Zur Bedeutung sprachlicher und leiblicher Kommunikation in ethischer Hinsicht«, in: L. Leeten (Hg.), Moralische Verständigung. Formen einer ethischen Praxis, Freiburg/München 2013, S. 171–208, S. 204. 49 Vgl. die Kurzgeschichte »Patientenverfügung«, in: Ulrich Knellwolf/Heinz Rüegger, In Leiden und Sterben begleiten. Kleine Geschichten. Ethische Impulse, Zürich 2005, S. 51–52. 48
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1 · Beschreibungen: Wie wir wünschen und wie wir wollen
mentes der Patientenverfügung. Man soll entscheiden für eine Situation, die man nicht voraussehen kann und deren Rahmenbedingungen womöglich enorm differieren von all dem, was man in seinem Leben bis dahin kennengelernt hatte. Nun will man sich nicht in die Willkür anderer hineinbegeben, andere mit sich machen lassen und abhängig sein von deren Interessen und Wohl- oder Übelwollen. Man will selbst entscheiden, selbst bestimmen, was mit einem geschehen soll. Kann es dabei aber nicht sein, dass sich plötzlich einstellt, was man vermeiden wollte, dass die frühere eigene Entscheidung so fremd und abstrakt gegenüber der Situation wirkt, um die es geht, dass es fast so ist, als würde jemand anders mit anderen Interessen entscheiden? Genau wie im Falle der Umfragen zur Organtransplantation lassen sich nun für die Darstellung und Auswertung des »Falls Walter Jens« und des alten Mannes im Altenheim verschiedene Unterscheidungen anwenden. In der kritisierten Darstellung und Auswertung der Umfrageergebnisse zur Organtransplantation wird mit der Unterscheidung rational-irrational gearbeitet. Die ließe sich im Falle des dementen Walter Jens und des alten Mannes im Heim auch anwenden. Beide sind nicht im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte, Jens ist dement, der alte Mann einer Laune der Verliebtheit im hohen Alter erlegen. Autoritativ ist die Erklärung, die im Vollbesitz der rationalen Fähigkeiten abgegeben wurde. Dies ist die eine Beschreibung, die eine bestimmte Entscheidung nahelegt. Eine ganz andere Beschreibung ergibt sich, wenn nicht die Unterscheidung rational-irrational, sondern die Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille angewendet wird. Wünsche artikulieren Vorstellungen über positiv bewertete Sachverhalte unabhängig von den Möglichkeiten, Fähigkeiten oder der Bereitschaft zu deren Realisierung. Diese Sachverhalte zu wollen, bedeutet dagegen, mit ihrer Realisierung schon begonnen zu haben. Umfragen zu einem Thema, über dessen Realisierungsbedingungen in der Öffentlichkeit relativ wenig bekannt ist und zu dem eine Art öffentlicher Meinungsdruck geschaffen wird, können nur Vorstellungen über positiv bewertete Sachverhalte abfragen, also Wünsche. Erst die Beschäftigung mit den Details der Situationen, um die es geht, und letztlich erst die Gestaltung der Situation selbst ermöglichen die Willensbildung. Und ebenso gibt eine Patientenverfügung an, was eine Person sich für die eigene Zukunft vorstellt. Die Unwägbarkeiten der Zukunft und die Änderungen der eigenen Vorstellungen und Bewertungen 112 https://doi.org/10.5771/9783495817360 .
Wollen und Wunsch im Dialog
werden dabei eingeklammert. Dies ist charakteristisch für Wünsche, denen genau deswegen eine Art Vorläufigkeit zukommt. Wie die Personen nun in den Situationen handeln, über die entschieden werden soll, gibt uns dagegen die Hinweise darauf, was sie in der Situation wollen. Diese Beschreibung unterscheidet sich erheblich von der ersten und legt ganz andere Entscheidungen nahe. Wie lässt sich nun entscheiden, welche Beschreibung die bessere oder gar die richtige ist? Hier kam es mir darauf an, zu zeigen, dass und wie verschiedene Beschreibungen durch die Anwendung verschiedener Unterscheidungen entstehen. Eine Entscheidung über den Wert der Beschreibungen kann nur getroffen werden, wenn die Implikationen beider Unterscheidungspaare irrational-rational und Wunsch-Wille weiter entfaltet werden, denn sie treffen das Verständnis von dem, was Handlungen sind und von dem, was wir als handelnde Wesen, als Personen sind. Dies soll in den nächsten Kapiteln dieses Teils für das Unterscheidungspaar Wunsch und Wille in den Grundzügen geleistet werden. Wenn man die drei Beschreibungen überblickt, dann erscheint es leichter zu sagen, was den Wunsch und das Wünschen kennzeichnet als zu sagen, was es heißt, etwas zu wollen. Die Schwierigkeit liegt darin, dass die Aktivität des Wünschens eine durch unsere Unterscheidungsgewohnheiten tradierte Trennung zwischen Mentalem und Körperlichem zu bestätigen scheint und sich deshalb in der zur Verfügung stehenden Alltags- und Fachsprache leicht charakterisieren lässt. Charakteristikum des Wollens dagegen ist, diese unterschiedenen Seiten gerade zu verbinden. Ist dieses Verbinden nun wie ein kausaler Prozess zu beschreiben (der Vorschlag von Rehbock legt dies nahe: »Der Wille im eigentlichen Sinne ist unmittelbar verbunden mit dem Bestreben, das Gewollte herbeizuführen, und mit dem Bewusstsein, selbst dazu in der Lage zu sein.« 50 [Hervorhebung K. W.]) oder übergreift das Wollen die unterschiedenen Seiten in anderer Weise? Die meisten Beiträge aus der philosophischen Tradition tendieren dazu, Wünschen und Wollen als geistige Zustände zu konzeptualisieren, wobei letzterer handlungswirksam ist oder werden kann. Die Frage nach der Handlungswirksamkeit des Willens ist handlungstheoretisch virulent. Die Unterscheidung zwischen
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Rehbock, »Wie kann ich wissen, was du willst?«, a. a. O., S. 204.
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1 · Beschreibungen: Wie wir wünschen und wie wir wollen
Wunsch und Wille macht es nötig, den Begriff der Handlung miteinzubeziehen und möglicherweise das Verhältnis zwischen Absichten, Intentionen als geistigen Zuständen und Handlungen anders zu betrachten.
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2. Kapitel: Analysen: Vom Wollen als mentale Anstrengung zur Muskelempfindung
Einleitung zum zweiten Kapitel In den exemplarischen Situationen des ersten Kapitels ist deutlich geworden, dass mit der Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille keine allgemeine Theorie des Wünschens und Wollens entwickelt werden soll. Vielmehr wurden Situationen ausgewählt oder entworfen, in denen die Unterscheidung es ermöglicht, in ein reflexives Verhältnis zu unseren Handlungen zu treten. Die Unterscheidung erlaubt es Einzelnen, sich damit auf die eigenen Handlungen zu beziehen und anhand der Passagen von Proust habe ich eine Variante für »selbstreflexives Wünschen« präsentiert. Die Unterscheidung kann aber auch im Gespräch eingebracht werden, um sich auf Interaktionssequenzen zurückzubeziehen und die weiteren Interaktionen daran zu orientieren. Und drittens kann die Unterscheidung zur Interpretation kollektiven Handelns oder Verhaltens verwendet werden. Die Unterscheidung fordert in allen Fällen dazu auf, Situationen genau zu beschreiben und dabei auch Emotionen, Empfindungen und leibliches Spüren miteinzubeziehen. Dies ist nicht als ein bereichernder, aber entbehrlicher Zusatz zu verstehen. Ohne genaue Beschreibung dieser Ebenen in reflexiver Einstellung ist der Unterscheidung zwischen Wünschen und Wollen der Boden entzogen. In der Einleitung in den ersten Teil habe ich anhand einiger Beispiele versucht zu zeigen, dass die Unterscheidung zwischen Wünschen und Wollen in der philosophischen Theoriebildung bei sehr verschiedenen Autoren mit einer ähnlichen Abgrenzungsfunktion vorkommt, der Abgrenzung zwischen ernsthaften Formen des Begehrens und Strebens und schwachen, nicht recht ernst zu nehmenden Formen, die oft als »bloßes Wünschen« bezeichnet werden. Dies ist nicht mehr als ein erster vorläufiger Befund und ein genauerer Blick zeigt, dass diese Abgrenzungen verschiedene Bedeutungen und Implikationen haben können. Ich will nun in diesem zweiten Kapitel
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2 · Analysen: Vom Wollen als mentale Anstrengung zur Muskelempfindung
des ersten Teils drei solcher Abgrenzungen näher untersuchen, in denen sich eine jeweils sehr andere Dynamik entfaltet.
a)
Grenzen von Modellbildungen
Ein Bild des menschlichen Wollens als innerer Akt der Anstrengung, der sich aufbaut und dann in Handlungen durchsetzt, ist in unserem Selbstverständnis weit verbreitet. Dieses Bild ist vielfach dargestellt und genauso oft auch schon kritisiert worden. Die gegenwärtige Situation ist, dass sowohl in den lebensweltlichen Selbstverständlichkeiten wie auch in den theoretischen Angeboten verschiedene Deutungen nebeneinanderbestehen. Ich will einen Ordnungsversuch vorstellen und die drei Untersuchungen dieses Kapitels dazu ins Verhältnis setzen. Gottfried Seebaß erhebt in seiner Studie mit dem Titel Wollen den Anspruch, den Begriff des Willens zu klären. Die vielfältigen Erscheinungsweisen des Wollens/Willens sollen in einen einheitlichen Begriff integriert werden. Dabei seien zwei Erscheinungsweisen und Redeweisen von unserem Wollen besonders wichtig. Die eine Erscheinungsweise sei das bloße Wollen. Damit ist eine eigene mentale Leistung gemeint, die faktisch und begrifflich von »willentlichen Verrichtungen« zu trennen sei. Da der Gedanke, dass Wollen und Tun auseinanderfallen, sowohl in der Tradition des abendländischen Denkens wie auch in unseren Redeweisen fest verankert sei, müsse ein einheitlicher Begriff des Wollens auch dem bloßen Wollen, also der Handlungsunabhängigkeit des Wollens, Rechnung tragen. Auf der anderen Seite scheine eine Abgrenzung nötig, die Abgrenzung zum bloßen Wünschen, das motivational unzulänglich sei und deshalb nicht mehr als Wollen bezeichnet werden könne. Auch für diese Abgrenzung träten in der Tradition viele Autoren ein und es fänden sich in unserem Sprachgebrauch Anknüpfungspunkte. Der Begriff des Wollens müsse also auch einen konstitutiven Handlungsbezug aufweisen, sonst könne die Abgrenzung nicht geleistet werden. Die Funktion der Unterscheidung zwischen bloßem Wünschen und Wollen besteht in diesem Ordnungsvorschlag darin, auf den notwendigen Handlungsbezug des Wollens hinzuweisen. Damit sind die beiden zentralen Anforderungen an einen Begriff des Willens formuliert. Dies legt Seebaß auf das fest, was er das »zweite Modell der Willentlichkeit« nennt. Während die Kernthese von Modell I in der Aussage besteht, dass es keine besondere Leistung 116 https://doi.org/10.5771/9783495817360 .
Einleitung zum zweiten Kapitel
des Wollens gebe, sondern der Willensbegriff sich nur durch eine Analyse des »willensgetragenen« Handelns erklären lasse, werden in Modell II die Leistung des Wollens und die Handlung kombiniert. Im Rahmen von Modell II unterscheidet Seebaß zwei Varianten. Die Variante IIa besteht in der Auffassung, dass die Leistung des Wollens losgelöst von der willentlichen Verrichtung auftreten könne. Die Klärung des Willensbegriffs sei also prinzipiell unabhängig von der Analyse des Handelns. In der Variante IIb dagegen wird betont, dass die Leistung des Wollens zwar eine besondere Leistung sei, die aber nicht eigenständig, sondern an Verrichtungen zu binden sei, die durch das Hinzutreten der Leistung des Wollens »willentlich« werden würden. Will Seebaß nun einerseits die Möglichkeit der Handlungsunabhängigkeit in Phänomenen des bloßen Wollens und andererseits die Handlungsabhängigkeit in Abgrenzung zum bloßen Wünschen erhalten, bleibt nur Modell II, also die Kombination der eigenständigen mentalen Leistung des Wollens mit der »faktischen Verrichtung«. 1 Die drei Untersuchungen dieses Kapitels ließen sich diesen Modellen zuordnen. Einer der Vertreter, der sehr anschaulich die Dramaturgie des Wollens als inneren mentalen Akt vorführt, ist der Philosoph Sigwart. Sein Entwurf kann als Beispiel für Modell IIa herangezogen werden. Die Abgrenzung zum bloßen Wünschen hat Da es mir hier nur um den Einteilungsvorschlag von Modellen geht und nicht um Seebaß’ eigenen Vorschlag, sei dieser nur der Vollständigkeit halber erwähnt: Seine Analyse setzt an beim Wollen als relationalem Zustand, in dem ein (wollendes) Subjekt intentional bezogen ist auf ein Gewolltes, ein Willensobjekt. Dieses Willensobjekt ist ein Sachverhalt oder, mit Bezug auf sprachliche Wesen, eine Proposition. Die Art des Bezogenseins des Subjekts auf die Proposition ist deshalb als propositionale Einstellung zu bestimmen. Gegenüber assertorischen propositionalen Einstellungen wie Glauben oder Behaupten ist eine andere Stellungnahme zur Realität kennzeichnend. Es wird nicht zum Ausdruck gebracht, was der Fall oder nicht der Fall ist, sondern es wird ausgedrückt, was der Fall sein möge. Seebaß nennt dies »optativische Einstellung«, mit der eine fordernde Einstellung zur Realität gemeint ist. Die Richtigkeitsbedingung liegt nicht wie bei der assertorischen Einstellung darin, dass die Einstellung sich nach der Wirklichkeit zu richten hat, sonst ist die Einstellung falsch. Vielmehr hat sich die Wirklichkeit nach der Einstellung zu richten. Mit der optativischen Einstellung haben wir noch nicht den Begriff des Wollens, aber dessen begrifflichen Kern. Um einen Begriff des Wollens zu entwickeln, ist der Handlungsbezug der optativischen Zustände aufzuzeigen. Dieser ergibt sich durch die motivationale Qualifikation der optativischen Einstellung. »Motivationale Qualifikation« heißt, dass eine Reaktion auf die im optativischen Zustand ausgedrückte Forderung in Gang gesetzt wird, die durch sie zu verstehen ist. In diesem Sinne motivational qualifiziertes Wünschen kann als »Wollen« bezeichnet werden. Vgl. Seebaß, Wollen, a. a. O.
1
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2 · Analysen: Vom Wollen als mentale Anstrengung zur Muskelempfindung
in dieser plastischen Schilderung des protypischen Prozesses der Willensbildung die Funktion, die Intensität der inneren Anstrengung hervorzuheben, die im Falle des Wollens im Unterschied zum bloßen Wünschen nötig ist. Die Entwicklung des Willensbegriffs bei Kant ist ein Beispiel dafür, dass die Abgrenzung des Wollens vom bloßen Wünschen gerade die Funktion hat, den notwendigen Handlungsbezug im Falle des Wollens einzuklagen. Kant kann deshalb als ein möglicher Vertreter von Modell IIb gelten. Und Wittgensteins Bemerkungen zur Abgrenzung von Wollen und Wünschen zielen darauf, den Blick ganz von dem linearen Modell der Ausbildung eines inneren Willens, der sich dann in äußere Handlungen übersetzt, weg zu lenken hin auf das eigentümliche Zusammenspiel von geistigen und körperlichen Aspekten beim menschlichen Handeln. Seebaß selber nennt Wittgenstein (und die von ihm inspirierte Handlungstheorie) den prototypischen Vertreter für Modell I. Solche Modellbildungen sind sicher nützlich und als heuristische Einteilungen geben sie eine Orientierung, um sich in dem unübersichtlichen Feld des Nachdenkens über menschliches Wollen mit Hilfe von Positionsbildungen Anhaltspunkte zu schaffen. Allerdings ist dies selbst ein bestimmter Umgang mit Unterscheidungen, nämlich Unterscheidungen vor allem als Einteilungen von Positionen zu verstehen. Möglicherweise wird dies dem Unterscheidungsgebrauch gar nicht gerecht, der in den philosophischen Texten vorkommt, die positional fixiert werden. Modellbildungen zur Einteilung von Positionen funktionieren oft so wie im Falle der vorgestellten Modellbildung von Seebaß. Aus der Analyse des gegenwärtigen Sprachgebrauchs einerseits und der Analyse von philosophischen Theorien andererseits wird eine Unterscheidung gewonnen, hier die Unterscheidung zwischen der Leistung des Wollens einerseits und der Handlung andererseits. Die Verschiedenheit der Modelle entsteht durch jeweils andere Arten von Grenzziehungen bzw. deren Aufhebung. Modell I ergibt sich durch die Aufhebung der Grenzziehung und durch die Identifikation der beiden Seiten. In Modell II wird die Grenze zwischen den beiden Seiten gezogen und es werden zwei verschiedene Arten der »Kombination« der unterschiedenen Seiten möglich. Die Grenze, die in Modell IIa gezogen wird, soll ontologisch Verschiedenes separieren und ermöglicht eine isolierte Betrachtung beider Seiten. Und Modell IIb ergibt sich durch eine Einschränkung von Modell IIa durch Bedingungen der Bezogenheit der beiden Seiten aufeinander. Auf diese Weise können Positionen und Modelle als Varianten 118 https://doi.org/10.5771/9783495817360 .
Einleitung zum zweiten Kapitel
von Grenzziehungen interpretiert werden und es ist ein wichtiges Anliegen der Unterscheidungsforschung, Varianten von Grenzziehungen zu analysieren. Die Arbeit mit solchen Modellbildungen scheint mir erstens da an eine Grenze zu kommen, wo das Anliegen der Texte gar nicht darin besteht, eine Position zu vertreten und dafür zu argumentieren, sondern unseren Grenzziehungsgewohnheiten selbst auf die Spur zu kommen und diese mit dem dadurch ausgeblendeten Erfahrungsspektrum zu konfrontieren. Ich glaube, dass Wittgensteins Denken genau dies bezweckt und dass es deshalb an seinen Pointen vorbeigeht, ihn einem Modell zuzuordnen. Zweitens lenkt die Arbeit mit Modellen und Positionen die Aufmerksamkeit bei der Lektüre und Interpretation von Texten in einer Weise, durch die die »dynamische Kraft« von Unterscheidungen abgeblendet wird. Unterscheidungen zu treffen und zu verwenden hat Konsequenzen für andere Unterscheidungen und fordert zur Weiterentwicklung und teilweise zu Veränderungen auf. Diese diachrone Perspektive auf Unterscheidungen wird unterbelichtet und gerät aus dem Blick, wenn vorrangig mit Modellen und Positionslandschaften gearbeitet wird.
b)
Die Aufgabe von Analysen
Die Verwendung des Ausdrucks »Analyse von Unterscheidungen« soll zu anderen Redeweisen von »Analyse« ins Verhältnis gesetzt werden. Die Tätigkeit des Analysierens gehört sicher zu dem, was Wissenschaft im Allgemeinen ausmacht und jeder, der Wissenschaft betreibt, nimmt auch für sich in Anspruch, zu analysieren. In dieser Allgemeinheit bedeutet »analysieren« so viel wie etwas in seine Grundbestandteile zu zerlegen, es zu zergliedern und dadurch gewissermaßen den Bauplan freizulegen. Was die Grundbestandteile jeweils sind und wie deren Zusammensetzung zu einem Bauplan zu bestimmen ist, ist natürlich abhängig von dem jeweiligen Themengebiet. Deshalb gibt es so viele analytische Verfahren, wie es Gegenstände der menschlichen Beschäftigung gibt, von der DNA-Analyse bis zur Analyse unserer moralischen Sprache. Und das, was jeweils als Grundbestandteil gelten kann, legt sich nicht oder nicht nur durch die jeweiligen Bereiche der Wirklichkeit nahe, sondern ist selber wieder Ergebnis wissenschaftlicher Verfahren. In solchen Verfahren werden konstruktive Vorschläge entwickelt, welche Grundbestandteile sich 119 https://doi.org/10.5771/9783495817360 .
2 · Analysen: Vom Wollen als mentale Anstrengung zur Muskelempfindung
warum für die Analyse bestimmter Bereiche eignen. Wir sehen also, dass die Analyse von etwas nicht unabhängig von konstruktiven Überlegungen oder Annahmen vollzogen werden kann. Mit dieser konstitutiven Abhängigkeit ist aber noch keine Reihenfolge festgelegt, in der Analyse und Konstruktion durchzuführen wären. Das Vorgehen, ein bestimmtes analytisches Instrumentarium zu verwenden und durch den Gebrauch eine Evidenz zu erzeugen und dann in konstruktiven Überlegungen zu legitimieren, ist genauso möglich, wie ein Instrumentarium Schritt für Schritt konstruktiv aufzubauen und in anschließenden Analysen zu verwenden. Für den Zweck, die Verwendung von Unterscheidungen und deren mögliche Alternativen zu analysieren, bieten sich prinzipiell sicher beide Vorgehensweisen an. Ich betrachte in diesem Kapitel drei Analysen der Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille, mit Hilfe derer die aufgeworfenen Fragen zunächst verschärft, dann vertieft und teilweise geklärt und schließlich verschoben werden. In keinem der Texte, die hierfür herangezogen werden, steht die Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille für sich selbst im Mittelpunkt, vielmehr hat die Unterscheidung bei allen untersuchten Autoren eine Funktion für die Grundlegung praktischer Philosophie. 2 Da diese Funktion nicht immer explizit benannt wird, müssen die Texte ihrerseits darauf befragt, also selber wiederum analysiert werden. Dafür sind die üblichen Verfahren der exegetischen und hermeneutischen Analyse notwendig, also die genaue Lektüre einzelner Textstellen, ihre Deutung im Kontext, Differenzierung von Lesarten, Diskussion von grammatischen und semantischen Mehrdeutigkeiten, evtl. Diskussion von Textvarianten, Analyse des Sprachgebrauchs der Zeit, Aufweis der Quellen für einzelne Gedanken, für Argumente, für Begriffe oder für einzelne Termini, Besprechung zeitgenössischer und gegenwärtiger Rezeptionen, Abgleich von Werkstellen, Aufzeigen von Entwicklungslinien, Herausarbeiten impliziter Unterscheidungen. 3 Zu diesen allgemeinen Verfahren im Umgang mit Texten kommt nun die besondere Aufmerksamkeit auf den Umgang mit Unterscheidungen als Unterscheidungen. In der konkreten DurchfühZur Auswahl der Texte vgl. den folgenden Abschnitt c) dieser Einleitung. Dies gilt vor allem für die Rekonstruktion der gedanklichen Weiterentwicklung in der praktischen Philosophie Kants, die nur mittels »exegetischer Insistenz« freizulegen ist.
2 3
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Einleitung zum zweiten Kapitel
rung bedeutet dies zunächst, sich von Fragen wie den folgenden leiten zu lassen: In welchem Zusammenhang taucht die Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille auf? Geschieht dies beiläufig, oder wird sie aus einem bestimmten Grund explizit eingeführt? Mit Rückgriff auf welche anderen Unterscheidungen wird sie entwickelt? In welchem Netz von weiteren Unterscheidungen bekommt sie ihre Stütze und Verankerung? Wie wird die Grenze zwischen den Seiten gezogen? Wie wird das Verhältnis der beiden Seiten bestimmt und was hat das für Rückwirkungen auf die Art und Qualität der beiden Seiten? Stehen die beiden unterschiedenen Seiten überhaupt in einem symmetrischen Verhältnis zueinander? Der Ausdruck »Seiten« suggeriert eine problematische Dinglichkeit und Konturiertheit und vor allem eine Art qualitative Ähnlichkeit. Trifft dies die Besonderheit dieser Unterscheidung oder ist nicht die eine der »Seiten« der anderen gegenüber als vorgängig zu bestimmen, sodass es sich um eine asymmetrische Unterscheidung handelt? An einigen Stellen werden Qualifizierungen von Unterscheidungen nötig, die von den Autoren selber verwendet oder angedeutet werden, um die vielen möglichen Antworten auf die gestellten Fragen mit griffigen Bezeichnungen zu versehen. Die Legitimität dieser Fragen wird erst im zweiten Teil dieser Arbeit (Teil II: Unterscheidungsforschung als Methode) zum Thema gemacht. Wie in der allgemeinen Einleitung ausgeführt, wähle ich das Vorgehen, die doppelte Aufmerksamkeit auf die Sachhaltigkeit der Unterscheidungen und die Weisen des Unterscheidens zuerst konkret durchzuführen und sie dann im Rückbezug zu plausibilisieren und zu rechtfertigen. Deshalb verwende ich über diese sehr allgemeinen Fragen hinaus Differenzierungen von Unterscheidungsweisen, deren Quellen und Legitimation erst im zweiten Teil angegeben werden. Da die meisten dieser Differenzierungen aber anschlussfähig an unseren Unterscheidungsgebrauch sind, reicht es aus, sie in der konkreten Durchführung selbst zu erläutern. An dieser Stelle sei deshalb nur die Differenzierung von vier Praktiken des Unterscheidens eingeführt, die im zweiten Abschnitt dieses Kapitels 4 zum Einsatz kommt. Die weit verbreitete Gewohnheit, Unterscheidungen vor allem als Einteilungen zu verstehen, wird als eine mögliche Praktik des Unterscheidens neben drei anderen Praktiken des Unterscheidens, näm4
Vgl. Teil I, Kapitel 2.2.4.
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2 · Analysen: Vom Wollen als mentale Anstrengung zur Muskelempfindung
lich Kontrastieren, Bestimmen und Differenzieren, verstanden. 5 Die Konsequenzen dieser Praktiken sind jeweils sehr verschieden. Ich will zeigen, an welchen Stellen der inhaltlichen gedanklichen Entwicklung es wichtig wird, die Frage nach der verwendeten Praktik des Unterscheidens zu stellen. Nicht immer ist diese Frage wichtig, aber manchmal bleibt sie in problematischer Weise unklar. In solchen Fällen ist es von großer Bedeutung, die jeweils verschiedenen Konsequenzen aufzuzeigen. In vielen Texten fehlt die Reflexion auf den eigenen Unterscheidungsgebrauch, also die verwendeten Weisen des Unterscheidens weitgehend. Es soll gezeigt werden, was es für einen interpretatorischen Mehrwert bedeutet, diese Fragerichtung mit in die Arbeit an den Texten und inhaltlichen Fragen einzubeziehen. Für andere Texte ist demgegenüber ein hohes Methodenbewusstsein kennzeichnend, das mit Hilfe der hier vorgeschlagenen Artikulation von Unterscheidungsweisen eine fokussierte Deutung erfährt. 6
c)
Zur Auswahl der Autoren: Sigwart, Kant, Wittgenstein
Ich beginne im ersten Abschnitt dieses Kapitels mit der Vorstellung des klassischen Bildes vom Wollen als innerer Kraft und Stärke, in dem die Abgrenzung vom Wünschen eine Rolle spielt, um die psychische Dynamik des Wollens kontrastiv zu veranschaulichen. Dabei ist die Unterscheidung zwischen inneren psychischen Prozessen und der äußeren Umsetzung auf Handlungsebene von zentraler Bedeutung. Ich verwende die Darstellung Sigwarts, die an dem Bild des Willens orientiert ist, das unsere Alltagssprache und viele Theoriebildungen leitet und tief verankert ist. Sigwart fühlt sich dem alltäglichen Sprachgebrauch verpflichtet und will einen theoretischen Entwurf vorlegen, der diesem Rechnung trägt. Den Rahmen setzt die Unterscheidung zwischen Innen und Außen. Etwas zu wollen ist im Mit Hilfe welcher Praktiken des Unterscheidens die vier Praktiken selber unterschieden werden, wird in Auseinandersetzung mit Platons Sophistes thematisiert. Vgl. Teil II, Kapitel 2.1.1.5. 6 Dies gilt für Wittgensteins Umgang mit Unterscheidungen, wie der zwischen sinnvollen, sinnlosen und unsinnigen Sätzen, die durch die Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille eine Konkretisierung erfährt. Wittgenstein weist die Modellierung philosophischer Unterscheidungen als Einteilungen oder einfache Kontraste kritisch zurück und wählt einen philosophischen Stil, der sich solchen Zugriffen systematisch entzieht. Vgl. dazu Teil I, Kapitel 2.3. 5
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Einleitung zum zweiten Kapitel
Wesentlichen ein innerer Prozess. Sigwart verleiht diesem eine hohe Plastizität und entwirft eine Dramaturgie, in der dieser Prozess geradezu in Akte und Szenen zergliedert wird. Das menschliche Wollen so auf die Bühne zu bringen, entfaltet eine hohe Dynamik und wirkt sehr eingängig. Gesteht man die rahmensetzende Unterscheidung zwischen Innen und Außen zu, ergibt sich ein vollständiges Bild. Hält man nun aber die Beschreibungen aus dem ersten Kapitel daneben, tauchen Unsicherheiten auf und das stimmig erscheinende Bild des Wollens verliert an Überzeugungskraft. Im ersten Abschnitt dieses Kapitels illustriere ich die von Sigwart entworfene Dramaturgie am Beispiel des Schreiben-Wollens (2.1 Sigwart: Zur inneren Dramaturgie des Wollens und Wünschens). Es geht mir darum, dessen Überzeugungskraft vor Augen zu führen. Man könnte, eine Bemerkung Wittgensteins variierend, sagen, dass uns ein Bild gefangen hält, aus dem wir nicht ohne Weiteres herauskönnen und das sich beständig wiederholt. 7 Es scheint mir nämlich genau das Bild zu sein, von dem her sich alle Einwände an den Vorschlägen speisen, die das Wollen enger ans Handeln binden. 8 Solche Bilder lassen sich nicht einfach durch andere ersetzen. Vielmehr geht es darum, Abstand zu ihnen zu gewinnen, um ihre reduktiven Wirkungen sehen zu können und andere Bilder als Deutungsmuster zuzulassen. Sigwart kann helfen, die Wirksamkeit dieses Bildes zu bemerken. Ich will im zweiten Abschnitt zeigen, wie Kant durch die Beschäftigung mit der Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille dazu gekommen ist, dieses Bild zu problematisieren (2.2 Kant: Von der »Aufbietung aller Mittel« zur »Realrepugnanz«). Der Willensbegriff steht im Zentrum der praktischen Philosophie Kants. In der ersten systematischen Entfaltung des Willensbegriffs in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten kommt der Abgrenzung zum Wunsch als »Aufbietung aller Mittel« 9 die wichtige Funktion zu, die Verwechs7 Vgl. den Wortlaut des viel zitierten § 115 aus den Philosophischen Untersuchungen von Wittgenstein: »Ein Bild hielt uns gefangen. Und heraus konnten wir nicht, denn es lag in unsrer Sprache, und sie schien es uns nur unerbittlich zu wiederholen.« 8 Hannah Arendt verteidigt die oft vertretene These, in der Antike habe es keinen Willensbegriff gegeben und zeichnet die »Erfindung« des Willens als eine Art inneres Drama durch Paulus und Augustinus nach. Vgl. Hannah Arendt, »Das Wollen« (1974/1977), in: dies., Vom Leben des Geistes, hrsg. v. M. McCarthy, München 1979, S. 241–443 (Übersetzung Hermann Vetter). 9 Kant, GMS, AA 4:394.
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lung des Willens mit einer Art inneren Gesinnung abzuwehren. Das Bild vom Wollen als innerem Drama muss von Anfang an korrigiert werden. Dem Willen muss eine Handlungswirksamkeit zugesprochen werden, die es ausschließt, in reiner Möglichkeit zu verharren. Andererseits darf das Wollen nicht mit den Konsequenzen der Handlung identifiziert werden, dann würden zufällige Umstände zum Willen gehören, das ist für Kant völlig unplausibel. Der Willensbegriff muss also in dieser eigentümlichen Spannung zwischen Möglichkeit und Wirklichkeitsbezug entworfen werden. Kant legt einen begrifflichen Vorschlag vor, mit dem er die Einseitigkeit des Bildes vom Wollen kritisiert und korrigiert, aber auch keine einfache Identifikation des Wollens mit dem äußeren Handeln vornimmt. Er bringt einige Mühe dafür auf, die Tätigkeit des Wünschens differenziert zu analysieren, um die Grenze zwischen Wünschen und Wollen nicht einfach nur zu behaupten, sondern wirklich begrifflich zu entfalten. Dabei wird eine Fülle von Anwendungsgebieten sichtbar, in denen diese genaue Analyse aufklärend wirken kann. Ein wichtiges Gebiet ist für Kant die moralische Kritik und Selbstkritik. Die differenzierten Mittel seiner Analyse des Wünschens sollen auf die zweite Beschreibung des ersten Kapitels, den Dialog zwischen Frau Wollen und Herrn Wunsch, angewandt werden, um dies zu zeigen. Einen weiteren nötigen Schritt, nämlich die Art der Handlungswirksamkeit des Wollens differenziert zu zeigen und nicht als praktische Kausalität zu behaupten, deutet Kant dagegen nur an. Hierfür müssen andere theoretische Anschlüsse gesucht werden. Auf Wittgensteins philosophischem Denkweg taucht die Auseinandersetzung mit der Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille in Form zusammenhängender Bemerkungsgruppen in allen Phasen seines Werkes auf. Ihn interessiert besonders die Handlungswirksamkeit des Wollens im Unterschied zum Wünschen und insofern können seine Überlegungen gut dort angeschlossen werden, wo die kantische Analyse endet. Die Handlungswirksamkeit des Wollens entfaltet Wittgenstein nun aber nicht in genauen Analysen und Beschreibungen. Dieser gedankliche Weg wird von keinem der in diesem Kapitel behandelten Autoren beschritten und erfordert eine weitere Verschiebung der Fragestellung auf den Begriff des Handelns selbst, die im vierten Kapitel dieses Teils vollzogen wird (4. Kapitel: Konstruktion: Handeln als dialektischer Prozess von Entwerfen und Gestalten). Wittgenstein konzentriert sich vielmehr auf eine merk124 https://doi.org/10.5771/9783495817360 .
Einleitung zum zweiten Kapitel
würdige doppelte Bedeutung des Willensbegriffs, die der Begriff des Wünschens nicht hat. Die Tätigkeit des Wünschens kann zum Gegenstand unseres Nachdenkens gemacht werden. Bei der Tätigkeit des Wollens ist das in einem bestimmten Sinne nicht möglich und in einem anderen ist es möglich. Wenn wir nämlich über die Tätigkeit des Wollens nachdenken, sie beschreiben, abgrenzen, analysieren, dann vollziehen wir die Tätigkeit des Wollens gleichzeitig. Die Tätigkeit des Wollens ist ein grundlegender Vollzug, den wir nicht vergegenständlichen und nicht aussetzen können. Er macht uns als Handelnde aus und liegt unseren speziellen Handlungen, zum Beispiel unseren Erkenntnisbemühungen, immer im Rücken. Dass wir wollen, zeigt sich sozusagen in allem, was wir tun. Und andererseits manifestiert sich unser Wollen in unseren Handlungen. Wittgenstein eruiert in den früheren und mittleren Bemerkungsgruppen die Plausibilität der Behauptung Schopenhauers, unser Wollen manifestiere sich unmittelbar in unseren Muskelempfindungen. 10 Damit komme dem »Leib« (so heißt es bei Schopenhauer) bzw. dem »Körper« (davon spricht Wittgenstein) als direktem Ausdruck des Willens eine herausgehobene Bedeutung zu. Wittgenstein nimmt diesen Gedanken sehr ernst und erteilt damit einem Bild vom inneren Wollen, wie Sigwart es (explizit gegen Schopenhauer) entwirft, eine deutliche Absage. Sein wiederholtes Nachdenken über Wollen und Wünschen hat auch damit zu tun, dieses Bild und seine problematischen Implikationen vom Geistigen als etwas Innerem zu kritisieren und andere Betrachtungsweisen auszuprobieren. In den späteren Bemerkungsgruppen hat es den Anschein, als würde Wittgenstein zu dem Gedanken Schopenhauers auf Distanz gehen und stattdessen zum genauen Hinschauen auf die Vielfalt der Handlungsformen auffordern. 11 Die doppelte Bedeutung des Wollens als eines irreduziblen, nicht objektivierbaren praktischen Vollzugs mit vielfältigen Erscheinungsweisen muss bei dieser erneuten Betrachtung als schwer zu fassende Zusammengehörigkeit bewahrt werden, wodurch sich das Wollen in seinen Augen nach wie vor von den Aktivitäten des Wünschens unterscheidet. Mit der früheren Bemerkungsgruppe meine ich die Einträge in den Tagebüchern 1914–1916 vor allem vom 5.7.16, 8.7.16, 21.7.16, 29.7.16, 2.8.16, 15.10.16, 17.10.16, 4.11.16, 9.11.16. Für die mittlere Bemerkungsgruppe beziehe ich mich vor allem auf das Braune Buch, Teil I, Abschnitt 140, S. 228–236. 11 Für die späte Bemerkungsgruppe orientiere ich mich an den letzten Paragraphen von Teil 1 der Philosophischen Untersuchungen, vor allem PU §§ 611–632. 10
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Wittgensteins Bemerkungen sind sperrig und knapp und genauso experimentell wie provokativ. Er hat keine Theorie vom transzendentalen Charakter des Wollens entworfen und keine Phänomenologie der (leiblichen) Erscheinungsweisen des Wünschens. Aber er hat unser Bild vom inneren Wollen irritiert und auf einer Schwierigkeit in unserem Reden und Nachdenken über das Wollen insistiert. In seinen frühen Überlegungen hat er dafür eine aufklärende Unterscheidung eingeführt. Sätze über das Wollen sind keine sinnvollen, sondern sinnlose Sätze. Wittgenstein hat diese Unterscheidung in der Zeit nach dem Tractatus logico-philosophicus weitgehend aufgegeben, nicht aber die Einsicht in den besonderen, sich systematisch entziehenden Charakter des menschlichen Wollens. Eine Philosophie des Wollens, die dem nicht Rechnung trägt, übersieht etwas Wichtiges. Wittgenstein klagt in immer neuen Versuchen ein, dies nicht zu übersehen. Die besondere Rolle des Leibes bzw. Körpers für den Willen, die Wittgenstein in seiner späteren Philosophie nicht zurückweist, sondern von ihrem (metaphysischen) Behauptungscharakter befreit, soll am Ende des Abschnitts über Wittgenstein (2.3 Wittgenstein: Über die Gefahren, Wunsch und Wille zu verwechseln) als Leitfaden dafür dienen, die dritte Beschreibung des ersten Kapitels 12 wieder aufzugreifen und mit Rücksicht auf die Perspektiven Wittgensteins weiter zu entfalten. Die Anordnung der Autoren und Abschnitte folgt demnach keiner historischen Ordnung. Ordnungsstiftend ist die Arbeit am Bild des Willens.
2.1 Sigwart zur inneren Dramaturgie des Wollens und Wünschens Sigwart unternimmt in seiner Studie Der Begriff des Wollens und sein Verhältnis zum Begriff der Ursache den Versuch, Distinktionen über das menschliche Wollen zu restituieren, die im Anschluss an die Willensmetaphysik Schopenhauers durcheinander und in Vergessenheit geraten seien. Schopenhauers Hypostasierung des Willens als eigenes Tätigkeitszentrum habe die Tätigkeit des Wollens unverständlich werden lassen, indem er den Ausdruck »Wille« aus den in der populären Sprache üblichen Verwendungen herausgelöst habe. 12
Vgl. Teil I, Kapitel 1.3.
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Sigwart zur inneren Dramaturgie des Wollens und Wünschens
Dort nämlich bezeichne »Wille« zum einen den Inhalt eines bestimmten Wollens (»dein Wille geschehe«, »sein letzter Wille«) und zum anderen als Verbalsubstantiv »das Wollen« die Form der Tätigkeit von Subjekten (»die Freiheit des Willens«, »der feste Wille«). Schopenhauer dagegen postuliere den Willen als Grundkraft der Welt, bei dem die Fragen »Wer will?« und »Was wird gewollt?« nicht mehr gestellt werden könnten. 13 Schopenhauer scheint für Sigwart der extremste Vertreter in einem Theoriestreit über die Konzeptualisierung des menschlichen Wollens zu sein. Sigwart deutet das menschliche Wollen als Verlauf mit zwei wesentlichen Phasen, wovon die erste sich im Inneren und die zweite im Außen abspielen soll. Der Streit, den er unter den Wissenschaftlern seiner Zeit diagnostiziert, richtet sich auf die Frage, welche dieser Phasen die eigentlich wichtige sei. Die beiden Lager in diesem Streit ergeben sich für Sigwart aus dem wissenschaftlichen Interesse am menschlichen Wollen. In psychologischer und moralischer Betrachtung sei die erste Phase, die sich rein im Inneren abspielen soll, das Wichtigste, die zweite Phase sei demgegenüber eine Art Nachspiel, für das eigentliche Wollen von untergeordneter Bedeutung. In historischer und juristischer Betrachtung werde genau anders herum die zweite Phase als das Wesentliche bewertet. Denn erst mit dem Handeln gewinne das Wollen Bedeutung für andere und trete heraus in die gemeinsame Welt, während der innere Prozess als eine Art Vorbereitung gelten könne. Der Wille ist in dieser Betrachtung als die Tätigkeit zu verstehen, die Bewegungen hervorrufe, deren notwendiges Korrelat die Tat als Veränderung der körperlichen Welt sei. Für diejenigen Zustände des Bewusstseins, die keine Taten zur Folge haben, wären deshalb andere Bezeichnungen zu wählen, wie zum Beispiel »Wünschen« im Unterschied zum »Wollen«. Sigwart erteilt diesem Vorschlag eine Absage, da eine derartige Entscheidung den wissenschaftlichen Sprachgebrauch mit dem allgemeinen in eine Kollision bringen würde, die für Fragen der Psychologie und Moral problematisch sei, weil die Verwendung des Ausdruckes »Wollen« dann gar nicht mehr verständlich sei und unsere Redeweisen keine Aufhellung mehr finden würden. Denn nach diesem Theorievorschlag müssten wir unseren Sprachgebrauch korrigieChristoph von Sigwart, »Der Begriff des Wollens und sein Verhältnis zum Begriff der Ursache« (1879), a. a. O., S. 119.
13
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ren und könnten erst von dem Willen, heute Nachmittag abzureisen, sprechen, wenn wir den Weg zum Bahnhof einschlügen. Man dürfe dann streng genommen immer nur von dem Wollen der Bewegung, nicht einmal vom Wollen des nächsten Erfolges reden. 14 So zugespitzt lässt sich sagen, dass Sigwarts Anliegen mit dieser Schrift darin besteht, Unterscheidungskritik zu üben, also Kritik an der Unterscheidung zwischen Wünschen und Wollen, wenn das Kriterium der Unterscheidung in der äußeren Erscheinung im Handeln liegen soll. Er argumentiert gegen eine derartige Grenzziehung zwischen Wünschen und Wollen. Es sei falsch, die Grenzlinie beim Handeln zu ziehen (wie sie seines Erachtens Schopenhauer ziehe). Dagegen sei die Unterscheidung innerhalb der Dramaturgie des Wollens richtig verstanden und richtig platziert, die sich im Inneren des Menschen abspiele. Wir würden nämlich vom »Wunsch« da sprechen, wo die Umsetzung des Gewollten nicht möglich sei. Damit komme der innere Prozess zu einem Ende. Der Wunsch markiere damit den äußersten Pol einer dynamischen Einteilung von Stärkegraden des Wollens, durch die der Übergang von dem inneren Prozess in den äußeren Prozess interpretiert wird. Sigwart präsentiert seinen positiven Vorschlag in unterscheidungskritischer Absicht in Form einer ausgesprochen plastischen Beschreibung der Tätigkeit menschlichen Wollens, die sich eng an der »Sprache des gewöhnlichen Lebens« orientiert. Sein Anspruch ist es, sich nah an den common sense zu halten und geteilte Überzeugungen in eine theoretische Form zu bringen. Mein Vorgehen in diesem Abschnitt ist nun das folgende: Im ersten Schritt sollen die verschiedenen Stadien dieses inneren Prozesses der Willensbildung präsentiert werden. Da die Gefahr besteht, dass eine plastische Ausführung wie die von Sigwart durch Zusammenfassung gerade ihre Plastizität verliert, will ich hier versuchen, meine Zusammenfassung der Stadien an einem Beispiel zu illustrieren. Ich verwende in Rückbezug auf das erste Kapitel das Beispiel 15 einer Person, die am darauffolgenden Tag mit dem Schreiben eines Artikels beginVgl. ebd., S. 138. Hier ist der in der Einleitung zum ersten Kapitel entwickelte Unterschied zwischen der Beschreibung von Situationen und Beispielen wichtig. Ein Beispiel ist eine Illustration eines theoretischen Modells. Ich nehme hier das Thema aus der ersten Beschreibung auf und verwende es als beispielhafte Illustration. Ich wechsle dabei bewusst von der grammatischen Form des Konjunktivs in die des Indikativs.
14 15
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Sigwart zur inneren Dramaturgie des Wollens und Wünschens
nen will (2.1.1 Das Phasenmodell des Wollens). Sigwart unterscheidet in seinen Überlegungen zum Wünschen als Grenzphänomen des Wollens zwei Funktionen, die im zweiten Schritt diskutiert werden sollen (2.1.2 Die beiden Funktionen von Wünschen). Konfrontiert man nun das von Sigwart gezeichnete Bild vom Wollen mit der ersten Beschreibung über Wünschen und Wollen im reflexiven Selbstverhältnis, tut sich eine Reihe von Schwierigkeiten auf, die im dritten Schritt artikuliert werden sollen (2.1.3 Kritische Perspektiven).
2.1.1 Das Phasenmodell des Wollens Wollen bedeutet nach Sigwart zunächst, die Vorstellung eines künftigen Zustandes zu entwickeln, die von dem Gedanken begleitet ist, dass es in der Macht des Subjektes steht, diese zu verwirklichen und dass sie mit einem Reiz, einem Interesse verbunden ist. Wenn jemand morgen damit beginnen will, einen Artikel zu schreiben, dann stellt er sich selbst am kommenden Tag im Zustand des Schreibens vor, sieht sich in der Lage, dies zu tun und hat ein Interesse daran. Darauf folgt die Überlegung, ob die Vorstellung angesichts der Gesamtlage des Subjektes wirklich verfolgt werden solle und wie die Vorstellung mit Blick auf die realen Bedingungen verwirklicht werden könne. Unsere Beispielperson überlegt also, ob das Schreiben des Artikels im Verhältnis zur gegenwärtigen Lage und den anderen Zielen und Verpflichtungen einerseits richtig und andererseits umsetzbar ist. Daran kann sich die »Willensentscheidung« anschließen, den vorgestellten künftigen Zustand als seinen Zweck zu setzen oder nicht. Dieser Beschluss hat die Gestalt eines Schlusses, in dem die Prämissen die »Räthlichkeit« und »Möglichkeit« des Projektes sind. Dieser Beschluss ist ein rein innerer Vorgang, der in Form des bejahenden Beschlusses als »Ich will den Zweck verwirklichen« ausgesprochen werden kann. Diese Verwirklichung kann durch eine rein gedankliche Tätigkeit des Subjektes geschehen oder durch ein mit körperlicher Bewegung verbundenes Tun oder durch die Aufforderung an Dritte, den Zweck zu verwirklichen. Im Falle des verneinenden Beschlusses weist das Subjekt die Vorstellung des künftigen Zustandes als zu verfolgenden Zweck zurück. Damit ist der erste, im Inneren des Subjektes stattfindende »Akt des Dramas« beendet. Für den Fall des Schreiben-Wollens ist die Beispielperson in ihren Überlegungen zu dem Ergebnis gekommen, dass das Schreiben des Artikels erstens ratsam 129 https://doi.org/10.5771/9783495817360 .
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und zweitens machbar ist. Auf dieser Basis folgt die Entscheidung: »Ich will morgen mit dem Schreiben des Artikels beginnen.« Der zweite Akt beginnt, der Prozess der Verwirklichung des Zwecks. 16 Hier differenziert Sigwart die erste Phase, die geeigneten Mittel festzustellen und deren Einsatz innerlich zu beschließen. Unsere Beispielperson überlegt, was nötig ist, um mit dem Schreiben des Artikels zu beginnen, wie einen geeigneten Arbeitsplatz zu finden, die günstigste Zeit am Tag zu bestimmen und das nötige Material aufzulisten. Die zweite Phase nennt Sigwart den »Willensimpuls«, der das Kommando gibt. Erst das ermöglicht die Handlung, die nichts als die »gewollte Bewegung« des Subjektes ist. Zu diesem Willensimpuls verfasst Sigwart einen längeren Zusatz, der zwei Funktionen hat. Die eine Funktion besteht darin, die »Seinsweise« dieses Willensimpulses zu reflektieren und die zweite darin, die dafür verwendete Unterscheidung zwischen willkürlicher und unwillkürlicher Bewegung in verschiedene Abstufungen aufzugliedern. In Bezug auf die erste Frage stellt Sigwart fest, dass dieser Willensimpuls nicht isoliert auftritt, da die durch ihn bzw. durch den von ihm ausgehenden Bewegungsimpuls initiierte Bewegung kein Selbstzweck ist, sondern um des gewollten Zweckes willen ausgeführt wird, und das Bewusstsein deshalb mit der Vorstellung des Erfolgs der Bewegung befasst ist. In Abhängigkeit von der bewussten Vorstellung des Erfolgs erstreckt sich das Bewusstsein des Wollens auch auf die notwendige Bewegung. Willkürliche Bewegungen unterscheiden sich von unwillkürlichen Bewegungen gerade durch das klare Bewusstsein ihres Zwecks und ihres darauf gerichteten Wollens. Am ehesten ist aber ein direktes Bewusstsein von dem Willensimpuls als psychischem Akt dann möglich, wenn eine Vorstellung längere Zeit unwirksam in unserem Bewusstsein geblieben ist und dann ausgeführt wird, oder wenn es gilt, durch Kraftanstrengung und das heißt intensiveres Wollen einen Widerstand zu überwinden. Wie sieht nun dieses Kommando im Falle der Beispielperson aus? Es richtet sich auf die Bewegungen, die nötig sind, um den Zweck, den Artikel zu schreiben, zu realisieren, also sich an den ausgewählten Ort zu begeben, die Materialien wie Stift und Papier zur Hand zu nehmen. In Form einer quasi an sich selbst gerichteten Aufforderung: »Jetzt steh’ auf und geh an den Schreibtisch!« erscheint dieser WilSigwart, »Der Begriff des Wollens und sein Verhältnis zum Begriff der Ursache« (1879), a. a. O., S. 127.
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Sigwart zur inneren Dramaturgie des Wollens und Wünschens
lensimpuls aber nur dann, wenn ein Widerstand überwunden werden muss, wenn man zum Beispiel an einem kalten Wintermorgen das warme Bett verlassen muss oder nach längerer Krankheit wieder aufsteht. Die Unterscheidung zwischen unwillkürlichen und willkürlichen Bewegungen wird in verschiedene Abstufungen aufgegliedert, die sich ergeben, je nachdem, wie auf die Zweckerfüllung gerichtetes Streben und Bewegungsimpuls zusammenwirken. Sigwart schlägt folgende Ordnung vor: Der willkürlichen Bewegung steht als äußerster Gegensatz die rein passive Bewegung gegenüber, die durch äußere Einwirkung (wie Zug oder Druck, wie wenn ein anderer den eigenen Arm hebt oder beugt) ohne Beteiligung des Subjektes geschieht. Dadurch wird ein Spektrum aufgespannt, in dem Zwischenstufen möglich werden. Die erste Zwischenstufe vom Extrem der passiven Bewegungen her gesehen besteht in den Reflexbewegungen, die nicht bewusst intendiert, sondern Vollzüge des Körpers sind, die sich ein Subjekt selbst zuschreibt, weil der äußere Zwang fehlt und es eine Gewohnheit ausgebildet hat, den eigenen Leib und seine Teile als »Ich« zu bezeichnen, wie z. B.: »Mein Finger zuckt«, »Meine Brust hebt und senkt sich.« Die dritte Stufe bilden die Bewegungen aus Gefühlserregungen, wie der mimische Ausdruck der Gefühle durch Gesichtsmuskeln, Herzklopfen, Zittern. Ein innerer Gefühlszustand hat hier die Bewegung initiiert, dieser Zustand ist aber kein bewusster Akt der Vorstellung eines Zustandes. Erst mit Letzterem ist die andere Richtung des Spektrums erreicht, die willkürliche Bewegung, die gekennzeichnet ist durch die Vorstellung der Bewegung und ihres nächsten Erfolges. Darin liegt der willentliche Aspekt der Bewegung, der der Bewegung selbst nicht anzusehen ist. Um nun die Bewegungen von anderen als willentliche Bewegungen zu verstehen, müssen wir durch Übertragung von uns auf andere schließen. Nun ist aber in dem Feld der Bewegungen, die wir willkürlich ausführen können – das sind alle Bewegungen, die wir gelernt haben –, wiederum eine Differenzierung nötig, denn wir machen auch gelernte Bewegungen unwillkürlich. Die vierte Stufe sind deshalb unwillkürlich ausgeführte gelernte Bewegungen, die zweckmäßig oder unzweckmäßig sein können. Im ersten Fall kann man sie instinktiv und im zweiten übereilt nennen. Die fünfte Stufe stellt die andere Begrenzung des Spektrums dar, die gewollten Bewegungen. Im Falle unserer Beispielperson sind die Bewegungen, aufzustehen, in das andere Zimmer zu gehen und den Stift zur Hand zu nehmen, gewollte Bewegungen. 131 https://doi.org/10.5771/9783495817360 .
2 · Analysen: Vom Wollen als mentale Anstrengung zur Muskelempfindung
Der Prozess kann in der letzten Phase, der Befriedigung durch Erreichen des Zweckes, zum Abschluss kommen, wenn die Wirkung der willkürlichen Bewegung und ihrer Folgen in der Erfüllung der Vorstellung besteht. Wenn die Beispielperson in der Zeit, die sie sich reserviert hat, das Thema des Artikels konkretisiert und dies auf einigen Seiten skizziert hat, kann man sagen, dass das Schreiben des Artikels begonnen wurde und der gewollte Zweck realisiert ist.
2.1.2 Die beiden Funktionen von Wünschen In einem zweiten genaueren Durchgang durch die verschiedenen Akte, Stadien und Phasen des Modells verfolgt Sigwart den Zweck, die Perspektive zu stärken, die den ersten im Inneren befindlichen Akt des Wollens für den eigentlich wichtigen hält und gegen die zweite zu profilieren, aus der folgen würde, die Verwendung des Ausdrucks »Wollen« stark einzuschränken und eine scharfe Grenze zu solchen bewussten volitionalen Zuständen einzuführen, die keine Wirkung in der geteilten Außenwelt entfalten. Dabei wird der Ausdruck »Wunsch«, den die theoretischen Gegner zur Bezeichnung der inneren Akte verwenden wollen, die keine Wirkung in der Außenwelt entfalten, für einen bestimmten Zustand in dem Phasenmodell des Wollens reserviert. Dies soll im Folgenden betrachtet werden. Sigwart geht erneut die drei Stadien des ersten Aktes durch und differenziert das dritte Stadium, das er »Willensentscheidung« nennt. Hier sind verschiedene Arten in Abhängigkeit von dem Verlauf des zweiten Stadiums denkbar, das ist die Überlegung, in der die beiden Fragen »Soll ich?« und »Kann ich?« beantwortet werden. Für den Fall, dass die Frage »Soll ich?« eindeutig positiv entschieden wird, in Bezug auf die Frage »Kann ich?« aber das Ergebnis ist, dass die Realisierung des Zweckes von Faktoren abhängt, auf die das Subjekt keinen Einfluss hat, ist ein Wollen unmöglich und der Zustand ist als »Wunsch« zu bezeichnen. Der Wunsch »ist das durch die denkende Reflexion hindurchgegangene innere Hinstreben nach einem Zustande, den ich als ein Gut vorstelle, den ich aber weder mit Sicherheit erwarten noch selbst herbeiführen kann.« 17 Damit knüpft Sigwart an das Unterscheidungskriterium an, das sich auf den Charakter des Gewünschten richtet und er kontrastiert den Wunsch, indem er diesen 17
Ebd., S. 149.
132 https://doi.org/10.5771/9783495817360 .
Sigwart zur inneren Dramaturgie des Wollens und Wünschens
als reflektiertes Streben bestimmt, mit Formen des unreflektierten Begehrens oder Strebens wie den Trieb. Das Verhältnis zwischen Wunsch und Wille betrachtet Sigwart in zwei sehr verschiedenen Perspektiven. In der ersten Perspektive kommt dem Wunsch gegenüber dem Wollen die Funktion zu, losgelöst von den Beschränkungen des Realen bessere Möglichkeiten zu entwerfen. Sigwart spricht vom »Idealismus des Wünschens«, um diese Funktion des freien Entwerfens zusammen mit der Funktion auszudrücken, die Aufmerksamkeit auf Gelegenheiten der Verwirklichung hin zu orientieren. Diese Orientierungsfunktion ermöglicht dann auch, dass Wünschen in Wollen übergeht. In der zweiten Perspektive kontrastiert Sigwart das ernsthafte reale Wollen mit dem Wünschen als »gehoffte oder geträumte Befriedigung unserer Neigungen«. Wünschen kann in dieser Perspektive als »bloßes Wünschen« charakterisiert werden, das die Schritte der Verwirklichung überfliegt und meidet. Die Funktion ist hier die, eine Gegenwelt der Wünsche zu erzeugen, die von der Aufgabe der Realisierung zu entbinden scheint. Sigwart differenziert zwei Betrachtungsweisen von Wünschen und nicht zwei Arten des Wünschens, wie z. B. kreative Wünsche und bloße Wünsche. Ohne die möglichen Implikationen der Verschiedenheit einer Unterscheidung von Arten und einer Unterscheidung von Betrachtungsweisen zu reflektieren, scheint er damit doch zum Ausdruck zu bringen, dass Wünsche oft zwischen den verschiedenen genannten Funktionen changieren und dass es prinzipiell möglich, wenn auch nicht in jeder Situation sinnvoll ist, beide Perspektiven auf Wünsche einnehmen zu können. Der Wunsch ist die erste Erscheinungsweise einer Willensentscheidung, die die eine Grenze des sinnvollen Gebrauchs des Ausdrucks »Wollen« markiert. Hätte also die Überlegung unserer Beispielperson ergeben, dass die Bedingungen nicht gegeben sind, um den Artikel zu schreiben, etwa wegen mangelnder Zeit, dringenderer Aufgaben oder fehlender Kompetenz für das Thema, am Schreiben des Artikels aber weiterhin großes Interesse besteht, dann hätte die Beispielperson den Wunsch, den Artikel zu schreiben. Sigwart führt vier weitere Erscheinungsweisen vor, Absicht, hypothetisches Wollen, Vorhaben bzw. Vorsatz und Entschluss. Im Falle der Absicht hat das Stadium der Überlegung ergeben, dass die Möglichkeit der Realisierung zwar gegeben ist, aber nicht unmittelbar. Unsere Beispielperson hat die Absicht, den Artikel zu schreiben, wenn ihr klar ist, dass 133 https://doi.org/10.5771/9783495817360 .
2 · Analysen: Vom Wollen als mentale Anstrengung zur Muskelempfindung
erst einige dringendere Aufgaben erledigt werden müssen und dann der nötige Freiraum für das Verfassen des Artikels besteht. Im Falle des hypothetischen Wollens wird der Zweck bejaht, wenn bestimmte andere Bedingungen erfüllt sind. Für die Beispielperson könnte das bedeuten, dass sie den Artikel dann (hypothetisch) schreiben will, wenn die Wahrscheinlichkeit hoch ist, dass der Artikel einen Zuwachs an Reputation ergibt. Im Falle des Vorsatzes wird der Zweck bejaht und eingesehen, dass die passende Zeit der Ausführung in der nahen Zukunft liegt oder die faktische Realisierungsmacht zurzeit nicht gegeben ist. Unsere Beispielperson könnte dann den Vorsatz fassen, den Artikel zu schreiben, wenn sie einsieht, dass bestimmte absehbare Vorbereitungen nötig sind, um mit dem Schreiben zu beginnen oder wenn sie mit starker Grippe aufwacht. Hat die Überlegung auf die Frage »Soll ich?« keine eindeutige Antwort gefunden, nimmt die Willensentscheidung die Form des Entschlusses an, durch den der Überlegungsprozess durch eine Bejahung oder Verwerfung des Zwecks abgebrochen wird. Sigwart beansprucht mit seinem Phasenmodell des Wollens nahe am alltäglichen Sprachgebrauch seiner Zeit zu sein. Bei seiner Theoretisierung des alltäglichen Sprachgebrauchs ist eine Unterscheidung leitend, die Unterscheidung zwischen Innen und Außen. Das Innere ist verstanden als geistiger Prozess und das Äußere sowohl als sichtbares Handeln wie auch als für andere wahrnehmbare Bewegung. Wollen ist im Wesentlichen ein in diesem Sinne innerer Prozess und die Seite des Äußeren ist demgegenüber die sekundäre Umsetzung. Diese Vorstellung schlägt sich nicht nur in der Alltagssprache nieder, sondern in vielen Theorien des Willens aus der philosophischen Tradition und der Gegenwart. Sigwart präsentiert damit folgenden Ordnungsvorschlag für die verschiedenen Unterscheidungsmöglichkeiten von Wunsch und Wille: Die Grenzlinie durch die Realisierung des Vorhabens zu ziehen und die innere Seite als »Wunsch« und die äußere sichtbare Seite als »Wille« zu bezeichnen, weist er zurück. Denn damit werde der viel wichtigere innere Prozess des Willens einfach ausgeblendet. Ein solches Vorgehen habe keinen Halt in unserem Sprachgebrauch und erweise sich als unbrauchbare Begriffsbildung für moralische und psychologische Fragen. Die Grenzlinie müsse anders verlaufen. Der angemessenere Kontext für die Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille ist das Phasenmodell des Willens, das so plastisch wie ein Drama inszeniert wird, dass es naheliegt, es in folgender »dramatur134 https://doi.org/10.5771/9783495817360 .
Sigwart zur inneren Dramaturgie des Wollens und Wünschens
gischer« Übersicht zusammenzubringen. Dieser Verlauf entfaltet das, was in Sigwarts Definition des Willens zusammengedrängt ist: Wille = (Def.) Vorstellung eines künftigen Zustandes, an dem das Subjekt ein Interesse hat und von dem das Subjekt meint, er läge im eigenen Einflussbereich. Prozess des Wollens: 1. Akt 1. Szene: Überlegung
a) Soll ich? b) Kann ich? 2. Szene: Willensentscheidung, ob Zwecksetzung erfolgen soll oder nicht, 2 Möglichkeiten: 1) Soll ich? ist positiv beantwortet Kann ich? Wenn nicht positiv beantwortet, dann können Antworten sein: – Kann ich: vollkommen unmöglich (Wunsch) – Kann ich: später (Absicht) – Kann ich: unter bestimmten Bedingungen (hypothetisches Wollen) – Kann ich: in naher Zukunft (Vorsatz) 2) Soll ich? Wenn nicht entschieden, dann sind möglich: – Entschluss – unschlüssig oder unentschlossen 2. Akt 1. Szene: Überlegung:
a) Mittel finden b) Mittelverwendung beschließen
2. Szene: Willensimpuls Finale: Verwirklichung der Vorstellung
Der Ort des Wünschens ist in dieser Dramaturgie genau zu markieren, er gehört in die zweite Szene des ersten Aktes zur Phase der »Willensentscheidung«. Hier werden Zwecke und Mittel im Verhältnis zueinander beurteilt und daraus ergeben sich Modifikationen der Willensentscheidung. Diese Modifikationen sind Stärkegrade, die in Abhängigkeit von der Zugänglichkeit der Mittel entstehen. Der Wunsch markiert den geringsten Grad, weil die Zugänglichkeit der Mittel negativ beurteilt wird. Er begrenzt gewissermaßen das Kontinuum der Stärkegrade. Da mit der negativen Antwort auf die Frage 135 https://doi.org/10.5771/9783495817360 .
2 · Analysen: Vom Wollen als mentale Anstrengung zur Muskelempfindung
»Kann ich?« der Prozess an ein Ende kommt, bildet der Wunsch in der Dramaturgie gewissermaßen eine Sackgasse, an der es nicht weitergeht und der Willensprozess abbricht. In diesem Sinne ist das Wünschen vom Wollen zu unterscheiden und erfüllt nicht die Definition des Willens, sondern müsste gerade durch die Negation des zweiten Definitionsmerkmals als Vorstellung eines künftigen Zustandes bestimmt werden, an dem das Subjekt ein Interesse hat und von dem das Subjekt nicht meint, er läge im eigenen Einflussbereich. Das Wünschen markiert also eine Grenzstelle innerhalb des Prozesses des Wollens und gehört als solche dazu und auch nicht dazu. Diese eigentümliche Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit zu dem, was sie begrenzen, machen Grenzen sicher zu einem interessanten und begrifflich wie phänomenal schwer zu handhabenden »Gegenstand«. 18 Möglicherweise führt der Charakter des Wünschens als Grenze des Wollens auch dazu, dass Sigwart sich länger mit dem Wunsch als mit den anderen Stärkegraden wie Absicht, hypothetisches Wollen und Vorsatz beschäftigt und verschiedene Betrachtungsweisen vornimmt. Als Grenze des Wollens hat der Wunsch etwas mit dem Wollen gemeinsam, beide sind »durch Reflexion hindurchgegangen« und beide sind ein Hinstreben nach einem Zustand, der als Gut vorgestellt wird. Als Grenze fällt der Wunsch auch aus dem Bereich des Wollens heraus, nämlich dadurch, dass der gewünschte Zustand weder mit Sicherheit erwartet, noch selbst herbeigeführt werden kann. Damit werden solche Fälle umfasst, in denen das vorgestellte Gut mit der wünschenden Person zu tun hat, z. B.: »Ich wünsche mir, dass ich fliegen kann«, oder mit einer anderen Person, z. B.: »Ich wünsche mir, dass der Athlet gewinnen möge«, oder mit einem Ereignis, z. B.: »Ich wünsche mir einen regenfreien Sommer.« Die Erwartbarkeit oder die »Herbeiführbarkeit« durch den Wollenden sind Sinnbedingungen des Wollens. Wünsche können im Gegensatz zum Wollen stehen, wenn die Suche nach Mitteln der Umsetzung geradezu vermieden werden soll. Wünsche können aber auch unter bewusster Abblendung von realen Bedingungen Möglichkeiten entwerfen, die in Wollen übergehen können. Bei Wünschen als Begrenzungen des inneren Prozesses des Wollens scheint sich der Grenzcharakter in dreierlei Weise äußern zu können. Erstens kann die Grenze als Beschränkung und Beendigung
18
Vgl. zur Grenzziehung und Grenze die Überlegungen in Teil II, Kapitel 2.2.3.
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Sigwart zur inneren Dramaturgie des Wollens und Wünschens
eines Prozesses verstanden werden. Es sind keine Mittel für die Umsetzung vorhanden, es kommt zum Abbruch. Zweitens kann die Grenze als Gegenkraft zum Prozess des Wollens verstanden werden. Und die dritte Möglichkeit liegt darin, die Grenze als Aufforderung zur Grenzüberschreitung zu verstehen. Wünsche können verschiedene Stärkegrade annehmen, die sich an der Verfügbarkeit der Mittel bemessen. Als Begrenzung dieses Spektrums kann dem Wunsch gewissermaßen entweder der Stärkegrad »0« zukommen (wenn die Einsicht, dass keine Mittel verfügbar sind, den Prozess beendet). Oder ihm kann ein geringer Stärkegrad zukommen, als unterster Rand des Spektrums zunehmender Stärkegrade (wenn zwar keine Mittel verfügbar sind, aber der Entwurfscharakter von Wünschen die Aufmerksamkeit auf mögliche Realisierungen wach hält). Oder ihm kann geradezu ein negativer Stärkegrad zukommen, wenn Wünsche hemmend auf die Einschätzung und Ausbildung von Mitteln wirken. Sigwart hat kein genuines Interesse am Phänomen des Wünschens. Sein Anspruch geht dahin, dem Wunsch einen klaren Platz in der Welt des Inneren zu geben. Wie diese Ausdrucksweisen des Wunsches zusammenhängen und ob sich näher betrachtet die Opposition zur Unterscheidung entlang der Grenzlinie des Handelns halten lässt, verfolgt Sigwart nicht weiter. Aber schon die wenigen Betrachtungen, die Sigwart anstellt, zeigen die Komplexität des Wünschens und die spannungsvolle Zusammengehörigkeit der verschiedenen Ausdrucksformen.
2.1.3 Kritische Perspektiven Es stellt sich die Frage, ob die Unterscheidungskritik von Sigwart, seine Verortung des Wunsches im dramatischen Verlaufsmodell und die damit verbundene Grenzziehung überzeugen können. Einige Schwierigkeiten zeigen sich, wenn man nach Situationen fragt, in denen Wünsche mit dem Stärkegrad »0«, einem geringen Stärkegrad oder gar einem negativen Stärkegrad vorkommen können. Man könnte zuerst bei den Gegenständen ansetzen, auf die sich Wünsche richten können. Es scheint Gegenstände zu geben, die man sich nur wünschen kann und solche, die man wollen kann. Wünschen kann man sich, unsterblich zu sein, fliegen zu können, dass der Lieblingssportler gewinnen möge. Wollen kann man, morgens früher aufzustehen, das Studium zu beenden, mehr Zeit zum Flöte Üben einzuset137 https://doi.org/10.5771/9783495817360 .
2 · Analysen: Vom Wollen als mentale Anstrengung zur Muskelempfindung
zen. Gegenstände, die man nur wünschen kann, scheinen solche zu sein, die unter menschlichen Bedingungen nicht erreicht werden können oder solche, auf die faktisch kein Einfluss besteht. Letztere Gegenstände könnte man unter veränderten Bedingungen wollen. Man kann wollen, dass der Lieblingssportler gewinnt, wenn man dessen Trainer ist und weiß, dass er Einsatz bringt, wenn man ihn nur gehörig unter Druck setzt. Es gibt also Gegenstände, die gewünscht oder gewollt werden können, abhängig von den Bedingungen. Wenden wir uns jetzt Gegenständen zu, für die die Realisierungsbedingungen in einer Situation nicht gegeben sind. Hierfür sind auch sehr verschiedene Möglichkeiten denkbar. Sigwart arbeitet für seine Kategorisierung von Stärkegraden gerade an der Varianz dieser Bedingungen, die zeitlicher, räumlicher, materieller oder ideeller Natur sein können. Für Wünsche ist es gerade kennzeichnend, dass die Bedingungen nicht bestehen und es auch keine Aussicht darauf gibt. Die Gründe dafür lassen sich nun der Außenwelt zuschreiben (bestimmte Ereignisse sind nicht erwartbar) oder unserer Einflussnahme und Handlungsmacht. Es gibt sowohl klare Fälle von fehlenden Einflussbedingungen wie auch klare Fälle, in denen Einflussmöglichkeiten gegeben sind. Sehr häufig zeigt sich aber erst in der Situation, ob es Einflussmöglichkeiten gibt oder wo hindernde Faktoren auftauchen. Wie zeigt es sich, ob Einflussmöglichkeiten gegeben sind oder nicht? Meist sind Möglichkeiten der Einflussnahme nicht einfach vorhanden, sondern es braucht eine eigene Anstrengung, um diese freizulegen. Es fragt sich dann, ob alle Möglichkeiten vergegenwärtigt, genutzt, erprobt oder erweitert worden sind. Damit verschiebt sich das Kriterium der Unterscheidung. Es richtet sich nicht mehr auf die Erreichbarkeit der Gegenstände, sondern auf die Gestaltung. Erreichbarkeit ist in vielen Fällen (nicht in allen) nicht einfach eine Frage der theoretischen Beurteilung, sondern der praktischen Gestaltung. Wenn diese praktische Gestaltung nicht geschieht, dann handelt es sich um einen Wunsch. Die Frage, an der die Unterscheidung getroffen wird, ist jetzt nicht mehr »Kann ich oder nicht?«, sondern: »Was tue ich, damit ich kann oder herausfinde, ob ich kann?« Die Beschreibung von Proust aus dem ersten Kapitel stellt gerade eine solche Situation aus diesem Zwischenbereich dar, in dem sich der Blick von den Gegenständen auf die eigenen Einflussmöglichkeiten verschiebt. Sigwart gibt solchen Erfahrungen in seinem Ordnungsvorschlag zwar einen Platz, nämlich als Varianten von Wünschen mit negativen Stärkegraden, aber die Frage ist, ob sein 138 https://doi.org/10.5771/9783495817360 .
Sigwart zur inneren Dramaturgie des Wollens und Wünschens
begriffliches Instrumentarium auch in der Lage ist, solche Situationen angemessen erfassen zu können. Lesen wir die erste Szene von Proust 19 mit Sigwarts Modell im Hintergrund, dann ergeben sich mehrere Deutungsmöglichkeiten. Der Protagonist der Szene fasste einen Entschluss (résolution). Im Modell Sigwarts gedeutet unterbricht er damit eine unentschiedene Überlegungskette, ob die Vorstellung zum Zweck gemacht werden solle oder nicht, durch einen »souveränen Akt des Wollens«. Gründe, die dafürsprechen, könnten darin bestehen, dass der Protagonist eine Berufung zum Schreiben empfindet oder dass das Schreiben ihn erfüllt und ihm gelingt, wenn er es denn unternimmt. Mögliche Gegengründe könnten sein, dass es große Anstrengung kostet, dass die Ansprüche des Publikums sehr hoch sind oder dass vieles andere auch wichtig wäre. Abwägungen dieser Art werden durch den Entschluss zu Schreiben unterbrochen. Dieser Entschluss liegt weit zurück und wird täglich wie erstmalig gefasst. Ist das dann noch ein Entschluss? Oder wird nicht die äußere Dramatik des Entschlusses vollzogen, aber in der stetigen Wiederholung sinnentleert? Und zeigt das nicht, dass Entschlüsse, mit denen so etwas möglich ist, dass sie zwar täglich erneuert werden, das Handeln aber weit dahinter zurückbleiben kann, wenig mit Wollen zu tun haben? Möglicherweise liegt aber nur ein Übersetzungsproblem vor und die Übersetzerin Prousts hätte den Sinn der Stelle besser getroffen, wenn sie für »résolution« nicht »Entschluss«, sondern »Vorsatz« geschrieben hätte. Einen Vorsatz zu haben, bedeutet in Sigwarts Phasenmodell, die Frage »Soll ich?« unbedingt positiv, die Frage »Kann ich?« dagegen nur bedingt zu beantworten, weil es noch weiterer leicht überschaubarer Umstände zur Realisierung bedarf. Aber auch diese Deutung wird durch Proust an ihre Grenze geführt. Der Vorsatz
Ich erinnere an die entsprechende Passage aus Teil I, Kapitel 1.1: »Ich machte es wie er, und wie ich es immer schon gemacht hatte seit meinem alten Entschluss, mich ans Schreiben zu begeben, der so weit zurücklag, mir aber von gestern zu stammen schien, weil ich ihn immer von einem Tag zum andern als noch nicht gefasst betrachtet hatte. Ich machte es ebenso auch an diesem Tag und ließ wieder, ohne irgendetwas zu tun, seine Regenschauer und hellen Durchblicke zwischen Wolken vorüberziehen, während ich den festen Vorsatz fasste, mit der Arbeit am nächsten Tage zu beginnen. Doch unter einem wolkenlosen Himmel war ich dann der gleiche nicht mehr; der goldene Ton der Glocken enthielt wie der Honig nicht nur Licht, sondern vermittelte auch die Empfindung von Licht […].« (Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, a. a. O., Bd. VIII, S. 2858–2859).
19
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2 · Analysen: Vom Wollen als mentale Anstrengung zur Muskelempfindung
zu schreiben wird gefasst, aber am nächsten Tag sind die Mittel nicht vorhanden, die passende Zeit der Ausführung ist nicht gekommen. Das beständige Aufschieben des Entschlusses oder des Vorsatzes legt noch eine dritte Deutung nahe. Proust führt gar keinen Entschluss und auch keinen festen Vorsatz vor, vielmehr wird eine Szene entworfen, in der der Protagonist einen Vorwand für seine Unentschlossenheit sucht. Unentschlossen ist gemäß Sigwart der, der »geneigt ist, seine Entscheidungen hinauszuschieben«. 20 Sigwart könnte vielleicht zustimmen, dass es mit zum Erscheinungsbild des Unentschlossenen gehören kann, sich selbst Vorsätze und Entschlüsse vorzuspielen. Damit es sich »wirklich« um Entschlüsse und Vorsätze handelt, müssen bestimmte Vorbereitungen getroffen werden. Wie aber kann man die erkennen, wenn nicht im Handeln? Proust scheint in seiner Beschreibung ein Problem bei der Bestimmung von Entschlüssen oder Vorsätzen aufzuzeigen. Wann ist etwas ein Entschluss, wann ein Vorsatz? Hier gibt es eine prinzipielle Unbestimmtheit. Es können alle Charakteristika des Vorsatzes gegeben sein, und doch ist es denkbar, dass sich ein Spiel wie das von Proust beschriebene entspinnt und die Begriffe an ihre Grenze geführt werden. Diese Unbestimmtheit ist anderer Art als das Problem der semantischen Vagheit, das sich auf die Unschärfe der Anwendung von Begriffen richtet. Hier geht es um eine Unbestimmtheit, die charakteristisch für unser Handeln, für menschliche Praxis überhaupt ist. Vorstellungen, Absichten, Vorhaben oder Ausrichtungen auf die Zukunft ist eine konstitutive Unbestimmtheit eigen. Es sind Bestimmungsprozesse nötig, Gestaltungen in der Wirklichkeit. Diese Unbestimmtheit ist kein Mangel und an sich selbst nicht problematisch. Sie wird zu einem Problem, wenn Bestimmtheit suggeriert wird und die Gestaltungs- und Bestimmungsprozesse nur als äußerliche Umsetzung verstanden werden. Die Gestaltungs- und Bestimmungsprozesse eliminieren nun aber nicht einfach Unbestimmtheit, sondern erzeugen durch die Vielfalt der Anschlüsse neue Formen von Unbestimmtheit. 21 Proust interessiert dies Verhältnis von Unbestimmtheit und Bestimmtheit. Hält man die beiden ausgewählten Passagen (die »Wunsch-Passage« und die »Willens-Passage«) direkt nebeneinander, Sigwart, »Der Begriff des Wollens und sein Verhältnis zum Begriff der Ursache« (1879), a. a. O., S. 152. 21 Vgl. dazu Teil I, Kapitel 4. 20
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Sigwart zur inneren Dramaturgie des Wollens und Wünschens
wird das sehr deutlich. Während in der »Wunsch-Passage« die Wiederholung des alten Entschlusses (ma vieille résolution) und die Wirkung dieser Wiederholung beschrieben werden, beginnt die »WillensPassage« 22 kontrapunktisch dazu mit einer Bereitschaft für die literarische Gestaltung, ohne sich bewusst dazu entschlossen zu haben (sans m’y être consciemment résolu). Der bewusste Entschluss kommt hier nicht als isolierter Akt vor, er ist nicht das Paradigma des Willens, sondern das feine Gefüge aus Erinnerungen, Empfindungen, Gefühlen, Gedanken und Strebungen schafft jetzt die Bereitschaft zum Schreiben. Die Gestaltung ist ein Zusammenspiel dieser Momente, das sich z. B. als Abwägen, Einhalten, Neuansetzen, Abschätzen oder Revidieren manifestieren kann und nicht als einfacher Akt der Umsetzung schon bestimmter Gehalte. Die konkrete Aufgabe in der »Willens-Passage« liegt darin, eine Empfindung zu erforschen und sich dabei mit den Schwierigkeiten zu beschäftigen, die das Material des Schreibens und der Zwang zur Linearisierung von simultan Empfundenem, mit sich bringen. Von Prousts Beschreibungen her lassen sich gewichtige kritische Einwände gegenüber dem Phasenmodell des Willens formulieren: Erstens verzerrt die rahmensetzende Unterscheidung zwischen Innen und Außen das Phänomen des Wollens. Für die willentliche Gestaltung gilt gerade nicht, dass ein innerer und ein äußerer Akt der Umsetzung zeitlich nacheinander erfolgen. Zweitens suggeriert Sigwarts Phasenmodell bestimmte einzelne, identifizierbare Schritte mit eigenständiger Existenzweise und zeitlicher Ausdehnung. Dadurch wird der Blick für das feine Zusammenspiel verschiedenster Momente verstellt. Die Isolierung der kognitiven und volitionalen Momente verdeckt die zentrale Rolle der Empfindungen und Gefühle im Gestaltungsprozess. Drittens wird dem selbstreflexiven Wünschen in Sigwarts Modell kein wichtiger Platz eingeräumt. Aber gerade diese Ich erinnere hier an die entsprechende zweite Passage aus Teil I, Kapitel 1.1: »Beiläufig bemerkte ich, dass in dem Kunstwerk, zu dessen Inangriffnahme ich mich schon ganz bereit fühlte, ohne dass ich mich bewusst dazu entschlossen hatte, große Schwierigkeiten sich ergeben würden, müsste ich doch die aufeinanderfolgenden Teile in einem Material ausführen, das sehr verschieden von demjenigen wäre, das zu der Erinnerung an Morgenstunden am Meeresufer oder Nachmittagen in Venedig passte […]. Ich ging sehr rasch über das alles hinweg, da mich weit zwingender die Aufgabe rief, nach dem Grunde jenes Glücks, dem Wesen der Gewissheit zu forschen, mit der es mich überwältigte – eine in früherer Zeit zunächst noch hinausgeschobene Untersuchung.« (Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, a. a. O., Bd. X, S. 3940–3941).
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2 · Analysen: Vom Wollen als mentale Anstrengung zur Muskelempfindung
Erfahrungen des Spannungsverhältnisses zwischen Unbestimmtheit und Bestimmtheit geben Aufschluss über die spezifischen Herausforderungen menschlicher Praxis. Das Ziel des ersten Abschnitts dieses Kapitels liegt darin, ein Bild des Wollens vorzuführen, dem eine hohe Überzeugungskraft und Klarheit innewohnt. Die Darstellung von Sigwart hat genau diesen Anspruch und eignet sich deshalb als Ausgangspunkt. Dieses Bild transportiert und festigt sehr grundsätzliche Deutungsmuster menschlicher Praxis. Wird es nun aber mit der Beschreibung bestimmter Erfahrungen konfrontiert, zeigt sich dessen Reduktivität und die Überzeugungskraft gerät ins Wanken. Dabei tun sich viele Fragen auf, die weiterer Behandlung bedürfen. Die Problematisierung dieses Bildes wurde in diesem Abschnitt durch »äußere Reflexion«, also durch die Konfrontation zweier Überlegungen herbeigeführt, die unabhängig voneinander verlaufen. Ich will im nächsten Schritt einen Gedankengang Kants rekonstruieren, in dem die Problematiken dieses Bildes an ihm selbst auffällig werden. Es ergeben sich dabei eine dichte Strukturanalyse des Wünschens und ein in sich spannungsvoller Willensbegriff. Dafür müssen die spezifischen Anliegen und Ausgangspunkte der kantischen Überlegungen verständlich gemacht werden.
2.2 Kant: Von der »Aufbietung aller Mittel« zur »Realrepugnanz« Die Abgrenzung des Willens als »Aufbietung aller Mittel« vom (bloßen) Wunsch 23 hat in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten 24 eine wichtige systematische Funktion und spielt eine große Rolle für das richtige Verständnis der von Kant behaupteten Analytizität zwischen Zwecken und Mitteln. 25 Mit dieser Abgrenzung sind Kants Überlegungen zu der Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille aber keineswegs erschöpft. 26 Vielmehr wird Kant durch die Nachfrage Kant, GMS, AA 4:394. Im Folgenden im Haupttext abgekürzt: Grundlegung. 25 Kant, GMS, AA 4:417. 26 Damit widerspreche ich der Einschätzung, die Walter Brinkmann in seinem Lexikoneintrag formuliert, wenn er behauptet, dass der Begriff des Wunsches bei Kant »in allen Bereichen lediglich als Kontrastbegriff eingeführt« werde und in seiner »Theorie 23 24
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Kant: Von der »Aufbietung aller Mittel« zur »Realrepugnanz«
eines Rezensenten in eine Dynamik hineingezogen, die philosophische Abgrenzungen oft mit sich bringen. Denn wenn eine Abgrenzung zwischen zwei Begriffen vorgenommen worden ist, müssen die Konsequenzen für andere Begriffsbestimmungen und Abgrenzungen geprüft werden. Eine Dimension solcher Prüfungen liegt darin zu fragen, ob diese Abgrenzungen mit anderen Abgrenzungen vereinbar sind oder ob diese dadurch unverständlich werden. Und genau hier hakt Kants Rezensent ein. Er fragt Kant, ob die Bestimmung des Begehrungsvermögens als Möglichkeit der Verwirklichung von vorgestellten Sachverhalten durch Handlungen sich von der Bestimmung des Willens (der wiederum vom Wunsch unterschieden sein muss) überhaupt noch abgrenzen lasse. Wenn der Wille dem Wünschen gegenübergestellt werde, müsse die Bestimmung des Begehrungsvermögens entsprechend weit gefasst werden, um Phänomenen wie dem Wünschen Platz zu geben, und dürfe nicht mit dem Wollen identifiziert werden. Sonst verliere der Begriff des Begehrens seine Weite und Phänomennähe und der Begriff des Wollens seine Spezifität. Die Entstehung der Einsicht in die systematische Relevanz der Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille vollzieht sich in gewisser Weise dialogisch. Kant wurde durch Nachfragen verschiedener Rezensenten (August Wilhelm Rehberg, Friedrich Bouterwek und vermutlich Johann Ernst Parow 27) auf Konsequenzen seiner Unterscheidung aufmerksam gemacht und zu weiteren Klärungen aufgefordert. Ich will das dadurch entstandene textliche Material (vielfach in Anmerkungen und kurzen Bemerkungen relativ versteckt) in einer Exegese in systematischer Absicht auswerten. Dabei ergibt sich eine eigentümliche Kohärenz mit sehr weitreichenden Konsequenzen, die die Theorieform praktischer Philosophie genauso betreffen wie die Verhältnisbestimmung grundlegender Begriffe. Ob Kant dies »intendiert« oder »gemeint« hat, mag dahin gestellt bleiben. Ich will weniger erforschen, was Kants eigentliche Absicht war, als vielmehr der Vermögen und Kräfte des Subjekts […] keine zentrale Rolle« spiele. Vgl. Walter Brinkmann, »Wunsch«, in: M. Willaschek/J. Stolzenberg/G. Mohr/S. Bacin (Hg.), Kant-Lexikon, Berlin/Boston 2015, S. 2691–2693, S. 2692. 27 Die Rezension der Rechtslehre in den Neuesten Critischen Nachrichten vom 6. Mai 1797 ist gemäß einer Randnotiz von Erich Adickes vermutlich von Johann Ernst Parow (1771–1836) verfasst. Vgl. dazu Bernd Ludwig, »Einleitung«, in: ders. (Hg.), Immanuel Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre. Metaphysik der Sitten Erster Teil, 2. verb. Aufl., Hamburg 1998, S. XIII-XL, S. LI, Anm. 11.
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2 · Analysen: Vom Wollen als mentale Anstrengung zur Muskelempfindung
das systematische Gewicht einer Reflexion auf eine Grundunterscheidung der praktischen Philosophie darstellen. Mein Vorgehen in diesem Abschnitt ist das folgende: Thema des ersten Schritts ist die systematische Funktion, die der Abgrenzung des Willens vom Wunsch in der Grundlegung zukommt (2.2.1 Willensbegriff). Im zweiten Schritt geht es um die erheblichen Konsequenzen, die sich daraus ergeben. Kant wird von einem Rezensenten die Frage vorgelegt, ob sich dadurch nicht begriffliche Inkohärenzen ergäben. Der Einwand zielt besonders auf die praktische Bedeutung des Begriffs »Kausalität« (2.2.2 Kausalität). Im dritten Schritt soll gezeigt werden, dass Kant darauf in zweierlei Weise reagiert. Erstens ändert er den theoretischen Status der Definition des Begehrungsvermögens. Diese Definition muss eine »transzendentale« sein, denn ihr kommt die Funktion zu, die Sinnbedingung menschlichen Begehrens aufzuweisen, die darin besteht, dass praktische Vorstellungen handlungswirksam werden können. Jeder konkrete praktische Begriff stellt eine Modifikation dieser Sinnbedingung dar und bringt einen Typus zum Ausdruck, wie der Anspruch, handlungswirksam werden zu können, realisiert ist. Damit ist die Voraussetzung dafür geschaffen, zweitens die Struktur des Wünschens zu analysieren (2.2.3 Die Struktur des Wünschens). Im vierten Schritt wird untersucht, welchen Platz Kant dem Wunsch und dem Willen in der Ordnung praktischer Begriffe zuweist. Dabei wird es wichtig, die Frage zu reflektieren, auf welche Weise Kant die praktischen Begriffe voneinander unterscheidet. Je nachdem, wie man sein Unterscheidungsverfahren deutet, ergeben sich andere Konsequenzen (2.2.4 Ordnung praktischer Begriffe). Die Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille spielt bei Kant eine wichtige Rolle für die moralische Kritik und Selbstkritik. Im fünften Schritt soll dies gezeigt werden, indem die gewonnenen analytischen Mittel rückbezogen werden auf die zweite Beschreibung des ersten Kapitels, also den Dialog zwischen Frau Wollen und Herrn Wunsch (2.2.5 Moralische Kritik und Selbstkritik). 28
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Vgl. Teil I, Kapitel 1.2.
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Kant: Von der »Aufbietung aller Mittel« zur »Realrepugnanz«
2.2.1 Willensbegriff Ich beginne mit dem Ausgangspunkt, nämlich der Funktion, die die Unterscheidung in der Grundlegung, also gewissermaßen dem Starttext der kritischen Ethik, einnimmt. Kant nutzt die Unterscheidung zwischen Wille und Wunsch, um einer psychologistischen oder auch mentalistischen Missdeutung seines Willensbegriffs einen Riegel vorzuschieben. Die Unterscheidung löst ein Problem, nämlich das Problem, wie ein als etwas »Inneres« verstandener Wille mit dem »Außen« der geteilten sozialen Wirklichkeit zu vermitteln ist und fundiert einen pragmatischen Willensbegriff, also ein Verständnis vom Willen, der begrifflich mit dem Handeln verbunden ist. Ich stelle mich mit der Akzentuierung dieser Dimension des kantischen Willensbegriffs in eine bestimmte Tradition der Kant-Interpretation. 29 Die Grundlegung beginnt mit der Suche nach etwas, das als »unbedingt gut« gelten kann und damit nach einem Ausgangs- und Angelpunkt der Ethik. Das Ergebnis dieser Suche ist bekanntlich der »gute Wille«, der im Unterschied zu traditionellen Kandidaten für das Gute wie Charakter, Glücksgaben, Glückseligkeit »unbedingt gut« genannt werden kann. Alle Charaktereigenschaften, Tugenden, Werte, äußere Güter haben keinen unbedingten Wert, vielmehr ist in allen Fällen eine Reihe von Umständen denkbar, unter denen moralisch verwerflicher Missbrauch möglich und wahrscheinlich ist. Der »gute Wille« dagegen ist die Orientierung an dem Prinzip, das die Ausübung von Tugenden, den Umgang mit äußeren Gütern wie auch die Einstellung zu vermeintlich »objektiven« Werten jeweils leitet. Mit diesem Zusammenhang baut Kant gleich zu Beginn der GrundDamit ist allerdings keine Schule der Kant-Deutung gemeint. Wichtige Bezugspunkte sind Friedrich Kaulbach, Das Prinzip Handlung in der Philosophie Kants, Berlin/New York 1978; Friedrich Kambartel, Erfahrung und Struktur. Bausteine zu einer Kritik des Empirismus und Formalismus, Frankfurt a. M., 2. Aufl., 1976; Marcus Willaschek, Praktische Vernunft: Handlungstheorie und Moralbegründung bei Kant, Stuttgart/Weimar 1992; Andrea Esser, Eine Ethik für Endliche. Kants Tugendlehre in der Gegenwart, Stuttgart-Bad Cannstatt 2004. Kambartel hebt die operationalen Züge schon im kantischen Begriffsverständnis hervor. Begriffe werden bestimmt als allgemeine Vorstellungen dessen, was mehreren Objekten gemein ist, als Prädikate möglicher Urteile, aber auch als Funktionen oder Regeln, um die Einheit einer Handlung oder die Einheit eines Urteils herzustellen. Begriffe sind dieser letzteren Bestimmung gemäß Verfahren zur Herstellung bzw. Erzeugung einer Synthesis. Die Herstellung einer Synthesis in der Anschauung ist dann die Aufgabe der transzendentalen Schemata. Vgl. Kambartel, ebd., S. 127 ff.
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legung eine erste Front gegen alle inhaltlichen Bestimmungsversuche des Guten auf. Dann scheint Kant eine zweite Front errichten zu wollen. Die Unbedingtheit des Guten kann nicht durch äußere Bedingungen eingeschränkt gedacht werden. Es sind also nicht die Ergebnisse und Folgen relevant. Das Gelingen der Handlungen wie deren Folgen sind zu einem so großen Teil kontingent und gar nicht in der Hand des einzelnen Akteurs, dass diesen kein Einfluss auf die Güte des Willens zugebilligt werden darf. Damit scheint Kant einen scharfen Schnitt zwischen dem inneren Wollen, das seinen Wert in sich selbst hat, und der kontingenten äußeren Wirklichkeit, die für die moralische Bewertung unerheblich zu sein scheint, zu ziehen. Dies wird in tradierten Klassifizierungen der kantischen Ethik als »Gesinnungsethik« und als »antikonsequentialistisch« aufgenommen. Nun wird in dem Passus der Grundlegung, in dem diese Frontlinie gezogen wird, ein Einschub gemacht, in Klammern, also schon typographisch wie eine etwas unwichtigere Zusatzbemerkung markiert, die der eingenommenen Tendenz zu widerstreiten scheint und die deshalb zunächst irritierend ist. Ich zitiere Kant: Wenngleich durch eine besondere Ungunst des Schicksals oder durch kärgliche Ausstattung einer stiefmütterlichen Natur es diesem Willen gänzlich an Vermögen fehlte, seine Absicht durchzusetzen, wenn bei seiner größten Bestrebung dennoch nichts von ihm ausgerichtet würde und nur der gute Wille (freilich nicht etwa als ein bloßer Wunsch, sondern als die Aufbietung aller Mittel, so weit sie in unserer Gewalt sind) übrig bliebe: so würde er wie ein Juwel doch für sich selbst glänzen, als etwas, das seinen vollen Wert in sich selbst hat. 30 [Hervorhebung K. W.]
Nicht der Erfolg, nicht die Durchsetzung und nicht die Mittel, über die man zufälligerweise verfügt oder eben auch nicht, können auf den moralischen Wert Einfluss nehmen. Das ist klar und wird mit allem Nachdruck betont. Kommt es auf die Wirkungen und den auch für andere sichtbaren, in Handlungen ausgedrückten Willen gar nicht an? Ist der gute Wille nur für den jeweils Einzelnen quasi per Introspektion im privilegierten Zugang erkennbar? Dieser Eindruck könnte durch die zitierte Stelle erweckt werden, wäre aber ganz entgegen der kantischen Überzeugung, dass einerseits die Möglichkeit und sogar die Wahrscheinlichkeit der Selbsttäuschung immer und jederzeit gegeben ist und durch keinen unmittelbaren, privilegierten Zugang
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Kant, GMS, AA 4:394.
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zu sich selbst unterlaufen werden kann. Außerdem wäre der psychische Zustand des eigenen inneren Wollens selber eine Tatsache in der Welt, wenn auch der Innenwelt, die psychologischen Dynamiken unterworfen ist, welche wiederum von biographischen, sozialen und körperlichen Faktoren abhängen. Wenn also eine psychologische Innenwelt durch kantische Prämissen nicht gemeint sein kann und als Deutung ausscheidet, dann liegt es nahe, diese zweite Frontlinie als Vorbereitung der Unterscheidung zwischen intelligibel und phänomenal bzw. empirisch zu lesen. Der intelligible Wille kann unbedingten moralischen Wert haben, nicht aber der empirische, von äußeren Kontingenzen abhängige. Bei aller Schwierigkeit, diese Unterscheidung zu verstehen und zu deuten, gebietet die Klammerbemerkung doch einer Auffassung der Unterscheidung in aller Klarheit Einhalt. Die Unterscheidung zwischen intelligibel und phänomenal kann nicht als Gegenüberstellung von Sphären oder Welten verstanden werden, die ontologisch verschieden sind. 31 Der unbedingt gute Wille muss vom bloßen Wunsch unterscheidbar sein, und das ist er durch die in der phänomenalen Welt sichtbare »Aufbietung aller Mittel«. Die Unterscheidung zwischen dem unbedingt guten Willen und dem bloßen Wunsch bezieht sich nicht primär auf die gesetzliche Form des Willens gegenüber den Vgl. zu verschiedenen Deutungen dieser Unterscheidung: Marcus Willaschek, »Die Mehrdeutigkeit der kantischen Unterscheidung zwischen Dingen an sich und Erscheinungen. Zur Debatte um Zwei-Aspekte- und Zwei-Welten-Interpretationen des transzendentalen Idealismus«, in: V. Gerhardt/R.-P. Horstmann/R. Schumacher (Hg.), Kant und die Berliner Aufklärung: Akten des IX. Internationalen Kant-Kongresses, Berlin/New York 2001, S. 679–690. Gegen eine ontologische Deutung gewandt schlägt z. B. Oswald Schwemmer die funktionale Deutung vor, die Sinn- oder Bedeutungsgebung in einem Lebensganzen »intelligibel« zu nennen. Vgl. Oswald Schwemmer, »Das ›Faktum der Vernunft‹ und die Realität des Handelns. Kritische Bemerkungen zur transzendentalphilosophischen Normbegründung und ihrer handlungstheoretischen Begriffsgrundlage mit Blick auf Kant«, in: G. Prauss (Hg.), Handlungstheorie und Transzendentalphilosophie, Frankfurt a. M. 1986, S. 271–302, S. 296–302. Rainer Enskat versteht die Unterscheidung als analytisches Instrument: »Kant macht überaus häufig implizit, selten jedoch explizit, von dem analytischen Instrument Gebrauch, das erlaubt, verschiedene Attribute zu unterscheiden, z. B. die Zugehörigkeit eines Subjekts a zur sog. Verstandeswelt und die Zugehörigkeit eines Subjekts b zur sog. Sinnenwelt, aber diese beiden Attribute doch ›einem und demselben Subjekt‹ […] zuzuschreiben, so dass a mit b identisch ist.« (Rainer Enskat, »Autonomie und Humanität. Wie kategorische Imperative die Urteilskraft orientieren«, in: H.-U. Baumgarten/C. Held (Hg.), Systematische Ethik mit Kant, Freiburg/München 2001, S. 82–123, S. 98, Anm. 28).
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Wünschen, die immer in Bezug auf unsere Sinnlichkeit entstehen, sondern sagt etwas über das Verhältnis zwischen dem, was »unbedingt gut« genannt werden kann, und der kontingenten Wirklichkeit. Die Unterscheidung, die Kant zur Beschreibung dieses Verhältnisses anzubieten scheint, indem der unbedingt gute Wille vom Handlungserfolg und den Handlungsfolgen strikt unterschieden wird, nämlich die Unterscheidung zwischen Innen und Außen, wird durch die Unterscheidung zwischen unbedingtem Willen und bloßem Wunsch aber sofort wieder zurückgenommen. Der unbedingte Wille ist kein psychologisches Inneres und auch kein intelligibles Inneres, dem die äußere Welt als anderes gegenübersteht. Der unbedingte Wille muss einen Bezug auf die räumlich-zeitliche, körperliche Wirklichkeit haben, und zwar durch – das ist die zu interpretierende Wendung – die »Aufbietung aller Mittel, so weit sie in unserer Gewalt sind«. Im sogenannten Adelung, dem Grammatisch-kritischen Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart 32 werden die damals gängigen Verwendungsbereiche des Ausdrucks »aufbiethen« zusammengetragen, von denen folgende besonders wichtig sind: »Aufbiethen« kann man »Streitkräfte« oder »alle Kräfte« und man kann ein »Aufgebot machen«, also etwas, z. B. eine geplante Eheschließung, öffentlich bekannt machen. 33 Wer etwas aufbietet, der geht damit in die Öffentlichkeit, der setzt etwas organisiert ein und mobilisiert, setzt Handlungsketten von Vorbereitungen in Gang. Etwas zu wollen heißt nach Kant, alle in einer Situation möglichen Mittel aufzubieten, also a) in den öffentlichen, geteilten sozialen Raum zu treten, b) alle nötigen Kräfte und c) Medien oder Hilfsmittel einzusetzen. 34 Johann Christoph Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart: mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der Oberdeutschen [1774–1786, 2. Aufl. 1793–1801], 2. verm. und verb. Aufl., 4 Bde., Hildesheim/Zürich/New York 1990 (im Folgenden zitiert als »Adelung«). 33 Vgl. ebd., Eintrag »aufbiethen«, ebd., Bd. 1, Spalten 476–477. 34 In »pragmatistisch« orientierten Kantdeutungen wird das argumentative Gewicht der Unterscheidung in der Grundlegung sehr deutlich gesehen. Willaschek folgert daraus, dass in Kants Sicht Wollen und Handeln identisch seien: »Ist der Wille nämlich dieses Vermögen, und ist Wollen, d. h. einen Zweck haben, dessen Ausübung, dann bedeutet ›etwas zu wollen‹ nichts anderes als ›zu handeln‹ bzw. ›(zu versuchen,) einen Zweck zu verwirklichen‹. Wollen und Handeln sind ebenso ›einerlei‹ wie Wille und Willkür (als die entsprechenden Vermögen). Sie bezeichnen dieselbe ›Sache‹, betonen jedoch verschiedene Aspekte: ›Wollen‹ bedeutet, dass man begründen kann, was man tut; ›handeln‹ heißt, dass man auch tut, was man begründen kann.« (Willaschek, Praktische Vernunft, a. a. O., S. 55) In Essers pragmatistischer Interpretation des kan32
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Wenn Kant an späterer Stelle der Grundlegung 35 ausführt, dass das Wollen eines Zweckes impliziere, die dazu unentbehrlichen Mittel, die in der Gewalt des Subjekts stehen, auch zu wollen, dann wird die pragmatische Bestimmung des Willensbegriffes konsequent fortgeführt. Zwischen dem Wollen eines bestimmten Zwecks und dem Wollen der dafür unentbehrlichen Mittel besteht ein »analytischer« Zusammenhang, der den Begriff des Willens ausmacht. Denn »in dem Wollen eines Objekts als meiner Wirkung wird schon meine Kausalität als handelnde Ursache, d. i. der Gebrauch der Mittel, gedacht, und der Imperativ zieht den Begriff notwendiger Handlungen zu diesem Zwecke schon aus dem Begriff eines Wollens dieses Zwecks heraus«. 36 Wer, nehmen wir die erste Beschreibung aus dem vorherigen Kapitel auf, den Zweck hat, Schriftsteller zu werden, fühlt sich genötigt zu schreiben 37 und folgt diesem inneren Imperativ. Demgegenüber steht das »bloße Wünschen«. Der Ausdruck »bloß« hat hier die Funktion, einen eingeschränkten oder gar defizienten Modus anzuzeigen. 38 Es bleibt offen, ob damit ein bestimmtischen Maximenbegriffs ist die Unterscheidung zwischen Wille und Wunsch auch von großer Bedeutung: »Maximen sind jedoch nicht Formulierungen unserer Sehnsüchte und Wünsche, sondern der tatsächlichen, wahrhaft angenommenen Grundsätze des Handelns.« (Esser, Eine Ethik für Endliche, a. a. O., S. 277). 35 Kant, GMS, AA 4:417. 36 Ebd., vgl. auch Kant, AA 23:378: »Wollen ist etwas mit Bewusstsein durch seine eigene Handlung begehren. Der Wille geht also blos auf die Handlung des Subjekts nicht auf ein dadurch zu bewirkendes Object.« (Vgl. dazu die Auslegung von Esser, Eine Ethik für Endliche, a. a. O., S. 143). 37 Ich variiere hier das von Ludwig gegebene Pianistenbeispiel in seiner erhellenden Analyse analytisch-praktischer Sätze, in: Bernd Ludwig, »Warum es keine ›hypothetischen Imperative‹ gibt, und warum Kants hypothetisch-gebietende Imperative keine analytischen Sätze sind«, in: H. Klemme/B. Ludwig/M. Pauen/W. Stark (Hg.), Aufklärung und Interpretation. Studien zu Kants Philosophie und ihrem Umkreis, Würzburg 1999, S. 105–124, S. 113. Ludwigs Beitrag ist die ausführlichste Beschäftigung mit der Relevanz der Unterscheidung zwischen Wille und Wunsch in Kants Philosophie, die mir bekannt ist. Neuere Überlegungen zum kantischen Willensbegriff und sogar Auslegungen der in der Metaphysik der Sitten vorgelegten Fassung der Unterscheidung zwischen Willkür, Wunsch und Wille knüpfen hieran nicht an, wie Stephen Engstrom, »Reason, desire, and the will«, in: L. Denis (Hg.), Kant’s ›Metaphysics of Morals‹. A critical Guide, Cambridge [u. a.] 2010, S. 28–50 und Thomas Höwing, »Das Verhältnis der Vermögen des menschlichen Gemüts zu den Sittengesetzen (MS 6:211–214)«, in: A. Trampota/O. Sensen/J. Timmermann (Hg.), Kant’s »Tugendlehre«. A Comprehensive Commentary, Berlin/Boston 2013, S. 25–58. 38 Im Adelung wird zwischen eigentlicher (im Sinne von unbedeckt, nackt) und figürlicher Verwendung des adjektivisch oder adverbial gebrauchten Ausdrucks »bloß«
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ter, besonders problematischer Typ von Wünschen dem »eigentlichen« Wünschen gegenübergestellt wird und damit implizit eine Unterscheidung zwischen bloßen und eigentlichen Wünschen getroffen wird, oder ob die Qualifizierung »bloß« in zugespitzter Form ein Merkmal von Wünschen in allen Spielarten auf den Punkt bringen soll. Bloße Wünsche scheinen charakterisiert durch den Abstand zur Verwirklichung im Handeln, die durch aktiven Mitteleinsatz möglich würde. Wer »bloß« wünscht, macht »nichts weiter als« wünschen, tut nichts, bietet nicht alle Mittel auf. Dies schließt nach Kant keineswegs aus, dass Akte des Wünschens nicht von hoher Intensität sein können. Kant erwähnt zu Beginn des zweiten Abschnitts der Grundlegung »lebhafteste« Wünsche und formuliert die Aufgabe für die Schärfung der Urteilskraft, diese nicht schon für Wirklichkeit zu halten. 39 Das Merkmal des bloßen Wünschens scheint etwas Negatives, ein Mangel zu sein. Als Mangel kann etwas nur dann charakterisiert werden, wenn es von einem vollkommeneren Zustand, mit dem es verglichen wird, abweicht oder, für praktische Zusammenhänge formuliert, wenn ein Anspruch nicht erfüllt wird. Der Mangel des bloßen Wünschens besteht darin, dass der Überschritt zum Handeln im Sinne von aktivem Mitteleinsatz geleistet werden sollte, aber nicht vollzogen wird. Der aktive Mitteleinsatz scheint der berechtigte Anspruch, den das bloße Wünschen nicht erfüllt. Für den Fall, dass der Ausdruck »bloß« als überspitzte Charakterisierung von Wünschen im Allgemeinen gemeint wäre, bestünde das differenzierende Merkmal vom Wünschen als solchem gegenüber dem Wollen darin, dass der berechtigte Anspruch zu handeln nicht erfüllt wird, sondern der Wünschende im Modus der Vorstellung des gewünschten Sachverhaltes bleibt. Für den anderen Fall, dass mit dem Wort »bloß« ein eingeschränkter Modus des umfassenderen Wünschens ausgedrückt und implizit eine Unterscheidung zwischen unterschieden. Unter der figürlichen Verwendung im Sinne von »beraubt« werden drei Varianten mit Beispielen differenziert. Die dritte Variante wird folgendermaßen erläutert: »Aller andern Eigenschaften, oder Prädicate beraubt, für allein, nichts als; so wohl in Gestalt eines Bey- als auch eines Nebenwortes. Es ist ein bloßer Argwohn, ein bloßes Geschwätz, es ist weiter nichts als ein Argwohn, nichts als ein Geschwätz. Er hat nichts als das bloße Haus. Das bloße Läugnen wird hier nicht helfen. Schon die bloße Vorstellung von einem solchen Glücke entzückt mich. Sie ist noch die bloße Unschuld, Gell.« Vgl. Adelung, a. a. O., Eintrag »bloß«, Bd. 1, Spalten 1083–1084. 39 Kant, GMS, AA 4:407.
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bloßen und eigentlichen Wünschen getroffen würde, wäre zu fragen, was mit »eigentlichen Wünschen« gemeint ist. Unter »eigentlichen Wünschen« könnten solche verstanden werden, die dem Verwirklichungsanspruch entweder nicht unterstehen (oder nicht zu unterstehen scheinen) oder die offen sind gegenüber dem Einsatz oder Nicht-Einsatz von Mitteln. Damit sind zwei Weisen, eigentliche Wünsche aufzufassen, differenziert. Eigentliche Wünsche, mit denen kein Anspruch auf Verwirklichung einhergeht oder einherzugehen scheint, sind zum Beispiel gute Wünsche, die wir jemandem zum Bestehen einer Prüfung mit auf den Weg geben, um unsere Anteilnahme trotz mangelnder Einflussmöglichkeiten auszudrücken oder Glückwünsche für das neue Lebensjahr, die unsere positive Beziehung zu jemandem zeigen sollen, aber keine Ansprüche ans Handeln erheben. Beispiele für eigentliches Wünschen in diesem Sinne sind auch die aristotelischen Beispiele für Wünsche, die sich auch auf etwas richten können, was prinzipiell nicht möglich ist, wie sich zu wünschen, unsterblich zu sein oder für Wünsche, die sich auf etwas richten, was man »niemals aus sich selbst vollbringt« 40. In diesem Verständnis läge das differenzierende Merkmal zwischen bloßen und eigentlichen Wünschen darin, dass im Falle von bloßen Wünschen ein nichterfüllter Verwirklichungsanspruch bestünde und im Falle von eigentlichen Wünschen nicht. Und das differenzierende Merkmal zwischen eigentlichen Wünschen und Wollen bestünde darin, dass sich die eigentlichen Wünsche auf Sachverhalte richteten, die außerhalb der Verwirklichungsmöglichkeiten des Wünschenden lägen, sei es aus situativen oder prinzipiellen Gründen. Wollen dagegen könne sich nur auf Sachverhalte richten, die durch eigenes Handeln möglich sind. Eigentliche Wünsche können aber auch als solche Wünsche aufgefasst werden, die offen sind gegenüber der Verwirklichung. In der Tradition sind solche Wünsche mit dem Ausdruck »rationales Begehren« bezeichnet worden. »Rational« heißt hier, dass das begehrende Subjekt ein Bewusstsein und mehr noch einen Begriff von diesen Begehrungen hat und gebrauchen kann. Beispiele für eigentliche Wünsche oder Begehrungen in diesem Sinne sind so verschiedene, wie morgen ein besonders großes Eis zu essen, gesund zu leben oder Ich nehme hier die in der Einleitung in den ersten Teil besprochene Charakterisierung von Aristoteles auf. Vgl. Aristoteles, NE III 4, 1111b24 (Übersetzung Olof Gigon).
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möglichst überall am schnellsten zu sein. Das differenzierende Merkmal zwischen bloßen Wünschen und eigentlichen Wünschen im Sinne von Begehrungen läge dann darin, dass bloße Wünsche den berechtigten Verwirklichungsanspruch nicht erfüllen, während Begehrungen auf »Sachverhalte schlechthin zielen« 41, unangesehen der Verwirklichungsmöglichkeit. Diese Unterscheidung zwischen dem bloßen Wünschen und dem eigentlichen Wünschen, das keinem Verwirklichungsanspruch untersteht und dem eigentlichen Wünschen, das offen ist gegenüber dem Einsatz und Nicht-Einsatz von Mitteln, hat sich schon aus der Beschäftigung mit dem alltäglichen Sprachgebrauch in der Einleitung in den ersten Teil wie der mit Sigwart im vorherigen Abschnitt ergeben. Es bleibt in der Grundlegung offen, ob Kant zwischen bloßen und eigentlichen Wünschen differenziert, ob aus seiner Sicht hier ein Homonymie-Problem vorliegt oder eine gemeinsame Struktur zugrunde zu legen ist. Die Ordnung praktischer Begriffe wird Kant in einem anderen Zusammenhang interessieren, nämlich in der Einleitung zur Metaphysik der Sitten. Durch die Rezension von Rehberg wird Kant dazu aufgefordert, sich zu dem Verhältnis von dem zu äußern, was hier »eigentliches Wünschen, das keinem Verwirklichungsanspruch untersteht« und »eigentliches Wünschen, das offen ist gegenüber dem Einsatz und Nicht-Einsatz von Mitteln« genannt wurde.
2.2.2 Kausalität Die Unterscheidung zwischen dem Willen und bloßem Wunsch in der Grundlegung hat die Funktion gehabt, die konstitutive pragmatische Dimension des Willens aufzuzeigen. Dafür verwendet Kant ein kausales Vokabular. An einer oben schon zitierten Stelle wird das finale Vokabular von Intention/Zweck und Handlung/Gebrauch der Mittel Vgl. Ludwig, der die differentia specifica zwischen Wünschen und Wollen folgendermaßen bestimmt: »Das ›Wünschen‹ zielt auf Sachverhalte schlechthin, das ›Wollen‹ zielt nur auf solche Sachverhalte, die Vollzug (oder Ergebnis) eigener Handlungen sein können.« (Ludwig, »Warum es keine ›hypothetischen Imperative‹ gibt, und warum Kants hypothetisch-gebietende Imperative keine analytischen Sätze sind«, a. a. O., S. 119) Diese Charakterisierung des Wünschens trifft weder das bloße, noch das eigentliche Wünschen im ersten hier entwickelten Sinne, sondern nur das Wünschen im Sinne von Begehren.
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geradezu in das kausale Vokabular von Ursache und Wirkung überführt: »[D]enn in dem Wollen eines Objekts als meiner Wirkung wird schon meine Kausalität als handelnde Ursache, d. i. der Gebrauch der Mittel, gedacht […].« 42 Hier scheint Kant Ausdrücke, die terminologische Funktion haben sollen, wie »meine Kausalität« und »handelnde Ursache« mit Hilfe von finalen Redeweisen der Alltagssprache, wie »der Gebrauch der Mittel« zu erläutern. 43 Rehberg setzt in seiner Rezension der Kritik der praktischen Vernunft an diesem Punkt mit seiner Kritik an. Den Begriff des Willens mit kausaler Terminologie zu erläutern, ist schon schwierig genug, denn, so fragt Rehberg, wie lässt sich der Zusammenhang des gesetzlichen Willens mit der Sinnenwelt erweisen? Kant versuche dies mit dem Hinweis verständlich zu machen, dass der Verstand ins Verhältnis zum Begehrungsvermögen treten könne. 44 Das Begehrungsvermögen als empirisches Phänomen und Teil der Sinnenwelt werde in der Kritik der praktischen Vernunft nun aber auch mittels dieser kausalen Terminologie definiert, die Kant in der Grundlegung dem Willen vorzubehalten scheint. In der Vorrede zur Kritik der praktischen Vernunft bestimmt Kant das Begehrungsvermögen nämlich als Vermögen, »durch seine Vorstellungen Ursache von der Wirklichkeit der Gegenstände dieser Vorstellungen zu sein«. 45 Durch diese Bestimmung, so der Rezensent der Kritik der praktischen Vernunft, sei aber gar nicht das Begehrungsvermögen als Ganzes, sondern viel enger der Begriff des Willens getroffen. Begehren, so meint Rehberg mit Rekurs auf den gewöhnlichen Sprachgebrauch, würden Kant, GMS, AA 4:417. Volker Gerhardt zeigt, dass Kant von Handlungen zunächst im Sinne von physischen Veränderungsprozessen spricht (und damit an die schulphilosophische Verwendung von actio anschließt). Handlungen sind das »Verhältnis des Subjekts der Causalität zur Wirkung« (Kant, KrV, A 205/B 250), wobei von »Subjekt« hier in einem sehr weiten Sinne gesprochen ist, nicht eingeschränkt auf das menschliche Subjekt. Vgl. dazu: Volker Gerhard, »Handlung als Verhältnis von Ursache und Wirkung. Zur Entwicklung des Handlungsbegriffs bei Kant«, in: G. Prauss (Hg.), Handlungstheorie und Transzendentalphilosophie, Frankfurt a. M. 1986, S. 98–131. 44 August Wilhelm Rehberg bezieht sich auf folgende Stelle aus der Kritik der praktischen Vernunft: »Außer dem Verhältnisse aber, darin der Verstand zu Gegenständen (im theoretischen Erkenntnis) steht, hat er auch eines zum Begehrungsvermögen, das darum der Wille heißt, und der reine Wille, so fern der reine Verstand (der in solchem Falle Vernunft heißt) durch die bloße Vorstellung eines Gesetzes praktisch ist.« (Kant, KpV, AA 5:55). 45 Kant, KpV, AA 5:9, Anm. 42 43
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wir vielmehr oft »viele Dinge, von denen wir selbst wissen, dass wir nicht Ursache ihrer Wirklichkeit sein können.« 46 Wie, anders gesagt, integriert Kant Wünsche 47 in sein Verständnis vom Begehrungsvermögen? Möglicherweise denkt Rehberg hier an eine Konzeption wie die von Locke. Denn Locke fordert im Kapitel über den Willen 48 ein, dass der Wille (will) deutlich von bestimmten Affekten, vor allem dem Begehren (desire) unterschieden würde. Dies geschehe bei vielen Autoren nicht oder nur unzureichend. Der Wille richte sich nämlich im Unterschied zum Begehren nur auf unsere eigenen Handlungen 49 und die Äußerung des Willens (volition) ist nichts anderes, als die Bestimmung (determination), durch einen bloßen Gedanken eine Handlung, die in den eigenen Kräften zu stehen scheint, beginnen, fortdauern oder aufhören zu lassen. Wünsche (wishes) sind der unterste Grad von Begehrungen, bei denen das Unbehagen bezüglich der Abwesenheit eines Dinges schwach ist, sodass keine wirkungsvolle (effectual) und nachdrückliche Verwendung (vigorous use) der Mittel unternommen wird. 50 Um Rehbergs Punkt, dass die gelieferte Definition des Begehrungsvermögens diese vom Willen ununterscheidbar mache und durch die Vgl. August Wilhelm Rehberg, »Rezension der Kritik der praktischen Vernunft« (1788), in: R. Bittner/K. Cramer (Hg.), Materialien zu Kants »Kritik der praktischen Vernunft«, Frankfurt a. M. 1975, S. 179–196, S. 186. 47 Mit Rücksicht auf die oben entwickelte Differenzierung zwischen bloßen Wünschen im Sinne eines nicht erfüllten Anspruchs, eigentlichen Wünschen, die dem Verwirklichungsanspruch nicht unterstehen oder nicht zu unterstehen scheinen und drittens eigentlichen Wünschen, die offen sind gegenüber dem Einsatz oder NichtEinsatz von Mitteln, meint Rehberg hier eigentliche Wünsche, die dem Verwirklichungsanspruch nicht unterstehen, wie sich zu wünschen, unsterblich zu sein. 48 Locke, An Essay concerning Human Understanding, II.21. 49 Ebd., II.21.30: »For he, that shall turn his thoughts inwards upon what passes in his mind, when he wills, shall see, that the will or power of Volition is conversant about nothing, but our own Actions; terminates there; and reaches no farther; and that Volition is nothing, but that particular determination of the mind, whereby, barely by a thought, the mind endeavours to give rise, continuation, or stop to any Action, which it takes to be in its power. This well considered plainly shews, that the Will is perfectly distinguished from Desire, which in the very same Action may have a quite contrary tendency from that which our Wills sets us upon. A Man, whom I cannot deny, may oblige me to use persuasions to another, which at the same time I am speaking, I may wish may not prevail on him. In this case, ’tis plain the Will and Desire run counter. I will the Action, that tends one way, whilst my desire tends another, and that the direct contrary.« 50 Ebd., II.20.6. 46
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Verwendung des Kausalitätsbegriffs Phänomene wie das Wünschen unverständlich würden, besser nachvollziehen zu können, soll zunächst die Definition des Begehrungsvermögens näher betrachtet und dann dem Verhältnis der beiden Textpassagen nachgegangen werden, das Rehberg in kritischer Absicht herstellt. In der Definition des Begehrungsvermögens als ein Vermögen, »durch seine Vorstellungen Ursache von der Wirklichkeit der Gegenstände dieser Vorstellungen zu sein« sind mit den Gegenständen der Vorstellungen nicht Einzeldinge, sondern die realen Korrelate der Vorstellungen gemeint, also Sachverhalte. Ein Beispiel könnte die Vorstellung sein, einen erholsamen Urlaub zu verbringen, und der Gegenstand dieser Vorstellung wäre dann der gelungene Urlaub. Vorstellungen sind Bewusstseinsinhalte und es scheint zunächst zutreffend, wenn Vorstellungen wie von Willaschek als »mentale Repräsentationen« 51 verstanden werden. Diesen Vorstellungen soll nun aber, anders als mentalen Repräsentationen, Ursächlichkeit für die Wirklichkeit des Vorgestellten zukommen. Was bedeutet der Ausdruck »Ursache« hier? Die Verwendung in diesem Zusammenhang ist für die kantische Philosophie nicht verwunderlich, spricht Kant doch an vielen Stellen von der »Kausalität aus Freiheit«. Dadurch wird sprachlich eine Parallele hergestellt zwischen der Kausalität der Natur und den Wirkverhältnissen von praktischen Vollzügen. Dieses sprachliche Faktum ist nun höchst deutungsbedürftig, und es liegen in der umfassenden Forschungsliteratur zu Kant auch verschiedene Deutungen vor. In einer Interpretationsrichtung, die zunächst sehr nahe zu liegen scheint, ist der Ausdruck »Kausalität« nicht analogisch, sondern wörtlich zu nehmen, und meint einerseits die Einbettung des Begehrens in die Natur und andererseits die kausale Rolle, die dem Begehren zukommt. Als geistiger oder psychischer Akt übernehme das Begehren eine kausale Rolle und verursache Wirkungen in der natürlichen Welt. Diese Wirkungen sind nicht beliebig, sondern den Vorstellungen soll hier die Kraft zukommen, den vorgestellten Sachverhalt durch Einsatz geeigneter Mittel zu realisieren. Es ist auffällig, dass Kant die Bestimmung des Begehrungsvermögens in der Kritik der praktischen Vernunft in einer Anmerkung Willaschek, Praktische Vernunft, a. a. O., S. 55. Ganz ähnlich bestimmt Stefan Heßbrüggen-Walter Vorstellungen als mentale Zustände, vgl. Stefan Heßbrüggen-Walter, Die Seele und ihre Vermögen. Kants Metaphysik des Mentalen in der »Kritik der reinen Vernunft«, Paderborn 2004, S. 16.
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liefert. Die Anmerkung kommt zustande, da Kant im Haupttext auf einen Einwand reagiert, den Hermann Andreas Pistorius in seiner Rezension der Grundlegung formuliert hat. 52 Pistorius hatte dort gefordert, dass der Begriff des Guten zu Beginn der Überlegungen bestimmt werden müsse, weil er unverständlich und leer bleibe. In der Anmerkung antizipiert Kant nun weitere Anforderungen dieser Art an die Bestimmung praktischer Begriffe, wie den Begriff des Lebens, des Begehrungsvermögens und der Lust und Unlust. Während Kant für die Klärung des Begriffs des Guten auf die entsprechende Passage im weiteren Verlaufe der Kritik der praktischen Vernunft verweist, präsentiert er die Definitionen der anderen Begriffe gleich in der Anmerkung. Der etwas eigentümliche Ort, die Anmerkung, scheint sich dadurch zu erklären, dass Kant diese Begriffe eigentlich der Psychologie zuschlägt, von woher sie bekannt sein sollten, und nicht der apriorisch verfahrenden Moralphilosophie, der Kritik. 53 Es scheinen für ihn Bestimmungen von empirischen, psychologischen Begriffen zu sein, die er nur vornimmt, um möglichen Einwänden Genüge zu leisten. Rehberg stellt nun aber einen Zusammenhang zwischen der sehr zentralen Funktion des Begehrungsvermögens im Haupttext und der unscheinbaren Passage in der Anmerkung her. Am Ende des ersten Hauptstücks im Haupttext 54 wird die Frage nach der Berechtigung des Begriffes »Kausalität« im Praktischen aufgeworfen und der Vergleich zur Kategorie der Kausalität im theoretischen Zusammenhang gezogen. Die Kategorie der Kausalität im Theoretischen sei ein Verhältnis des Verstandes auf die Gegenstände, während der Verstand auch ins Verhältnis zum Begehrungsvermögen treten könne. 55 Genau dies Verhältnis nennt Kant den »Willen«. In dieser Relation ist das Relatum des Verstandes aus der Kritik der reinen Vernunft klar skizziert. Hermann Andreas Pistorius, »Rezension der ›Grundlegung zur Metaphysik der Sitten‹« (1786), in: R. Bittner/K. Cramer (Hg.), Materialien zu Kants »Kritik der praktischen Vernunft«, Frankfurt a. M. 1975, S. 144–160. 53 Vgl. zu Kants sich verändernder Einschätzung angesichts der Stellung moralphilosophischer Grundbegriffe: Konrad Cramer, »Kants Bestimmung des Verhältnisses von Transzendentalphilosophie und Moralphilosophie in den Einleitungen in die ›Kritik der reinen Vernunft‹«, in: H. F. Fulda/J. Stolzenberg (Hg.), Architektonik und System in der Philosophie Kants, Hamburg 2001, S. 273–286; ders., »Metaphysik und Erfahrung in Kants Grundlegung der Ethik«, in: G. Schönrich/Y. Kato (Hg.), Kant in der Diskussion der Moderne, Frankfurt a. M. 1996, S. 280–325. 54 Kant, KpV, AA 5:54. 55 Kant, KpV, AA 5:55. 52
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Kant: Von der »Aufbietung aller Mittel« zur »Realrepugnanz«
Der Verstand ist »das Vermögen, Vorstellungen selbst hervorzubringen, oder die Spontaneität des Erkenntnisses«. 56 Der Verstand ist das, was Vorstellungen produziert. Was ist nun unter dem zweiten Relatum, dem Begehrungsvermögen, zu verstehen? Hier führt uns der Text in die Vorrede und es ist deutlich, dass die Definition, die Kant dort eher widerwillig zu geben scheint, weil sie der Psychologie zugehöre und sich doch eigentlich von selbst verstehe, für die kritische Arbeit, nämlich die Klärung des Begriffs des Willens, Bedeutung erlangt. Und hier meint nun Rehberg, dass gar keine Bestimmung des Begehrungsvermögens gegeben, sondern eigentlich die Bestimmung des Willens wiederholt werde. Das Begehrungsvermögen sei das Vermögen eines Subjekts, durch seine Vorstellungen Ursache von der Wirklichkeit der vorgestellten Sachverhalte zu sein. Wie ist der Ausdruck »durch« hier zu verstehen? Eine Möglichkeit liegt darin, dass Vorstellungen, wie zum Beispiel die Vorstellung, einen erholsamen Urlaub zu verbringen, zu einer Reihe von Handlungen motivieren können, mehr noch, diese Handlungen zu initiieren scheinen. Der Ausdruck »durch« steht dann für die motivierende Kraft von Vorstellungen. Eine zweite Möglichkeit, die Rehberg mit seinem Einwand im Blick zu haben scheint, ist die, dass in der Bestimmung des Begehrungsvermögens nur solche Vorstellungen gemeint sind, von denen wir wissen, dass wir sie hervorbringen können. Es müssen solche Vorstellungen sein, die gewissermaßen eine potenzielle Realisierbarkeit für uns haben. Von Begehren sprechen wir nun aber auch da, wo wir wissen, dass wir das Begehrte nicht verwirklichen können, also wo wir gewissermaßen Unmögliches begehren. Lustempfindungen bei der Vorstellung, fliegen zu können oder unsterblich zu sein, lassen Menschen immer wieder beides begehren. Das Begehren muss offen sein gegenüber der Realisierbarkeitsfrage und muss gleichermaßen auf Mögliches wie auf Unmögliches gerichtet sein können. Es stellt sich die Frage, wie Kant diesen Einwand integriert, zumal er seine Definition des Begehrungsvermögens bis in die Metaphysik der Sitten beibehält. Mit Rückgriff auf die Ausführungen zum Begriff des Willens in der Grundlegung ließe sich noch schärfer sagen, dass nicht nur die Verwirklichungsmöglichkeit gemeint ist, sondern der geforderte Zu-
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Kant, KrV, A 51/B 75.
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2 · Analysen: Vom Wollen als mentale Anstrengung zur Muskelempfindung
sammenhang zwischen der Ausrichtung auf den vorgestellten Zweck und dem Einsatz der dafür nötigen Mittel. Das Vorgestellte zu wollen und die angemessene Mobilisierung von Kräften und Hilfsmitteln zu wollen sind ein Akt. Hier wird das Subjekt durch seine Vorstellungen zum Handlungssubjekt. So verstanden, benennt die Definition genau die Pointe, die Kant in der Grundlegung für den Begriff des Willens mit der Abgrenzung des Willens vom bloßen Wunsch als Aufbietung aller Mittel oder durch den analytischen Zusammenhang des Wollens eines Zweckes und des Wollens der dafür nötigen Mittel entwickelt hat. Dann liegt die Nachfrage von Rehberg erneut auf der Hand: Wodurch unterscheiden sich Wollen und Begehren überhaupt noch? Und muss für eine angemessene Unterscheidung zwischen Wollen und Begehren nicht der Tatsache Rechnung getragen werden, dass wir häufig begehren, was wir gar nicht durch eigene Handlungen verwirklichen können? Es ist noch eine dritte Lesart des Ausdrucks »durch« denkbar, die Rehberg vielleicht auch im Sinn hatte, da die zweite Möglichkeit das für den kantischen Willen charakteristische Moment der Gesetzlichkeit gar nicht berücksichtigt hat. Schließlich wird der Wille an prominenter Stelle als das Vermögen bestimmt »nach der Vorstellung der Gesetze, d. i. nach Prinzipien zu handeln«. 57 Die Realisierbarkeit von Vorstellungen haftet Vorstellungen nicht wie eine unübersehbare Eigenschaft an, sondern muss in der Regel durch eine Art »Realitätscheck« erst ermittelt werden, in dem geprüft wird, ob die Kräfte reichen und ob die Situation geeignet ist und ob es naturgesetzliche oder »freiheitsgesetzliche« Wege der Realisierung gibt. Dann wäre aber nicht mehr die Vorstellung des Subjekts »Ursache« ihrer Verwirklichung, sondern das Ergebnis des »Realitätschecks«. Einer Vorstellung, die in diesem Sinne ursächlich werden kann, muss dies unangesehen von »Realitätschecks« zukommen. Das können wiederum nur Vorstellungen sein, die in jeder Situation ursächlich werden können. Dies kann keine irgendwie inhaltlich bestimmte Vorstellung sein, denn wie sollte eine solche in jeder Situation ursächlich werden können? Vielmehr können nur inhaltsleere, formale Vorstellungen gemeint sein, Vorstellungen, die in allen möglichen Situationen gelten sollen. Genau dies ergibt sich auf der Grundlage der Texte, wenn es in der Kritik der praktischen Vernunft heißt: »Die letztern [Ge-
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Kant, GMS, AA 4:412.
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Kant: Von der »Aufbietung aller Mittel« zur »Realrepugnanz«
setze] müssen den Willen als Willen, noch ehe ich frage, ob ich gar das zu einer begehrten Wirkung erforderliche Vermögen habe, oder was mir, um diese hervorzubringen, zu tun sei, hinreichend bestimmen, mithin kategorisch sein, sonst sind es keine Gesetze.« 58 Das Paradigma von Selbsttätigkeit oder, wie Kant sagt, Ursächlichkeit, ist Gesetzlichkeit. Auch dieser Gedankengang führt darauf, dass die vorgelegte Definition des Begehrungsvermögens genau gelesen eine Bestimmung des Willens ist. Rehberg macht im Anschluss an seinen kritischen Punkt den Vorschlag, den Willensbegriff ganz ohne Rückgriff auf empirische Bestimmungen zu definieren, nämlich als »die Kraft, Möglichkeit zur Wirklichkeit zu bestimmen«. Eine solche Definition enthielte »lauter Kategorien« und vermiede die »Einmischung sinnlicher Bestimmungen«. Und darin liegt indirekt auch der Vorschlag, das Begehrungsvermögen anders zu definieren, vielleicht als Vermögen, Vorstellungen zu haben, deren vorgestellte Wirklichkeit Lust erzeugt. Rehberg legt Kant die Aufgabe vor, die Unterscheidung zwischen Begehren und Willen zu überdenken, dem Phänomen des Wünschens Rechnung zu tragen und dabei die Rede von »Ursächlichkeit« zu präzisieren.
2.2.3 Die Struktur des Wünschens Kant nimmt diese Aufgabe an und macht in einer Anmerkung in der Kritik der Urteilskraft einen Lösungsvorschlag. 59 Es ist inhaltlich keineswegs selbstverständlich, dass Kant dies tut. In der Tradition von Alexander Gottlieb Baumgarten hätte er die Forderung von Rehberg zurückweisen können, dass Wünsche (von denen wir wissen, dass wir sie nicht realisieren können) im engeren Sinne Begehrungen sind und deshalb in einer Definition des Begehrungsvermögens berücksichtigt werden müssen. Baumgarten scheint dies in seiner Definition des Begehrungsvermögens explizit auszuschließen, wenn er schreibt: »Das Gesetz des Begehrungsvermögens lautet: Ich bemühe mich, dasjenige hervorzubringen, von dem ich vorhersehe, dass es gefallen wird, und erwarte, dass es durch meine Anstrengung zukünftig existieren
58 59
Kant, KpV, AA 5:20. Kant, KU, AA 5:177–178, Anm.
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wird.« 60 Wünsche, bei denen die Erwartung, dass das Gewünschte nicht durch eigene Anstrengung zukünftig existieren wird, nicht besteht, scheinen aus dem Gesetz des Begehrungsvermögens herauszufallen. 61 Diesem Ausschluss folgt Kant nicht (der die Frage aufwerfen würde, welchen Ort im Aufbau einer Theorie des Praktischen Wünsche denn sinnvoll einnehmen können), sondern liefert in einer langen Anmerkung in der Einleitung zur Kritik der Urteilskraft eine Auslegung seiner Definition des Begehrungsvermögens, die zeigen soll, dass und inwiefern Wünsche darin sehr wohl eingeschlossen sind. Kant leistet dies, indem er erstens den Status der Definition des Begehrungsvermögens in der Kritik der praktischen Vernunft als »transzendentale Definition« bezeichnet und zweitens die Struktur des Wünschens analysiert. Eine »transzendentale Definition« werde durch reine Kategorien vorgenommen, ähnlich dem mathematischen Vorgehen, bei dem »die empirischen Data« unbestimmt gelassen würden. Das Phänomen des Begehrens solcher »Dinge«, von denen wir wissen, dass wir sie nicht verwirklichen können, also wie Kant sagt, »bloße Wünsche«, scheint er demgegenüber dem Bereich des Empirischen zuzuschlagen. Wenn Kant in diesem Zusammenhang Alexander Gottlieb Baumgarten, Metaphysica (1757), übers., eingel. u. hrsg. v. G. Gawlick und L. Kreimendahl, Stuttgart-Bad Cannstatt 2011, § 665, S. 353. 61 Eine ähnliche Schwierigkeit, dem Wünschen bei einer Einteilung des Begehrungsvermögens einen klaren Platz zu geben, zeigt sich auch in einer späteren Abhandlung. Der Philosoph Johann Christian Hoffbauer, Zeitgenosse Kants, der teilweise an Kant anknüpft, teilweise andere Wege geht, hat zwei Abhandlungen über die menschliche Seele vorgelegt, in Briefform die Naturlehre der Seele in Briefen (1796) und als Traktat den Grundriss der Erfahrungs-Seelenlehre (1810). Beides ist in Bezug auf die Rolle von Wünschen sehr ähnlich. Hoffbauer folgt der Linie Baumgartens, Wünschen nicht zum Begehren im engeren Sinne zu zählen, sondern Wünsche als Grenzphänomen aufzufassen, das den Bereich des Begehrungsvermögens begrenzt und dem an sich selbst wenig Interesse zukommt. Wenn man dennoch die verschiedenen Bemerkungen, die sich zum Wünschen finden, zusammenträgt, ergibt sich folgende Charakterisierung: 1) Wünschen richtet sich auf Gegenstände, die wir begehren würden, wenn wir könnten. Diese konjunktivische Formulierung fasst zweierlei zusammen, was für die Kriterien des Begehrens im engeren Sinne explizit auseinander genommen wurde: Die Einschränkung »wenn wir könnten« kann sich nämlich auf das beziehen, was prinzipiell für Menschen gar nicht möglich ist oder auf das, was durch unsere Tätigkeit nicht möglich ist. 2) Weil wir es aber nicht können, bestimmt uns die Vorstellung des Gewünschten nicht zur Umsetzung oder auch zu irgendeiner Kraftanstrengung. 3) Deshalb können Wünsche sich auch auf Vergangenes, Gegenwärtiges (also schon »wirklich« Gewordenes) wie auf Zukünftiges richten. 4) Wünsche haben ein Selbstauflösungspotenzial: das Bewusstsein, dass die Wünsche nicht verwirklicht werden können, löst diese auf. 60
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Kant: Von der »Aufbietung aller Mittel« zur »Realrepugnanz«
auch von »bloßen Wünschen« spricht, dann klärt das seinen Sprachgebrauch, der in der Grundlegung noch offengeblieben war. Als »bloße Wünsche« werden gleichermaßen solche Wünsche verstanden, für deren Verwirklichung nicht alle Mittel aufgeboten werden, als auch solche, bei denen wir wissen, dass sie nicht zu realisieren sind. Der Ausdruck »bloß« scheint ein Kennzeichen von Wünschen überhaupt zu sein und Kant unterscheidet nicht implizit zwischen bloßen und eigentlichen Wünschen. Es scheint nach Kant nun ein empirisches Phänomen zu sein, dass wir bloße Wünsche haben, und es hieße, die Ebenen zu verwechseln, wenn für eine transzendentale Bestimmung ein empirisches Gegenbeispiel vorgebracht würde. Das wirft aber die Frage auf, was eine transzendentale Definition leisten soll. Eine transzendentale Definition nennt das, was Begehrungen überhaupt möglich macht und natürlich, wie jede Definition, was sie unterscheidbar macht von anderen menschlichen Vollzügen. Der zentrale Begriff, der in der Definition auftaucht und der Verständnisschwierigkeiten aufwirft, ist der Begriff »Kausalität«. Im Rahmen einer transzendentalen Definition kann damit nicht gemeint sein, dass Vorstellungen in manchen Fällen faktisch handlungswirksam werden und in anderen nicht. Vielmehr ist gemeint, dass alle menschlichen Begehrungen nur dann sinnvoll und möglich sind, wenn sie unter dem Anspruch stehen, handlungswirksam werden zu können. Die Voraussetzung dieses Anspruchs ist – das ist die Pointe bei einer transzendentalen Definition – die Sinnbedingung für jedes menschliche Gestalten der Wirklichkeit, von Formen sinnlichen Begehrens bis hin zur moralischen Reflexion. Das Bewusstsein über diesen Anspruch und die Reflexion darauf gehört zum Willen im engeren Sinne, der als höchste Form menschlichen Begehrens gilt, zudem ist aber der im Willen reflexiv gewordene Anspruch die Sinnbedingung für alles menschliche Begehren. Diese eigentümliche theoretische Figur ist es, die Kant in der besprochenen Anmerkung der Kritik der praktischen Vernunft nicht deutlich herausarbeitet, weshalb Rehberg ihn mit Recht um Erläuterung bittet. Es ist, so könnte man vielleicht sagen, ein eigener Analyseschritt nötig, um die in der transzendentalen Definition angegebene Grundstruktur mit besonderen Phänomenen des Begehrens ins Verhältnis zu setzen. Dies muss natürlich möglich sein und es muss dabei auch eine Klärung des in Frage stehenden Phänomens geleistet werden. Kant skizziert dies im weiteren Verlauf.
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Für bloße Wünsche gilt genau wie für alle Begehrungen, dass in ihnen »die Vorstellung ihrer Kausalität« 62 enthalten ist. Bloße Wünsche sind keine Phantasien, in denen man sich ausmalt, wie etwas sein könnte, keine Entwürfe von möglichen Zuständen. Das wären nach Kant theoretische Einstellungen zur Welt. Bloße Wünsche sind praktische Einstellungen zur Welt und deren konstitutives Merkmal besteht darin, dass sie unter dem Anspruch der Gestaltung durch eigene Vorstellungen stehen. Es zeigt sich, dass das bloße Wünschen eine reflexive Form des Begehrens ist und deshalb, wie Kant an späterer Stelle in der Einleitung zur Metaphysik der Sitten ganz deutlich macht, zum Begehrungsvermögen nach Begriffen gehört und nicht zum sinnlichen Begehren. Beides differenziert Kant in Orientierung an Baumgartens Unterscheidung in unteres und oberes Begehrungsvermögen voneinander. Beim bloßen Wünschen wird die Sinnbedingung, der Anspruch der Gestaltung, bewusst und reflexiv, d. h. ist selber Thema des Wünschens. Kant zeigt aber am Phänomen des Wünschens darüber hinaus, dass dieses Bewusstsein und diese reflexive Bezugnahme nicht innere Prozesse sind, sondern dass sie sich manifestieren, eine Wirkung im Subjekt und einen Umgang mit der Wirklichkeit entfalten. Kant selbst drückt dies so aus, dass das Subjekt »durch seine Vorstellung allein zur Hervorbringung des Objektes hinwirkt«. 63 Die praktische Vorstellung generiert den Anspruch, der sich an das Subjekt selbst und an die Wirklichkeit richtet. Mit der praktischen Vorstellung beginnt bereits die Wirklichkeitsgestaltung, nicht erst in der zielgerichteten Handlung. Praktische Vorstellungen sind selbst schon eine Art Tätigkeit und keine mentalen Bilder von einer Sache und keine Ideen einer Sache, die dann eine »kausale Rolle« einnehmen und handlungswirksam werden können. Theoretische und praktische Vorstellungen sind als Vorstellungen verschieden. 64 Dies kann die Beschäftigung mit dem bloßen Wunsch besonders gut sichtbar machen, da hier der Tätigkeitscharakter der Vorstellung und der Handlungen, die nötig sind, um die Vorstellung zu verwirklichen, auseinanderfallen. Bei Wünschen ist dem handelnden Subjekt das eiKant, KU, AA 5:178, Anm. Kant, KU, AA 5:177, Anm. 64 Ich mache hier von einer sprachlichen Wendung Gebrauch, die König in seinen Überlegungen zum radikalen Unterschied eingeführt hat. Theoretische sind von praktischen Sätzen bei König nicht durch oder in etwas unterschieden, sondern als vollzogene und vollziehende (praktische) oder von außen betrachtete und betrachtende (theoretische) Sätze unterschieden. Vgl. dazu Teil II, Kapitel 2.1.2.1. 62 63
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Kant: Von der »Aufbietung aller Mittel« zur »Realrepugnanz«
gene »Tätigkeitsvermögen« bewusst, es verhält sich reflexiv auf eben dieses und das Tätigkeitsvermögen ist manifest. Dies Auseinanderfallen analysiert Kant als Widerspruch des Menschen mit sich selbst. Denn es wird ein Anspruch erhoben und eine Tätigkeit begonnen im Wissen darum, dass der Anspruch nicht erfüllt werden und die begonnene Tätigkeit sich nicht in Handlungen fortsetzen kann, die zur Verwirklichung des Vorgestellten führen können. Kant nimmt hier die Art von bloßen Wünschen auf, die sein Rezensent ihm zur Aufgabe gestellt hat, nämlich bloße Wünsche, bei denen gar kein Anspruch auf Realisierung zu bestehen scheint, weil das wünschende Subjekt um deren Nichtrealisierbarkeit wisse. Dieses Wissen kann entweder die Beschränkung der eigenen Möglichkeiten zum Gegenstand haben, zum Beispiel bei dem Wunsch, als Nichtschwimmer den See zu durchschwimmen oder auch die prinzipielle Beschränkung menschlicher Kräfte, zum Beispiel bei dem Wunsch, das Geschehene ungeschehen zu machen. Worin besteht hier nun der Widerspruch, den Kant aufweist? Besteht der Widerspruch zwischen den praktischen Vorstellungen und einem Wissen, nämlich dem von der Unerfüllbarkeit der praktischen Vorstellungen? Es ist sicher kein theoretischer Widerspruch gemeint in dem Sinne, dass zwei einander widerstreitende Behauptungen aufgestellt werden, wie die Behauptung, dass es möglich sei, Geschehenes ungeschehen zu machen und dass es unmöglich sei, Geschehenes ungeschehen zu machen. Kann man aber sagen, dass eine Behauptung (wie die, dass es unmöglich ist, Geschehenes ungeschehen zu machen) einem Tun (eine praktische Vorstellung zu haben, wie die Vorstellung, Geschehenes ungeschehen zu machen, die eine Wirkung in mir entfaltet) widerspricht? Oder muss man nicht vielmehr sagen, dass die praktische Vorstellung den Anspruch einer Wirklichkeitsgestaltung erhebt, der durch ein anderes Tun wieder negiert wird? Was ist dieses andere Tun? Kant verwendet in seiner knappen Darstellung des Widerspruchs einen wichtigen Ausdruck, der für diese Frage hilfreich ist. Der Widerspruch besteht darin, dass der Mensch einerseits auf die Hervorbringung des Objekts hinwirkt und andererseits davon keinen Erfolg erwarten kann oder, könnte man stärker und aktivischer formulieren, dass er keinen Erfolg erwartet. Die Gründe dafür, dass das wünschende Subjekt keinen Erfolg erwartet, verweisen auf drei verschiedene Arten von Verhältnissen zwischen wünschendem Subjekt und gewünschtem Gegenstand. Entweder reichen die Möglichkeiten 163 https://doi.org/10.5771/9783495817360 .
2 · Analysen: Vom Wollen als mentale Anstrengung zur Muskelempfindung
des Subjektes zur Verwirklichung des Objektes als Mitglied der Gattung Mensch nicht hin (wie in dem Falle, Geschehenes ungeschehen zu machen) oder es reichen die individuellen Möglichkeiten nicht hin (wie im Falle des Wunsches als Nichtschwimmer zu schwimmen) oder die Möglichkeiten werden nicht eingesetzt oder ausgeschöpft. Dieses letzte Verhältnis zwischen wünschendem Subjekt und gewünschtem Gegenstand steht hier in der Antwort auf Rehberg nicht im Vordergrund, anders als in der Grundlegung, wo es als mangelnde Aufbietung der Mittel in einen Kontrast zum Willen gebracht wird. Hier in der Antwort auf Rehberg klingt dieser Kontrast dennoch an, wenn Kant dies Verhältnis in seiner affektiven Manifestation vorstellt, nämlich als sehnsüchtiges und ungeduldiges Harren »die Zwischenzeit bis zum herbeigewünschten Augenblick vernichten zu können.« 65 Für Kant haben alle drei Verhältnisarten die gleiche widersprüchliche Struktur und machen insgesamt das Wünschen aus, das wegen seiner mehr oder weniger offensichtlichen Widersprüchlichkeit in Kants Sicht insgesamt als »bloßes« Wünschen charakterisiert werden kann. Der für die Struktur des Wünschens charakteristische Widerspruch scheint in zwei Tätigkeiten zu bestehen, die gegeneinander wirken: das Hinwirken auf und das Nicht-Erwarten, das sich im Falle des bloßen Wünschens als mangelnder Mitteleinsatz oder »fehlende Kraftanstrengung«, wie Kant später in der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht sagt, zeigt. Als ein praktischer Widerspruch ist damit aber kein sinnloser Gedanke oder Satz geäußert. Handelt es sich in Analogie zum theoretischen Widerspruch um ein sinnloses oder irrationales Tun? Die Rede von einem »Widerspruch« scheint dies nahezulegen. Dennoch zieht Kant diese Konsequenz nicht, trotz seines ohne Zweifel scharfen Urteils gegenüber dem Phänomen des Wünschens (als »phantastische Begehrung«) und seiner affektiven Manifestation, der Sehnsucht. Und dass er dies nicht tut, liegt nicht nur daran, dass das Phänomen mit seinen drei Spielarten weit verbreitet ist und vermutlich mehr oder weniger ausgeprägt zu jeder menschlichen Biographie gehört, unabhängig vom Intelligenzniveau und der moralischen Lebensführung. Sondern es liegt daran, dass die Begriffe des Wünschens und Wollens aufeinander verweisen. In der Grundlegung hat Kant für den Begriff des Wollens den analytischen Zusammenhang zwischen dem Wollen des Zwecks und dem Wollen der da65
Kant, KU, AA 5:178, Anm.
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Kant: Von der »Aufbietung aller Mittel« zur »Realrepugnanz«
für nötigen Mittel behauptet. Es gehört also zum Begriff des Wollens, dass für gewollte Zwecke alle zur Verfügung stehenden Mittel eingesetzt werden und dass nur das, für das Mittel prinzipiell und kontextuell zur Verfügung stehen, überhaupt gewollt werden kann. Wird dieser für den Begriff des Wollens charakteristische Zusammenhang aufgelöst, sei es für die Seite der Zwecke oder die der Mittel, handelt es sich bei dem Tun nicht um Wollen, der Begriff wird gewissermaßen widersprüchlich und löst sich auf, sondern um – bloßes – Wünschen. Der Begriff des Wünschens ist einer, für den das, was im Falle des Wollens ein das Wollen zersetzender Widerspruch ist, eine Besonderheit zu sein scheint. Wenn das für das Wünschen kennzeichnende »mit sich selbst im Widerspruch« stehen nicht so verstanden werden soll, dass sich entweder auch der Begriff des Wünschens als unhaltbar erweist oder das Wünschen als irrationale praktische Tätigkeit entlarvt wird, dann scheint die Bedeutung des Ausdrucks »Widerspruch« hier eine andere Dimension zu haben als die, dass sie die Grenzen der sinnvollen Rede und Begriffsbildung markiert. Nicht diese logische und semantische Dimension, sondern die eines konkreten Widerstreits von Tätigkeiten scheint in den Vordergrund zu rücken. Kant selber hat sich in der frühen Schrift, Versuch den Begriff der negativen Größen in die Weltweisheit einzuführen, bemüht, neben dem logischen Widerspruch eine Art von realer Entgegensetzung als philosophischen Begriff zu entwickeln. 66 Kant versucht dies in Orientierung an den »negativen Größen« in der Mathematik und den physikalischen Anwendungen. Ich folge Gerhard Seel in seinem Rückgriff auf diesen Begriff der »Realrepugnanz« zur Erläuterung der kantischen Verwendung von Widersprüchlichkeit in praktischen Zusammenhängen. 67 Kant selber hat diesen Beitrag als erste Exploration in eine neue Richtung verstanden: »Was ich bis daher vorgetragen habe, sind nur die erste Blicke, die ich auf einen Gegenstand von Wichtigkeit, aber nicht minderer Schwierigkeit werfe.« (Kant, Negative Größen, AA 2:189) Er stellt die Möglichkeit in Aussicht, diese Explorationen mit Gewinn auf die »Gegenstände der praktischen Weltweisheit noch sehr [zu] erweitern.« (Ebd., S. 184) Das Folgende ist der Versuch einer solchen Erweiterung. 67 Gerhard Seel bringt in seiner Kritik an Kants (vermeintlicher) These, hypothetische Imperative seien analytische praktische Sätze, eine Bedeutungsschicht der Rede von Widersprüchlichkeit ins Spiel, die aus einem anderen kantischen Theoriezusammenhang stammt, nämlich Widersprüchlichkeit als »Realrepugnanz«. Es scheint mir verfehlt und die kritische Pointe geradezu verspielend, wenn Seel das analytische Verhältnis des Wollens von Zwecken und des Wollens der dafür unabdingbaren Mittel bestreitet und es durch das Verhältnis der Realrepugnanz ersetzen will. Darin stimme 66
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2 · Analysen: Vom Wollen als mentale Anstrengung zur Muskelempfindung
Kant legt der damaligen philosophischen Gemeinschaft eine Unterscheidung vor, die er für in der Philosophie neu und außerordentlich bedeutsam hält, die Unterscheidung zwischen logischer Entgegensetzung und realer Entgegensetzung. 68 Die logische Entgegensetzung ist der kontradiktorische Gegensatz, durch den ein Widerspruch entsteht. Die Folge davon ist »ein Nichts« (nihil negativum), ein Mangel. Demgegenüber steht die reale Entgegensetzung. Kant schließt hier an Newton an, der die (damals neue) mathematische Unterscheidung zwischen »affirmativen« und »negativen« Größen auf physikalische Größen wie Attraktion und Repulsion übertragen hat. Das Umschlagen zwischen physikalischen Kräfteverhältnissen sollte mit dem Übergang bei Null zwischen positiven in negative Zahlen verglichen werden. Diese beiden Größen oder Kräfte sind nur im Verhältnis zueinander und in Bezug auf die Zuordnung zu einem Gegenstand als »negativ« oder »positiv« zu bezeichnen, keine der Größen oder Kräfte ist an sich selbst »negativ«. In diesem Verhältnis wirken zwei »Positive« gegeneinander, was ein bestimmtes »Aufheben« zur Folge hat, das aber kein Nichts, sondern ein Etwas und in dem Sinne »positiv« ist. Gemäß der kantischen Analyse werden aber nicht die Größen oder Kräfte aufgehoben (und im Falle von real entgegengesetzten prädikativen Zuschreibungen auch nicht der vorausgesetzte Gegenich der Kritik von Ludwig an Seel vollständig zu. Vgl. Ludwig, »Warum es keine ›hypothetischen Imperative‹ gibt, und warum Kants hypothetisch-gebietende Imperative keine analytischen Sätze sind«, a. a. O., S. 117, 121, 164. Seel macht von den Möglichkeiten einer begrifflichen Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille gerade keinen Gebrauch, sondern scheint diese zu ignorieren. Vgl. Gerhard Seel, »Sind hypothetische Imperative analytische praktische Sätze?«, in: O. Höffe (Hg.), Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Ein kooperativer Kommentar, 3. Aufl., Frankfurt a. M. 2000, S. 148–171. Dagegen scheint es mir ausgesprochen vielversprechend, den Begriff »Realrepugnanz« heranzuziehen, um die Struktur des Wünschens zu analysieren bzw. die kantische sehr skizzenhafte Analyse zu explizieren. 68 Kant, Negative Größen, AA 2:171–178. Gegen die vehemente Kritik, die Newtons Vorschlag (z. B. von Christian August Crusius) entgegengebracht wurde, bezieht Kant mit dieser Schrift zur Verteidigung Newtons Stellung. Michael Wolff stellt dies in seiner Studie über den Widerspruchsbegriff bei Kant und Hegel dar und macht deutlich, dass Kant insgesamt zwischen drei Arten von Entgegensetzungen unterscheidet: der logischen Entgegensetzung (die Kontradiktion, mit deren Hilfe der Widerspruch definiert wird), der dialektischen Entgegensetzung, die er in der transzendentalen Dialektik der Kritik der reinen Vernunft verwendet und der realen Entgegensetzung. Ich nehme diese Unterscheidung in Teil II, Kapitel 2.1.2.2 auf. Vgl. Michael Wolff, Der Begriff des Widerspruchs. Eine Studie zur Dialektik Kants und Hegels, Königstein/Ts. 1981 (Neuausgabe Frankfurt a. M. 2009), S. 41–77.
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Kant: Von der »Aufbietung aller Mittel« zur »Realrepugnanz«
stand), sondern die Größen oder Kräfte berauben sich gegenseitig ihrer Folgen. 69 Was mit den Folgen gemeint ist, wird durch die kantischen Beispiele deutlich: Im Falle von Aktiv- und Passivschulden sind die Folgen die Möglichkeit, Geld einzunehmen oder auszugeben, im Falle der Schiffsfahrt nach Osten und Westen sind die Folgen oder Wirkungen die Möglichkeit, Wegstrecken in verschiedene Richtungen zurückzulegen. Das Ergebnis ist kein Mangel (defectus, absentia), sondern eine gegenseitige Beraubung (privatio) dieser Folgen bzw. Wirkungen. Kant zeigt die Anwendungsmöglichkeiten der realen Entgegensetzung oder der Realrepugnanz für sehr verschiedene Arten von Beispielen. Die Beispiele aus der »Seelenlehre« oder der Moralphilosophie machen deutlich, dass Kant die reale Entgegensetzung in dem frühen Text noch sehr am mathematischen Vorbild orientiert und anhand der Übertragung auf physikalische Verhältnisse denkt, denn die Beraubung wird im Sinne einer Subtraktion von Größen expliziert. 70 Trotz der großen Bedeutung, die Kant dem Gedanken der Realrepugnanz beimisst, der mit den Mitteln der Schulmetaphysik nicht gedacht werden kann 71, entwickelt Kant hieraus keinen Terminus für seine kritische Philosophie. Der Gedanke der Realrepugnanz kann deutlich in seiner Naturphilosophie und in seiner »Sozialphilosophie« in der Begriffsbildung von der »ungeselligen Geselligkeit« nachvollzogen werden, wie auch in der Religionsphilosophie, die die Realrepugnanz von Gut und Böse zum Thema hat. 72 Der Gebrauch des Gedankens für sozialphilosophische und religionsphilosophische Kant formuliert folgende Grundregel der Realentgegensetzung: »Die Realrepugnanz findet nur statt, in so fern zwei Dinge als positive Gründe eins die Folge des andern aufhebt. Es sei Bewegkraft ein positiver Grund: so kann ein realer Widerstreit nur statt finden, in so fern eine andere Bewegkraft mit ihr in Verknüpfung sich gegenseitig die Folgen aufheben.« (Kant, Negative Größen, AA 2:175–176). 70 »Gebet einem Menschen zehn Grade Leidenschaft, die in einem gewissen Falle den Regeln der Pflicht widerstreitet, z. E. Geldgeiz! Lasset ihn zwölf Grade Bestrebung nach Grundsätzen der Nächstenliebe anwenden […].« (Kant, Negative Größen, AA 2:200). 71 Thomas Kisser zeigt dies für die Metaphysik von Leibniz und Spinoza, in: Thomas Kisser, »Gradualität, Intensität, Subjektivität – Zur Struktur und Funktion der Qualitätskategorie bei Fichte und in ihrer Vorgeschichte«, in: T. Kisser/T. Leinkauf (Hg.), Intensität und Realität. Systematische Analysen zur Problemgeschichte von Gradualität, Intensität und quantitativer Differenz in Ontologie und Metaphysik, Berlin/ Boston 2016, S. 171–224, S. 186–188. 72 Ebd., S. 184, 189. 69
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Zwecke zeigt, dass Kant die ausschließlich quantifizierende Rede von einer bestimmten Anzahl von »Graden« der Leidenschaft und von Tugend oder von Geselligkeit und Ungeselligkeit erweitert hat zugunsten eines Gegeneinanderwirkens von praktischen Tätigkeiten (Arten des Geselligseins und Arten des Ungeselligseins), die in individuellen und sozialen Vollzügen je andere Gestaltung (Positivität) finden. Es scheint mir darüber hinaus erhellend zu sein, viele von Kants moralphilosophischen Lehrstücken, wie das vom potenziellen Gegeneinanderwirken von Leidenschaften und Pflichten und auch das Gefühl der Achtung und seine Funktion, vor dem Hintergrund dieser Figur zu lesen. Hier will ich diese Figur heranziehen, um den für die Struktur des Wünschens konstitutiven »Widerspruch«, der doch kein logischer sein kann, sondern als reale Entgegensetzung aufgefasst werden muss, verständlich zu machen. Die Struktur des Wünschens als Realrepugnanz zu explizieren, bedeutet, die beiden Tätigkeiten, nämlich einerseits auf die Hervorbringung des Objekts hinzuwirken und andererseits keinen Erfolg zu erwarten, als Entgegensetzung von zwei »Positiven« zu verstehen, die ein »positives« Ergebnis haben. Kant konkretisiert diese Struktur anhand der Sehnsucht, der affektiven Erscheinungsweise des Wunsches. Kräfte werden durch Vorstellungen angespannt, dies entfaltet eine Wirksamkeit im Subjekt und ist als bestimmte Empfindung beschreibbar. Dem entgegen steht die Ermattung angesichts der Unmöglichkeit, den vorgestellten Gegenstand zu erreichen. Kant streicht bei seinen frühen Überlegungen über die Verwendbarkeit der begrifflichen Figur der negativen Größen in der Philosophie sehr deutlich heraus, dass eine Vorstellung (nehmen wir z. B. die Vorstellung des Protagonisten unserer ersten Beschreibung, morgen mit dem Schreiben zu beginnen) nicht einfach aufhört und aus dem Bewusstsein verschwindet, sondern durch eine positive Gegenkraft aufgehoben werden muss (im Kontext der ersten Beschreibung die Herstellung der Diskontinuität). Angewandt auf die Sehnsucht bedeutet das, die Ermattung nicht nur als Konsequenz einer Einsicht in die Unmöglichkeit des Gegenstandes, sondern als aktive »Anstrengung einer Kraft« zu verstehen. Das Ergebnis dieser realen Entgegensetzung beschreibt Kant als Ausdehnung und »Welkwerden« des Herzens, wodurch die Kräfte erschöpft werden. 73 Dieses Stück über die Struktur des Wünschens liest sich wie eine Analyse von Prousts »Choreographie« des Wünschens. Man könnte denken, Kant gebe eine Ant-
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Kants Wortwahl lässt keinen Zweifel daran, dass er sowohl Wünsche als »leere Begehrungen« wie auch deren affektive Erscheinungsweise, die Sehnsucht, äußerst negativ bewertet. Trotzdem oder gerade deswegen sieht Kant die Notwendigkeit, die Struktur dieser Begriffe zu klären, um sie als Instrumente moralischer Kritik zur Verfügung zu haben. Dies zeigt sich an vielen Stellen: In der Tugendlehre dient der Begriff des (bloßen) Wunsches zur kritischen moralischen Selbsterkenntnis. 74 Kant thematisiert hier nicht das mögliche kreative Potenzial, das im Phänomen des Wünschens und dem Gefühl der Sehnsucht liegen könnte, wie es zum Beispiel in der romantischen Verherrlichung der Sehnsucht geschehen ist. 75 Der Frage nach dem Zweck und der möglichen positiven Funktion des Wünschens und der Sehnsucht weist Kant keinen philosophischen, sondern einen »anthropologisch-teleologischen« Rang zu. Die Andeutung, die Kant zur Beantwortung dieser Frage am Ende seiner Strukturanalyse des Wünschens in der langen Anmerkung in der Einleitung der Kritik der Urteilskraft gibt, scheint mir für die Strukturanalyse des Wünschens wie für die Unterscheidung zwischen Wünschen und Wollen ausgesprochen weitreichend und keineswegs nur »anthropologisch-teleologischer« Natur zu sein. Seine Antwort ist nämlich hier nicht, wie noch in dem Aufsatz Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte 76, dass die problematische Funktion des Wunsches die Flucht aus der Mühseligkeit des Lebens sei, sondern die, dass Wünsche und Sehnsüchte als vergebliche Versuche unserer Kräfte deshalb notwendig seien, weil wir unsere Kräfte erst erkennen, wenn wir sie ver-
wort auf die Frage, wie Prousts Beschreibung begrifflich analysiert werden muss, nämlich mit Hilfe der Begriffe der praktischen Vorstellung und der realen Entgegensetzung. 74 Kant, MS TL, AA 6:441: »Dann aber widersteht sie [die moralische Selbsterkenntnis] auch der eigenliebigen Selbstschätzung, bloße Wünsche, wenn sie mit noch so großer Sehnsucht geschähen, da sie an sich doch tatleer sind und bleiben, für Beweise eines guten Herzens zu halten. (Gebet ist auch nur ein innerlich vor einem Herzenskundiger deklarierter Wunsch.)« 75 Vgl. z. B. das Gedicht »Sehnsucht« von Josef von Eichendorff sowie die Auslegung in der Studie: Katja Löhr, Sehnsucht als poetologisches Prinzip bei Joseph von Eichendorff, Würzburg 2003. 76 Kant, Mutmaßlicher Anfang, AA 8:114: »Künftig wird ihm die Mühseligkeit des Lebens öfter den Wunsch nach einem Paradiese, dem Geschöpfe seiner Einbildungskraft, wo er in ruhiger Unthätigkeit und beständigem Frieden sein Dasein verträumen und vertändeln könne, ablocken.«
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suchen. 77 Zunächst ist irritierend, dass Kant das Wünschen gerade für den Versuch von Kräften anzuerkennen scheint, die sonst unerkannt blieben, denn die Problematik des Wünschens und der Sehnsucht ist gerade der mangelnde Kräfteeinsatz für das, was der Gegenstand des Wunsches ist. Kant macht aber mit dieser Bemerkung ganz deutlich, was mit dem Modell der Realrepugnanz im Hintergrund auch verständlich ist. Etwas zu wünschen heißt, vermittels der Vorstellung vom Inhalt des Wünschens auf etwas hinzuwirken und das heißt Kräfte einzusetzen, dagegen aber sogleich »Gegenkräfte« zu mobilisieren. Dies Verhältnis von Kraft und Gegenkraft, Tätigkeit und entgegengesetzter Tätigkeit kann sehr verschiedene Erscheinungsformen annehmen. Eine Gestaltung der affektiven Dimension ist mit der Analyse der Sehnsucht gegeben. Die »realrepugnante« Struktur des Wünschens ermöglicht sowohl verschiedene Realisierungen der gegeneinanderwirkenden Tätigkeiten wie auch verschiedene zeitliche und qualitative Realisierungen von deren Realopposition. Es sind sowohl solche Wünsche möglich, in denen die auf den Gegenstand hinwirkende Vorstellung und die gleichzeitige mangelnde Erwartung zu einem Ergebnis führen, das als bestimmter affektiver Zustand zu beschreiben ist, bei dem keine Anstrengungen zur Realisierung unternommen werden. Es sind aber auch solche Wünsche möglich, bei denen die hinwirkende Vorstellung und gleichzeitige mangelnde Erwartung zu einem Ergebnis führen, das eine Reihe von sichtbaren Anstrengungen mit sich bringt, die sozusagen trotz oder auch wegen des wahrscheinlichen oder sicheren Scheiterns unternommen werden. Um die (aristotelischen) Beispiele für Wünsche, von denen wir wissen, dass wir sie nicht verwirklichen können, nämlich die Wünsche fliegen zu können und unsterblich zu sein, ranken sich nicht umsonst lauter Beispiele und Geschichten, in denen gerade an der Umsetzung von solchen Wünschen viel gearbeitet wurde, mal mit der Konsequenz des Scheiterns, aber auch mit überraschenden Entdeckungen. Bei dem Wunsch zu fliegen ließe sich an die mythische Erfindergabe von Dädalus denken. Und bei dem Wunsch unsterblich Kant, KU, AA 5:178, Anm.: »Es scheint, dass, sollten wir nicht eher, als bis wir uns von der Zulänglichkeit unseres Vermögens zu Hervorbringung eines Objekts versichert hätten, zur Kraftanwendung bestimmt werden, diese großenteils unbenutzt bleiben würde. Denn gemeiniglich lernen wir unsere Kräfte nur dadurch allererst kennen, dass wir sie versuchen. Diese Täuschung in leeren Wünschen ist also nur die Folge von einer wohltätigen Anordnung in unserer Natur.«
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zu werden könnte man die extensive daoistische Literatur zur Kenntnis nehmen, die aus dem Wunsch, unsterblich zu werden, Entdeckungen über Lebensführung und Gesundheit gemacht hat, die zu erstaunlichen lebensverlängernden Erfolgen geführt hat. In vielen Fällen ist es sicher richtig, dass wir dann, wenn uns klar wird, dass wir etwas (Unmögliches) wünschen, keine Kraftanstrengung im Sinne äußerer Taten unternehmen. Aber es gibt auch nicht selten die anderen Fälle, wo wir Unmögliches wünschen und doch ziemlich viel Energie in diese Wünsche investieren oder wo wir Unmögliches wünschen und diesem Unmöglichen durch Hartnäckigkeit und erfinderisches Geschick doch näherkommen oder dabei andere wichtige Möglichkeiten eröffnet werden. Es sind solche Fälle von Wünschen, die Kant hier zu meinen scheint, weil Menschen ihre Kräfte durch solche Versuche in hohem Maße kennenlernen. Die dritte Möglichkeit ist, dass sich erst bei den Versuchen, etwas Vorgestelltes zu realisieren, zeigt, dass dies Vorgestellte unmöglich zu erreichen ist, entweder, weil zu wenig der verfügbaren Mittel »aufgeboten« wurden oder weil die nötigen Mittel in der Situation nicht oder prinzipiell nicht zur Verfügung stehen. Dann zeigt sich, dass, um Kants Terminus der »Täuschung« aufzunehmen, eine Täuschung vorlag bei der Annahme, man habe den vorgestellten Gegenstand gewollt, vielmehr wird offenbar, dass er »bloß« gewünscht werden könne. Auch solche »Täuschungen« tragen dazu bei, seine Kräfte und deren Grenzen kennenzulernen. 78 Diese Bemerkung von Kant kommt als »anthropologisch-teleologische« daher, weil er mit ihr in tatsächlich philosophisch zweifelhafter Weise versucht, dem von ihm sehr pejorativ bewerteten Phänomen doch noch einen Zweck für die Menschheit als solche abzugewinnen und damit in den verborgenen Plan der Natur (»wohltätige Anordnung in unserer Natur«) Einblick zu erhalten. Die philosophisch aber sehr wichtige und weitreichende Einsicht, die in dieser Mutmaßung unsystematisch Ausdruck findet, ist die, dass das VerDieser Versuch, die argumentative Lücke zu füllen, die Kant offen lässt, wenn er unvermittelt davon zu sprechen scheint, dass Wünsche es uns ermöglichen, unsere Kräfte kennenzulernen, wirkt wie eine begriffliche Fundierung des Spektrums der Differenzerfahrungen bei selbstreflexiven Wünschen, die im ersten Kapitel skizziert worden sind; angefangen von der Differenz zwischen Vorhaben und Tun, die im hehren Gefühl bei guten Vorsätzen für das neue Jahr wirksam ist, bis zu der Differenz zwischen Vorhaben und Tun, die wie ein überraschender »Riss« erscheint, wenn wir selber irritiert sind, dass wir einem festen Entschluss doch nicht gefolgt sind.
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hältnis von Zwecken und Mitteln zu statisch bestimmt ist, wenn zu gefassten Zwecken immer im Vorhinein klar sein soll, was die geeigneten Mittel seien. Geeignete Mittel finden sich oft im Tun und es erschließen sich neue Möglichkeiten, wenn konkrete Versuche unternommen werden. Die Überlegung hat Folgen dafür, wie die Unterscheidung zwischen Zwecken und Mitteln zu treffen ist. 79 Damit der so bestimmte Begriff des Wollens im Unterschied zum Wünschen nicht wie eine idiosynkratische Nominaldefinition erscheint, die zwar möglich, aber oft hochgradig unplausibel ist, müssen die Beschreibungsgewinne deutlich gemacht werden, die eine so angelegte Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille mit sich bringt. Bernd Ludwig betont in seiner Deutung des analytischen Zusammenhangs des Wollens von Zwecken und Mitteln in der Grundlegung die Notwendigkeit dieses Schritts. Er skizziert anhand einiger Beispiele, dass Kant mit dem Aufweis des analytischen Zusammenhangs des Wollens von Zwecken und Mitteln, das vom wollenden Subjekt mit dem Bewusstsein der Nötigung verbunden sei, unser Selbstverständnis als Handelnde treffe. Das wollende Subjekt wird genötigt abzuwägen, ob es die mit dem Zweck notwendig verbundenen Mittel auch wolle, oder ob es den Zweck und seine Realisierung doch lieber aufgebe. Fällt die Abwägung negativ aus, ist das Subjekt nicht bereit, die notwendig verbundenen Mittel zu akzeptieren oder aktiv einzusetzen, dann will es auch den in Frage stehenden Zweck nicht, sondern wünscht ihn (bloß). Das wollende Subjekt sieht sich genötigt, wenn es einen bestimmten Zweck will, auch die dafür unabdingbaren Mittel zu wollen. Wird sich das Subjekt in reflexiver Einstellung bewusst, dass es diese Mittel nicht ergreift oder ergriffen hat, dann muss man sagen, dass es »in Wirklichkeit« gar nicht gewollt, sondern gewünscht hat. 80 Es scheint mir wichtig zu sehen, dass die kantische Unterscheidung zwischen Wollen und Wünschen einen Anker in unseren Erfahrungen als Handelnde hat und einen zentralen Punkt unseres Selbstverständnisses aufnimmt. Gleichzeitig ist diese Unterscheidung aber nicht nur eine begriffliche Schärfung einer Erfahrung, sondern sie hat auch kritische Im-
Dieser Gedanke wird in Teil I, Kapitel 4 zum zentralen Thema. Ludwig, »Warum es keine ›hypothetischen Imperative‹ gibt, und warum Kants hypothetisch-gebietende Imperative keine analytischen Sätze sind«, a. a. O., S. 119.
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plikationen, die sich zunächst wie »kontraintuitive« Konsequenzen ausnehmen. Die erste Konsequenz bringt Gerhard Seel anhand eines Beispiels auf den Punkt. 81 Stellen wir uns jemanden vor, der eine Tochter heiraten will und zugleich deren Mutter als Schwiegermutter vermeiden will, der also einen Zweck hat und verfolgt und die unabdingbaren Mittel (oder hier besser rechtlichen Implikationen) vermeiden will. Eine solche Person wisse zwar, so Seel, dass die Realisation von p (p: die Tochter heiraten) die Realisation von non-q (q: die Mutter als Schwiegermutter erhalten) ausschließt, dadurch sei es aber keineswegs (logisch) ausgeschlossen, p zu wollen und q nicht zu wollen. Ohne dies auszuführen, schließt Seel hier an Verwendungen des Ausdrucks »wollen« im alltäglichen Sprachgebrauch an, die das Wollen als eine Art mentale Tätigkeit dem Handeln gegenüberstellt. Diese semantische Implikation kommt, wie in der Einleitung zum ersten Teil zur alltagssprachlichen Verwendung von »Wünschen« und »Wollen« skizziert, oft vor, wie: »Ich wollte zwar kommen, aber es ging einfach nicht.« Seels Einwand kann sich also auf eine durch unseren alltäglichen Sprachgebrauch gestützte Semantik des Ausdrucks »Wollen« beziehen und damit eine »intuitive Plausibilität« reklamieren. Hier wirkt die Überzeugungskraft des Bildes vom Wollen, das Sigwart so plastisch vorgeführt hat. Die Konsequenz des von Kant vorgeschlagenen Begriffs des Wollens ist demgegenüber nun die, die Gebrauchsbedingungen des Ausdrucks »Wollen« enger zu fassen als in der Alltagssprache üblich und für eine klare begriffliche Unterscheidung zwischen Wollen und Wünschen zu votieren. Danach kann jemand sehr wohl sagen, dass er sich wünsche, die Tochter zu heiraten und die Mutter nicht als Schwiegermutter zu erhalten, wollen könne er dies jedoch nicht. Mit diesem Unterscheidungsvorschlag wird die Gegenüberstellung von innerem Wollen und äußerem Handeln zurückgewiesen. Die philosophische Analyse hat eine kritische Dimension gegenüber den theoretischen Konzeptionen, die an das Bild vom inneren Wollen gegenüber dem äußeren Handeln anschließen.
Seel, »Sind hypothetische Imperative analytische praktische Sätze?«, a. a. O., S. 163.
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2.2.4 Ordnung praktischer Begriffe Kant hat verschiedene Konsequenzen aus der Strukturanalyse des Wünschens gezogen. Die erste Konsequenz ist die, dass Wünsche als eine Form menschlichen Begehrens einen systematischen Ort in der Ordnung der praktischen Vollzüge erhalten müssen. Sein Vorschlag dazu findet sich in der Einleitung zur Metaphysik der Sitten. Die zweite Konsequenz ist ein erhöhtes Interesse an den Erscheinungsweisen des Wünschens. Der praktische Begriff des Wunsches ist wichtig, um Phänomene zu beschreiben, die die endlichen Verhältnisse übersteigen, wie im Begriff der Glückseligkeit oder in der Praxis des Gebets. In der Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft analysiert Kant das Gebet mit Hilfe der Struktur von Wünschen 82 und in der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht thematisiert er die affektiven Ausdrucksweisen des Wünschens 83. Die dritte Konsequenz ist die Weiterführung der schon in der Grundlegung angelegten Linie, die Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille als Mittel zur moralischen (Selbst-)Kritik zu nutzen, wie es in der Tugendlehre an einigen Stellen geschieht. Die erste Konsequenz ist das Thema dieses Abschnitts. Die dritte Konsequenz wird unter Einbezug der Überlegungen zu den affektiven Wirkungen von Wünschen im nächsten Abschnitt besprochen (2.2.5 Moralische Kritik und Selbstkritik). 84 Kant hat beide Seiten der Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille gesondert analysiert. Die Struktur des Willens ist eines der Hauptthemen der Grundlegung und der Kritik der praktischen Vernunft, während die Struktur des Wünschens in der besprochenen Anmerkung in der Kritik der Urteilskraft entwickelt ist. Wenn man die Einleitung in die Metaphysik der Sitten als Zusammenführung dieser Ergebnisse betrachtet, dann ist diese zunächst ausgesprochen überKant, Religion, AA 6:195. Kant, Anthropologie, AA 7:251. 84 Die Funktion des Wunsches in der Religionsphilosophie kann hier nicht mehr behandelt werden. Für eine vollständige Behandlung des Wunsches bei Kant müssten zudem noch das Verhältnis zwischen Wunsch und Glückseligkeit betrachtet werden, wie auch die Frage, die an der Schnittstelle zwischen theoretischer und praktischer Philosophie auftaucht, nämlich welchen Einfluss das Wollen auf das Fürwahrhalten habe und unter welchen Umständen jemand das für wahr hält, von dem er sich wünscht, dass es wahr sein möge. Dies wird oft als »Wunschdenken« bezeichnet. 82 83
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raschend, da nicht nur Wille und Wunsch als Formen des Begehrungsvermögens nach Begriffen unterschieden werden, sondern Willkür, Wunsch und Wille. Die Unterscheidung scheint also in dieser Zusammenführung ihre Struktur verändert zu haben, aus einer zweigliedrigen Unterscheidung mit den beiden »Gliedern« oder Seiten Wille und Wunsch ist eine dreigliedrige Unterscheidung mit den Gliedern oder Seiten Willkür, Wunsch und Wille geworden. In den vielen Deutungen, die zur Funktion und Bedeutung der Unterscheidung zwischen Willkür und Wille für die kantische Philosophie vorliegen, wird meist die dritte Seite dieser Unterscheidung, der Wunsch, nicht oder nicht ausführlich berücksichtigt. Im Gegenteil, das Auftauchen des Wunsches an dieser Stelle macht auch einigen neueren Deutungen dieser Passage Schwierigkeiten. 85 Ich will nun im Folgenden erstens zeigen, dass diese dritte Seite der Unterscheidung, der Wunsch, erhebliche Bedeutung für das Verständnis der beiden anderen Seiten, Willkür und Wille wie auch für den allgemeineren Begriff des Begehrungsvermögens nach Begriffen, der all diese drei Formen umfasst, hat. Dabei ergibt sich zweitens, dass die Identifizierung der Willkür mit dem »Vermögen nach Belieben zu tun oder zu lassen« nicht mit dem kantischen Text und der Funktion der gesamten dreigliedrigen Unterscheidung in Einklang zu bringen ist. Drittens ist es wichtig, die Art, wie die Unterscheidung zwischen Willkür, Wunsch und Wille zu verstehen ist, genau zu reflektieren, um zu sehen, dass im kantischen Verständnis handlungstheoretische Fragen (mit dem Grundbegriff der Willkür) und moralische Fragen (mit dem Grundbegriff des Willens) nicht voneinander zu trennen sind. Ich will einsetzen mit der Klärung der Frage, wie Kant eigentlich Willkür, Wunsch und Wille voneinander unterscheidet. Bei vielen kantischen Unterscheidungen hängt für das Verständnis und die Anschlussfähigkeit an heutige Überlegungen sehr viel davon ab, wie Kant jeweils unterscheidet. Ein prominentes Beispiel ist der Streit der Interpreten über die Art, wie die Unterscheidung zwischen Phänomena und Noumena zu verstehen sei. Handelt es sich hier um eine Unterscheidung von Aspekten derselben Dinge (»Zwei-Aspekte«-
Vgl. Engstrom, »Reason, desire, and the will«, a. a. O., S. 46 und Höwing, »Das Verhältnis der Vermögen des menschlichen Gemüts zu den Sittengesetzen«, a. a. O., S. 43.
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Interpretation) 86 oder um eine ontologische Unterscheidung zwischen unterschiedlichen Dingen (»Zwei-Welten«-Interpretation) 87? Kant hat im Unterschied zu Platon oder Hegel keine Reflexionstheorie des Unterscheidens geliefert, in der er selber die Weisen seines Unterscheidens reflektiert hätte. 88 Deshalb ist bei jeder kantischen Unterscheidung neu zu fragen, wie Kant hier unterscheidet, was die verschiedenen Möglichkeiten sind und welche Konsequenzen diese jeweils haben. Die Weisen, wie unterschieden wird, lassen sich sehr verschieden qualifizieren. In der allgemeinen Einleitung, dem Problemaufriss der ganzen Untersuchung, habe ich eine Reihe von Qualifizierungen angeführt, die sich häufig in Texten finden. 89 Ohne eigens über das, was die Tätigkeit des Unterscheidens eigentlich ausmacht, nachzudenken, ist es nicht möglich, mehr als eine unsystematische und unvollständige Auflistung von verbreiteten Qualifikationen vorzunehmen. Einen derartigen Versuch, die Tätigkeit des Unterscheidens als solche zu reflektieren, stellen vor allem das zweite und dritte Kapitel des zweiten Teils dar. Mein Anliegen ist dabei, die Aufmerksamkeit gezielt auf Weisen des Unterscheidens zu richten und systematischer als meistens üblich, Hinsichten zur Qualifikation von Unterscheidungen zu gewinnen. (Dabei wird auch deutlich, weshalb ein Vollständigkeitsanspruch verfehlt ist.) Ich verwende an dieser Stelle eine dieser Qualifikationshinsichten, die erst im zweiten Teil eingeführt, plausibilisiert und gerechtfertigt wird, nämlich die Differenzierung von vier verschiedenen Praktiken des Unterscheidens: Einteilen, Bestimmen, Kontrastieren und Differenzieren. 90 Sind Willkür, Wunsch und Wille Einteilungen des Begehrungsvermögens nach Begriffen? Vieles im Text spricht dafür und es ist zu sehen, welche Konsequenzen die Anwendung dieser UnterscheiVgl. zu dieser Deutung z. B.: Gerold Prauss, Kant und das Problem der Dinge an sich, 3. Aufl., Bonn 1989; Henry E. Allison, Kant’s Transcendental Idealism. An Interpretation and Defense, New Haven/London 1983; Henry E. Allison, »Transcendental Idealism: A Retrospective«, in: ders., Idealism and Freedom. Essays on Kant’s Theoretical and Practical Philosophy, Cambridge 1996, S. 3–26. 87 Vgl. zu dieser Deutung z. B. Paul Guyer, Kant and the Claims of Knowledge, Cambridge 1987. 88 Vgl. dazu Teil II, Kapitel 2.1 und 3.2. 89 Vgl. allgemeine Einleitung, Abschnitt vi. 90 Vgl. dazu Teil II, Kapitel 2.1. 86
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dungspraktik des Einteilens hat. Oder ist die Unterscheidung zu verstehen als Voranstellung von Bestimmungen wichtiger Begriffe, mit denen im Folgenden gearbeitet wird? Oder hat die Unterscheidung die Funktion, die Begriffe über die Kontrastbildungen zueinander zu entfalten, zum Beispiel indem Wunsch und Willkür oder Willkür und Wille als Kontrastpaare verhandelt werden? Eine andere Möglichkeit wäre die, die Unterscheidung als Differenzierung von Formen des Begehrens nach Begriffen zu verstehen. Differenzierungen sind da nötig, wo Verwechslungsgefahr besteht und vorschnelle Vereinheitlichungen vorgenommen werden. Geht es darum, scheinbare Ähnlichkeiten zurückzuweisen? Ich will diese vier Möglichkeiten, die Unterscheidung zu verstehen, im Folgenden auf ihre jeweils verschiedenen Konsequenzen hin betrachten. Diese verschiedenen Praktiken, Unterscheidungen zu verwenden, schließen sich nicht prinzipiell aus, sie können durchaus auch kombiniert werden. Dabei ist es natürlich wichtig, die Kombination oder den Wechsel von einer zur anderen zu motivieren und die jeweils verschiedenen Regeln zu beachten. Auf den ersten Blick liest sich die Passage wie eine Taxonomie des (oberen) Begehrungsvermögens nach Begriffen. Solche Ordnungen, Übersichten und Einteilungen liefert Kant oft in Einleitungen (vgl. die Vorrede zur Grundlegung, auch die zur Kritik der Urteilskraft). Stephen Engstrom liest Kant ganz deutlich von der Logik der Einteilungen her. Er beginnt seine Überlegungen zum Verhältnis von Willkür, Wunsch und Wille mit einem Rückbezug auf die Einteilung der Philosophie in der Grundlegung. Er zeigt, dass Kants Teilung zwischen theoretischer und praktischer Erkenntnis eine philosophische Kritik an der rationalistischen Unterordnung der Moralphilosophie unter die theoretische Naturerkenntnis darstellt und die Teilung zwischen a priorischem und empirischem Teil in der praktischen Philosophie eine Kritik an der empiristischen Tradition formuliert. Engstrom macht deutlich, dass die kantischen Unterscheidungen als Einteilungen (divisions) zu verstehen sind. 91 Dies bedeutet, dass ein generischer Begriff, die eine Vernunft, in zwei Arten der Anwendung spezifiziert wird. 92 Die Merkmale des generischen Begriffs der Vernunft Vgl. Engstrom, »Reason, desire, and the will«, a. a. O., S. 29: »His distinctions are divisions […].« 92 Ebd., S. 29–30: »If the difference between natural und moral philosophy, or, as Kant also expresses it, between theoretical and practical knowledge, is a difference in the application of the same reason, then it must be possible to articulate the conception of this common reason and to describe how these applications differ.« 91
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sind die folgenden: Vernunft ist das Vermögen zu Schließen und das Vermögen, die Prinzipien, mithilfe von denen geschlossen wird, in einem selbstreflexiven Prozess zu gewinnen. Worin unterscheiden sich nun die theoretische und die praktische Anwendung der einen Vernunft? Der Grund der Unterscheidung liegt nicht in den Objekten, die Gegenstand der theoretischen oder praktischen Erkenntnis sind, sondern im Bezug der Erkenntnis auf das Objekt. Im Falle theoretischer Erkenntnis ist das Erkennen abhängig von der Aktualität des Gegenstandes, im Falle praktischer Erkenntnis ist der Gegenstand abhängig von der Aktualität des Erkennens. 93 Es ist sicher sehr wichtig, den gemeinsamen Rahmen von theoretischer und praktischer Vernunft zu sehen. Engstrom betont die Gefahr des Voluntarismus, wenn der kantische Willensbegriff vor allem unter der Perspektive der Autonomie diskutiert wird. 94 Mir scheint es aber genauso wichtig zu sein, die Differenz von theoretischer und praktischer Vernunft so zu reflektieren, dass verständlich werden kann, inwiefern Vernunft als praktische auch in ihren geteilten Vollzügen eine andere ist als die theoretische. Dies muss denen entgegengehalten werden, die den genuin praktischen Gebrauch der Vernunft bestreiten und die Vernunft auf die Möglichkeit beschränken, die Güte von Etwas oder Werte aufzufassen bzw. intuitiv einzusehen. 95 Thema des ersten Abschnitts der Einleitung der Metaphysik der Sitten 96 (Von dem Verhältnis der Vermögen des menschlichen Gemüts zu den Sittengesetzen) ist das menschliche Begehrungsvermögen im Allgemeinen. Kant betrachtet erst das sinnliche Begehrungsvermögen, das durch Lust initiierte Begehren (Begierde) und dann das Begehrungsvermögen nach Begriffen. Letzteres ist besonders wichtig, denn hier ist erst der Zusammenhang zu den »Sittengesetzen« thematisierbar. Das Begehrungsvermögen nach Begriffen wird bestimmt als Vermögen »nach Belieben zu tun oder zu lassen«. 97 Dies allgemeinere Vermögen scheint im Folgenden in verschiedene Arten Ebd., S. 32. Ebd., S. 28. 95 Wie dies z. B. bei Engstrom der Fall ist, ebd., S. 42. 96 Ludwig plädiert in seiner Studienausgabe der Rechtslehre für eine andere als die tradierte Anordnung der Abschnitte, vgl. Ludwig, »Einleitung«, a. a. O., S. XXVIII ff. Diese Frage kann für das sehr spezifische Interesse an der Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille im Hintergrund bleiben. 97 Das Wort »Belieben« wird im Adelung folgendermaßen bestimmt: »Sich aus Nei93 94
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Kant: Von der »Aufbietung aller Mittel« zur »Realrepugnanz«
zergliedert zu werden. Das Kriterium für eine erste Zergliederung liegt in der vorhandenen oder nicht vorhandenen Verbindung dieses Vermögens mit dem »Bewusstsein des Vermögens seiner Handlung zur Hervorbringung des Objekts«. Hier ist wichtig festzuhalten, dass der Ausdruck »Vermögen« in diesem Satz in zwei verschiedenen Bedeutungen vorkommt. In der ersten Verwendung (Begehrungsvermögen) scheint ein Vermögen gemeint zu sein, das so viel bedeutet wie Anlage, Fähigkeit, Kompetenz. Dies scheint dann aber eine anthropologische Setzung zu sein, die anthropologischer Begründungen bedarf und die in eine moral- und rechtsphilosophische Abhandlung andere Theorieelemente einzuführen scheint. Die Funktion der Vermögenslehre und die Bedeutung des Begriffs »Seelenvermögen« bei Kant ist seit Erscheinen der kantischen Texte ein Gegenstand erheblicher Kontroversen. Sind Vermögen mentale Fähigkeiten, psychische Grundkräfte, Möglichkeiten, etwas zu tun, Potenzen, Dispositionen, Funktionen? 98 Ich will hier einem Vorschlag folgen, Vermögen als Beziehung von Vorstellungen auf Gegenstände zu verstehen. 99 Zu begehren heißt, tätig zu werden zur Erschaffung des Begehrten. Diese »praktische« Beziehung der Vorstellungen auf Objekte ist aber auch verbunden mit der anderen Beziehungsrichtung, die Vorstellung tritt auch in Beziehung mit dem Subjekt, nämlich mit der Handlungsmacht des Subjekts. Dies bedeutet das zweite Vorkommen des Ausdrucks »Vermögen« in dem Satz (»Bewusstsein des Vermögens seiner Handlung gung zu etwas entschließen«, vgl. Adelung, a. a. O., Eintrag »Belieben«, Bd. 1, Spalte 843. 98 Heßbrüggen-Walter versucht dem kantischen Anspruch einer nicht-empirischen Vermögenslehre kritisch nachzugehen, vgl. Heßbrüggen-Walter, Die Seele und ihre Vermögen, a. a. O. 99 Heßbrüggen-Walter bestimmt die kantischen Vermögen als mentale Fähigkeiten, ebd., S. 16. Es gibt viele Versuche, den kantischen Vermögensbegriff zu erläutern und auch zu kritisieren. Deleuze versucht eine Umdeutung des Vermögensbegriffs bei Kant und differenziert zwei Bedeutungen. In der ersten Bedeutung geben »Vermögen« den Beziehungstyp von Vorstellungen an. Eine Vorstellung kann erstens unter dem Gesichtspunkt der Konformität auf ein Objekt bezogen sein, dadurch ist das Erkenntnisvermögen bestimmt. Zweitens kann eine Vorstellung in ein »Kausalitätsverhältnis« zu einem Objekt treten, dadurch ist das Begehrungsvermögen bestimmt. Drittens kann die Vorstellung mit dem Subjekt in Beziehung treten, indem die Lebenskräfte aktiviert oder gehemmt werden, dadurch ist das Gefühl der Lust und Unlust bestimmt. Vgl. Gilles Deleuze, Kants kritische Philosophie. Die Lehre von den Vermögen, Berlin 1990, S. 23 (Übersetzung Mira Köller). In der zweiten Bedeutung bezeichnet ein Vermögen den Ursprung der Vorstellungen, vgl. ebd., S. 30 ff.
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zur Hervorbringung«). Hier gibt es nun zwei Möglichkeiten: Das Begehren kann mit dem Bewusstsein der Handlungsmacht verbunden sein oder nicht. Ist es mit dem Bewusstsein der Handlungsmacht verbunden, ist es Willkür, ist es das nicht, handelt es sich um einen Wunsch. Willkür und Wunsch sind also parallel zueinander konstruiert. Engstrom analysiert den Wortlaut hier sehr genau und differenziert zwischen der Abwesenheit von Handlungsmacht oder dem Vorliegen von Handlungsohnmacht. Da letztere nur für bestimmte Wünsche, und nicht für alle gilt, wird hier ein weiter Ausdruck gewählt, unter dem Formen des Wünschens Platz finden. Engstrom misst dem Wünschen eine hohe Bedeutung für die »Metaphysik der Moral« bei. 100 Vermögen im ersten Sinne bedeutet immer die Ausrichtung der Vorstellung aufs Objekt. Wie nun das Bewusstsein der Handlungsmacht des Subjektes aussieht, zeigt sich in den praktischen Situationen. Willkür und Wunsch realisieren sich deshalb jeweils als »Aktus« im Zusammenspiel der subjektiven Möglichkeiten mit der Situation. 101 Willaschek hat aus den kantischen Reflexionen Stellen zum Verhältnis von Vermögen und Aktus (oder »Kraft«, wie Kant dafür auch öfter sagt) zusammengestellt, wo deutlich wird, dass Kant das Vermögen als »innere Möglichkeit«, als potentia versteht im Un-
Engstrom, »Reason, desire, and the will«, a. a. O., S. 46. Der grammatische Bezug des Ausdrucks »Aktus« im folgenden Satz aus der Einleitung in die Metaphysik der Sitten wie auch an der Doppeldeutigkeit des Ausdrucks »Vermögen« ist interpretatorisch folgenreich: »Sofern es [das Vermögen nach Belieben zu tun oder zu lassen] mit dem Bewusstsein des Vermögens seiner Handlung zur Hervorbringung des Objektes verbunden ist, heißt es Willkür; ist es aber damit nicht verbunden, so heißt der Aktus desselben ein Wunsch.« (Kant, MS RL, AA 6:213) Hier ist wichtig zu sehen, dass der Wunsch als ein »Aktus des Vermögens nach Belieben zu tun oder zu lassen« bestimmt wird. »Desselben« bezieht sich auf das »Vermögen nach Belieben zu tun und zu lassen« zurück, und nicht auf »Willkür«. Der Rückbezug auf »Willkür« wurde durch den Text der ersten Ausgabe der Rechtslehre nahegelegt, in der es statt »desselben« »derselben« heißt, vgl. Paul Natorp, »Lesarten« (1907/14), AA 6:526–547, 529. Für das Verständnis dieser Stelle ist außerdem die doppelte Bedeutung des Ausdrucks »Vermögen« wichtig, die Willaschek (vgl. Willaschek, Praktische Vernunft, a. a. O., S. 40) und daran anschließend Höwing nicht zu berücksichtigen scheinen. Es heißt z. B. bei Höwing: »Während die Willkür ein Vermögen darstellt, handelt es sich bei dem Wunsch lediglich um den ›Actus‹ (MS 6.213.19), d. h. um die Ausübung eines Vermögens.« Und dazu die folgende Bemerkung in der Fußnote 43: »Es ist allerdings nicht ganz klar, welches Vermögen beim Wunsch ausgeübt wird.« (Höwing, »Das Verhältnis der Vermögen des menschlichen Gemüts zu den Sittengesetzen«, a. a. O., S. 43). 100 101
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terschied zum Aktus: »Die Kraft handelt, das Vermögen nicht.« 102 Das Vermögen ganz allgemein braucht also die Verwirklichung durch einen Aktus. Willkür und Wunsch scheinen die beiden Formen zu sein, in denen sich das Vermögen des Begehrens nach Begriffen aktualisieren kann, zwei Aktus des Vermögens. Der Wunsch ist also ein Aktus dieses Vermögens und kein Verbleiben des Vermögens in seiner Potenzialität. Damit ist das Spannungsfeld des Begehrens nach Begriffen eröffnet. Ich will nun die genannten vier Möglichkeiten (einteilen, kontrastieren, bestimmen und differenzieren), die Verfahren, mithilfe von denen diese begrifflichen Unterscheidungen erschlossen werden, in ihren Konsequenzen miteinander konfrontieren. Erstens: Liest man die Passage als Einteilung, dann besteht ihr Ziel darin, einen umfassenderen Begriff, den des Begehrungsvermögens nach Begriffen, in seine Unterbegriffe zu zergliedern. Der generische Begriff muss so weit gefasst sein, dass seine Arten darunterfallen und durch das, was sie spezifiziert, voneinander abgegrenzt werden können. Der generische Begriff des Begehrungsvermögens nach Begriffen wird von Kant folgendermaßen bestimmt: Er steht für das, was seinen Bestimmungsgrund zur Handlung in ihm selbst hat, nicht in dem Objekt bzw. ist als Vermögen zu verstehen, nach Belieben zu tun oder zu lassen. Die Zergliederung erfolgt durch das Einziehen von Unterschieden. Der erste Unterschied liegt darin, ob, mit Rückgriff auf die obigen Überlegungen abgekürzt gesagt, das Bewusstsein der Handlungsmacht vorliegt oder nicht. Das Vorliegen dieses Bewusstseins spezifiziert die Willkür. Der Wunsch wird qualifiziert durch die Negation, d. h. das Bewusstsein der Handlungsmacht ist nicht mit dem Begehrungsvermögen nach Begriffen verbunden. 103 Wie ist nun diese Negation zu verstehen? Zwei Deutungen liegen nahe, die an eine Differenzierung anschließen, die für die Strukturanalyse des Wünschens relevant geworden ist. Die Negation kann nämlich zum einen logisch verstanden werden. In diesem Fall wird dasselbe positive Merkmal, das der Willkür zugesprochen wird, dem Wunsch abgesprochen. Dadurch erfolgt eine logische Entgegensetzung von Willkür und Wunsch. Die zweite Art der Negation, wie sie Kant in seinem programmatischen Text 102 Willaschek zitiert hier aus Kants Reflexionen, R 3584, in: AA 17:72, vgl. Willaschek, Praktische Vernunft, a. a. O., S. 40. 103 Kant, MS RL, AA 6:213.
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über die Einführung der negativen Größen in die Weltweisheit skizziert hat, ist die reale Entgegensetzung. Hier wird die Negation »inhaltlich« und nicht formal verstanden als etwas Negatives, das selber nicht »Nichts«, sondern »Etwas« ist. Die Strukturanalyse des Wünschens hat gezeigt, dass das Nichtvorhandensein des Bewusstseins der eigenen Handlungsmacht selber ein »positives« Ergebnis ist und zwar ein Ergebnis einer realen Entgegensetzung von hervorbringender Vorstellung und gegenläufiger Tätigkeit, diese Hervorbringung nicht zu erwarten. Da Kant thematisch an diese früheren Überlegungen anschließt, scheint eine in eine taxonomische Ordnung gebrachte Wiederholung der Figur der Realrepugnanz vorzuliegen. Die Willkür ist dem Wunsch real entgegengesetzt. Der Wunsch selber ist auch charakterisiert durch reale Entgegensetzung, nämlich die zwischen hervorbringender Vorstellung und gegenläufigem Nicht-Erwarten. 104 Die Dynamik, die in einer realen Entgegensetzung liegt, wird im Modus des Einteilens abgeblendet. Hier kommt es darauf an, dass die Abgrenzungen scharf sind, keine Überschneidungen vorliegen und die voneinander abgegrenzten Arten (hier des Begehrens nach Begriffen) vollständig sind. Einteilungen, in denen es darauf ankommt, Verhältnisse nach Ebenen von Allgemeinheit und Spezifikation (gewissermaßen in der vertikalen Linie) herauszuarbeiten und Abgrenzungen innerhalb von Spezifikationsstufen zu vollziehen (gewissermaßen auf der horizontalen Ebene), arbeiten mit dem Hintergrundbild einer räumlichen Ordnung und können deshalb, ohne begriffliche Verluste, in graphischen Schemata dargestellt werden. Wollte man die Ordnungsebenen des botanischen Klassifikationssystems von Carl von Linné heranziehen, die Kant bekannt waren und die vielleicht den Hintergrund seines Vorschlags für Taxonomien abgeben 105, könnte man sagen, dass die menschlichen Vermögen die
104 Formalisierungen haben auch den Zweck, die Struktur eines inhaltlichen Zusammenhangs sichtbar zu machen, das erweist sich vor allem für komplexere Figuren als nützlich. Verwenden wir wie üblich das Symbol »:« für die Operation der (logischen) Negation und führen das Symbol »╖« ein für die reale Entgegensetzung, dann kann dadurch folgende Wiederholung der Struktur der realen Entgegensetzung deutlich werden, die je andere »Größen« ins Verhältnis setzt: Willkür ╖Wunsch (hervorbringende Vorstellung ╖nicht Erwarten). 105 Kant schätzte Linnés System als logische »Einteilung der Erkenntnisse nach Begriffen« Kant, AA 9:159. Vgl. auch Sebastian Wengler, »Linné, Carl von«, in: M. Willaschek/J. Stolzenberg/G. Mohr/S. Bacin (Hg.), Kant-Lexikon, Berlin/Boston 2015, S. 1417.
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Klasse 106, das Begehrungsvermögen die Ordnung, das sinnliche Begehrungsvermögen und das Begehrungsvermögen nach Begriffen die Gattungen und Willkür und Wunsch (die bisher differenzierten) Arten sind. 107 In eine räumliche Darstellung gebracht stellt sich die Systematik folgendermaßen dar: Menschliche Vermögen
Erkenntnisvermögen
Vermögen der Lust und Unlust
Begehrungsvermögen Vermögen durch seine Vorstellungen Ursache der Gegenstände dieser Vorstellungen zu sein
Sinnliches Begehrungsvermögen
Begehrungsvermögen nach Begriffen was seinen Bestimmungsgrund zur Handlung in ihm selbst hat, nicht in dem Objekte = ein Vermögen, nach Belieben zu tun oder zu lassen.
Willkür
Wunsch
Mit dem Bewusstsein des Vermögens seiner Handlung zur Hervorbringung des Objekts verbunden
Nicht mit dem Bewusstsein des Vermögens seiner Handlung zur Hervorbringung des Objekts verbunden
An welche Stelle dieser Einteilung gehört der Wille? Die Logik der Einteilung legt es zunächst nahe, den Willen als dritte (und letzte) Art des Begehrungsvermögens nach Begriffen zu verstehen. Die spezifi106 Die Einteilungsebene der Vermögen wird in der Einleitung zur Kritik der Urteilskraft behandelt und ist hier einbezogen, vgl. Kant, KU, AA 5:178. 107 Linné hatte zum Ziel, eine botanische und zoologische Systematik zu entwerfen und arbeitete hierfür mit folgenden Einteilungsebenen: Klasse, Ordnung, Gattung und Art (Species). Vgl. Ilse Jahn, Geschichte der Biologie, 3. neubearb. u. erw. Aufl., Berlin 2000, S. 235–248.
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zierende Differenz des Willens besteht darin, auf die »Bestimmungsgründe« der Handlung bezogen zu sein, also nicht nur auf das Verhältnis zwischen vorgestellten Zwecken und Mitteln, wie Willkür und Wunsch, sondern auf das Verhältnis zwischen vorgestellten Zwecken, Mitteln und Handlungsgründen bzw. -grundsätzen. Etwas zu wollen hieße, es ins Verhältnis zu anderen Zwecken zu setzen, zu anderen eigenen Zwecken oder zu Zwecken anderer und zu ermitteln, welche Zwecke verfolgt werden sollen und welche nicht und warum. So verstanden, wäre die einteilende Unterscheidung der drei Arten des Begehrens nach Begriffen eine symmetrische, die drei Arten auf einer Ordnungsebene nebeneinanderstellt. Die Deutung der kantischen Passage als Einteilung hat zwar den aufgezeigten Preis, dass die Verhältnisse zwischen den eingeteilten Größen abgeblendet werden, bis zur Einordnung des Willensbegriffs liest sich der kantische Text aber konsistent wie eine Einteilung. Mit der Einordnung des Willensbegriffs in das Schema ergeben sich Schwierigkeiten. Verstehen wir die unterste Einteilungsebene als Arten des Begehrens nach Begriffen, dann können wir unter die beiden Artbegriffe »Willkür« und »Wunsch« konkrete Akte des Begehrens subsumieren. Die Artbegriffe funktionieren klassifikatorisch. Was sind nun demgegenüber die Akte des Wollens, die unter einen Artbegriff »Wollen« subsumiert werden können? Sind hier die Akte des Begründens der eigenen Zwecke gemeint, das »In-Beziehung-Setzen« eines Zweckes mit anderen eigenen Zwecken und den Zwecken anderer? Gemeint sein könnten Akte des Erwägens und Abwägens von Gründen oder Akte des Rechenschaft-Gebens vor anderen. Da Einteilungen, zumal solche, die von ihrer Form her an biologischen Taxonomien orientiert sind, Ordnungsbegriffe für Einzeldinge oder räumlich-zeitlich individuierbare Ereignisse erzeugen, um diese zu sortieren und zu zählen 108, liegt es nahe, nach solchen Akten des Willens oder Volitionen zu suchen, die durch den Artbegriff sortiert und 108 Im Anschluss an Locke führt Peter F. Strawson den Ausdruck »Sortal« bzw. »sortal universal« für diese Funktion von Begriffen ein, vgl. Peter F. Strawson, Individuals, London 1959, S. 168: »A sortal universal supplies a principle for distinguishing and counting individual particulars which it collects.« Rapp versucht in seiner Untersuchung über das Verhältnis von Sortalbegriffen und aristotelischer Substanz zu zeigen, dass Sortale essentielle Eigenschaften bezeichnen, um ihre Diskriminations- und Sortierungsfunktion erfüllen zu können, vgl. Christof Rapp, Identität, Persistenz und Substantialität. Untersuchung über das Verhältnis von sortalen Termen und Aristotelischer Substanz, Freiburg/München 1995.
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gezählt werden können. Dabei kann die Streitfrage zwischen »Essentialisten« und »Konventionalisten« offen bleiben, ob die Kriterien der Verwendung solcher Artbegriffe in der Sache, nämlich den »essentiellen Eigenschaften« liegen oder aus den Regeln der sprachlichen Verwendung dieser Begriffe gewonnen werden müssen. 109 Wird jedenfalls die kantische Unterscheidung zwischen Willkür, Wunsch und Wille als Einteilung oder Division von Arten des Begehrens nach Begriffen verstanden, dann wird ein Zusammenhang wieder aufgelöst, auf den Kant bei der Einführung des Willensbegriffs in der Grundlegung großes Gewicht gelegt hat. Wollen ist als »Aufbietung aller Mittel« zu verstehen und nicht als innerer Akt des Entschlusses oder Ähnliches. Es ist natürlich nicht ausgeschlossen, dass Kant diese frühere Auffassung hier zurücknimmt. Ein solcher Schluss ist allerdings sachlich nicht begründet, denn man kann an vielen Stellen zeigen, dass die Tugendlehre die pragmatistische Grundhaltung beibehält und stärkt. 110 Vielmehr scheint das Verständnis der gegebenen Unterscheidungen als Einteilungen an eine Grenze zu kommen. Innerhalb der Logik von Einteilungen ist noch ein anderer Weg denkbar. Der eine ist, die Begriffe »Willkür« und »Wunsch« als Unterarten des Willens zu verstehen. 111 Dann wären die konkreten Akte
109 Auf beiden Seiten gibt es eine Vielfalt von Abstufungen, die wiederum eingeteilt werden können, wie es zum Beispiel im Artikel »Natural Kinds« in der Stanford Encyclopedia of Philosophy geschieht. Die Frage, die die beiden großen Lager teilt, ist die, ob die Einteilungskriterien sich primär (oder allein) aus der »Natur der Sache« ergeben oder ob »die Sache« mit unseren Redeweisen über die Sache und unseren Praktiken, mit der Sache umzugehen, unlöslich verbunden ist. Die eine Seite kann (im Wesentlichen) eingeteilt werden in Naturalisten, Realisten und Essentialisten. Naturalisten meinen, es gebe natürliche Teilungen bzw. Divisionen zwischen Elementen; Realisten meinen, die Artbegriffe bezeichneten existierende Entitäten, es gäbe also natürliche Arten; Essentialisten meinen, jede Art sei bestimmt durch eine essentielle Eigenschaft (oder ein Cluster von essentiellen Eigenschaften), die deren Substanz ausmache. Auf der Seite der Konventionalisten, die in dem genannten Artikel weniger ausführlich untersucht wird, wird unterschieden zwischen Intensitätsgraden des Konventionalismus. Vgl. Alexander Bird/Emma Tobin, »Natural Kinds«, in: E. N. Zalta (Hg.), The Stanford Encyclopedia of Philosophy (online): http://plato.stanford. edu/archives/spr2016/entries/natural-kinds/(abgerufen am 31. 3. 2016). 110 Der Begriff des Wunsches wird an verschiedenen Stellen zur moralischen Kritik verwendet, vgl. dazu den folgenden Abschnitt Teil I, Kapitel 2.2.5. Kants kritische Haltung gegenüber »inneren« Einstellungen oder Gefühlen, die keine Auswirkung auf das Handeln haben, zeigt sich auch an seiner Bestimmung der Liebe als notwendig tätiges Wohlwollen, vgl. Kant, MS TL, AA 6:450. 111 Dafür spricht auch die folgende Formulierung: »Unter dem Willen kann die Will-
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des Begehrens nach Begriffen immer solche, in denen die Begründungsdimension eine Rolle spielt, die aber dann mit dem Bewusstsein der Handlungsmacht verbunden sein können (als Willkür) oder nicht (als Wünsche). Hier taucht das Problem verschoben wieder auf. Diese Einteilung macht zwar deutlich, dass der Begründungsanspruch jeden Akt des Begehrens nach Begriffen kennzeichnet. Aber in dieser Einteilung sind Akte möglich, die als Wollen und Wünschen zugleich charakterisiert werden können. Auch dies widerspricht einem Ergebnis der Grundlegung über den analytischen Zusammenhang von Zwecken und Mitteln im Falle des Wollens, der im Falle des Wünschens gerade nicht vorliegt. Zweitens: Die Passage bekommt eine andere Bedeutung, wenn sie als Bildung von Kontrasten gelesen wird. Kontrastiert werden das begriffliche Paar Willkür und Wunsch einerseits und das begriffliche Paar Willkür und Wille andererseits. Der Kontrast zwischen Willkür und Wunsch entzündet sich am vorliegenden oder fehlenden Handlungsbezug und kann näher als reale Entgegensetzung qualifiziert werden. Die einander real Entgegengesetzten gibt es nur im Gegenverhältnis und nur durch das Gegenverhältnis erhalten sie ihre Funktion als »positive« oder »negative« Größe. Bei dieser Übertragung stellt sich die Frage, was bei einer realen Entgegensetzung von Willkür und Wunsch das »positive« Ergebnis sein soll, das sich, am mathematischen Modell der negativen Größen orientiert, durch die gegenseitige »Verrechnung« ergeben soll. Die Vorstellung einer Verrechnung von Einheiten gegeneinander, die Kant in dem frühen Text über die negativen Größen auch bei seinen moralphilosophischen Anwendungsbeispielen noch leitet (x Einheiten Geldgier und y Einheiten Tugend), ist sicher eine problematische Vereinfachung. Allerdings könnte man sagen, dass jeder Akt des Begehrens nach Begriffen eine Gestaltung der eigenen Handlungsmacht im Horizont der beiden real entgegengesetzten Möglichkeiten ist, die auch von anderen im Horizont dieser beiden Möglichkeiten gedeutet wird. Eine andere Deutung des Kontrastes zwischen Willkür und Wunsch schlägt Engstrom vor. Wunsch und Willkür sind Phasen eines Prozesses. Wünsche sind als »inner employment« zu verstehen und die Willkür als »outer employment«, anders gesagt: Wünsche kür, aber auch der bloße Wunsch enthalten sein, sofern die Vernunft das Begehrungsvermögen überhaupt bestimmen kann […].« (Kant, MS RL, AA 6:213).
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sind Zweckmaximen, Willkür Handlungsmaximen. Wenn Engstrom in einer Anmerkung an Aristoteles erinnert, dann scheint er hier ganz nach dem aristotelischen Vorbild die praktische Deliberation in zwei Phasen zu zerlegen, Wünsche im Sinne von boulēsis und Willkür als prohairesis. 112 Die Kontrastpunkte zwischen Willkür und Wille liegen in der Verschiedenheit der Ausrichtung entweder auf die rationale, d. h. nicht sinnlich-determinierte Entscheidung für bestimmte Zwecke (im Falle der Willkür) oder auf die Vernünftigkeit der Zwecke (im Falle des Willens). In der intensiven Kommentierung dieser Passage wird diesem Kontrastverhältnis am meisten Aufmerksamkeit geschenkt. Der Kontrast ist aber ganz anders zu qualifizieren als der zwischen Willkür und Wunsch. Es handelt sich nämlich im Unterschied zur realen Entgegensetzung nicht um ein symmetrisches Verhältnis, sondern um ein Abhängigkeitsverhältnis der Willkür vom Willen, denn der Wille »bestimmt« die Willkür. 113 Dieser Kontrast ist asymmetrisch. Diese asymmetrische Struktur des Kontrastes weiter zu erläutern, ist eine Interpretationsaufgabe, die sehr verschieden umgesetzt werden kann. Eine weit verbreitete Möglichkeit besteht darin, die Asymmetrie hierarchisch zu deuten. Der Wille ist dann als hierarchisch höherstehende legislative und die Willkür als hierarchisch niedrigere exekutive Kompetenz zu verstehen. 114 Eine andere Vgl. Engstrom, »Reason, desire, and the will«, a. a. O., S. 46 f. Vgl. die sehr aufschlussreichen Bemerkungen zur Bedeutung des grundlegenden Ausdrucks »bestimmen« in der praktischen Philosophie Kants bei Christoph Horn: »Nun kann man das Verb ›bestimmen‹ in recht unterschiedlichen Bedeutungen gebrauchen, darunter im Sinn von messen, gebieten, festlegen, definieren, abgrenzen, die Beschaffenheit von etwas beschreiben und etwas einer Kategorie zuordnen. Diese Bedeutungen lassen sich grob in zwei Gruppen einteilen: Man kann ›bestimmen‹ einerseits aus einer Beobachtungsperspektive verwenden wie in den Formeln ›den Kohlendioxidgehalt der Luft bestimmen‹ und ›das Prädikat eines lateinisches Satzes bestimmen‹ und andererseits aus einer Gebotsperspektive wie in den Wendungen ›jemanden im Testament als Erben bestimmen‹ oder ›vom Schicksal zu etwas Höherem bestimmt sein‹. Bei einem Blick auf die Texte sieht man sofort, dass Kant die zweite Wortbedeutung im Sinn hat. Den Willen zu bestimmen meint, ihn auf etwas festzulegen (determinare), es heißt nicht, seine Beschaffenheit zu beschreiben oder zu klassifizieren (describere).« (Christoph Horn, »Wille, Willensbestimmung, Begehrungsvermögen (§§ 1–3: 19–26)«, in: O. Höffe (Hg.), Kant. Kritik der praktischen Vernunft, Berlin 2002, S. 43–61, S. 39). Der autonome Wille bestimmt die Willkür nun, indem er das Prinzip angibt, an dem sich die Willkür als »negativ freies« Dezisionsvermögen ausrichten kann, vgl. Horn, ebd., S. 46. 114 Vgl. Engstrom, »Reason, desire, and the will«, a. a. O., S. 49, der sich damit auf die 112 113
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Möglichkeit zielt darauf ab, die kontrastierten Seiten als Komponenten des Handelns, die verschiedene Funktionen haben und verschieden bewertet werden, zu verstehen. Der Wille steht für die Komponente Rationalität und die Willkür für die Komponente des Handlungsbezugs. 115 Eine weitere Deutung wäre die, Wille und Willkür als zwei Formen praktischen Selbstbezugs zu verstehen, wobei das »Wille« genannte Selbstverhältnis das »Willkür« genannte Selbstverhältnis immer schon bedingt. 116 Die beiden Kontrastpaare Wunsch und Willkür einerseits und Willkür und Wille andererseits sind sehr verschiedener Art und dies zeigt, dass das Verhältnis des Kontrastes in einem weiten Sinne zu verstehen ist. Es kommt nicht darauf an, die Gegenverhältnisse, die Reibungen, die Spannungen besonders zu betonen. Vielmehr sollen verschiedene Möglichkeiten der Beziehungsgestaltung zwischen Unterschiedenen umfasst sein, auch Bedingungsverhältnisse, Grade in einem von Polen aufgespannten Spektrum, aufeinanderfolgende Phasen oder auch Komponenten eines komplexeren Zusammenhangs mit verschiedenen Funktionen. Dies zeigt auch, dass die Relata eines so weit verstandenen Kontrastes nicht nur zwei, sondern durchaus auch mehr sein können. Kontrastbildungen in diesem Sinne haben den Zweck, die Beziehungen zwischen den jeweils kontrastierten Begriffen zu beleuchten und nicht den Zweck, eine Gesamtordnung des Feldes praktischer Begriffe vorzulegen. Diese Beziehungen sind den kontrastierten Begriffen nicht äußerlich, sondern bedeutungskonstitutiv. Drittens: Die Passage in der Einleitung zur Metaphysik der Sitten kann aber auch als Zusammenstellung wichtiger Begriffsbestimmungen gelesen werden. Kant stellt seiner Untersuchung die Begriffe voran, mit denen er im Folgenden zu arbeiten gedenkt und erläutert im Vorgriff seine Terminologie. Auch dieser Lesart kommt einige Plausibilität zu, ist doch der Ausdruck »Willkür« an dieser Stelle erstmalig terminologisch eingeführt. Es gilt also, diesen neuen Begriff zu bestimmen, ihm eine klare Kontur zu geben und ihn deswegen von anderen verwandten Begriffen abzugrenzen. Bestimmungen sind vielfach aufgenommene Deutung von Lewis White Beck, A Commentary on Kant’s »Critique of Practical Reason«, Chicago 1962, S. 202, bezieht. 115 Vgl. z. B. Willaschek, Praktische Vernunft, a. a. O., S. 55. 116 Vgl. Esser, Eine Ethik für Endliche, a. a. O., S. 181–192.
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Unterscheidungen oder Grenzziehungen zwecks Identifizierbarkeit. Der Begriff »Willkür« ist für die auf die Einleitung folgende Rechtslehre von entscheidender Bedeutung. Das Recht regelt die Willkürakte aller und es bedarf hier eines obersten Rechtsprinzips, um konkrete Rechte und Pflichten für den äußeren Umgang zwischen Personen zu beurteilen. Neu eingeführt wird in gewisser Weise auch der Begriff »Wunsch«. Denn hier wird dem Wunsch erstmalig ein klarer Platz im Netz praktischer Begriffe gegeben und er wird in Abgrenzung zu anderen Begriffen bestimmt. Dies kann als Reaktion auf die Einwände von Rehberg verstanden werden, der eingefordert hatte, dem Wunsch in einer Konzeption des Praktischen Rechnung zu tragen. Dies war in den kantischen Überlegungen bisher in Form von Subtexten geschehen, durch verstreute Bemerkungen, Einschübe oder Anmerkungen. Dem Wunsch, so könnte man als Ergebnis formulieren, gebührt es, aus dem latenten, untergründigen Wirken befreit und mit einem klaren Ort innerhalb eines Überblicks über wichtige Begriffe versehen zu werden. Viertens: Wieder anders liest sich die Passage, wenn die Unterscheidungen als Differenzierung von drei Momenten, die für eine Reflexion auf menschliche Praxis nötig sind, betrachtet werden. Eine Differenzierung in Willkür, Wunsch und Wille ist nötig, um naheliegenden Verwechslungen im Zusammenhang mit dem menschlichen Begehren nach Begriffen Einhalt zu gebieten oder bestimmten reduzierten, vereinheitlichenden Sichtweisen kritisch zu begegnen. In dieser Perspektive hätte die Differenzierung von Willkür, Wunsch und Wille die Funktion, die abkürzende und von den vollzogenen Akten abstrahierende Rede von Ursächlichkeit bzw. Kausalität, die in der allgemeinen Bestimmung des Begehrungsvermögens vorkommt, zu ersetzen. Auf dieses Problem hatte Rehberg sich in seiner kritischen Nachfrage bezogen, ob nämlich Wünsche, die nicht kausal wirksam werden, keine Begehrungen seien. Mit dem konstitutiven Einbezug der Wünsche muss die vereinfachende und unterkomplexe Rede von praktischer Kausalität differenziert werden. Wünschen als das Begehren, das wirkungslos zu sein scheint, kann uns aufklären über das, was mit Ursächlichkeit überhaupt gemeint ist. Im Falle von Wünschen zeigt sich besonders deutlich, dass bei Begehrungen verschiedene Akte zusammenkommen. Eine praktische Vorstellung, dies oder jenes zu haben, zu sein oder zu tun ist keine 189 https://doi.org/10.5771/9783495817360 .
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mentale Repräsentation. Eine solche praktische Vorstellung ist mit dem Anspruch der Verwirklichung verbunden und ist deshalb als ein praktischer Akt aufzufassen. Der Entwurfscharakter und die Freiheit dieses Aktes werden im Falle des Wünschens besonders deutlich. Ein praktischer Akt hat immer einen Selbstbezug, d. h. er ist immer auch auf den Akteur selbst gerichtet, im Sinne einer Aufforderung, an der Verwirklichung mitzuwirken. Der Umgang mit diesem Anspruch ist ein zweiter Akt, der verschieden gestaltet werden kann. Im Falle des Wünschens wird der Anspruch aufgrund der eigenen Unzulänglichkeit gebrochen und die Verantwortung dafür zurückgewiesen. Im Falle der Willkür wird er angenommen und umgesetzt oder in der Gestaltung, die auf den Anspruch zurückwirken kann, modifiziert. Das Zusammenspiel dieser beiden Akte, das je anders aussieht, zeigt, dass alle Formen des Begehrens selbstreflexiv sind. Selbstreflexiv sind sie in dem Sinne, dass sich das Subjekt auf seine eigenen Kräfte zurückbezieht, da es sich als Adressat des Anspruches erfährt. Damit ist differenziert, was mit den Ausdrücken »Ursache sein« und »Kausalität« zusammengefasst ist. 117 Es scheint mir gegen diese von Kant selbst gewonnene Differenzierung zu laufen, wenn einige Autoren affirmativ von der »kausalen Rolle« der Vorstellungen sprechen. In seinem Kommentar zu dieser Passage schreibt Höwing mit Rückbezug auf die Deutung von Willaschek, dass der Vorstellung des Gegenstandes eine »kausale Rolle« zukomme. 118 Bei der Semantik des Kausalen ist das Problem, dass an einfach ablaufende Prozesse gedacht wird, die sich natürlich vollziehen. Wenn der Vorstellung des Gegenstandes eine kausale Rolle zukommen soll, heißt das dann, dass diese Vorstellung Handlungen zur Realisierung des Gegenstandes bewirkt oder gar die Handlungen, die den Gegenstand realisieren? Was ist dann mit den vielen Fällen, in denen eine Realisierung durchkreuzt wird durch externe Faktoren oder auch durch Abbrüche, die das Subjekt selbst zu verantworten hat? Oder ist einfach im Sinne der Möglichkeit mentaler Verursachung der Einfluss von der Welt des Mentalen in die des Körperlichen 117 Diese Erfahrung des Wirkungscharakters von praktischen Vorstellungen ist es vielleicht, die dann in Extremformen wie dem Aberglauben verzerrt und übertrieben dargestellt wird. Diese Erfahrungen halten in der Regel dazu an, die Situation auf die Handlungsmöglichkeiten hin einzuschätzen und die eigenen Kräfte im Handeln auszuprobieren. 118 Vgl. Höwing, »Das Verhältnis der Vermögen des menschlichen Gemüts zu den Sittengesetzen«, a. a. O., S. 45.
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gemeint? Die Rede von der kausalen Rolle scheint mir einerseits einen sehr komplexen Tätigkeitsbereich der Umsetzung, der Wahl der richtigen Mittel, der Modifizierung des Zwecks durch die Möglichkeiten, die die Mittel freisetzen und Ähnliches abzukürzen. Andererseits wird der kantische Begriff des Begehrungsvermögens mit Hilfe einer Unterscheidung erläutert, nämlich der Unterscheidung zwischen Mentalem und Körperlichem, die sich keineswegs von selbst versteht und über deren legitime Anwendung auf Kant wie auch deren philosophische Berechtigung sich dann eigens verständigt werden müsste. Ich will nicht sagen, dass Kant nicht selber in vielen Punkten einem Dualismus von Mentalem und Körperlichem Vorschub leistet und ihn vielleicht sogar auch selber vertritt. Ich meine aber, dass an der Stelle der Erläuterung des Begehrungsvermögens und seiner Varianten ein Rückgriff auf die Semantik der Kausalität nicht nötig, sondern im Gegenteil irreführend ist. Die Wirksamkeit von Vorstellungen muss im Horizont der möglichen Schwierigkeiten, die im Wünschen manifest werden, entfaltet werden und nicht als idealisierter, klarer, einliniger Ablauf. Jeder praktische Begriff stellt eine Modifikation der Sinnbedingung des Praktischen dar und bringt eine Form zum Ausdruck, wie der Anspruch, handlungswirksam werden zu können, realisiert ist. Die drei Weisen, die Kant für besonders wichtig hält (oder für die einzig relevanten, das bleibt offen), sind der gebrochene Anspruch, der unter dem Begriff »Wunsch« zusammengefasst ist, der relative Anspruch, der verwirklicht wird (den nennt Kant »Willkür«) und der unbedingte Anspruch, der verwirklicht wird (den nennt Kant »Wille«). Diesem unbedingten Anspruch kommt eine ganz eigene Rolle zu. Hier geht es um Handlungsgründe, die selber keinen weiteren »Bestimmungsgrund« haben und die Wunsch und Willkür noch einmal orientieren. Der knappe kantische Text gibt Anhaltspunkte für alle unterschiedenen Weisen, die Unterscheidungen zu verstehen. Aber die Anwendung jeder der Praktiken des Unterscheidens hat andere Konsequenzen. Die Bedeutung der Begriffe verschiebt sich dadurch, ebenso die Möglichkeiten für weitere Anschlüsse. Welche Praktik des Unterscheidens Kant nun wirklich verwendet hat oder ob er sie bewusst kombiniert hat, ist nicht zu entscheiden. Mir kommt es darauf an, die Vielfalt der Interpretationsmöglichkeiten aufzuzeigen. Es scheint mir eine problematische Reduktion zu sein, die Frage, wie Kant un191 https://doi.org/10.5771/9783495817360 .
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terscheidet, nicht zu stellen und seine Überlegungen deshalb implizit oder explizit auf eine einzelne Praktik des Unterscheidens festzulegen. Wer Kants Auseinandersetzung mit der Struktur des Wünschens in der Kritik der Urteilskraft nicht genau studiert hat, dem entgeht vielleicht die konzeptuelle Konsequenz, die Kant daraus in der Einleitung zur Metaphysik der Sitten gezogen hat. So ging es wohl einem Rezensenten, der in seiner Rezension der Rechtslehre die Kritik wiederholt, die Rehberg an der Definition des Begehrungsvermögens in der Kritik der praktischen Vernunft vorgetragen hat. Da die wenig überzeugende Definition des Begehrungsvermögens die gleiche geblieben sei und Kant den Einwand, dass diese zu eng gefasst sei, da sie das Phänomen des Wünschens nicht einbegreifen könne, scheinbar nicht aufgenommen habe, müsse man ihm zur Hilfe kommen und die Potenzialität, die im Begriff des Vermögens läge, betonen. Etwas zu begehren, heiße, dies in einigen Fällen verwirklichen zu können und in anderen nicht. 119 Kant hat sich zu dieser Rezension einige Notizen gemacht, die nicht von ihm selbst veröffentlicht worden sind. 120 Er versucht, seine Reaktion auf den früheren Einwand aus der Kritik der Urteilskraft auf den wesentlichen Ertrag, nämlich die realrepug119 Parow schreibt: »Die Einleitung in die Metaphysik der Sitten wird mit der aus der Critik der praktischen Vernunft bekannten Erklärung des Begehrungsvermögens eröffnet. Der Verf. beschreibt nämlich hier das Begehrungsvermögen als das Vermögen durch seine Vorstellungen Ursache der Gegenstände dieser Vorstellungen zu seyn. Da aber dieser Erklärung so oft der Vorwurf gemacht worden, dass sie nicht auf das Begehrungsvermögen selbst, sondern nur auf gewisse Aeußerungen desselben passe; indem es Begierden giebt, deren Gegenstände nicht zur Wirklichkeit gebracht werden, welche also nicht Ursachen der Gegenstände unserer Vorstellungen sind; so werden die meisten Leser gewiß ungerne eine Rechtfertigung wider diesen Einwurf vermissen. Wahrscheinlich hat aber der Hr. Verf. nur die besondere Causalität des Begehrungsvermögens (Vorstellungen realisiren oder objectivgültig machen zu können) andeuten wollen und sich darauf verlassen, dass jeder nachdenkende Leser einsehen werde, wie bei Beschreibung eines Vermögens nur von einer bloß möglichen, nicht von einer physisch wirklichen Realisierung der Vorstellungen die Rede seyn könne.« (Johann Ernst Parow, »Rezension der Metaphysischen Anfangsgründe der Rechtslehre, von Immanuel Kant«, in: Neueste Critische Nachrichten, hrsg. v. J. G. P. Möller, 18. Stück, Greifswald 6. Mai 1797, S. 137–141 und 19. Stück, S. 147–150, S. 137–138). 120 Vgl. zu diesem »HAGEN 21« genannten Notizzettel Kants den Beitrag von Werner Stark, »›Hagen 21‹. Ein Kant-Autograph zur Greifswalder Rezension der Rechtslehre«, in: B. Ludwig (Hg.), Immanuel Kant. Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, 2. Aufl., Hamburg 1998, S. XLI–XLVI.
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nante Struktur des Wünschens zuzuspitzen. Der Qualität nach ist die Vorstellung des begehrten Gegenstands bei Wünschen und anderen Formen des Begehrens dieselbe, nämlich die Kräfte zu einer gewissen Wirkung anzuspannen. Im Falle des Wünschens wird diese Kraft aber durch den »Widerstand der Vorstellung der Unzulänglichkeit aufgehoben« und bringt so keine Bewegung hervor. Deshalb unterscheiden sich Wünsche dem Grad nach von solchem Begehren, das »objectiv wirksam« ist. Das so analysierte Wünschen ist nach Kant eine Grundform menschlichen Begehrens nach Begriffen. Das hat Kant eingesehen und ihm deshalb im gleichen Text zwei Seiten später einen Platz neben Willkür und Willen gegeben. Die Implikation dieser Unterscheidung ist auch einem anderen Rezensenten der Rechtslehre nicht deutlich geworden, Bouterwek 121, der nicht die Plausibilität der Definition des Begehrungsvermögens an den Phänomenen prüft, sondern der einen weitreichenden philosophischen Einwand präsentiert. Bouterwek scheint zu kritisieren, dass das Begehrungsvermögen als Tätigkeit gefasst ist, die in der Wirklichkeit Wirksamkeit entfaltet. 122 Handele es sich nicht vielmehr um einen inneren Prozess, demgegenüber die Verwirklichung sekundär sei? Hier wird nachgefragt, ob mit dem Willensbegriff nicht die Unterscheidung zwischen Innen und Außen verknüpft werden müsse. Kant reagiert im Anhang erläuternder Bemerkungen zu den metaphysischen Anfangsgründen der Rechtslehre 123 auf Bouterweks Punkt und erteilt seinem Vorschlag eine deutliche Absage. Er greift auf seine in der Kritik der Urteilskraft gegebene Analyse der Sehnsucht zurück und zeigt an diesem Beispiel die Wirkung der Vorstellung eines begehrten Gegenstandes durch die Erzeugung eines Gefühls. Dies scheint zwar 121 Friedrich Bouterwek, »Rezension der Metaphysischen Anfangsgründe der Rechtslehre«, in: Göttingische Anzeigen von gelehrten Sachen, 28. Stück, 18. 2. 1797, S. 65– 76, abgedruckt in Kant, AA 20:445–453. 122 »In der vorangeschickten Einleitung zur Metaphysik der Sitten werden zuerst noch ein Mal die Grundideen angegeben, die den Lesern der Kantischen Schriften schon bekannt sind. (Schwerlich möchte unter diesen die Definition des Begehrungsvermögens: »Das Begehrungsvermögen ist das Vermögen, durch seine Vorstellungen Ursache der Gegenstände dieser Vorstellungen zu seyn«, die Probe halten; denn sie wird zu nichts, sobald man von äußern Bedingungen der Folge des Begehrens abstrahirt. Das Begehrungsvermögen ist aber auch dem Idealisten Etwas, obgleich diesem die Außenwelt Nichts ist.)« (Bouterwek, ebd., AA 20:445). 123 Dieser erläuternde Text ist 1798 separat erschienen sowie als Anhang zur zweiten Auflage der Rechtslehre 1798, vgl. AA 6:356–372, hier S. 356.
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in einem bestimmten Sinne auch dem Innenleben eines Subjekts anzugehören, hat aber eine für das Subjekt empfindbare und auch für andere wahrnehmbare Wirkung, indem die Sehnsucht nämlich krank mache. 124 Kant gibt sich in beiden Reaktionen auf die Einwände alle Mühe, diesen bestimmten Sinn von »Kausalität«, der sich zum Beispiel bei dem zum Affekt gewordenen Wunsch, der Sehnsucht, zeigt, plausibel zu machen. Dabei verändert er die Regeln des Ausdrucks »Kausalität« gegenüber den für den Begriff der Naturkausalität geltenden Regeln. Dies wird deutlich, wenn er die Kausalität als zwar wirklich, aber zur Wirkung »unzureichend« erklärt, die in der Lage ist, zu einer gewissen Wirkung »anzuspannen«. 125 In der Reaktion auf Bouterwek macht Kant selber einige Schritte in die Richtung, die schematische und deterministisch anmutende Rede von Kausalität um ein differenzierteres praktisches Vokabular zu erweitern, wenn er schreibt, dass die Sehnsucht zwar »tatleer«, aber nicht »folgeleer« sei. Damit ist angedeutet, dass der bisher untersuchte Zusammenhang verschiedene zusammenwirkende Tätigkeiten umfasst, die je anders benannt werden sollten. Die Vorstellung eines begehrten »Gegenstandes« selbst ist praktisch, wirkt auf diesen Gegenstand hin, ist also eine Tätigkeit, die sich nicht notwendig nur im Inneren abspielt. Im Falle des Willens bzw. der Willkür ist die Aufbietung aller Mittel wieder eine eigene Art von Tätigkeit, die als »Tat« oder »Handlung« bezeichnet werden kann und deren Charakteristikum es ist, auf ein Ziel gerichtet zu sein. Im Falle des Wünschens richtet sich eine Tätigkeit der »aktiven« Negation gegen die praktische Vorstellung. Hier zeigt sich, dass die von Kant in der Kritik der Urteilskraft so genannte Kluft zwischen theoretischer und praktischer Vernunft sich sprachlich niederschlagen müsste, um praktische Phänomene adäquat zu analysieren. Die Verwendung der gleichen Ausdrücke mit leicht verschobenen Regeln täuscht darüber hinweg, dass praktische Vorstellungen als Vorstellungen andere sind als theoretische und dass In der gegenwärtigen philosophischen Diskussion über Gefühle wird von vielen allerdings bestritten, dass Gefühle einfach dem Innenleben von Subjekten angehören, vgl. dazu Christoph Demmerling, »Kein Etwas, aber auch nicht ein Nichts. Nachdenken über Empfindungen und Gefühle im Anschluss an Wittgenstein«, in: S. Tolksdorf/H. Tetens (Hg.), In Sprachspiele verstrickt – oder: Wie man der Fliege den Ausweg zeigt. Verflechtungen von Wissen und Können, Berlin/New York 2010, S. 239– 256, S. 249 ff. 125 Vgl. Kant, HAGEN 21. 124
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Kant: Von der »Aufbietung aller Mittel« zur »Realrepugnanz«
praktische Kausalität, will man denn weiter davon sprechen, wie Kant es tut, als Kausalität verschieden ist von der Naturkausalität. Dass Kant auf eine solche Verschiedenheit hinarbeiten will, zeigen seine mühevollen Analysen der »hinwirkenden« Vorstellungen. Die Nachfragen bzw. Einwände der beiden Rezensenten ergeben sich daraus, dass die kantische Sprache und seine Erläuterungen zu dem Unterschied zwischen theoretischen und praktischen Vorstellungen diesen Unterschied nicht deutlich werden lassen. 126
2.2.5 Moralische Kritik und Selbstkritik Die Erscheinungsweisen des Wünschens interessieren Kant. Er sieht sehr klar, dass der Kontrastierung zwischen Wünschen und Wollen hohe Relevanz für die moralische Kritik und Selbstkritik zukommt. In der Grundlegung empfiehlt Kant im Zusammenhang mit der Frage nach dem Verhältnis zwischen dem Pflichtbegriff und der Erfahrung zu Beginn des zweiten Abschnitts den Blick eines »kaltblütigen Beobachters«, der den »lebhaftesten Wunsch für das Gute nicht sofort für dessen Wirklichkeit hält«. 127 Einem solchen kaltblütigen Beobachter mag es sogar so scheinen, als wäre in der Erfahrung keine »wahre Tugend« anzutreffen. Dies zeigt zweierlei. Zum einen ist die Unterscheidung zwischen »Gutes wünschen« und »Gutes tun« für die Erfahrungswelt von zentraler Bedeutung, denn es finden sich allerorts Wünsche für das Gute, die mit dem Anspruch, Wirklichkeit zu sein, auftreten. Und zweitens ist es möglich, dies zu beobachten, wenn dafür eine bestimmte Aufmerksamkeit geschult wird. Wünsche für das Gute liegen nicht vor Augen, wie Bäume und Hasen, sondern sind einer Beobachtung zugänglich, die Kant »kaltblütig« nennt. An der zitierten Stelle gibt Kant in einem Einschub in Klammern noch einen Hinweis, wie diese Beobachtung beschaffen ist und wie sie erworben werden kann. Es ist nämlich sowohl Zeit und Erfahrung wie auch durch Erfahrung »gewitzigte« und zum Beobachten geschärfte Urteilskraft nötig. Damit ist die Relevanz der Unterscheidung für die
126 König nennt den Unterschied zwischen theoretischen und praktischen Sätzen einen »radikalen Unterschied« und drückt diesen Unterschied so aus, dass praktische Sätze von theoretischen als Sätze unterschieden sind. Vgl. König, »Der Begriff eines formalen oder radikalen Unterschieds«, a. a. O., sowie Teil II, Kapitel 2.1.2.1. 127 Kant, GMS, AA 4:407.
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moralische Praxis deutlich und es sind die theoretischen Bedingungen genannt, die einbezogen werden müssen. Die Anwendung der Unterscheidung erfordert Urteilskraft, und zwar praktische Urteilskraft, um zunächst eine angemessene Beschreibung der Situation zu finden und dann zu einer Beurteilung wie zu einer Einschätzung zu kommen, welche Anschlüsse an die Situation geboten sind und welche nicht. Die Anwendung der Unterscheidung ist also kein einfacher Applikationsakt, sondern bedarf eines reflexiven Einsatzes von praktischer Urteilskraft. Praktische Urteilskraft kann nur dann reflexiv eingesetzt werden, wenn die Verbindung mit der Sinnbedingung des Praktischen und zu den praktischen Begriffen Wunsch, Wille und Willkür bedacht wird. Kants Theorieskizze der praktischen Urteilskraft ist wie seine Theorieskizze der Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille in seinem Werk zerstreut und es sind in letzter Zeit einige Versuche unternommen worden, diese zu einem einheitlichen Bild zusammenzusetzen. 128 Ich will diesen allgemeinen Hintergrund hier nicht entwickeln, sondern den Einsatz von praktischer Urteilskraft bei der Anwendung der Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille betrachten. In der Tugendlehre ist vor allem eine Anwendung der Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille thematisiert, nämlich die moralische Selbstkritik und nicht die Kritik an anderen, die Kant in der Grundlegung vor Augen steht. Moralische Selbstkritik gehört zur moralischen Selbsterkenntnis, durch die wir aufgefordert sind, Bilder von uns selbst zu prüfen. Allzu leicht verfestigen sich nämlich Bilder von uns selbst und zwar entweder solche, in denen wir uns »schwärmerisch« selbst verachten oder im Gegenteil uns »eigenliebig« überschätzen. Letzteres zeigt sich darin, Wünsche für Beweise eines guten Herzens zu halten. 129 Es ist demgegenüber unsere moralische Aufgabe, uns mit Blick auf unsere Handlungen selbst mit der Frage zu konfrontieren, ob wir wollen oder wünschen? Wer eine Praxis im Umgang mit dieser Frage entwickelt hat, sieht sich mit der weitergreifenden Aufgabe konfrontiert, die Interaktionen mit anderen wie 128 Vgl. z. B. Birgit Recki, Ästhetik der Sitten. Die Affinität von ästhetischem Gefühl und praktischer Vernunft bei Kant, Frankfurt a. M. 2001; Andrea Esser, »Die Urteilskraft in der Praxis: Reflexion und Anwendung«, in: Kant und die Philosophie in weltbürgerlicher Absicht. Akten des XI. Kant-Kongresses 2010, hrsg. v. S. Bacin/A. Ferrarin/C. La Rocca/M. Ruffing, Berlin 2013, S. 149–161. 129 Kant, MS TL, AA 6:441.
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auch institutionelle Abläufe daraufhin zu befragen, ob sich darin Wünschen oder Wollen ausdrückt. Wie aber können wir moralische Kritik und Selbstkritik am Leitfaden dieser Unterscheidung üben? Wie erkennen wir, ob wir etwas wünschen oder wollen und ob andere etwas wünschen oder wollen? Kant gibt dafür zwei Hinweise: Wünsche können erstens sehr »lebhaft« sein und Wünsche geschehen öfter mit »großer Sehnsucht«. Die Aufmerksamkeit wird damit auf den affektiven Ausdruck von Wünschen gerichtet. Diesen Zusammenhang thematisiert Kant am intensivsten in der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. Ich werde seine Einteilung des Wünschens in drei verschiedene Arten mit einem besonderen Akzent auf den affektiven Ausdruck darstellen. In dem Kontext und in der Einteilung selber kehren viele Motive wieder, die in der besprochenen Anmerkung in der Kritik der Urteilskraft und in der Einleitung zur Metaphysik der Sitten besprochen worden sind. Besonders im dritten Buch Vom Begehrungsvermögen behandelt Kant die affektive Struktur des Menschen und seine Möglichkeiten, mit den Affekten und Leidenschaften moderierend umzugehen. Das Kapitel wird eröffnet mit einer Bestimmung der Begierde (appetitio) als Selbstbestimmung der Kraft eines Subjektes, die durch die Vorstellung von etwas Künftigem möglich wird. 130 Das Begehrungsvermögen, laut Kapitelüberschrift das Thema des Kapitels, wird im anthropologischen Zusammenhang hinsichtlich seiner Aktualisierung durch Kräfte betrachtet. Die Begierde ist die Selbstbestimmung der Kraft (also keine Fremdbestimmung) und der gezielte Einsatz der Kraft. Kant geht es im Rahmen der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht nicht so sehr um die Analyse des Vermögens, also der Potenzialität. Die Kraftanwendung kann erfolgen oder auch nicht und diese beiden Möglichkeiten werden gleich zu Beginn gegenübergestellt. Der Einsatz der Kraft heißt »Begierde«, die Vorstellung von etwas Künftigem ohne Kraftanwendung zur Hervorbringung des Objekts ist der »Wunsch«. Wichtig ist noch, die Art der Kraftanwendung zu spezifizieren. Es geht um die »Kraftanwendung zur Hervorbringung des Objekts«. Der Wunsch, der dadurch gekennzeichnet ist, dass 130 »Begierde (appetitio) ist die Selbstbestimmung der Kraft eines Subjekts durch die Vorstellung von etwas Künftigem als einer Wirkung derselben […]. Das Begehren ohne Kraftanwendung zu Hervorbringung des Objekts ist der Wunsch.« (Kant, Anthropologie, AA 7:251).
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er diese Kraftanwendung gerade nicht leistet, kann dennoch eine Art Kraftanwendung sein, die aber nicht auf die Hervorbringung des vorgestellten Objekts gerichtet ist. Für ein Begehren, das keine Kraft zur Hervorbringung des Begehrten aufbringt, also für den Wunsch, nennt Kant drei Erscheinungsweisen. Der Anschluss kann so verstanden werden, dass Kant andeutet, wie es sich äußern kann, ein Begehren ohne Kraftanwendung zur Hervorbringung des Objektes zu haben. Ein Begehren ohne Kraftanstrengung zur Verwirklichung des Begehrten kann sich auf Gegenstände richten, die außerhalb des gefühlten Tätigkeitshorizonts des wünschenden Subjekts liegen. Kants genaue Formulierung ist hier aufschlussreich: »Dieser kann auf Gegenstände gerichtet sein, zu deren Herbeischaffung das Subjekt sich selbst unvermögend fühlt [Hervorhebung K. W.], und ist dann ein leerer (müßiger) Wunsch.« Die andere Weise, wie sich ein solches Begehren äußert, ist die Aktivität, den Abstand zwischen der Vorstellung des Begehrten und dem Erwerben zu überspringen und sich affektiv auf diesen zukünftigen Zustand auszurichten: Kant nennt dies »Sehnsucht«. Es wird also der Weg zu dem Begehrten, die aktive Gestaltung übergangen. In einem solchen affektiven Zustand geht alle Kraft für die Verwirklichung, für die Hervorbringung und für den Weg hin zu dem Begehrten verloren. In dem »Gefühl« der Sehnsucht kann auch keine Kraft mehr aufgewendet werden, das macht gerade dies Gefühl aus. 131 Die dritte Art, wie sich dieses Begehren ohne Kraftanwendung äußert, setzt an die Stelle des Gegenstandes nur noch eine Variable, lässt also den Gegenstand bewusst ganz unbestimmt. Das Begehren äußert sich hier als Antrieb, den gegenwärtigen Zustand zu verlassen, richtet sich also wie alles Begehren auf Zukünftiges, aber auf unbestimmtes Zukünftiges und kann so gar nicht erfüllt werden. Deshalb nennt Kant dies den »launischen Wunsch«. Die drei Erscheinungsweisen variieren also die Relationen zwischen den Relata des Wünschens: »S wünscht x«. Einmal ist x als nicht erfüllbar empfunden, einmal wird über den Weg von S zu x hinweggesprungen und einmal 131 Zugegebenermaßen interpretiere ich die wenigen Sätze, die Kant hier liefert, vor dem Hintergrund der anderen Stellen zum Wünschen. Denn zu dieser zweiten Spielart schreibt Kant nur: »Der leere Wunsch, die Zeit zwischen dem Begehren und Erwerben des Begehrten vernichten zu können, ist Sehnsucht.« (Kant, Anthropologie, AA 7:251) Diesen Sätzen zu den Spielarten des Wünschens gibt Kant aber einen prominenten Platz zu Beginn des dritten Buches und zeigt auch dadurch die Bedeutung des Wünschens, um menschliches Begehren im Allgemeinen zu verstehen.
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wird x ganz unbestimmt gelassen, sodass auch keine Kraftanstrengung, keine Erfüllung möglich ist. Man könnte sagen, dass solche Überlegungen in Subtilitäten einer moralischen Psychologie hineinführen, die man betreiben kann, aber nicht muss, und die mit genuin philosophischen Interessen und der zentralen Arbeit an Begriffen nicht mehr viel zu tun hat. Das scheint mir ganz und gar nicht der Fall zu sein, sondern es scheint mir im Gegenteil ein problematisches Vorgehen zu sein, in der philosophischen Begriffsbildung solche Schnitte zu setzen, die dann dazu führen, dass eine große Zahl von Erscheinungsweisen als irrational abgestempelt werden muss. Dies ist eine kritische Implikation der Unterscheidung, die in Bezug auf die Debatte um Willensschwäche im nächsten Kapitel noch explizit entfaltet wird. 132 Die zweite Art des Wünschens, die Sehnsucht, ist für moralische Kritik und Selbstkritik besonders wichtig. Denn diese lässt sich im Unterschied zu den anderen beiden Arten leicht verwechseln mit dem, was man vielleicht »ernsthafte Absichten« oder »Willensbekundungen« nennen könnte. Ich will die reichen kantischen Analysen des Wünschens abschließend auf die zweite exemplarische Situation rückbeziehen, in der mit Hilfe der Unterscheidung zwischen Wünschen und Wollen ein moralischer Vorwurf artikuliert wurde. 133 Ich erinnere: Herr Wunsch hat die Verabredung nicht eingehalten und hat in der Teamsitzung Frau Wollens Vorstoß nicht unterstützt. Frau Wollen stellt Herrn Wunsch zur Rede und sucht dabei nach dem richtigen Ansatzpunkt für ihren moralischen Vorwurf. Hat er Angst bekommen, hat er sie getäuscht oder war es mehr ein Wunsch als ein Wille, in der Teamsitzung zu intervenieren? Ich setze hier wieder an und lege diese Interaktion mit Rückgriff auf die gewonnenen analytischen Möglichkeiten aus: Frau Wollen macht Herrn Wunsch mit ihren Fragen ein Angebot, sein eigenes Verhalten, das ihm möglicherweise selber nicht transparent ist, zu durchleuchten. Herr Wunsch nimmt dieses Angebot auf und erinnert sich an seine Begeisterung über den Plan, den Frau Wollen ihm für das Vorgehen im Teamgespräch vorgeschlagen hatte. Dieses Gefühl kann er mit der Nachfrage von Frau Wollen kri-
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Teil I, Kapitel 3.1. Teil I, Kapitel 1.2.
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tisch spiegeln. Dabei zeigt sich, dass die Begeisterung die Wirkung hatte, sich mehr an dem Gefühl eines Erfolgs, eines möglichen Triumphs zu laben, als Kraft und Ideen für den Widerstand gegenüber der Chefin zu sammeln. Die Auseinandersetzung mit den Anforderungen des zu führenden Gesprächs wurde dadurch übersprungen hin zu einer ausgemalten glücklichen Zukunft. Was Herr Wunsch als »Begeisterung« bezeichnet, könnten wir mit Kant auch »Sehnsucht« nennen und damit nicht ein Gefühl als solches als moralisch problematisch kritisieren, sondern den Aspekt daran, der die Kraft und Aufmerksamkeit zu stark oder vollständig weglenkt von der zu gestaltenden Situation. Es ist dieser Aspekt, der sich affektiv in einem angenehmen, befriedigenden, möglicherweise berauschenden oder beruhigenden, irgendwie selbstgenügsamen Gefühl ausdrückt und von Kant mit dem Ausdruck »Sehnsucht« bezeichnet wird. Und Herr Wunsch führt seine Analyse sogar noch weiter. Er beschreibt, wie sich für ihn die »realrepugnante« Struktur des Wünschens gezeigt hat, denn in der Situation selbst sei die Begeisterung wie verflogen und es seien Bedenken gegenüber dem Plan und dem Zeitpunkt aufgekommen. Eine solche Beschreibung kann Verschiedenes akzentuieren. Sie kann auch auf Widerständigkeiten von Faktoren hindeuten, die vorher nicht bedacht wurden und bedacht werden konnten. Diese müssten mit dem ursprünglichen Plan rückgekoppelt werden und vielleicht zu seiner Aufgabe führen. Aber hier meint Herr Wunsch etwas anderes. In den Bedenken drückte sich seine mangelnde Vorbereitung für die Situation aus, wie eine plötzliche und überraschende Einsicht, dass er jetzt hier gerade gefordert sei und sich darauf ja gar nicht eingestellt habe. Die mangelnde Vorbereitung und fehlende Bereitschaft wirken als hemmende Gegenkraft gegen die »hinwirkende« Kraft der Begeisterung. Der Deutungsvorschlag von Frau Wollen, es möge sich vielleicht um einen Wunsch gehandelt haben, trifft das Erleben von Herrn Wunsch am besten. Er nimmt die Kritik von Frau Wollen an und übt moralische Selbstkritik: Es sei bitter, aber so sei es gewesen und es tue ihm leid. Die kantischen Überlegungen zum Wünschen stellen reiche Möglichkeiten für die kritische Analyse konkreter Situationen bereit. Es stellt sich aber eine wichtige Frage zu der Funktion der Unterscheidung zwischen Wünschen und Wollen. Geht es darum, Verhaltensweisen richtig zu klassifizieren? Dann würde Herr Wunsch mit seinem Eingeständnis einen Irrtum richtigstellen. Die Unterscheidung hat im Zusammenhang mit moralischer Selbstkritik nicht die Funk200 https://doi.org/10.5771/9783495817360 .
Kant: Von der »Aufbietung aller Mittel« zur »Realrepugnanz«
tion des richtigen Klassifizierens und es geht auch nicht darum, unseren Sprachgebrauch oder den anderer zu korrigieren, um die richtige Bezeichnung sicherzustellen. Die Funktion der Unterscheidung zwischen Wollen und Wünschen ist nicht die, zwischen verschiedenen Zuständen eines Subjekts zu unterscheiden, sondern verschiedene Relationen zwischen Zwecken und Mitteln sichtbar zu machen. Diese Relationen zu thematisieren bedarf eines Anlasses, zum Beispiel um jemanden zur Rede zu stellen und moralische Kritik zu üben. Die mit Wollen und Wünschen beschriebenen Relationen scheinen solche zu sein, mit Hilfe derer wir unsere Handlungen uns selbst und anderen erschließen können. Menschliches Handeln selbst wird im Spannungsfeld zwischen Wollen und Wünschen beschreibbar, verstehbar und kritisierbar. Die praktische Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille hat eine reflexive und eine kritische Funktion. Mit den kantischen Analysen zum Wünschen ist eine offene Frage ganz klar negativ beantwortet: Bei der Vielfalt der Bedeutungen von Wünschen handelt es sich um keine Homonymie. Die Frage kam schon bei den Vorüberlegungen in der Einleitung in den ersten Teil auf. Wie ist mit den drei unterscheidbaren Verwendungsweisen von »Wünschen« umzugehen? Handelt es sich um drei Arten von Wünschen oder sollen drei ganz verschiedene Begriffe gebildet werden für 1) solche Wünsche, die sich auf für uns oder prinzipiell Unerreichbares beziehen, 2) solche Wünsche, in denen wir unsere Handlungsmöglichkeiten nicht ausschöpfen (von mir »selbstreflexiv« genannt) und 3) Wünsche im Sinne von Bedürfnissen, Interessen oder »Begehrungen« im Allgemeinen? Wünsche der ersten und zweiten Bestimmung gehören unbedingt zusammen und sie sind in gleicher Weise zu analysieren. Die Unterschiede betreffen also nicht die Struktur, sondern die Art der Gegenstände, auf die sich die Wünsche richten. Das macht es natürlich möglich, feine Zergliederungen vorzunehmen und dabei die kantischen Vorschläge aus der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht zu verarbeiten. Schwieriger ist die Frage nach der allgemeinen Rede über Wünsche im Sinne von Begehrungen. Aber auch darauf kann die kantische Analyse eine Antwort geben, wenn die begrifflichen Unterscheidungen aus der Einleitung zur Metaphysik der Sitten als Differenzierung verstanden werden. Es handelt sich hierbei um eine Paronymie, denn die beiden Bedeutungen weisen inhaltliche Abhängigkeiten auf. Begehrungen im Allgemeinen sind 201 https://doi.org/10.5771/9783495817360 .
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nur zu verstehen über die Möglichkeit gelingenden und misslingenden Handlungsbezugs. Erst dadurch ist das Spannungsfeld menschlichen Handelns eröffnet. Die kantische Analyse des Wünschens und der Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille hat eine hohe Komplexität, denn sie ermöglicht vielerlei Anschlüsse. Es werden begriffliche Klärungen möglich, die Einsichten eignen sich als Leitfaden für Beschreibungen von Situationen und deren Auswertung und die Überlegungen liefern viele Ansatzpunkte zur Kritik am traditionellen Bild des Wollens und dessen Implikationen. Kant würde dem von Sigwart skizzierten Bild entgegenhalten, dass Wollen und Handeln enger zu verbinden seien, dass Wünschen kein Rand-, sondern ein Kernphänomen ist, um menschliches Wollen und Handeln zu verstehen. Die kantische Analyse bietet die Möglichkeit, Antworten auf viele Fragen zu geben und scheint mir deshalb als eine Art theoretischer Höhepunkt gelten zu können, wenn man sich für die Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille interessiert (und das man sich dafür interessieren sollte, zeigt Kant außerdem). Sind damit nicht das Ziel der Fragestellung und die beabsichtigte Klärung der Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille erreicht? Durch die enge Verknüpfung von Wollen und Handeln hat sich nun aber der Kontext der Frage erweitert. Die Fragestellung beginnt sich zu verschieben: Wenn Wollen und Handeln so eng zusammenhängen, wie ist dann eigentlich unser Handeln zu verstehen? Wie ist diesem »engen Zusammenhang« in der Auslegung menschlichen Handelns Rechnung zu tragen? Der Beitrag von Wittgenstein liegt nun darin, genau diese Verschiebung der Aufmerksamkeit einzufordern und zu vollziehen. Es findet sich in seinen Überlegungen kaum Vergleichbares zur Struktur und Funktion von Wünschen, wie es Kant bei genauerem Hinsehen vorschlägt. Wittgenstein will die völlige Andersartigkeit des Wollens herausstellen. Unser Wollen darf nicht mit dem Wünschen verwechselt werden und dabei ist es nicht wichtig, ob Wünschen im allgemeinen Sinne als Begehren verstanden wird oder als Begehren von etwas, für das nicht alle Mittel eingesetzt werden oder wegen der Unerreichbarkeit des Gegenstandes nicht eingesetzt werden können.
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Wittgenstein: Über die Gefahr, Wunsch und Wille zu verwechseln
2.3 Wittgenstein: Über die Gefahr, Wunsch und Wille zu verwechseln Über die Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille hat Wittgenstein in der Zeit von 1916 bis 1947 immer wieder nachgedacht. 134 In späteren Passagen nimmt er explizit Bezug auf frühere, um verschiedene Punkte zu problematisieren und zu differenzieren. Was interessiert Wittgenstein an der Unterscheidung so sehr, dass er sich ihr immer wieder zuwendet? Die ersten Bemerkungen zum Wünschen und Wollen stehen im Kontext der Philosophie des Tractatus logicophilosophicus. 135 Die Grenzlinie zwischen Wünschen und Wollen scheint eine ähnliche Grenzlinie wie die zu sein, die zwischen sinnvollen Sätzen verläuft, die wahr oder falsch sein können, und anderen, nämlich sinnlosen und unsinnigen Sätzen, die keine Aussagen über Tatsachen sind. Wünsche haben einen Gegenstand und können erfüllt werden oder nicht erfüllt werden. Wollen zeigt sich anders und scheint von ganz anderer Art zu sein als Wünschen. Die Unterscheidung zwischen Wünschen und Wollen kann zunächst als eine Art Anwendung der allgemeineren Unterscheidung zwischen Formen von Sätzen verstanden werden. Wittgensteins anfängliches Nachdenken über diese Unterscheidung findet sich in den philosophischen Tagebüchern von 1914–1916 und nicht im Tractatus. Er hat diese Bemerkungen nicht in den Tractatus aufgenommen, möglicherweise, weil die Anspielungen auf Schopenhauer zu deutlich waren. Was auch immer der Grund sein mag, ein Mangel an philosophischem Gewicht ist unwahrscheinlich, sonst würden sich die Bemerkungen zu der Unterscheidung nicht durch sein ganzes Werk ziehen. Mit den Bemerkungen zur Unterscheidung zwischen Wünschen und Wollen fokussiert Wittgenstein einen zentralen Punkt in Schopenhauers Philosophie des Willens. Mir scheint es verfehlt zu sagen, Wittgenstein sei zur Zeit der Abfassung des Tractatus und der begleitenden Tagebücher Vertreter einer idealistischen Willenstheorie Schopenhauerscher Prägung. 136 Ihn interessieren die völlige Anders134 Vgl. dazu die Zusammenstellung von John Hyman, »Action and the Will«, in: O. Kuusela/M. McGinn (Hg.), The Oxford Handbook of Wittgenstein, Oxford 2011, S. 451–471, S. 451. Hyman nimmt allerdings die unten angeführten Passagen aus dem Gelben Buch nicht mit in seine Auflistung auf. 135 Im Folgenden im Haupttext nur noch abgekürzt: Tractatus. 136 Hyman scheint mir in seinem Urteil dazu nicht eindeutig zu sein, wenn er meint, Wittgenstein befreie sich zwar von der »idealistischen« Willenstheorie Schopenhau-
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artigkeit des Wollens gegenüber psychischen Zuständen wie dem Wünschen und die eigentümliche Erscheinungsweise des Willens in bestimmten leiblichen Empfindungen wie Muskelregungen oder Schmerzen. Er übernimmt damit aber kein metaphysisches Lehrstück von Schopenhauer und baut es in sein Lehrgebäude ein, sondern sucht nach Möglichkeiten, diese Differenz und die Besonderheiten des Wollens in der Sprache aufscheinen zu lassen. Dies geschieht, und das macht die stilistische Eindringlichkeit von Wittgensteins Schreiben aus, in knappen, thetischen Sätzen, flankiert durch solche, die wie szenische Anweisungen zu einem Mitvollzug auffordern. Er setzt oft bei kleinen Beobachtungen an oder versucht leitende Bilder und Ausdrücke auf ihre Implikationen hin zu befragen. Dies geschieht zum Teil in kurzen skizzierten Gesprächssequenzen oder in Aufforderungen, etwas nachzumachen, etwas auszuführen und dann darauf zu reflektieren, um zu sehen, was sich daran zeigt. Eine wichtige Passage aus dem Tagebucheintrag vom 4. 11. 1916 sei beispielhaft angeführt: Wünschen ist nicht tun. Aber, Wollen ist tun. (Mein Wunsch bezieht sich z. B. auf die Bewegung des Sessels, mein Wille auf mein Muskelgefühl.) Daß ich einen Vorgang will, besteht darin, dass ich den Vorgang mache, nicht darin, daß ich etwas Anderes tue, was den Vorgang verursacht. […] Der Wunsch geht dem Ereignis voran, der Wille begleitet es. 137
Die kurzen Behauptungssätze wirken wie Thesen. Statt einer Entfaltung und Begründung der Thesen werden Situationen aufgerufen, hier die Bewegung eines Sessels, und die grammatische Form der ersten Person Singular wirkt wie eine Aufforderung, diese Position einzunehmen und etwas zu erforschen und zu erkunden. 138 Wittgenstein versucht sich und seinen Lesern an Sprachspielen und an Experimenten klar zu machen, worin das Phänomen des Wollens eigentlich besteht, wie unsere Redeweisen funktionieren, wo Vereinseitigungen bei der Bildung von Theorien über das Wollen stattfinden. Wittgensteins Ansatz kann auch mit einem Etikett versehen und als »antikausalistisch« und »askriptivistisch« in der Theorielandschaft verers, sei aber weiterhin von dieser beeinflusst. Vgl. Hyman, »Action and the Will«, a. a. O., S. 459. 137 Wittgenstein, Tagebücher, 4. 11. 16, S. 183. 138 Zu Wittgensteins Stil vor allem in Bezug auf die Spätphilosophie vgl. Lars Leeten, Inwiefern sind Sprachspiele Spiele? Zu Wittgensteins therapeutischer Denkpraxis, Hildesheim 2010.
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Wittgenstein: Über die Gefahr, Wunsch und Wille zu verwechseln
ortet werden. Damit ist eine Position markiert, die die Arbeit an der Vielfalt der Erscheinungsweisen des Wollens und unseres Sprechens darüber leicht in den Hintergrund rücken lässt. Wittgensteins philosophischer Schreibstil weist in eine andere Richtung. Philosophieren scheint hier zu bedeuten, vorsichtig und skeptisch gegenüber Terminologien und dem Reden über Positionen zu sein. Vielmehr gilt es diese an kleinen Beobachtungen immer neu zu gewinnen und in systematischen Variationen zu prüfen und zu vertiefen. In den meisten der Bemerkungen Wittgensteins zu diesem Themenkomplex spielt das Verhältnis des Willens zum Körper oder zum Leib 139 eine besondere Rolle. Ein Beispiel dafür liefert die angeführte Stelle. Im Anschluss daran wird es möglich, über die Rolle des Körpers oder Leibes aus Ausdruck des Willens konkret nachzudenken und wieder anzuschließen an Fragen wie die nach der Manifestation des »Patientenwillens«, die in der dritten Beschreibung des ersten Kapitels 140 gestellt wurden. Das Vorgehen in diesem Abschnitt ist das folgende: Die Bemerkungen zu der Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille in den philosophischen Tagebüchern gehören in einen thematischen Zusammenhang mit der Suche nach einer Grenzlinie zwischen Sätzen, die Wittgenstein im Tractatus zieht. Es ist also wichtig, im ersten Schritt den Kontext zu zeigen, in dem diese Bemerkungen stehen und verstanden werden müssen (2.3.1 Wille und Muskelgefühl). Die Bemerkungen zu der Unterscheidung im Braunen Buch schließen einerseits 139 Wittgenstein nimmt die in der deutschen Sprache vorgeprägte Unterscheidung zwischen Leib und Körper nicht explizit auf. Die mittelhochdeutsche Bedeutung des Wortes »lip« ist »Leben«. Vgl. zur sprachlichen Unterscheidungspraxis vor Husserl, Christoph Demmerling, »Den Leib zur Sprache bringen: Überlegungen zur Leib-Körper-Unterscheidung«, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 36 (2011) 1, S. 7–25, S. 7 f. Dennoch ist eine leibphilosophische Lesart von Wittgensteins Philosophie der Psychologie naheliegend, wie sie zum Beispiel Hans-Julius Schneider vorschlägt. Vgl. Hans-Julius Schneider, »Die Leibbezogenheit des Sprechens«, in: Synthesis Philosophica 10 (1995) 1–2, S. 81–95. Erst durch Husserl wird die Unterscheidung zwischen Leib und Körper explizit entwickelt. Emmanuel Alloa und Natalie Depraz weisen darauf hin, dass Schopenhauer für Husserl eine wichtige Inspirationsquelle darstellt, vgl. Emmanuel Alloa/Natalie Depraz, »Edmund Husserl – ›Ein merkwürdig unvollkommen konstituiertes Ding‹«, in: E. Alloa/T. Bedorf/C. Grüny/T. K. Klass (Hg.), Leiblichkeit. Geschichte und Aktualität eines Konzepts, Tübingen 2012, S. 7–22, S. 13. 140 Vgl. Teil I, Kapitel 1.3.
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an die früheren an. Dazu kommt aber eine kritische Auseinandersetzung mit William James’ Kapitel über den Willen aus den Principles of Psychology, die Wittgenstein vielleicht auch wegen der Beschäftigung mit ideomotorischen Handlungen interessieren. Bei James taucht dennoch die traditionelle Kluft zwischen Geist und Körper wieder auf, die Wittgenstein kritisch zurückweist (2.3.2 Wittgensteins Warnung vor einer gefährlichen Verwechslung). In den Bemerkungen zu der Unterscheidung aus den Philosophischen Untersuchungen und den Bemerkungen über die Philosophie der Psychologie wird die bisher entwickelte gedankliche Linie wieder aufgenommen. Es werden zunächst zwei scheinbar gegensätzliche Thesen gegenübergestellt: »Der Wille ist eine Erfahrung« versus »Der Wille ist keine Erfahrung«. Wittgenstein bezieht keine Position, weder dafür noch dagegen, sondern exploriert Erfahrungen und ihre Bedingungen in Form szenischer Anweisungen und zieht daraus Konsequenzen für menschliches Handeln. Dies soll mit Rückbezug auf die dritte Beschreibung aus dem ersten Kapitel reflektiert werden (2.3.3 Der umgreifende Charakter des Handelns).
2.3.1 Wille und Muskelgefühl Eines der Anliegen des Tractatus liegt darin, vor einer Verwechslung zu warnen. Zu unterscheiden sind Sätze, die empirische Inhalte aussagen und wahr oder falsch sein können, von solchen Sätzen, die Bedingungen der Sprache ausdrücken und in einem bestimmten Sinne nicht wahr oder falsch sein können, sondern die einen anderen Status haben. Verwechslungen treten nach Wittgenstein in der Philosophie häufig da auf, wo lautlich identische Wörter unterschiedliche Bedeutungen haben (es sich also um Homonyme handelt). Oder sie tauchen da auf, wo Wörter, die verschiedene Bedeutungen haben, d. h. die verschiedenen Symbolen angehören, in gleicher Weise verwendet werden. 141 Der Symbolcharakter eines Zeichens ergibt sich durch die Analyse des Gebrauchs der Wörter, die zur Aufklärung von vielen fundamentalen Verwechslungen in der Philosophie durchgeführt werden muss. Eine besonders gravierende Verwechslung ergibt sich dann, wenn das, was Wittgenstein »formale Begriffe« nennt, mit
141
Wittgenstein, TLP 3.323 und 3.324.
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»eigentlichen Begriffen« verwechselt wird. 142 Begriffe sind dann formal, wenn es undenkbar ist, dass ihre Gegenstände nicht unter sie fallen. Das Zeichen des Gegenstandes weist auf, dass der Gegenstand unter es fällt. 143 Wittgenstein führt im Tractatus eine neue Unterscheidung ein, die für das richtige Verständnis von Philosophie, Logik, Metaphysik und empirischer Wissenschaft von allergrößter Bedeutung ist, nämlich die Unterscheidung zwischen sinnvollen, sinnlosen und unsinnigen Sätzen. Sätze, in denen etwas über die Wirklichkeit gesagt wird, die wahr oder falsch sein können, in denen allen Namen eine Bedeutung gegeben wurde, sind sinnvolle Sätze. Diese Sätze transportieren Sinn, sie sagen etwas. Dagegen stellen Sätze über die logische Form von Sätzen selber nichts dar und transportieren keinen Sinn. Sie sind Tautologien (die immer wahr sind) oder Kontradiktionen (die immer falsch sind), die die Form der Sätze zeigen, aber sie nicht aussagen. Aussagen kann man nur, was wahr oder falsch sein kann, was anders sein kann. Die logische Form von Sätzen kann aber nicht anders sein. Logische Sätze nennt Wittgenstein deshalb »sinnlos« im Unterschied zu Sätzen, die etwas über die Welt aussagen. Davon unterschieden werden »unsinnige« Sätze. Das sind solche, in denen einem oder mehreren Zeichen im Satz keine Bedeutung gegeben wurde und deshalb der Gegenstandsbezug eines verwendeten Namens nicht klar ist. Unsinnige Sätze haben den Anschein, als seien sie sinnvolle Sätze, sind es aber nicht, weil die Bedingungen von sinnvollen Sätzen nicht erfüllt sind. Sätze über den Willen sind in Wittgensteins Sicht unsinnige Sätze. Diese Unterscheidung von Sätzen ist daher von höchster Wichtigkeit für seine Überlegungen zur Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille und soll deshalb zunächst ausführlicher bedacht werden.
Wittgenstein, TLP 4.126. »Der formale Begriff ist mit einem Gegenstand, der unter ihn fällt, bereits gegeben. Man kann also nicht Gegenstände eines formalen Begriffes und den formalen Begriff selbst als Grundbegriffe einführen.« (Wittgenstein, TLP 4.12721) und: »Die Frage nach der Existenz eines formalen Begriffes ist unsinnig. Denn kein Satz kann eine solche Frage beantworten.« (Wittgenstein, TLP 4.1274) »Gegenstand« ist im Tractatus ein formaler Begriff, der adäquat durch eine Variable »x« ausgedrückt wird. Es entstehen unsinnige Sätze, wenn dieser formale Begriff wie ein eigentlicher Begriff verwendet wird und gesagt wird: »Es gibt 2 Gegenstände.« 142 143
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2.3.1.1 Wie über Wollen und Wünschen zu sprechen ist: Sinnvolle, sinnlose und unsinnige Sätze Es ist eine wichtige Frage, wie die Unterscheidung zwischen sinnvollen, sinnlosen und unsinnigen Sätzen zu verstehen ist. Sie kann einerseits als Einteilung von Satzarten gelesen und verwendet werden. Sie kann auch als doppelte Kontrastierung gedeutet werden, die durch zwei verschieden funktionierende Negationen, »-los« und »un-«, hergestellt wird. Oder Wittgenstein nimmt eine Differenzierung vor, um folgenreichen Verwechslungen von Satzformen und problematischen Reduktionen auf nur eine Satzart vorzubeugen. Mit dem dritten Glied dieser dreigliedrigen Unterscheidung: sinnvoll – sinnlos – unsinnig wäre gewissermaßen der Ort markiert, von dem her die Differenzierung überhaupt möglich wird. Dann wäre die Unterscheidung nicht symmetrisch, sondern asymmetrisch. Ich will diese Unterscheidung im Folgenden als doppelte Kontrastierung verstehen, die dazu auffordert, sinnlose und unsinnige Sätze in ihrer Analogie und Disanalogie zu betrachten. Der eigentümliche Aufbau des Tractatus erlaubt es, verschiedenen Bezügen nachzugehen und diese zum Gegenstand der Aufmerksamkeit zu machen, ohne dass dies explizit im Tractatus durchgeführt wäre. In dieser Möglichkeit, zu der die Textform geradezu einlädt, liegt sicher eine der Faszinationen dieses kurzen Textes, der verschiedene Lesarten provoziert und nie völlig ausgeschöpft wirkt. Eine dieser Verbindungslinien besteht zwischen sinnlosen und unsinnigen Sätzen, die beide als Negation von sinnvollen Sätzen bestimmte ähnliche Besonderheiten aufweisen, die konkret ausgeführt dann wieder sehr verschieden funktionieren. Eine Parallelität zwischen logischen (sinnlosen) Sätzen und ethischen Sätzen, die eine Spielart von unsinnigen Sätzen sind, ist die, dass Wittgenstein die Logik und die Ethik »transzendental« nennt. 144 Dies heißt keineswegs, dass logische und ethische Sätze den gleichen Status hätten. 145 Vielmehr wird das Verhältnis zwischen unsinnigen und sinnlosen Sätzen in verschiedenen Bemerkungen über signifikante Ähnlichkeiten und signifikante Unterschiede gleichermaßen bestimmt. Eine Parallelität, wie die gleichzeitige Charakterisierung von ethischen und logischen Sätzen als »transzendental«, legt es nahe, den Weg über die Ähnlichkeiten zu Vgl. Wittgenstein, TLP 6.13 und Wittgenstein, TLP 6.421. Dies meint zum Beispiel Rudolf Haller, »What do Wittgenstein and Weininger have in Common?«, in: ders., Questions on Wittgenstein, London 1988, S. 90–99. 144 145
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den Unterschieden zu wählen, also ähnliche Besonderheiten aufzuspüren und in ihrer gänzlich verschiedenen Funktionsweise zu entwickeln. Folgt man dieser Verbindungslinie im Tractatus, dann lassen sich drei Besonderheiten von sinnlosen und unsinnigen Sätzen ausmachen: Negativität, Selbstreflexivität und Bezug aufs Ganze. Jede dieser Besonderheiten hat im Falle von sinnlosen und von unsinnigen Sätzen eine andere Funktion und Ausgestaltung. Dies soll schrittweise für jede dieser Besonderheiten im Kontrast zu den sinnvollen Sätzen gezeigt werden. Der Schwerpunkt dieser Erläuterungen liegt dabei deutlich auf den unsinnigen Sätzen. Im Anschluss daran soll die Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille in diesen vier Hinsichten erläutert werden. Es scheint mir wichtig, die Unterscheidung zwischen sinnvollen, sinnlosen und unsinnigen Sätzen relativ ausführlich zu thematisieren, um zu zeigen, inwiefern die Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille sich von dorther erschließt. Damit wird ein Problem deutlich, das Wittgenstein auch in späteren Phasen seines Denkens beschäftigt, in welchen die Unterscheidung zwischen sinnvollen, sinnlosen und unsinnigen Sätzen explizit nicht mehr vorkommt. Erstens (Negativität): Beide Satzformen sind nicht sinnvoll (im einen Fall sinnlos, im anderen Fall unsinnig). Sinnlos sind Sätze, die nicht wahr oder falsch sein können, sondern entweder nur wahr oder nur falsch sind. Unsinnige Sätze negieren sich in gewisser Hinsicht selbst. Als Sätze transportieren sie einen Gehalt, der von dem, der die Sätze gebraucht und versteht, wieder zurückgenommen werden muss, um die Sätze nicht als Aussagen, sondern als Erläuterungen 146 einer Person 147 zu verstehen. Damit fordern diese Sätze zu einer Tätigkeit auf, die Aufmerksamkeit anders zu lenken, nämlich auf das eigene Sprechen. Unsinnige Sätze haben ein irreduzibel praktisches Moment. 146 Von »Erläuterungen« ist im Tractatus an drei Stellen die Rede: TLP 3.263 und 4.112 und 6.54. 147 Dies hebt Cora Diamond hervor, vgl. Cora Diamond, »Ethics, imagination and the method of Wittgenstein’s ›Tractatus‹«, in: A. Crary/R. Read (Hg.), The New Wittgenstein, London/New York 2000, S. 149–173, S. 150 ff. Der Ansatzpunkt für Diamonds Interpretation ist die strenge Lektüre von TLP 6.54. Dort steht: »Meine Sätze erläutern dadurch, dass sie der, welcher mich versteht, am Ende als unsinnig erkennt […].« [Hervorhebung K. W.] Bei unsinnigen Sätzen geht es um ein Verstehen der Person, die schreibt oder spricht und nicht um ein Verstehen des Satzsinnes unabhängig von der Person. Und genau darin liegt die Pointe von Erläuterungen.
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In der Wittgenstein-Forschung ist eine Diskussion darüber entbrannt, ob Wittgenstein im Tractatus zwei Arten von »unsinnigen Sätzen« meint oder nicht. In der älteren Wittgenstein-Literatur gab es viel rezipierte Stimmen, die dafür plädierten, zwischen zwei Verwendungsweisen des Ausdrucks »unsinnig« zu unterscheiden. Elizabeth Anscombe zum Beispiel hat vorgeschlagen, solche Sätze, die zwar unsinnig sind, aber doch auf etwas Wahres deuten, das aber unsagbar ist, von solchen zu unterscheiden, die einfach nur unsinnig sind. 148 Unsinnige Sätze der ersten Art sind die Sätze des Tractatus, unsinnige Sätze der zweiten Art sind bestimmte metaphysische Sätze der Tradition, die die Grenzen des Sagbaren, ohne ihrer bewusst zu sein, überschreiten. Dagegen haben Cora Diamond und James Conant eine neue Lesart des Tractatus vorgeschlagen, um die Funktion der unsinnigen Sätze im Tractatus zu klären. Genau darin liegt das zentrale Anliegen des Tractatus, zu verstehen, dass alle philosophischen Sätze in der gleichen Weise unsinnig sind, die des Tractatus genauso wie z. B. der Satz »piggly wiggle tiggle«. Auf der Ebene dessen, was diese Sätze sagen, sind sie gleichermaßen unsinnig. Es können also keine Typen von unsinnigen Sätzen unterteilt werden. Diamonds und Conants »resolute reading« des Tractatus ist gekennzeichnet durch ein strenges (austere) Verständnis von »unsinnig«. Alle unsinnigen Inhalte sind in ein und demselben strengen Sinne unsinnig. Differenzierungen sind nicht intern, in Bezug auf den Satzgehalt möglich, sondern nur extern in Bezug auf die verschiedenen Funktionsweisen der Imagination. In der Imagination werden unsinnige Sätze wie sinnvolle Sätze verwendet und das Anliegen des Tractatus ist es, diese als Illusionen transparent zu machen. Im Tractatus soll schrittweise die Einsicht erzeugt werden, dass Sätze, wie »Die Welt ist alles, was der Fall ist«, eine illusionäre Imagination initiieren, das Ganze der Sätze übersehen und darüber etwas sagen zu können. Eine andere Rolle spielt die Imagination bei ethischen Sätzen, die ebenfalls nichts über die Wirklichkeit sagen und unsinnig sind. Hier zeigt Diamond am Beispiel von etwas unbedingt Bösem, wie es zum Beispiel in vielen Märchen der Brüder Grimm auftaucht, dass Imagination zum Einsatz kommt, die nicht die Tatsachen der Wirklichkeit abbildet, sondern eine Qualität des Ganzen auffasst, die gemessen an dem, was in der Wirklichkeit nachweisbar ist, eine Illusion ist. Dies ist eine 148 Elizabeth Anscombe, An Introduction to Wittgensteins ›Tractatus‹, London 1963, S. 162.
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unverzichtbare Illusion, von der wir nicht lassen können. Ich nehme von dieser Interpretationsrichtung eine Reihe wichtiger Anregungen auf, ohne aber die Opposition gegen die zu einheitlich verstandene traditionelle Sicht zu übernehmen und mich der angebotenen Terminologie zu unterwerfen. 149 Zweitens (Selbstreflexivität): Sinnlose und unsinnige Sätze sind nicht referentiell, sondern selbstreflexiv. Im Falle der sinnlosen Sätze muss die logische Form des Satzes durch Inanspruchnahme derselben ausgedrückt werden. Logische Ausdrücke und logische Sätze vertreten keinen Gegentand, sondern zeigen etwas über ihre Form, indem sie eben diese Form verwenden. Sie können aus der Form nicht heraus, sie nicht von außerhalb darstellen. Wittgenstein bemüht sich, diese eigentümliche Funktionsweise mit einem eigenen Ausdruck zu belegen und reserviert »aussagen« oder »sagen« für sinnvolle Sätze und nennt diese eigentümlich selbstreflexive Art von logischen Sätzen »spiegeln«, »sich ausdrücken« (im Unterschied zu etwas ausdrücken), »zeigen« oder »aufweisen«. 150 Es ist wichtig zu bemerken, dass Wittgenstein hier keinen Terminus einführt, sondern vier sprachliche Wendungen nebeneinanderstellt, um diese andere Manifestationsform sprachlichen Ausdrucks zu umschreiben. In welchem Sinne sind unsinnige Sätze selbstreflexiv? Während im Falle der sinnlosen Sätze etwas über die Form der Sätze gezeigt wird, die gleichzeitig verwendet wird, richten sich die unsinnigen Sätze auf die Verwendung der Sätze selbst. Jeder Satz wird von jemandem zu irgendeinem Zweck verwendet. Zu unsinnigen Sätzen gehören solche, die dies thematisieren und es dabei aber selbst in Anspruch nehmen, also Sätze über das Subjekt, über die moralische Qualität von Zwecken und solche Sätze, die all diese Zusammenhänge erläutern, also philosophische Sätze im Allgemeinen. Unsinnige Sätze begrenzen sinnvolle Sätze. Überlegungen zu Grenzen finden sich 149 Vgl. die manifestartige Versammlung zentraler Texte dieses neuen Interpretationsansatzes in dem von Alice Crary und Rupert Read herausgegebenen Sammelband: The New Wittgenstein, London 2000, in dem Alice Crary in ihrer Einleitung eine recht schematisch wirkende Gegenüberstellung von der traditionellen Lesart und der neuen Lesart vornimmt. Bei dieser Bemühung, das Neue herauszustreichen, werden die zentralen neu geschaffenen Termini konstelliert, ohne diese noch einmal weiter zu motivieren. Vgl. Alice Crary, »Introduction«, in: A. Crary/R. Read (Hg.), The New Wittgenstein, London/New York 2000, S. 1–16. 150 Wittgenstein, TLP 4.121.
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bei Wittgenstein an verschiedenen Stellen und Grenzen haben dabei immer den doppelten Charakter, dass sie etwas beschränken, etwas ein Ende setzen, aber auch und gerade dadurch einen Spielraum eröffnen und etwas ermöglichen. Das erste scheint eine negative Funktion der Grenze zu sein, das zweite eine positive. 151 Wird das Subjekt oder werden moralische Zwecke im negativen Sinne als Grenze verstanden, dann ist das von der Perspektive der sinnvollen Sätze her gesprochen. Es lassen sich darüber keine sinnvollen Sätze bilden. Im positiven Sinne ermöglichen das Subjekt und die Setzung von Zwecken erst den Raum der sinnvollen Sätze. Ich will versuchen, dies mit Rückgriff auf die Terminologie des Tractatus zu plausibilisieren: Damit sinnvolle Sätze möglich sind, ist die Annahme notwendig, dass es einfache Gegenstände gibt, die durch einfache Zeichen im Satz, die Namen, vertreten werden können. Diese sind im Satz miteinander verkettet und bilden die einfachen Elementarsätze. Es gibt nun weder für Namen (und ihre Gegenstände) noch für Elementarsätze Beispiele, denn jeder konkrete Name und jeder konkrete Elementarsatz können wieder als ein Komplexes analysiert und in einzelne Teile zerlegt werden. Es »gibt« also keine absoluten Einfachen (wie Gegenstände oder Elementarsätze), aber es braucht einen funktionalen Einfachheitsbegriff. Es braucht die Unterscheidung einfach und komplex und die beiden Glieder der Unterscheidung gibt es nicht in der Welt ohne ein Subjekt, das die Unterscheidung gebraucht und mit ihr einen bestimmten Zweck verfolgt. In den philosophischen Tagebüchern gibt es dazu eine pointierte Formulierung: »Dieser Gegenstand ist für mich einfach!« (22. 6. 15) Dies heißt nicht, dass die Annahme eines einfachen Gegenstandes ein willkürlicher Akt ist, vielmehr ist es in einem Kontext mit starken Gründen legitim, einen Gegenstand als einfach zu betrachten und anderes im Verhältnis dazu als komplex. Und doch ist das Subjekt, das einen Zweck verfolgt, ein irreduzibles Moment, durch das eine Entscheidung getroffen wird, dass etwas als einfach im Unterschied zum Komplexen gesetzt wird. Dies ist durch sinnvolle Sätze nicht zum Gegenstand zu machen, dann würde es wieder eine Tatsache in der Welt und hätte dieses Subjekt und dessen Zwecke zur Voraussetzung. In diesem Sinne eröffnet das Subjekt erst die Möglichkeit, sinnvolle Sätze zu bilden und zu gebrauchen.
151
Vgl. die Überlegungen zur Grenze und Grenzziehung in Teil II, Kapitel 2.2.3.
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Drittens (Bezug aufs Ganze): Wittgenstein zeigt, dass die logische Form eines Satzes die gesamten logischen Möglichkeiten enthält und mit der logischen Form eines Satzes alle logischen Verhältnisse gegeben sind. In einem Satz ist der logische Raum, also die Beziehungsmöglichkeiten mit anderen Sätzen bereits »präjudiziert«. 152 Es gibt keine isolierten logischen Zusammenhänge, sondern diese zielen aufs »Ganze« der logischen Verhältnisse. Ein unsinniger Satz nimmt Bezug aufs Ganze der Wirklichkeit, denn unsinnige Sätze richten sich nicht auf spezielle Gegenstände, sondern auf etwas, das alles durchzieht. Die Bewertungen, die von unsinnigen Sätzen vorgenommen werden, gehen aufs Ganze und funktionieren ganz anders als andere Bewertungen, die begrenzte Wirklichkeitsbereiche betreffen. 153 Der Bezug aufs Ganze zeigt sich bei unsinnigen Sätzen über das wollende Subjekt daran, dass das Wollen (das gute oder böse Wollen) nicht neue Tatsachen in der Welt schafft oder verändert, sondern dass dadurch die Grenzen der Welt insofern geändert werden, als die Welt als Ganzes ab- oder zunimmt. 154 Dieser Ganzheitsaspekt ist von der »Ganzheit« der Logik zu unterscheiden. Während die Logik aufs Ganze geht, weil sie das Gerüst oder den Bauplan der Welt darstellt, geht die Ethik aufs Ganze, weil sie wertstiftend ist und dadurch alles beeinflusst. Die Negativität, Selbstreflexivität und der Ganzheitsbezug der unsinnigen Sätze lassen die Frage nach der Textpragmatik entstehen. Wie sollen philosophische Texte voller unsinniger Sätze geschrieben sein, um den Besonderheiten dieser Sätze Rechnung zu tragen? Mit den unsinnigen Sätzen steht auch der sprachliche Modus der Philosophie in Frage. Dieser wird als ein prekärer dargestellt, der systematisch einer Verwechslungsgefahr unterliegt. Dies macht verständlich, weshalb der Satz 6.54 im Tractatus und die damit verbundene Metaphorik der Leiter, die weggeworfen werden muss, wenn man auf ihr hinaufgestiegen ist, viel Aufmerksamkeit der Forschungsliteratur auf sich gezogen hat und dies aktuell immer noch tut. Für die Unterscheidung zwischen Wünschen und Wollen folgt daraus, der Art der Darstellung, nämlich den Abbreviaturen von Szenen und Experimenten Wittgenstein, TLP 3.42. Diamond kritisiert an metaethischen Diskussionen, dass ethische Bewertungen und andere Bewertungen nicht unterschieden, sondern bewusst parallelisiert werden, vgl. Diamond, »Ethics, imagination and the method of Wittgenstein’s ›Tractatus‹«, a. a. O., S. 163. 154 Wittgenstein, TLP 6.43. 152 153
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und den damit verbundenen Aufforderungen Folge zu leisten. Unsinnige Sätze sind selbstreflexiv. Vollziehen wir sie mit, zeigt sich etwas über unsere Vollzüge als Zwecke setzende Subjekte. 2.3.1.2 Wille und Leib Mein Vorschlag geht nun dahin, die Bemerkungen zur Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille aus den philosophischen Tagebüchern als Konkretisierung der Unterscheidung zwischen sinnvollen und unsinnigen Sätzen zu deuten. Später, im Braunen Buch, findet Wittgenstein für diese Unterscheidung starke Worte: Es sei gefährlich, Wunsch und Wille zu verwechseln. 155 Mit der Unterscheidung zwischen sinnvollen und unsinnigen Sätzen wie auch der zwischen Wünschen und Wollen wird eine Grenze zwischen zwei Seiten gezogen, die nicht auf gleicher Ebene liegen, anders, als es zum Beispiel bei der Geschlechterunterscheidung der Fall ist. Die eine Seite, die der unsinnigen Sätze sowie die des Willens, hat vielmehr eine die jeweils andere bedingende Funktion. Es soll nun überlegt werden, wie sich die Besonderheiten der unsinnigen Sätze, die Negativität, die Selbstreflexivität und der Ganzheitsbezug, im Falle der Unterscheidung zwischen Wünschen und Wollen genauer zeigen. 156 Die meisten Bestimmungen, die dem Wunsch zukommen, werden für das Wollen negiert. Wünsche haben einen Gegenstand, sie sind auf etwas gerichtet und können deshalb erfüllt oder auch nicht erfüllt werden. Für das Wollen gilt das nicht. Wünsche sind durch ihre Ausrichtung auf etwas bestimmt. Für das Wollen gilt das nicht. Wünsche sind eingebunden in eine Kette von Ursachen und Wirkungen. Wünsche haben Ursachen und können ihrerseits etwas bewirken. Für das Wollen gilt das ebenfalls nicht. Wittgenstein eignet sich hier Schopenhauers Versuch an, den Willen nicht vorstellungshaft und das heißt nicht unter Bedingungen des Satzes vom Grunde in seiner vierfachen Gestalt als Ursache und Wirkung, Grund und Folge, Lage und Folge und Motiv und Handlung zu denken (Wünsche gehören bei Schopenhauer zu dieser Motivationsgesetzlichkeit). Das, was Bedeutung stiftet, das, was uns als Subjekte ausmacht, hat eine 155 Wittgenstein, Braunes Buch, S. 235. Siehe dazu den folgenden Abschnitt, Teil I, Kapitel 2.3.2. 156 Wichtige Tagebucheinträge für die Unterscheidung zwischen Wünschen und Wollen sind: 5.7.16, 8.7.16, 21.7.16, 29.7.16, 2.8.16, 15.10.16, 17.10.16, 4.11.16, 9.11.16.
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gänzlich andere Erscheinungsweise. Und genau das leistet der Wille, der sich direkt in bestimmten körperlichen Empfindungen wie den Muskelempfindungen bei Bewegungen oder im Schmerz ausdrückt. Die oben schon angeführte Passage aus dem Tagebucheintrag vom 4. 11. 1916 macht dies deutlich. Ich zitiere sie deshalb noch einmal: Wünschen ist nicht tun. Aber, Wollen ist tun. (Mein Wunsch bezieht sich z. B. auf die Bewegung des Sessels, mein Wille auf mein Muskelgefühl.) Daß ich einen Vorgang will, besteht darin, dass ich den Vorgang mache, nicht darin, daß ich etwas Anderes tue, was den Vorgang verursacht. […] Der Wunsch geht dem Ereignis voran, der Wille begleitet es. 157
Der Wunsch, den Sessel von hier nach dort zu bewegen, ist etwas anderes als das Bewegen des Sessels von hier nach dort. Dies zu wünschen, heißt etwas Bestimmtes zu tun, was sich auf das Bewegtwerden des Sessels richtet. Das kann dazu führen, den Sessel zu bewegen, es kann aber auch ganz anders aussehen, zum Beispiel so: »Ich blicke auf den gewünschten Standort, mache ein wohliges Geräusch bei der Vorstellung, dass man von dort in den Garten schauen kann und bleibe auf dem Sofa liegen.« Wünsche sind Ereignisse in der Welt und ihre Erfüllungen sind Ereignisse in der Welt. Ereignisse in der Welt bilden keinen logischen Zusammenhang. Und das heißt, dass es möglich sein muss und möglich ist, dass etwas gewünscht wird, was nicht in Erfüllung geht. Beide Ereignisse in der Welt, das Wünschen von Etwas wie auch das Eintreffen oder Nichteintreffen des Gewünschten könnten auch anders sein. Die Sätze, die ausdrücken, dass etwas gewünscht wird und dass das Gewünschte in Erfüllung geht oder nicht, sind sinnvolle Sätze. Sie beschreiben Tatsachen in der Welt. Dieses Ereignis ist mit anderen Ereignissen kausal verbunden, und nicht logisch. Der Willensakt kann nicht vollständig vergegenständlicht werden zu einem Ereignis in der Welt, zu einer Tatsache, über die ein sinnvoller Satz geäußert werden kann, der wahr oder falsch sein kann. Das Wollen drückt sich in der Muskelempfindung aus bei den Bewegungen, vom Sofa aufzustehen, auf den Sessel zuzugehen und ihn um einige Meter zu verschieben. 158 Wittgenstein, Tagebücher, 4.11.16, S. 183. Überlegungen dieser Art finden sich auch vielfach in den Philosophischen Untersuchungen, vgl. z. B. Wittgenstein, PU § 444: »Nun könnte man aber fragen: Wie schaut das aus, wenn er kommt? – Es geht die Tür auf, jemand tritt herein, etc. – Wie schaut das aus, wenn ich erwarte, dass er kommt? – Ich gehe im Zimmer auf und ab, sehe zuweilen auf die Uhr, etc. – Aber der Vorgang hat ja mit dem andern 157 158
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Der Wille ist keine Ursache für körperliche Bewegungen, sondern die Empfindungen körperlicher Bewegungen sind seine Erscheinungsweise. Darin liegt die Selbstreflexivität des Willens, er drückt sich aus. Diese »Gegenstandslosigkeit« und der Ausdruckscharakter des Wollens zeigen sich zum Beispiel in der folgenden auf den ersten Blick sehr irritierenden Frage: »Was ist, wenn man eine Handlung will, der Gegenstand des Wollens: der Gegenstand, den man ins Auge fasst, oder die Zusammenziehung eines Muskels?« 159 Die physiologische Konkretheit bei der Zusammenziehung eines Muskels ist kaum verständlich und klärt sich auf, wenn man einige wichtige Aspekte von Schopenhauers Willens- und Leibphilosophie vergegenwärtigt. Der Wille drückt sich direkt im Leib aus und bewirkt nicht leibliche Bewegungen. Das Nachdenken über den Leib hat für Schopenhauer allerhöchsten philosophischen Rang. Dies macht er zu Beginn und am Ende des Paragraphen 18 in Die Welt als Wille und Vorstellung deutlich. Wäre nämlich die Welt nur Vorstellung, also stünde sie uns als erkennenden Subjekten nur als Objekt bzw. als ein Zusammenhang von Objekten gegenüber, bliebe sie uns »fremd« und »unverständlich« und hätte für uns keine »Bedeutung«, sondern bliebe uns ein Rätsel. Die Welt bekommt für uns Bedeutung, wir kennen uns aus und können sie verstehen, weil wir uns in der Welt als Leib bewegen und in ihr als Wollende agieren. Nur deshalb ist die Welt unsere Welt, können wir die Welt und uns in ihr verstehen und vor allem: nur deshalb hat unser Leben für uns Bedeutung. Darin liegt der Ganzheitsbezug des Willens. Zudem ist ein Zusammenhang angesprochen, dessen Entfaltung Schopenhauer im folgenden Text beschäftigt, nämlich der Zusammenhang zwischen Leib und Wille. Der Zusammenhang ist dann richtig aufgefasst, wenn er sowohl als Identität als auch als Differenz in einem bestimmten Sinne verstanden wird. Wille ist nämlich Leib, beides ist das Gleiche, Wille ist Leib, Leib ist Wille. Mit dieser Identität will Schopenhauer keine Austauschbarkeit von synonymen Begriffen behaupten, sondern einen unlöslichen Zusammenhang, der von zwei Seiten zu betrachten ist. Und in diesen beiden Betrachtungen liegt die Differenz von beidem. Den Leib bzw. die Bewegungen des Leibes können wir anschauen. Wir haben sinnliche Wahrnehnicht die geringste Ähnlichkeit! Wie kann man dann die selben Worte zu ihrer Beschreibung gebrauchen?« 159 Wittgenstein, Gelbes Buch, S. 216.
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mungen vom Leib, wir sehen ihn, wir hören ihn, wir tasten ihn, wir riechen und schmecken ihn. Diese Wahrnehmungen finden in einem räumlich-zeitlichen System statt, das wir miteinander teilen und das es ermöglicht, dass wir uns auf leibliche Vollzüge gemeinsam beziehen können. Wir können uns zum Beispiel darüber verständigen, dass sich jemand gestern von hier nach dort bewegt hat, um uns zu besuchen. Diese Art der Betrachtung ist über die Anschauung vermittelt, während die andere Art der Betrachtung unmittelbar ist und sich als Schmerz oder Wohlbehagen äußert. Die Dualität von Leib und Wille scheint eine zu sein, die als sinnlicher Ausdruck auf der einen und innere Empfindung von Lust und Unlust bzw. Schmerz und Wohlbehagen auf der anderen Seite verständlich zu machen ist. Nun kommt aber alles darauf an, die Art dieser Relation richtig zu verstehen. Beides steht nicht in einem kausalen Verhältnis, wie es oft verstanden wird. Oft legen wir uns die Wirkungsweise des Willens so zurecht, als sei der Wille eine Art innerer Impuls für eine Bewegung im Außen. Wir wollen etwas, entschließen uns dazu und dann tun wir es. Schopenhauer hält diese Trennung von Innen und Außen und das kausale Verhältnis für völlig falsch. Wille und Leib sind immer zugleich, nur wenn wir etwas leiblich ausführen, wollen wir es und nur wenn wir etwas wollen, führen wir es leiblich aus. Das bedeutet keine zeitliche Aufeinanderfolge und auch kein kausales Verhältnis und auch keine zufällige Synchronizität. Es ist ein Zusammenhang, der zweierlei Beschreibungen zulässt und nötig macht, eine als leibliche Ausführung und eine als Willensakt. Schopenhauer nennt dies die philosophische Wahrheit kat’ exochen, also die philosophische Wahrheit von allerhöchstem Rang und unumstößlicher Gewissheit. Im 20. Kapitel des zweiten Bandes von Die Welt als Wille und Vorstellung wird die Muskelaktion als direkter Ausdruck des Willens hervorgehoben: »Also ist allein im wirklichen Handeln der Wille selbst thätig, mithin der Muskelaktion, folglich in der Irritabilität: also objektiviert sich in dieser der eigentliche Wille.« 160 Damit bekommen die Muskelaktion und Muskelempfindung eine herausgehobene Bedeutung, was wohl auch mit Schopenhauers physiologi-
160 Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, Zweiter Band, Kapitel 20, in: Arthur Schopenhauers Werke in 5 Bänden, hrsg. v. L. Lütkehaus, Bd. 2, Zürich 1988, S. 290.
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schen Interessen zu tun hat. 161 Damit konkretisiert Schopenhauer folgende allgemeinere Konsequenz aus der Identität von Wille und Leib: Willensbeschlüsse, die sich auf die Zukunft beziehen, sind bloße Überlegungen der Vernunft, über das, was man dereinst wollen wird, nicht eigentliche Willensakte: nur die Ausführung stempelt den Entschluss, der bis dahin immer nur noch veränderlicher Vorsatz ist und nur in der Vernunft, in abstracto existiert. In der Reflexion allein ist Wollen und Thun verschieden: in der Wirklichkeit sind sie Eins. 162
Wittgenstein übernimmt Schopenhauers Ausdruck »Leib« nicht, wohl aber die Idee des Willensausdrucks in den Muskeln. Der Selbstausdruck des Willens zeigt sich darin, dass der Wollende sich selbst spürt. Eine Art, die eigene Bewegung zu spüren, ist die Muskelempfindung. Wittgenstein scheint hier Schopenhauers Interesse an Forschungen über das körperliche Spüren im Zusammenhang mit dem Muskelgefühl 163 aufzunehmen. In der Lektüre von James’ Principles of Psychology geht Wittgenstein unter anderem diesem Interesse nach.
2.3.2 Wittgensteins Warnung vor einer gefährlichen Verwechslung Wittgenstein sagt im Braunen Buch mit Nachdruck, es sei »gefährlich«, Wunsch und Wille zu verwechseln: Gefährlich ist hier die Verwechslung zwischen Wollen und Wünschen. – Denn wenn ich meinen Arm hebe, so ist es nicht so, dass ich zuerst wün161 Stephan Atzert unterscheidet drei Phasen der Willensbegründung bei Schopenhauer, die metaphysische, die physiologische und die psychologische. Vgl. Stephan Atzert, »Leib und Willensbegründung bei Schopenhauer«, in: M. Jeske/M. Koßler (Hg.), Philosophie des Leibes. Die Anfänge bei Schopenhauer und Feuerbach, Würzburg 2012, S. 59–68. 162 Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, Erster Band, Zweites Buch § 18, Arthur Schopenhauers Werke in 5 Bänden, hrsg. v. L. Lütkehaus, Bd. 1, Zürich 1988, S. 152. 163 Der Ausdruck »Kinästhetik« ist erst 1880 durch Henry Charlton Bastian eingeführt worden. Schopenhauer hat sich auf physiologische Studien bezogen, in denen der Ausdruck »Muskelgefühl« verwendet wurde. Vgl. zur Entwicklung des begrifflichen Feldes »Muskelgefühl« – »Muskelsinn« – »Kinästhetik« – »Propriozeption« – »Bewegungssinn«, Rolf Elberfeld, »Phänomenologie sinnlicher Erfahrung in interkultureller Perspektive. Zur Bedeutung des ›Bewegungssinns‹«, in: R. Schulz (Hg.), Zukunft ermöglichen. Denkanstöße aus fünfzehn Jahren Karl Jaspers Vorlesungen zu Fragen der Zeit, Würzburg 2008, S. 357–376, S. 367 ff.
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Wittgenstein: Über die Gefahr, Wunsch und Wille zu verwechseln
sche, er möchte sich heben, und nun tut er es tatsächlich. (Obwohl auch das in besonderen Fällen geschehen könnte.) 164
Die angeführte Stelle hat nun eine besondere Dringlichkeit und sagt uns, dass die Möglichkeit besteht, Wollen und Wünschen zu verwechseln und zwar mit Konsequenzen, die als »gefährlich« eingestuft werden. Diese Einschätzung versteht sich nicht von selbst, im Gegenteil. Wir wären nicht überrascht, wenn uns jemand sagte, dass die Verwechslung zwischen Traum und Wirklichkeit gefährlich sei. Ebenso könnte man sich vorstellen, dass jemand die Verwechslung von Mitleid und Mitgefühl für gefährlich hält. Nicht überrascht zu sein, heißt natürlich nicht, dieser Einschätzung zuzustimmen, aber es heißt, sie zu verstehen und sie mit Rekurs auf eigene Erfahrungen bestätigen oder kritisch befragen zu können. Und genau dieser Rekurs auf eigene Erfahrungen ist im Falle der Unterscheidung zwischen Wünschen und Wollen nicht durch eine viel verwendete geteilte Unterscheidungspraxis vorgebahnt. In der Theorielandschaft lesen wir gegenwärtig klare Voten gegen die Verwendung dieser Unterscheidung. 165 Die angeführte Bemerkung Wittgensteins scheint dem zu widersprechen, ja, scheint diese Theorieentwicklung für eine gefährliche Entdifferenzierung zu halten. Verwechslungen sichtbar zu machen, zu kritisieren und durch treffende Unterscheidungen aufzulösen, ist ein Grundanliegen der Philosophie. Zum Beispiel ist es eines von Platons Grundanliegen, in immer neuen Kontexten die Verwechslung zwischen dem, was jemand zu wissen meint, und dem, was er wirklich weiß, aufzuzeigen und durch die philosophische Unterscheidung zwischen Meinung (doxa) und Wissen (episteme) aufzulösen. Von Verwechslungen sprechen wir da, wo etwas für etwas anderes gehalten wird, was es nicht ist – aus der wohlbegründeten Perspektive von jemandem. Bei der Verständigung über Verwechslungen richtet sich jemand kritisch auf einen bestimmten Anspruch, eine Überzeugung oder einen Handlungszusammenhang von jemandem. Er weist auf, dass da, wo mindestens zweierlei (aber durchaus auch mehreres) einander in einigen Hinsichten so ähnlich erscheint, die Hinsichten, in denen beides voneinander abweicht, nicht beachtet werden. Diese beiden Akteure können auf mehrere Personen oder Instanzen aufgeteilt sein, es kann Wittgenstein, Braunes Buch, S. 235. Vgl. die Hinweise auf Anna Kusser und Peter Stemmer in der Einleitung in den ersten Teil. 164 165
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aber in einer bestimmten zeitlichen Erstreckung auch jemand durch bestimmte Erfahrungen des Anstoßes selbst auf eine Verwechslung aufmerksam werden. Im Falle der platonischen Dialoge ist es meist Sokrates, der aus der Perspektive dessen spricht, der eine Verwechslung in den Überzeugungen seiner Gesprächspartner bemerkt und sich bemüht, bei seinen Gesprächspartnern die Einsicht zu erzeugen, dass z. B. das, was man gemeinhin für Tugend hält und das, was Tugend ist, nur auf den ersten Blick das Gleiche zu sein scheinen und genauer betrachtet in vielen relevanten Hinsichten voneinander abweichen. Bei Verwechslungen ganz anderer Art, wenn wir zum Beispiel eine unbekannte Person mit einer bekannten verwechseln, gibt die irritierte Reaktion unseres Gegenübers den Anlass, genauer hinzuschauen. Auf den zweiten Blick können dann die Hinsichten bemerkt werden, in denen sich die Person, die man vor sich zu haben glaubte und die Person, die vor einem steht, unterscheiden, wie zum Beispiel den Blick, die Haltung oder die Stimme. Manche Verwechslungen können durch eine treffende Unterscheidung nachhaltig behoben werden. Dies ist zum Beispiel oft bei Verwechslungen von Personen der Fall. Fällt uns einmal die ganz andere Haltung der Person, die man vor sich zu haben glaubte und der Person, die vor einem steht, auf, kommt es bei einem nächsten Treffen meist zu keiner Verwechslung mehr. Im Falle der Verwechslungen zwischen doxa und episteme, die Platon ein Anliegen sind, ist das anders. Hier muss die Einsicht in die Verwechslung in jedem neuen Kontext neu erzeugt werden. Die Unterscheidung zwischen doxa und episteme, die die Verwechslung aufzudecken und zu lösen hilft, ist also keine, die klassifikatorisch zur Verfügung steht und einfach angewandt wird zwecks Subsumtion, sondern eine, die in einer Situation als etwas erarbeitet wird, das klärt und die Verwechslungen auflösen kann. Ich nenne diese Art, Unterscheidungen zu erzeugen, im Unterschied zu klassifikatorischen Einteilungen, »Differenzierungen«. Es ist nun die Frage, welche Art von Verwechslung Wittgenstein hier meint, eine solche, die wie bei der Verwechslung von Personen mit einer Auflösung der Verwechslung verschwindet oder eine solche, die immer wieder geschieht? Was heißt es, eine Verwechslung als gefährlich zu charakterisieren? Wann ist etwas gefährlich? Platon würde die Verwechslung von dem, was man für Tugend hält und dem, was Tugend ist, auch als gefährlich einschätzen. Zu Beginn des Dialogs Menon zum Beispiel kann man sich fragen, was gefährlich daran ist, die Tugend der Frauen 220 https://doi.org/10.5771/9783495817360 .
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und die Tugend der Männer in einer bestimmten Kultur für das zu halten, was Tugend ist. Für Platon ist dies gefährlich, weil dadurch die Einsicht in die eigene Kontingenz und damit die Irrtumsmöglichkeit verschüttet wird. Es sind leicht Gesellschaftsformationen vorstellbar, in denen genau dies passiert und restriktive Tugendkonzeptionen für das ausgegeben werden, was für alle verbindlich sein muss. Mit Rückbezug auf solche Beispiele erscheint es plausibel zu sagen, dass solche Verwechslungen gefährlich sind. Meint Wittgenstein so etwas? Oder was könnte sonst noch an einer Verwechslung gefährlich sein? Bei einer Verwechslung übersehen wir eine Verschiedenheit, die als wichtig erachtet wird. Dies kann als Reduktion beschrieben werden, die es unmöglich macht, eine wichtige Verschiedenheit zu verstehen. Hier kann etwas verloren gehen, was Konsequenzen hat, die als gefährlich eingestuft werden. Worin liegen diese Konsequenzen? Wittgenstein beschreibt in dem zusammenhängenden Sinnabschnitt am Ende von Paragraph 140 166 des Braunen Buchs eine problematische Reduktion. Die Reduktion besteht darin, dass ein bestimmter Fall für den Urtypus von Wollen ausgegeben wird. Dabei wird mit einer Unterscheidung gearbeitet, nämlich der Unterscheidung zwischen dem Willensakt, heute oft »Volition« genannt, und der ausgeführten Handlung. Sein Beispiel ist das folgende: »Ich überlege mir, ob ich einen bestimmten, eher schweren Gegenstand heben soll; ich entschließe mich dazu, es zu tun; dann setze ich meine Kraft ein, und hebe ihn.« Dieser Verlauf ist sicher richtig für diese Art von Beispielen. Aber sie trifft nicht zu für Fälle, in denen keine isolierten Willensakte zu beobachten sind, sondern in denen »ich nichts anderes sagen kann, als dass mein Arm mit dem Gewicht sich gehoben hat«. Wenn man nun behauptet, die Fälle, in denen ein eigens wahrnehmbarer Willensakt vorkommt, seien die paradigmatischen Fälle und hier zeige sich die eigentliche Struktur des Wollens, dann nimmt man eine unzulässige Verallgemeinerung vor. Denn damit wird den Fällen, in denen man nicht zwischen einem Willensakt und der ausgeführten Handlung unterscheiden kann, eine Struktur unterlegt, die sie nicht haben. Außerdem wird einfach eine Gewichtung der Fälle vorgenommen, indem gesagt wird, die einen Fälle zeigten das Wesen des Wollens, die anderen verdeckten es eher. Diese Gewichtung führt dazu, dass die Fälle, in denen die Unterscheidung zwischen Willensakt 166 Das ist das letzte Stück des ersten Teils, mit dem der erste Teil dann auch abbricht, vgl. Wittgenstein, Braunes Buch, S. 233–237.
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und ausgeführter Handlung nicht zu treffen ist, als die unwichtigeren in den Hintergrund rücken und keiner weiteren Analyse unterzogen werden. Wittgenstein wendet sich genau diesen Fällen zu und hält sie für entscheidend, um uns als Wollende selber zu verstehen. Um dieser Reduktion entgegenzuwirken, ist es also erst einmal geboten, die Vielfalt der Fälle in eine Übersicht zu bringen und nicht anhand einer Gruppe von Fällen das Wesen des Wollens bestimmen zu wollen. (Hier greift das, was Wittgenstein an anderer Stelle eine »einseitige Diät mit nur einer Art von Beispielen« genannt hat. 167) Die spezifische Reduktion, die hier vorgenommen wird, indem die Vielfalt von Fällen reduziert wird, ist verbunden mit einer unzulässigen Verallgemeinerung einer Unterscheidung. Die Unterscheidung zwischen Willensakt und ausgeführter Handlung wird als allgemein gültige für das Wollen behauptet. Dieser Allgemeinheitsanspruch muss begrenzt werden, die Unterscheidung trifft nicht für alle Fälle des Wollens zu. Bei der Analyse der Fälle von Wollen, bei denen diese Unterscheidung so nicht getroffen werden kann, arbeitet Wittgenstein mit einer Stelle aus James’ Principles of Psychology (aus Kapitel 26 über den Willen), die Wittgenstein seit den frühen 30er Jahren intensiv studiert hat. 168 James beschreibt hier die Schwierigkeiten beim Aufstehen an einem eisigen Wintermorgen und den wohlbekannten Konflikt zwischen dem Vorsatz aufzustehen und dem angenehmen Gefühl der Wärme, das dazu führt, den Entschluss immer weiter hinauszuzögern. Er beobachtet, dass dabei der Entschluss hinausgeschoben wird und zwar immer gerade dann, wenn es so aussieht, als ob man so weit wäre, den Widerstand zu brechen und die entscheidende Handlung einzuleiten. Er fragt sich, wie es in einer solchen Situation überhaupt dazu kommen kann, aufzustehen und antwortet, dass sich die Handlung des Aufstehens in der Mehrzahl der Fälle ganz anders vollzieht, nämlich ohne Kampf und Entschluss, und dass sie oft als etwas erfahren wird, das einem geschieht: »We suddenly find that we have got up.« 169 Das 167 Wittgenstein, PU § 593: »Eine Hauptursache philosophischer Krankheiten – einseitige Diät: man nährt sein Denken mit nur einer Art von Beispielen.« 168 Vgl. Russell Goodman, der die kritischen und affirmativen Anschlüsse an William James sehr ausgewogen darstellt: Russell Goodman, Wittgenstein and William James, Cambridge, MA, 2002. 169 William James, The Principles of Psychology Bd. 2, New York 1950, S. 524.
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Aufstehen scheint nicht etwas, was durch einen Willensentschluss initiiert wird, sondern was sich so leicht vollzieht, dass es erlebt wird, als wäre es plötzlich geschehen. Man kann nicht mehr sagen als: »Ich bin aufgestanden.« James beobachtet, wie in einer Lücke, einer Ruhepause des Kampfes zwischen dem Vorsatz aufzustehen und dem behaglichem Wärmeempfinden ein den kommenden Tag betreffender Gedanke aufblitzt, der keine widerstreitende Vorstellung aufruft und deshalb unmittelbare motorische Wirkungen hat: Wir stehen auf. Um diesen Unterschied zu kennzeichnen, verwendet James die Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille und schreibt resümierend: »It was our acute consciousness of both the warmth and the cold during the period of struggle, which paralyzed our activity then and kept our idea of rising in the condition of wish and not of will.« 170 Diese Bemerkung macht deutlich, dass James in seiner Reflexion auf das morgendliche Aufstehen den Unterschied zwischen aufzustehen wünschen und aufstehen wollen illustriert. James gibt der Beschäftigung mit diesem Fall großes Gewicht, denn er meint, dass hier im Kleinen alle wesentlichen Daten für die ganze Psychologie des Willens enthalten seien. Er eröffnet das Kapitel über den Willen in den Principles of Psychology mit der Unterscheidung zwischen Wunsch (wish) und Willen (will) und wählt den Weg einer differentiellen Bestimmung, da eine Definition der Zustände des Geistes wie Wünschen und Wollen, die jedem von uns bekannt seien, diese nicht deutlicher machen würde. 171 Wir wünschen etwas dann, wenn mit unserem Verlangen (desire), etwas zu fühlen, zu haben oder zu tun ein Gefühl einhergeht, dass das Verlangte nicht erreicht werden kann. Wenn wir dagegen glauben, dass das Ziel in unserer Macht steht, wollen wir es. Wollen heißt also, die Realität des verlangten Fühlens, Habens oder Tuns herbeizuführen. Dies geschieht entweder unmittelbar oder nachdem bestimmte Vorbereitungen getroffen wurden. Für beide Arten des Wollens sind die Bewegungen des eigenen Körpers (body) von besonderer Bedeutung. Unmittelbar wirklich wird das Wollen dann, wenn das verlangte Tun in der Bewegung unseres Ebd., S. 524–525. »Desire, wish, will, are states of mind which everyone knows, and which no definition can make plainer. […] If with desire there goes a sense that attainment is not possible, we simply wish; but if we believe that the end is in our power, we will that the desired feeling, having, or doing shall be real; and real it presently becomes, either immediately upon the willing or after certain preliminaries have been fulfilled.« (Ebd., S. 486). 170 171
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eigenen Körpers besteht. Verlangtes Fühlen und Haben dagegen ist Resultat von vorbereitenden Bewegungen unseres Körpers. Daran schließt James die Behauptung an, dass die einzige direkte Außenwirkung des Willens in körperlichen Bewegungen besteht, die als willentliche Bewegungen (voluntary movements) zu verstehen sind. Was kennzeichnet nun diese willentlichen Bewegungen? Willentliche Bewegungen sind sekundäre und nicht primäre Funktionen des Organismus. Primäre Funktionen sind Reflexe, instinktive und emotionale Bewegungen. Willentliche Bewegungen setzen ein Gedächtnis dieser primären Funktionen des Körpers voraus. Unter den sinnlichen Eindrücken im Gedächtnis von durch andere erfahrene oder selbst vollzogene Bewegungen hebt James die kinästhetischen Eindrücke besonders hervor, die in der physiologischen Forschung seiner Zeit einen neuen und viel diskutierten Forschungsgegenstand bildeten. 172 Zu den kinästhetischen Eindrücken gehören nicht nur unsere Muskeln, die mit afferenten und efferenten Nerven 173 ausgestattet sind, sondern auch die Sehnen, die Bänder, die Gelenkflächen und die Haut über den Gelenken sind alle sensitiv. Werden diese in verschiedenen Bewegungen gedehnt oder gedrückt, entstehen so viele verschiedene Empfindungen wie es mögliche Bewegungen gibt. Diese unserem Körper zugehörigen kinästhetischen Eindrücke ermöglichen das Bewusstsein von passiven Bewegungen, das sind Bewegungen von anderen, mit denen wir in Verbindung stehen. Einer willentlichen Bewegung muss eine Vorstellung (idea) der Bewegung vorausgehen. Diese Vorstellung ist als Antizipation der sinnlichen Wirkungen (sensible effect) zu beschreiben. Ist nun diese bloße Vorstellung ausreichend als der willentlichen Bewegung unmittelbar vorausgehend oder ist ein zusätzlicher mentaler Akt nötig in Gestalt eines »fiat« (»es geschehe«), einer Entscheidung oder eines ähnlichen Bewusstseinsphänomens? James untersucht eine besonders elementare Art des Handelns, die er »ideo-motor action« nennt, bei der die Vorstellung der sinnlichen Wirkungen (sensible effects) der körperlichen Bewegung die Bewegung unmittelbar auslöst. Dies soll als Typus für den Prozess des Wollens gelten. Die mentale Einstellung des Wollens und ideoJames bezieht sich auf Henry Charlton Bastian, vgl. ebd., S. 488. Afferente Nervenbahnen sind solche, die von der Peripherie zum Zentralnervensystem laufen und efferente solche, die umgekehrt vom Zentralnervensystem zur Peripherie führen. 172 173
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motorische Handlungen sind unmittelbar miteinander verbunden, gehören zusammen und machen den Willen aus. Ideomotorische Handlungen sind eigene Bewegungen, die willkürlich und zum Teil auch unwillkürlich ausgeführt werden können. Ein weiterer mentaler Akt bei willentlichen Bewegungen ist dann nötig, wenn wir es mit Situationen zu tun haben, bei denen verschiedene Vorstellungen miteinander konkurrieren. Dies setzt einen Prozess der Überlegung (deliberation) in Gang, der durch eine Entscheidung bzw. die Äußerung eines willentlichen »fiat« beendet wird. Je nachdem, um welche Art der Überlegung es sich handelt, fungieren Vorstellungen als Gründe oder Motive der Entscheidung. Das charakteristische Phänomen des Wollens ist die Vorherrschaft einer der miteinander konkurrierenden Vorstellungen, die durch eine Anstrengung der Aufmerksamkeit (effort of attention) errungen und erhalten wird. Die Ausführung des Gewollten durch körperliche Bewegungen ist nach James, das mag zunächst überraschen, ein physiologisches Phänomen, das physiologischen Gesetzen folgt. Ein Patient mit Aphasie z. B. will sprechen und öffnet den Mund, hört sich selbst aber nur nichtintendierte Laute machen. Dies mag ihn mit Wut oder Verzweiflung erfüllen, Gefühle, die den Willen des Patienten zeigen. Zentral für den willentlichen Prozess ist die Art der angestrengten Aufmerksamkeit, die gegen Widerstände erhalten werden kann. Dies ist für James ein Phänomen des Geistes und nur des Geistes, dem die physiologische Bewegung äußerlich gegenübersteht. Die altbekannte Trennung der Bereiche des Geistigen und des Körperlichen hält Einzug in die James’sche Analyse und kulminiert in der Bemerkung, dass die mysteriöse Verbindung zwischen Denken und den motorischen Zentren ins Spiel komme. 174 Wohin sind wir mit James geraten? Sollte nicht der Fall, in dem die Antizipation der sinnlichen Vorstellungen die willentliche Handlung unmittelbar zur Folge hat, als Typus für willentliche Handlungen dienen? Was an der Analyse der Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille hat dazu geführt, dass die Kluft zwischen Geistigem und Materiellem in aller Schärfe neu aufgerissen ist? Die unmittelbare Realisierung des Willens versucht James mit Rückgriff auf physiologische Einsichten seiner Zeit dort nachzuweisen, wo der
174 James, ebd., S. 564: »For the mysterious tie between the thought and the motor centres next comes into play, and, in a way which we cannot even guess at, the obedience of the bodily organs follow as a matter of course.«
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Gegenstand des Willens körpereigene Bewegungen sind. Der Wille realisiert sich dort unmittelbar als ideomotorisches Tun. Bei der mittelbaren Realisierung des Willens, für die die überlegende Abwägung von konfligierenden Vorstellungen charakteristisch ist, zeigt sich dagegen, dass das essentielle Phänomen des Willens ein rein geistiges ist, nämlich der »effort of attention«. Für Wittgenstein sind beide Analysen unzureichend. In der ersten Variante ist die Beziehung zwischen Wille und Handlung empirisch. Wittgenstein kritisiert vor allem im Braunen Buch aber auch an anderen Stellen James’ empirische Behauptungen, dass willentliche Bewegungen durch Erinnerungsbilder kinästhetischer Empfindungen verursacht werden und dass die kinästhetischen Empfindungen über die Lage der Körperteile und deren Bewegung »belehrten«. 175 In der zweiten Variante erweist sich die Verbindung zwischen Wille und Handlung als rätselhaft. James spricht gewissermaßen in den traditionellen Bahnen des Leib-Seele Problems von der mysteriösen Verbindung zwischen Denken und den motorischen Zentren. 176 Um diese beiden Schwierigkeiten zu vermeiden, ist das Verhältnis zwischen Wille und Handlung anders zu bestimmen. Wittgenstein betont, dass Wollen und Wünschen »völlig verschieden sind«: Was ist, wenn man eine Handlung will, der Gegenstand des Wollens: der Gegenstand, den man ins Auge faßt, oder die Zusammenziehung eines Muskels? Wir müssen hier darauf achten, daß Wollen und Wünschen völlig verschieden sind. Wenn ich sage, ich habe es gewollt, meinen Arm zu heben, meine ich nicht, ich hätte es nur sehr heftig gewünscht, und dann sei der Arm in die Höhe gegangen. Das Wollen ist nicht etwas, was mir geschieht, sondern etwas, was ich tue. Das Wort ›wünschen‹ hat einen sehr viel umfassenderen Gebrauch als ›wollen‹. Das Wort ›wollen‹ wird im Zusammenhang mit Phänomenen verwendet, die mit unseren Körpern verbunden sind. Das Denken ist – im Gegensatz zum Wollen – etwas, was einem geschieht, nicht etwas, was man tut. 177
Wichtig ist hier, genau zu lesen. Wittgenstein schreibt: »was mit unseren Körpern verbunden ist«. Gegenstand des Wollens scheint nicht notwendigerweise die Zusammenziehung des Muskels zu sein, aber etwas, was mit unseren Körpern zu tun hat. Wollen ist nicht zutref175 176 177
Vgl. Hyman, »Action and the Will«, a. a. O., S. 455–456. James, Principles of Psychology, a. a. O., S. 564. Wittgenstein, Gelbes Buch, S. 216.
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Wittgenstein: Über die Gefahr, Wunsch und Wille zu verwechseln
fend analysiert als heftiger Wunsch, der eine kausale Wirkung entfaltet, zum Beispiel die, dass der Arm in die Höhe geht. Das In-dieHöhe-Gehen des Arms ist ein Ereignis in der Welt, ein körperlicher Prozess. Und Wollen ist keine Verknüpfung von heftigem Wünschen und einem körperlichen Ereignis in der Welt. 178 Vollziehen wir das in der zitierten Passage angedeutete Experiment nach und wünschen heftig, dass unser Arm in die Höhe geht, dann finde ich in meinem Nachvollzug, dass der Arm entweder liegenbleibt oder es eines gesonderten Aktes bedarf, den Arm in die Höhe zu bewegen. Phänomene geistiger Anstrengung, wie das heftige Wünschen zum Beispiel, sind also in dem Sinne, den Wittgenstein hier meint, nicht mit unseren Körpern verbunden. Wenn wir dagegen wollen, dass unser Arm in die Höhe geht, so wäre das Experiment Wittgensteins zu ergänzen, dann geht – wieder in meinem Nachvollzug – mein Arm in die Höhe, indem ich es will. Der Wille ist die Bewegung. Ich kann nicht wollen, dass der entfernt stehende Tisch über den Boden auf mich zurutscht, weil ich nichts wollen kann, was nicht mit meinen Bewegungen verbunden ist. (Das Beispiel mit dem auf mich zu rutschenden Tisch stammt von James, der es in den Principles of Psychology als Beispiel für einen Willensakt anführt. 179) Dies zeigt noch einmal mehr, dass James die Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille unscharf entwickelt und in der Konsequenz eigentlich gar nicht getroffen hat. Geht diese Abgrenzung verloren, kann nach Wittgenstein aber auch kein tragfähiger Begriff des Willens entwickelt werden. »Wollen hat mit unseren Körpern zu tun.« Was Wittgenstein hier andeutet, kann klarer und schärfer als leibliche Praxis bestimmt werden. 180 Der in der Tradition nur postulierte oder definitorisch ge-
178 Nach Andrej Ule ist die Pointe von Wittgensteins Analyse die folgende: Der Wille wird als der Handlung selbst inhärent aufgefasst und nicht als eigenes, der Handlung vorangehendes und sie verursachendes geistiges Phänomen. Der Wunsch geht dagegen der Handlung zeitlich voran und ist von ihr logisch unabhängig. Die Verbindung zwischen Wunsch und Handlung ist möglich, aber nicht notwendig. Wünsche sind empirische Phänomene und damit Gegenstand der psychologischen Auseinandersetzung. Vgl. Andrej Ule, »Wittgenstein über Wille und Wunsch in den Handlungen«, in: J. Juhant/B. Žalec (Hg.), Person and Good: Man and his Ethics in the Postmodern World, Münster 2006, S. 215–227. 179 James, Principles of Psychology, a. a. O., S. 561. 180 Ich schließe damit an die leibphilosophische Lesart von Wittgensteins Philosophie der Psychologie an, wie sie zum Beispiel Schneider vorschlägt. Vgl. Schneider, »Die Leibbezogenheit des Sprechens«, a. a. O.
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setzte Handlungsbezug oder die Handlungswirksamkeit des Willens muss leibphilosophisch 181 fundiert werden. 182 Mit der Betonung der völligen Verschiedenheit von Wünschen und Wollen bezieht Wittgenstein Position gegen den Vorschlag, die Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille fallen zu lassen und Grade von Wunschintensitäten an deren Stelle zu setzen. Damit würden die Handlungen der wünschenden Bezugnahme und das Ereignis in der Welt in völlig unverständlicher Weise miteinander verknüpft. (Ich hätte es nur sehr heftig gewünscht, und dann sei der Arm in die Höhe gegangen.) Dieses prinzipielle Problem stellt sich auch, wenn man wie Harry Frankfurt handlungseffektive Wünsche als Wollen bezeichnet und Wollen damit als eine Spezialisierung des allgemeinen Begriffs »Wunsch« konzeptualisiert. 183 Die völlige Verschiedenheit kann auch nicht allein durch die beiden tradierten Unterscheidungskriterien geleistet werden, nämlich Realisierbarkeit des Gegenstandes und Mitteleinsatz. Denn beiden kann, wie gezeigt, auch in einem Theorieansatz wie dem von James Rechnung getragen werden, in dem, so muss man von der Wittgenstein’schen Analyse her wohl sagen, die Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille kollabiert. Vielmehr ist Wollen Tun und Wünschen nicht Tun, und »Tun« meint den leiblichen Vollzug des gewollten Vorgangs. Dies ist der Kontext, in dem vor einer Verwechslung gewarnt wird, nämlich die Auseinandersetzung mit James. Wittgenstein beschäftigte sich wahrscheinlich im Jahre 1930 mit James’ Principles of Psychology 184 und es ist an vielen Stellen deutlich, dass Wittgenstein 181 Obwohl Wittgenstein den Ausdruck »Leib« aus der Philosophie Schopenhauers nicht aufnimmt, wird durch seine Kritik an James deutlich, dass er mit dem Ausdruck »Körper« nicht nur eine materielle Entität meint, die naturwissenschaftlich zu beschreiben ist. Der Körper interessiert ihn als Ausdruck des Willens und diese Perspektive könnte man genauso gut »leibphilosophisch« wie »körperphilosophisch« nennen, wenn man »Leibphilosophie« nicht nur auf bewusste leibliche Empfindungen einschränkt. 182 Im sogenannten »Enaction«-Ansatz wird die Auffassung vertreten, dass die explanatorische Lücke (explanatory gap) zwischen Körper und Geist in Philosophie und Neurowissenschaften nur durch den Anschluss an den phänomenologischen Leibbegriff geschlossen werden könnte. Vgl. Evan Thompson, Mind in Life. Biology, Phenomenology and the Sciences of Mind, Cambridge/London 2007. 183 Vgl. Harry Frankfurt, »Freedom of the Will and the Concept of the Person«, in: Journal of Philosophy 68 (1971) 1, S. 5–20. 184 Zu der kritischen Auseinandersetzung Wittgensteins mit James’ Principles of Psychology vgl. Peter Hacker, Wittgenstein. Mind and Will, Oxford 1996, S. 374 f., sowie
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Wittgenstein: Über die Gefahr, Wunsch und Wille zu verwechseln
sich teils kritisch, teils affirmativ mit James’ Theorie des Willens auseinandergesetzt hat. 185 Vielfach konkretisiert Wittgenstein Überlegungen, die er in seinen frühen Tagebucheinträgen schon zu der Unterscheidung zwischen Wollen und Wünschen notiert hatte. Ich denke, dass Wittgenstein der Behauptung zustimmen würde, dass ideomotorische Handlungen eine grundlegende Rolle für das Wollen spielen. Und er würde zustimmen, dass sich daran die Impulsivität des Bewusstseins zeigt. Das bedeutet, dass wir nicht zuerst eine Empfindung oder einen Gedanken haben und dann etwas Dynamisches hinzufügen müssen. Vielmehr initiiert jeder Bewusstseinszustand eine Bewegung, wobei Gesten, Stirnrunzeln und Atemzüge genauso Bewegungen sind wie körperliche Ortsveränderungen. Die große Differenz zu James taucht da auf, wo zu explizieren ist, was Impulsivität bedeutet. Steht Impulsivität dafür, dass es, wie James schreibt, zu jedem Gefühl oder Gedanken das Korrelat einer neuronalen Aktivität gibt? Die ideomotorischen Handlungen, in denen sich die Impulsivität des Bewusstseins besonders deutlich zeigt, nimmt Wittgenstein wie James als Ausgangspunkt der Überlegungen. Wir können uns nur als Handelnde verstehen, wenn wir diesen unmittelbaren Zusammenhang annehmen. Dieser ist uns so nah, so selbstverständlich. Sobald wir anfangen, ihn zu beobachten, entstehen Merkwürdigkeiten und es legt sich das Modell einer Zweiteilung nahe, einer Zweiteilung in einen psychischen und einen physiologischen Prozess. Diese ist der Grund der Verwechslung von Wunsch und Wille, denn das, was als geistiger Akt von der ausgeführten Handlung zu trennen ist, ist als Wunsch zu charakterisieren. Im Braunen Buch heißt es: »Denn wenn ich meinen Arm hebe, so ist es nicht so, dass ich zuerst wünsche, er möchte sich heben, und nun tut er es tatsächlich.« Wünschen und Wollen sind nicht wie bei James unterschieden durch eine QualitätsGoodman, Wittgenstein and William James, a. a. O. und Hyman, »Action and the Will«, a. a. O. 185 Wittgenstein schreibt z. B. explizit in Bezug auf die oben diskutierte Passage aus den Principles of Psychology: »Diese Abwesenheit des Willensaktes – wie ich einmal sagen will – ist William James aufgefallen und er beschreibt zum Beispiel den Akt des Aufstehens am Morgen so: er liege im Bett und überlege, ob es schon Zeit sei aufzustehen, – und auf einmal finde er, dass er aufsteht. […] Was heißt es denn aber, wenn ich sage: ›Wenn ich aufstehe, geschieht nur das.‹ Im Gegensatz wozu? Was ist es denn, was nicht geschieht? […] Es ist das Gefühl der Muskelanstrengung, dessen Abwesenheit wir ›Abwesenheit des Willensaktes‹ nannten.« (Wittgenstein, Braunes Buch, S. 234).
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differenz der jeweiligen Vorstellungen, seien sie miteinander konfligierend oder gefestigt. Denn wie können wir feststellen und sicher gehen, dass wir gefestigte Vorstellungen nicht nur für solche halten und bestehende konfligierende Vorstellungen einfach unterdrücken, verdrängen – die psychischen Mechanismen dafür sind bekannt. Das Unterscheidungskriterium, mit dem James die alltagssprachliche Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille unterlegt, trägt nicht. Wunsch und Wille werden in seiner Analyse ununterscheidbar. Die große Herausforderung, vor die uns die Analyse des Wollens stellt, ist die, dass das Wollen gerade den Bogen zur ausgeführten Handlung erhalten muss und nicht kappt. Die ausgeführte Handlung darf nicht als von dem geistigen Akt unabhängiges Geschehen verstanden werden. Das Moment von Aktivität unserer ausgeführten Handlungen darf nicht verloren gehen. Wir würden unsere praktischen Interaktionen nicht mehr verstehen. Und nur unser Handeln klärt uns darüber auf, was wir bloß gewünscht und was wir wirklich gewollt haben. Wünsche sind also dadurch charakterisiert, dass sie im Bereich der Vorstellungen bleiben. Diese haben natürlich auch einen Ausdruck auf sensorischer und motorischer Ebene. Die Impulsivität des Bewusstseins gilt für alle Bewusstseinsakte. Es wird aber nicht der Überschritt zum Vollzug dessen gemacht, worauf sich die Vorstellung richtet. Warum dies nicht geschieht, sei es aufgrund von konfligierenden Vorstellungen oder wegen mangelnder Handlungsmacht, betrachtet Wittgenstein nicht weiter. Wichtig ist allein, dass der Wunsch vor dem Tun des Gewünschten endet. Der Wille dagegen geht über ins Tun und ist das, was das Tun zu unserem macht. Es ist unter vielen Interpreten von Wittgenstein üblich, Wittgenstein vor allem als Kritiker von James zu verstehen. Peter Hacker und Hans-Johann Glock interpretieren Wittgensteins Bemerkungen in dieser Weise. Russell Goodman versucht in seiner Studie über Wittgenstein und James die vielen Anschlüsse an James zu zeigen, dessen Principles of Psycholgy Wittgenstein vielfach intensiv und weitgehend auch affirmativ gelesen hat. Dies scheint mir eine sehr wichtige Korrektur der üblichen Sicht zu sein. Im Falle der Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille lässt sich Wittgensteins Kritik an James fast als pragmatistisch verstehen. James scheint die pragmatische Maxime, die auch für die Analyse des Wollens Geltung hat, zugunsten eines wissenschaftlichen Empirismus zu verletzen. Wittgensteins Insistieren, dass der Ort des Wollens das Tun selber ist, dass der Wille sich im Unterschied zum Wunsch auf das Muskelgefühl 230 https://doi.org/10.5771/9783495817360 .
Wittgenstein: Über die Gefahr, Wunsch und Wille zu verwechseln
bezieht, scheint mir wie eine Orientierung an der pragmatischen Maxime zu sein, wie James sie in What pragmatism means vierzehn bzw. siebzehn Jahre nach den Principles of Psychology 1890 mit Rückgriff auf Peirce formuliert hat: To attain perfect clearness in our thoughts of an object, then, we need only consider what conceivable effects of a practical kind the object may involve – what sensations we are to expect from it, and what reactions we must prepare. Our conceptions of these effects, whether immediate or remote, is then for us the whole of our conception of the object, so far as that conception has positive significance at all. 186
Wenn Wittgenstein das Wollen im Tun verortet und immer wieder auf das beteiligte Muskelgefühl hinweist, dann behauptet er, dass der Begriff des Willens nur dann eine positive Bedeutung hat, wenn er mit seinen praktischen Wirkungen identifiziert wird. James ist weit davon entfernt, einen pragmatischen Willensbegriff zu entwerfen, wenn er im Kapitel 26 der Principles of Psychology schreibt, dass das Wollen sein Ende mit dem Sieg der Vorstellung finde, und ob die Handlung dann wirklich erfolge oder nicht, sei eine Nebensache. Die gefährliche Konsequenz, die Wittgenstein bei der Verwechslung von Wunsch und Wille sieht, ist die, dass wir unsere alltägliche Praxis als Handelnde nicht mehr verstehen, wenn das Wollen in eine Psychologie und eine angehängte Physiologie zerfällt. Der Primat des Geistigen und eine mechanisierte Physiologie berauben uns der Möglichkeit, unser Tun wie das anderer als Ausdruck des Wollens zu verstehen und unsere Vorstellungen und Wünsche von uns und anderen dadurch korrigieren zu lassen. Wie ist nun die Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille so zu verstehen und zu treffen, dass beiden Ergebnissen, nämlich der Verwechslungsgefahr wie der völligen Verschiedenheit, Rechnung getragen wird? Die Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille ist asymmetrisch, so wie die Unterscheidung zwischen sinnvollen und unsinnigen Sätzen. Der Wille ist der Ursprungsort der Unterscheidung, die Unterscheidung selbst. Als solcher ist er Aktivität und kann nicht vergegenständlicht werden. Darin liegt seine Negativität. Er steht für das Ganze der Unterscheidung und verweist auf sich selbst,
186 William James, Pragmatism: A New Name for Some Old Ways of Thinking (1907), 2. Aufl., New York 1995, S. 29.
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auf nichts dahinter. Der Ausdruck des Willens im Tun und seine Erscheinungsweisen, die mit dem Körper verbunden sind, sind unterscheidbar von anderem, wie zum Beispiel vom Wunsch. Wollen als immer auch körperliches Tun kann als eine Seite einer Unterscheidung gelten, deren andere Seite der Wunsch ist. Und als Seite einer Unterscheidung, als erscheinender Wille, ist der Wille leicht zu verwechseln mit dem Wunsch. Wittgenstein ist nicht daran interessiert, Varianten des Wünschens zu differenzieren. Er ringt vielmehr mit dem Gedanken des Zusammenhangs von zwei Gestalten des Willens, nämlich dem Willen, der eine absolute Grenze oder besser eine Grenzziehung darstellt, die wir nur vollziehen können und immer schon vollziehen einerseits, und dem sich ausdrückenden Willen andererseits. Diese beiden Gestalten machen einen gedanklichen Zusammenhang aus und sind nicht wie zwei Arten des Willens zu verhandeln. In den frühen Bemerkungen zu Wunsch und Wille, die vor allem eine Auseinandersetzung mit Schopenhauer sind, eruiert Wittgenstein diese Unterscheidungsfigur. In den mittleren Bemerkungen im Braunen und Gelben Buch verschiebt sich durch die Beschäftigung mit James’ Principles of Psychology die Fragestellung darauf, welche Beschreibungen des Willens dessen Ausdruckscharakter verdecken und welche vielleicht nicht. In den Paragraphen 611–632 der Philosophischen Untersuchungen nimmt Wittgenstein die Überlegungen zum Wollen und zur Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille wieder auf. Es gibt deutliche Anschlüsse an eigene frühere Bemerkungen und Motive. In dieser wiederholten Beschäftigung nimmt Wittgenstein Verschiebungen vor. Diese sind einerseits methodischer Art. Er wird vorsichtiger, befragt den flexiblen und sich jeder Eindeutigkeit entziehenden Sprachgebrauch und stellt sich Situationen vor, wie zum Beispiel die Armbewegung. Ihn interessiert, wie sich diese merkwürdige Asymmetrie der Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille und wie sich die doppelte Gestalt des Willens als Grund und als Erscheinung in unseren Erfahrungen zeigt. Und andererseits verschiebt sich das Interesse hin auf das Zusammenspiel zwischen dem »geistigen« Aspekt und dem Bewegungsaspekt im Handeln. Die einfache Identifikation von Wollen und Tun aus den frühen Tagebüchern wird korrigiert um eine differenziertere Betrachtung des Handelns selbst.
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Wittgenstein: Über die Gefahr, Wunsch und Wille zu verwechseln
2.3.3 Der umgreifende Charakter des Handelns Wittgenstein hat einen Denk- und Schreibstil systematischer Wiederholungen. Themen und Motive kommen wieder, werden neu erwogen und frühere Gedankengänge werden wieder aufgerollt. Ihm fehlt das Gefühl, mit etwas fertig zu sein und er kultiviert dieses geradezu. In diesen Redundanzen vollziehen sich aber Verschiebungen. Ich will die Redundanzen und das erneute Aufrollen des Problemzusammenhangs nicht präsentieren, auch wenn die methodischen Veränderungen und inhaltlichen Varianten an sich selbst von Interesse sind. Vielmehr konzentriere ich mich auf die Verschiebung, die Wittgenstein an seinem eigenen Nachdenken über das Wollen vornimmt und betrachte dafür vier aufeinanderfolgende Paragraphen. § 614: Wenn ich meinen Arm ›willkürlich‹ bewege, so bediene ich mich nicht eines Mittels, die Bewegung herbeizuführen. Auch mein Wunsch ist nicht ein solches Mittel.
Der Ausdruck »willkürlich« betont den Aspekt an unseren Bewegungen, der sie von dem unterscheidet, was uns »geschieht«, wie es in Paragraph 612 heißt. Das, was uns geschieht, wie zum Beispiel, dass das heftige Klopfen unseres Herzens sich legt, geschieht ohne unsere Absicht, wir warten gewissermaßen darauf. Willkürliche Bewegungen wie das Bewegen unseres Arms sind primitiv, sie setzen sich nicht zusammen aus zwei Komponenten, sei es kausal der Bewegungsursache und der Bewegungswirkung, und auch nicht final, des Bewegungszwecks und des Bewegungsmittels. Mittel und Zwecke, Ursachen und Wirkungen sind vielmehr erst an Handlungen unterscheidbar. § 615: »Das Wollen, wenn es nicht eine Art Wünschen sein soll, muss das Handeln selber sein. Es darf nicht vor dem Handeln stehenbleiben.« Ist es das Handeln, so ist es dies im gewöhnlichen Sinne des Worts; also: sprechen, schreiben, gehen, etwas heben, sich etwas vorstellen. Aber auch: trachten, versuchen, sich bemühen, – zu sprechen, zu schreiben, etwas zu heben, sich etwas vorzustellen, etc.
Es ist wichtig zu sehen, dass der erste Satz in Anführungszeichen steht, es ist ein Zitat oder der Beitrag eines möglichen Gesprächspartners. Wittgenstein zitiert sich hier selbst und nimmt Bezug auf Überlegungen, die er in seinen frühen Tagebüchern notiert hat (z. B. 233 https://doi.org/10.5771/9783495817360 .
2 · Analysen: Vom Wollen als mentale Anstrengung zur Muskelempfindung
4. 11. 1916). Er scheint diese Aussage jetzt zu prüfen und zu kommentieren. Worin besteht diese Kommentierung oder Prüfung, die er in den beiden weiteren Sätzen und vielleicht auch in dem anschließenden Paragraphen 616 vornimmt? Zuerst erinnert Wittgenstein an die Breite dessen, was unter Handeln zu verstehen ist, also eben nicht nur Bewegungen des Sessels oder des Arms, sondern auch sprechen oder sich etwas vorstellen. Gerade dies Letztere ist kein mentales Phänomen, das dem Handeln gegenüberzustellen wäre; sich etwas vorzustellen ist selbst eine Handlung. Das, was oft als geistige Aktivität aufgefasst wird, liegt nicht vor dem Handeln oder ist eine Komponente des Handelns, sondern ist selber eine Handlung. Als Handlung muss also auch gelten, was sich auf die Zukunft bezieht, wie Bemühungen, zu sprechen oder Versuche, etwas zu heben. In diese Reihe ließe sich auch das Wünschen einreihen. Etwas Wünschen stellt wie etwas Versuchen oder Sich-Bemühen eine Weise von Handeln dar. Diese Art des Handelns ist dadurch gekennzeichnet, dass man sich nicht sicher ist, ob der Wunsch erfüllt wird oder ob einem das, was man sich wünscht, gelingt, weil es zum Beispiel besonderer Konzentration oder eines glücklichen Umstandes bedarf (vgl. § 616). Handlungen können mit Hilfe verschiedener Unterscheidungen betrachtet werden. Eine wichtige Unterscheidung ist die zwischen inneren Zuständen und Umsetzungen in äußerlich sichtbare Bewegungen. Für viele Formen des Handelns mag es sinnvoll sein, diese Unterscheidung zur Beschreibung der Handlungen zu verwenden. Für andere Handlungen, wie das Heben des Arms, läuft die Unterscheidung ins Leere. Das scheint mir die Pointe des bekannten Paragraphen 621 zu sein: § 621: Aber vergessen wir eines nicht: wenn ›ich meinen Arm hebe‹, hebt sich mein Arm. Und das Problem entsteht: was ist das, was übrigbleibt, wenn ich von der Tatsache, dass ich meinen Arm hebe, die abziehe, dass mein Arm sich hebt? ((Sind nun die kinaesthetischen Empfindungen mein Wollen?))
Im Falle der Bewegung, den Arm zu heben, greift die Unterscheidung zwischen einem inneren Zustand und der äußeren Bewegung nicht. Dies zeigt, dass die Unterscheidung zwischen Innen und Außen 187 187 Schneider zeigt, dass Wittgenstein nicht für die Elimination von inneren Zuständen und unserem Sprechen darüber argumentiert. Einerseits mache Wittgenstein deutlich, dass unsere Sprachgewohnheiten in Bezug auf »Wünschen«, »Erwarten«,
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Wittgenstein: Über die Gefahr, Wunsch und Wille zu verwechseln
eine funktionale Unterscheidung ist, die im vorauszusetzenden Kontext des Handelns wichtige Funktionen erfüllen kann. Es ist keine ontologische Unterscheidung im Sinne von verschiedenen Seinsbereichen, die kausal oder anders miteinander interagieren. Dies hat Konsequenzen für die Muskelempfindung oder die kinästhetische Empfindung, die in den früheren Überlegungen im Anschluss an Schopenhauer unmittelbarer Ausdruck des Wollens zu sein schienen. Ausgangspunkt ist vielmehr das willentliche Handeln, an dem kinästhetische Empfindungen von anderen Aspekten unterschieden werden können. Unseren Körpern und unseren Empfindungen kommt beim Handeln sicher eine besondere Bedeutung zu. Aber dies erlaubt es nicht, das Wollen mit bestimmten körperlichen Erscheinungen direkt zu identifizieren. Ich will abschließend den Versuch machen, diese Überlegungen zur Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille auf die dritte Beschreibung im ersten Kapitel zu beziehen. Für die Überlegungen Wittgensteins zu der Unterscheidung spielt der Körper bzw. der Leib als eine für das Handeln irreduzible Dimension eine große Rolle. Deshalb liegt es nahe, mit den hier gewonnenen analytischen Mitteln auf diese Beschreibung zurückzuschauen. Dort sind Zweifel angemeldet worden, ob Meinungsumfragen über Organtransplantation den Willen der Menschen abfragen, oder nicht vielmehr ihre Wünsche, die nicht auf ihr zukünftiges Tun schließen lassen. Und es sind Unsicherheiten aufgekommen über das Instrument der Patientenverfügung. Da man die eigene zukünftige leibliche Realität, das Lust- und Unlustempfinden und das Lebensgefühl nicht antizipieren kann und durch rationale Abwägungen über lebenswerte und nicht mehr lebenswerte Bedingungen geradezu verdrängt, artikulieren Patientenverfügungen Wünsche, keinen Willen. Welches Gewicht ist ihnen dann für Entscheidungssituationen über Leben und Tod zuzumessen? Die Frage wiegt schwer und philosophische Überlegungen über Wünsche, Wollen und Handeln können sicher nicht dazu verwendet wer-
»Erinnern«, »Meinen« ihren Sinn durch einen größeren Kontext von sprachlichen und nicht-sprachlichen Handlungen von mehreren Personen erhalten. Andererseits ist dadurch unser Sprechen über innere Zustände aber nicht sinnlos und im Stile eines behavioristischen Programms zu eliminieren. Vgl. Hans-Julius Schneider, »›Den Zustand meiner Seele beschreiben‹ – Bericht oder Diskurs?«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 44 (1996) 1, S. 117–133.
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den, um ein einfaches Urteil über institutionelle Maßnahmen daraus abzuleiten oder über Fälle zu entscheiden. Auf den ersten Blick wirkt es so, als folge aus den Überlegungen von Wittgenstein (im Anschluss an Schopenhauer) eine eindeutige Antwort auf die Frage, die die Geschichte von dem alten Mann aufwirft, bei dem die früheren Wünsche einerseits und die Ausdrucksqualitäten der Gegenwart andererseits nicht zusammen zu passen scheinen. Es liegt nahe, zu sagen: Um den Willen des alten Mannes zu ermitteln, müssen wir auf die leiblichen Ausdrucksqualitäten in der gegenwärtigen Lebenssituation sehen. Der alte Mann führt eine Beziehung mit einer Frau, die er zu genießen scheint und worin sich sein Lebenswille ausdrückt. Der früher festgehaltene Wunsch, im Falle einer Krankheit im Alter keine lebensverlängernden Maßnahmen einzusetzen, ist für die aktuelle Situation irrelevant. Wie aber erkennen wir diesen Ausdruck? Dass der Wille sich unmittelbar ausdrückt, davon gehen wir aus, darauf beruht unsere Praxis als Handelnde. Aber wie er erscheint, wie wir ihn von anderen Erscheinungen unterscheiden können, das ist eine andere Frage. Diese Frage ist sehr wichtig und mit dem Gedanken, dass der Wille sich unmittelbar ausdrückt, ist es nicht getan. Der Ausdruck oder die Erscheinungsweise des Willens hat mit unseren Körpern zu tun. Wenn wir vom Willen reden, müssen wir also immer auch von unseren Körpern reden. Das ist eine Art notwendige Bedingung. Damit ist aber keine prinzipielle Opposition gegen Geistiges gemeint. Ausgeschlossen ist die Reduktion des Willens auf Geistiges, auf mentale Anstrengung abgehoben vom körperlichen Ausdruck. Bei der Frage, wie sich denn der Wille zeige, geraten wir in eine schwierige Situation. Wir können keine Indizien sammeln, die auf etwas schließen lassen, was sich wie im Falle der Spurensuche von Tätern als richtig oder falsch erwiese. In einem bestimmten Sinne sind wir bei dieser Frage außerhalb des Raumes von wahr und falsch, aber dennoch nicht in einem Raum totaler Willkür. Die Überlegungen über unsinnige Sätze sind hier immer noch wichtig. Unsinnige Sätze haben eine Negativität, Selbstreflexivität und einen Bezug aufs Ganze. Wenn wir über den Willen einer Person sprechen, dann ist erst einmal negativ vorwegzuschieben: Es handelt sich nicht um sinnvolle Sätze, es wird nicht nach einem Beweis durch Tatsachen gefragt. Denn die Sätze über den Willen einer Person verweisen irreduzibel auf die Person, die sie äußert. Darin liegt die Selbstreflexivität dieser Sätze. Sie haben einen Gegenstand, den »mutmaßlichen Willen« und sie haben eine 236 https://doi.org/10.5771/9783495817360 .
Wittgenstein: Über die Gefahr, Wunsch und Wille zu verwechseln
irreduzible Einschränkung, denn sie sind rückbezogen auf den, der sie äußert und stellen eine Perspektive vor. Diese Perspektivität der unsinnigen Sätze ist eine, die in gewisser Weise gegen sich gerichtet ist. Denn es wird mit unsinnigen Sätzen etwas behauptet, was eine Bedeutsamkeit für den hat, der sie äußert. Die Personen, die unsinnige Sätze verwenden, stehen für das ein, was sie sagen. Dies ist verbunden mit dem, was ihnen wichtig ist und dem, was dem Leben als Ganzem Wert verleiht. Dieser Bezug zum Ganzen verpflichtet dazu, die unsinnigen Sätze zu plausibilisieren und den Zusammenhang zwischen der wahrgenommenen Situation und den Zwecken und Werten im Hintergrund soweit es möglich und nötig ist, aufzuweisen. Über den mutmaßlichen Willen des alten Mannes kann also nur mit in diesem Sinne unsinnigen Sätzen gesprochen werden. Es ist also zunächst eine Art negatives Ergebnis festzuhalten: Es ist nicht möglich, den Willen des alten Mannes zu ermitteln ohne auf seinen Körper zu schauen, ohne auf die Lebendigkeit und das Wohl- oder Unwohlgefühl zu achten. Wer beides voneinander isoliert, sucht nach früheren Wünschen oder versucht, Interessen von anderen Parteien zu verschleiern. Stehen sich nun, wie möglicherweise im Falle des alten Mannes, verschiedene in diesem Sinne unsinnige Sätze gegenüber, so könnte man den Gedanken weiterentwickeln, diese unsinnigen Sätze mit Betonung ihrer Perspektivität und ihres Ganzheitsbezugs ins »Gespräch« zu bringen und dadurch Veränderungen zu initiieren. Diese Veränderungen geschehen und es kommt gar nicht darauf an, Einigkeit erzielen zu wollen. An diese Stelle der Einigkeit treten dann Entscheidungsverfahren, die sich als in dem jeweiligen Zusammenhang geeignet erwiesen haben. Diese Kontingenz und Situationsbezogenheit kann die Philosophie nicht überspringen wollen. Aus philosophischen Überlegungen folgen keine direkten Entscheidungen und Empfehlungen, wie mit einer konkreten Situation umzugehen ist. Mit Wittgenstein hat sich die Aufmerksamkeit verschoben. Seine Überlegungen zielen zunächst darauf, dass Wollen und Tun nicht nur eng verbunden, sondern sogar eins sind: Wollen ist Tun. Das, so korrigiert er sich selber, darf nicht dazu führen, nach einem privilegierten, unmittelbaren Ausdruck des Wollens zu suchen, wie zum Beispiel im Muskelgefühl. Vielmehr ist die Vielfalt unseres Handelns der Ausgangspunkt. Als willentlich Handelnde können wir unser Handeln nun mit Hilfe verschiedener Unterscheidungen beschreiben 237 https://doi.org/10.5771/9783495817360 .
2 · Analysen: Vom Wollen als mentale Anstrengung zur Muskelempfindung
und werden dadurch der Verschiedenheit des Handelns gerecht, das mal eine komplexe zeitliche Erstreckung zu haben scheint und mal nicht. Die Frage nach Wünschen und Wollen wird eingebettet in ein Nachdenken über menschliches Handeln. Wie verhält sich dies zu dem Bild von Sigwart, das ohne Zweifel auch Überzeugungskraft hat und in unserem Sprachgebrauch und in unseren Selbstbeschreibungen wirksam ist? Hat Wittgenstein das Bild aufgelöst, ist es überwunden? Man könnte vielleicht sagen, dass er das Bild umgekehrt hat. Die von Sigwart vorgeschlagenen Differenzierungen eignen sich, um die Vielfalt von Handlungen zu beschreiben. Handlungen spannen den Raum auf, in dem Sigwarts Modellbildungen als kreative Unterscheidungen aufgenommen werden können. Aber das Modell erklärt keinesfalls, wie es zum Handeln (als Finale der Dramaturgie) kommt. Es setzt Handeln im Gegenteil immer schon voraus. Im Anschluss an die Überlegungen von Kant und Wittgenstein ergeben sich kritische Konsequenzen gegenüber allen »Komponentenmodellen« des Wollens und des Handelns. An solchen Modellen ist »Unterscheidungskritik« zu üben. Ich will im nächsten Kapitel dazu übergehen und kritische Konsequenzen an der Diskussion über Willensschwäche wie am Präferenzmodell skizzieren. Im dritten Schritt des folgenden Kapitels will ich den Gedanken Wittgensteins von dem primären Charakter von Handlungen aufnehmen und in einer anderen Variante weiterentwickeln, die sich kritisch gegenüber Handlungstheorien, die mit Komponenten arbeiten, absetzt.
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3. Kapitel: Kritik: Handlungen bestehen nicht aus zwei Komponenten
Einleitung zum dritten Kapitel In diesem Kapitel werden die kritischen Implikationen des zweiten Kapitels explizit aufgenommen und weitergeführt. Das zweite Kapitel war eine kritische Arbeit an einem zwar in gewisser Hinsicht überzeugenden, aber zu Reduktionen verführenden Bild des Wollens. Jetzt sollen die kritischen Dimensionen, die in der Beschreibung und Analyse von Unterscheidungen immer schon mit enthalten sind, eigens betrachtet werden. Da es vor allem darum geht, einige Konsequenzen aufzuzeigen, ist dieses Kapitel im Unterschied zum vorangehenden und folgenden knapp gehalten. Ich beginne mit einigen allgemeinen Überlegungen zur Kritik und Unterscheidungskritik und erläutere dann, anhand welcher konkreten Diskussionen und Positionen Konsequenzen der Kritik an Unterscheidungen und Unterscheidungsweisen aufgezeigt werden sollen.
a)
Die Aufgabe von Kritik
Kritik zu üben scheint genauso schwierig und verfänglich wie unentbehrlich zu sein. Schwierig ist es, weil Kritik leicht arrogant wird, wenn man seine Kritik zu selbstverständlich vorträgt und nicht die Bereitschaft hat, sich die »selbstkritische« Frage zu stellen, ob und warum die eigenen Maßstäbe der Kritik denn berechtigt sind. Und verfänglich ist es, weil Kritik üben sich zu einer Haltung des Zertrümmerns verfestigen kann, die sich im Besserwissen erschöpft. Die Schwierigkeit und die Verfänglichkeit des Kritisierens machen es also nötig, sich intensiv über Formen und Funktionen des Kritisierens Gedanken zu machen. Und dennoch ist Kritik unentbehrlich. Sie ist eine grundlegende menschliche Praxis, mittels derer wir uns auf den Bereich des von Menschen Gestaltbaren richten und den Wert von kleineren oder größeren Zusammenhängen beurteilen. Unter »Kri239 https://doi.org/10.5771/9783495817360 .
3 · Kritik: Handlungen bestehen nicht aus zwei Komponenten
tik« werden oft Bewertungen verstanden, die ausdrücken, dass etwas falsch, unangemessen oder schlechter als eine andere Möglichkeit ist. Zur Praxis des Kritisierens gehört aber auch der Austausch verschiedener Einschätzungen gegenüber einem Sachverhalt und um diesen Unterschied zu markieren, sprechen wir heute häufig von »konstruktiver« Kritik. Wenn man etwas im ersten Sinne kritisiert, also etwas als falsch oder unangemessen oder schlechter als eine andere Möglichkeit beurteilt, dann muss man mit Rückfragen zum Modell des Besseren und Richtigen rechnen, anhand dessen die Kritik vorgetragen wird. Aber nicht jede Form von Kritik muss auf diese Rückfrage antworten. Genauso berechtigt ist die Zurückweisung mit dem Hinweis, dass man nicht bei jeder Anklage von dem, was schlecht ist, gleich einen Vorschlag haben müsse, wie es besser ginge. Das würde die wichtige Funktion von Kritik, dass sie auch Unbehagen artikulieren oder einfach Erfahrungen von Ungerechtigkeit und Exklusion anprangern kann, nicht mehr als legitim erscheinen lassen. Dann wäre die Gefahr akut, dass Kritik nur eine Sache der Universitäten würde, in denen elaborierte Modelle des Besseren entwickelt werden. Mit dem Ausdruck »Unterscheidungskritik« will ich nicht in erster Linie auf einen Aspekt der griechischen Bedeutung des Verbes krinein hinaus. Denn krinō bedeutet auch: »ich unterscheide, ich sondere, ich scheide«. 1 Das würde zu einer Doppelung und Selbstbezüglichkeit führen: Unterscheidungsunterscheidung oder Unterscheiden von Unterscheidungen. Dies klingt verwirrend, aber auch interessant, und darin liegt ein mögliches Nachdenken über Unterscheidungen. In der systemtheoretischen Literatur findet sich dazu eine Menge von Anknüpfungspunkten. Luhmann bestimmt einen seiner zentralen Termini »Beobachten zweiter Ordnung« als Unterscheiden von Unterscheidungen 2 und ein Aufsatz von Elena Esposito trägt die Wendung »Unterscheidung von Unterscheidungen« im Untertitel 3. Mein Verständnis von Unterscheidungskritik knüpft dagegen durchaus an die normative Bedeutungsschicht von »Kritik« an im Sinne der Beurteilung des Wertes von etwas. Der Gegenstand der Beurteilung sind Unterscheidungen. Philosophische Kritik ist häufig Oder auch: »ich sondere aus«, »ich wähle aus«; »ich beschließe«, »ich urteile«. Vgl. z. B. Niklas Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1992, Kapitel 2: »Beobachten«, S. 68–121, S. 80. 3 Elena Esposito, »Paradoxien als Unterscheidungen von Unterscheidungen«, in: H. U. Gumbrecht/K. L. Pfeiffer (Hg.), Paradoxien, Dissonanzen, Zusammenbrüche. Situationen offener Epistemologie, Frankfurt a. M. 1991, S. 35–57. 1 2
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Einleitung zum dritten Kapitel
eine Kritik an Unterscheidungen und die Geschichte der Philosophie ist voller Beispiele für die Kritik an Unterscheidungen. Zum Beispiel kritisiert Platon im Sophistes unter anderem die parmenideische Unterscheidung zwischen Sein und Nichtsein, Aristoteles z. B. die platonische Unterscheidung zwischen Ideen und Sinnesdingen, Cusanus z. B. die aristotelische Unterscheidung zwischen Substanz und Relation, Hegel die kantische Unterscheidung zwischen erkennendem Bewusstsein und Sache. Bei einer Kritik an Unterscheidungen lässt sich fragen, ob die jeweilige Unterscheidung getroffen werden soll, ob sie etwas klärt, inwieweit sie das tut oder nicht tut. Man kann aber auch fragen, ob die jeweilige Unterscheidung überhaupt Bestand haben kann, anders gesagt, ob es überhaupt eine ist oder ob es recht betrachtet eine Unterscheidung ist, die keinen Unterschied macht. In der Philosophie wird aber genauso durch Unterscheidungen kritisiert. Kant hat durch die Unterscheidung zwischen hypothetischen und kategorischen Imperativen die Reduktion von Moral auf Nutzenabwägungen kritisiert. Mit einer Kritik durch Unterscheidungen ist der Anspruch erhoben, dass eine Vermischung aufgehoben und ein Durcheinander geklärt wird. Meist werden beide Formen der Kritik an Unterscheidungen und durch Unterscheidungen kombiniert. Es wird Kritik an Unterscheidungen durch andere Unterscheidungen geübt. Unterscheidungskritik nötigt zu einer doppelten Aufmerksamkeit auf den Gegenstand, die kritisierte Unterscheidung, und die Weise bzw. das Verfahren der Kritik durch Unterscheidungen. Unterscheidungskritik ist eng verbunden mit der Beschreibung und Analyse von Unterscheidungen. Unterscheidungskritik richtet sich auch auf verschiedene mögliche Beschreibungen, denn unsere Erfahrungen beschreiben wir mit Hilfe von Unterscheidungen. Hierfür ist es wichtig, die Wirkung von Unterscheidungen in unseren Beschreibungen reflektieren zu können. Welche Wirkungen hat es, wenn wir diese oder im Kontrast dazu andere Unterscheidungen verwenden? Dafür ist es nötig, über die Wirkung von Unterscheidungen nachzudenken und (wieder in doppelter Aufmerksamkeit) eine Sprache zu finden, um Wirkungen thematisieren und vergleichen zu können. 4 Ich halte dieses Potenzial der Unterscheidungskritik, mit der Kontrastierung von alternativen Beschreibungen eines thematischen Feldes oder eines Problems zu arbeiten, für ganz erheblich und in der insgesamt wenig beschreibungsaffinen philosophischen Diskussion 4
Das ist die Aufgabe von Teil II, Kapitel 1.1 und 1.2.
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3 · Kritik: Handlungen bestehen nicht aus zwei Komponenten
der Gegenwart für unausgeschöpft. Ich will mich diesem Aspekt von Unterscheidungskritik explizit im Abschnitt 3.1.1 dieses Kapitels widmen. Unterscheidungskritik ist ebenfalls eine wichtige Dimension für Analysen von Unterscheidungen. Um zu überblicken, wie in einem thematischen Feld mit Unterscheidungen gearbeitet wird und welche Unterscheidungsweisen für die Bearbeitung philosophischer Probleme herangezogen werden, sind philosophische Argumentationen und Positionen besonders auf die dominanten Unterscheidungen hin zu befragen. Gerade für Debatten, in denen ein Feld von Positionen erzeugt und tradiert wird, ist es ertragreich, auf die Qualitäten der Trennungen und Verbindungen zu achten, mit Hilfe derer Positionen gebildet werden. Einen solchen Betrachtungswinkel auf viele philosophische Debatten einzunehmen, verstärkt eine Optik, die vielfach sowieso üblich ist, wenn Positionen nach starken und schwachen Varianten eingeteilt werden, womit verschiedene Qualitäten von Trennungen oder Beziehungen zwischen Seiten einer Unterscheidung gemeint sind. 5 Meist setzt ein solches Vorgehen voraus, dass die jeweilig unterschiedenen Seiten, die stark oder schwach voneinander getrennt bzw. stark oder schwach aufeinander bezogen werden, eine hohe Bestimmtheit aufweisen, damit Fragen nach der Art der Kombination überhaupt gestellt und beantwortet werden können. Fragen nach solchen und anderen Voraussetzungen über den Charakter der unterschiedenen Seiten oder das Netz der Hintergrundunterscheidungen sind für das unterscheidungskritische Vorgehen sehr wichtig.
b) Zur Auswahl der kritisierten Ansätze Aus den kritischen Einwänden gegenüber dem Bild vom inneren Drama des Wollens, die sich aus den Analysen Kants und Wittgensteins ergeben, folgen weitere kritische Anfragen gegenüber bestimmten Debatten oder Theoriebildungen. Ich will dies an zwei Beispielen zeigen.
Dies gilt zum Beispiel für Konzepte der epistemischen Rechtfertigung und des Wissens, die in Positionen wie »starker« und »schwacher Internalismus«, »starker« und »schwacher Externalismus« eingeteilt werden, um die Frage nach der Zugänglichkeit der Gründe für gerechtfertigte Meinungen zu beantworten.
5
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Einleitung zum dritten Kapitel
Im ersten Schritt wende ich mich der sehr traditionsreichen, seit dem Erscheinen von Donald Davidsons Aufsatz How is Weakness of the Will Possible? 6 im Jahr 1970 wieder neu entbrannten Debatte über Willensschwäche zu (3.1 Willensschwäche in der Kritik). Ich werde zunächst anhand der ersten Beschreibung des ersten Kapitels 7 einen Kontrast aufbauen und die Situation einmal unter Anwendung des Konzepts der Willensschwäche vorstellen und zum anderen unter Anwendung der Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille. Von den drei Beschreibungen des ersten Kapitels scheint mir die erste, nämlich die literarische Szene des Protagonisten, der sein Schreiben stetig neu in die Zukunft verschiebt, deshalb besonders geeignet, weil in dieser, wie in den meisten Beispielen für Willensschwäche auch, vor allem ein Selbstverhältnis betrachtet wird. Für diesen Zweck ist es ausreichend, die Idee der Willensschwäche ohne Rücksicht auf die Vielfalt der Deutungen zu umreißen. In der Gegenüberstellung wird deutlich, welche Begriffsverwendung welche Details der Situation eher hervorkehrt oder abblendet und welche Anschlüsse wodurch nahegelegt werden oder aus dem Blick geraten (3.1.1 Alternative Beschreibungen: Welche Unterscheidungen bewirken was?). Dann erst sollen wichtige Positionen und Deutungen der Willensschwäche in der Debatte unter der Fragestellung behandelt werden, wie die Trennungen und Verbindungen der Seiten der beiden besonders wichtigen Unterscheidungen, nämlich einerseits praktisches Urteil und Handlung und andererseits Bewertung und Motivation, jeweils qualifiziert werden (3.1.2 Wie unterschieden wird: Praktisches Urteil, Handlung, Bewertung und Motivation). In der argumentativen Verteidigung der miteinander konkurrierenden Vorschläge werden vielfach unterscheidungskritische Figuren verwendet, um Debatten wie die zur Willensschwäche oder auch andere daraufhin zu betrachten. Ich will in diesem Zusammenhang aber nur zwei Beispiele anführen, die sich kritisch auf den enorm einflussreichen Initialbeitrag von Davidson richten. Viele der Positionen legen ein Konzept des Willens zugrunde, das große Ähnlichkeiten zu Sigwarts Phasenmodell des Willens aufweist. Die weitreichenden Einwände, die Kant und Wittgenstein dagegen vorgebracht haben, sollen nur
Donald Davidson, »How is Weakness of the Will Possible?«, in: J. Feinberg (Hg.), Moral Concepts, Oxford 1970, S. 93–113. 7 Vgl. Teil I, Kapitel 1.1. 6
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3 · Kritik: Handlungen bestehen nicht aus zwei Komponenten
erwähnt, nicht wiederholt entfaltet werden (3.1.3 Unterscheidungskritische Figuren in der Debatte). Das zweite Beispiel ist die Reduktion der Modalitäten des Praktischen auf Präferenzen, die verschiedene Stärkegrade aufweisen können. Diese Auffassung, die vielfach vertreten wird, soll nicht in ihren verschiedenen Spielarten betrachtet werden und die spieltheoretischen Hintergründe werden nicht entfaltet. Mein Anliegen geht dahin, den unterscheidungskritischen Einwand des »Unterunterscheidens«, also des unterkomplexen, unlauter vereinheitlichenden Unterscheidens einzuführen. Der komplementäre Einwand wäre der des »Überunterscheidens«, also des unnötigen Vervielfältigens von Unterscheidungen ohne aufweisbare Konsequenzen (3.2 Kritik an der Reduktion von Wünschen auf Präferenzen). Mit etwas Abstand betrachtet wiederholt sich in beiden Fällen, bei den Einwänden an den Positionen zur Willensschwäche wie am Präferenzmodell eine kritische Einsicht: Es ist problematisch, Handeln in zwei Komponenten zu zerlegen, wie auch immer diese genau beschaffen und bezeichnet sein mögen (sei es praktisches Urteil oder Präferenz oder noch etwas anderes). Handeln ist vielmehr ein einfacher und kein zusammengesetzter Begriff. Selbstverständlich ist die Differenzierung verschiedener Aspekte möglich und nötig. Aber diese haben kein unabhängiges Bestehen voneinander, sondern sind als »analytische« Unterscheidungen aufzufassen. Für diesen Ansatz sind die Erfahrungen oder Phänomene einer Diskrepanz zwischen einem praktischen Urteil bzw. einer Handlungsabsicht eines Akteurs auf der einen und dem, was er dann tut, auf der anderen Seite, eine besondere Herausforderung. Denn solche Diskrepanzen scheinen ein Argument für einen aus zwei isolierbaren Komponenten zusammengesetzten Handlungsbegriff zu liefern. Eine Handlungstheorie, die für einen einfachen Handlungsbegriff votiert und diesen ausbaut, muss für dieses Problem eine Antwort haben. Die von mir favorisierte Lösung dieser Schwierigkeit liegt darin, solche Diskrepanzerfahrung mit Hilfe der Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille zu reformulieren. Wie dies genau aussehen kann, haben die Analysen Kants und Wittgensteins detailliert gezeigt. Im dritten Abschnitt dieses Kapitels will ich die sachliche Konsequenz aus diesen kritischen Einsichten ziehen, und die Aufmerksamkeit auf den Begriff des Handelns selbst verschieben. In der hand244 https://doi.org/10.5771/9783495817360 .
Willensschwäche in der Kritik
lungstheoretischen Diskussion bieten sich verschiedene Referenzpunkte an, wie zum Beispiel die Handlungstheorien, die sich aus der Wittgenstein-Schule herausgebildet haben. Deren Einschränkung liegt meines Erachtens aber darin, dass die Dynamiken der Veränderung, Rückwirkung und Korrektur zwischen verschiedenen Aspekten des Handelns nicht eigens oder nicht ausreichend zum Gegenstand des Nachdenkens gemacht werden. Ich will deshalb als Ansatzpunkt eine bestimmte Deutung der hegelschen Handlungstheorie wählen, und diesen im vierten Kapitel um wichtige Einsichten aus der pragmatistischen Handlungstheorie erweitern. Das Anliegen des dritten Abschnitts dieses Kapitels liegt darin, den Ansatzpunkt bei einem einfachen Handlungsbegriff in der Gestalt der hegelschen Handlungstheorie zu markieren (3.3 Sachliche und methodische Konsequenzen aus der Kritik: Verschiebung der Aufmerksamkeit auf einen einfachen Begriff des Handelns).
3.1 Willensschwäche in der Kritik 3.1.1 Alternative Beschreibungen: Welche Unterscheidungen bewirken was? Beschreibungen sind keineswegs harmlos und liegen nicht vor oder außerhalb von theoretischen Vorentscheidungen. In Beschreibungen werden Unterscheidungen verwendet oder sie werden auf Unterscheidungen bezogen. Dies kann mehr oder weniger auffällig sein, im Falle von weithin geteilten Unterscheidungsgewohnheiten in einem bestimmten Bereich wird dies als Selbstverständlichkeit aufgefasst, was die Erwartungen bestätigt und deshalb kaum auffällig werden kann. In den drei Beschreibungen, die im ersten Kapitel dieses Teils gegeben wurden, ist die Anwendung der Unterscheidung dagegen eigens thematisiert. Im Falle der ersten Beschreibung sollten zwei Erfahrungsformen kontrastiert werden, die aus der Teilnehmerperspektive deutlich machen, was mit den Begriffen »Wunsch« und »Wille« für mögliche Erfahrungen gemeint sind. Das kritische Potenzial, das darin liegt, wird erst an alternativen Beschreibungen unter Verwendung anderer Unterscheidungen deutlich. Dabei kann sich zeigen, welche der begrifflichen Verarbeitungen die Erfahrungen überzeugender erschließen und Details besser verständlich machen. Das zeigt, dass zwischen Beschreibung und Bewertung keine scharfe 245 https://doi.org/10.5771/9783495817360 .
3 · Kritik: Handlungen bestehen nicht aus zwei Komponenten
Grenzlinie zu ziehen ist, sondern jede Beschreibung im Horizont von Alternativen kritisierbar und damit Gegenstand normativer Auseinandersetzung ist. Es ist ein naheliegender Einwand, die Phänomene des bloßen Wünschens, wie sie in den drei Beschreibungen präsentiert werden, als Phänomene von Willensschwäche zu deuten. Wer von »(selbstreflexiven) Wünschen« im Unterschied zum Wollen spreche, liefere nur eine andere und kompliziertere Beschreibung von dem Phänomen der Willensschwäche. Der Ausdruck »Willensschwäche« gehört in ein größeres Begriffsfeld, das sich zum Teil aus den griechischen und lateinischen Ausdrücken erklärt. Verwendet werden »akrasia« oder »Inkontinenz« (lateinisch incontinentia), »Unbeherrschtheit« (die Übersetzung des griechischen und lateinischen Ausdrucks), »Willensschwäche« oder »Handeln wider besseres Wissen«. Da nun in der intensiv geführten Diskussion um Willensschwäche in der analytischen Philosophie keine Einigkeit darüber herrschte und herrscht, welches Phänomen genau beschrieben, analysiert und erklärt werden soll, wurden die Ausdrücke oft verwendet, um die verschiedenen, wenn auch nicht völlig heterogenen Phänomene zu differenzieren. Aber auch hierüber findet sich keine Einigkeit und so können nur einige oft vertretene Unterschiede aufgenommen werden. Akrasia wird meist reserviert für ein Handeln wider die Überzeugung, eine bestimmte (andere) Handlung sei die beste. Der Akratiker hält Handlung A für die beste, tut aber etwas anderes, was er für schlechter hält. Aristoteles erklärt dies durch das Auftreten starker Leidenschaften, durch die der Handelnde gewissermaßen zur als schlechter beurteilten Handlung B fortgerissen wird. Davidson hat das Phänomen allgemeiner betrachtet, von dem Vorliegen starker Leidenschaften gelöst und es dadurch zu einem Problem der Handlungstheorie gemacht. »Incontinence« oder in der Übersetzung oft »Willensschwäche« liegt dann vor, wenn absichtlich und freiwillig eine Handlung vollzogen wird, die als schlechter beurteilt worden ist, aus welchen Motiven auch immer dies geschehen möge. Im Englischen wird im Anschluss an diese Verallgemeinerung oft von »weakness of will« als »acting against one’s better judgement« gesprochen. Andere votieren dafür, das Phänomen der Willensschwäche vom Urteilen über das Beste abzulösen und allgemeiner zu sagen, Willensschwäche liege dann vor, wenn ein Akteur entgegen den eigenen Absichten handelt.
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Willensschwäche in der Kritik
In der ersten, aus der Literatur entnommenen Beschreibung haben wir es mit jemandem zu tun, der sich etwas fest vornimmt und es nicht tut. Er fasst Tag für Tag neu den Entschluss, sich ans Schreiben zu begeben und verschiebt das Vorhaben für heute immer neu auf morgen. Stellen wir uns zwei Reaktionen vor. Jemand sagt zu ihm: »Du willst doch gar nicht mit dem Schreiben beginnen, du wünschst es dir bloß.« Und jemand anders sagt zu ihm: »Dein Wille ist nicht stark genug, um zu schreiben, du bist willensschwach.« Mit solchen Reaktionen wird der Versuch gemacht, die Situation auf den Begriff zu bringen. Es lässt sich eine Fülle von Erfahrungen anführen, in denen der Versuch, etwas auf den Begriff zu bringen, wie eine Reduktion von einer Erfahrungsfülle wirkt. Solche Reduktionserfahrungen machen verständlich, warum das Nachdenken über das Verhältnis von Begriff und Erfahrung zu den philosophischen Grundthemen gehört. Aber wir haben auch Erfahrungen, wo eine begriffliche Verarbeitung etwas auf den Punkt bringt, es pointiert, verständlich macht und Anschlüsse ermöglicht. Sie kann wie eine Bündelung und Gestaltungsbildung, eine Einsicht und eine Möglichkeit, anzuschließen wirken. Letzteres scheint mir eine theoretische Erfahrung zu sein. Beide Erfahrungen zusammengenommen zeigen, dass Begriffe etwas mit unserer Erfahrung machen. Die erste Reaktion verarbeitet die Erfahrung, jeden Tag aufs Neue den Beginn des Schreibens zu verschieben, mittels der Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille und die zweite Reaktion verarbeitet die Erfahrung mittels der Unterscheidung zwischen Willensschwäche und Willensstärke. Wenn nun die Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille herangezogen wird, ist behauptet, dass die vielfältigen Handlungen, die der Protagonist unternimmt, Ausdruck von Wünschen sind und kein Ausdruck von Wollen. Die Erneuerung des Entschlusses (… wie ich es immer schon gemacht hatte seit meinem alten Entschluss, mich ans Schreiben zu begeben …) die Fassung des Vorsatzes für den nächsten Tag (… während ich den festen Vorsatz fasste, mit der Arbeit am nächsten Tage zu beginnen …) zeigen die Ausrichtung auf das Schreiben und die positive Bewertung dieses Vorhabens. Damit ist eine hohe Aktivität verbunden, eine Tätigkeit, die mit kunstvollen Situationsdeutungen und zeitlichen Konstruktionen aufwartet. Es wird also eine Menge getan beim Wünschen und es handelt sich keineswegs bloß um einen mentalen oder psychischen Zustand, sondern um eine Fülle von koordinierten Aktivitäten. Nur Eines wird nicht 247 https://doi.org/10.5771/9783495817360 .
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getan, es werden keine Mittel ergriffen, um das Beabsichtigte – mit dem Schreiben zu beginnen – zu realisieren. Handlungen, in denen das Beabsichtigte, das Ziel zum Mittel der Gestaltung wird, können demgegenüber als »Wollen« bezeichnet werden. Wenn die Situation als Darstellung des Phänomens Willensschwäche verstanden wird, erscheinen die Erfahrungen des Protagonisten in einem anderen Licht. Die wiederholten Entschlüsse und Vorsätze des Protagonisten sind Ausdruck von dem Urteil über die bestmögliche Handlung, wie: »Das Beste, was ich tun kann, ist, morgen mit dem Schreiben zu beginnen.« Dies Urteil ist natürlich das Ergebnis einer längeren Kette von Abwägungen verschiedener Bedingungen. Ohne vorangehenden Vergleich kann es nicht als Urteil über die bestmögliche Handlung angesehen werden. Die ständigen Verzögerungen des Protagonisten und sein Nichtstun zeigen, dass er wider diese Überzeugung handelt und genau dadurch ist Willensschwäche im Sinne von Handeln wider besseres Wissen gekennzeichnet. Derjenige, der alles in allem betrachtet zu dem Schluss kommt, dass er morgen anfangen will zu schreiben und es nicht tut, und die Vorwürfe an sich selbst, die nagende Unzufriedenheit, die schlechte Laune, die Enttäuschung der anderen in Kauf nimmt und also die schlechtere Handlungsoption wählt, der ist willensschwach. Möglicherweise ließe sich das Nichtstun des akratischen Protagonisten als Überwältigung durch Faulheit oder Trägheit deuten. In dem allgemeineren Verständnis von Willensschwäche würde es reichen, die Entschlüsse und Vorsätze des Protagonisten als Ausdruck seiner Absicht, mit dem Schreiben zu beginnen, zu verstehen. Diese Absicht erfüllt er nicht, er ist willensschwach. Wenn wir Erfahrungen mit verschiedenen begrifflichen Unterscheidungen beschreiben oder auf den Punkt zu bringen versuchen, wie hier geschehen, dann wird die Szene je anders beleuchtet. Es wird je anderes herausgehoben oder abgeschattet. Und es werden möglicherweise verschiedene Anschlüsse nahegelegt und andere werden unwahrscheinlich. Die Unterscheidung zwischen Wünschen und Wollen lenkt die Aufmerksamkeit auf die Aktivitäten, auf das, was getan wird. Die Zuschreibung von Willensschwäche zielt darauf, wie der Protagonist ist, nämlich willensschwach. Wünsche haben eine Vorläufigkeit, sie erscheinen wie ein selbstgenügsames Spiel nach bestimmten Spielregeln, das wiederholbar ist. Wünsche sind oft mit starker emotionaler Energie verbunden. Es ist offen, ob mit dem Handlungskomplex des Wünschens ein moralisches Defizit vorliegt; 248 https://doi.org/10.5771/9783495817360 .
Willensschwäche in der Kritik
das liegt an der Situation und vor allem am Interaktionsrahmen. Die skizzierte Situation legt dies nicht direkt nahe, schließt es aber auch nicht aus. Mit der Zuschreibung von Willensschwäche ist entweder ein irrationales Verhalten gemeint, wenn Willensschwäche als kognitive Fehlleistung verstanden wird oder ein Charakterfehler, der moralisch problematisch ist. Welche Anschlüsse werden durch die eine oder die andere Reaktion nahegelegt? In der ersten Reaktion: »Du willst doch gar nicht mit dem Schreiben beginnen, du wünschst es dir bloß«, wird die Unterscheidung zwischen Wünschen und Wollen diagnostisch, möglicherweise auch kritisch angewandt. Das Gegenüber diagnostiziert, um was für ein Verhalten es sich handelt. Darin liegt eine Kritik: »Du machst etwas anderes, als du denkst.« Was sind mögliche Antworten, welcher Spielraum wird eröffnet und verschlossen? Auch unter Einklammerung weiterer Details kann man sich vorstellen, dass eine solche Reaktion klärend wirkt und Einsicht erzeugt. Und es könnte deutlich werden, welchen Zweck es hat, seine Zeit damit zu verbringen, sich zu wünschen, mit dem Schreiben zu beginnen und es nicht zu wollen. In der zweiten Reaktion: »Dein Wille ist nicht stark genug, um zu schreiben, du bist willensschwach«, wird eine negative Bewertung ausgesprochen, die wie eine Festlegung über die Situation hinaus wirkt. Es kann der Vorwurf der Irrationalität damit verbunden sein, der dazu anhalten soll, in Zukunft rationaler zu sein oder der Vorwurf von moralisch problematischer Charakterschwäche, die überwunden werden soll. Im Kontrast der möglichen Anschlüsse erweist sich die Unterscheidung zwischen Wünschen und Wollen als allgemeiner und bewertungsoffener, aber nicht als bewertungsneutral. 8
Die zweite im ersten Kapitel gegebene Beschreibung lässt sich auch unter Heranziehung des Interpretaments der Willensschwäche deuten: Herr Wunsch sieht ein, dass es geboten wäre, Herrn Not zu unterstützen. Frau Wollen hat überzeugende Gründe geliefert und Herr Wunsch stimmt ihr zu, dass beide ihre Verantwortung für den Kollegen ergreifen müssen. Herr Wunsch hat die Überzeugung, dass es richtig ist, in der Teamsitzung Widerstand zu leisten, aber er tut es nicht. Er handelt wider besseres Wissen, sein Wille ist schwach. – Für die dritte Beschreibung kann das Konzept der Willensschwäche nicht verwendet werden. Die Handlungen von Dementen können nicht als Handlungen wider besseres Wissen gelten, da das Wissen um die früheren Entscheidungen im Zustand der Demenz gerade nicht mehr vorliegt.
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3.1.2 Wie unterschieden wird: Praktisches Urteil, Handlung, Bewertung und Motivation Für das bisherige Anliegen im ersten Schritt hat es gereicht, das Konzept der Willensschwäche zu skizzieren. In der kritischen Analyse geht es nun darum, dieses Konzept mit seinen wichtigen Varianten daraufhin zu befragen, welche Unterscheidungen wie verwendet werden und wie deren Verwendung vor dem Hintergrund der erarbeiteten Analysen aus dem zweiten Kapitel zu beurteilen ist. Ich lenke bei der folgenden Darstellung die Aufmerksamkeit auf die grundlegenden Unterscheidungen, also auf die verschiedenen Arten, die unterschiedenen Seiten zu bestimmen und die Arten und Weisen, wie die Seiten voneinander getrennt und wie sie aufeinander bezogen werden. So gut wie jedes Nachdenken über Willensschwäche hat die antiken Vorlagen im Hinterkopf, die sokratische Zurückweisung der Möglichkeit vom Handeln wider besseres Wissen und den aristotelischen Rettungsversuch des Phänomens. Damit ist die zentrale Unterscheidung, um die es zunächst geht und an der sich die Diskussion im 20. Jahrhundert abgearbeitet hat, vorgegeben, nämlich die Unterscheidung zwischen praktischer Einsicht bzw. praktischem Urteil auf der einen Seite und dem Handeln diesem Urteil gemäß auf der anderen Seite. Es gilt zu klären, wie die beiden Seiten voneinander unterscheidbar und wie sie miteinander verbunden sind. Praktische Einsichten, Urteile oder Überlegungen sind in besonderer Weise auf das Handeln bezogen. Wir überlegen, was wir tun sollen und was besser ist als anderes. Der Protagonist in der skizzierten Situation hat das praktische Urteil gefällt, dass es besser für ihn ist, am nächsten Tag mit dem Schreiben zu beginnen, als im Bett liegen zu bleiben und es nicht zu tun. Eine Möglichkeit besteht darin, praktisches Urteil und Handeln als zwar differenzierbar, aber nicht trennbar anzusehen. Ein praktisches Urteil ist differenzierbar vom Handeln, denn das Urteil hat eine satzartige Gestalt, wie: »Es ist besser, morgen mit dem Schreiben zu beginnen, als es weiter heraus zu zögern.« Handeln dagegen hat nicht oder nicht nur diese satzartige Gestalt, wir bewegen dabei in der Regel unseren Körper, reagieren auf eine konkrete Umgebung und so weiter. Trotz dieser offensichtlichen Verschiedenheit von praktischem Urteil und Handlung sollen beide nicht voneinander trennbar sein. Fälle von Handeln wider besseres Wissen sind nun eine besondere 250 https://doi.org/10.5771/9783495817360 .
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Herausforderung für diese gleichzeitige Behauptung der Verschiedenheit und Untrennbarkeit von praktischem Urteil und Handeln. Diese Fälle müssen entweder als Schein entlarvt oder es muss gezeigt werden, inwiefern sie doch mit einem bestimmten Sinn von Untrennbarkeit vereinbart werden können. Oder das Festhalten an der Untrennbarkeit wird aufgehoben und die Fälle von Handeln wider besseres Wissen verlieren ihre Merkwürdigkeit. Die Forderung nach Untrennbarkeit von praktischem Urteil und Handeln lässt sich mit Hilfe einer anderen Unterscheidung reformulieren, die in der Diskussion über Willensschwäche von einigen implizit, von anderen explizit verwendet wird, nämlich der Unterscheidung zwischen der wertenden und der motivationalen Bedeutung des Wollens. 9 Dass jemand x stärker will als y, bedeutet in der Regel sowohl, dass er x als besser beurteilt als auch, dass er stärker motiviert ist, x zu tun als y. Untrennbarkeit von praktischem Urteil und Handeln meint nun, dass Bewertung und Motivation zusammengehören und nicht auseinanderfallen. Im Falle des Handelns wider besseres Wissen treten Bewertung und Motivation auseinander und das nötigt dazu, anhand der Beschäftigung mit solchen Fällen die Art und Weise, wie Bewertung und Motivation zusammenhängen, zu reflektieren. Die möglichen Positionen in einem Spektrum von starker Untrennbarkeit bis zur Trennbarkeit von praktischem Urteil und Handeln lassen sich reformulieren als solche, die die starke Untrennbarkeit von Bewertung und Motivation behaupten und Fälle des Auseinanderfallens als Schein zu entlarven versuchen, solche, die die Untrennbarkeit mit Fällen von Auseinanderfallen zusammenzubringen versuchen und solche, die die Untrennbarkeit aufgeben und Bewertung und Motivation als voneinander unabhängige Akte analysieren. Damit sind drei sehr grundsätzliche Markierungen in einem Spektrum vorgenommen, das den Raum für viele weitere Varianten der Verhältnisbestimmung aufspannt, die in der weit verzweigten Diskussion auch vorgeschlagen worden sind. Ich will die angedeuteten Markierungen etwas weiter ausführen und konzentriere mich da-
Vgl. sehr deutlich Gary Watson, »Skepsis bezüglich Willensschwäche«, in: T. Spitzley (Hg.), Willensschwäche, Paderborn 2005, S. 107–127, S. 111. Watson nimmt hier Bezug auf den Beitrag von Gerasimos Santas, der diese Unterscheidung für seine Beschäftigung mit dem Problem der Willensschwäche pointiert: Gerasimos Santas, »Plato’s protagoras and explanations of weakness«, in: The Philosophical Review 75 (1966), S. 3–33.
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bei auf die je verschiedenen Verhältnisbestimmungen der unterschiedenen Seiten, praktisches Urteil und Handlung sowie Bewertung und Motivation. Starke Untrennbarkeit: Diese Position ist durch die Behauptung gekennzeichnet, dass praktisches Urteil und die Umsetzung in der Handlung in einem starken Sinne untrennbar sind. Ein praktisches Urteil liegt nur dann vor, wenn auch die Umsetzung erfolgt. Natürlich sind viele physische oder psychische Kontextbedingungen vorstellbar, die ein praktisches Urteil verhindern. Wenn die Umsetzung nicht erfolgt, so kann gefolgert werden, ist kein praktisches Urteil gefällt worden. Unter der Voraussetzung starker Untrennbarkeit ist Handeln wider besseres Wissen nicht möglich. Ebenso sind Wertung und Motivation aneinander gebunden. Wird etwas höher bewertet als anderes, dann erzeugt dies Motivation, das höher Bewertete zu tun und nicht das andere. Beschreibungen von einer Diskrepanz zwischen Urteil und Handeln, wie der von Proust, sind also keine Beschreibungen von einem Handeln gegen ein eigenes praktisches Urteil. Das kann es nicht geben. Vielmehr ist die Beschreibung zu lesen als Darstellung einer psychischen Unmöglichkeit, wie vielleicht einer überwältigenden Faulheit. Es gibt sicher Beispiele, wo jemand von starken Leidenschaften mitgerissen wird, oft wird als Beispiel dafür die Figur der Medea bemüht. In Ovids Darstellung versucht Medea, ihrer plötzlichen Leidenschaft zu Jason mit den Worten zu widerstehen: »Es rät die Begierde zum einen, doch die Vernunft zum andern! Das Bessere seh’ ich und will es. Aber dem Schlechteren folg’ ich.« 10 Es fragt sich, ob der Verweis auf Beispiele für einen dramatischen Konflikt zwischen Vernunft und Begierde wie dieses ausreichen, um der Diskrepanzerfahrung Rechnung zu tragen, die in der literarischen Szene vom Schreiben oder auch in den anderen Beschreibungen vorgeführt werden soll. Handelt es sich in den drei Beschreibungen wirklich um eine Art Vernebelung oder Ausschaltung der Vernunft und damit des praktischen Urteils? Möglicherweise ist es zu kurz gegriffen, das praktische Urteil und dessen Umsetzung mit dem Wollen zu identifizieren. In der modernen Diskussion hat Richard Hare diese Position verOvid, Metamorphosen, Epos in 15 Büchern, hrsg. u. übers. von H. Breitenbach, Zürich 1958, VII 20–22, S. 429; Richard Hare zitiert diesen Passus in: Freedom and Reason, Kapitel 5, Oxford 1963, S. 67–85.
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treten. 11 Seine Terminologie für die Untrennbarkeit von praktischem Urteil und Umsetzung ist die, dass praktische Urteile universell präskriptiv sind, also die Funktion haben, das eigene Handeln und dem Anspruch nach das Handeln aller in vergleichbaren Situationen zu leiten. Wer trotz physischer Möglichkeit nicht gemäß dem praktischen Urteil handelt, verwendet aufgrund psychischer Unfähigkeit den Ausdruck »sollen« in abgeschwächter Form, nämlich in nur quasi-universell präskriptiver Weise, durch die der eigene Fall von dem Imperativ, in einer bestimmten Situation so und so zu handeln, ausgenommen wird. Willensschwäche bedeutet also ein Abfallen (backsliding) von universeller Präskriptivität zu quasi-universeller Präskriptivität aufgrund von psychischen Ursachen. An anderer Stelle und in anderem Zusammenhang hat Hare auf die Unterscheidung zwischen zwei Arten von Wünschen zurückgegriffen, die er Anscombe zuschreibt, nämlich die Unterscheidung zwischen solchen Wünschen, die auf natürliche Art im Imperativ ausgedrückt werden, und denen, die auf natürliche Weise in unterschiedlichen »Optativ«-Konstruktionen ausgedrückt werden (z. B. »Könnte ich doch fliegen«). Dies spricht für Anscombes Unterscheidung zwischen der Art von Wollen, deren »primitives Zeichen darin besteht, dass man den Versuch unternimmt, etwas zu bekommen« 12, und dem »bloßen Wünschen«. Man könnte sagen, dass das Letztere, im Gegensatz zum Ersteren, deshalb ein bloßer Wunsch ist, weil sein Ausdruck, im Gegensatz zu einem Imperativ, keine Handlung befiehlt. Wünschen der ersteren Art nennt Hare ein paar Zeilen später auch »rationales Wollen«, das sich vom bloßen Wünschen unterscheidet. Diese Unterscheidung, die in den Überlegungen Wittgensteins zu Wünschen und Wollen ihre Wurzel hat, wird herangezogen, um den engen Zusammenhang zwischen Wollen und Handeln zu betonen und die imperativische Struktur des Wollens (oder Wünschens der ersten Art) zu profilieren. Sie wird aber nicht in ihrem kritischen Potenzial für die Analysen sogenannter »Willensschwäche« gesehen und genutzt. 13 Vgl. Hare, ebd., sowie: Richard Hare, Moral Thinking. Its Levels, Method and Point, Oxford 1981. 12 »The primitive sign of wanting is trying to get […].« (Elizabeth Anscombe, Intention (1957), 2. Aufl., Oxford 1963, § 36, S. 68). 13 Vgl. Hare, »Wollen: Einige Fallen«, in: G. Meggle (Hg.), Analytische Handlungstheorie, Bd. 1. Handlungsbeschreibungen, Frankfurt a. M. 1977, S. 246–264 (Übersetzung Georg Meggle). 11
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Schwächere Untrennbarkeit: Um die Möglichkeit zuzulassen, dass praktische Urteile gefällt werden und nicht demgemäß gehandelt wird, muss die Trennbarkeit zwischen praktischem Urteil und Handlung möglich sein. Das Fällen eines praktischen Urteils, zum Beispiel, dass es gut ist, morgen mit dem Schreiben zu beginnen und es nicht weiter hinauszuschieben, ist ein anderes Ereignis als das tatsächliche Beginnen oder im Bett liegen zu bleiben. Die Trennbarkeit von praktischem Urteil und Handlung bedeutet, dass das eine Ereignis stattfindet, ohne dass das andere folgen muss und so kann es vorkommen, ein praktisches Urteil zu fällen und nicht dementsprechend zu handeln. Praktisches Urteil und Handlung sind nicht ineinander enthalten, sie bilden keinen notwendigen, unauflöslichen Zusammenhang. Dennoch ist die Unterscheidung zwischen praktischem Urteil und Handlung asymmetrisch zu denken. Praktisches Urteil und Handlung sind nicht wie zwei gleichwertige Komponenten zu verstehen, die zusammenkommen können aber nicht müssen, sondern es gibt eine Abhängigkeit des Handelns vom praktischen Urteil. Praktische Urteile unterscheiden sich von theoretischen Urteilen dadurch, dass über die Wünschbarkeit von Handlungen oder Sachverhalten in Situationen geurteilt wird. Dabei ist es oft der Fall, dass verschiedene Wünsche, die nicht gleichzeitig erfüllt werden können, gegeneinander abgewogen werden. Urteile über Wünsche bewerten diese Wünsche und es ist die Frage, ob diese Urteile selber zum Handeln motivieren oder ob zwischen Formen von praktischen Urteilen zu unterscheiden ist, die zum Handeln motivieren und anderen, bei denen das nicht der Fall ist, oder ob zu praktischen Urteilen noch Wünsche hinzutreten müssen, die erst motivational wirken. Um zu analysieren und zu erklären, wieso ein praktisches Urteil auf die Handlung bezogen sein kann, muss der Prozess, ein praktisches Urteil zu fällen, genauer untersucht und in verschiedene Phasen unterteilt werden. Dabei zeigt sich, dass die deduktive Struktur des praktischen Syllogismus von Aristoteles nicht komplex genug ist, um Erfahrungen der Diskrepanz analysieren und erklären zu können. Praktisches Urteilen ist unterkomplex beschrieben, wenn es als deduktives Schließen bestimmt wird. In der oberen Prämisse des Syllogismus wird ein Wunsch ausgedrückt, zum Beispiel der Wunsch, morgen mit dem Schreiben zu beginnen. In der unteren Prämisse wird die Überzeugung ausgedrückt, welche Handlungen den Wunsch erfüllen können, wie morgen aus dem Bett aufzustehen und sich an den Schreibtisch zu setzen. Der Schluss wäre die Handlung (die Sub254 https://doi.org/10.5771/9783495817360 .
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sumption des Einzelfalls unter die Regel), aus dem Bett aufzustehen und sich an den Schreibtisch zu setzen. Nach diesem Modell ist Handeln wider besseres Wissen nicht verständlich. Auch wenn man, wie Aristoteles es zu tun scheint, einem Syllogismus der Vernunft eine Art Syllogismus der Lust entgegenstellt, der sich gegenüber dem ersteren durchsetzt, ist nicht ersichtlich, wie es zu einem absichtlichen und freiwilligen Handeln wider besseres Wissen kommen kann. Es muss deshalb auf die Seite der praktischen Urteilsfindung eine Unterscheidung zwischen zwei Phasen der Evaluation eingetragen werden, die für die Analyse und Erklärung von der Diskrepanz zwischen praktischem Urteil und Handlung von zentraler Bedeutung ist. In der ersten Phase werden Bewertungen unter Bezug auf verschiedene Hinsichten vorgenommen, zum Beispiel welche der Handlungsmöglichkeiten in finanzieller Hinsicht oder im Hinblick auf Prestige oder den Lernerfolg besser wären als andere. Man kann diese Hinsichten zusammennehmen und unter Berücksichtigung aller Hinsichten ermitteln, welche Handlung die beste wäre. Das Ergebnis dieser Phase könnte man vielleicht als eine Art rationale Empfehlung lesen: Es wäre rational, zu tun, was sich unter Erwägung aller derzeit überblickbaren Hinsichten als das Beste erweist. Diese Phase ist zu unterscheiden von der zweiten Phase, in der eine Art unbedingtes Urteil gefällt wird, das wie eine Entscheidung wirkt, eben die Handlung zu vollziehen, die als beste beurteilt wird. Dies ist aber ein eigener Schritt, der auch unterlassen werden kann. 14 Wenn dieser Schritt vollzogen wird, erfolgt die Handlung (falls die Rahmenbedingungen dies erlauben), wenn nicht, dann kann ein unbedingtes Urteil für eine andere Handlung vollzogen werden, die nicht als die bestmögliche beurteilt worden ist. Es ist eine solche Handlung, die als willensschwach bezeichnet wird, die nicht widersprüchlich, aber dennoch als irrational einzustufen ist. Denn es wird als rational bestimmt, von der einen Phase zur anderen Phase überzugehen und als irrational, nicht der Bewertung, was als beste Handlung ausgemacht wurde, zu folgen. Willensschwäche oder Handeln wider besseres Wissen führt also in eine Situation hinein, in der Wertung und Motivation auseinanderfallen. Die Unterteilung von Phasen erinnert an Sigwarts Modell. Die erste Phase, in der die rationale Empfehlung gebildet wird, differenziert Sigwart in Überlegung und Willensentscheidung. Und die zweite Phase, das unbedingte Urteil, erinnert an den letzten Schritt in Sigwarts Phasenmodell, den Willensimpuls. Vgl. Teil I, Kapitel 2.1.1.
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Auf diese Weise ließe sich Davidsons viel diskutierter Beitrag reformulieren, der als eine Art Initialtext für die breit geführte Diskussion um Willensschwäche gelten kann. 15 Darin rekonstruiert Davidson die Problematik der Willensschwäche in Form von drei nicht vereinbar erscheinenden Prinzipien. Das erste Prinzip besagt, dass man das, was man bevorzugt, absichtlich tut und das zweite, dass man das will (oder wünscht oder dazu motiviert ist), was man als besser beurteilt und das dritte, dass es willensschwache Handlungen gibt. Um die Vereinbarkeit der drei Prinzipien zu zeigen und dabei die Verfasstheit praktischer Vernunft aufzuklären, unterscheidet Davidson zwischen solchen Urteilen, die unter Berücksichtigung aller Umstände gefasst werden, und unbedingten Urteilen. Der Willensschwache handelt dem Urteil zuwider, in dem alle Umstände berücksichtigt werden, aber er handelt im Einklang mit seinem unbedingten Urteil. Der willensschwache Akteur ist irrational, weil er gegen das Kontinenzprinzip verstößt, das darin besteht, gemäß dem eigenen besten Urteil zu handeln. In dem späteren Text zu den »Paradoxien der Irrationalität« pointiert Davidson diese Irrationalität mit Hilfe der Unterscheidung zwischen Ursache und Grund. Für die willensschwache Handlung gibt es eine mentale Ursache (das unbedingte Urteil ist die Ursache der Handlung), aber keinen Grund (der in dem alle Umstände berücksichtigenden Urteil läge). Trennbarkeit: Den besonderen Handlungsbezug des praktischen Urteils kann man natürlich auch schwächen und sagen, dass ein praktisches Urteil eine neben anderen Weisen darstellt, Handlungen zu verursachen, der keine herausgehobene Rolle zukommt. Daneben gibt es Triebe, Gefühle oder Zwänge, die zum Handeln motivieren. Praktische Urteile weisen eigentlich gar keinen besonderen Handlungsbezug auf. Mit dieser Rahmensetzung verschwindet das Rätsel der Willensschwäche, das dadurch entsteht, dass den praktischen Urteilen ein besonderer Handlungsbezug zugewiesen wird. 16
Davidson: »How is Weakness of the Will Possible?«, a. a. O. Fast alle Beiträge zu der Diskussion beziehen sich auf diesen 1970 erstmals erschienenen Text, wie aber auch auf: ders., »Intending«, in Y. Yovel (Hg.), Philosophy of History and Action, Dordrecht 1978, S. 41–60, sowie auf: ders., »Two Paradoxes of Irrationality«, in R. Wollheim/J. Hopkins (Hg.), Philosophical Essays on Freud, Cambridge 1982, S. 289–305. 16 Vgl. dazu z. B. Michael Stocker, »Akrasia: The Unity of the Good, Commensurability, and Comparability«, in: ders., Plural and Conflicting Values, Oxford 1990, 15
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3.1.3 Unterscheidungskritische Figuren in der Debatte Die neuen Unterscheidungen, mit denen Davidson die moderne Debatte um Willensschwäche ins Rollen gebracht hat, waren vielfach Gegenstand der Kritik und haben zu einer unüberschaubaren Variantenbildung geführt, praktisches Urteil und Handeln wie Bewertung und Motivation enger aneinander zu binden. Denn Davidsons Unterscheidung zwischen begründenden Urteilen, die aber nicht notwendig motivieren, und motivierenden Urteilen, die keinen Grund darstellen (müssen), hat viele nicht befriedigt. Ich will hier einige kritische Stimmen relativ willkürlich herausgreifen, die versucht haben, die Unterscheidung zu modifizieren. Gary Watsons wirksame kritische Reaktion auf Davidson setzt mit dem Nachweis ein, dass eine zentrale Abgrenzung nicht überzeugt und dass der Fokus von einer isolierten Handlung und einem abstrakten Rationalitätsprinzip erweitert werden muss auf die Kultivierung einer grundlegenden Fähigkeit, deren Inhalt von sozialen Übereinkünften abhängig ist. Sarah Strouds Beitrag ist deshalb aufgenommen, weil sie im letzten Teil ihres Aufsatzes methodisch argumentiert und dabei die fehlende Plausibilität eines Unterscheidungsweges, der voneinander trennbare Komponenten annimmt, zu zeigen versucht. Und Richard Holton plädiert dafür, Willensschwäche nicht als Diskrepanz zwischen praktischem Urteil und Handlung, sondern zwischen Intention und Handlung zu konzeptualisieren und dadurch die übliche Kontrastlinie anders zu ziehen. Mangelnde Tragfähigkeit von Abgrenzungen: Watson weist nach, dass die einzelne willensschwache Handlung nicht von einer zwanghaften Handlung zu unterscheiden ist, also für beide Handlungen nicht gilt, dass der Akteur auch anders hätte handeln können. Der behauptete Unterschied, dass der Willensschwache zu schwach sei, um nach seinem besten Urteil zu handeln, dies aber prinzipiell könnte, und der Zwanghafte seinen übermäßig starken Motiven ausgeliefert sei und nicht anders handeln könne, erweist sich als nur scheinbarer Unterschied, denn auch der Willensschwache kann den widerstreitenden Motiven nichts entgegensetzen. In Bezug auf die einzelne Handlung gibt es keinen tragfähigen Unterschied zwischen S. 211–240 sowie Alfred Mele, »Akrasia, Self-Control, and Second-Order Desires«, in: Noûs 26 (1992), S. 281–302.
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Willensschwachem und Zwanghaftem. In dem isolierten Ausschnitt auf die einzelne Handlung erweist sich dieser Unterschied als scheinbar, als Unterschied, der keinen Unterschied macht. Damit die Unterscheidung zwischen Willensschwäche und Zwanghaftigkeit getroffen werden kann, muss die Perspektive erweitert werden. Die Zuschreibung von Willensschwäche bezieht sich nicht nur auf einzelne Handlungen, sondern auf eine weiterreichende, allgemeinere Fähigkeit der Selbstbeherrschung. 17 Wird nun jemandem in einem einzelnen Fall Willensschwäche attestiert, dann ist damit der Vorwurf gemeint, dass diese allgemeinere Fähigkeit der Selbstbeherrschung nicht in dem Maße ausgebildet worden ist, um mit Situationen wie der aktuellen so umzugehen, wie es nötig und wünschenswert gewesen wäre. Solch einer Person gegenüber kann die Erwartung an derartige Fähigkeiten nicht entgegengebracht werden. Willensschwäche und Zwanghaftigkeit werden also über die Erwartung an die Ausbildung einer allgemeineren Fähigkeit unterscheidbar. Dies macht etwas Weiteres deutlich, nämlich, dass die Zuschreibung von Willensschwäche von gesellschaftlichen Konventionen abhängig ist, die unter jeweils historisch anderen Bedingungen veränderte Vorstellungen von Normalität entwickeln. Watsons Beitrag führt methodisch gesehen eine Grundfigur von Unterscheidungskritik vor, die darin besteht, die Unhaltbarkeit einer wichtigen Abgrenzung zu zeigen. Damit die Abgrenzung gelingen kann, ist eine Erweiterung des Kontextes nötig, es müssen andere Unterscheidungen einbezogen werden, hier solche, in denen sich gesellschaftliche Erwartungen und Normvorstellungen ausdrücken. Von den Unterscheidungsweisen her argumentieren: Stroud fokussiert in ihrem Beitrag die angemessene Charakterisierung der Relation zwischen praktischem Urteil und Handeln. Die ernstzunehmenden Fälle von Willensschwäche zeigen, dass das Verhältnis nicht als Enthaltensein des einen im anderen (entailment) zu bestimmen ist, wie es die Vertreter der starken Untrennbarkeit behaupten, sondern als konstitutives Element des praktischen Urteils, das sich als eine
Den Ansatz, von »Selbstbeherrschung« im Sinne einer allgemeineren Fähigkeit zu sprechen und Willensschwäche als ein Charaktermerkmal zu verstehen, entwickelt zum Beispiel Thomas Hill weiter, wenn er auch in einzelnen Punkten nicht mit Watsons Analyse übereinstimmt. Vgl. dazu Thomas Hill, »Weakness of will and Character«, in: Philosophical Topics 14 (1986) 2, S. 93–115.
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Willensschwäche in der Kritik
normative Forderung darstellt. 18 Mit dieser Bestimmung stellt sie sich gegen die Vorstellung (die sie »humeanisch« nennt und der sie Davidsons Beitrag zuordnet), dass es sich um die Verbindung von zwei oder mehr (logisch) unabhängigen oder separierbaren Komponenten handelt. 19 Damit kontrastiert sie drei verschiedene Weisen, praktisches Urteil und Handlung oder Bewertung und Motivation zu unterscheiden und aufeinander zu beziehen, nämlich Enthaltensein (entailment), konstitutive Beziehung im Sinne einer normativen Forderung und Verbindung von zwei logisch unabhängigen Komponenten. Auf der Basis dieser drei Arten von Verbindung werden verschiedene Thesen über die Struktur praktischen Urteilens aufgestellt. Während die erste Unterscheidungsweise (Untrennbarkeit) ausscheidet, weil sie die Phänomene der Willensschwäche nicht erklären kann, versucht Stroud die dritte Unterscheidungsweise durch eine reductio ad absurdum zurückzuweisen, indem sie deren inakzeptable Konsequenzen aufzeigt. Die dritte Unterscheidungsweise würde nämlich die Möglichkeit von globaler akrasia zulassen. Damit macht sie von einer anderen wichtigen unterscheidungskritischen Figur Gebrauch, nämlich die Aufmerksamkeit auf die Modalitäten der Trennung und Verbindung von unterschiedenen Seiten zu richten, durch die erhebliche sachliche Differenzen entstünden, die aber nur mit Rücksicht auf die Unterscheidungsweisen voll verstanden werden können. Stroud verwendet zur Bezeichnung der verschiedenen Weisen, die unterschiedenen Seiten aufeinander zu beziehen, die weit verbreitete Unterscheidung zwischen »internalistischen« und »externalisitischen« Positionen. Kennzeichen der »internalistischen« Position ist die Verknüpfung von evaluativen oder spezifischer »praktischen« Urteilen mit Motivation und Handlung. Praktische Urteile sind »intern« mit der nachfolgenden Handlung verbunden. »Externalistische« Positionen dagegen sind gekennzeichnet durch die Leugnung einer engen oder gar notwendigen Verbindung zwischen evaluativen Urteilen und Handlung; darin wird die motivationale Kraft anderer Faktoren betont. Ihr Versuch ist es nun, sich zwischen diesen beiden Polen näher in Richtung des »Internalismus« zu verorten. Vgl. Sarah Stroud, »Weakness of Will and Practical Judgement«, in: S. Stroud/ C. Tappolet (Hg.), Weakness of Will and Practical Irrationality, Oxford 2003, S. 120–146, S. 136–137. 19 »Each of these elements – the motivationally inert judgement, and the desire – can exist without the other; the successful case is the happy product of their pairing.« (Stroud, ebd., S. 143). 18
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Eine Selbstpositionierung zwischen diesen beiden Polen nehmen die meisten Beiträge in der Debatte vor. Strouds Ausführungen gehören aber zu denen, die diese terminologische Initialunterscheidung zwischen Internalismus und Externalismus nicht einfach selbstverständlich verwenden, sondern die den Konstellierungen und deren Konsequenzen erhöhtes Interesse entgegenbringen. Neubestimmung der Seiten: Eine dritte wichtige unterscheidungskritische Figur liegt darin, die Seiten einer verwendeten Unterscheidung daraufhin zu befragen, ob sie denn überhaupt richtig gewählt sind und einen sinnvollen Ausgangspunkt für die Klärung eines Problems darstellen. Im Falle einer abschlägigen Antwort kann es geboten sein, diese Unterscheidung zurückzunehmen oder eine andere an deren Stelle zu setzen. Im Falle der Diskussion um Willensschwäche wurde z. B. der Vorschlag gemacht, das Relatum des praktischen Urteils in der Unterscheidung zwischen praktischem Urteil und Handlung zu ersetzen durch Intentionen oder Absichten. Intentionen sind keine Urteile über die beste Handlungsmöglichkeit und Willensschwäche ist deshalb auch höchstens in einer Sonderform als Handeln wider besseres Wissen bzw. Urteilen zu übersetzen. Im Allgemeinen ist Willensschwäche vielmehr zu verstehen als Nichtumsetzen der eigenen Intentionen. Dies kann in Bezug auf bestimmte Bereiche, aber auch in sehr allgemeiner Hinsicht habitualisiert werden, sodass sich von einem »willensschwachen Charakter« sprechen lässt. Diese Neubestimmung der Seiten, die im Falle von Willensschwäche auseinanderfallen, bringt zum Beispiel Holton in die Diskussion ein. 20 Die Nichtumsetzung von eigenen Intentionen ist dann als Willensschwäche zu verstehen, wenn die Bildung der Absicht die Funktion hat, möglichen unvernünftigen Revisionen vorzubeugen oder eine Abwehr gegen Versuchungen in der Situation (contrary inclination refuting) zu bilden. Die Einführung von Intentionen oder Absichten in die Diskussion ist theoretisch gehaltreich, denn sie hängt mit einer grundsätzlichen Auffassung von praktischem Überlegen zusammen, die Absichten als Grundbegriff praktischer Verhältnisse für unverzichtbar hält und den Reduktionsversuch auf Wünsche und Überzeugungen ablehnt. Die Art, wie Holton die Neubestimmung des einen Relatums vornimmt, führt ihn dazu, den Gegensatz zwischen WilRichard Holton, »Intention and Weakness of Will«, in: Journal of Philosophy 96 (1999), S. 241–262.
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Willensschwäche in der Kritik
lensschwäche und Willensstärke in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu rücken. Willensstärke besteht nämlich genau in dem erfolgreichen Beharren auf den eigenen Entschließungen. 21 Holton baut dafür den Begriff der Willenskraft (will-power) auf, bei dem die Untersuchung von Entschließungen (resolutions) entscheidend ist. 22 Er greift zurück auf ein Vokabular der Kraft, der Anstrengung und des inneren Kampfes, das traditionell für die psychischen Abläufe des Willens verwendet wurde. Holtons Herangehensweise hat große Ähnlichkeiten mit Beiträgen zur Philosophie der Psychologie des 19. Jahrhunderts wie zum Beispiel der von Sigwart. Dies zeigt, dass die Diskussion um Willensschwäche die Dramatik des Innenlebens akzentuiert. Holtons Beitrag führt diese Tendenz in aller Deutlichkeit vor. Trotz der großen Diversität der Positionen fällt eines auf: Die Überlegungen zur Willensschwäche in ihren vielfältigen Erscheinungsformen sind dadurch gekennzeichnet, dass sie sich zur Klärung der Diskrepanz zwischen zwei Seiten vor allem auf die eine Seite, das praktische Urteil oder die Intention konzentrieren und nicht fragen, worin der Zusammenhang der beiden Seiten liegt und was die Seite des Handelns kennzeichnet. Ist Handeln einfach verstanden als Umsetzung einer praktischen Einsicht oder einer Intention, als reine Ausführung oder Übersetzung von etwas Innerem ins Außen? Eine rahmensetzende Unterscheidung für die ganze Problematik der Willensschwäche ist die zwischen Innen und Außen; Innen verstanden als mentales oder psychisches Ereignis, Außen verstanden als körperliche Bewegung. Die Unterscheidung zwischen Innen und Außen ist verbunden mit der Unterscheidung zwischen Mentalem und Körperlichem und diese legt eine Unterscheidung zwischen Rationalem und Irrationalem nahe. Rational ist es, wenn der Körper ausführt, was der Geist gebietet, irrational ist es, wenn er das nicht tut. Dieser Hinweis auf die Verflechtungen mit anderen Unterscheidungen soll zeigen, dass sich in diesem Rahmen die gleichzeitige Verschiedenheit und Untrennbarkeit der Seiten, praktische Einsicht oder Intention auf Diese Überlegungen zur Willensstärke führt Holton aus, in: »How is Strength of Will Possible?«, in: S. Stroud/C. Tappolet (Hg.), Weakness of Will and Practical Irrationality, Oxford 2003, S. 39–67. 22 »Resolutions are contrary-inclination-defeating intentions: intentions formed by the agent with the very role of defeating any contrary inclinations that might emerge.« (Holton, ebd., S. 48). 21
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3 · Kritik: Handlungen bestehen nicht aus zwei Komponenten
der einen Seite und Handeln auf der anderen Seite, nicht denken lassen. Der Schnitt muss anders gesetzt werden. Mit den in der Analyse der Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille gewonnenen Mitteln wurde deutlich, dass Bewertung und Motivation (bzw. Handeln im Falle des Wollens) nicht auseinanderzunehmen sind, sondern zusammengehören, und dass es sinnvoll ist, Wollen gerade darüber von anderen Erscheinungsformen praktischer Einstellungen abzugrenzen. Für das Wollen ist kennzeichnend, dass Bewerten und Tun zusammenfallen. Und es ist davon die große Vielfalt der Erscheinungsformen zu differenzieren, in denen Bewerten und Tun auseinanderfallen. Mit den kantischen Überlegungen können diese Erscheinungsformen in ihrer dynamischen Struktur verstanden werden und Wittgenstein eruiert das eigentümliche Zusammenfallen von Wollen und Handlung, eine Einsicht, die in der Handlungstheorie im Anschluss an Wittgenstein aufrechthalten wird. Die rationalistischen »internalistischen« Positionen, die einen engen Zusammenhang zwischen dem praktischen Urteil und dem Handeln verteidigen, referieren teilweise auf den kantischen Willensbegriff in der Grundlegung, für den der analytische Zusammenhang zwischen dem Wollen des Zwecks und dem Wollen der dafür erforderlichen Mittel charakteristisch ist. Wenn nun gleichzeitig am Phänomen der Willensschwäche als Unterbrechung dieses engen Zusammenhangs festgehalten wird, dann scheint mir darin eine Inkonsequenz zu liegen. Der enge Zusammenhang soll gelten, aber es sollen auch Ausnahmen möglich sein. Folgt man der kantischen Erforschung der Struktur des Wünschens, dann ist eine andere Konsequenz zu ziehen. Es handelt sich im Falle der Abweichung von einem praktischen Urteil oder vermeintlichen praktischen Urteil gar nicht um Wollen, sondern um etwas anderes und damit Verwechselbares, nämlich um Wünschen. Wünschen ist keine Überwältigung von Leidenschaften, keine psychische Unfähigkeit, sondern etwas rational durchaus Aufhellbares, sehr häufig Vorkommendes, das entdramatisiert und »entirrationalisiert« werden muss. Ob die gewünschten Sachverhalte realisierbar sind oder nicht, ist oft gar nicht vor dem Versuch der Realisierung festzustellen. 23 Deshalb sollte das Kritisch gegenüber dem Konzept der Willensschwäche argumentiert Demmerling und er problematisiert dabei besonders die vorausgesetzte Gewissheit über die verfolgten Ziele: »Willensschwach bzw. irrational ist eine der Handlungsalternativen
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Willensschwäche in der Kritik
Charakteristikum der großen Vielfalt von Wünschen darin gesehen werden, dass im Falle von Wünschen von der Realisierung abgesehen wird. Es kommt hierbei auf die Vorstellung des Sachverhaltes an, der positiv bewertet wird. In der Konsequenz müsste die Aufmerksamkeit auf die inneren Prozesse abgelöst werden durch die Konzentration auf die Rückwirkungen zwischen Intentionen und Realisierungsschritten. Es werden entweder komplizierte innere Prozesse geschildert, die, wie ausgeführt, teilweise an die psychologischen Philosophen des 19. Jahrhunderts erinnern lassen. Oder die Abläufe werden nach dem Modell des deduktiven Schließens dargestellt und es ist ein Gebot des Rationalen, dass die Konklusion auch wirklich gezogen wird. Hierbei wird Handeln als etwas verstanden, das einen gedanklichen Inhalt in eine andere Modalität versetzt, nämlich in die physische und psychische Wirklichkeit. Die Reduktion auf das Mentale und Rationale aber ist zurückzunehmen und die Dynamiken des Zusammenspiels mit anderen Faktoren sind zu untersuchen. Erst dann wird sichtbar, dass Intentionen aber auch praktische Urteile eine konstitutive Vorläufigkeit und Unbestimmtheit haben. Der Blick auf die Debatte zur Willensschwäche hat gezeigt, dass es zu jeder sachlichen Debatte gehört, unterscheidungskritische Argumentationen zu verwenden. Es sind in dem Zusammenhang drei Figuren dargestellt worden, erstens die Kritik an nicht tragfähigen Abgrenzungen, zweitens die Einbeziehung von Weisen der Unterscheidung in die sachliche Diskussion und drittens die Neubestimmung der Seiten einer Unterscheidung oder deren gänzliche Ersetzung durch eine andere. Die Ordnung von Positionen nach starker Untrennbarkeit, schwächerer Untrennbarkeit und Trennbarkeit übersetzt die üblichen Bezeichnungen wie »Internalismus« und »Externalismus« zunächst nur in eine »Unterscheidungssprache«. Diese ist allgemeiner und legt die Diskussion noch nicht auf die Semantik eines Bereiches fest. Dies erhöht die Vergleichbarkeit und den Blick auf die nur dann, wenn von vornherein Gewissheit über das Ziel besteht, welches man eigentlich verfolgt. Um das abendliche Ausgehen oder nächtliche Aufstehen als irrational zu bezeichnen, muss also von vornherein unterstellt werden, dass die betreffenden Personen eigentlich etwas anderes wollen, nämlich sich auf die Prüfung vorbereiten bzw. möglichst ausgeruht sein.« Vgl. Christoph Demmerling, »Gründe, Gefühle, Willensschwäche. Eine philosophische Skizze«, in: B. Boothe/A. Cremonini/ G. Kohler (Hg.), Psychische Struktur und kollektive Praxis. Regulierung und der Raum der Gründe, Würzburg 2012, S. 85–101, S. 97.
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3 · Kritik: Handlungen bestehen nicht aus zwei Komponenten
methodischen Entscheidungen. Damit ist bisher vor allem der rekonstruktive Teil der unterscheidungskritischen Arbeit im Blick, für den die synchrone Funktion des Ordnens charakteristisch ist.
3.2 Kritik an der Reduktion von Wünschen auf Präferenzen Wünsche werden auch als Präferenzen verstanden, die verschiedene Stärkegrade haben können; sie bilden dann ein Kontinuum von verschiedenen Stärken, von schwachen Wünschen bis zu sehr starken Wünschen. Die »Stärke« eines Wunsches bemisst sich an dessen kausaler Wirksamkeit. Ein Wunsch ist stärker als ein anderer, wenn (im Falle der Theorien, die Wünsche als Handlungsdispositionen verstehen) die Tendenz, den gewünschten Inhalt durch Handlungen zu realisieren, bei Wunsch A höher ist als bei Wunsch B oder wenn (im Falle der Theorien, die Wünsche als Lustgefühle verstehen) der Grad an Lustempfindungen bei Wunsch A größer ist als bei Wunsch B oder wenn (im Falle der Theorien, die Wünsche als Wahrnehmungen von Güte verstehen) das Ausmaß an wahrgenommener Güte bei Wunsch A das bei Wunsch B übersteigt. Diese Unterscheidung von Stärkegraden ist der präferenztheoretischen Auffassung von Wünschen zufolge ausreichend, um verschiedene Formen des Wünschens zu differenzieren. Es ist mit Rekurs auf die Stärkegrade möglich, verschiedene Ausdrücke für stärkeres und schwächeres Wünschen einzuführen. Starkes Wünschen könnte man vielleicht »Entschluss« und schwaches Wünschen vielleicht ein »Sehnen« nennen. Es reicht die quantitative Differenzierung von Stärkegraden und es ist keine qualitative Differenzierung nötig, wie die zwischen solchen Wünschen, die ein Akteur zu den seinen macht, und solchen, mit denen sich ein Akteur beschäftigt und die er vielleicht auch artikuliert, mit denen er sich aber nicht identifiziert. Die Unterscheidung zwischen Wollen und Wünschen, wie sie im Anschluss an Kant und an Wittgenstein analysiert wurde, würde in diesem Modell aufgelöst werden in eine graduelle Unterscheidung. Wollen ist ein hoher Grad von Wünschen, der eine starke Disposition zu handeln darstellt, mit einem hohen Grad von Lust verbunden ist und dessen Inhalt dem wünschenden Subjekt als gut erscheint. Damit ist ein weiterer Vorschlag gemacht, die literarische Beschreibung aus dem ersten Kapitel zu verstehen: Der Protagonist hat in der 264 https://doi.org/10.5771/9783495817360 .
Kritik an der Reduktion von Wünschen auf Präferenzen
ersten Szene einen schwachen Wunsch, am nächsten Tag mit dem Schreiben zu beginnen. Er konkurriert mit anderen Wünschen, wie dem, der Anstrengung des Schreibens aus dem Weg zu gehen oder den Morgen mit Ausschlafen im Bett zu verbringen. Die anderen Wünsche sind stärker und er zieht die anderen Wünsche dem deklarierten Wunsch vor und präferiert es, den Morgen mit Ausschlafen im Bett zu verbringen. In der zweiten Szene hat der Protagonist einen starken Wunsch zu schreiben. Die Stärke eines Wunsches zeigt sich oft an der Art, wie mit Hindernissen umgegangen wird. Hier wird die Stärke des Wunsches daran augenfällig, dass der Wünschende über die auftauchenden Hindernisse hinweggeht und sein Wunsch dadurch keinen Abbruch erleidet. Diese veränderte Darstellung hat eine hohe Plausibilität und scheint begrifflich »sparsamer« zu sein als die Darstellung, die auf die Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille zurückgreift. Wenn nun aber die Darstellung unter Verwendung der Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille einen der Ausgangspunkte dieses Teils darstellt, ist damit eine kritische Pointe gegen die alternative Darstellungsmöglichkeit verbunden. Beschreibungen oder begriffliche Verarbeitungen von Beschreibungen sind immer im Horizont von Alternativen verfasst und in der Entscheidung für eine der Möglichkeiten liegt ein kritisches Beschreibungen inhärentes Moment. Beide Modellierungen lassen sich auch mit hoher Plausibilität auf die zweite Beschreibung übertragen. Beginnen wir mit der Anwendung des weiten Wunschbegriffes und der Vorstellung der quantitativen Graduierung von Wünschen. Auch die konstruierte Situation der zweiten Beschreibung des ersten Kapitels lässt sich leicht mit Hilfe eines graduellen Verständnisses von Wünschen darstellen. Die Wünsche von Frau Wollen und Herrn Wunsch waren verschieden stark. Frau Wollen war bereit, Risiken in Kauf zu nehmen, denn ihr Wunsch, Herrn Not zu unterstützen, war sehr stark. Dies ist im Falle von Herrn Wunsch anders. Sein Wunsch, Herrn Not zu unterstützen erweist sich als schwächer als der Wunsch, kein Risiko einzugehen. Herr Wunsch präferiert es, kein Risiko einzugehen gegenüber der Option, Herrn Not zu unterstützen, was möglicherweise die Konsequenz hätte, dass Schwierigkeiten mit der Chefin aufträten. Würden die beiden Szenen der ersten Beschreibung nun unter der Perspektive von quantitativen Differenzen gelesen, dann würden die Verhaltensweisen des Protagonisten in der ersten Szene als (ein möglicher) Ausdruck von geringem Krafteinsatz und die Verhaltens265 https://doi.org/10.5771/9783495817360 .
3 · Kritik: Handlungen bestehen nicht aus zwei Komponenten
weisen des Protagonisten in der zweiten Szene als (ein möglicher) Ausdruck von hohem Krafteinsatz gedeutet. Das ist sicher eine mögliche Lesart oder Akzentuierung der Texte, die aber die dargestellten Verhaltensweisen nicht als spezifisch für die geringere Quantität des Wunsches deuten. Die geringere Quantität muss sich irgendwie äußern und Varianten von Lethargie sind gute Beispiele, die bei Vorstellungen, die man sich im Bett liegend von möglichen Aktivitäten macht, besonders plastisch werden. Die höhere Quantität dagegen zeigt sich vor allem an der Bereitschaft, sich Schwierigkeiten auszusetzen und diese zu meistern. Dies stellt ein paradigmatisches Kriterium für höhere Quantität dar. In dieser Akzentuierung wären die beiden Szenen Beispiele für Quantitäten und der Fokus läge auf der Differenz »Lethargie« versus »Sich-Schwierigkeiten-Aussetzen«. Die im ersten Kapitel vorgeschlagene Akzentuierung braucht wesentlich mehr Details für die Darstellung der beiden qualitativ verschiedenen Verhaltensformen. Die Beschränkung der quantitativen Lesart liegt darin, die Detailschärfe zurückzunehmen und dadurch die verfügbaren Auswertungsraster grob zu gestalten. Es gibt eine Reihe von Vorschlägen, das differenzierte Feld des Begehrens so zu analysieren, dass hier ein Zustand des Geistes vorliegt, der ohne Zweifel in sehr verschiedenen Spielarten vorkommt. Ein Vorschlag ist der, dies alles »proattitude« zu nennen oder eben »Wünsche« (desire). Wünsche äußern sich in Handlungstendenzen, in bestimmten Gefühlen und Gedanken. Der Wunsch, Eis zu essen, zeigt sich zum Beispiel als Tendenz, nach Eisdielen Ausschau zu halten, an den Lustgefühlen, die durch die Vorstellung von Eis entstehen und an Gedanken, die den Wert des Eis-Essens betreffen können, wie z. B. dass es jetzt gut für mich ist, Eis zu essen, weil ich eine kleine Pause und eine Süßigkeit gebrauchen kann, oder die rund um die Beschaffung von Eis kreisen, wie z. B. ob das Geld reicht, ob der Umweg zur Eisdiele nicht mit dem nächsten Termin kollidiert usw. In den verschiedenen Theoretisierungen von Wünschen wird versucht, das spezifische Merkmal von Wünschen zu bestimmen, sei es als Tendenz oder Disposition zu handeln 24, oder 24 Timothy Schroeder nennt in seinem Überblicksartikel »Desire« in der Stanford Encyclopedia of Philosophy zuerst die »action-based theories of desire« und beginnt diesen Abschnitt mit Anscombes berühmter Wendung: »The primitive sign of wanting is trying to get« aus Anscombes Intention, a. a. O., S. 68. Schroeder führt aber
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Kritik an der Reduktion von Wünschen auf Präferenzen
als Ausrichtung auf Lust 25 oder als Wahrnehmung, etwas sei gut 26. Bisher sind Präferenzsituationen beschrieben worden, in denen sich die verschiedenen Stärkegrade der Wünsche zeigen. Wenn verschiedene Wünsche in einer Situation gegeneinanderstehen und beide Wünsche durch verschiedene Handlungen realisiert werden bzw. sich die die Wünsche realisierenden Handlungen gegenseitig ausschließen, beide Wünsche also nicht gleichzeitig erfüllt werden können 27, dann ist eine Entscheidungssituation entstanden. Die Stärkegrade der Wünsche sind der Grund dafür, Wunsch A (im Bett liegen zu bleiben bzw. im Teamgespräch nichts zu sagen) gegenüber Wunsch B (morgen mit dem Schreiben zu beginnen bzw. Herrn Not zu unterstützen) zu präferieren. Wie verhalten sich Wünsche und Präferenzen? Sind Wünsche Präferenzen oder ist hier ein Unterschied zu machen? Wünsche werden als mentale Zustände analysiert und Präferenzen als mentale Tätigkeiten. Beides scheint eng zusammenzugehören, ist eines von beidem möglicherweise elementarer? In der Entscheidungstheorie wird behauptet, dass Präferenzen elementarer seien. Etwas zu präferieren gilt als menschliche Grundtätigkeit, zwischen verschiedenen Optionen zu wählen. In der Wahl des Wunsches A zeigt sich die Präferenz des Wunsches A gegenüber dem Wunsch B. 28 Die basale menschliche Einstellung wäre demnach die der Präferenz. Zu einer Präferenz hat man unmittelbar Zugang und auch Michael Smith als Vertreter an, z. B. in: Michael Smith, »The Humean Theory of Motivation«, in: Mind 96 (1987), S. 36–61. Diese Zusammenstellung von Anscombe und Smith ist überraschend und wird der Tragweite von Anscombes Diktum m. E. nicht gerecht. Würde man die Einteilung von Seebaß heranziehen, ergäbe sich eine Zuordnung von Anscombe zu Modell I und von Smith zu Modell IIa. 25 Schroeder nennt als zweite Gruppe von Theorien des Wünschens die »pleasurebased theories of desire«, vertreten durch: George F. Schueler, Desire: Its Role in Practical Reason and the Explanation of Action, Cambridge, MA, 1995, sowie Galen Strawson, Mental Reality, Cambridge, MA, 1994. 26 Als dritte Gruppe führt Schroeder die »good-based theories of desire« an, vertreten z. B. durch Dennis Stampe, »The authority of desire«, in: Philosophical Review 96 (1987), S. 335–381, sowie Graham Oddie, Value, Reality, and Desire, New York 2005. In seinem Überblick über verschiedene Theorien von Wünschen (desires) nennt Schroeder noch weitere Ansätze, wie die von Scanlon vertretenen »attention-based theories of desire«, Thomas M. Scanlon, What We Owe to Each Other, Cambridge, MA, 1998, oder die »learning-based theories of desire«, die er selber favorisiert. Vgl. dazu Schroeder, Three Faces of Desire, Oxford 2004. 27 Vgl. zu den Stärkegraden von Wünschen, ebd., S. 13. 28 Vgl. z. B. Christoph Fehige/Ulla Wessels, »Preferences – an Introduction«, in:
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kann sie benennen, wie aber ist ein Zugang zum Stärkegrad eines Wunsches vorstellbar? Demgegenüber behaupten viele, dass die basale Einstellung die des Wünschens sei. Denn es lassen sich Präferenzen aus gegebenen Stärkegraden von Wünschen ableiten, d. h. Präferenzen scheinen abhängig von diesen Stärkegraden von Wünschen zu sein. John Pollock argumentiert gegen den Vorrang von Präferenzen mit dem Hinweis darauf, dass die Stärkegrade von Wünschen nur aus einer großen Anzahl aus paarweisen Präferenzen zu erschließen seien, es müssen also Billionen von elementaren Präferenzen angenommen werden, dagegen nur einige hunderte von elementaren Wünschen. 29 Hier setzt nun die Kritik an der Zurückweisung der Unterscheidung zwischen Wünschen und Wollen an: Von den Beschreibungen her scheint sich in dieser Frage eine Neigung für die Elementarität von Präferenzen zu ergeben. Die Stärke von Wünschen zeigt sich nicht nur in der Konfrontation mit anderen Wünschen, sondern ergibt sich aus dieser. Am Nachmittag des ersten Tages ist der Wunsch, morgen mit dem Schreiben zu beginnen, ausgesprochen stark. Oder im Gespräch mit Frau Wollen scheint Herrn Wunschs Wunsch, den Kollegen Not zu unterstützen, stärker zu sein, als in der Gesprächssituation, in der der Wunsch, sich nicht mit der Chefin zu überwerfen, seine volle Stärke bekommt. So betrachtet, sind aber weder Wünsche noch Präferenzen (psychologische) Fakten, also isolierte Phänomene im »volitionalen Haushalt« eines Subjekts. Wünsche und Präferenzen zeigen oder aktualisieren sich nicht nur in Situationen der Konfrontation von Wünschen, sondern entstehen in Reaktion auf situative Anforderungen. Selbst die Übersetzung der Beschreibungen in ein Vokabular des Wünschens und Präferierens scheint einen Rest zu lassen, der mit Hilfe der Theoretisierung von Wünschen und Präferenzen als (psychische) Fakten nicht aufgeht. Es ist dieser Rest, der einen Anlass gibt, zwischen Wollen, das Situationen der Entfaltung sucht, und Wünschen, das in der Vorstellung dieser Situationen verbleibt, zu unterscheiden. In dem Theorieansatz, der Wünsche als Dispositionen zu handeln konzeptualisiert, bleibt unklar, wie solche Wünsche verständlich C. Fehige/U. Wessels (Hg.), Preferences, Berlin/New York 1998, S. XX–XLIII; vgl. auch Kusser, Dimensionen der Kritik von Wünschen, a. a. O. 29 John Pollock, Thinking about Acting: Logical Foundations for Rational Decision Making, Oxford, 2006, S. 24 ff.
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Kritik an der Reduktion von Wünschen auf Präferenzen
gemacht werden können, die sich auf etwas richten, was nicht realisierbar ist, wie der Wunsch, nie geboren worden zu sein oder der Wunsch, dass ein Komitee für mich entscheiden möge, egal was ich tue. 30 Sind solche Wünsche keine Wünsche mehr? Dieser theoretische Ansatz muss entweder die Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille einführen oder eine Grenze der Theorie anerkennen, die unbefriedigend ist, weil zu viel herausfällt. Das Problem ist aus der Analyse der Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille bei Kant bekannt und hat zu erheblichen Anstrengungen geführt, die Art der Definition des Begehrungsvermögens zu präzisieren und die Struktur von Wünschen und die Struktur des Willens ins Verhältnis zu setzen. Im Rahmen dieses Theorieansatzes könnte man nun so vorgehen wie Kant und sagen, dass der Handlungsbezug der Wünsche im weiten Sinne (kantisch: Begehren) als Sinnbedingung gelten muss und dass der Handlungsbezug erst zu verstehen ist mit Hilfe der Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille, die für die beiden Möglichkeiten des Gelingens und Nichtgelingens steht. Die angedeutete Kritik geht dahin, das skizzierte Modell des Wünschens in der Anwendung auf die beschriebenen Situationen als unterkomplex zu problematisieren. Die Darstellung der Szenen mit Hilfe von Stärkegraden von Wünschen ist möglich, aber es bleibt Vieles unterbestimmt und unausgelotet. Es fehlt eine erschließende Unterscheidung, es wird »unterunterschieden« (underdistinguish), d. h. es gehen Unterscheidungen verloren. Was ist das genau, das verloren geht? In der ersten Beschreibung kommt es darauf an, einen wichtigen Strukturunterschied zu zeigen. Die eine Seite bilden Wünsche, die bestimmte Gefühle auslösen und mit bestimmten Gedanken verbunden sind und wegen des hohen emotionalen Intensitätsgrades Dispositionen zu handeln zu sein scheinen. Obwohl die äußeren Bedingungen für die Aktualisierung dieser Disposition gegeben sind, kommt es nicht zur Handlung, die den Inhalt des Gewünschten realisieren kann. Es fallen also Fühlen, Denken und Handeln auseinander. Die andere Seite bildet das Wollen, das als Gestalten der Situation verstanden wird, was natürlich auch mit Gefühlen und Gedanken verbunden ist. Handlungen sind Ausdrucksformen von Personen und nicht primär kausale Wirkungen von Wünschen. In der zweiten Beschreibung wird die Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille zur 30
Vgl. Schroeder, Three Faces of Desire, a. a. O., S. 15 ff.
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3 · Kritik: Handlungen bestehen nicht aus zwei Komponenten
moralischen Kritik gebraucht. Der Vorwurf, dass Herr Wunsch bloß gewünscht hat, Herrn Not im Gespräch zur Seite zu stehen, ist der, dass ein selbstgesetzter Anspruch nicht erfüllt wurde. Ein solcher Vorwurf kann bei einem deskriptiven Begriff von Wünschen als faktisch vorliegender Stärkegrade gar nicht erhoben werden. Es geht also eine wichtige Differenz verloren, die tief in der Praxis unserer moralischen Interaktion verwurzelt ist. Von einigen Vertretern der kritisierten Aufhebung der Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille zugunsten eines einheitlichen Wunschbegriffes mit einem Spektrum von Stärkegraden wird nun der Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille, im Sinne von Wittgenstein als zweigliedrige Unterscheidung oder im Sinne von Kant als Unterscheidung von drei Formen des Begehrens nach Begriffen, nämlich Willkür, Wunsch und Wille, der gegenteilige Vorwurf gemacht, eine Unterscheidung zu treffen und für wichtig zu halten, die nur scheinbar einen Unterschied macht. Es werde »überunterschieden« (overdistinguish), d. h. eine Unterscheidung verwendet, die kein Fundament in der Sache hat und sich als rein verbaler, nur scheinbarer Unterschied erweist. In beiden kritischen Figuren, der Figur des Unterunterscheidens und der des Überunterscheidens wird Bezug auf »die Sache« genommen. Im Falle des Unterunterscheidens kommt »die Sache« nicht zur Geltung, genauer die Unterschiede, die die Sache ausmachen und im Falle des Überunterscheidens haben die rein verbalen Unterscheidungen kein Fundament in »der Sache«. Was ist nun diese Sache, bei der beide Parteien für sich reklamieren, ihre Unterscheidung und ihre Nicht-Unterscheidung, mit gegensätzlichen Konsequenzen, im Dienste der Sache zu vollziehen? Mit Versicherungen, dass die Wirklichkeit doch so oder so sei, dass es doch diese oder jene Unterschiede gebe, ist nicht weiter zu kommen. Hier tun sich grundsätzliche Fragen über das Verständnis von Wirklichkeit auf. Der Rekurs auf das Bestehen oder Nichtbestehen von Unterschieden ruft diese grundsätzliche Diskussion auf, die Überlegungen nötig macht, die eher realistische oder idealistische Gedankenfiguren bemühen. Vor diesem philosophischen Hintergrund will ich als Kriterium für angemessene Unterscheidungen deren Erschließungskraft für Situationen und die Eröffnung von Handlungsmöglichkeiten sowie deren philosophische Konsequenzen geltend machen.
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Sachliche und methodische Konsequenzen aus der Kritik
3.3 Sachliche und methodische Konsequenzen aus der Kritik: Verschiebung der Aufmerksamkeit auf einen einfachen Begriff des Handelns Die Kritikpunkte an der Diskussion über Willensschwäche wie auch am Präferenzmodell sind ähnlich: Problematisch sind die rahmensetzende Unterscheidung zwischen Innen und Außen, die Isolation von zwei Komponenten und die damit verbundene Annahme der Bestimmtheit des praktischen Urteils bzw. der Intention oder der Präferenz. Diese kritischen Punkte verweisen auf eine Alternative, die mit den Rekonstruktionen der Gedankenbewegungen Kants und Wittgensteins bisher nur vorbereitet und nicht ausgeführt ist. Vor allem im Anschluss an die Überlegungen Wittgensteins ergibt sich die Kontur einer neuen Aufgabe, nämlich der Handlungswirksamkeit des Wollens und dessen Dynamiken konkret nachzugehen und diese nicht nur abstrakt zu behaupten. Dafür ist eine Darstellungsform nötig, in der die praktischen Vollzüge aufgewiesen werden können. Wittgensteins szenische Anweisungen implizieren die Forderung, das Zusammenspiel von Textpragmatik und begrifflicher Arbeit viel stärker als üblich einzubeziehen. Die Aufmerksamkeit muss also verschoben werden auf die Handlungswirksamkeit des Wollens selber und damit auf den Begriff der Handlung. Der Begriff der Handlung ist so zu entwerfen, dass die in der Kritik in Anspruch genommene Alternative wirklich ausgeführt wird. Es ist nach einer Darstellungsform zu suchen, in der die rahmensetzende Unterscheidung zwischen Innen und Außen selber problematisch wird und in der die systematische Verbindung zwischen dem geistigen, also planenden und bewertenden Moment und dem mit den Körpern verbundenen motivationalen und realisierenden Moment aufgewiesen wird. Dafür ist es entscheidend, die Annahme der Bestimmtheit dieses geistigen Momentes aufzugeben. Die mögliche Diskrepanz zwischen den beiden genannten Momenten, die in der Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille begrifflich verdichtet ist, dient dabei in gewisser Weise geradezu als Maßstab für das Gelingen der Darstellung. Die systematische Verbindung zwischen den beiden Momenten muss so entwickelt werden, dass solche Diskrepanz- und Differenzerfahrungen nicht zu Randphänomenen werden oder als Beleg dafür genommen werden, dass menschliches Handeln aus zwei Komponenten besteht oder in zwei Phasen unterteilt wird, die linear aufeinander folgen. 271 https://doi.org/10.5771/9783495817360 .
3 · Kritik: Handlungen bestehen nicht aus zwei Komponenten
Die Aufgabe dieses Abschnitts ist es, die Durchführung dieses Entwurfs in zwei Hinsichten vorzubereiten und dadurch die sachlichen und methodischen Konsequenzen der Kritik zu ziehen. Erstens wird der handlungstheoretische Theoriekontext vorgestellt, vor dessen Hintergrund meine Durchführung im vierten Kapitel dieses Teils erfolgt (3.3.1 Anschlussmöglichkeiten an die dialektische Handlungstheorie Hegels). Und zweitens wird im Anschluss daran der methodische Vorschlag entwickelt, über praktische Begriffe und Verhältnisse so nachzudenken, dass dabei Erfahrungen evoziert und reflektiert werden (3.3.2 Zur Darstellungsform: Dialektische Erfahrungen).
3.3.1 Anschlussmöglichkeiten an die dialektische Handlungstheorie Hegels Charles Taylor hat einen großen Schnitt vollzogen und die handlungstheoretische Theorielandschaft in zwei sehr grundsätzlich verschiedene Herangehensweisen aufgespalten. Als erste Familie von Theorien sind solche zusammengefasst, in denen Handlungen als Ereignisse verstanden werden, die von anderen Ereignissen durch die Art ihrer (psychologischen) Verursachung unterschieden sind. Demgegenüber steht eine zweite Familie von Theorien, in denen Handlungen als grundlegende Sachverhalte verstanden sind, deren Aspekte »Absicht« und »körperliche Bewegung« ontologisch nicht trennbar sind. Die erste Familie nennt Taylor »kausale Theorien«, die Handlungen als zusammengesetzt aus einem nicht weiter differenzierten Ereignis und einer bestimmten Art von Ursache, einem mentalen Ereignis wie einem Wunsch (desire) oder einer Intention, analysieren. 31 Es sind diese mentalen Ereignisse, die als primitive Größen der Theorie fungieren. Die zweite Familie bezeichnet Taylor als »qualitative Theorien«, in denen Handlungen qualitativ von Nicht-Handlungen unterschieden werden. »Handlung« hat den Status eines Grundbegriffs. »Zwecke« und »Mittel« sind qualitative Aspekte von Handlungen und haben unabhängig von Handlungen keine Bedeutung. Während Taylor Davidson als einen der Hauptvertreter der ersten Familie ansieht, deren Wurzeln im 17. Jahrhundert liegen, gehören zur zweiten Familie in der neueren Diskussion Wittgenstein und Charles Taylor, »Hegel and the Philosophy of Action«, in: L. L. Stepelevich/ D. Lamb (Hg.), Hegels Philosophy of Action, New Jersey 1983, S. 1–18.
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Sachliche und methodische Konsequenzen aus der Kritik
Anscombe. Heute wird der daraus entstandene Deutungsansatz meist als »antikausalistische, askriptivistische Handlungstheorie« bezeichnet. 32 Taylor trifft diese Unterscheidung in einem Aufsatz über Hegels Handlungstheorie und Hegel wird darin als klarer Vertreter der zweiten Familie eingeschätzt. Ich will auf die Deutungsmöglichkeiten des spezifischen Beitrags von Hegel zu dieser Frage im Folgenden näher eingehen. Denn die hegelsche Herangehensweise scheint mir einen aussichtsreichen Ansatzpunkt für die Beschäftigung mit den Dynamiken der Handlungswirksamkeit des Wollens anzubieten. Die hegelsche Handlungstheorie ist in der früheren Hegelforschung vereinzelt thematisiert worden 33, ist aber erst durch den Versuch, die intensiven handlungstheoretischen Debatten der analytischen Philosophie auf klassische Texte zu beziehen, zu einem breiteren Thema geworden. Der Eröffnungstext für diese Diskussion ist der angeführte Aufsatz von Taylor Hegel and The Philosophy of Action von 1983, durch den ein neues Forschungsfeld für die Hegelforschung und die Handlungstheorie aufgespannt wurde. Die beiden programmatischen Thesen, dass die Theorie des Handelns einen vielversprechenden Zugang zum Ganzen der Philosophie Hegels darstellt und dass Hegel einen wichtigen Beitrag zur anti-kausalistischen Handlungstheorie leistet, sind mittlerweile in vielen Beiträgen differenzierter weiterentwickelt oder auch der kritischen Prüfung unterzogen worden. In einem 2010 erschienenen Sammelband Hegel on Action 34 drucken die beiden Herausgeber Arto Laitinen und Constantine Sandis Taylors Beitrag folgerichtig als ersten wieder ab und versammeln dann Beiträge derer, die dies neue Forschungsfeld in der Zwischenzeit vorangetrieben haben. Diese Handlungstheorie der Wittgenstein-Schule wird untersucht von Mazuga, Ausdruck und Zuschreibung: Konzeptionen des menschlichen Handelns bei H. L. A. Hart, Elizabeth Anscombe und A. I. Melden, a. a. O. 33 Vgl. Josef Derbolav, »Hegels Theorie der Handlung«, in: Hegel-Studien 3 (1965), S. 209–223. Derbolav stellt in dem Text eine Lektüre der ersten beiden Abschnitte des Moralitätskapitels der Rechtsphilosophie vor, in der viele interessante Beobachtungen vorkommen, der aber ein Diskussionskontext fehlt, in dem diese ihre Relevanz entfalten können. Vgl. auch Reiner Wiehl, »Über den Handlungsbegriff als Kategorie der hegelschen Ästhetik«, in: Hegel-Studien 6 (1971), S. 135–170. Wiehl gibt erst eine längere Darstellung von Hegels Ästhetik und von der Stellung der Kunst im hegelschen System und zeigt, inwiefern der Begriff der Handlung für die Analyse ästhetischer Prozesse zentral ist. 34 Taylor, »Hegel and the Philosophy of Action«, in: A. Laitinen/C. Sandis (Hg.), Hegel on Action, Hampshire 2010, S. 22–41. 32
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3 · Kritik: Handlungen bestehen nicht aus zwei Komponenten
Solche großen und klaren Schnitte zwischen Theorieformen, wie sie Taylor vornimmt, haben die Stärke, grundlegende philosophische Profile sichtbar zu machen. Ihre Schwäche liegt darin, dass die Vielfalt der Ausprägungen auf beiden Seiten und die vorliegenden Integrationsversuche dabei aus dem Blick geraten. Ich will einige der Beiträge nennen, die in den Bahnen von Taylor weiterarbeiten und diese weiter entfalten, und auf der anderen Seite solche, die den Unterscheidungsvorschlag Taylors von zwei verschiedenen Theoriefamilien explizit oder implizit zurückweisen. Taylor und Pippin entwerfen eine Handlungstheorie Hegels, die in ihren Grundbegriffen anders ansetzt als die meisten Entwürfe heute. Sie deuten Anschlüsse an die handlungstheoretischen Überlegungen Wittgensteins und Anscombes an und zeigen das kritische Potenzial von Hegels Ansatz. Taylor betont dabei besonders den Gedanken der Expression, d. h. der Handlung als Äußerung eines Inneren, das darin erst zu etwas Bestimmtem wird. Einige zum Teil auch sehr einflussreiche Beiträge zu diesem neuen Forschungsfeld der hegelschen Handlungstheorie scheinen demgegenüber der Taylor’schen Opposition von Theoriefamilien und seiner Zuordnung von Hegels Handlungstheorie zur zweiten Familie direkt zu widersprechen. Michael Quantes Arbeit 35 ist die erste, die die entsprechenden Abschnitte des Moralitätskapitels in der Rechtsphilosophie als wichtigen Teil von Hegels Handlungstheorie ausbuchstabiert hat. Damit ist eine Lesart entstanden, die sich etabliert und viele daran anschließende Arbeiten hervorgebracht hat. Ein wichtiges Ziel ist es dabei, die Kompatibilität von Hegels Konzeption mit Davidsons Handlungstheorie zu zeigen. Folgerichtig untersucht Quante viele der »Verzweigungen«, die Taylor vom Handlungsbegriff her zu anderen grundlegenden Überlegungen Hegels skizziert, nicht weiter. Dies gilt vor allem für den Begriff der Äußerung, dem Taylor für Hegels Theorie der Expressivität allerhöchste Bedeutung zumisst. In dem Sammelband von Laitinen und Sandis finden sich ebenfalls Beiträge, die diese Opposition von Theorien sowie die Taylorsche Zuordnung Hegels explizit bestreiten. So versucht Dudley Knowles eine »qualifizierte kausale« Lesart von Hegel zu präsentieren, bei der Fälle des Scheiterns bei der Verwirklichung von Intentionen als Indizien für die metaphysische Isolierbarkeit von Intentionen und Ereignissen gedeutet werden. 36 Und 35 36
Michael Quante, Hegels Begriff der Handlung, Stuttgart-Bad Cannstatt 1993. Vgl. Dudley Knowles, »Hegel on Actions, Reasons and Causes«, in: A. Laitinen/
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Sachliche und methodische Konsequenzen aus der Kritik
obwohl Brandom den Gedanken der Expressivität als Zentralkonzept der hegelschen Philosophie aufnimmt, weiterentwickelt und gewissermaßen als Philosophie der Explikation exegetisch und systematisch ausarbeitet, scheint auch er der Taylorschen Zuordnung zu widersprechen. In seinem Manuskript zur Phänomenologie des Geistes, A Spirit of Trust 37, gibt er im ersten Stück seines Kommentars zu den handlungstheoretischen Passagen in der Phänomenologie des Geistes eine allgemeine Charakterisierung des hegelschen Handlungsbegriffes. Hier finden sich wichtige Pointierungen, auf die ich im Folgenden Bezug nehmen werde. Brandom versucht, diese allgemeine Skizze im zweiten Stück mit analytischen Mitteln Davidsons plausibel zu machen. Dabei konzentriert er sich auf Davidsons Anschlüsse an Anscombes’ These von der Beschreibungsabhängigkeit von Absichtlichkeit. Davidsons Überzeugungs-Wunsch-Modell ist eine neben anderen möglichen Weisen, Verhalten zu beschreiben. »Unter dieser Beschreibung« wird das Verhalten als Handlung rationalisiert. Dennoch hält Davidson an der von Anscombe kritisierten Kausalitätsannahme für Handlungen und Handlungsgründe fest. Brandom macht den Versuch, Hegels Unterscheidung zwischen Tat und Handlung aus der Rechtsphilosophie mit Hilfe dieser Vielfalt möglicher Beschreibungen plausibel zu machen. Bei der Lektüre fragt sich, warum Brandom dabei nicht direkt an Anscombe und ihren handlungstheoretischen Ansatz anschließt. Ein möglicher Grund scheint mir vor allem theoriestrategischer Natur zu sein. Der Rückbezug auf Davidson kann als Kritik an Taylors Zuordnung von Hegel zum Lager der »Antikausalisten« gelten. Im Streit um diese Gegenüberstellung und die Zuordnung Hegels geht es auch darum, inwiefern Hegels Beitrag mit gegenwärtigen Vorschlägen vermittelt werden soll oder wie sehr er als Kritiker solcher Ansätze rezipiert wird, die als moderne Formen von rationalistischen und empiristischen Theorien gelten können. Deren Merkmale C. Sandis (Hg.), Hegel on Action, Hampshire 2010, S. 42–58. Vgl. auch Dudley Knowles, Hegel and the Philosophy of Right, London 2002. So wichtig es ist, allgemeine Kontrastierungen und Einteilungen kritisch zu befragen, scheint mir durch einen Versuch wie diesen das Grundanliegen Hegels aus den Augen zu geraten und seine Ausführungen über menschliches Handeln abgelöst zu werden von philosophischen Einsichten, auf denen diese fußen. 37 Die Manuskripte sind unter: Robert Brandom, A Spirit of Trust: A Semantic Reading of Hegel’s ›Phenomenology‹. Draft of ›A Spirit of Trust‹ (online): http://www.pitt. edu/~brandom/spirit_of_trust.html im Internet einsehbar (abgerufen am 31. 3. 2016).
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sind die Bestimmtheit von Intentionen, die ontologische Unabhängigkeit derselben, der Anspruch einer objektiven Analyse, die Unterscheidung von Innen und Außen und die kausale Verknüpfung. Durch solche Vorschläge, die hegelsche Handlungstheorie mit Mitteln Davidsons zu analysieren und zu rekonstruieren, gerät aber ein wichtiger Fokus der Debatte über Handlungen zu sehr aus dem Blick, den Taylor sehr klar gesehen hat. Die beiden opponierenden Familien unterscheiden sich nämlich dadurch, wie sie die beiden Aspekte von Handlungen, körperliche Bewegungen und Intentionen voneinander unterscheiden, nämlich entweder als zwei verschiedene kausal verknüpfbare Ereignisse oder als zwei unterscheidbare aber ontologisch unselbstständige Momente. Ich halte diesen Fokus auf die Unterscheidungsweisen für ausgesprochen weitreichend, auch wenn in diesem Kontrast wichtige Differenzierungsmöglichkeiten aus den Augen zu geraten drohen. Allerdings ist die gegenteilige Gefahr, nämlich Mischungen von Theoriestücken vorzunehmen und dabei die Konsequenz der Ansätze zu verdecken, mindestens genauso groß. Deshalb will ich Taylors Vorschlag folgen, das Nachdenken über Handlungen auch als Unterscheidungsproblem zu reflektieren. Damit ist die Komplexität von Hegels Philosophieren zu allen möglichen Sachfragen von Anfang an mit im Blick, die sein Denken als kritisches Korrektiv an zu wenig reflektierten Beiträgen der Gegenwart qualifiziert. Mein Verständnis von Hegels Handlungstheorie knüpft an die Linie an, die Taylor, Pippin 38 und Terry Pinkard gezeichnet haben. Ich unterscheide mich in meinem Zugang von diesen Beiträgen aber dadurch, dass ich die dialektische Handlungstheorie Hegels als eine verstehe, die Erfahrungen von uns als Handelnde analysiert und dafür eine Darstellungsform wählt, die uns in den Nachvollzug dieser Erfahrungen zwingt. Anders ist Hegels Beitrag nicht zu verstehen. Da diese Erfahrungen durch die verwendeten Unterscheidungen möglich werden, können allgemeine Dynamiken mitvollzogen und reflektiert werden. Es geht um dialektische Erfahrungen, die weder nur subjektiv-persönlich noch nur objektiv-notwendig verlaufen. Dialektische Erfahrungen fordern zum Mitvollzug auf, da in einer bestimmten Variationsbreite von exemplarischen Situationen ReguPippin selber versteht seinen Beitrag im weiten Sinne als Anknüpfung an Taylors Expressionismus, vgl. Robert Pippin, Hegel’s Practical Philosophy: Rational Agency as Ethical Life, Cambridge 2008.
38
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Sachliche und methodische Konsequenzen aus der Kritik
laritäten von Interaktionen sichtbar werden, die zum Selbstverständnis von Handelnden gehören. Hegels Ausführungen zu Handlungen finden sich in verschiedenen Teilen seines Werkes. Wenn auch weitgehend Einigkeit darüber herrscht, welche Texte für die Frage nach dem Begriff der Handlung relevant sind, 39 so gibt es doch ganz verschiedene Auffassungen darüber, wie dieses Material zu arrangieren und unter welcher Frage der Begriff der Handlung in der hegelschen Perspektive zu erschließen ist. Diejenigen, die den Ansatzpunkt in der Rechtsphilosophie sehen, rekonstruieren den systematischen Ort, den Hegel der Frage nach dem Handeln im Gesamtrahmen der Rechtsphilosophie gibt, als Teil der »Moralität« und zeigen die vielfältigen Differenzierungen nach, die Hegel dort entfaltet. 40 Nach meiner Lesart sind die hegelschen Überlegungen zum menschlichen Handeln auf die Dialektik zwischen Ausrichtung bzw. Intention und Verwirklichung zentriert und alle Differenzierungen bekommen von dort her ihre Berechtigung und Funktion. Dies wird in den philosophischen Analysen der Erfahrungen des tätigen Bewusstseins in der Phänomenologie des Geistes am deutlichsten und deshalb bilden sie den Ausgangspunkt, von dem her die Darstellungen in der Rechtsphilosophie und in der Enzyklopädie als Abbreviaturen von Erfahrungsbewegungen zu verstehen und aufzunehmen sind. Als dialektische Handlungstheorie liefert die hegelDas sind vor allem aus Kapitel V (»Gewißheit und Wahrheit der Vernunft«) die Abschnitte B (»Die Verwirklichung des vernünftigen Selbstbewußtseins durch sich selbst«) und C (»Die Individualität, welche sich an und für sich reell ist«) und aus Kapitel VI (»Der Geist«) der Abschnitt Cc (»Das Gewissen. Die schöne Seele, das Böse und seine Verzeihung«) der Phänomenologie des Geistes wie die ersten beiden Abschnitte des »Moralitätskapitels« aus der Rechtsphilosophie, nämlich: »Der Vorsatz und die Schuld« und »Die Absicht und das Wohl«. Aber auch Passagen der Enzyklopädie wie §§ 503–512, wie auch der Vorlesungen über die Ästhetik (der Abschnitt »Die Handlung« im dritten Kapitel des ersten Teils) liefern wichtige Anhaltspunkte. 40 So Francesca Menegoni, »Elemente einer Handlungstheorie in der ›Moralität‹ (§§ 104–128)«, in: L. Siep (Hg.), G. W. F. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, Berlin 2005, S. 125–146 und Quante, Hegels Begriff der Handlung, a. a. O. Letzterer setzt Hegels Ausführungen in der Rechtsphilosophie mit der gegenwärtigen analytischen Handlungstheorie, vor allem der von Davidson, in Beziehung. Dies scheint der Maßstab zu sein, an dem sich nach Quante das systematische Gewicht und die Aktualität Hegels bemisst: »Hegels Theorie, so wie sie hier interpretiert worden ist, lässt sich mit Davidsons Befunden vollständig vereinbaren, da auch Hegel Ereignischarakter und Beschreibungsaspekte klar auseinanderhält.« (Quante, ebd., S. 241). 39
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sche Theorie einen eigenen Beitrag zum gegenwärtigen Interesse an handlungstheoretischen Fragen, der ausgesprochen klare, kritische Implikationen gegenüber dem heute üblichen Theorierahmen, den Analyseformen und Ergebnissen aufweist. Diese Einschätzung ist in allen drei Punkten von Pippin vorgetragen worden. 41 Der wesentliche Unterschied zu der hier vertretenen Lektüre liegt darin, dass Pippin Hegel auf eine These festlegen will, nämlich die, dass das, was getan wurde, in einer konkreten sozialen Gemeinschaft ausgehandelt werden muss. Pippin hat Mühe damit, auf der Hand liegende Einwände gegen diese These zu entkräften, ohne dass es die, die diese Einwände vorbringen, überzeugt. 42 Obwohl Pippin die Pointe von Hegels Handlungstheorie als »spekulative ›Identifikation‹ des Inneren mit der Tat, dem Äußeren« 43 bezeichnet, trägt er der von Hegel sehr deutlich betonten Tatsache nicht Rechnung, dass sich eine spekulative Identifikation nicht als eine Identitätsthese (wie »Inneres ist Äußeres« oder »Tun ist Ausgehandelt-Werden«) formulieren, sondern nur als schrittweise Entwicklung einer Unterscheidung (Inneres unterschieden von Äußerem oder Tun unterschieden von Ausgehandelt-Werden) und deren Aufhebung verstehen lässt. Ein einzelner thetischer Satz ist also nur als Abkürzung für eine entfaltete Theoriebewegung legitim. 44 In einem gewissen Sinne gilt natürlich für jede These, dass sie der Entfaltung durch Beispiele und der Begründung, wie der Entkräftung von Einwänden und Gegenthesen bedarf. Im Falle eines spekulativen Satzes allerdings hat der Satz als alleiniger gar keinen Bestand und keine Verständlichkeit. Ein einzelner Satz ist gewissermaßen kein Träger eines Wahrheitswertes, wenn er nicht in vielen Sätzen über die Unterscheidung des Identifizierten und die Aufhebung der Unterscheidung entfaltet wird. Im Falle einer gewöhnlichen These gilt natürlich, dass deren Ausdruck im Satz einen WahrVgl. besonders pointiert in: Robert Pippin, »Hegels Praktischer Realismus. Rationales Handeln als Sittlichkeit«, in: C. Halbig/M. Quante/L. Siep (Hg.), Hegels Erbe, Frankfurt 2004, S. 295–323. 42 Vgl. Pippin, ebd., S. 320. Vgl. den Angriff auf Pippins Lektüre von John McDowell, »Zur Deutung von Hegels Handlungstheorie im Vernunftkapitel der Phänomenologie des Geistes«, in: K. Vieweg/W. Welsch (Hg.), Hegels Phänomenologie des Geistes. Ein kooperativer Kommentar zu einem Schlüsselwerk der Moderne, Frankfurt a. M. 2008, S. 369–393. 43 Pippin, »Hegels Praktischer Realismus«, a. a. O., S. 315. 44 Vgl. Hegels Überlegungen zum spekulativen Satz in der Vorrede zur Phänomenologie des Geistes, dazu Günter Wohlfart, Der spekulative Satz. Bemerkungen zum Begriff der Spekulation bei Hegel, Berlin/New York 1981. 41
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Sachliche und methodische Konsequenzen aus der Kritik
heitswert hat, der über die Begründung und Entfaltung gefunden werden kann. Dahinter steht eine Differenz über eine angemessene Theorieform von dialektischem Philosophieren, das nicht in der Aufstellung und Verteidigung von Thesen bestehen kann. Dialektisches Philosophieren bedeutet im hier vorgetragenen Verständnis, Erfahrungen mit bestimmten Unterscheidungen zu beschreiben, an ihre Grenze zu verfolgen und daraus Konsequenzen zu ziehen. Daraus ergibt sich, dass ein besonderes Augenmerk auf der Entfaltung und Aufhebung der relevanten Unterscheidungen liegen muss. Die Deutung der hegelschen Texte, die ich hier vorschlage, nimmt in einer Kontroverse um die praktische Philosophie Hegels Stellung für die Deutung, die Pippin vorschlägt und gegen die Kritik, die John McDowell daran übt. Das Problem, das ich bei dieser Kontroverse sehe, ist, dass sie im Gegeneinanderhalten von Thesen ausgetragen wird, Pippins sozialkonstruktivistische These auf der einen Seite und McDowells Realismus auf der anderen Seite. McDowell hält der spekulativen These Pippins entgegen, dass das, was kontraintuitiv und paradox ist, schlechte Philosophie sei. Anstatt mit solchen Geschützen und Unterstellungen aufzufahren, wäre es doch angebracht zu fragen, welche Erfahrungen und Einsichten damit verbunden sind, zu einer solchen »sozialkonstruktivistischen« Identitätsthese zu kommen. Bei der Kontroverse zwischen Pippin und McDowell scheint es mir wichtig zu sehen, welche Rolle Intuitionen und kontraintuitive Einsichten spielen. In der Phänomenologie des Geistes erhält das natürliche Bewusstsein, der Inbegriff unserer Intuitionen, eine methodische Autorität. Ausgangspunkt und Gang der Überlegungen müssen auf verbreitete Auffassungen und geteilte Intuitionen rückbezogen werden. Diese Intuitionen sind damit in gewissem Sinne das erste Wort, aber bei weitem nicht das letzte. Denn sie und viele Theorien, die diese ausbuchstabieren oder auch mit erzeugt haben, werden beschrieben, analysiert, geprüft und es zeigt sich in vielen Fällen, dass sie nicht haltbar sind. Dann muss in für »das natürliche Bewusstsein« nachvollziehbaren Schritten gezeigt werden, welche Schwierigkeiten auftauchen und welche Veränderungen der Intuitionen welche Folgen haben. Darüber führt der Entwicklungsgang oft zu spekulativen Einsichten, die die Überzeugungen des anfänglichen »natürlichen Bewusstseins« geradezu auf den Kopf zu stellen scheinen. Das »natürliche Bewusstsein« bei Hegel ist selbst ein problematisches Konstrukt, aber es steht für eine wichtige Anforderung an die 279 https://doi.org/10.5771/9783495817360 .
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Philosophie, die in der pragmatistischen Handlungstheorie sehr ernst genommen wurde. Philosophische Einsichten und Theorien müssen sich auf Alltagserfahrungen zurückbeziehen lassen. Philosophie beginnt mit Problemen, die sich in der (ohne Zweifel sehr komplexen) Alltagserfahrung ergeben. Die Arbeit an diesen Problemen führt oft zu Veränderungen oder auch deutlichen Korrekturen des Alltagsverständnisses. Zum Beispiel hat die Philosophie in der Auffassung von Dewey die Aufgabe, unsere Neigung im Alltag, starre Gewohnheiten auszubilden und dadurch Varianz ausschließen zu wollen, kritisch zu analysieren und konstruktiv zu verändern. 45 Eines der zentralen Anliegen der pragmatistischen Handlungstheorie vor allem in der Gestalt von Dewey scheint mir darin zu liegen, das Moment der Veränderlichkeit in unseren Erfahrungen zu verstehen und die Rückwirkungen unseres Handelns auf unsere soziale, natürliche und kulturelle Umgebung konsequent einzubeziehen. Handlungsziele und -zwecke als unbestimmte Entwürfe oder als »versuchsweise Umrisse« (tentative sketch) 46 bestimmen sich erst im Zuge der Rückwirkungen zwischen Akteur und Umgebung. Diese Rückwirkungen vollziehen sich nicht einfach, sie geschehen nicht (nur), sondern es ist möglich und nötig, mit ihnen umzugehen und sie zu gestalten. Ich verstehe die pragmatistische Handlungstheorie (vor allem von Dewey und George Herbert Mead 47) als konkretisierende Weiterentwicklung einer dialektischen Entfaltung des Handlungsbegriffs, die Hegel beVgl. John Dewey, Democracy and Education (1916), MW.9.24 ff. Vgl. Dewey, Democracy, MW.9.111. 47 Die zentralen Texte von Dewey zu diesem Thema sind vor allem: The Reflex Arc Concept in Psychology (1896), Democracy and Education (1916), Human Nature and Conduct (1922), Theory of Valuation (1939). Martin Hartmann zeigt in seiner Studie über die Kreativität der Gewohnheit, die vor allem eine Auseinandersetzung mit Dewey ist, dass Deweys Handlungsverständnis in seinem gesamten Werk eine Rolle spielt und in vielen Anwendungen entwickelt wird. Vgl. Martin Hartmann, Die Kreativität der Gewohnheit. Grundzüge einer pragmatistischen Demokratietheorie, Frankfurt a. M. 2003. Ein zentraler Text, der in der deutschen Diskussion erstmalig die Konturen pragmatistischer Handlungstheorie umreißt und auch einen Hintergrund für Hartmanns Studie bildet, ist: Hans Joas, »Eine nicht-teleologische Deutung der Intentionalität des Handelns«, in: ders., Die Kreativität des Handelns, Frankfurt a. M. 1992, S. 218–244. Eine Bewährung der pragmatistischen Handlungstheorie an den Einsichten der empirischen Wissenschaften sucht Matthias Jung, Der bewusste Ausdruck. Anthropologie der Artikulation, Berlin/New York 2009 und ders., »Verkörperte Intentionalität. Zur Anthropologie des Handelns«, in: B. Hollstein/M. Jung/ W. Knöbl (Hg.), Handlung und Erfahrung. Das Erbe von Historismus und Pragmatismus und die Zukunft der Sozialtheorie, Frankfurt 2011, S. 25–50. 45 46
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Sachliche und methodische Konsequenzen aus der Kritik
gonnen hat. 48 Der Einbezug der Überlegungen Deweys erlaubt es, diese Herangehensweise an Alltagserfahrungen zu verfolgen und dadurch die feinen Rückwirkungen zwischen unterschiedenen Aspekten in philosophische Überlegungen miteinzubeziehen. Im nächsten Kapitel werde ich intensiv auf handlungstheoretische Überlegungen von Dewey Bezug nehmen. 49
3.3.2 Zur Darstellungsform: Dialektische Erfahrungen Es scheint mir von großer Bedeutung zu sein, die Theorie- und Darstellungsform der Phänomenologie des Geistes zu betrachten und die Differenzen zu heute üblichen Vorgehensweisen zu betonen. Für die Theorieform der Phänomenologie des Geistes spielt der Begriff der Erfahrung eine besondere Rolle. Dies zeigt nicht nur der Titel Wissenschaft der Erfahrung des Bewusstseins, den Hegel seinem Text zunächst geben wollte, sondern vor allem die methodische Funktion, die den Erfahrungen der einzelnen Bewusstseinsgestalten zukommt. Mit der Präsentation von Erfahrungen ist eine Art der philosophischen Arbeit vorgeschlagen, die abgegrenzt werden muss von der argumentativen Verteidigung oder Kritik von Thesen und auch von der hermeneutischen Interpretation von Texten. Um dies deutlich zu machen, muss etwas mehr zum Begriff der Erfahrung und zu Hegels besonderer Art, Erfahrungen zu analysieren, gesagt werden. 50 Dina Emundts weist in ihrer Studie zum Begriff der Erfahrung in der Phänomenologie des Geistes auf, dass »Erfahrung« ein Schlüs-
Die Einflüsse Hegels auf den frühen Dewey sind intensiv erforscht. Vgl. z. B. Marie-Luise Raters, »Von Hegel zu Darwin. Die Wurzeln von Deweys Pragmatismus im angelsächsischen Idealismus am Beispiel der Ästhetik«, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 34 (2009) 3, S. 395–414 und die ausführlichere Studie dazu: dies., Kunst, Wahrheit und Gefühl. Schelling, Hegel und die Ästhetik des angelsächsischen Idealismus, Freiburg 2005. Ob Deweys spätere Entwicklung als Abkehr, Überwindung oder als verändernde Weiterentwicklung dialektischen Denkens zu verstehen ist, wird unterschiedlich beurteilt. In meiner Rezeption seiner Philosophie kehre ich die produktiven Anschlüsse an dialektisches Denken hervor. 49 Vgl. Teil I, Kapitel 4.3–4.6. 50 Vgl. die Skizze zur Vielfalt der Verwendungen in: Michael Hampe/Maria-Sibylla Lotter, »Einleitung: Enttäuschende Erfahrungen«, in: dies. (Hg.), »Die Erfahrungen, die wir machen, sprechen gegen die Erfahrungen, die wir haben«. Über Formen der Erfahrung in den Wissenschaften, Berlin 2000, S. 7–25. 48
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selbegriff der Phänomenologie des Geistes ist. 51 Es werden Erfahrungen eines Bewusstseins beschrieben und analysiert, die notwendig begriffliche und subjektinterne Operationen sind, die subjektives Erleben und aktive Teilnahme implizieren. Damit wird eine theoretische Form präsentiert, deren Besonderheit gerade darin besteht, dass Einsichten und Weiterentwicklungen von Positionen durch Erfahrungen erzeugt werden. Es ist demnach reduktiv, die Phänomenologie des Geistes als transzendentales Argument rekonstruieren zu wollen, wie es in der Forschungsliteratur häufig geschehen ist. 52 Es ist eine methodische Pointe der Phänomenologie des Geistes, dass Erfahrungen für die Frage nach dem, was Erkenntnis ist, in Anspruch genommen werden. Damit geht die Kritik an der kantischen Auffassung einher, dass es philosophisch gehaltvolle Untersuchungen unabhängig von Erfahrungen geben könne. 53 Ich schließe mich dieser allgemeinen Einschätzung an und meine auch, dass Hegels Text in die Nähe pragmatistischer und phänomenologischer Analysen rückt, wenn man das Angebot ernst nimmt, die Perspektive der jeweiligen Bewusstseinsgestalt einzunehmen und die Erfahrungen zu durchlaufen. Konkreter will ich zwei Punkte aus Emundts’ Überlegungen zum Begriff der Erfahrung in der Phänomenologie des Geistes aufnehmen. Zum einen scheint mir eine Differenzierung von drei semantischen Ebenen von Erfahrungen, die bei Hegel zusammenspielen, wichtig. Zum anderen bezeichnet Emundts die berühmte Unterscheidung zwischen der Perspektive der jeweiligen Bewusstseinsgestalt und dem philosophischen Zuschauer aus der Einleitung als Erfahrungs- und als Beobachtungsperspektive. Letztere ist dadurch gekennzeichnet, dass an den Operationen des Bewusstseins nicht aktiv teilgenommen wird und diese vom Bewusstsein vollzogenen Operationen deshalb analysiert werden können. 54 Dina Emundts, Erfahren und Erkennen. Hegels Theorie der Wirklichkeit, Frankfurt a. M. 2012, S. 30–36. 52 Ebd., S. 83, Fßn. 56. 53 Ebd., S. 78. 54 Das Vokabular mutet systemtheoretisch an, denn Zentralbegriffe für Emundts’ Analyse sind »Erwartung«, »Operation«, »Beobachtung«. Emundts nimmt keinerlei Bezug auf Luhmann, sondern entwickelt ihre Arbeitsterminologie mit Verweis auf Alltagserfahrungen. Dies entwaffnet einerseits jeden Jargonverdacht. Andererseits entsteht manchmal der Eindruck, dass die Einführung genau dieser Arbeitsbegriffe für die fein differenzierten Aspekte von Erfahrungen im Alltagsverständnis überraschend und etwas unmotiviert geschieht. Der Terminus »Erwartung« taucht relativ plötzlich auf: »Wir adressieren einen Gegenstand mit Erwartungen und lassen uns 51
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Sachliche und methodische Konsequenzen aus der Kritik
Trotz dieses Anschlusses an die Überlegungen von Emundts gibt es eine Reihe von wichtigen Differenzen. Zum einen beschäftigt sich Emundts nicht mit der meines Erachtens dringlichen Frage, wie denn über eine Philosophie, die die Teilnehmerperspektive und die Beobachterperspektive differenziert und beide für notwendig hält, um Einsichten zu erlangen, geschrieben werden muss. Reicht es, beobachtend zu schreiben, wie Emundts und die meisten über Hegel Schreibenden das tun? Ich meine nicht: Ein Schreiben über Hegel macht es erforderlich, im Wechsel teilnehmend und das heißt Erfahrungen induzierend und beobachtend zu schreiben. Beobachtungen sind nur möglich und sinnvoll, wenn sie sich auf Erfahrungen richten und Erfahrungen dem vorausgegangen sind und vollzogen wurden. Es ist notwendig, Erfahrungen teilnehmend und miterlebend darzustellen. Die Bedeutung des Mitvollzugs ist wesentlich schärfer zu fassen, als es Emundts tut, deren Begründungen trotz weitgehender Ansprüche eigentümlich schwach klingen: »Zwar ist richtig, dass mit den Erfahrungen in der Phänomenologie eine Einsicht einhergeht, aber erstens ist die Weise, wie man zu dieser Einsicht kommt, wenn man sie erfährt, für das, was Hegel sagen will, wesentlich. Das subjektive Erleben und die aktive Teilnahme gibt der Einsicht eine besondere Qualität.« 55 Zweitens betont Emundts die Unterscheidung zwischen den Erwartungen eines Subjektes (die mit einem Verständnis von sich selbst und von der Welt und einem Anspruch, dass beides sich bestätige, verbunden sind) und dem »Gegenstand«, der sich in der Erfahrung zeigt, nicht stark genug. Sie behandelt in ihren Ausführungen zum Gegenstand der Erfahrung 56 zwar die in der hegelschen Sicht notwendige »Selbstständigkeit« und »Widerständigkeit« des Gegenstandes der Erfahrung, stellt diese Unterscheidung aber nicht ins Zentrum ihrer Analysen. 57 Dadurch wird der besondere durch die Erfahrungen in unseren Erwartungen korrigieren.« (ebd., S. 47). »Erwartung« wird dann herangezogen, um Erfahrung als (notwendige) Beziehung zu analysieren (ebd., S. 63). Dem Terminus kommt also eine wichtige argumentative Funktion zu und er müsste deshalb systematisch eingeführt und als theoretische Entscheidung motiviert werden. Gleiches könnte für die Termini »Operation« und »Beobachtung« gezeigt werden. Die Termini werden gewissermaßen harmlos und ohne theoretische Vorannahmen eingeführt, dann aber doch mit diesen belastet. 55 Ebd., S. 81. 56 Ebd., S. 69–77. 57 Die Einführung dieser Ausdrücke gehört zu den Stellen, an denen Emundts ihre systematische Darstellung verlässt und auf Besonderheiten der hegelschen Philosophie rekurriert. Sie entwickelt ihre Überlegungen zum Erfahrungsbegriff weitgehend
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Charakter, den Erfahrungen bei Hegel haben und der ihre theoretische Analysefähigkeit überhaupt erst ermöglicht, nicht deutlich genug. Erfahrungen zu machen heißt, der Orientierungsleistung von Erwartungen und der Selbstständigkeit der Gegenstände Rechnung zu tragen und beides aufeinander zu beziehen, indem die Erwartungen mit der Selbstständigkeit der Gegenstände beständig rückgekoppelt werden. Es gibt verschiedene Weisen und Möglichkeiten, dieser Aufgabe gerecht zu werden und bei Hegel gehört es dazu, die größtmögliche Verschiedenheit und die größtmögliche Selbstständigkeit und Widerständigkeit der Seite der Gegenstände, also den größtmöglichen Abstand und Bruch zwischen Erfahrungen und dem sich zeigenden Gegenstand der Erfahrung teilnehmend zu erleben. Diese Erfahrungen und die dadurch entstehenden Rückwirkungen, durch die sich die Erwartungen »umkehren«, gehören zu dem, was Hegel »dialektisch« nennt. In Erfahrungen, so ließe sich sagen, wird mit verschiedenen Weisen, die beiden Seiten zu unterscheiden und aufeinander zu beziehen, experimentiert. »Experimentieren« heißt hier, dass systematisch Varianten durchlaufen werden, die aber nicht auf dem Reißbrett quasi kombinatorisch erfunden werden, sondern die nur als Erfahrungskonstellationen verständlich werden, an denen sich teilnehmen lässt und die erlebt werden können. Weil Erfahrungen in diesem Sinne dialektisch sind, sind sie philosophisch analysierbar. Hegel untersucht Erfahrungen, in denen diese Dialektik besonders sichtbar wird und verfolgt allgemeiner den Anspruch, zu zeigen, dass Erfahrungen insgesamt dialektisch verfasst sind. 58
frei von hegelscher Terminologie und explizitem Textbezug und versucht den hegelschen Überlegungen dadurch eine systematische und gegenwärtig anschlussfähige Form zu geben und sie von einer Sachfrage her zu motivieren. An einigen Stellen nun wird dieser Duktus durchbrochen, um Überlegungen einzubeziehen, die für Hegel besonders wichtig waren, die aber gegenüber dem dargestellten Problemaufriss eine hohe Kontingenz zu haben scheinen. Zwei solcher Passagen haben zu tun mit der Unterscheidung zwischen Erwartungen und der selbstständigen Wirklichkeit der Dinge, die Erfahrungen des Scheiterns und der Rückkopplung sind. Da Emundts die Unterscheidung zwischen Erwartungen und sich zeigendem Gegenstand nicht zum Ausgangspunkt ihrer Überlegungen macht, ist nicht verständlich, warum Erfahrungen des Scheiterns und der Widerständigkeit der Gegenstände im Vordergrund stehen. 58 Das mit dem Erfahrungsbegriff verbundene Methodenverständnis ist Gegenstand von Teil II, Kapitel 3.
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Sachliche und methodische Konsequenzen aus der Kritik
Emundts differenziert in ihren einleitenden Überlegungen zum Gebrauch des Begriffs der Erfahrung drei semantische Dimensionen. In der ersten Dimension bedeutet Erfahrung vor allem einen Bezug auf praktische Tätigkeit. Die Ausdrucksweisen »mit etwas Erfahrung haben« oder »erfahren sein« zeigen an, dass Erfahrung haben so viel heißt wie über praktisches Wissen zu verfügen. Um praktisches Wissen zu erwerben, ist es nötig, Zusammenhänge zu erlernen und zu üben. In der zweiten Dimension steht der Aspekt der Teilnahme an etwas und damit der subjektiven Perspektive im Vordergrund. Erfahrungen zu machen, bedeutet, Erlebnisse zu haben, an etwas beteiligt zu sein. In der dritten Dimension steht die Bewährung durch Erfahrungen, die Bestätigung von Vorstellungen im Zentrum. Hegel bringt alle drei semantischen Dimensionen zusammen. Wie das gemeint ist, will ich am »tätigen Bewusstsein« 59, das Emundts nicht behandelt, zeigen. 60 Der Gegenstand der Erfahrungen sind die Vorstellungen von sich als handelndem Subjekt und der Welt, in der gehandelt wird. Es werden alltägliche Erfahrungen und Erfahrungen im Rahmen von verschiedenen Theorien diskutiert. In einigen philosophischen Theorien wird zwar auf Alltagserfahrungen Bezug genommen, aber Hegel rekonstruiert diese Theorien als Erfahrungskonstellationen. Er befragt sie darauf hin und stellt sie so dar, dass ihre theoretischen Vorstellungen erfahren werden können. Erfahren umfasst alle drei differenzierten semantischen Dimensionen. Die Erfahrungen, die mit den Vorstellungen über sich und über die Welt gemacht werden, müssen teilnehmend durchlaufen werden. Dadurch haben sie eine Erlebnisqualität. Die Vorstellungen über uns und die Welt werden dabei operationalisiert, d. h. es werden die einzelnen Operationen deutlich, die vorgenommen werden, um diese Vorstellungen zu haben. Sie werden in Tätigkeiten übersetzt, sie werden praktiziert und so in der praktischen Dimension deutlich. Praktisches Wissen heißt hier nicht so sehr und nur, wie bei der Gegenüberstellung von knowing how und Ich beziehe mich im Folgenden in sehr freier Weise auf die Überlegungen zum handelnden oder tätigen Bewusstsein im Vernunftkapitel der Phänomenologie des Geistes (»Gewißheit und Wahrheit der Vernunft«), die Abschnitte B (»Die Verwirklichung des vernünftigen Selbstbewußtseins durch sich selbst«) und C (»Die Individualität, welche sich an und für sich reell ist«). 60 Emundts beschränkt sich auf die Interpretation der Erfahrungsprozesse der Sinnlichen Gewissheit, der Wahrnehmung, von Kraft und Verstand und des Selbstbewusstseins. 59
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knowing that durch Ryle, dass nicht formulierbar ist, was und warum man etwas tut, sondern was man tun muss, um diese Vorstellung zu haben. (Manchmal kann es den Anschein haben, als wollte Hegel prüfen, was geschieht, wenn die geäußerten Vorstellungen verwendet werden, manchmal entsteht hingegen mehr der Eindruck, dass sie in Operationen zerlegt werden.) Und genau dabei wird deutlich, ob sich diese Vorstellungen bewähren, ob sie sich bestätigen lassen oder ob sie sich verändern und korrigiert werden müssen. Darin liegt ein reflexives Moment der Erfahrung, denn das erfahrende Subjekt muss sich auf die eigenen Operationen richten, diese prüfen und gegebenenfalls verändern. Dies heißt aber nicht, dass hier ein expliziter Reflexionsprozess durchgeführt werden muss. Die Veränderung der Ausgangserwartungen kann sich durch veränderte Handlungen vollziehen und nicht durch theoretische Neuentwürfe zur Vermeidung von Inkonsistenzen. Der genannte Gegenstandsbereich ist ausgesprochen weit und umfasst eine große Fülle konkreter Erfahrungen, die jeder von uns Tag für Tag macht. Welche Erfahrungen werden analysiert? Es sind Erfahrungen vom Selbstverständnis von uns als Handelnden. Das ist denkbar allgemein und wird von jedem konkret und anders erfahren. Hegel will nun diese Erfahrungshorizonte explorieren und dies so tun, dass sich diese jederzeit konkretisieren lassen können müssen. Deshalb ist der Text der Phänomenologie des Geistes voller Anspielungen auf historische Formationen. Es gibt sehr viele mögliche konkrete Varianten, und durch die Anspielungen wird die Aufforderung gegeben, sich eine oder besser mehrere konkrete Varianten vor Augen zu führen. Eine Variante, die sich anbietet, ist die eigene Erfahrung und Perspektive, eine andere eine literarische Durcharbeitung oder eine Perspektive, die besonders fremd zu sein scheint. Mit der Zentralstellung des Begriffs der Erfahrung wird die praktische Gestalt von theoretischen Behauptungen sichtbar gemacht. Und dieser Begriff der Praxis, der für das, was Hegel in den ersten Kapiteln der Phänomenologie des Geistes gemacht hat, konstitutiv ist, wird mit dem Vernunftkapitel thematisch. Was heißt es, etwas zu tun, was heißt es zu handeln? Die zentrale Differenz ist zunächst die zwischen einer Vorstellung und ihrer operationalen Ausführung: Bleibt die Vorstellung gleich oder ändert sie sich? Bei den Erfahrungen, wie Hegel sie beschreibt, wird mit einer Differenz gearbeitet, der Unterscheidung zwischen einem Vorbegriff und seiner Ausführung. Diese Differenz ist für das Selbstverständnis von Han286 https://doi.org/10.5771/9783495817360 .
Sachliche und methodische Konsequenzen aus der Kritik
delnden konstitutiv. Hieraus entspringt das, was Hegel »dialektische Bewegung« nennt. 61 Die Erfahrungen sind Erfahrungen mit der Unterscheidung zwischen Vorbegriff und Ausführung und diese Unterscheidung ist in ihrer allgemeinen Bedeutung und in ihren Konkretisierungen und Wirkungen zu analysieren. 62 Man könnte geradezu sagen, dass die Passagen aus dem Vernunftkapitel Erfahrungen mit dieser Differenz thematisieren und reflektieren. Und dies geschieht, indem alle drei Dimensionen von Erfahrungen ausbuchstabiert werden: Es werden Differenzerfahrungen durchlaufen, die eine Erlebnisqualität zeigen. Diese wird gesteigert durch die Aufforderungen, konkrete Varianten zu entwickeln. Zweitens wird dabei deutlich, welche Operationen möglich und welche nötig sind, um die Unterscheidung zu treffen, aufrechtzuerhalten oder auch aufzulösen, welche Varianten es gibt und welche Bezüge auf andere Unterscheidungen jeweils auftauchen. Es wird also praktisches Wissen über diese Unterscheidung erworben, geübt und ausprobiert. Und drittens zeigt sich, welche Unterscheidungen sich bewähren, welche nötig sind, um unser Selbstverständnis als Handelnde zu fassen und welche Unterscheidungen aufgegeben und verändert werden müssen. Dies wird aus der Perspektive des Beobachters 63 der Erfahrungen des Bewusstseins sichtbar.
»Diese dialektische Bewegung, welche das Bewußtsein an ihm selbst, sowohl an seinem Wissen, als an seinem Gegenstande ausübt, in sofern ihm der neue wahre Gegenstand daraus entspringt, ist eigentlich dasjenige, was Erfahrung genannt wird.« (Hegel, PhG, GW 9, 60). 62 Emundts versucht diese Differenz mit dem Begriff »Erwartung« in den Blick zu bekommen, da durch Erwartungen implizit Wissensansprüche erhoben werden, vgl. Emundts, Erfahren und Erkennen, a. a. O., S. 51. 63 Hegel selbst spricht vom »Zusehen«: »[W]ir werden auch der Mühe der Vergleichung beider, und der eigentlichen Prüfung überhoben, so daß, indem das Bewußtsein sich selbst prüft, uns auch von dieser Seite nur das reine Zusehen bleibt.« (Hegel, PhG, GW 9, 59) In meiner Verwendung des Ausdrucks »Beobachter« ist keine Anleihe an die Systemtheorie gemacht. Vgl. die Bezeichnung »Beobachter« in diesem Zusammenhang auch bei Emundts, Erfahren und Erkennen, a. a. O., S. 56. 61
287 https://doi.org/10.5771/9783495817360 .
4. Kapitel: Konstruktion: Handeln als dialektischer Prozess von Entwerfen und Gestalten
Einleitung zum vierten Kapitel Die Aufgaben sind formuliert, der Rahmen ist gesetzt, die theoretischen Anschlüsse sind benannt. Nun folgt im vierten und letzten Kapitel dieses Teils die Durchführung. Im vorhergehenden Abschnitt wurde deutlich, dass die Frage nach der Darstellungsform für die sachliche Entwicklung eines dialektischen Handlungsbegriffs große Bedeutung hat. In freier Orientierung an den dialektischen Erfahrungsbewegungen Hegels in der Phänomenologie des Geistes und an der pragmatistischen Handlungstheorie von Dewey soll ein konstruktiver Vorschlag vorgelegt werden, um das Nachdenken über Handlungen an möglichen Erfahrungen zu orientieren. Durch die systematische Variation möglicher Erfahrungen werden erst die Konsequenzen der verwendeten Unterscheidungen sichtbar. Dies Vorgehen ist hochgradig konstruktiv in dem Sinne, dass Terminologie, Thesen und Argumentationen erst in dem beständigen Wechsel zwischen Mitvollzug variierender Situationen und reflexiver Auswertung konstruiert, also aufgebaut und umgebaut werden. Die Aufgabe dieser Einleitung besteht darin, Bemerkungen zur Verwendung der Ausdrücke »Konstruktion« und »konstruktiv« wie auch zum Gebrauch des Ausdrucks »dialektisch« vorwegzuschicken und das Vorgehen in diesem Kapitel zu skizzieren.
a)
Die Aufgabe von Konstruktionen
Das sprachliche Feld um den Terminus »Konstruktion« ist geprägt von unterschiedlichen Konnotationen. Wir nennen einen Beitrag »konstruktiv«, wenn damit ein erweiternder, lösender Beitrag zu einer Frage geleistet wird und wir sprechen von einem »konstruierten« Problem, wenn es um einen Zusammenhang geht, der seinen Grund nicht in der Sache, sondern in den Fragestellungen und Be288 https://doi.org/10.5771/9783495817360 .
Einleitung zum vierten Kapitel
grifflichkeiten hat, durch die Verzerrungen und Verkomplizierungen künstlich erzeugt worden sind. Die Tätigkeit des Konstruierens oder Konstruktionen können nun in dem einen oder in dem anderen Sinne verwendet werden. Diese Mehrdeutigkeit und diese Bewertungsambivalenz sind hier zunächst einfach diagnostiziert. Sie können aber auch als Hinweis darauf verstanden werden, dass die »konstruktive« Entwicklung von Lösungsvorschlägen in der Gefahr steht, sich von den Erfordernissen der Sache zu entfernen und eine Eigendynamik anzunehmen, in der nur noch Probleme verhandelt werden, die der jeweiligen Sichtweise und Terminologie geschuldet sind. Andersherum ist auch nicht ausgeschlossen, dass durch die Bildung von philosophischen »Konstrukten« ganz neue Sichtweisen auf Sachfragen möglich werden. In dieser Sicht besteht eine »Dialektik« zwischen der Arbeit mit »konstruktiven« Konstruktionen und »Konstrukten« in dem Sinne, dass die eine Tätigkeit in die andere »kippen« kann. All dies macht deutlich, dass die Redeweise von »Konstruktion« in der affirmativen oder pejorativen Verwendung auf der Differenzierung von zwei Aspekten basiert, nämlich eines sachlichen Aspektes und eines Aspektes, der mit der Sicht auf die Sache und den Mitteln der Bearbeitung der Sache zu tun hat. In der affirmativen Rede können die Sicht auf die Sache und die vorgeschlagenen Mittel der Bearbeitung dazu beitragen, die sachlichen Fragen zu klären. In der pejorativen Rede lösen sich die beiden Aspekte so weit voneinander ab, dass die sachlichen Fragen unberührt bleiben und sogar vernachlässigt werden. Dadurch sind sehr grundlegende philosophische Fragen berührt, wie: In welchem Sinne gibt es eine Sache unabhängig von unseren Sichtweisen und Mitteln der Bearbeitung? Für wen und welches Interesse lösen sich die beiden Aspekte in einer unvertretbaren Weise voneinander ab? Diese Fragen sind abstrakt nicht sinnvoll zu beantworten, sondern weisen darauf hin, dass die Unterscheidung zwischen produktiven und problematischen Formen der Konstruktion sich nicht von selbst versteht und in konkreten Situationen unter Umständen mit Rekurs auf verschiedene Interessen ausgehandelt werden muss. Diese allgemeinen Überlegungen zur ambivalenten Verwendungsweise von »Konstruktion« und »konstruktiv« zeigen, dass philosophische Konstruktionen sich selbstkritisch immer wieder ihrer Sachhaltigkeit vergewissern sollten. Die Gefahr, die Sachhaltigkeit zu verlieren, stellt wahrscheinlich auch den Grund dafür dar, dass es neben affirmativen Verwendungen des Begriffs »Konstruktion« auch 289 https://doi.org/10.5771/9783495817360 .
4 · Konstruktion: Handeln als dialektischer Prozess
sehr kritische Stimmen gibt gegenüber denen, die zu unbeschwert und zu ungenau mit dem Vokabular des Konstruktiven und der Konstruktion umgegangen sind. Ian Hacking hat das überzeugend und amüsant zugleich gezeigt. 1 Das Problem an solchen Redeweisen liegt offen zutage. Sie scheinen oft von genauer Beschreibung zu entlasten und leugnen zu leichtfertig die Wichtigkeit von Unterscheidungen zwischen dem, was von menschlicher Erkenntnis und Handlung abhängig ist und dem, was nicht davon abhängig ist. Es ist hier nicht der Ort, einen Überblick über die komplizierte Begriffsgeschichte zu versuchen und die Vielfalt der Verwendungen darzustellen. 2 Ich will nur auf einige Besonderheiten hinweisen, die für den Zusammenhang an dieser Stelle wichtig sind. In der kantischen und nachkantischen Philosophie, in der der Begriff »Konstruktion« eine hohe methodische Bedeutung erlangt hatte, ist mit dem Verfahren der Konstruktion im Gegensatz zur »zergliedernden« Analyse ein Vorgehen gemeint, das »erkenntniserweiternd« ist. 3 Durch ein schrittweises Verfahren sollen neue Erkenntnisse aufgebaut und erzeugt werden. Hierfür ist es von großer Wichtigkeit, einen Ausgangspunkt zu bestimmen, der möglichst voraussetzungsarm sein muss und weitgehend geteilt werden sollte. Ein Philosoph wie Johann Gottlieb Fichte, der den Konstruktionsbegriff intensiv verwendet hat, setzt als Ausgangspunkt elementare Akte des Bewusstseins. Eine ganz andere Richtung, der Konstruktivismus des 20. Jahrhunderts, wählt als Ausgangspunkt geteilte Praktiken, wie zum Beispiel handwerkliche Praktiken im Modell von Hugo Dingler. 4 Dies zeigt nur, dass es wichtig ist, über den Ausgangspunkt für die konstruktiven Verfahren nachzudenken, denn daraus ergeben sich Verfahrensschritte, durch die die Vollzüge dieser Ausgangssituation genauer betrachtet werden. Für viele konstruktive Verfahren ist es 1 Ian Hacking, Was heißt »soziale Konstruktion«? Zur Konjunktur einer Kampfvokabel in den Wissenschaften, Frankfurt a. M. 1999. 2 Vgl. z. B. die Darstellungen im Historischen Wörterbuch der Philosophie von Helga König, »Konstruktion I, III«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 4, S. 1009–1011; 1012–1015 und Klaus Mainzer, »Konstruktion II, IV«, S. 1011–1012; 1015–1019. 3 Helga Ende, Der Konstruktionsbegriff im Umkreis des Deutschen Idealismus, Meisenheim an Glan 1973. 4 Hier ist der Konstruktivismus der Erlanger Schule gemeint, dessen Anliegen der konstruktive Aufbau von Logik und Wissenschaftstheorie ist, nicht der sogenannte Radikale Konstruktivismus. Vgl. z. B. Paul Lorenzen, Lehrbuch der konstruktiven Wissenschaftstheorie, Stuttgart 2000.
290 https://doi.org/10.5771/9783495817360 .
Einleitung zum vierten Kapitel
wichtig, zwischen einer Perspektive des Vollzugs bzw. der Beteiligung und einer Perspektive der Beobachtung zu unterscheiden. Um das Problem der Sachhaltigkeit lösen zu können, ist es wichtig, dass diese konstruktiven Akte entweder eine Form von Anschaulichkeit oder einen Erfahrungsbezug haben. Zu klären ist natürlich auch, durch welche Operationen die Konstruktionsschritte vollzogen werden, wie diese Operationen gewonnen werden sowie wann und warum der Konstruktionsprozess zu einem wenn auch vorläufigen Ende kommt.
b)
Was heißt »dialektisch«?
Das Wort »dialektisch« hat eine vage Bedeutung, es hat mit Dynamik zu tun, mit Bewegungen und Gegenbewegungen. Es wird vielfach in negativer Absicht gebraucht und »dialektisch« heißt dann so viel wie: ungenau, willkürlich, sogar sophistisch. Dialektiker, so der Vorwurf, manipulieren die Sachverhalte durch nicht nachvollziehbare Operationen so lange, bis sie zu den eigenen Interessen passen. Dem stehen ganz andere, positive Verwendungen gegenüber. Dialektisches Denken ist demnach konkretes Denken und kann Entwicklungen erfassen, im Unterschied zu den Zurichtungen der Wirklichkeit durch abstrakte Modelle. Der Begriff »Dialektik« hat eine komplizierte Begriffsgeschichte, bzw. komplizierte Begriffsgeschichten. Denn eine der viel bedachten Fragen ist die nach dem Verhältnis zwischen dem Dialektikverständnis von Platon und Hegel. Diese Frage lässt sich auf enzyklopädischer Ebene keinesfalls befriedigend klären, ist doch unter den Expert_innen umstritten, was Platon mit Dialektik meint 5, 5 Im Sophistes bestimmt Platon Dialektik als Wissenschaft der richtigen Verbindungen und Trennungen: »[M]uß nicht auch mit einer Wissenschaft seine Reden durchführen, wer richtig zeigen will, welche Begriffe mit welchen zusammenstimmen, und welche einander nicht aufnehmen? Und wiederum ob es solche sie allgemein zusammenhaltende gibt, daß sie imstande sind sich zu vermischen? Und wiederum in den Trennungen, ob andere durchgängig der Trennung Ursache sind?« (Platon, Soph. 253b8–c3); »Das Trennen nach Gattungen, dass man weder denselben Begriff für einen andern, noch einen andern für denselben halte, wollen wir nicht sagen, dies gehöre für die dialektische Wissenschaft?« (Platon, Soph. 253d1–3); »Wer also dieses gehörig zu tun versteht, der wird eine Idee durch viele einzeln voneinander gesonderte nach allen Seiten auseinandergebreitet genau bemerken, und viele voneinander verschiedene von einer äußerlich umfaßte, und wiederum eine durchgängig nur mit einem aus vielen verknüpfte, und endlich viele gänzlich voneinander abgesonderte.
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4 · Konstruktion: Handeln als dialektischer Prozess
was Hegel damit meint 6 und wie dies ins Verhältnis zu setzen ist 7. Die Bedeutung des Ausdrucks »dialektisch«, die ich vorschlagen möchte, weist Bezüge auf die Philosophie Platons und Hegels auf. Der Sophistes von Platon ist eine wichtige Quelle für mein Nachdenken über Unterscheidungen wie auch Hegels Phänomenologie des Geistes. Letzteres ist zudem einer der wichtigsten Bezugstexte für die in diesem Kapitel vorgenommene Erschließung menschlichen Handelns. »Dialektisch« ist ein Methodenausdruck und bezeichnet ebenso sachliche Zusammenhänge. Ich verwende den Ausdruck auch in dieser doppelten Funktion. Spreche ich von »dialektischer Handlungstheorie«, dann ist damit eine Methode gemeint, wie über Handlungen nachgedacht werden soll und es ist etwas über die Dynamik von Handlungen selbst gesagt. Ich werde mich zunächst mit der methodischen Bedeutung beschäftigen und dann fragen, was daraus für die verhandelten Sachverhalte folgt. 8 Ein dialektisches Vorgehen ist nicht auf bestimmte Gegenstände des Nachdenkens beschränkt. Anlässe sind oft Spannungen, Brüche oder Ambivalenzen, die das Nachdenken in Gang bringen. Um diese Schwierigkeiten zu verstehen und mit ihnen angemessen umgehen zu können, ist es wichtig, einen möglichst einfachen und anspruchslosen Ausgangspunkt zu finden. Deshalb ist der Anschluss an geteilte Dies heißt dann, inwiefern jedes in Gemeinschaft treten kann und inwiefern nicht, der Art nach zu unterscheiden wissen.« (Platon, Soph. 253d4-e2). 6 In Hegels verschiedentlichen Ausführungen zur Bedeutung von »dialektisch« wechseln sich sehr weitgefasste semantische Horizonte mit enger gefassten ab. In einem sehr weiten Sinne wird »dialektisch« identifiziert mit »in Bewegung sein«, »sich verändern«: »Weiter macht sich nun auch die Dialektik in allen besonderen Gebieten und Gestaltungen der natürlichen und der geistigen Welt geltend. So z. B. in der Bewegung der Himmelskörper. Ein Planet steht jetzt an diesem Ort, ist aber an sich, dies auch an einem anderen Ort zu sein, und bringt dies sein Anderssein zur Existenz dadurch, dass er sich bewegt.« (Hegel, Enzyklopädie I, TWA 8, § 81 Z 1) Und in einem engeren Sinne (durch den Veränderung und Bewegung gewissermaßen in ihrem begrifflichen Kern aufgewiesen werden) bedeutet die Dialektik (des Endlichen) das, »wodurch dasselbe, als an sich das Andere seiner selbst, auch über das, was es unmittelbar ist, hinausgetrieben wird und in sein Entgegengesetztes umschlägt.« (ebd.). 7 Es sei repräsentativ für viele mögliche Titel der folgende genannt: Rüdiger Bubner, »Dialog und Dialektik oder Platon und Hegel«, in: ders., Antike Themen und ihre moderne Verwandlung, Frankfurt a. M. 1992, S. 37–65. 8 Diese Dopplung trifft nicht nur auf den Ausdruck »dialektisch« zu. Der Ausdruck »analytisch« bezeichnet ebenso ein methodisches Vorgehen, wie einen Zusammenhang zwischen Begriffen.
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Einleitung zum vierten Kapitel
Praktiken oder alltägliche Meinungen wichtig. 9 Dazu gehört es auch, verschiedene Ausdrücke für ähnliche Zusammenhänge zu verwenden und zwischen ihnen zu wechseln, um noch keine terminologischen Festlegungen und Einschränkungen zu erzeugen. Das ist für solche, die an definitorische Strenge gewöhnt sind, zunächst schwer nachvollziehbar. Solche Ausgangspunkte sind auf mehrere grundlegende Unterscheidungen hin zu befragen. Dies bedeutet, mögliche Verwendungskontexte zusammenzutragen und möglicherweise damit verbundene weitere Unterscheidungen sichtbar zu machen. Dadurch entsteht ein erstes Verständnis dafür, warum diese Unterscheidung von Bedeutung ist und worin die je verschiedene Qualität der unterschiedenen Aspekte besteht. Es ist wichtig, diese Verwendungskontexte auch aus der Perspektive der Verwender, also der an den möglichen Situationen Beteiligten durchzugehen oder »durchzusprechen« (um die auch für die Sache wichtige wörtliche Bedeutung des griechischen Wortes dialegesthai aufzunehmen). Die Fragen und Beobachtungen, die sich dabei ergeben, machen einen Wechsel in die Perspektive der Reflexion Bei Platon zeigt sich dies vor allem in den Rahmenhandlungen und den Nachfragen, wie denn dieses oder jenes dort gesehen wird, wo der Gesprächspartner herkommt. Bei Hegel erfüllt in der Phänomenologie des Geistes das »natürliche Bewusstsein«, dem eine Leiter gereicht werden muss, diese Funktion. Diesen Anspruch des natürlichen Bewusstseins an die Philosophie bringt Hegel in der Vorrede zur Phänomenologie des Geistes in aller Deutlichkeit zum Ausdruck. Es ist gedacht als allgemeingültiger Konsens, gemeinsame Basis oder verbreitetes Vorverständnis. Das natürliche Bewusstsein findet sich zurecht, es funktioniert selbstständig, unabhängig und selbstverständlich. Darin liegt sein absolutes Recht und sein Autoritätspotenzial. Die Philosophie, so ließe sich forcieren, braucht sich keine Retter- oder Wahrheitsüberbringer-Rolle einzubilden, das natürliche Bewusstsein hat sie nicht nötig. Alle Abweichungen von diesem funktionierenden common sense muss umgekehrt die Philosophie gut begründen, bei ihr liegt alle Beweislast, und sie muss dem natürlichen Bewusstsein »die Leiter zu ihrem Standpunkte reichen« (Hegel, PhG, GW 9, 23). Der Standpunkt des natürlichen Bewusstseins ist in diesem Sinne unbedingt anzuerkennen, und eine Philosophie, die sich darüber hinwegsetzt und »aus der Pistole« philosophiert, hat höchstens noch den Anspruch auf wolkige Erbaulichkeit. Philosophische Kritik muss an der Grundstruktur des natürlichen Bewusstseins selber ansetzen. Wie skizziert Hegel diese Grundstruktur des natürlichen Bewusstseins, was ist daran kritikwürdig und wie kann die Kritik greifen? Der »Standpunkt des natürlichen Bewusstseins« besteht allgemein gesagt darin, »von gegenständlichen Dingen im Gegensatze gegen sich selbst, und von sich selbst im Gegensatze gegen sie zu wissen« (ebd.). Ich will im Folgenden fragen, wie sich der Standpunkt des handelnden natürlichen Bewusstseins kennzeichnen lässt und diesen zum Ausgangspunkt der Überlegungen nehmen. Ich beginne damit im folgenden Abschnitt 4.1.
9
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4 · Konstruktion: Handeln als dialektischer Prozess
immer wieder nötig. Dies führt zu einem systematischen Wechsel zwischen den Perspektiven der Verwendung und der Reflexion. Unter den betrachteten Verwendungssituationen sollen auch solche sein, in denen die unterschiedenen Aspekte in einer Spannung zueinander stehen können oder gar in ein Verhältnis der Gegensätzlichkeit gebracht werden. Möglicherweise taucht hier die Spannung, der Bruch oder die Ambivalenz wieder auf, die den Anlass zum Nachdenken gegeben haben. Wichtig sind solche Verwendungssituationen auch deshalb, um ein größeres Spektrum vor Augen zu führen. Sonst kann es leicht passieren, dass sich in den reflektierenden Betrachtungen der Drang des erklärenden und modellbildenden Theoretikers durchsetzt, einige wenige Beispiele zu einem Modell zu verallgemeinern. Dieses kritische Moment im dialektischen Vorgehen ist zentral, denn es richtet sich gegen zwei im Alltag wie in den Wissenschaften (und der Philosophie) verbreitete Tendenzen. Die erste Tendenz besteht darin, vorschnelle Vereinheitlichungen vorzunehmen und die zweite darin, unterschiedene Aspekte als voneinander getrennt zu behandeln. Dies macht, etwas pauschal gesagt, Differenzierungen und Dynamisierungen nötig. Beide Tendenzen haben mit dem gleichen Problem zu tun, nämlich von den doppelten Wirkungen, die jede Tätigkeit (mindestens) hat, nur eine zu beachten. Die Tätigkeit der Vereinheitlichung erzeugt einen Zusammenhang durch Abgrenzung und dadurch den Bezug auf anderes. Beachtet wird aber nur der geschaffene Zusammenhang. Und die Tätigkeit des Trennens erzeugt voneinander getrennte Einheiten und stiftet dadurch auch eine Verbindung. Beachtet werden aber nur die getrennten Einheiten. Ein dialektisches Vorgehen versucht, die »Gleichzeitigkeit des Gegenstrebigen« in den Blick zu nehmen und systematisch zu untersuchen. Zwei verschiedene Ausdrucksweisen sind dafür besonders wichtig. In den verschiedenen Modalitäten von Trennungen zeigt sich die »Gleichzeitigkeit von Gegenstrebigen« meistens mit hoher Dramatik. Viele dialektische Untersuchungen haben daran besonderes Interesse. Praktische Gegensatzbildungen zum Beispiel provozieren geradezu bestimmte Dynamiken, wie die Destruktion des Gegensatzes oder die Reproduktion des Ausgeschlossenen oder den gegenseitigen Umschlag der Entgegengesetzten. Für viele Zusammenhänge ist es ausgesprochen erschließend, solche Dynamiken reflektieren zu können. Die Vielfalt der Erscheinungsweisen und möglichen Weiterentwicklungen macht eine Voraussage von Entwicklungen allerdings unmöglich. Die andere Ausdrucksweise ist weit weniger dramatisch, dafür 294 https://doi.org/10.5771/9783495817360 .
Einleitung zum vierten Kapitel
aber umso subtiler. Es sind die Rückwirkungen zwischen unterschiedenen Aspekten gemeint, durch die sich diese in einem fortwährenden Veränderungsprozess befinden. Dialektische Betrachtungen leiten dazu an, diese bemerken und gestalten zu können. Aus diesen methodischen Vorüberlegungen, die sich in diesem Kapitel an der dialektischen Entwicklung des Handlungsbegriffs konkretisieren sollen, folgt nun einiges für die betrachteten Sachverhalte. Denn es wurde deutlich, dass das dialektische Vorgehen mit einer Hypothese arbeitet, die sich an den Gegenständen als fruchtbar und angemessen erweisen soll. Diese Hypothese lässt sich verschieden formulieren, wie z. B.: Jede Tätigkeit hat (mindestens) zwei gegenstrebige Wirkungen. Es soll im Folgenden gezeigt werden, was daraus für den Handlungsbegriff folgen kann. Gleichzeitig soll der Versuch gemacht werden, diese Hypothese zu plausibilisieren.
c)
Die Dialektik des Handelns
Der Weg setzt an bei einem weithin anschlussfähigen und im Alltag geteilten, theoretisch anspruchslosen Selbstverständnis von uns als Handelnden. Es ist wichtig, die sprachlichen Bezeichnungen zunächst zu vervielfältigen, um keine Festlegungen auf einen bestimmten theoretischen Kontext vorzunehmen. In dieser Perspektive wird deutlich, dass das verwendete Vokabular aus komplementär aufeinander bezogenen Paaren besteht. Diese Paare setzen sich aus einem geistigen, planenden und einem umsetzenden, körperlichen Moment zusammen. Wie zeigt sich nun beides in möglichen Erfahrungen? Es macht die spezifische Darstellungsform dieses Kapitels aus, jeden begrifflichen Befund an möglichen Erfahrungen zu konkretisieren. Dafür wird die zweite Beschreibung des ersten Kapitels, die Gespräche zwischen Frau Wollen und Herrn Wunsch, herangezogen und systematisch variiert. 10 Die Variationen werden nötig, um sich die Vielfalt der Erscheinungsweisen vor Augen zu führen, um andere mögliche Interaktionen und Anschlüsse zu erwägen und neue begriffliche Überlegungen an verschobenen Situationen zu erproben. Die entworfenen Variationen möglicher Erfahrungen sollen keine Evidenzbasis liefern, an denen sich die theoretischen Überlegungen zu bewähren haben und die im Sinne von autoritativen Erfahrungsdaten jenseits 10
Vgl. Teil I, Kapitel 1.2.
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4 · Konstruktion: Handeln als dialektischer Prozess
der Kritik stehen. Dass dies gerade nicht so aufgefasst werden soll, zeigen die vielen Variationen, die keine Vollständigkeit haben können. Vielmehr erfüllt der Entwurf von Situationen die Aufgabe, der Perspektive der Beteiligung systematisch Rechnung zu tragen, was in theoretischer Sprache allein nicht möglich ist. Diese Perspektive hat ihre irreduzible Berechtigung gegenüber der theoretischen Reflexion und kann die Reflexion teilweise führen oder irritieren, während die Reflexion andererseits die Situationen deuten, verständlich machen und auf wichtige Konsequenzen aufmerksam machen kann. Aus der Reflexion auf diese Variationen von möglichen Erfahrungen werden Vorschläge für ein Vokabular gemacht, das in beständigen Schleifen zwischen Variationen und reflektierender Auswertung differenziert und aufgebaut wird. In den Passagen, in denen Situationen entworfen und variiert werden, ändere ich den sprachlichen Modus und verwende das inkludierende »Wir«. Durch die Variationen der Gesprächssituation zwischen Frau Wollen und Herrn Wunsch werden die suggestiven Rollenzuweisungen, die durch die Namen »Frau Wollen« und »Herr Wunsch« zunächst bewusst vorgenommen wurden, aufgelöst und teilweise sogar ins Gegenteil verkehrt. Soziale Interaktionen sind keine Bestätigungen von vorgefertigten Rollenmustern. Vielmehr kommt ihnen durch das irreduzible Spektrum möglicher Anschlüsse ein hoher Grad an Unbestimmtheit zu, der zur Fortsetzung auffordert. Das sachliche Anliegen des ersten Abschnitts besteht darin, den beiden komplementär aufeinander bezogenen Momenten des Handelns in möglichen Erfahrungen nachzugehen. Der Weg der Darstellung macht klar, warum diese beiden Momente fernab von üblichen Begrifflichkeiten als »Entwerfen« und »Gestalten« bezeichnet werden. Ein theoretischer Vorschlag, wie die beiden Momente aufeinander zu beziehen sind, ist nur dann tragfähig, wenn die eigentümliche Komplementarität reflektiert wird, die beiden Momenten zukommt (4.1 Handeln als Zusammenspiel von Entwerfen und Gestalten). Trotz des komplementären Bezugs tritt der verschiedene Charakter der beiden Aspekte des Handelns in vielen Situationen sehr deutlich zutage. Dies macht verständlich, weshalb es zu den Herausforderungen im Handeln gehört, mit Differenzerfahrungen umzugehen, in denen der Abstand zwischen Entwurf und Gestaltung intensiv erlebt wird. Die Kontrasterfahrungen zwischen Wollen und Wün296 https://doi.org/10.5771/9783495817360 .
Einleitung zum vierten Kapitel
schen, wie sie in den Beschreibungen des ersten Kapitels 11 gegeben wurden, sind Beispiele für solche Differenzerfahrungen. Wird die Differenz zwischen Entwurf und Gestaltung zu einem Gegensatz verfestigt, können bestimmte Einstellungen zur Welt entwickelt werden, nämlich Überheblichkeit, Resignation und Selbsttäuschung (4.2 Erfahrungen von Verschiedenheit, Differenz und Gegensatz). Handeln wird nur dann verständlich, wenn die beiden Aspekte Entwerfen und Gestalten miteinander »vermittelt« werden. Entwürfe sind unbestimmt und komplementär auf mögliche Bestimmungen bezogen. Diese Bestimmungen geschehen in vielfältigen Gestaltungsakten, die wiederum auf die Entwürfe zurückwirken und diese verändern. Die Gestaltungen und die Rückwirkungen zwischen den Aspekten des Handelns sollen in vier wichtigen Dimensionen entfaltet und mitvollzogen werden. Gestaltungen sind erstens Festlegungen, die Handlungsmöglichkeiten eröffnen, indem andere verschlossen werden. Wird ein unbestimmter Entwurf durch die Festlegung auf eine der Gestaltungsmöglichkeiten weiterbestimmt, wirkt dies verändernd auf den Entwurf zurück, was wiederum die nächsten Gestaltungsschritte verändert. Rückwirkungen bedeuten ständige Veränderungen, die teilweise schwer zu beschreiben und dennoch hoch wirksam sind. Festlegungen haben nicht nur Rückwirkungen, sondern wirken auch verändernd auf die Umgebung. Das kann man die »Konsequenzen« der Handlungen nennen. Welche der Konsequenzen gehören nun zur Handlung selbst und machen deren Bedeutung verständlich (4.3 Rückwirkungen gestalten 1: Handeln heißt sich festlegen)? Gestaltungen sind zweitens Verkörperungen, in denen das Wechselverhältnis zwischen Gestalten und Gestaltet-Werden erfahren wird. »Geistige« Entwürfe (wie Absichten, Zwecke etc.) sind oft ihrerseits abhängig von leiblich-emotionalen Empfindungen, deren Reflexion Anlass zur Ausbildung von »geistigen Entwürfen« gibt. Der Körper nimmt dabei eine ambivalente Rolle ein, nämlich einerseits als Ausdruck von Bedeutsamkeit 12 (oder als Leib), wie auch als physiologischer Funktionszusammenhang (oder als Körper) (4.4 Rückwirkungen gestalten 2: Handeln heißt verkörpern). Vgl. vor allem Teil I, Kapitel 1.1 und 1.2. Vgl. zum Ausdruck »Bedeutsamkeit«, der von Dilthey und der Dilthey-Schule verwendet wurde: Christoph Demmerling, »Bedeutung und Sinn«, in: C. Bermes/ U. Dierse (Hg.), Schlüsselbegriffe der Philosophie des 20. Jahrhunderts, Hamburg 2010, S. 43–57. 11 12
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4 · Konstruktion: Handeln als dialektischer Prozess
Jede Gestaltung braucht Anschlüsse an vorhandene Kontexte, Gewohnheiten und Regeln, die fortgesetzt und unterbrochen werden können. Da dieses »Vorhandene« einen ausgesprochen uneinheitlichen Charakter hat, gibt es die Möglichkeit für Verschiebungen von Anschlüssen in kritischer Absicht (4.5 Rückwirkungen gestalten 3: Handeln heißt anschließen). Gestaltungen fordern aber auch Anschlüsse anderer heraus und werden durch erwartete wie unerwartete Konsequenzen erweitert (4.6 Rückwirkungen gestalten 4: Handeln heißt ein Interaktionsangebot machen). Der Weg dieser Erfahrungen ist sehr stark angeregt durch Auseinandersetzungen mit den erwähnten »handlungstheoretischen Passagen« der Philosophie Hegels. Dennoch sind die Überlegungen nicht als Auslegung der Texte Hegels zu verstehen, sondern eher als Aneignung eines dialektischen Handlungsverständnisses. Die wichtigsten Bezüge zu Hegel sollen zu Beginn der ersten drei Abschnitte (4.1.–4.3) in Form von ausführlicheren Fußnoten ausgewiesen werden. Für die Abschnitte, in denen die vier Dimensionen der Gestaltung und die vielfältigen Rückwirkungen auf die Entwürfe präsentiert werden (4.3–4.6), ist zudem die Philosophie Deweys von großer Bedeutung. Wichtige Bezugnahmen auf die sogenannte »pragmatistische Handlungstheorie« werden markiert, aber auch hier gilt, dass ich mit diesem Kapitel nicht primär eine Auslegung von Texten vornehme, sondern zentrale Grundfiguren verbinde und konkretisiere.
4.1 Handeln als Zusammenspiel von Entwerfen und Gestalten Individuelle Akteure werden oft als solche verstanden, die Interessen, Bedürfnisse und Wünsche (im Sinne von desire) 13 haben und handeln, um diese zu befriedigen, durchzusetzen und zu verwirklichen. 14 Da es hier darum geht, verschiedene übliche Bezeichnungen aufzunehmen, taucht die verbreitete Verwendung von »Wünschen« im Sinne von Begehrungen an dieser Stelle wieder auf. 14 Inspirationsquelle für diesen Abschnitt ist der Beginn des handlungstheoretischen Kernstücks der Phänomenologie des Geistes, Kapitel V, Abschnitt C (»Die Individualität, welche sich an und für sich selbst reell ist«), Unterabschnitt a (»Das geistige Tierreich und der Betrug, oder die Sache selbst«). Dieser beginnt mit der Überlegung, was einen menschlichen Akteur ausmacht. Hegel nimmt eine Antwort auf, die möglichst nah an den in den Alltag abgesunkenen Überzeugungen des natürlichen Be13
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Handeln als Zusammenspiel von Entwerfen und Gestalten
Diese Interessen, Bedürfnisse und Wünsche sind den Akteuren zum Teil explizit bewusst, zum Teil sind sie implizit im Sinne von Dispositionen, die in geeigneten Situationen aktualisiert werden. »Wenn eine wusstseins ist. Unsere Vorstellung von Akteuren ist häufig eine, die die Akteure mit bestimmten inneren Dispositionen ausstattet, über die der Akteur verfügt, wie Interessen, Wünsche, Bedürfnisse, bestimmte Charaktereigenschaften, Begabungen oder Fähigkeiten. Hegel spricht hier von einer »ursprünglichen Natur«, die wir dem Einzelnen zuschreiben. Diese Fähigkeiten »sind« in uns, über sie sprechen wir in Kategorien des Seins. Das Verhalten von Akteuren wird aufgefasst als Verwirklichung der eigenen Interessen, Fähigkeiten und Dispositionen. Hegel spricht davon, dass das Tun des Individuums ein vollendetes »Sich-auf-sich-selbst-Beziehen« ist. Nur die eigenen Anlagen werden umgesetzt, die Beziehung auf anderes ist aufgehoben (Hegel, PhG, GW 9, 216). Aus seiner »ursprünglichen Natur« gewinnt das Individuum seine konkreten Zwecke, es hat den allgemeinen Zweck, diese Inhalte bzw. einige von ihnen zu verwirklichen. Was passiert nun bei dieser so verstandenen Verwirklichung dessen, was die Anlagen des Individuums sind? Bei der Verwirklichung tut sich ein Unterschied auf zwischen dem, was verwirklicht werden soll und dem Prozess der Verwirklichung und dem verwirklichten Ergebnis. Die entscheidende Stelle scheint mir die folgende zu sein: »Die einfache ursprüngliche Natur nun tritt in dem Tun und dem Bewusstsein des Tuns in den Unterschied, welcher diesem zukommt. Er ist zuerst als Gegenstand, und zwar als Gegenstand, wie er noch dem Bewusstsein angehört, als Zweck vorhanden, und somit entgegengesetzt einer vorhandenen Wirklichkeit. Das andere Moment ist die Bewegung des als ruhend vorgestellten Zwecks, die Verwirklichung, als die Beziehung des Zwecks auf die ganz formelle Wirklichkeit, hiemit die Vorstellung des Überganges selbst, oder das Mittel. Das dritte ist endlich der Gegenstand, wie er nicht mehr Zweck, dessen das Tuende unmittelbar als des seinigen sich bewusst ist, sondern wie er aus ihm heraus und für es als ein Anderes ist.« (Hegel, PhG, GW 9, 217) In dieser Passage passiert Vieles zugleich. Auf den ersten Blick wird vor allem das spezifische praktische Vokabular von »Zwecken« und »Mitteln« eingeführt. Wie immer bei Hegel wird dies Vokabular aber verwendet als eine inhaltliche Gestaltung eines viel allgemeineren Strukturvokabulars, das vor allem in der Einleitung zur Phänomenologie des Geistes entwickelt wird. Zu diesem Strukturvokabular gehören die Ausdrücke »Unterschied, der ihm (d. h. dem Bewusstsein) zukommt«, »Gegenstand«, »Bewusstsein«, »für es«, »Anderes«. Und gleichzeitig soll gezeigt werden, dass in dem oben skizzierten üblichen Bild von einem individuellen Akteur, der seine natürlichen Anlagen und Interessen verwirklicht, eine sehr elementare Struktur wirksam ist, die das »Bewusstsein des Tuns« kennzeichnet. Diese Struktur kommt aber erst bei einer Reflexion auf die Verwirklichung von Anlagen oder Zwecken zutage und ist in der ersten Beschreibung eines individuellen Akteurs, der seine Anlagen verwirklichen will, verdeckt. Aber in der Verwirklichung zeigt sich eben, dass sich ein Unterschied auftut zwischen dem Inhalt im Bewusstsein, dem Zweck, diese oder jene natürliche Anlage oder dieses oder jenes Talent zu verwirklichen auf der einen Seite und der Verwirklichung auf der anderen Seite. Als dieser Gegenstand des Bewusstseins ist er in der Weise der vorhandenen Wirklichkeit entgegengesetzt, als ein zu verwirklichender Zweck noch nicht vorhandene Wirklichkeit ist, sondern diese gerade werden soll. Die Verwirklichung ist einerseits Übergang des »als ruhend vorgestell-
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Person P z. B. an x dächte, würde sie x wünschen.« Wünsche, Interessen oder Bedürfnisse mobilisieren Überlegungen, welche Mittel nötig und geeignet sind, um Befriedigung, Erfüllung oder Verwirklichung zu erreichen. Diese Befriedigung, Erfüllung oder Verwirklichung durch Handlungen hat in den meisten Fällen eine sinnliche Wahrnehmbarkeit, zum Beispiel durch körperliche Bewegungen. Unser Interesse ist z. B., das Treffen mit Freunden heute Abend nicht zu verpassen, deshalb setzen wir eine Reihe von Bewegungen in Gang, wie andere Beschäftigungen abzuschließen oder abzubrechen, uns den Temperaturen und dem Anlass entsprechend zu kleiden, zur rechten Zeit ein Verkehrsmittel zu nehmen und vieles mehr. Oder nehmen wir die Beschreibung der Teamsituation aus dem ersten Kapitel 15 wieder auf: Frau Wollen hat das Bedürfnis, Herrn Not zu unterstützen und gegenüber den Ungerechtigkeiten der Chefin zu verteidigen und bemüht sich darum, Gelegenheiten zu schaffen, indem sie andere Kollegen aktiv darauf anspricht. Ich habe bewusst eine Liste von Ausdrücken verwendet: »Interessen«, »Bedürfnisse«, »Wünsche« und ich ergänze »Absichten«, »Intentionen«, »Zwecke« oder »Ziele« einerseits und »Befriedigung«, »Durchsetzung«, »Verwirklichung«, »Umsetzung«, »Erfüllung« andererseits, um an dieser Stelle noch keine terminologischen Entscheidungen zu treffen. In unserem alltäglichen Selbstverständnis als Handelnde haben wir eine Fülle von Ausdrücken zur Verfügung und die Erfordernisse der Situation sind entscheidend dafür, welche wir als geeignet empfinden. Gelingen oder Misslingen der Umsetzung (bzw. Befriedigung, Verwirklichung etc.) sind nun von verschiedenen Faktoren abhängig, die zum Teil dem individuellen Akteur zuzurechnen sind, wie im Falle des Misslingens zum Beispiel mangelnde Motivation oder unkluger Einsatz der Mittel, und zum Teil kontingenten äußeren Umständen, wie zum Beispiel Unfälle oder Naturkatastrophen. Ich will nun bei dieser knappen, zugegebenermaßen sehr groben und damit vorläufigen Darstellung die Aufmerksamkeit auf die Tatten« Zwecks in eine andere Form und damit der Prozess, in dem dieser durch den Einsatz geeigneter Mittel in die Wirklichkeit gebracht wird. Der »als ruhend vorgestellte Zweck« ist notwendig allgemein, abstrakt und erst in der Verwirklichung wird er ein konkretes vollständig bestimmtes Dieses. Andererseits meint Verwirklichung das verwirklichte Ergebnis, das etwas Eigenes und anderes geworden ist und zu dem das Bewusstsein keinen privilegierten Zugang hat. 15 Vgl. Teil I, Kapitel 1.2.
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sache lenken, dass in den meisten Redeweisen über uns als individuelle Akteure, sei es als solche, die Bedürfnisse haben, die erfüllt werden sollen oder die Interessen haben, die um- und durchgesetzt werden sollen oder die Wünsche haben, die erfüllt werden sollen oder die Absichten haben, die realisiert werden sollen, komplementäre Begriffspaare verwendet werden. 16 Das hat seinen guten Sinn, folgt man Ralf Stoeckers allgemeiner Einschätzung, dass die Brisanz des Nachdenkens über menschliches Handeln darin liegt, zwei Übergänge denken und verstehen zu müssen, nämlich den Übergang zwischen Sein und Sollen und den Übergang zwischen Geist und Welt. 17 Die komplementären Begriffspaare, die die verschiedenen Theorierichtungen vorschlagen und die das Instrumentarium bilden, um diese beiden Übergänge zu analysieren, sind nun zum Beispiel die folgenden. Stoecker spricht ganz allgemein von »Handlungen« und »Handlungsgründen«. Davidson hat den Vorschlag gemacht, Handlungsgründe als »Proeinstellungen« 18 kombiniert mit der Überzeugung (belief), dass die Handlung die als positiv bewertete Eigenschaft tatsächlich besitzt, zu analysieren. Anstelle von »Proeinstellung« wird oft in einem weiten Sinne von »Wünschen« (desire) gesprochen. Phi»Komplementär« meint hier nicht die Bildung des logischen Komplementes (wie rot und nicht rot), sondern die gegenseitige Verweisung von Bedeutungen. »Komplementarität« soll auch nicht als technischer Terminus verstanden werden, wie ihn Niels Bohr zunächst für physikalische Modellbildungen geprägt hat. Komplementäre Erkenntnisse oder allgemeiner komplementäre Beziehungen haben gemäß der Verwendung von Niels Bohr, der den Begriff als theoretischen Terminus eingeführt hat, drei Besonderheiten. Sie gehören zusammen, insofern sie sich auf ein Objekt beziehen, sie ergänzen sich zu einem Ganzen und sie schließen sich aus, weil sie nicht zugleich und zum gleichen Zeitpunkt erfolgen können. Vgl. Niels Bohr, Atomtheorie und Naturbeschreibung, Berlin 1931, S. 36 f. und ders., Atomphysik und menschliche Erkenntnis, Braunschweig 1958, S. 11, 26 ff. Der letzte Aspekt des gegenseitigen Ausschlusses spielt in der hier vorgeschlagenen weiten Verwendung keine Rolle. Seine Relevanz für die Analyse von menschlichen Handlungen kann erst in einer dialektischen Darstellung entfaltet werden. 17 Vgl. Stoecker, »Einleitung«, in: ders., (Hg.), Handlungen und Handlungsgründe, a. a. O., S. 7. 18 »Proeinstellungen« sind nach Davidson sämtliche »Wünsche, Begehren, Impulse, Reize und eine große Vielfalt von moralischen Ansichten, ästhetischen Grundsätzen, ökonomischen Vorurteilen, gesellschaftlichen Konventionen, von öffentlichen und privaten Zielen und Werten, insoweit diese als auf Handlungen einer bestimmten Art bezogene Einstellungen eines Handelnden gedeutet werden können.« (Donald Davidson, »Handlungen, Gründe und Ursachen«, in: ders., Handlung und Ereignis, Frankfurt a. M. 1990, S. 19–42, S. 20, im englischen Original: Donald Davidson, »Actions, Reasons and Causes«, in: The Journal of Philosophy 60 (1963), S. 685–700). 16
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losophische Beschäftigungen mit menschlichem Handeln müssen Handeln als diesen Übergang beschreiben, also dessen Implikationen bewusst und verständlich machen, d. h. erklären und auf dieser Grundlage kritisch gegen alltägliche oder wissenschaftliche oder andere philosophische Redeweisen auftreten, die den gewonnenen Differenzierungen nicht gerecht werden. Die Komplementarität der verschiedenen Vokabularien bedeutet hier zunächst nur so viel, dass die beiden Seiten einander ergänzen und für sich allein genommen unvollständig sind. Erst im Zusammenhang bildet sich die Einheit der Handlung. Trotz der großen Diversität, die sich in den verschiedenen Vokabularien ausdrückt, kann man sagen, dass Geistiges 19 auf der einen und körperliche Bewegungen auf der anderen Seite einen Zusammenhang bilden. Über die richtige Analyse der Art dieses Zusammenhangs, oder klassischer formuliert, dieser Einheit, streiten sich die handlungstheoretischen Schulen und es ist schwierig und wahrscheinlich unmöglich, ohne theoretische Vorentscheidungen ein alltägliches Selbstverständnis als Handelnde zu beschreiben. Denn unser alltägliches Selbstverständnis ist zu vielfältig und zu uneinheitlich und jede Orientierung an bestimmten Beispielen ist schon eine Entscheidung gegen mögliche andere. Ich erinnere an Taylors Versuch, den grundsätzlichsten Punkt dieses Streits aufzuweisen: Die Einheit der Handlung kann entweder als ontologisch irreduzibel angesehen werden (dann ist »Handlung« ein primitiver Begriff). Oder die Einheit der Handlung wird als auf zwei voneinander ontologisch unabhängige und deshalb kausal verknüpfbare Komponenten reduzierbar analysiert. 20 In dieser Perspektive stellt sich die Frage nach dem Handeln als Frage danach, wie ein Zusammenhang Verschiedener zu denken ist bzw. wie die verschiedenen Aspekte voneinander unterschieden werden müssen und was sich daraus für den Charakter dieser Aspekte ergibt. Sind sie als Komponenten oder als voneinander abhängige Momente zu bestimmen? Sind sie rational, also in unserem reflektierenden DenDiese etwas sperrige Substantivierung ist wegen der maximalen Offenheit bewusst gewählt, weil hinter den Konkretisierungen wie »geistige Zustände«, »geistige Ereignisse« oder »geistige Aktivitäten« wieder Kontroversen stehen. Vgl. zum Beispiel zur Kritik am Ausdruck »geistige Ereignisse« Lutz Wingert, »Über die Wirksamkeit des menschlichen Geistes in der wohl verstandenen Welt«, in: J. Nida-Rümelin/E. Özmen (Hg.), Welt der Gründe, Hamburg 2012, S. 478–497, S. 490, Anm. 20, sowie die Analyse von geistiger Aktivität, S. 485 ff. 20 Dies wurde ausführlicher dargestellt in Teil I, Kapitel 3.3.1. 19
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ken voneinander zu unterscheiden (distinctio rationis), aber in ihrem »Sein« ununterschieden, oder handelt es sich um einen realen Unterschied in der Sache zwischen zwei verschiedenen Gegenständen (hier zwei verschiedenen Ereignissen) (distinctio realis)? Diese terminologische Anspielung auf scholastische Differenzierungen von Distinktionstypen soll hier nur zeigen, dass zur Beschreibung und Analyse von Unterscheidungsalternativen eine Sprache und Terminologie nötig ist, zu der es in der scholastischen Philosophie einige Vorschläge gibt, die allerdings auf Voraussetzungen fußen und sich in unübersichtliche Zergliederungen verlaufen haben, sodass eine einfache Übernahme dieses Theorieangebotes nicht möglich ist. 21 Ich will damit beginnen, diesem komplementären Vokabular, das sich quer durch die verschiedenen Schulen zieht, in einer möglichen Situation genauer nachzugehen, um zu sehen, welche Erfahrungen sich damit verbinden. Es soll der Versuch gemacht werden, die Frage nach der Weise der Unterscheidung der beiden komplementären Seiten nicht in Abstraktion von unseren Erfahrungen als Handelnde zu diskutieren, sondern die Vielfalt möglicher Erfahrungen mitzuberücksichtigen. Ich beziehe mich dafür zurück auf das Gespräch zwischen Frau Wollen und Herrn Wunsch und werde dies in vielen Variationen weiter entfalten und diese auf ihre theoretischen Konsequenzen hin reflektieren. Erinnern wir 22 uns an die Situation der zweiten Beschreibung aus dem ersten Kapitel: Der Kontext ist eine Arbeitssituation. In einem Team von fünf Kolleginnen und Kollegen und einer Leitungsperson regt sich Unbehagen bei einer Kollegin (Frau Wollen). Bei ihr verstärkt sich der Eindruck, dass ein Kollege (Herr Not) von der Leitung ungerecht behandelt wird. Dies ist nicht ganz offensichtlich, es liegen keine justiziablen Verstöße gegen geltendes Recht vor. Vielmehr ist bei der Kollegin durch das Zusammenwirken vieler kleiner Beobachtungen der Eindruck ungerecht verteilter Anerkennung entstanden, was sie als unangenehme Belastung der Zusammenarbeit empfindet. Die Kollegin ist verunsichert und sucht das Gespräch mit einem anderen Kollegen (Herrn Wunsch), der ihren Eindruck im Verlaufe des Gesprächs bestätigt. Die beiden kommen überein, tätig zu werden und den betreffenden Kollegen zu unterstützen. Sie vereinbaren wegen der sehr eingeVgl. dazu auch die dritte Skizze in Abschnitt i der allgemeinen Einleitung, sowie Teil II, Kapitel 2.3.2. 22 Hier setzt der angekündigte sprachliche Wechsel ein. Immer dann, wenn es um die Erfahrungen in der entworfenen Situation geht, verwende ich das inklusive »Wir«. In den anschließenden Reflexionen wechsele ich zurück ins organisierende »Ich«. 21
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schränkten Kritikfähigkeit der Chefin ein indirektes Vorgehen in der nächsten Teamsitzung. Frau Wollen ergreift dort wie besprochen das Wort und versucht Herrn Not zu unterstützen, indem sie seine Kompetenz in einem bestimmten Bereich betont und vorschlägt, ihn dort einzusetzen. Laut Verabredung wäre dies der Einsatz für Herrn Wunschs Beitrag gewesen. Er schweigt aber und die Initiative verebbt. Nach der Teamsitzung stellt Frau Wollen Herrn Wunsch zur Rede.
In der Situation haben drei Gespräche stattgefunden. Ein Gespräch, in dem die beiden Dialogpartner, Frau Wollen und Herr Wunsch, ihre Absichten geäußert haben, wie sie in der kommenden Teamsitzung zwecks Unterstützung von Herrn Not agieren wollen, zweitens die Teamsitzung und drittens das Gespräch, in dem Frau Wollen Herrn Wunsch zur Rede stellt: »Warum hast Du nicht getan, was wir besprochen haben?« Im zweiten Abschnitt des ersten Kapitels lag der Schwerpunkt der Aufmerksamkeit auf dem dritten Gespräch, in dem die Diskrepanz zwischen geäußerter Absicht und Tun im Mittelpunkt steht. Durch die sachliche Verschiebung auf den Handlungsbegriff selber ist nun die Frage an die Situation auch eine andere geworden, nämlich: Wie zeigt sich das komplementäre Verhältnis von geistigem und körperlichem Aspekt? Hierfür ist zunächst das erste der drei Gespräche interessant, in dem beide Dialogpartner ihre Absicht bekunden, Herrn Not zu unterstützen. In den Beschreibungen im ersten Kapitel 23 ist dieses erste Gespräch nur erwähnt, nicht ausgeführt worden und es ist deshalb nun die Aufgabe, mögliche Ausführungen zu skizzieren und zu variieren, um der Frage nach der Art der Komplementarität von Absicht und Umsetzung bzw. geistigem und körperlichem Aspekt im Rückbezug auf mögliche Erfahrungen weiter nachzugehen. Wir können uns vorstellen, wie Frau Wollen vor dem Gespräch mit Herrn Wunsch wieder einmal eine Szene der subtilen Demütigung von Herrn Not durch die Chefin mitbekommen hat und zu sich selbst sagt: Wo: »Ich kann das nicht länger tatenlos mit ansehen, wie jemand in meiner Nähe derart schlecht behandelt wird. Ich werde mir überlegen, wie ich meinen Kollegen unterstützen kann.« Wir können uns weiter vorstellen, wie Frau Wollen daraufhin das Gespräch mit Herrn Wunsch sucht, um zu eruieren, ob er ihre Empfindung teilt und welche Möglichkeiten der Unterstützung machbar und sinnvoll sein könnten. In dem Gespräch erwachsen aus der Empörung über das Ver-
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Teil I, Kapitel 1.2.
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halten der Chefin ein gemeinsames Verantwortungsgefühl für den Kollegen und der Plan, in der nächsten Teamsitzung zu intervenieren. Und wir können uns drittens, die ursprüngliche Beschreibung variierend, vorstellen, wie Frau Wollen den Plan umsetzt, an einer bestimmten Stelle der Teamsitzung das Wort ergreift und Herr Wunsch schweigt, aber eine andere Kollegin, die vorher gar nicht beteiligt war, Frau Vollzug, sich so nachdrücklich und überzeugend anschließt, dass die überraschte Chefin dem Vorschlag der beiden zustimmt.
Ich will die Aufmerksamkeit auf die drei Weisen lenken, in denen sich hier Intentionen (oder Absichten etc.) manifestieren, nämlich erstens in einer Art Selbstgespräch oder in einem inneren Satz (von Frau Wollen) und zweitens in einem Gespräch (zwischen Frau Wollen und Herrn Wunsch) und drittens im Handeln selbst (von Frau Vollzug). Im ersten Fall stehen die Bildung der Absicht, deren Äußerung und die sinnlich wahrnehmbare Handlung als Gesprächsbeitrag in der Teamsitzung in einem zeitlichen Abfolgeverhältnis. Diese Aufeinanderfolge kommt sicher häufig vor und unsere Redeweisen über Absichten, Vorhaben und Pläne, die man erst fassen müsse, um dann zu handeln, scheinen es nahe zu legen, dass diesem zeitlichen Abfolgeverhältnis eine Notwendigkeit zukomme. Theorieangebote wie das von Sigwart stabilisieren dieses Bild. Diese zeitliche Reihenfolge ist aber keinesfalls notwendig, denn es kommt ausgesprochen häufig vor, dass sich die Absicht erst im Prozess der sichtbaren Bewegungen bildet, wie im Falle des spontanen Eingreifens von Frau Vollzug. Frau Vollzug kommt nicht mit der Absicht in die Teamsitzung, Herrn Not zu unterstützen und vielleicht hat sie bisher kein Bewusstsein darüber gehabt, dass in Bezug auf Herrn Not Unrecht geschieht. Frau Vollzugs Intention, Frau Wollens Vorstoß zu unterstützen, ist gar nicht ablösbar von ihrem Handeln, sondern zeigt sich als Reaktion auf eine Situation durch eine Aktivität der Steuerung ihrer Redebeiträge. Da es nun also genauso Fälle gibt, in denen eine Absicht zuerst geäußert wird, dann in gesteuerte Aktivitäten umgesetzt und dann erfüllt oder nicht erfüllt wird, wie solche, in denen die Absicht als Ordnungsleistung von Aktivitäten auftritt und nicht explizit geäußert werden muss, scheint die Ordnungsfunktion und Ausrichtung von Aktivitäten eine notwendige und hinreichende Bedingung dafür zu sein, dass etwas beabsichtigt wird. 24 Die Äußerung der Absicht und auch das Bewusstsein von der 24
Vgl. zu diesen beiden Weisen, wie Absichten vorkommen, John Searle, Intentiona-
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Absicht (»ich habe die Absicht, dass«) scheint dagegen weder eine hinreichende noch eine notwendige Bedingung zu sein, sondern eine Variante dessen, wie es vorkommen kann, dass wir etwas beabsichtigen. Nun ist diese steuernde Ordnungsfunktion sicher als eine geistige Aktivität zu bezeichnen, die aber keine von den vollzogenen Körperbewegungen unabhängige Realität haben kann. 25 Dieser Eindruck entsteht dagegen bei dem Akt, einen Entschluss zu fassen oder eine Absicht im inneren Selbstgespräch zu äußern. Die komplementären Paare Absicht und Erfüllung oder Intention und Realisierung etc. stehen in der Gefahr, diese Trennbarkeit und ontologische Selbstständigkeit der beiden Seiten zu suggerieren. Es ist demgegenüber festzuhalten, dass Absichten sich verschieden manifestieren und es deshalb zu vermeiden ist, einen Typ von Beispielen zu präferieren und mit alleinigem Rekurs auf ihn Theorievorschläge über menschliches Handeln zu präsentieren. 26 Hinter diesen wenigen Bemerkungen steht eine große und breit geführte Diskussion in der Handlungstheorie, ob das besondere Kennzeichen des Handelns in den Handlungsursachen, im Vollzug der Handlung selbst oder in den Handlungsfolgen liegt. Harry Frankfurt zum Beispiel kritisiert Davidsons Analyse, das Spezifikum des Handelns vor das Handeln selber zu verlegen und setzt dagegen als Spezifikum die Lenkung der Handlung (guidance). 27 In der pragmatistischen Handlungstheorie, die von Hans Joas in die deutsche Diskussion eingebracht wurde, liegt die besondere Aufmerksamkeit auf der Kreativität des Handlungsverlaufes und auf den Handlungsfollität. Eine Abhandlung zur Philosophie des Geistes, Frankfurt a. M. 1991, S. 113: »Wir müssen zunächst zwischen Absichten, die vor der Handlung gebildet werden, und solchen, für die das nicht gilt, unterscheiden.« Ersteres nennt Searle »vorausgehende Absicht« und Letzteres »Handlungsabsicht«. 25 Wingert beschreibt die Besonderheit geistiger Aktivitäten treffend, wenn auch etwas technisch, folgendermaßen: »Eine Eigenschaft von geistiger Aktivität ist es, SeinSollens-Beziehungen herzustellen. Das Strukturieren besteht in einem Inbezugsetzen von Gegebenheiten zu etwas Gesolltem unter dem Aspekt der Erfüllung von Sollensbedingungen.« (Wingert, »Über die Wirksamkeit des menschlichen Geistes in der wohl verstandenen Welt«, a. a. O., S. 491). 26 Dies in aller Schärfe deutlich zu machen und aufzuzeigen, wie philosophische Theorien oft der Suggestivkraft von einseitigen Beispielen erliegen, weil sie nicht ausreichend Vielfalt erzeugen, ist eines der zentralen Anliegen Wittgensteins, vgl. dazu ausführlicher Teil I, Kapitel 2.3. 27 Harry Frankfurt, »The Problem of Action«, in: American Philosophical Quarterly 15 (1978), S. 157–162.
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gen. Dabei wird die Idee eines geistigen der Handlung vorausgehenden Aktes zurückgewiesen. Zwecke sind keine geistigen Akte vor der Handlung, sondern Resultat einer Reflexion auf die in jedem Handlungsvollzug wirksamen Strebungen und Gerichtetheiten. 28 Die Tatsache, dass ein vorausgehender geistiger Akt keine notwendige Bedingung für Handeln ist, führt dennoch nicht zu einer Identifikation von Geistigem und Körperlichem in Form von Reduktionen des einen auf das andere. Vielmehr ist es wichtig, die Verschiedenheit in einer vorläufigen Weise festzuhalten. Damit ist der Vielfalt der Erscheinungsweisen Rechnung getragen und die Übergangsmöglichkeit des einen in das andere ist nicht von vornherein ausgeschlossen. Mit Blick auf die Möglichkeiten, Absichten vor einer Handlung zu haben, sie im Gespräch zu entwickeln oder sie spontan im Handlungsvollzug auszubilden, will ich vorschlagen, diesen Aspekt des Handelns als »orientierenden Entwurf« zu bezeichnen. Dieser Entwurf zeigt sich in Form einer Art Steuerung von Tätigkeiten, durch die mögliche Anschlüsse antizipiert und wahrscheinlicher gemacht und andere ausgeschlossen oder unwahrscheinlicher gemacht werden. Den komplementären Begriff bezeichne ich als »Gestaltung«. Damit wird der Offenheit Ausdruck verliehen, den Entwurf unter den gegebenen sozialen, zeitlichen, räumlichen, materiellen und kulturellen Bedingungen hervorzubringen. Diese Gestaltung erfolgt unter dem orientierenden Entwurf, ist aber natürlich verschieden davon, da erst in der Gestaltung die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten der Materialität oder der sozialen Bedingungen sichtbar werden. Mit diesem terminologischen Vorschlag, das komplementäre Begriffspaar »orientierender Entwurf« und »Gestaltung« zu nennen, soll der hohe Grad gegenseitiger Verweisung wie auch die zur Weiterbestimmung auffordernde Unbestimmtheit zum Ausdruck kommen. Trotz der intendierten Offenheit der vorgeschlagenen Terminologie stellt sich die Frage, ob unter dem Aspekt des »orientierenden Entwurfs« nicht sehr verschiedene Erscheinungsweisen zusammengefasst sind, die einer auch sprachlichen Differenzierung bedürfen. Denn ist nicht der orientierende Entwurf, der Frau Vollzug leitet, ganz anderer Art als der, den Frau Wollen in ihren eigenen Überlegungen oder den Herr Wunsch im Gespräch ausbildet? Um diese und andere Fragen zu klären, sollen die beiden komplementären BeVgl. Joas, »Eine nicht-teleologische Deutung der Intentionalität des Handelns«, a. a. O., S. 232.
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griffe »orientierender Entwurf« und »Gestaltung« mit Rückbezug auf die Situationen noch etwas genauer betrachtet werden. Ich beginne mit dem »orientierenden Entwurf«. In der oben entworfenen Situation selbst wurde der Ausdruck »Absicht« verwendet, der eine mögliche Konkretisierung des bewusst offenen Terminus »orientierender Entwurf« darstellt. Ich verwende deshalb in den folgenden Überlegungen beide Ausdrücke. Der Ausdruck »orientierender Entwurf« (oder nur: »Entwurf«) dient dabei als Reflexionsausdruck, der Ausdruck »Absicht« (oder auch »Zweck« u. ä.) kommt wegen seiner Alltagsnähe für den Aufbau der Situationen selbst zum Einsatz. Ebenso dient »Gestaltung« als Reflexionsausdruck und »Realisierung« (oder auch »Umsetzung« u. ä.) taucht zwecks Nähe zum geteilten Sprachgebrauch in den Situationsbeschreibungen auf. Orientierender Entwurf: Im Gespräch zwischen Frau Wollen und Herrn Wunsch konkretisiert Frau Wollen ihre Absicht, Herrn Not zu unterstützen und Herr Wunsch bildet diese Absicht erst aus. Ist es plausibel, beides nur als »orientierendes Entwerfen« zu verstehen, das auf eine spätere Gestaltung verweist? In einem bestimmten Sinne ist es plausibel, denn die konkretisierte und die ausgebildete Absicht verweisen beide auf eine spätere Situation. In einem anderen Sinne ist es ausgesprochen unplausibel, die Konkretisierung wie die Herausbildung einer Absicht nur als Vorbereitung auf Handlungen und als geistigen Akt und nicht selber als Handlungen zu verstehen. Hier kommt eine strukturelle Mehrdeutigkeit ins Spiel, die Wittgenstein in seinen Überlegungen zum Wollen bedacht hat. Wollen ist gewissermaßen die Form der Aktivität selbst, die wir immer schon realisieren und nicht vergegenständlichen können und Wollen zeigt sich in bestimmten Hinsichten in und an Handlungen selbst und drittens kann der Ausdruck »Wollen« auch für Handlungen stehen, die auf andere verweisen. 29 Diese Mehrdeutigkeit ist keine Homonymie und kann deshalb nicht einfach überwunden werden, sondern sie betrifft das gesamte praktische Vokabular. Anscombe geht dieser Mehrdeutigkeit im Anschluss an Wittgenstein für den Ausdruck »intention« (übersetzt mit »Absicht«) nach. 30 Für den Zusammenhang hier ist wichtig festzuVgl. Wittgenstein, PU § 615. Vgl. ausführlicher dazu Teil I, Kapitel 2.3, vor allem 2.3.3. 30 Vgl. Anscombe, Intention, a. a. O. Anscombe beginnt im ersten Abschnitt mit der 29
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halten, dass orientierendes Entwerfen ein unselbstständiger Aspekt von Handlungen (dies zeigt sich am Beispiel von Frau Vollzug) und selbst ein Handeln sein kann, das durch expliziten Verweis auf andere Handlungen gekennzeichnet ist (dies zeigt sich am Beispiel von Frau Wollen und Herrn Wunsch). Orientierende Entwürfe oder konkrete Absichten kommen dagegen nicht als Handlungen vorausgehende, innere bzw. geistige Ereignisse vor. Dies gilt selbst dann nicht, wenn z. B. Absichten nicht geäußert werden. Dies will ich an einigen Beispielen deutlich machen: Ist von der Äußerung der Absicht noch die Absicht selbst zu unterscheiden? In einem bestimmten Sinne ist auch hier wieder die Antwort: ja, natürlich. Denn man kann sich sowohl Situationen vorstellen, in denen eine Absicht nicht geäußert und dennoch verfolgt wird und man kann sich auch solche Situationen vorstellen, in denen die geäußerte und die »wirkliche« Absicht voneinander abweichen, wie in Situationen von Täuschung oder Anpassungsdruck. In solchen Situationen kann man sagen, dass die Absicht dem jeweiligen Akteur bewusst ist, er formuliert gewissermaßen den inneren Satz: »Ich habe die Absicht, bei der Aktion x mitzumachen, aber ich sage es nicht, um kein Aufsehen zu erregen.« Er äußert hingegen Folgendes in einer Gruppe: »Nein, mir gefällt die Aktion auch nicht. Das kann man nicht unterstützen.« In solchen Fällen bedeutet der Unterschied zwischen dem sprachlichen Äußern und dem Verfolgen von Absichten, dass der Akteur etwas für sich behält und etwas anderes sagt. Für diesen Fall ist es wichtig zu betonen, dass die »echte« Absicht geäußert werden könnte, aber dies aus bestimmten Gründen nicht öffentlich geschieht. Es ist noch eine andere Art von Situationen denkbar, in denen es geboten sein kann, zwischen einer Absicht und ihrer Äußerung zu unterscheiden. Gemeint sind solche Situationen, in denen die Absicht als eine Art Drängen in eine bestimmte Richtung wirksam ist, das noch eine hohe Unbestimmtheit hat. Wird jemand in einem solchen Zustand gefragt, was er beabsichtige, worin seine Absicht liege, kann er in der Regel keine Antwort geben oder muss erst einen längeren Prozess durchlaufen, in dem er seine Absicht zu artikulieren sucht. Oft sagen wir dann, dass mit dem Gelingen der Artikulation die AbDifferenzierung von drei Verwendungen des Ausdrucks »intention«: 1. Intentions to act, 2. Intentions in acting, 3. Intentional action. Hierbei handelt es sich aber nicht um eine Äquivokation, sondern um einen schwer zu überschauenden Zusammenhang.
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sicht erst bewusst geworden sei. »Bewusst« bedeutet hier, der Absicht sich selbst oder anderen gegenüber einen bestimmten Ausdruck geben zu können. Man kann sich leicht vorstellen, dass Frau Wollen zunächst eine Art inneres Drängen empfindet, an der Situation etwas ändern zu wollen. Mit dem Entschluss, das Gespräch mit Herrn Wunsch zu suchen, äußert sich die Absicht zur Unterstützung. Beide Fälle, in denen Absicht und Äußerung der Absicht nicht zusammenfallen, stellen aber ihrerseits wieder komplexe Handlungen dar. Im ersten Fall ist das teilweise komplizierte Verbergen der einen Absicht vor anderen skizziert und im zweiten Fall der Umgang mit der Empfindung eines unbestimmten Drängens. Auch dies sind Handlungen, die auf Anschlusshandlungen ausgerichtet sind und auf Weiteres verweisen. Dieser Verweisungscharakter soll mit Rückbezug auf Frau Wollen und Herrn Wunsch weiter betrachtet werden. Wenn Frau Wollen die Absicht hat, Herrn Not zu unterstützen und wenn Herr Wunsch und Frau Wollen eine Art Unterstützungsplan ausarbeiten, legen sie sich darauf fest, weitere Aktivitäten zu vollziehen, die diese Absichten realisieren. Die Handlungen, Absichten zu konkretisieren oder herauszubilden, verweisen nun insofern auf andere Handlungen, als mit ihnen der Anspruch erhoben wird, dass andere Handlungen folgen, die den formulierten Anspruch erfüllen. Dieser Anspruch wird nicht extern von jemandem erhoben, sondern ist vielmehr ein selbstgesetzter, der sich auf die beteiligten Personen erstreckt. Im Falle der Dialogsituation zwischen Frau Wollen und Herrn Wunsch wird besonders deutlich, dass die Äußerung einer Absicht, etwas gemeinsam zu tun, eine Verbindlichkeit zwischen den beiden aufbaut, die an beide adressiert ist und beide einbegreift. Gestaltung: Absichten oder allgemeiner orientierende Entwürfe verweisen auf eine Gestaltung, die an die Entwürfe anschließt und durch sie orientiert ist. Entwurf und Gestaltung sind als Aspekte der Handlung nicht zwei aufeinanderfolgende Ereignisse oder Phasen, von denen die zweite die erste einfach in ein anderes Medium übersetzt. Vielmehr dient der Entwurf als Orientierung für die Gestaltung und wird durch die Gestaltung konkretisiert und dadurch verändert. Trotzdem wirkt der orientierende Entwurf auch als Korrektiv und es ist immer möglich, die Frage zu stellen, ob die Gestaltung gelungen sei oder nicht und die Gestaltung daraufhin zu bewerten. Die Antwort auf diese Frage muss aber durch sich anschließende Handlungen 310 https://doi.org/10.5771/9783495817360 .
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selber wieder ermittelt werden. Dies sei durch eine weitere Variation der Situation etwas deutlicher gemacht: Nehmen wir an, die beiden ersten Gespräche verlaufen wie grob skizziert. Das dritte Gespräch beginnt aber damit, dass jetzt Herr Wunsch Frau Wollen zur Rede stellt und sagt: Wu: »Ich habe die ganze Zeit darauf gewartet, dass du endlich das verabredete Signal gibst. Und dann, ganz am Schluss, als die ersten schon zu gehen anfingen, da hast du noch, so leise, dass es kaum hörbar war, deinen Punkt eingebracht. Na, damit war alles verschenkt. Du hättest gleich, nachdem die Chefin Herrn Not wieder runtergeputzt hat, reagieren müssen!«
In dieser Variation zeigt sich, dass die Erfüllung des Anspruchs an der konkreten Gestaltung der Handlung hängt. Frau Wollen hat zwar den vereinbarten Wortbeitrag geleistet, aber zu einem Zeitpunkt und in einer Weise, die faktisch keinen Anschluss für Herrn Wunsch ermöglicht hat. Die konkreten Mittel der Gestaltung werden also in einer solchen neuen Handlung der Bewertung unterzogen, ob durch sie der geteilte Anspruch erfüllt worden ist oder nicht. Wir können uns leicht Variationen vorstellen, in denen Handlungen angeschlossen werden, die diese vorläufige Bewertung wiederum verändern. Es könnte zum Beispiel eine bessere Gelegenheit kommen, das Unterstützungsanliegen vorzubringen oder es könnte sein, dass Herr Not durch Frau Wollens Bemerkung aktiviert worden wäre. Diese oder andere Wirkungen würden die Bewertung der Handlung wieder etwas anders ausfallen lassen und ihr ein anderes Gewicht geben. Die oben erwähnte Zweideutigkeit der praktischen Begriffe macht es nötig, Entwerfen und Gestalten zum einen als unselbstständige Aspekte von Handlungen zu verstehen. Zum anderen nennen wir aber mit Recht solche Handlungen als Ganze »entwerfen« oder »beabsichtigen«, in denen Entwürfe oder Absichten gebildet werden. Diese verweisen dann auf andere Handlungen, durch die Entwürfe gestaltet oder Absichten erfüllt werden. Während die erste Handlung projektiv auf die zweite vorgreift, ist durch die zweite Handlung dieser Vorgriff mit aller Konkretion der leiblichen Gestaltung, die in fast allen Situationen nötig ist, in eine Gegenwart zu bringen. Was in der ersten Handlung Entwurfscharakter hatte, muss in der zweiten zu einem konkreten Wortbeitrag in einer Gesprächssituation werden, der an die Chefin adressiert sein und in einer Tonlage und möglicherweise etwas anderem Vokabular vorgebracht werden muss, die dem Inhalt, dem Zweck und der Situation angemessen sind. Die komple311 https://doi.org/10.5771/9783495817360 .
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mentäre Redeweise trägt nun dieser besonderen Verweisung von Handlungen oder der Orientierungs- und Korrektivfunktion von Entwürfen Rechnung. Mit der letzten Variation sollte die Verschiedenheit der beiden Aspekte bzw. Handlungen betont werden. Mit dieser Verschiedenheit umzugehen, kennzeichnet die Herausforderung des Handelns. Durch Termini wie »Umsetzung«, »Realisierung« oder auch »Erfüllung« wird über diese Verschiedenheit, also die Herausforderung der konkreten Gestaltung und deren Rückwirkungspotenziale auf den projektiven orientierenden Entwurf, leicht hinweggegangen. Zu diesem Aspekt des Handelns gibt es eine Reihe von begrifflichen Vorschlägen, von denen ich einige anführen will. Hegel nennt die Handlung in der Rechtsphilosophie die »Äußerung des Willens«. 31 Das ist eine Art definitorische Bestimmung der Handlung und der Terminus »Äußerung« ist von zentraler Bedeutung. 32 Andere Begriffe sind »Übersetzung«, »Ausdruck« oder »Artikulation«. Jeder der Begriffe hat verschiedene Konnotationen und ist in verschiedenen philosophischen Richtungen entwickelt worden. »Übersetzung« findet sich zum Beispiel in der Phänomenologie des Geistes, wo das tätige Bewusstsein als das bestimmt wird, was seine Zwecke in Handlungen übersetzt. Je nachdem, wie »Übersetzung« verstanden wird, kann allerdings die Eigenständigkeit und Kreativität des Übersetzungsschritts zu gering veranschlagt werden. Die Übertragung in ein anderes Medium (wie auch in eine andere Sprache) ist ein hochkreativer Akt, bei dem sich der Inhalt erhalten soll, die Form aber eine völlig andere ist. Der Begriff »Ausdruck« ist für viele Ansätze wichtig, eine besondere Bedeutung hat er auch in der philosophischen Anthropologie erlangt (z. B. bei Ernst Cassirer). »Ausdrücke« repräsentieren und präsentieren. Sie drücken einen Inhalt aus und sind selbst ausdrückend. Und der Begriff der Artikulation bedeutet die (lautliche und ikonische) Gliederung von Sinn. Der Terminus stammt von Wil-
Vgl. Hegel, R, GW 14,1, S. 102, § 113. Die sehr gründliche Analyse Quantes von Hegels Begriff »Handlung« in der Rechtsphilosophie lässt den Terminus »Äußerung« fast unexpliziert. Vgl. Quante, Hegels Begriff der Handlung, a. a. O. Quantes vornehmliches Ziel ist es, die Kompatibilität von Hegels Konzeption mit Davidsons Handlungstheorie zu zeigen, bei dem die philosophische Analyse der Verwirklichung keine Rolle spielt, sondern als kausale Wirkung verstanden wird.
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Erfahrungen von Verschiedenheit, Differenz und Gegensatz
helm von Humboldt und ist neuerdings verschiedentlich wieder aufgegriffen worden. 33 Zweierlei ist für alle Begriffe kennzeichnend: Das zu Äußernde, zu Übersetzende, Auszudrückende oder zu Artikulierende und die Äußerung, die Übersetzung, der Ausdruck oder die Artikulation stehen in einer Relation der gegenseitigen Verweisung. Und in allen Termini wird deutlich, dass es sich um einen Akt von eigenem Charakter und mit eigenen Anforderungen handelt. Ich werde an keine dieser terminologischen Traditionen direkt anschließen. Vielmehr gibt mir das offene Wort »Gestaltung« an verschiedenen Stellen der sachlichen Entwicklung die Möglichkeit, auf die genannten Begriffe zurückzugreifen, um bestimmte Aspekte besonders hervorheben zu können.
4.2 Erfahrungen von Verschiedenheit, Differenz und Gegensatz Orientierendes Entwerfen und Gestalten verweisen aufeinander und sind gleichzeitig von sehr verschiedener Qualität. 34 Zum Entwerfen gehört ein Anspruch an sich selbst und möglicherweise an beteiligte Der Begriff »Artikulation« findet in der Philosophie gegenwärtig vermehrt Verwendung und zwar sowohl als Grundbegriff der Sprachphilosophie wie auch als nichtdualistischer Ausgangspunkt für eine »Anthropologie der Artikulation«. Eingeführt ist der Terminus zunächst in der Sprachwissenschaft, wo er das Grundphänomen der Verschränkung von somatisch-sinnlicher Lautbildung und symbolischer Gliederung adressiert. Damit wird direkt an das Sprachdenken Wilhelm von Humboldts angeschlossen. Vgl. zum Beispiel: Jung, Der bewusste Ausdruck. Anthropologie der Artikulation, a. a. O.; Christoph Demmerling, »Denken – Überlegungen zum Verhältnis von Sprache und inneren Zuständen«, in: G. Bertram/D. Lauer/J. Liptow/M. Seel (Hg.), Die Artikulation der Welt. Über die Rolle der Sprache für das menschliche Denken, Wahrnehmen und Erkennen, Frankfurt a. M. 2006, S. 31–47. 34 Im Hintergrund dieses Abschnitts steht ein Textstück aus der Phänomenologie des Geistes, das dem oben angeführten Textstück vorausgeht, nämlich der Abschnitt B (»Die Verwirklichung des Vernünftigen Selbstbewusstseins durch sich selbst«). Dazu gehören: a. »Die Lust und die Notwendigkeit«, b. »Das Gesetz des Herzens und der Wahnsinn des Eigendünkels«, c. »Die Tugend und der Weltlauf«. In dem Abschnitt B werden allesamt Gestaltungen thematisiert, die verschiedene Ausprägungen einer scharfen Polarität zwischen dem Selbstbewusstsein auf der einen Seite und der fremd gegenüberstehenden Welt auf der anderen Seite darstellen. In den gewählten Titeln für die einzelnen Abschnitte werden die Qualitäten für diese Polaritäten ausgedrückt. In der ersten Gestalt stehen sich eigenes Luststreben und eine Konzeption der Welt (alles andere als das eigene Luststreben) als fremdes Schicksal unvermittelt gegenüber (wie im faustischen Bewusstsein). Für die zweite Gestalt ist die Polarität zwischen 33
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4 · Konstruktion: Handeln als dialektischer Prozess
andere, die Gestaltung auch wirklich durchzuführen. Entwürfe orientieren die Gestaltung und wirken dadurch als Korrektiv für angemessene und gelingende oder nicht gelingende Gestaltung. In der Gestaltung sind Aktion und Reaktion eigentümlich verbunden. Die aktive Wahl bestimmter Gestaltungsmittel hat nämlich in Abstimmung mit der Situationseinschätzung zu erfolgen, die eine hohe Rezeptivität erfordert. Diese rezeptiven Fähigkeiten können sicher mehr oder weniger gut ausgebildet sein, können aber nie derart perfektioniert und zum Abschluss gebracht werden, dass Situationen vollständig überschaut werden. Gestaltungen finden im sozialen Raum statt und betreffen mehr oder weniger direkt immer auch andere, deren mögliche Reaktionen zwar mit bedacht, aber nie vollständig antizipiert werden können. Gestaltungen sind inhärent sozial und daran wird schon deutlich, dass ein Nachdenken über Handlungen, das zu sehr auf individuelle Akteure fokussiert und die Sozialdimension der Gestaltung unterbelichtet lässt, reduktiv ist und menschliches Handeln unverständlich werden lässt. Die gegenseitige Verwiesenheit und die gleichzeitige Verschiedenheit von Entwerfen und Gestalten bilden nun ein Spannungsfeld. Es sind sowohl solche Erfahrungen ermöglicht, die durch eine hohe gegenseitige Verflechtung der beiden Aspekte des Handelns gekennzeichnet sind. Hierbei kommt dem Anspruch an angemessene Gestaltung eine leitende Funktion zu und die Besonderheiten der Gestaltung, wie zum Beispiel die Reaktionen anderer, wirken modifizierend auf die Art der Orientierung zurück. Es sind aber auch Erfahrungen möglich, in denen die beiden Aspekte des Handelns auseinandertreten und in einen Gegensatz gebracht werden. Zum menschlichen Handeln gehört dieses Spektrum an Erfahrungen, in dem Gesetz des Herzens und der unmenschlichen Ordnung der Wirklichkeit kennzeichnend (wie beim romantischen Rebell). Und in der dritten Gestalt sind die Tugend und der Lauf der Welt polar gegenübergestellt (wie beim tugendhaften Jakobiner). Die Beziehung zwischen Bewusstsein und Welt ist in allen drei Gestalten viel zu unmittelbar gedacht, sodass die Welt immer wieder wie eine fremde Macht als notwendiges Schicksal oder als unmenschliche Ordnung oder als Lauf der Welt erscheint, gegenüber der das einzelne Bewusstsein resignieren oder kämpfen muss. Vermittlungsschritte werden hier nicht gegangen, sondern verweigert, oder sollen übersprungen werden. Die deutlichen Anspielungen auf kulturelle Formationen in Hegels Gegenwart zeigen, dass mit diesen Gestaltungen keine lange zurückliegenden historischen Erscheinungen gemeint sind, sondern moderne Oppositionen des individuellen Bewusstseins gegenüber der kulturellen Umgebung als Rebellionen gegenüber Entfremdungserfahrungen im selbsterteilten Auftrag für eine bessere Welt.
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Erfahrungen von Verschiedenheit, Differenz und Gegensatz
denen die beiden Aspekte des Handelns je anders konstelliert werden. Ich will mich in diesem Abschnitt den Erfahrungen zuwenden, in denen die beiden Aspekte auseinandertreten und unterscheide hierbei zwischen Differenzerfahrungen und Gegensatzerfahrungen. Die Voraussetzung dafür, diese Arten von Erfahrungen wie auch die Verflechtungserfahrungen zu verstehen, liegt darin, sich zunächst die Verschiedenheitserfahrungen der beiden Aspekte intensiver zu vergegenwärtigen, als es im ersten Abschnitt dieses Kapitels geschehen ist. Verschiedenheitserfahrungen: »Verschiedenheit« soll bedeuten, dass die beiden Aspekte nicht aufeinander reduzierbar sind und als verschiedene Qualitäten oder Funktionen erfahren werden können. Es ist mit dem Terminus »Verschiedenheit« nichts über die Relation der beiden Aspekte zueinander ausgesagt. Wir können uns leicht vorstellen, dass Frau Wollen zu Beginn der Teamsitzung eine gewisse Anspannung hat und sie die Stimmung der Chefin und die Atmosphäre insgesamt daraufhin abklopft, ob ihr Anliegen Erfolg haben wird oder nicht, ob sich überhaupt eine Gelegenheit findet, ihren Gesprächsbeitrag zu platzieren, was die Chefin dann wohl tun wird usw. Damit sind die ersten Schritte der Realisierung getan, in denen die verschiedenen Qualitäten, sich etwas vorgenommen zu haben, etwas entworfen zu haben und dies umzusetzen, spürbar werden. Das Wort zu ergreifen, heißt, sich den Reaktionen der anderen auszusetzen und mit dem, was daraus entstehen mag, umzugehen. So oder ähnlich könnte die Verschiedenheit der Qualitäten von Entwurf und Gestaltung zu Beginn oder vor dem Prozess der konkreten Gestaltung empfunden werden. Stellen wir uns weiter vor, dass Frau Wollen ihren Wortbeitrag geleistet hat und sie gleich im Anschluss diesen kleinen Ausschnitt Revue passieren lässt: was die Chefin gesagt hat, wie sie eingehakt hat, mit welchen Worten, in welchem Tonfall, dass sie dabei zögerlich Herrn Not und dann Herrn Wunsch angeschaut hat. War das der richtige Moment? War ihre Rede bestimmt genug? War die Wortwahl geschickt, oder wäre es nicht besser gewesen, wenn sie den Schlussteil an den Anfang gesetzt hätte? Ist so überhaupt deutlich geworden, was sie meinte? So oder ähnlich könnten die Überlegungen aussehen. In einer derartigen kritischen Retrospektion wird wieder die Verschiedenheit zwischen Absicht und Gestaltung erfahren, indem zum Beispiel wie hier die Gestaltung daran gemessen wird, ob sie die Absicht auch angemessen ausgedrückt hat. Hier dient gewissermaßen die Absicht als Maßstab für die Gestaltung. Dies geschieht sicher oft, wir können uns aber auch vorstellen und erleben es
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4 · Konstruktion: Handeln als dialektischer Prozess
auch, dass die Absicht dem Akteur selbst erst in und durch die Gestaltung greifbar und verständlich und dadurch auch erst beurteilbar wird. Eine dritte Möglichkeit, die Verschiedenheit zu erfahren, liegt natürlich in den Reaktionen anderer. Hat sie ihrer Absicht genügend Ausdruck verliehen? Hat Herr Not ihre Unterstützungsabsicht bemerkt? Haben die anderen verstanden, worum es ihr ging?
Zum Aspekt der Gestaltung gehören die Deutungen und Wirkungen auf Beteiligte, die Dynamiken entfalten können, die nicht antizipierbar sind. An einem Gespräch sind mehrere Gesprächspartner beteiligt und es treffen verschiedene Absichten und verschiedene Einschätzungen aufeinander. Diese verschiedenen Einschätzungen können gravierend sein und im Gespräch große Wirkungen entfalten, müssen es aber nicht. Dennoch liegt hier eine konstitutive Andersheit der Perspektiven, die darin liegt, dass jeder der Gesprächspartner mit anderen Vorerfahrungen, anderen Lebensumständen und anderen Anforderungen am Gespräch teilnimmt. Ich will diese konstitutive Andersheit mit einer Unterscheidung festhalten, die möglicherweise etwas künstlich (und etwas hegelianisierend) anmutet, nämlich der Unterscheidung »wie es für mich ist« und »wie es für andere ist«. Dadurch ist die Andersheit von Perspektiven festgehalten und zwar zunächst die Perspektive eines einzelnen Akteurs (»wie es für mich ist«) und die Perspektive anderer (»wie es für andere ist«). Jeder der beteiligten Gesprächspartner macht von diesem Perspektivenunterschied Gebrauch, sodass viele verschiedene Selbst- und Fremdeinschätzungen aufeinandertreffen. Für den variablen Ausdruck »es« kann alles mögliche Konkrete eingesetzt werden, es können Ergebnisse handwerklicher Tätigkeit sein, Kunstwerke, ein geäußerter Satz oder ein ganzes geführtes Gespräch, ein Einkauf oder ein Spiel. »Wie etwas für jemanden ist« deutet auf eine Fülle von Situationswahrnehmungen, Qualitätsempfindungen, Gefühlen, Einschätzungen, Absichten oder Erwartungen hin, die in dem technischeren Ausdruck »Perspektive« leicht zu einer vermeintlich konturierten Position zusammengezogen werden. Nur ein kleiner Teil dieses Gemischs ist den Gesprächspartnern bewusst. Jeder der Gesprächsteilnehmer fasst einen Gesprächsbeitrag oder ein ganzes Gespräch auf seine Weise auf und deutet die Gesprächsbeiträge der anderen im Kontext der Situation, setzt eigene Absichten und Interessen dazu ins Verhältnis, reagiert darauf und knüpft daran an.
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Erfahrungen von Verschiedenheit, Differenz und Gegensatz
Stellen wir uns vor, dass Herr Not sich am nächsten Tag an Frau Wollen wendet und ihr für ihre Unterstützung dankt. Er sei schon ganz resigniert gewesen und habe auch immer gedacht, er sei wohl in diesem Beruf falsch. Ihre, Frau Wollens, Bemerkung habe ihn nachher auf so viele Ideen gebracht, wie er selber etwas an seiner Situation verändern und seine Fähigkeiten einbringen könne. Frau Wollen ist erleichtert und auch etwas erstaunt, dass die aus ihrer Sicht gescheiterte Initiative doch eine Wirkung hatte. Sie hatte sich ausschließlich darauf konzentriert, die Chefin solle ihr Verhalten ändern und es lag außerhalb ihres Horizonts, dass natürlich auch Herr Not selber schon allein aus ihrer Bemerkung wirksame Unterstützung erfahren könnte.
In diesem Falle erfährt Frau Wollen die Verschiedenheit von Entwurf und Gestaltung durch eine überraschende, aber integrierbare Reaktion. Sie erlebt die Deutung des anderen als positiven Anschluss an ihre Handlungen und es liegt nahe, dies in die Selbstdeutung mit aufzunehmen. Die Reaktionen des anderen haben eine Dimension des eigenen Handelns freigelegt und der andere scheint die Implikationen der eigenen Absicht fast besser als man selbst erfasst zu haben. Differenzerfahrungen: Die Andersheit der Perspektiven führt aber auch oft zu Differenzen. Dazu gehören Erfahrungen, wie: falsch verstanden oder missverstanden worden zu sein, vielleicht sogar absichtlich verdreht worden, den eigenen Impulsen gegenüber entfremdet zu sein. Zudem wirkt ein Gespräch in der Regel über die direkte Situation hinaus, denn die Wortbeiträge und Verhaltensweisen aller Beteiligten bleiben in Erinnerung und können weitere Gespräche mit anderen anregen. Teilweise können das, was ein Gespräch »für mich« war und das, was dasselbe Gespräch »für einen anderen« war, eklatant voneinander abweichen. Dies zeigt sich beispielsweise in deutlichen Verhaltensänderungen gegenüber einer Person, wovon diese geradezu überrascht sein kann. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, mit einer solchen Differenzerfahrung umzugehen. Eine Möglichkeit ist, dem anderen eine Fehldeutung des Gesprächs vorzuwerfen, zum Beispiel derart, dass das, was der andere daraus gemacht hat, mit dem, was wirklich stattfand, nichts zu tun hat. So zu argumentieren, bedeutet, eine Inkommensurabilität zwischen dem, »wie es für mich ist« und dem »wie es für den anderen ist« herzustellen und die Berechtigung der Perspektive des anderen zu bestreiten. Der Grund dafür liegt in der Ansicht, der andere habe die eigene Absicht völlig missverstanden. Die eigene Ab317 https://doi.org/10.5771/9783495817360 .
4 · Konstruktion: Handeln als dialektischer Prozess
sicht und die Deutung der Realisierung durch den anderen treten auseinander. Wie können solche Differenzerfahrungen und ihre Konsequenzen konkret aussehen? Nehmen wir an, das Teamgespräch findet statt wie beschrieben, Frau Wollen unterstützt Herrn Not, Herr Wunsch wird nicht aktiv, deshalb scheitert das Unternehmen. Ein weiterer Kollege, Herr Bloß, hat ebenfalls an dem Gespräch teilgenommen und berichtet beim Mittagessen jemandem aus einer ganz anderen Abteilung, Frau Mittig, wie Frau Wollen sich als Moralapostel und als scheinheilige Widerstandskämpferin gegenüber der Chefin aufgespielt habe. Er habe es immer schon geahnt, dass Frau Wollen »etwas Besseres« sein wolle und die Sache mit Herrn Not ein reiner Vorwand dafür sei. Am nächsten Tag begegnet Herr Bloß Frau Wollen unterkühlt und offensichtlich misstrauisch. Frau Wollen ist irritiert von dieser Reaktion. Als Frau Mittig ihr einige Tage später beiläufig von Herrn Bloßens Empörung berichtet, fühlt sie sich völlig missverstanden.
Eine solche Reaktion lässt uns in hohem Maße Kontingenz erfahren. Wir haben es nicht in der Hand, wie das, was wir tun, weitergegeben und manchmal vielleicht sogar völlig verdreht wird. Es gibt Situationen, in denen wir den Eindruck haben, dass die Konsequenzen unseres Handelns nichts mit uns zu tun haben. Es ist kontingent, zufällig, an wen wir geraten und wer uns für welche seiner Interessen nutzt. Neben dieser Zufälligkeit im Sozialen wirkt natürlich auch noch die Zufälligkeit der äußeren Umstände. Gemeint sind Zufälligkeiten wie die, dass das geplante Gespräch nicht stattfinden kann, weil die Protagonisten krank geworden sind, weil Glatteis die Fahrt zur Arbeit unmöglich macht und Ähnliches. Beide Kontingenzerfahrungen zusammengenommen zeigen, dass unser Tun von Umständen abhängt, über die wir nicht verfügen, seien es soziale oder »natürliche«. Im Falle von Herrn Bloß verschärft sich die Verschiedenheit zur Differenz und der Empfindung, dass die eigene Absicht wie die eigene Deutung der Gestaltung und die Reaktion anderer nicht vermittelbar sind. Die Wirkung, die ihr Wortbeitrag bei Herrn Bloß ausgelöst hat, ist für Frau Wollen unverständlich und nicht nachvollziehbar. Sie empfindet eine Diskontinuität zwischen dem, was sie beabsichtigt hat, was sie getan hat und was andere, hier Herr Bloß, daraus gemacht haben. »Differenzerfahrungen« nenne ich solche, in denen die Perspektiven »wie es für mich ist« und »wie es für andere ist« spürbar auseinanderfallen. Dies geschieht dann, wenn der eigene Anspruch sich selbst und anderen gegenüber, die Gestaltung gemäß dem eige318 https://doi.org/10.5771/9783495817360 .
Erfahrungen von Verschiedenheit, Differenz und Gegensatz
nen Entwurf durchzuführen, nicht erfüllt wird. Dies kann wie im Falle der Reaktion von Herrn Bloß als unberechtigte Fehldeutung oder Zurückweisung des eigenen Anspruchs erlebt werden. Die Gründe für die Nichterfüllung des eigenen Anspruchs können aber auch im eigenen Verhalten liegen. Die Erfahrungen der Differenz zwischen Wunsch und Wille, wie sie im ersten Kapitel 35 beschrieben worden sind, geben hierfür ein Beispiel. Herr Wunsch, von Frau Wollen zur Rede gestellt, gesteht diese Differenz ein: Er hat den Anspruch, den Frau Wollen an ihn und den er selbst an sich gestellt hat, nicht erfüllt. Gegensatzerfahrungen: Differenzerfahrungen wie die, die Frau Wollen mit der Reaktion von Herrn Bloß macht, können sich verfestigen und zu Gegensatzerfahrungen weiterentwickeln. Wir können uns vorstellen, wie Frau Wollen einen Gegensatz aufbaut zwischen ihrem authentischen Ausdruck und den Reaktionen von Herrn Bloß, die sie als »sein Problem« zurückweist. Einen Gegensatz aufzubauen hieße zum Beispiel, gegenüber Herrn Bloß und vielleicht sogar in allgemeinerer Hinsicht eine Art Deutungshoheit für die eigene Sache zu beanspruchen und die Wirkungen auf andere prinzipiell nicht als mögliche Anschlüsse an die eigenen Handlungen zu verstehen. Aus einer Reihe solcher Gegensatzerfahrungen können sich Einstellungen bilden, die das Gegensatzverhältnis zwischen Entwurf und Gestaltung festigen. Einstellungen sind eine Art Mini-Theorie über einen bestimmten Zusammenhang, aus bestimmten Erfahrungen allgemeinere Folgerungen zu ziehen und von diesen Folgerungen her neue Erfahrungen zu verarbeiten. Gemeint ist nicht eine propositionale Einstellung, wie man in der analytischen Philosophie gerne sagt, sondern eine Art Muster, das die Aufmerksamkeit lenkt, verschiedene Erfahrungen in einer bestimmten Weise auswertet und das Handeln orientiert. Im pragmatistischen Theoriezusammenhang wird von Gewohnheitsbildungen gesprochen, die durch wiederholte Erfahrungen entstehen. Auch Gewohnheiten sind Muster, die die Aufmerksamkeit lenken, und haben deshalb die gleiche Funktion wie die, die ich hier Einstellungen zuschreibe. Der Vorteil am Ausdruck »Gewohnheit« 36 ist der, dass Gewohnheiten im sozialen Raum verortet sind, während EinstelVgl. Teil I, Kapitel 1.1 und 1.2. Vgl. zum Begriff »Gewohnheit« Hartmann, Die Kreativität der Gewohnheit, a. a. O. 35 36
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4 · Konstruktion: Handeln als dialektischer Prozess
lungen oder gar Haltungen etwas Innerpsychisches zu sein scheinen. Aber Einstellungen haben hochgradige Auswirkungen auf die Wahrnehmung, auf das Handeln (und die Bewegungsmuster) und die kognitive Verarbeitung. Oft sind Einstellungen einzelner Realisierungen übergreifender sozialer und kultureller Gesamtgestalten. Wenn die Reaktionen eines anderen einmal so zu dem für sich selbst beanspruchten authentischen Ausdruck in einen Gegensatz gebracht worden sind, ist es leicht möglich, dass sich dies zu einer Einstellung gegenüber einer Person, einem Thema oder sogar ganz allgemein gegenüber der eigenen Umgebung insgesamt verfestigt (also zu einer partiellen oder allgemeinen Einstellung). Eine solche Einstellung ist eine so starke Vorverarbeitung von Situationen, dass immer schon klar ist, dass man selber recht und der andere unrecht hat und es keine Erfahrung geben kann, die dies widerlegt. Damit ist die Möglichkeit für Rückwirkungen zwischen den Reaktionen der anderen und der eigenen Handlungsorientierung unterbunden. Die Reaktionen anderer werden nicht mehr als Feedback gelten gelassen. Die soziale Wirklichkeit wird dann als den eigenen Entwürfen gegenüber feindlich gesonnen interpretiert und jeder Versuch eigenen Ausdrucks würde gleich zum Spielball fremder Interessen. Ist der Deutungsrahmen einmal so gesetzt, dann kann der eigene Entwurf gar nicht angemessen gestaltet werden und folgerichtig ist es auch keine sinnvolle Forderung, dass dies geschehen sollte. Vielmehr besteht ein prinzipieller Gegensatz zwischen dem, was die eigentliche Absicht des eigenen Tuns war, und dem, was durch kontingente Umstände daraus geworden ist. Diese eigentliche Absicht kann dann nur Gegenstand des eigenen Bewusstseins sein und steht der Realisierung gegenüber. In Analogie zu formallogischen Gegensätzen könnte man sagen, dass die Wahrheit der eigenen Überzeugungen über die Absicht und deren Ausdruck der Falschheit der Überzeugung der anderen gegenübersteht und zwar mit der zusätzlichen Gewissheit, dass die Wahrheitswerte in dieser Weise verteilt sind und nicht anders verteilt sein können. Solche Gegensatzerfahrungen können sich in verschiedenen Einstellungen verfestigen. Ich will anhand weiterer Variationen drei naheliegende Verfestigungen betrachten: die Einstellung der Überheblichkeit, die Einstellung der Resignation und die Einstellung der Selbsttäuschung. Wir können uns eine Variation der Situation vorstellen, in der sich diese Einstellung eines Gegensatzes in Form von Überheblichkeit konkretisiert. 320 https://doi.org/10.5771/9783495817360 .
Erfahrungen von Verschiedenheit, Differenz und Gegensatz
Frau Wollens Unverständnis gegenüber dem ablehnenden Verhalten von Herrn Bloß hat sich inzwischen gewandelt zu einem Gefühl der moralischen Überlegenheit. Wenn Herr Bloß ihre aufrichtige Anteilnahme an der Situation von Herrn Not so fehlinterpretiert, dann zeigt das doch nur seinen Egoismus und seine Unfähigkeit zur Mitmenschlichkeit. Als Herr Bloß sich in monatelanger Dynamik steigender Anspannung zwischen den beiden irgendwann ein Herz fasst und Frau Wollen auf die damalige Situation und seine Eindrücke anspricht, unterbricht ihn diese mit den Worten: Wo: »Ach, mit dir darüber zu sprechen hat ja keinen Zweck. Kollegialität ist doch ein Fremdwort für dich. Du kannst gar nicht mitfühlen, wie man sich für andere einsetzen kann. Du hast überhaupt nicht verstanden, worum es mir damals ging und ich weiß, du wirst es nie verstehen.«
Frau Wollens Einstellung der Überheblichkeit Herrn Bloß gegenüber führt zur Ausbildung eines Deutungsrahmens, in dem Frau Wollen die Deutungshoheit für ihre und seine Handlungen beansprucht. Demnach könne Herr Bloß weder ihre Absichten noch deren Ausdruck in Handlungen verstehen, sie aber durchschaue seine Absichten und deren Ausdruck in Handlungen. Die moralische Überlegenheit liege bei ihr, das moralische Defizit bei ihm. Diese Einstellung der Überheblichkeit zementiert eine Asymmetrie, die kaum mehr zu erschüttern ist. Wir können uns vorstellen, wie eine solche partielle Einstellung sich ausweiten kann. Nehmen wir an, die Chefin ergreift Partei für Herrn Bloß, Herr Wunsch meidet aus dem Gefühl eigenen Versagens den Kontakt zu Frau Wollen, Herr Not ist durch erneute Angriffe der Chefin niedergeschlagen und kleinlaut. Frau Wollen weitet ihre Einstellung der moralischen Überlegenheit auf das ganze Team aus. Aus ihrer Sicht hat es gar keinen Zweck, die eigenen guten Absichten in so einem Kontext verwirklichen zu wollen, wo Egoismus und Schwäche herrschen. Sie allein durchschaut die Probleme der anderen und würde sich ja einsetzen für bessere Verhältnisse. Aber mit dieser Chefin und diesen Kollegen hat das ja eh keinen Sinn.
Die gute Absicht und die Realisierung treten also auseinander und werden durch Frau Wollens Situationsdeutung in einen sehr prinzipiellen Gegensatz gebracht. Die Begründung und Stabilisierung dieses Gegensatzes erfolgt in dieser Situation durch eine Asymmetrie der Bewertung, die guten Absichten auf der einen und die schlechten Bedingungen, die eine Realisierung von vornherein verunmöglichen, auf der anderen Seite.
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4 · Konstruktion: Handeln als dialektischer Prozess
Eine solche Einstellung kann in eine Einstellung der Resignation kippen, für die kennzeichnend ist, dass die Bewertung der Asymmetrie anders verläuft. Während in der Einstellung der Überheblichkeit die eigene Handlungsmacht als sehr groß eingeschätzt wird, ändert sich dies in der Einstellung der Resignation. Hier schwindet nicht nur das Vertrauen in die Aussicht, die eigene Absicht jemals mit Erfolg verwirklichen zu können, sondern auch das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten, dies zu tun. Der Gegensatz zwischen Absicht und Realisierungsbedingungen bleibt bestehen, aber es wird als nicht mehr sinnvoll eingeschätzt, die eigene Absicht in dieser Gegenüberstellung zu halten. So wird die gute Absicht zu einem diffusen Gefühl, das man ja etwas verändern wollen würde, es aber aussichtslos sei. In beiden Fällen, der Einstellung der Überheblichkeit wie der Resignation, taucht die Gefahr von Beliebigkeit auf, da die Reaktionen der anderen nicht mehr als Rückwirkung auf die eigenen Entwürfe einbezogen werden. Wenn die Absicht auf diese Weise der Realisierung gegenübergestellt wird, fehlt die Notwendigkeit, die Absicht zu klären und zu reflektieren. Auf diese Weise kann alles Mögliche als »eigentliche« Absicht ausgegeben werden. Dies kann sich in einer Einstellung zu sich selbst und zu anderen verfestigen, die als »Selbsttäuschung« zu bezeichnen ist. Es sagt sich zu leicht: »Mir ist das und das nicht gelungen, aber eigentlich wollte ich es ja gar nicht.« Eine solche Argumentation kann als Rechtfertigung für alles Mögliche genutzt werden. Wollen, verstanden als reiner Bewusstseinsakt, und Wirklichkeit können dann in willkürlichen Bezug zueinander gesetzt werden und es gibt keine Orientierungskriterien. So wie die Bezüge zwischen Wollen und Ausdruck geleugnet werden können, besteht auch andersherum die Versuchung, Geschehnisse mit dem eigenen Willen in Zusammenhang bringen und sich zuzurechnen, was einem beliebt. Wenn das Wetter heute schön ist, hat man es gewollt und wenn es nicht schön ist, hat man es eben nicht gewollt. Alle drei Einstellungen, die mit der Figur des Entgegensetzens zwischen dem, »wie es für mich ist« und »wie es für andere ist« arbeiten, haben starke Wirkungen in sozialen Interaktionen und provozieren bestimmte Reaktionen bei anderen. Während für Differenzerfahrungen eine starke Abweichung zwischen dem, »wie es für mich ist« und dem, »wie es für andere ist« charakteristisch ist, die aber die weiteren Anschlüsse offen lässt, werden im Falle von Gegensatzerfahrungen bestimmte Anschlüsse nahegelegt und andere ausgeschlossen. Die drei Einstellungen erzeugen etwas, was ich »inter322 https://doi.org/10.5771/9783495817360 .
Erfahrungen von Verschiedenheit, Differenz und Gegensatz
aktive Logik« nennen möchte. Jemand, der eine dieser drei Einstellungen ausbildet, nimmt sich heraus, die Reaktionen anderer auf sein Handeln mit dem Einwand zurückzuweisen, er habe etwas ganz anderes beabsichtigt und gemeint. Die anderen nehmen sein Handeln notwendigerweise als Ausdruck seiner Absichten oder allgemeiner, seines Willens. Möglicherweise versuchen andere sogar, den Überheblichen, Resignierten oder sich selbst Täuschenden zu unterstützen. Für den Überheblichen, Resignierten oder sich selbst Täuschenden ist es nun aber charakteristisch, sich auf seine »eigentliche« Absicht zurückzuziehen, sobald Schwierigkeiten auftauchen, Verbindlichkeiten entstehen oder er die Lust verliert. Die anderen fühlen sich zurückgewiesen, möglicherweise betrogen oder getäuscht. Es wird ihnen deutlich, dass die Person gar nicht bereit oder fähig ist, eine gemeinsame Sache zu verfolgen und sich auf die Konsequenzen, die dies mit sich bringt, einzulassen. Sie versperrt sich sogar dagegen, die Ansprüche und Perspektiven anderer gelten zu lassen, geschweige denn miteinzubeziehen. Damit provoziert sie Ausschluss, Isolation und Misserfolg. Diese allgemeine Andeutung der »interaktiven Logik« dieser drei Einstellungen zeigt deren moralische Implikationen. Ich will die Überlegungen zur »interaktiven Logik« an weiteren Variationen der Situation konkretisieren. Für die erste Variation setze ich bei Frau Wollens verallgemeinerter Einstellung der Überlegenheit wieder an: Fast alle Kolleginnen und Kollegen von Frau Wollen haben mittlerweile mehrere Erfahrungen von der Art gemacht, dass Frau Wollen bei Absprachen, die durch die gemeinsame Arbeit in einem Team nötig sind, das Gespräch mit einer wegwerfenden Geste abgebrochen hat: Wo: »Ach, das hat keinen Sinn, dass wir das weiter besprechen. Du verstehst mich nicht. Ich erledige das schon selbst.« Das erregt bei einigen Unmut, aber gut, Frau Wollen regelt die Dinge eben lieber im Alleingang. Nun kommt es aber auch zu Situationen, in denen Ergebnisse bei der Chefin abgeliefert werden müssen und bestimmte Abstimmungen der Teilergebnisse nicht möglich sind, weil Frau Wollen ihre Arbeiten ohne Rücksprache fertig stellt. Die dadurch entstehenden Inkohärenzen führen zu Planungsfehlern und zu Unzufriedenheit bei der Chefin. Ein Kollege, der für ein Projekt die Verantwortung trug, an dem auch Frau Wollen beteiligt war, wird von der Chefin im Team zur Rede gestellt und berichtet unter diesem Druck davon, dass Frau Wollen keine Abstimmung für nötig gehalten und ihr Ergebnis erst in allerletzter Minute beigetragen habe. Frau Wollen weist dies vor allen zurück.
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Wo: »Aber lieber Herr Kollege. Das habe ich niemals gesagt und noch viel weniger gemeint. Sie haben sich nicht klar genug ausgedrückt und mich wohl nicht richtig verstanden.« Der Kollege Herr Projekt fühlt sich vor der Chefin vorgeführt. Sein Vertrauen in Frau Wollen ist erschüttert.
Wir können uns nun weitere Schleifen ähnlicher Vorkommnisse mit anderen Teammitgliedern vorstellen, die früher oder später die Chefin zu für Frau Wollen unangenehmen Sanktionen greifen lassen könnten. Die interaktive Logik einer konsequenten und verallgemeinerten Haltung der Überheblichkeit führt bei den anderen zur Vermeidung von Anschlüssen an die Handlungen von Frau Wollen. Dies kann natürlich sehr verschiedene Formen annehmen: Vertrauensverlust, Ausschluss, Kündigung oder Isolation. Spielen wir die interaktive Logik einer Haltung der Resignation durch. Diese Einstellung kann aus der Einstellung der Überheblichkeit entstehen, wenn das Vertrauen in die eigene Handlungsmacht zu schwinden beginnt. Die Verwirklichung von Absichten ist nicht nur deshalb aussichtslos, weil die Bedingungen in einer bestimmten Gruppe, wie dem Kollegium, nicht gegeben sind. Der Gegensatz zwischen Absicht und Verwirklichung erscheint vielmehr als prinzipieller, der die Bedingungen des Kontextes und die Fähigkeiten der sozialen Umgebung umfasst und auch die eigenen Möglichkeiten und Fähigkeiten miteinschließt. Nehmen wir an, Frau Wollen ist von der Chefin in ein anderes Team zwangsversetzt worden und hat dort eine Aufgabe zugewiesen bekommen, die weit unter ihren Qualifikationen liegt, sodass sie entsprechend in der internen Hierarchie einen niedrigen Rang bekleidet. Da die Geschichten aus dem früheren Team bereits allseits bekannt waren, bevor Frau Wollen in ihre neue Arbeitssituation kam, war für sie kein Neuanfang möglich, vielmehr wird sie reserviert und äußerst skeptisch behandelt. Frau Wollen resigniert mehr und mehr und erlebt ihre eigenen Handlungsmöglichkeiten als minimal. Eine frühere Kollegin, die schon lange nicht mehr in der gleichen Institution arbeitet, trifft Frau Wollen zufällig auf der Straße. Nach einem kurzen Wortwechsel zeigt sie ihre Überraschung über Frau Wollens Veränderung. Ko: »Wo sind denn deine Ideen geblieben, dein Engagement?« Wo: »Ach, weißt du, in dem neuen Team stoße ich mit jedem Wort auf so eine Wand von Misstrauen und Ablehnung. Ich schleppe mich durch die Wochen. Ich und Ideen? Ich bin schon froh, wenn mir nicht die Stimme versagt, wenn ich etwas gefragt werde.«
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Erfahrungen von Verschiedenheit, Differenz und Gegensatz
Die in dieser Variation gezeichnete »interaktive Logik« macht eine mögliche Erfahrung von Resignation deutlich, in der das Erleben dominant ist, nicht an die Handlungen der anderen anschließen zu können. Die Umgebung wird so wahrgenommen, dass es keine Anschlussmöglichkeiten gibt, das soziale Umfeld Möglichkeiten für Anschlüsse verwehrt und die eigenen zaghaften Versuche ständig in der Gefahr des Scheiterns stehen. Aus beiden skizzierten Einstellungen kann sich nun eine Einstellung der Selbsttäuschung entwickeln. Gehen wir zu der Variation zurück, in der Frau Wollen in einer Einstellung der Überheblichkeit Herrn Projekt vor der Chefin vorgeführt hat. Frau Wollens Reaktion in der Teamsitzung hat dazu geführt, dass Herr Projekt eine Ermahnung von der Chefin erhält, in Zukunft seine Verantwortung als Projektleiter wahrzunehmen und die Abläufe an die Beteiligten klar zu kommunizieren. Höre sie noch einmal, dass er dies nicht tue, werde sie ihm die Projektleitungen in Zukunft entziehen. Sie bittet Frau Wollen, ihr regelmäßig Bericht zu erstatten, ob Herr Projekt sein Verhalten verbessere. Frau Wollen geht beschwingt aus der Sitzung. Ihr Partner ist überrascht über ihre ausgelassene Stimmung. So ist sie schon lange nicht mehr von der Arbeit nach Hause gekommen. Frau Wollen erzählt bereitwillig von den Ereignissen und ihr Partner ist verwundert: Pa: »Du hattest doch gesagt, du wolltest mit den allen nichts mehr zu tun haben und einfach nur deine Arbeiten erledigen. Da meintest du doch auch die Chefin, die du als so engstirnig und zwanghaft beschrieben hast.« Wo: »Ach, nein, das meinte ich so nicht. Die Chefin ist in Wirklichkeit schon anders als die anderen. Mit denen will ich nichts zu tun haben, aber mit ihr, ja, da könnte ich noch richtig was werden.« Frau Wollen malt sich aus, was sie alles mit der Gunst der Chefin werden könnte, sie könnte alle Projekte des Teams koordinieren und bald als Leiterin eines anderen Teams vorgeschlagen werden. Der Partner schweigt und hört zu. Zurück bei der Arbeit würdigt Frau Wollen ihre Kollegen kaum eines Blickes und spricht, wenn überhaupt, über ihre Verantwortung gegenüber der Chefin. Als die Chefin nach einiger Zeit den Klagen der anderen nachgibt und Frau Wollen mit Zwangsversetzung droht, wenn sie sich nicht mit den Kollegen absprechen könne, kommt Frau Wollen niedergeschlagen nach Hause. Wo: »Eigentlich wollte ich nie etwas mit der Chefin zu tun haben. In Wahrheit habe ich sie immer schon durchschaut.«
Die Gegensatzverhältnisse werden nach Belieben variiert, aufgehoben und wieder errichtet, wie es die eigenen Interessen gerade ver-
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langen. In dieser Variation sind zwei Selbsttäuschungen geschehen. Nämlich die Täuschung darüber, dass Frau Wollen selbst auf Resonanzen von außen reagiert und ihre Einstellung gegenüber der Chefin daraufhin ändert. Und zweitens wird über enttäuschendes Feedback durch Gegensatzbildungen hinweggetäuscht. (In dem Sinne: »Ich bin nicht enttäuscht. Ich habe nie einen Kontakt gewollt, denn ich sehe die Dinge immer richtig und die Chefin immer falsch.«) Die Akteurin bewegt sich in einen Widerspruch zwischen dem eigenen Tun und den Rationalisierungen dieses Tuns hinein und täuscht sich damit selbst. 37 In den verschiedenen Gegensatzerfahrungen und den Weiterführungen in ihre »interaktiven Logiken« wird zweierlei deutlich, nämlich zum einen die Überdehnung der Interpretationshoheit der ersten Person und zweitens die Vermeidung von Rückwirkungserfahrungen und deren Konsequenzen. Die Reaktionen der anderen sollen keine Relevanz für die Perspektive des Akteurs haben, es verläuft ein Schnitt, eine undurchlässige Grenze zwischen dem, »wie es für mich ist« und dem, »wie es für die anderen ist«. Die Erzeugung von Immunität gegen Veränderungen, der Abschluss gegenüber der Verarbeitung von Rückwirkungen führt in einer gewissen Hinsicht zu einer Instabilität dieser Einstellungen, die unter dem Druck von außen leicht in andere Varianten von Gegensatzerfahrungen kippen können. Einige Möglichkeiten für Übergänge zwischen den verschiedenen Einstellungen wurden deshalb angedeutet.
Ich knüpfe an die vier Bedingungen für das Vorliegen von Selbsttäuschung an, die Beier in ihrer Studie zur Selbsttäuschung vorgeschlagen hat, vgl. dazu Fußnote 44 in Teil I, Kapitel 1.2. Obwohl Beier wahrscheinlich nicht von einer »Einstellung der Selbsttäuschung« sprechen würde, sondern solche Fälle meint, in denen sich jemand über einen wichtigen Sachverhalt selbst täuscht (wie Homo Faber sich über den Sachverhalt selbst täuscht, dass seine Geliebte Sabeth seine Tochter ist), ist es dennoch interessant, den Versuch zu machen, die vier Bedingungen auf Frau Wollens Einstellung anzuwenden. 1. Wissensbedingung: Frau Wollen hält an ihrer Rationalisierung fest, obwohl sie ahnt, dass sie falsch ist, 2. Wahrheitsbedingung: Es ist falsch, dass die Chefin »anders ist als die anderen« und es ist falsch, dass Frau Wollen die Chefin durchschaut, 3. Intentionalitätsbedingung: Frau Wollen wird nicht von außen zur Selbsttäuschung gezwungen, sie tut dies »freiwillig«, 4. Bedingung der Bedeutsamkeit: Die Selbsttäuschung hat einen hohen Wert für Frau Wollen, es wäre sehr belastend, sich einzugestehen, dass sie die Tatsachen nach ihrem Gutdünken verdreht. Besonders der Versuch, die Wahrheitsbedingung auf Frau Wollen anzuwenden, macht Mühe. Gerade diese Bedingung müsste verändert werden, um Selbsttäuschung nicht primär, wie Beier es tut, als epistemologische Herausforderung zu behandeln.
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Erfahrungen von Verschiedenheit, Differenz und Gegensatz
Die Errichtung von Gegensätzen in der Praxis hat Konsequenzen, die man von ihrer Struktur her analysieren kann. Deshalb habe ich vorgeschlagen, von »interaktiven Logiken« zu sprechen. Damit sind natürlich keine deduktiven Schlüsse gemeint und auch keine sicheren Prognosen. Gegensatzverhältnissen in der Praxis wohnt eine Art Dynamik inne, die einige Anschlüsse nahelegt. Es ist wichtig zu sehen, dass es verschiedene Anschlussmöglichkeiten an Gegensatzverhältnisse gibt und nicht nur eine einzige, quasi linear-notwendige Weiterentwicklung. Die Unterbrechung von Rückwirkungen und deren Verarbeitung führt dazu, dass derartige praktische Gegensätze anfällig für sehr schnelle und sehr heftige Veränderungen sind, wie zum Beispiel die Destruktion, die unbemerkte Reproduktion dessen, was ausgeschlossen und abgewertet wurde, der »Umschlag« ins Gegenteil oder das willkürliche Hin- und Herspringen zwischen den Gegensätzen. Hegel hat in seiner Philosophie eine Fülle solcher praktischen Gegensatzbildungen und deren spezifische Dynamiken untersucht. Oft werden seine Philosophie und der Ausdruck »dialektisch« geradezu damit identifiziert. Die Aufmerksamkeit für die weniger dramatischen Rückwirkungen zwischen unterschiedenen Aspekten ist bei Hegel deutlich schwächer ausgeprägt. Rückwirkungen zwischen unterschiedenen Aspekten ergeben sich meist über mehr oder weniger spannungsreiche Gegensatzerfahrungen. Nach meinem Verständnis schließt hier die Philosophie von Dewey an, die als Plädoyer dafür verstanden werden kann, auch die alltäglichen Rückwirkungen in unserem Handeln der Beschreibung und Analyse zugänglich zu machen und daran konstruktive Beiträge zur Handlungstheorie anzuschließen. Dewey arbeitet damit einen theoretischen Rahmen aus, den Hegel gesetzt hat. Ich wende mich in den weiteren Abschnitten dieses Kapitels den vielfältigen Rückwirkungen zu und werde dabei Anregungen aus der Philosophie Deweys aufnehmen. Diese Aufeinanderfolge der Kapitel bedeutet nicht, dass Gegensatzerfahrungen der Gestaltung von Rückwirkungen immer vorausgehen und durch sie überwunden werden. Differenzerfahrungen und Gegensatzerfahrungen können immer wieder entstehen, es gibt für das menschliche Handeln keinen Ablaufplan.
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4 · Konstruktion: Handeln als dialektischer Prozess
4.3 Rückwirkungen gestalten 1: Handeln heißt sich festlegen In den Verschiedenheits-, Differenz- und Gegensatzerfahrungen wurde deutlich, dass dem Aspekt des orientierenden Entwerfens eine Art Überschüssigkeit zukommt. 38 Damit ist die Fähigkeit zur Distan38 Die Inspirationsquelle für diesen Schritt findet sich in der hegelschen Rechtsphilosophie. In der Einleitung zur Rechtsphilosophie wird der Grundbegriff des Praktischen, der Wille, als die Einheit von zwei Momenten vorgestellt, vgl. Hegel, R, GW 14,1, S. 32–34, §§ 5–7. Es ist auffällig, dass die knappe Darstellung im Haupttext wie in den Erläuterungen deutlichen Bezug auf das handelnde Individuum nimmt, obwohl der Text eine viel allgemeinere Fundierungsfunktion für die gesamten Ausführungen der Rechtsphilosophie hat. Ich will diesen allgemeineren Rahmen der Rechtsphilosophie hier nicht betrachten, sondern die Paragraphen so lesen, dass in ihnen die Strukturmomente des praktischen Für-Sichseins präsentiert sind, die sich für das handelnde Bewusstsein konkretisieren lassen und durch diese Konkretisierung auch in besonderer Weise verständlich zu werden scheinen. Ich entziffere das Stück als Abbreviatur von Erfahrungen handelnder Akteure. Mit diesem Vorgehen stelle ich mich mitten zwischen zwei verschiedene Interpretationsrichtungen, die Dean Moyar einander gegenüberstellt. Er unterscheidet zwischen einer »pragmatistisch, (links)sellarianischen Lesart« vertreten durch Brandom und Terry Pinkard auf der einen und einer »Münsteraner ontologischen« Lesart vertreten durch Quante und Christoph Halbig auf der anderen Seite, vgl. Dean Moyar, »Die Verwirklichung meiner Autorität: Hegels komplementäre Modelle von Individuen und Institutionen«, in: C. Halbig/M. Quante/ L. Siep (Hg.), Hegels Erbe, Frankfurt a. M. 2004, S. 209–253, S. 210. Für beide Seiten seien jeweils verschiedene Texte Hegels grundlegend. Brandom und Pinkard zögen vor allem die Phänomenologie des Geistes heran und Quante und Halbig vor allem die Wissenschaft der Logik und die Rechtsphilosophie. Mein Vorgehen ist dadurch gekennzeichnet, die Passagen aus der Rechtsphilosophie mit dem methodischen Erfahrungsbegriff der Phänomenologie des Geistes zu verbinden und die abstrakten Bestimmungen in Erfahrungen handelnder Akteure zurückzuübersetzen. In dieser Perspektive besteht der sachliche Beitrag der Paragraphen aus der Rechtsphilosophie darin, Unterscheidungen zu treffen, die nötig sind, um den aufgetauchten Schwierigkeiten Rechnung zu tragen. Handeln heißt, diese Unterscheidungen in Situationen zu treffen und diese dadurch zu verändern. Diese Unterscheidungen zeigen, dass die Perspektive des einzelnen handelnden Akteurs überstiegen werden muss. Eine zentrale Unterscheidung ist die zwischen zwei grundlegenden Momenten des Handelns. Das erste Moment ist das Abstandnehmen, die Abstraktion von den gegebenen Umständen. Es ist die Fähigkeit, Unbestimmtheit herzustellen, um sich aus der Fülle der bestimmten Forderungen zu lösen, die durch die Umstände, in denen man steht, an jeden Akteur herangetragen werden. Von den vielen verschiedenen Bedürfnissen und Gefühlen, Konventionen und Interessen, denen ein Akteur ausgesetzt ist, die von innen oder außen auf ihn einströmen, muss ein Akteur abstrahieren können. Diese Tätigkeit des Unbestimmt-Machens äußert sich auch darin, dass die Neigungen und Triebe, die einen Akteur zu etwas drängen, durch diese Tätigkeit gehemmt werden, sich direkt zu entladen und unter Umständen auch aufgelöst oder mit anderen Zwecken ins Verhältnis gesetzt werden können. Wird dieses Moment isoliert, kann sich
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Rückwirkungen gestalten 1: Handeln heißt sich festlegen
zierung, zur Abstraktion von gegebenen Verhältnissen und zur Entwicklung »kontrafaktischer« Vorstellungen über die bestehenden Verhältnisse hinweg gemeint. In Entwürfen können beschränkende Bestimmtheiten des Faktischen aufgelöst werden. Die Modalität solcher Entwürfe ist die Möglichkeit. Möglichkeiten kommt eine inhärente Unbestimmtheit zu, sie sind noch nicht zeitlich, räumlich, materiell oder sozial entfaltet. Möglichkeiten sind unvollständig, sie verweisen auf Bestimmungsprozesse. Wenn solche Möglichkeiten sich gegen die notwendigen Veränderungen, die mit den Bestimmungsprozessen einhergehen, verschließen, werden sie zu »bloßen« Möglichkeiten. Hegel wie auch Dewey sind scharfe Kritiker solchen Verharrens in bloßen Möglichkeiten, die Hegel in ihrer destruktiven und selbstgerechten Dynamik immer wieder zu entlarven sucht und die Dewey als »Träumereien« scharf zurückweist. Den modaltheoretischen Hintergrund dieses Handlungsverständnisses benennt Matthias Jung, wenn auch an der zitierten Stelle mehr mit Blick auf die sprachliche Dimension von Artikulation, in aller Deutlichkeit: »Die Ausdrucksbewegung vom Meinen zum Sagen ist ein modaler Transfer von Möglichkeit in Wirklichkeit, durch den überhaupt erst fixiert und individuiert wird, auf was das Erleben hinauswollte.« 39 Jung zeigt die modaltheoretischen Überlegungen von eine Art »Lust an der Auflösung« ergeben, ein Ausleben von negativer Freiheit. Dies kann sich in einer Haltung der Flucht aus allem Inhalt zeigen, in einer Sehnsucht nach Entgrenzung oder einer Hochachtung des bloßen reinen Wollens. Es kann sich auch in einer Haltung des Fanatismus der Zertrümmerung zeigen. Genau diese Problematik ist in der Phänomenologie des Geistes ausführlich thematisiert. Das zweite Moment ist die Gegentätigkeit, das Bestimmen und Setzen eines Unterschiedenen. Hegel betont, dass das erste Moment auf das zweite Moment bezogen ist, weil es durch die Abstraktion von Bestimmtheit an Bestimmtheit gebunden bleibt (als Anwendung der typisch hegelschen Figur der negativen Beziehung). Es ist eine Bestimmung des Inhalts nötig, die immer auch eine Beschränkung auf diesen Inhalt im Horizont anderer möglicher Inhalte bedeutet. Beschränkung auf das, was verwirklicht werden soll, bedeutet auch, in den Raum der Endlichkeit einzutreten und diesen zu gestalten. Die beiden Momente sind durch die Zentralbegriffe Unbestimmtheit und Bestimmtheit charakterisiert und schon dadurch sind sie aufeinander bezogen. Dennoch ist ihre Einheit zu gestalten und diese folgt nicht als drittes Stadium auf zwei frühere. Die Gestaltung der Beziehung oder »Einheit« der beiden Momente nennt Hegel den »Willen«, der als Prozess ständiger Rückwirkungen zwischen Unbestimmtheit und Bestimmtheit zu verstehen ist. Wie sich dies in möglichen Erfahrungen zeigt, soll in den folgenden Abschnitten 4.3–4.6 entfaltet werden. Eine weitere Unterscheidung aus der Rechtsphilosophie, die in diesem Gestaltungsprozess besondere Wichtigkeit entfaltet, ist die zwischen Tat und Handlung, vgl. Hegel, R, GW 14,1, S. 105, § 118. 39 Vgl. Jung, Der bewusste Ausdruck. Anthropologie der Artikulation, a. a. O., S. 218.
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Peirce und James auf und skizziert Peirces Rede von »realen Möglichkeiten«, die nicht bloß abstrakt vorstellbar, sondern »wirksame Komponenten einer semiotischen Bestimmungsdynamik« sind. 40 Zudem sind die konkreten Tätigkeiten des Entwerfens wie ihre Ergebnisse, die jeweiligen Entwürfe, in vielfältiger Weise abhängig von dem, wovon sie sich unterscheiden, nämlich von den Bedingungen, unter denen solche Entwürfe entwickelt werden. Dies gilt nicht nur für die Genese der Entwürfe, sondern auch für die Art der Inhalte, die in einem weiteren Kontext betrachtet Reaktionen auf bestimmte Bedingungen und Erfahrungen sind. Die Abhängigkeits- und Verweisungsverhältnisse zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit, Kontrafaktischem und Faktischem, Entwerfen und Gestalten oder Geistigem und Materiellem 41 zeigen sich aber nur, wenn die Rückwirkungen zwischen beiden Aspekten genau betrachtet werden. Rückwirkungen zwischen den Aspekten machen sowohl deren Verschiedenheit als auch die Veränderungen der Aspekte deutlich. Diese Veränderungen sind gegenseitig und sind keinesfalls so zu verstehen, dass sich nur die Entwürfe verändern. Im Gegenteil, die Entwürfe verändern genauso die Gestaltungsschritte und sogar die Bedingungen, unter denen sie vollzogen werden. Und es heißt auch nicht, dass nicht immer wieder Differenz- und Gegensatzerfahrungen auftauchen können. In den folgenden vier Abschnitten 4.3–4.6 wird die besondere Aufmerksamkeit darauf liegen, in welchen verschiedenen Weisen sich unterschiedene Seiten ineinander verweben und aneinander verändern. In den Differenz- und Gegensatzerfahrungen zeigte sich in negativer Weise, welche Gestaltungsschritte nicht unternommen wurden und in welcher Hinsicht keine Weiterbestimmung der unbestimmten Entwürfe vorgenommen wurde. An der Differenzerfahrung von Herrn Wunsch wird Folgendes sichtbar: Herr Wunsch hat die Festlegung gescheut, die sein Eingreifen im Teamgespräch bedeutet hätte. Dadurch hätte die unbestimmte Aussicht, im Team gegen die Chefin Stellung zu beziehen, eine Bestimmtheit gewonnen, die ihn wahrscheinlich auch auf Weiteres festgelegt hätte. Im Gespräch
Ebd., S. 205. Für diese sehr allgemeine Einsicht scheint es mir wieder wichtig, die Unterscheidungen zu vervielfältigen. Jede der Unterscheidungen fokussiert einen etwas anderen Punkt an dem grundsätzlichen Komplementaritätsverhältnis der beiden Aspekte, das hier besprochen wird.
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einzugreifen, heißt, den vorgestellten Wortbeitrag zu verkörpern, also die Stimme zu erheben, auf die Blicke der anderen zu reagieren und ihnen Stand zu halten. Möglicherweise hatte Herr Wunsch selbst den Eindruck, den Versuch dazu unternommen zu haben, vielleicht hämmerte es in seinem Kopf: »Jetzt musst du etwas sagen, nein, warte noch einen Moment, jetzt!« In den geschilderten Gegensatzerfahrungen ist Folgendes auffällig: In der Einstellung der Überheblichkeit verweigert sich Frau Wollen, an geteilte Praktiken der gegenseitigen Abstimmung und Koordination anzuschließen und bricht dadurch mit vorhandenen Gewohnheiten und impliziten Vereinbarungen. Sie schließt nicht an Vorhandenes an und bindet ihre Handlungen nicht daran an. Dadurch macht sie eine Art negatives Interaktionsangebot an ihre Kollegen. Diese vier Gestaltungsschritte, Festlegung, Verkörperung, Anschluss an Vorhandenes und Interaktionsangebot, wirken auf den orientierenden Entwurf zurück, wodurch die weiteren Gestaltungsschritte wiederum verändert werden. Diese Rückwirkungsschleifen zwischen den beiden Aspekten des Handelns bleiben nur abstrakte Behauptungen, die zudem kompliziert und formelhaft wirken, wenn sie nicht anhand möglicher Erfahrungen mitvollzogen werden. Erst dies ermöglicht eine differenzierte Reflexion, ohne die das Nachdenken nicht über Formeln und Bekenntnisse zu Schulen und Positionen hinauskommt. Ich wende mich in diesem Abschnitt dem Gestaltungsschritt zu, der als »Festlegung« bezeichnet wurde. Festlegungen haben ausgesprochen komplexe Wirkungen und ich will diese in drei Hinsichten genauer untersuchen. Erstens haben Festlegungen den Charakter, zu öffnen und gleichzeitig zu schließen. Zweitens kommt jeder Festlegung eine hohe Dynamik zu, denn jede Festlegung auf die Gestaltung eines Entwurfes führt durch die Gestaltung zur Veränderung des unbestimmten Entwurfs, was wieder die Bedingungen der Gestaltung verändert. Und drittens wird in der Gestaltung die Frage virulent, welche der Wirkungen dem Verantwortungsbereich des Handelnden zuzurechnen sind und welche nicht. Es werden Differenzierungen zwischen Wirkungen nötig. Öffnen und Schließen: Gehen wir zurück zu der Anfangssituation, in der Frau Wollen die Absicht entwickelt, Herrn Not zu unterstützen. Es kann sein, dass dieser Prozess mit der Empfindung von Unbehagen und dem Gefühl, dass sich etwas ändern müsse, begonnen hat. Es 331 https://doi.org/10.5771/9783495817360 .
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kann sein, dass Frau Wollen verschiedene Ideen hatte, wie dies geschehen könne. Mit dem Schritt, Herrn Wunsch darauf anzusprechen, beginnt die Notwendigkeit der Festlegung. Frau Wollen muss ihr Unbehagen und ihr Anliegen artikulieren. Mit der Entwicklung eines Unterstützungsplans und vor allem mit der Wortmeldung in der Teamsitzung setzt sich dieser Prozess der Festlegung weiter fort. Frau Wollen muss ihren Wortbeitrag anfangen, sie muss einen bestimmten Inhalt transportieren und den Beitrag wieder beenden. Dieser Anfang, der Inhalt, der Abschluss haben eine Auswahl aus anderen möglichen Anfängen, Inhalten und Abschlüssen zur Voraussetzung. Als konkrete Entscheidung für diesen Anfang, für diesen Inhalt, diesen Abschluss, ist eine Festlegung auf eben diesen Anfang, diesen Inhalt und diesen Abschluss nötig. Das heißt natürlich nicht, dass dies nicht noch einmal zurückgenommen, verändert oder ersetzt werden kann. Ohne eine Festlegung ist aber eine veränderte Festlegung auch nicht möglich. Ich verwende bewusst den Ausdruck »Festlegung«, um den praktischen Akt deutlich zu machen, der darin besteht, eine von verschiedenen Möglichkeiten zu gestalten. In diesem praktischen Akt sind verschiedene Aspekte verbunden. Sich festzulegen bedeutet, sich für eine von verschiedenen Möglichkeiten zu entscheiden. Diese verschiedenen Möglichkeiten liegen nicht einfach vor, sondern werden in einer Situation teils entworfen, teils als impliziter Horizont empfunden. Die Ausdrücke »Wahl« oder »Entscheidung« bringen oft die irreführende Suggestion mit sich, als gäbe es in jeder Situation eine abstrakt vorliegende oder auch abstrakt entworfene Menge bestimmter Möglichkeiten. Dies mag aus einer externen Beobachterperspektive so betrachtet werden, aber aus der Perspektive des Handelnden ergeben sich nur bestimmte Möglichkeiten in der jeweiligen Situation, die auch, wie betont, oft als qualitativ präsente intensive Bedeutsamkeiten und nicht schon als explizierte Bedeutungen erfahren werden. 42 In der Situation einer in diesem Sinne offen verstandenen Jung, Der bewusste Ausdruck. Anthropologie der Artikulation, a. a. O., S. 207, mit Bezug auf den Aufsatz »The Will to Believe« von James, in dem er diese qualitativ präsenten intensiven Bedeutsamkeiten »lebendige Hypothesen« (living options) nennt. James bezeichnet Möglichkeiten, die eine emotionale Anziehung auf den Akteur ausüben, als »living options«, und solche, bei denen die Entscheidung unumgänglich ist und die von existentieller Bedeutung sind, als »genuine options«, vgl. James, »The Will to Believe«, in: William James, The Will to Believe and other essays in the popular philosophy, New York 1956, S. 1–31. 42
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Entscheidung muss nun mindestens zweierlei als bedeutsame Möglichkeit empfunden werden, von denen nur eine verfolgt werden kann. Diese Entscheidung bedeutet eine Beschränkung der eigenen Möglichkeiten, also eine Einschränkung von Vielfalt. Dies gilt nicht nur für den Moment der Entscheidung, sondern die Beschränkung ermöglicht eine bestimmte Zukunft und verschließt andere mögliche »Zukünfte«, weil sie auf zukünftige Anschlüsse verweist und andere abweist. 43 Je nachdem, um welche Art von Beschränkung es sich handelt und wie die Situation genauer aussieht, vollziehen sich mehr oder weniger weitreichende Vorprägungen von dem, was der jeweilige Akteur ist und sein kann. Wie weitreichend jede einzelne Festlegung ist, ist im Vorhinein nicht immer abzusehen, aber es gibt doch relativ verlässliche Erfahrungswerte, auf die sich die Einschätzung stützen lässt, wie dass die Festlegung auf eine Eissorte (wenn dies auch manchmal dennoch Zeit braucht und sogar stresserzeugend sein kann) weniger weitreichend ist als die Festlegung auf einen Studiengang oder einen Lebenspartner. 44 Solche Festlegungen sind oft mit angenehmen oder unangenehmen Empfindungen verbunden. Es kann als positiv empfunden werden, dass das, worauf man sich festgelegt hat, nun endlich gestaltet werden kann und es kann als positiv empfunden werden, dass man mit dem, wogegen man sich entschieden hat, nun endlich nichts mehr zu tun hat. Es kann aber auch als negativ empfunden werden, dass man andere Möglichkeiten nicht mehr verfolgen kann. Denken wir uns jemanden, der sich freut, Schokoladeneis lecken Für Brandoms inferentielle Semantik ist der Ausdruck »Festlegung« (commitment) von zentraler Bedeutung für diese Zusammenhänge. Seine Beispiele sind meist solche aus zoologischen Taxonomien: »Wer behauptet, es habe ein Löwe gebrüllt, ist damit auch darauf festgelegt, dass ein Säugetier gebrüllt hat.« (Robert Brandom, Expressive Vernunft. Begründung, Repräsentation und diskursive Festlegung, Frankfurt a. M. 2000, S. 29 (Übersetzung Eva Gilmer/Hermann Vetter)) Ich spreche hier lieber etwas offener von »Verweisungen«, da inferentielle Zusammenhänge nur einen (kleinen) Teil von Verweisungen auf andere Behauptungen ausmachen, wie die Beispiele zeigen. Trotz des Versuches, praktische Inferenzen aufzuzeigen, ist doch die Sprachform von Behauptungen (in denen Gründe für Handlungen gegeben oder Absichten formuliert werden) für die Explikation von inferentiellen Zusammenhängen dominant. 44 Allerdings lassen sich Situationen konstruieren, die diesen Erfahrungswerten widersprechen, wenn zum Beispiel die Wahl einer Eissorte über Leben und Tod (eine mag vergiftet sein) oder über Liebesglück und -leid (die Prinzessin macht es zur Bedingung, dass der Anwärter ihre Lieblingseissorte errät) entscheidet. Die Literatur arbeitet systematisch mit solchen Durchkreuzungen von Erfahrungswerten. 43
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zu können, sich dabei aber immer wieder fragt, wie wohl das Erdbeereis geschmeckt hätte. Die Frage, ob das, wogegen man sich bei der Festlegung entschieden hat, besser gewesen wäre, erzeugt oft ein unangenehmes Gefühl bei dem, worauf man sich festgelegt hat. Dies können Gefühle des Verlustes oder des Bereuens, eine falsche Entscheidung getroffen zu haben, sein. Solche Gefühle können Kräfte binden und hemmen, welche für die gewählte Möglichkeit dann nicht mehr voll zur Verfügung stehen. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, mit starken Gefühlen dieser Art umzugehen, zum Beispiel sich von einem Traum zu verabschieden oder eine der nicht ergriffenen Möglichkeiten, die besonders betrauert wird, innerhalb des Gewählten wieder auftauchen zu lassen. (Wie z. B. eine abgebrochene Sportlerkarriere in einem Philosophiestudium so auftauchen zu lassen, dass man sich besonders mit dem Begriff der Bewegung und Theorien der Sinnlichkeit beschäftigt.) Das wären therapeutische Vorschläge, mit den hemmenden Gefühlen umzugehen, die die Beschränkung auf eine Möglichkeit mit sich bringen können. Dies ändert aber nichts an der grundsätzlichen Situation, dass Festlegungen gleichzeitig Gestaltung ermöglichen und andere mögliche Gestaltungen verschließen. Dies kann in jeder Phase des Prozesses ambivalente Gefühle hervorrufen, durch die genauso gute Gründe im Raum stehen, weiterzumachen wie abzubrechen. In allen drei gewählten Ausdrücken, »Entscheidung«, »Beschränkung« und »Festlegung« wird deutlich, dass hiermit jeweils gegenstrebige Tätigkeiten vollzogen werden. Wie diese Gegenstrebigkeit weiter zu analysieren ist, ob es sich um zwei Funktionen der Festlegung oder um zwei Wirkungen oder gar um zwei einander bedingende Tätigkeiten handelt, soll hier nicht weiter verfolgt werden und hängt vielleicht sogar von den konkreten Festlegungen ab. Jedenfalls sind Festlegungen unzureichend verstanden, wenn dieser doppelte Charakter, durch den etwas eröffnet und etwas verschlossen wird, nicht ausführlich mit bedacht ist. Die möglichen ambivalenten Gefühle zeigen diese doppelte Gestalt an bzw. sind die Art, wie ein Individuum diesen doppelten Charakter realisieren kann. Empfindungen und Gefühle von Erfüllung und Freude an der Gestaltungsmöglichkeit beurteilen wir eher positiv, Empfindungen oder Gefühle von Enge und Einschränkung durch die Absage an viele Möglichkeiten beurteilen wir negativ. Diese doppelte Möglichkeit der Empfindungen und Gefühle, in der sich die beiden Aspekte jeder Festlegung manifestieren können, 334 https://doi.org/10.5771/9783495817360 .
Rückwirkungen gestalten 1: Handeln heißt sich festlegen
macht verständlich, welchen Gewinn und welchen Preis sich Handelnde in verschiedenen Situationen von solchen Festlegungen versprechen und weshalb es Arten von Festlegungen gibt, die Handelnde vermeiden wollen. Dies erklärt auch, warum sich Handelnde sogar Haltungen, Einstellungen oder Gewohnheiten zulegen können, die darauf abzielen, Festlegungen überhaupt möglichst weitgehend zu vermeiden. Die entgegengesetzte Gewohnheit wäre die, an die Möglichkeiten, gegen die man sich entschieden hat, keinen Gedanken und erst recht keine Gefühle mehr zu verschwenden, sondern den eingeschlagenen Weg möglichst reibungsfrei weiterzuverfolgen. 45 Die Gleichzeitigkeit von Beschränkung und Ermöglichung in jeder Festlegung zeigt die jedem Schritt innewohnende Konfliktualität, die man selber oder die andere empfinden und artikulieren können. 46 Konflikte entstehen nicht nur äußerlich durch das Zusammentreffen verschiedener Interessen, sondern auch deswegen, weil jede Handlung genauso eine Beschränkung wie eine Ermöglichung für einen selbst wie auch für andere bedeutet. Gegenseitige Veränderung: Festlegungen sind keine einmaligen Akte, sondern erfordern weitere Tätigkeiten, damit sie aufrechterhalten oder die ihnen inhärenten Verweisungen erfüllt werden. Sehen wir uns dies am Beispiel der Festlegungen an, die Frau Wollen in den In diesem Zusammenhang ist es natürlich auch wichtig, solche Situationen zu erwähnen, in denen die Akteure sich als zu etwas gezwungen erleben und gerade keine Entscheidungsmöglichkeit zu haben meinen. Mögliche Erfahrungen dieser Art können sehr verschiedenartig sein, z. B. solche, wo die Akteure sich durch die Gesamtsituation gezwungen fühlen und solche, wo jemand über die Macht verfügt, einen anderen zu zwingen. Hier ist die Verschiedenheit der Perspektiven wichtig, der Perspektive des Akteurs, der sich gezwungen fühlt und der Perspektive des Beobachters, aus der Variationsspielräume von Möglichkeiten sichtbar sind. Hierin scheint mir die Traditionslinie zu wurzeln, die dem Freitod die große Bedeutung zumisst, auch in Situationen höchsten Zwangs zumindest eine Möglichkeit zu haben. Während im oben beschriebenen Fall »therapeutische Maßnahmen« darin bestehen, den als schmerzlich empfundenen Preis von Festlegungen in die Gestaltung zu integrieren, besteht hier umgekehrt die therapeutische Maßnahme darin, das Empfinden von Gestaltung durch Variationen von Möglichkeiten und durch die Integration der Beobachterperspektive auf sich selbst zurückzugewinnen. 46 Dieser Punkt scheint mir in den Ausführungen von Jung zu schwach zu sein: »Movens der Klärung einer Situation ist dabei immer ihre empfundene Ambivalenz, ihre Mehrdeutigkeit, der Handlungsdruck, den die simultane Präsenz von Möglichkeiten erzeugt, von denen nur eine verwirklicht werden kann.« (Jung, Der bewusste Ausdruck. Anthropologie der Artikulation, a. a. O., S. 207). 45
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4 · Konstruktion: Handeln als dialektischer Prozess
vorgeschlagenen Situationen zu vollziehen hat. Frau Wollen hat die Absicht, Herrn Not zu unterstützen. Sie legt sich fest, indem sie eine Reihe von Handlungen unternimmt, die diese Absicht erfüllen können: Herrn Wunsch anzusprechen, ihm ihren Eindruck und ihr Anliegen, an dieser Ungerechtigkeit etwas zu verändern, vorzutragen, seine Reaktion hin auf Zustimmung oder Ablehnung zu deuten, die Zeichen der Nachdenklichkeit zum Anlass zu nehmen, um ihre Eindrücke noch eindringlicher zu schildern, zum Beispiel in einer interpretierenden Erinnerung an eine der letzten Demütigungsszenen in einer Teamsitzung usw. Dies zeigt, wieviele Akte bei jedem Gestaltungsschritt ineinandergreifen, die in der sprachlichen Bezugnahme zusammengefasst und abgekürzt werden. Diese Akte sind organisiert und werden zusammengehalten durch die Absicht, Herrn Not zu unterstützen. Genauer betrachtet scheint die Absicht, Herrn Not zu unterstützen, eine allgemeine Richtung zu geben und einen Maßstab zu liefern, an dem sich die einzelnen Handlungen zu messen haben. Schauen wir uns dies an einer weiteren Variation genauer an: Nehmen wir an, Frau Wollen schildert im ersten Gespräch mit Herrn Wunsch ihren Eindruck, dass das Verhalten der Chefin gegenüber Herrn Not nicht in Ordnung sei. Sie bemerkt, dass Herr Wunsch ein nachdenkliches Gesicht macht und nach Situationen sucht, in denen dies so gewesen sein könnte. Frau Wollen reagiert sofort und schildert die letzte von ihr beobachtete Situation, bei der Herr Wunsch auch zugegen war, möglichst detailliert mit Konzentration auf das defensive Verhalten von Herrn Not, seinen Blick zu Boden, sein Rotwerden, sein leichtes Zittern in der Stimme. Frau Wollen entscheidet sich für diese genaue Schilderung in Reaktion auf Herrn Wunschens nachdenklichen Gesichtsausdruck und tut dies, um seine Nachdenklichkeit in Zustimmung zu verwandeln.
Die Variation zeigt, was Frau Wollen unternimmt, um die leitende Absicht, Herrn Not zu unterstützen, zu erfüllen. Dies führt zu einer bestimmten Filterung ihrer Wahrnehmung nach passenden Gelegenheiten dafür, die in der Variation gut zum Ausdruck kommt. Der Moment, in dem Frau Wollen auf das nachdenkliche Gesicht von Herrn Wunsch reagiert, lässt sich begrifflich verschieden erschließen. Ich will einige Vorschläge gegeneinander halten. Das klassische finale Vokabular legt es nahe, dieses Verhältnis als Zweck-Mittel-Verhältnis zu deuten. Frau Wollen verfolgt den Zweck, Herrn Not zu unterstützen und ein geeignetes Mittel liegt darin, Herrn Wunsch zur Kooperation zu bewegen. Im Anschluss an John Searle könnte man sagen, dass Frau Wollens Absicht, Herrn Not zu unterstützen, die Erfül336 https://doi.org/10.5771/9783495817360 .
Rückwirkungen gestalten 1: Handeln heißt sich festlegen
lungsbedingungen angibt, während die Erfüllung durch das Eintreten eines durch Handlungen verursachten Sachverhaltes ermöglicht wird. Searles Beispiele sind recht einfach, sodass daran das Modell plausibel erscheint. Beispiele sind meist künstliche Ausschnitte aus Interaktionen, die die Kontexte für diese Beispiele liefern. Es würde sich hier auch anbieten, eine Unterscheidung Hegels aus der Rechtsphilosophie aufzunehmen. Die einzelne Handlung eines Akteurs nennt Hegel »Vorsatz«, das mit ihr zusammenhängende Allgemeine »Absicht«. 47 Das Allgemeine kann erst in einer als gemeinsame verstandenen Situation erfasst und bestimmt werden als eine Art Regel, wie die Umstände und die Ansprüche anderer zu integrieren sind. Hierfür ist es wichtig, die gesamte Situation in den Blick zu nehmen, und das heißt die sukzessiven Festlegungen, wie die leiblichen Ausdrucksformen, durch die bestimmte Anschlüsse aller Beteiligen nahegelegt und andere unwahrscheinlicher gemacht werden. Durch jeden Akt ergeben sich bestimmte Konsequenzen, die vor allem durch den konkreten leiblichen Ausdruck entweder zu einer unmittelbaren Reaktion Anlass geben oder bestimmte Folgerungen zulassen. Die Kritik der pragmatistischen Handlungstheorie richtet sich auf alle diese Vorschläge, und vor allem auf die übliche Verwendung des finalen oder teleologischen Vokabulars und die damit verbundene Reduktion auf rationales Handeln. Dies Modell unterstellt nämlich eine Bestimmtheit der Zwecke im Vorhinein, die sich für die meisten Handlungsvollzüge als theoretische Fiktion erweist. Das Problem unterstellter Bestimmtheit ergibt sich auch für Searles Vorschlag, Intentionen als Repräsentation von Erfüllungsbedingungen zu interpretieren. Denn dadurch wird die Kreativität übersehen, die für den Einsatz und die Findung und Erfindung der Mittel nötig ist. 48 Der Prozess des Handelns kann nicht in einzelne Sequenzen zerlegt werden, denen Hegel führt diese Unterscheidung im § 119 der Rechtsphilosophie im Anschluss an die Unterscheidung zwischen Tat und Handlung, aber zu Beginn eines neuen sachlichen Abschnitts ein. Vgl. Hegel, R, GW 14,1, S. 107, § 119. Vorsatz und Absicht sind keine Phasen in einem psychologisch verstandenen Handlungsprozess, sondern Perspektiven auf Handlungen. 48 Dass das pragmatistische und dialektische Handlungsverständnis viele Überschneidungspunkte haben, zeigt zum Beispiel der begeisterte Verweis von Joas auf Taylors Text »Leibliches Handeln«. Vgl. Joas, »Eine nicht-teleologische Deutung der Intentionalität des Handelns«, a. a. O., S. 233, Fßn. 20; Verweis auf: Charles Taylor, »Leibliches Handeln«, in: A. Métraux/B. Waldenfels (Hg.), Leibhaftige Vernunft. Spuren von Merleau-Pontys Denken, München 1986, S. 194–216. 47
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dann ein unabhängiges Bestehen attestiert werden kann. Diese Gefahr besteht auch bei der terminologischen Unterscheidung Hegels zwischen Vorsatz und Absicht. Diese sehr grundsätzliche und weitreichende Kritik unterstellter Bestimmtheit sei durch einen genaueren Blick auf die letzte Variation noch etwas verdeutlicht: Frau Wollens Absicht, Herrn Not zu unterstützen, hat die Funktion einer vagen Orientierung und es zeigt sich erst in den einzelnen Schritten, was dies in der Situation von Frau Wollen mit ihren Kolleg_innen und in ihrer Institution bedeuten kann. Diese hat also ein hohes Maß an Unbestimmtheit und wird durch den Einsatz der Mittel durch einzelne Handlungen nicht einfach erfüllt, sondern allererst bestimmt. Zwecke, Absichten oder Intentionen als Repräsentation von Erfüllungsbedingungen (zusammenfassend eben: Entwürfe) sind unbestimmt und gehören selber in den Handlungsverlauf hinein. Frau Wollen entwickelt zunächst aus einem Unbehagen ein unbestimmtes Anliegen, etwas an dem Zustand verbessern zu wollen. Dies ließe sich als Beginn einer Handlungssequenz ansehen, die auf weitere Handlungen verweist. Damit ist eine bestimmte Festlegung getroffen, die auf weitere, sie bestimmende Festlegungen orientiert ist. Die Art des Verweisens der früheren auf spätere Handlungen und auch des Verwiesenseins von späteren Handlungen auf frühere kann man Absichtserfüllung oder Zweckverfolgung nennen, wenn deutlich ist, dass die Absicht kein bestimmter geistiger Zustand und nicht von der Handlung zu unterscheiden ist. Joas hebt im Anschluss an Dewey die reziproke Beziehung zwischen Handlungszielen und Handlungsmitteln hervor. 49 Dies bedeutet auch, dass die »Mittel« bzw. die Ausführung der Handlungen, die an die vorherige Handlung anschließen, auf die allgemeine Absicht, den Zweck oder das Ziel zurückwirken und dies zu Veränderungen führt. Die Anschlüsse an vorherige Handlungen und das Verweisen auf weitere Handlungen oder das Verwiesensein auf frühere Handlungen meint kein Determinationsverhältnis, sondern jede anschließende Handlung ist eine Weiterführung von Festlegungen und damit eine Entscheidung für diese Handlung, die andere Möglichkeiten, wie vage auch immer, ins Spiel Vgl. Joas, »Eine nicht-teleologische Deutung der Intentionalität des Handelns«, a. a. O., S. 227: »Das heißt, dass er [Dewey] nicht von klaren Zielen des Handelns als Regelfall ausgeht, auf die sich dann die Mittelwahl bloß noch auszurichten hat. Vielmehr seien Handlungsziele meist relativ unbestimmt und werden erst durch die Entscheidung über zu verwendende Mittel spezifiziert. Reziprozität von Zielen und Mitteln bedeutet also ein Wechselspiel zwischen Mittelwahl und Zielklärung.«
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bringt. Frau Wollen hatte sich bei Beginn des Gespräches nicht vorgenommen, dass sie dann, wenn Herr Wunsch nachdenklich schaut, eindringlich die letzte Begebenheit der Demütigung schildert. Darin, dies so zu tun, liegt die Kreativität jeder erneuten Festlegung. Dies kann in folgender Variation noch deutlicher werden: Stellen wir uns vor, wie Herr Wunsch während und nach dieser eindringlichen Schilderung bedenklich den Kopf hin und her wiegt: Wu: »Da stimmt was nicht, da stimmt was nicht. Weißt du, ich versuche mich gerade zu erinnern an das, was mir Kollegin Früher erzählt hatte, als ich neu hier anfing. Die Chefin und Herr Not haben eine ganz lange Geschichte gemeinsam und irgendwie war da etwas, das Herr Not sich ihr gegenüber hat zuschulden kommen lassen. Die beiden sind, glaube ich, so sehr verwickelt, dass ich gar nicht weiß, ob eine einseitige Unterstützung von Herrn Not möglich und auch sinnvoll ist.« Frau Wollen ist überrascht, das ist ihr ganz neu und ihr ist klar, dass sich ihr Anliegen dadurch ändert. Die Chefin ist nicht mehr nur die Täterin und Herr Not nicht mehr nur das Opfer, wenn es alte Rechnungen gibt. Frau Wollen sagt nach einem Moment des Überlegens: Wo: »Gut, dass du das sagst, das wusste ich nicht. Sich dann so einseitig einzumischen, ist sicher nicht günstig. Aber ich finde es unangenehm und für uns alle wirklich schwierig, deren Geschichte mitzubekommen. Das macht doch eine kollegiale Teamatmosphäre insgesamt unmöglich. Das würde ich gerne ansprechen, was meinst du dazu?«
Die Information von Herrn Wunsch hat also eine Rückwirkung auf die allgemeine Absicht von Frau Wollen, die sich dadurch verändert. Mit der Terminologie Deweys ist ein neues end-in-view entstanden, ein neues gegenwärtiges Ziel, das als Handlungsplan das weitere Handeln orientiert und als selbst veränderlicher Soll-Wert einen Vergleich mit dem tatsächlichen Verlauf ermöglicht. 50 Dewey kritisiert von solch einem Verständnis her die Analogie zwischen Absicht bzw. dem Willen als innerem Befehlen, 51 die, wenn man große begriffsgeschichtliche Entwicklungslinien ziehen will, ein paulinisch-augustinisches Erbe ist. 52 Wollen in diesem Sinne ist kein Befehlen, kein gehorsames Ausführen von Befehlen und, im Falle sogenannter WilFür die Bildung derartiger orientierender Sollwerte prägt Dewey den Ausdruck »ends-in-view«. Vgl. Dewey, Valuation, LW.13.219–220. 51 Vgl. Deweys Kritik an der Befehlsmetapher, Democracy, MW.9.108, 117. 52 Arendt vertritt wie viele andere die Auffassung, dass der Willensbegriff eine christliche Erfindung sei. Der Imperativ des Willens der paulinischen Tradition besagt: »Du sollst wollen!« Dies ruft sofort einen Gegenwillen wach und die Antwort kann sein: »Ich will« oder »Ich will nicht.« Vgl. Arendt, Das Wollen, a. a. O., S. 318–343. 50
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lensschwäche, kein Verweigern der Ausführung eines Befehls. 53 Willentliches (oder absichtliches bzw. intentionales) Handeln ist ein orientiertes Gestalten mit ständiger Rückwirkungsmöglichkeit auf die Orientierung (durch Ziele, Zwecke, Absichten) selbst. Die im Vorhinein unabsehbaren Folgen und Wirkungen jedes einzelnen Handlungsschrittes machen diese Rückwirkungen möglich und nötig. 54 Zweifellos gibt es auch Handlungen, die auf fremden oder eigenen Befehl ausgeführt werden. Das Ziel ist dann vorgegeben, der Mitteleinsatz hat nur noch den dienenden Charakter der Umsetzung des vorher schon Fixierten. Solches Handeln eignet sich aber nicht als Paradigma. Eine mikrologische Analyse solcher Handlungen in Form
Vgl. zur Willensschwäche Teil I, Kapitel 3.1. Vgl. dazu: Dewey, Democracy, MW.9.111: »The aim as it first emerges is a mere tentative sketch. The act of striving to realize it tests its worth. If it suffices to direct activity successfully, nothing more is required, since its whole function is to set a mark in advance; and at times a mere hint may suffice. But usually – at least in complicated situations – acting upon it brings to light conditions which had been overlooked. This calls for revision of the original aim; it has to be added to and subtracted from. An aim must, then, be flexible; it must be capable of alteration to meet circumstances.« In der deutschen Übersetzung lautet die Stelle: »Das Ziel, wie es zunächst auftaucht, ist nicht mehr als ein ›versuchsweiser Umriss‹. Der Wert dieses Umrisses wird geprüft bei dem Versuch, es zu verwirklichen. Wenn er genügt, um das Handeln erfolgreich zu leiten, ist nichts weiter erforderlich, da seine ganze Funktion darin besteht, Richtpunkte zu setzen, gelegentlich mag eine bloße Andeutung dafür ausreichend sein. In den meisten Fällen jedoch – zum mindestens in verwickelteren Sachlagen – bringt das Handeln auf Grund dieses Umrisses Bedingungen zutage, die bisher übersehen worden waren. Dies nötigt zu einer Überprüfung des ursprünglichen Zieles: es muss dies oder jenes hinzugefügt oder abgestrichen werden.« (Übersetzung Erich Hylla, S. 143) Sehr deutlich heißt es im selben Kapitel einige Seiten später, Dewey, Democracy, MW.9.114: »Aims mean acceptance of responsibility for the observations, anticipations, and arrangements required in carrying on a function – whether farming or educating. […] Even the most valid aims which can be put in words will, as words, do more harm than good unless one recognizes that they are not aims, but rather suggestions to educators as to how to observe, how to look ahead, and how to choose in liberating and directing the energies of the concrete situations in which they find themselves.« In der deutschen Übersetzung lautet die Stelle: »Ein Ziel aufstellen heißt die Verantwortung übernehmen für die Beobachtungen, Vorausberechnungen und Anordnungen, die für die Durchführung einer Tätigkeit erforderlich sind – das gilt für die Landwirtschaft sowohl wie für die Erziehung. […] Selbst die wertvollsten Ziele, die in Worte gefasst werden können, werden als Worte mehr schaden als nützen, wenn nicht erkannt wird, dass sie in Wirklichkeit nicht Ziele sind, sondern Winke für die Erzieher, Winke dafür, wie sie beobachten, vorrausschauen, wählen sollen bei der Befreiung und Leitung der Kräfte, die die wirkliche Sachlage darbietet.« (Übersetzung Erich Hylla, S. 146–147). 53 54
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von geeigneten Situationen zeigt die Festlegungsnotwendigkeiten, die auch beim Ausführen von einfachen Befehlen bestehen (wenn es auch zynisch wäre, sie als Möglichkeit für Kreativität zu bezeichnen, wenn wir an Menschen denken, die unter Fremdzwang monotone Bewegungen ausführen müssen, wie z. B. Fabrikarbeiter alten Stils). Neben diesen beiden Formen, die Absicht als orientierenden Entwurf zu verstehen, der sich im Prozess der Gestaltung verändert oder wie traditionell üblich die Absicht als einen Befehl zu verstehen, der umgesetzt wird, findet sich noch eine dritte Form, die häufig vorkommt und die in der Figur von Frau Vollzug personifiziert ist. Frau Vollzug schloss, in der oben entworfenen Variation, an den Wortbeitrag von Frau Wollen in der Teamsitzung an, womit sie Herrn Not unterstützen wollte, ohne dass sie in den Plan von Frau Wollen und Herrn Wunsch eingeweiht war. Es mag nun sein, dass sie der Beitrag von Frau Wollen spontan überzeugt hat oder es mag sein, dass sich für sie die Gelegenheit bot, ihr schon länger anhaltendes latentes Unbehagen über die Beziehung zwischen Herrn Not und der Chefin zu artikulieren. Frau Vollzug antwortet auf die Gesprächssituation, in der sie sich befindet. In beiden Fällen wäre die Absicht oder der Zweck von Frau Vollzugs Handeln etwas, was sich in einer rekonstruktiven Reflexion auf den Vollzug ergibt. Die Absicht zeigt sich in beiden Fällen als das, was die Handlung orientiert, und wird, für weitere Anschlüsse, aus der Handlung selbst erschlossen. In der pragmatistischen Handlungstheorie wird das Verhältnis von immer schon wirksamen vor-reflexiven Strebungen, deren Ort der Körper der Handelnden ist, und der nachträglichen Reflexion und Rekonstruktion von Absichten oder Zwecken besonders stark betont und zum Paradigma für Handlungen überhaupt. Handlungen aus Empfindungen heraus oder eingeschliffene Handlungsgewohnheiten sind für die pragmatistischen Handlungsanalysen besonders wichtig. Differenzierung zwischen Wirkungen: Festlegungen haben Wirkungen und zwar teilweise vorausgesehene und erwünschte Wirkungen, teilweise nicht vorausgesehene, möglicherweise unangenehme oder gar befürchtete Wirkungen. Welche Wirkungen gehören zu der Handlung, welche nicht? Mit dieser Frage sind zwei Schwierigkeiten verbunden. Zum einen stellt sich nämlich die schwierige Frage nach der Einheit der Handlung und zum anderen die damit verbundene Frage nach den Grenzen der Zurechenbarkeit. Wo beginnt eine Handlung und wo endet sie? Unternimmt Frau Wollen mit dem Versuch, 341 https://doi.org/10.5771/9783495817360 .
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Herrn Wunsch für ihr Anliegen zu gewinnen, eine Handlung oder mehrere? Welche Teilungen von Handlungen in Teilhandlungen sind sinnvoll und welche nicht? Antworten auf diese Fragen sind von der verfolgten Absicht des Handelnden selbst abhängig oder von der Beschreibung eines externen Beobachters. Je nach Beobachtungsanliegen können wir uns vorstellen, dass das, was der Akteur als eine Handlung auffasst, für einen Beobachter mehrere aneinander anschließende Handlungen sind. Stellen wir uns zum Beispiel vor, dass diese Gespräche von einem Organisationssoziologen aufgezeichnet worden sind, der sich für kommunikative Abläufe in Institutionen interessiert und der mit einem Sprechwissenschaftler zusammen bestimmte Gespräche auswertet. Der längere Gesprächsbeitrag von Frau Wollen könnte hier in eine lange Kette von Sprechhandlungen zerlegt werden. 55 Die Frage nach der Einheit der Handlung stellt sich aus bestimmten Gründen, und Antworten auf diese Frage kann es nur unter Einbezug dieser Gründen geben. Die Frage nach den Grenzen der Zurechenbarkeit ist schwieriger zu klären. Ich will dazu auf die verschiedenen Wirkungen Bezug nehmen, die Frau Wollens Verhalten in den Variationen hatte. Der Gesprächsbeitrag von Frau Wollen hat eine ganze Reihe von Wirkungen erzeugt, z. B. den Anschluss von Frau Vollzug, die Empörung von Herrn Bloß, die Überraschung und positive Bestärkung, die Herr Not erfahren hat. Frau Wollen selber wollte mit ihrem Gesprächsbeitrag zunächst etwas ganz anderes bewirken. Herr Wunsch sollte Gelegenheit bekommen, den zweiten Teil des Plans umzusetzen und die Chefin sollte dadurch zur Zustimmung zu diesem Plan bewegt werden. Beides geschieht nicht so, wie Frau Wollen es erwartet hatte, aber es geschieht stattdessen eine Menge anderes. Und das Engagement von Frau Vollzug hat sogar die Wirkung, dass die Chefin dem Plan, wenn auch ohne Beteiligung von Herrn Wunsch, zustimmt. Die Reaktion, die Herr Bloß zeigt, nämlich Frau Wollen als scheinheilige Widerstandskämpferin bei anderen anzuschwärzen, ist eine, die Frau Wollen als Konsequenz ihres Handelns vehement zurückweist. Das, was Herr Bloß daraus gemacht hat, habe mit ihr
Auch für die Frage nach der Einheit einer Handlung gilt die von Anscombe in Intention eingeforderte Beschreibungsabhängigkeit von Handlungen. Anscombe geht es um die Beschreibungsabhängigkeit von Absichten. Menschliches Verhalten kann unter einigen Beschreibungen absichtlich sein, unter anderen nicht (wenn man zum Beispiel nur ein Protokoll der Lageveränderungen im Raum anfertigen würde).
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nichts zu tun. Frau Wollen sieht sich durch das Verhalten von Herrn Bloß genötigt, in das Geflecht der Wirkungen ihres Gesprächsbeitrages einen Schnitt zu setzen unter Verwendung einer Unterscheidung zwischen dem, was zum eigenen Handeln gehört und dem, was nicht dazu gehört, sondern was kontingente Umstände sind, in dem Fall aus ihrer Sicht die Merkwürdigkeiten der Persönlichkeit von Herrn Bloß. Dieser Schnitt hat eine wichtige Funktion, denn er trennt das, was Frau Wollen sich selbst zurechnen kann und will, von dem, für das dies nicht gilt. Eine solche Unterscheidung vorzunehmen, gehört zur Dynamik von Festlegungen. Festlegungen erfordern und ermöglichen Anschlusshandlungen. Eine Festlegung macht es nötig, sie aufrechtzuerhalten und an veränderte Bedingungen anzupassen, sonst kann man vielleicht von dem Versuch einer Festlegung sprechen, aber von keiner Festlegung. Wenn Frau Wollen Herrn Wunsch ihr Unbehagen andeuten, dann aber schnell das Thema wechseln würde, hätte sie vielleicht einen Versuch gemacht, sich aber nicht auf das Vorhaben festgelegt, den Kollegen für ihre Unterstützungsabsicht zu gewinnen. Die Festlegung erschöpft sich gerade nicht in einem Akt, sondern erstreckt sich auf die Anschlusshandlungen, die zur Aufrechterhaltung nötig sind. Dies bedeutet auch, mit den Wirkungen und Folgen dieser Handlungen umzugehen. Hierfür wird es wichtig zu unterscheiden zwischen solchen Folgen, die direkt mit der gewählten Festlegung zu tun haben und mit einbezogen wurden, einerseits, zweitens solchen Folgen, die nicht intendiert waren und hätten berücksichtigt werden müssen und drittens solchen, die nicht intendiert waren und dem handelnden Subjekt nicht zuzurechnen sind. Diese Unterscheidung ist nicht leicht zu treffen. Und genau diese prinzipielle Schwierigkeit mag in manchen Fällen die Einstellung befördern, Festlegungen möglichst zu vermeiden. Unter Einbezug neuer Faktoren kann es immer sein, dass sich das, was eine nicht intendierte und nicht zurechenbare Folge zu sein schien, doch als zurechenbar erweist und umgekehrt. Allerdings schließen sich die beiden Einschätzungen, dass etwas eine intendierte Folge und zurechenbar sei und die, dass etwas eine unintendierte Folge und nicht zurechenbar sei, aus, und können nicht gemeinsam getroffen werden. Aber jede Handlung steht in dem Horizont von beiden Möglichkeiten und dieser gehört ihr notwendig an. Es ist nicht möglich, eine Handlung vollständig und endgültig der einen oder der anderen Seite zuzuschlagen. Es handelt sich hier also um eine Diffe343 https://doi.org/10.5771/9783495817360 .
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renzierung, die nicht reduzierbar und hintergehbar ist und die immer wieder neu überdacht werden muss. Für diese ständige Differenzierung bieten die handlungstheoretischen Skizzen in der Rechtsphilosophie Hegels eine Unterscheidung an, die ich hier aufnehmen will. Das, was im eigenen Verantwortungsbereich liegt, nennt Hegel »Handlung«, und das, was über den eigenen Verantwortungsbereich hinausgeht, nennt er »Tat«. 56 Die Unterscheidung ist ausgesprochen wichtig und wir vollziehen sie ständig. Zur Tat rechnen wir das, was aus unserer Handlung geworden ist, was daraus gemacht wurde, was aber nicht mehr in unserem Verantwortungsbereich liegt. Die Situation zeigt, wie verwickelt die Anwendung der Unterscheidung zwischen Tat und Handlung ist und wie leicht sie auch zur Abwehr von Verantwortung eingesetzt werden kann. Und dennoch ist sie grundlegend und eine basale Operation unserer Rechtspraxis für die Zuschreibung und Begrenzung von Schuld und Verantwortung. Die Unterscheidung wird dort aber immer nur unter Beteiligung mehrerer Perspektiven und aus dem Munde eines unbeteiligten Dritten, des Richters, getroffen. Es ist sicher so, dass es viele Beispiele für die offensichtliche und unproblematische Verwendung der Unterscheidung gibt. Aber es gibt auch viele Fälle, in denen die Unterscheidung eingesetzt wird, um die Frage nach der möglichen Berechtigung der Perspektive des anderen nicht zu stellen. Die Grenzziehung von Frau Wollen zwischen dem, was sie als ihre Handlung anerkennt und dem, was sie in Bezug auf Herrn Bloß aus ihrem Verantwortungsbereich ausschließt, wird unter dieser Fragestellung noch weiter bedacht werden müssen.
4.4 Rückwirkungen gestalten 2: Handeln heißt verkörpern Die Gestaltung von Entwürfen bedeutet auch die Verkörperung dieser Entwürfe. Gestaltungen geschehen in Raum und Zeit unter Einsatz unserer Körper und je nachdem, um welche Gestaltungen es geht, Diese Unterscheidung entfaltet Hegel im § 118 der Rechtsphilosophie und sie wird im letzten Satz als geschichtliche Errungenschaft der Neuzeit verstanden: »Das heroische Selbstbewusstsein […] ist aus seiner Gediegenheit noch nicht zur Reflexion des Unterschiedes von Tat und Handlung, der äußerlichen Begebenheit und dem Vorsatze und Wissen der Umstände, sowie zur Zersplitterung der Folgen fortgegangen, sondern übernimmt die Schuld im ganzen Umfange der Tat.« (Hegel, R, GW 14,1, S. 105, § 118).
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dominieren verschiedene Sinne. Oft kommt es mehr auf die Sichtbarkeit oder auf die Hörbarkeit an, mal ist es wichtig, den Geschmackssinn, den Geruchssinn, den Tastsinn oder den Bewegungssinn einzubeziehen. 57 Die Bedeutung und Unverzichtbarkeit der Verkörperung erklärt, weshalb zu den komplementären Unterscheidungen, die zur Klärung des menschlichen Handelns verwendet werden, klassischerweise auch die zwischen Geist und Körper gehört. In diesem Abschnitt soll nun die Gestaltung vor allem in ihrer Verkörperungsdimension betrachtet werden. Drei wichtige Differenzierungen sind dabei besonders zur berücksichtigen. Erstens vollziehen sich Verkörperungen in einem Wechsel zwischen aktiven Gestaltungen und Erfahrungen des Gestaltet-Werdens. Zweitens ist das Zusammenspiel von qualitativen Empfindungen und reflexiver Verarbeitung von großer Bedeutung. Dabei differenzieren sich drittens aus bestimmten Anlässen zwei verschiedene Selbstverhältnisse. Es kann nämlich fraglich werden, ob es angemessen ist, die körperlichen Empfindungen als Ausdruck von Bedeutsamkeit gelten zu lassen oder ob es angemessener ist, solche Empfindungen auf ihre physiologische Funktion zu reduzieren. Taucht diese Frage auf, treten zwei Selbstverhältnisse in Konkurrenz. Das erste könnte man ein »leibliches«, das zweite ein »körperliches« Selbstverhältnis nennen. Gestalten und Gestaltet-Werden: In den bisher entworfenen Variationen wurde die Bedeutung der Verkörperung in Gesprächen immer wieder deutlich. An den Fragen, die sich aus der Akteursperspektive stellen können, nämlich zum Beispiel wann ein guter Zeitpunkt ist, die Stimme zu erheben oder wie laut oder leise man sprechen soll, zeigt sich die Verschiedenheit der beiden Aspekte des Handelns, Entwerfen und Gestalten. Meist allerdings treten die Akte der Verkörperung nicht derart in den Vordergrund, sondern fungieren als Medium. Dieses Medium ist aber keinesfalls neutral, vielmehr ist der Körper hochgradig mit Bedeutung aufgeladen und so scheint es angemessener zu sein, von einem »Ausdrucksmedium« zu sprechen, das nicht nur andere Gehalte transportiert, sondern selbst ausdrückend ist. Diese repräsentierende und präsentierende Funktion der Verkörperung kann in eine Spannung geraten, die in einer der Variationen Zur Ordnung der Sinne und einer Kritik am eingeschränkten Schema von den fünf Sinnen vgl. Rolf Elberfeld, »Sinnlichkeit unterscheiden«, in: Phainomena 24 (2015) 92–93, S. 185–216. 57
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besonders deutlich geworden ist. Ich will diese deshalb zunächst erinnern und die weiteren Überlegungen daran anknüpfen. In dieser Variation hat nämlich Herr Wunsch Frau Wollen zur Rede gestellt: Wu: »Ich habe die ganze Zeit darauf gewartet, dass du endlich das Signal gibst, wie verabredet. Und dann, ganz am Schluss, als die Ersten schon zu gehen anfingen, da hast du noch, so leise, dass es kaum hörbar war, deinen Punkt eingebracht. Na, damit war alles verschenkt. Du hättest gleich, nachdem die Chefin Herrn Not wieder runtergeputzt hat, reagieren müssen!«
Verkörperung bedeutet in einem Gespräch, einen Zeitpunkt für den eigenen Gesprächsbeitrag zu wählen, in diesem Fall im direkten oder jedenfalls zeitnahen Anschluss an das als problematisch empfundene Verhalten und nicht kurz vor oder während der Beendigung des Gesprächs. Es ist nötig, einen geeigneten Ort zu finden. Z. B. könnte es sein, dass es günstiger ist, in der Gesprächsrunde nicht direkt neben der Person zu sitzen, die man mit etwas konfrontieren will und auch nicht direkt gegenüber, sondern in einiger Entfernung schräg gegenüber. Der Gesprächsbeitrag sollte in geeigneter Lautstärke vorgetragen werden, damit er für alle gut hörbar ist. Die Lautstärke sollte nicht zu sehr von der für diese Teamgespräche üblichen abweichen, es sollte vermutlich nicht geschrien, aber auch nicht geflüstert werden. Es ließe sich leicht noch eine Reihe von konkreten Verkörperungshinsichten ergänzen, die in der Variation nicht explizit ausgedrückt sind. Dazu gehören Gestaltungen des Stimmausdrucks, der bestimmt und klar und nicht zögerlich oder gar ängstlich wirken sollte, des Blickkontaktes, der eigenen Körperhaltung, der genauen Formulierungen, wie der Länge des Gesprächsbeitrags. Diese Hinsichten der konkreten Gestaltung könnten verfeinert werden, dazu liefern andere Wissenschaften wie die Sprechwissenschaft sicher nützliche Hilfestellung, um die impliziten Gestaltungsebenen kategorial zu differenzieren. 58 Es gibt für einen angemessenen und erfolgreichen Einsatz all dieser Gestaltungsebenen sicher keine Rezepte, derart: »Immer, wenn man einen heiklen Punkt ansprechen will, darf man der angesprochenen Person nicht gegenüber sitzen, sonst scheitert das Gespräch.« Die Wirkung solcher Faktoren ist nicht monokausal erklärbar, sondern es kommt sehr stark auf das Zusammenspiel mit anderen Gestaltungsmerkmalen an, wie auf die besonderen Aufmerksamkeiten, die das Gegenüber ausgebildet hat. Manchmal kann man mit einem »falschen« Wort beim Gegenüber alle Türen zuschlagen und manchmal, im Gegenteil, Türen, die verschlossen schienen, öffnen. Dies hängt von den nicht vollständig kalkulierbaren, wenn auch reflektierbaren »semantischen Reaktionen« ab, die Worte bei einem Gegenüber auslösen können. Vgl. zu dem 58
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Meist erfolgen diese vielfältigen Gestaltungen durch präreflexive Gewohnheitsbildungen und Reaktionen auf die Situation. Für Gelegenheiten, von denen viel abhängt, können sie aber auch der vorherigen oder begleitenden Reflexion unterzogen werden. Aber selbst wenn viele Gestaltungsmöglichkeiten der Zeit, des Ortes, der Wortwahl, der Stimmlage, des Blicks, der Köperhaltung etc. antizipierend abgewogen und in Form eines Plans vorbereitet werden können, ist dessen Gelingen nicht zu garantieren. Dies liegt zum einen daran, dass es zusätzlich eine Situationswahrnehmung braucht, die die Einpassung der Einzelschritte in die Gesamtsituation beurteilt, und zum anderen natürlich daran, dass unvorhersehbare Ereignisse und Reaktionen anderer den Plan durchkreuzen können. Der vage Ausdruck »Situationswahrnehmung« meint in Bezug auf die obige Variation z. B. folgende Einschätzungen: Soll der Plan, dass Frau Wollen ihren Gesprächsbeitrag gleich nach einer Herrn Not betreffenden abschätzigen Bemerkung der Chefin zu platzieren hat, bedeuten, dass Frau Wollen die Chefin unterbrechen soll, falls diese danach ohne eine Atempause zwischen den Sätzen gleich zu einer langen Rede über ganz andere Fragen fortschreitet? Oder dass sie, auch wenn die Chefin eine bestimmte Person um ihre Meinung zu etwas bittet, dazwischen gehen soll? Die Frage nach dem richtigen Zeitpunkt eines Gesprächsbeitrags kann eine ausgesprochen komplizierte Angelegenheit werden. Situationswahrnehmungen gehören zu dem thematischen Feld, das derzeit als »praktische Urteilskraft« oder »Sinn für Angemessenheit« diskutiert wird. 59 von Alfred Korzybski eingeführten Terminus der »semantischen Reaktion« die Studie von Samuel Ichiye Hayakawa, Semantik. Sprache im Denken und Handeln, Darmstadt 1964. Mit diesen Fragen ist ein Feld betreten, in dem sich Philosophie, empirische Wissenschaften und auch praktische Techniken der Rhetorik und Gesprächsführung berühren. So etwas ist für Philosoph_innen meist ein Anlass, nach der spezifischen Relevanz für die Philosophie und nach dem spezifischen Beitrag von der Philosophie zu fragen. Die spezifische Relevanz für die Philosophie besteht darin, dass die Fülle der Gestaltungsnotwendigkeiten von Handlungen sichtbar wird, zu denen sich die in der Regel abstrahierende Sprache der Philosophie, hier genauer der Handlungstheorie, ins Verhältnis setzen muss. Der spezifische Beitrag der Philosophie wiederum kann darin bestehen, dass die empirischen Wissenschaften wie die praktischen Techniken an einen philosophischen Handlungsbegriff anschließen können, der für solche Differenzierungen offen ist. Zweitens kann die Philosophie als kritisches Korrektiv für die Behauptung zu einfacher Kausalverhältnisse und, das ist das technische Pendant, von Rezeptwissen dienen. 59 Vgl. z. B. Esser, »Die Urteilskraft in der Praxis: Reflexion und Anwendung«, a. a. O.; Recki, Ästhetik der Sitten, a. a. O.; Hilge Landweer, »Der Sinn für Angemessenheit als
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Für den Zusammenhang hier ist es wichtig, dass die Reaktionen des Körpers in einer Situation nicht vollständig durch planende oder begleitende Reflexion gesteuert werden können, sondern dass diesen eine eigene Kraft und Wirksamkeit zukommt. 60 Die genaue Stimmlage oder die Wortwahl entstehen oft aus einer Empfindung, die sich in der Situation gebildet hat oder während des eigenen Sprechens erst bildet. Solche Empfindungen sind ein unüberschaubares Gemisch aus Habitualisierungen und Gewohnheiten, aus Erinnerungen und Zukunftswünschen und aus Resonanzen auf die konkrete Umgebung. Dies gilt für alle Akteure und es ist deshalb nicht nur so, dass derjenige, der einen Plan umsetzen möchte, durch Empfindungen geleitet oder irritiert wird, sondern er nimmt dies auch bei anderen wahr und lässt die Eindrücke davon in seine Handlungen einfließen. Diese Empfindungen sind den Akteuren keineswegs immer bewusst, in den meisten Fällen wahrscheinlich sogar nicht. Verkörperungen sind Feinabstimmungen, die sich teilweise einfach von selbst vollziehen und teilweise aktiv gestaltet werden können. Oft haben sie einen Widerfahrnischarakter. Dann kann das Gefühl entstehen, gesteuert zu werden. Es entspinnt sich eine Dialektik zwischen Gestalten und Gestaltet-Werden, die ihren Grund in der Eigendynamik der sinnlichen und materiellen Bedingungen hat. Dies soll in einer weiteren Variation betrachtet werden: Frau Vollzug, die Frau Wollen in der Teamsitzung spontan und mit großem Nachdruck unterstützte, ist nachher überrascht über ihre plötzliche Einsatzbereitschaft. Im Eifer des Gefechts hatte sie sogar angeboten, bei einem Quelle von Normativität in Ethik und Ästhetik«, in: K. Andermann/U. Eberlein (Hg.), Gefühle als Atmosphären. Neue Phänomenologie und philosophische Emotionstheorie, Berlin 2011, S. 57–78; Klaus Günther, Der Sinn für Angemessenheit. Anwendungsdiskurse in Moral und Recht, Frankfurt a. M. 1988. 60 Diese Eigendynamik gilt auch für die gesamte dingliche und natürliche Umgebung. Dewey hat diese Dimension sehr deutlich im Blick. Er arbeitet in dem für diese Fragen ausgesprochen wichtigen Kapitel 8 von Democracy and Education (»Aims in Education«) zur Erläuterung von Funktion und Wirkungsweise von Zielen mit der für Bildungsprozesse traditionsreichen Metapher des Farmers, vgl. z. B.: »The conditions with which the farmer deals, whether as obstacles or resources, have their own structure and operation independently of any purpose of his. Seeds sprout, rain falls, the sun shines, insects devour, blight comes, the seasons change. His aim is simply to utilize these various conditions to make his activities and their energies work together, instead of against one another. It would be absurd if the farmer set up a purpose of farming, without any reference to these conditions of soil, climate, characterics of plant growth, etc.« (Dewey, Democracy, MW.9.113).
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neuen Projekt zusammen mit Herrn Not mitzuwirken und nun, nach dem Gespräch, bereut sie es, sich noch mehr Arbeit aufgehalst zu haben. Beim Mittagessen kommt sie mit einem Kollegen aus einem anderen Team darüber ins Gespräch. Der Kollege fragt sie: Ko: »Warum hast du dich denn da überhaupt eingemischt?« Pr: »Tja, das frage ich mich auch. Wenn ich mir die Situation noch mal vor Augen führe, dann war es glaube ich dieser herablassende Ausdruck der Chefin, der mich so auf die Palme gebracht hat. Ich habe gar nicht weiter darüber nachgedacht, irgendwie hat sich in mir so viel Widerstand aufgebaut gegen diese Art von ihr. Und da sprudelte es einfach aus mir heraus.«
Frau Vollzug beschreibt ihre Reaktion auf den Ausdruck der Chefin und sie ergreift die Gelegenheit, Widerstand zu leisten. Den weiteren Verlauf und das Ergebnis des Gesprächs empfindet sie aber so, als wäre »etwas mit ihr durchgegangen«, als hätte sie nicht mehr die volle Kontrolle gehabt über das, was sie tut und sagt. Sie erlebt also ein Hin- und Her zwischen Gestalten und Gestaltet-Werden. Man kann sich den Verlauf der Intervention natürlich auch anders vorstellen: Frau Vollzug erlebt ihren Einsatz als befriedigend, ist dankbar dafür, dass sie Frau Wollen und Herrn Not unterstützen konnte und übernimmt gerne Verantwortung. Sie erlebt sich in einer durch und durch aktiven Rolle und merkt im Nachdenken darüber, wie ihr der Widerstand gegen den Ausdruck von der Chefin die Kraft gegeben hat, deutlich und klar die Stimme zu erheben und eine verbesserte Situation zu gestalten.
Und wir können uns auch noch eine dritte Situationswahrnehmung vorstellen: Frau Vollzug hat die Situation als ein gemeinsames Agieren mit Frau Wollen empfunden, bei dem sie sich gegenseitig die Bälle hin und her geworfen und in ihrer Intensität gesteigert haben, ohne dass die eine oder die andere die Führung übernommen hätte. Dieser starken Dynamik musste die Chefin dann gewissermaßen nachgeben.
Diese Variation von drei möglichen Arten des Erlebens weist auf, dass die Verkörperung ein Spiel zwischen aktiven, passiven und medialen Formen des Erlebens ist. Es kann nun so sein, dass für eine bestimmte Gesamtsituation ein aktives, passives oder mediales Erleben dominant ist, oder dass für bestimmte Prozessabschnitte das Erleben wechselt. Was ich hier »mediales Erleben« genannt habe, ist begrifflich an der dritten grammatischen Form neben Aktiv und Passiv orientiert, dem Medium, über das manche Sprachen verfügen, wie z. B. das Alt349 https://doi.org/10.5771/9783495817360 .
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griechische. Kennzeichnend für diese grammatische Form ist das gemeinsame Tun zwischen Zweien oder Mehreren, das kein eindeutiges Aktionszentrum hat, bei dem die Initiative, Führung und Kontrolle liegt, bei dem die Beteiligten aber auch nicht nur solche sind, mit denen etwas gemacht wird, sondern als Momente einer differenzierten, aber nicht zerlegten Situation auftreten. 61 Für die Verkörperung von Entwürfen sind die Rückwirkungen zwischen aktivem, passivem und medialem Erleben charakteristisch. Gerade auch für die Entstehung von Handlungsimpulsen wie dem von Frau Vollzug sind die Empfindungsfähigkeiten des Körpers von großer Bedeutung. Empfindung und Reflexion: Die wichtige Funktion von Empfindungen und qualitativem Erleben soll zunächst an der Figur von Frau Vollzug betrachtet werden: Frau Vollzug kommt anders als Frau Wollen nicht mit der vorgefassten Absicht in das Gespräch, Herrn Not zu unterstützen. Frau Wollens Aufgabe ist es, ihre Absicht mit Hilfe geeigneter Mittel zu verkörpern. Für den Beitrag von Frau Vollzug ist eine andere Darstellung nötig. 62 Wir können sagen, dass Frau Vollzug durch den Redebeitrag von Frau Wollen und den Ausdruck der Chefin einen Impuls erhält, etwas zu tun, nämlich sich einzumischen. Durch Erinnerungen an frühere Erfahrungen mit der Chefin oder durch das Aufsteigen von Gefühlen, die durch diesen Impuls ausgelöst werden, wird der anfängliche Impuls verändert, die Erinnerungen und Gefühle wirken verändernd zurück auf den Impuls und »vermitteln« ihn. Dadurch erhält der Impuls eine bewusste Bedeutung, Vgl. zu den philosophischen Ausdrucksmöglichkeiten der grammatischen Form des Mediums Rolf Elberfeld, Sprache und Sprachen. Eine philosophische Grundorientierung, Freiburg 2012, S. 228–259. Wichtig ist die Verwendung des Mediums zum reflexiven Selbstbezug wie auch die Möglichkeit, mit Hilfe dieser grammatischen Form ganz auf die Zurechnung von Tätigkeiten auf Subjekte verzichten zu können. Deshalb wird die grammatische Form des Mediums oft mit Hilfe subjektloser Sätze, wie »Es regnet« erläutert. 62 Die Mittel für diese Darstellung gewinne ich aus Deweys frühen und späteren Texten zum menschlichen Verhalten, vor allem aus: Dewey, A Study of Ethics. A Syllabus (1894) (vor allem Kapitel 3: »A general analysis of conduct«, EW.4.235–239) und: ders., The Reflex Arc Concept in Psychology (1896), vor allem S. 99 f. wie auch das erwähnte Kapitel 8 aus Democracy and Education, v. a. MW.9.112–113. In den beiden frühen Texten ist eine hegelianisierende Sprache nicht zu überhören, vor allem die Verwendung des Ausdrucks »Vermittlung« (mediation) erinnert an Hegel. Die handlungstheoretische Grundfigur, die Dewey zu dieser Zeit entwickelt hat, hat sich aber bis in seine späten Schriften erhalten. 61
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Rückwirkungen gestalten 2: Handeln heißt verkörpern
eine Relevanz und der Impuls wird zu einem Ziel »idealisiert«. 63 Die Idealisierung verstärkt und transformiert den Impuls und setzt sich fort in eine Steuerung des weiteren Prozesses, durch den die konkreten Akte koordiniert werden, wie die Wortwahl, die Stimmlage etc. Dieser wichtige Zusammenhang soll an einer weiteren Variation vertieft werden. Frau Wollen sieht zufällig von der Kaffeeküche aus eine Begegnung zwischen Herrn Not und der Chefin auf dem Flur. Herr Not geht über den Flur, als die Chefin aus ihrem Büro kommt. Frau Wollen hört wegen der ratternden Kaffeemaschine nicht, ob etwas gesprochen wird, sie sieht nur, wie Herr Not zu Boden blickt, sein Rücken sich krümmt und er ungelenk weiter über den Flur stolpert. Frau Wollen ist es erst unangenehm, dass sie Herrn Nots Verwandlung mit angesehen hat, dann aber steigt in ihr ein Unbehagen auf, das gleiche Unbehagen, das sie aus den Teamsitzungen kennt, eine Spannung und Bedrückung. Plötzlich blitzt in ihr ein Zusammenhang auf. Na klar, dieses Unbehagen hat nicht nur mit der Unberechenbarkeit der Chefin zu tun, die mal freundlich, mal scharf sein kann, sondern auch damit, dass Herr Not beständig von ihr gedemütigt wird und es fallen ihr verschiedene Interaktionen ein, die jetzt ein Bild ergeben. Frau Wollen ist erleichtert und geradezu beschwingt, sie hat das Gefühl, einem lang anhaltenden Unbehagen auf die Spur gekommen zu sein. Sie nimmt sich vor, bei der nächsten Teamsitzung die Chefin und Herrn Not ganz genau zu beobachten und überlegt auch schon, was sie machen könnte und wen sie miteinbeziehen könnte, um hier etwas zu unternehmen. Am nächsten Morgen denkt Frau Wollen an die Szene, die sie beobachtet hat, zurück und wird unsicher. Hat sie sich nicht getäuscht? Hat die Verwandlung von Herrn Not wirklich so stattgefunden? War das Unbehagen, das sie gespürt zu haben meinte, nicht einfach ihr sowieso empfindlicher Magen?
Mit dieser Variation soll eine genetische Perspektive eingenommen werden. Hier geht es nicht mehr nur um die Frage nach der Verkörperung von Entwürfen durch Handlungen, sondern um die Frage nach der Genese eines Handlungsimpulses und der Rolle des Körpers dabei. Es sind oft körperliche Empfindungen, die mit Erinnerungen oder Erwartungen verbunden sind und die einen Raum der Bedeutsamkeit entfalten, der bestimmte Handlungsmöglichkeiten nahelegt. Empfindungen bringen die Fülle der Eindrücke einer Situation in 63 Vgl. Dewey: »The impulse is idealized. The impulse mediated, that is given conscious value through the reference into it of the other experiences which will result from its expression, constitutes volition proper.« (Dewey, Study of Ethics, EW.4.237).
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4 · Konstruktion: Handeln als dialektischer Prozess
einen Zusammenhang und integrieren Verschiedenes zu einer Situationsdeutung. Empfindungen sind ein Gemisch aus körperlichen und affektiven Aspekten und können Emotionen anregen, die eine anschließende Handlungssequenz leiten. Die eigenen interpretativen Leistungen und die faktischen Gegebenheiten werden dabei nicht geschieden, sondern als ein Zusammenhang wahrgenommen. Empfindungen haben einen medialen Charakter, sie sind weder nur Aktivität, noch nur Passivität. Unsere Gewohnheiten drücken sich in Empfindungen aus und so bestätigen Empfindungen häufig unsere Gewohnheiten. 64 Empfindungen können aber auch die Quelle neuer Sinnzusammenhänge sein, durch die Gewohnheiten irritiert und neue Anschlüsse gefunden werden müssen. 65 Diese irritierende und die Kreativität des Handelns initiierende Funktion von Empfindungen zeigt sich an Frau Wollens Erleben. Sie empfindet einen Zusammenhang, der sich ihr in und durch dieses qualitative Erleben eröffnet. Es hat eine affektive Tönung, Frau Wollen empfindet Mitgefühl und ein auf Handlungen drängendes Verantwortungsgefühl. Es stellt durch eine gemeinsame »Tönung« verschiedener Sequenzen einen Zusammenhang her. Erst das orientiert die kognitive Erschließung der Situation und die reflexive Bezugnahme darauf, die in der Situation in Form von zweifelnder Überprüfung des qualitativen Erlebens realisiert ist. In dieser kritischen Reflexion Empfindungen versteht Hampe als die Weise, wie Regeln in einem Subjekt instantiiert sind. Die Wirkung von Regeln als Zwang oder als Möglichkeitsspielraum wird empfunden. Empfindungen haben einerseits eine bestimmte Empfindungsqualität, die mit den Worten von Peirce »eine einfache, positive Beschaffenheit« ist. Empfindungen sind durch das Zusammenwirken von Empfindungen verschiedener Regularitäten auch eingebunden in Verweisungszusammenhänge, und Erinnerungen verweisen auf frühere Empfindungen, Erwartungen auf zukünftige Empfindungen. Einige dieser Empfindungen sind regelbestätigend und andere regeldurchbrechend. Wissen im engeren Sinne von diesen Regularitäten erlangen wir über die Beschreibung der empfundenen Regularitäten mit Hilfe von anderen Regeln (die selbst auch wieder empfunden werden). Zum Beispiel beschreibt die Physik mit Hilfe ihrer Regelsysteme wie zum Beispiel mathematischen Kalkülen die Wirkung der Schwerkraft auf Körper und bezieht diese auf die empfundenen Regularitäten. Auch bei der Befolgung der Beschreibungsregel stellt sich eine Empfindung ein, wie zum Beispiel eine Empfindung der Evidenz beim Lösen eines Kalküls, die aber eine völlig andere ist, als die, die Körper haben, wenn sie sich unter Bedingungen der Schwerkraft bewegen. Vgl. Michael Hampe, Erkenntnis und Praxis. Zur Philosophie des Pragmatismus, Frankfurt a. M. 2006, S. 192–198, S. 205–209. 65 In der Darstellung von Jung bedarf dieser qualitative Aspekt der Artikulation, Jung, Der bewusste Ausdruck. Anthropologie der Artikulation, a. a. O., S. 220. 64
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Rückwirkungen gestalten 2: Handeln heißt verkörpern
wird das qualitativ erlebte Ganze zu einem Gegenstand gemacht, indem Unterscheidungen getroffen werden, die sich auf das qualitative Erleben zurückbeziehen, dieses aber auch weiter entwickeln. Die Reflexion ist kein zweiter angehängter Prozess, sondern eine Weiterentwicklung der Empfindung, die dadurch nicht abgelöst wird, sondern sich erhält, vertieft oder verändert und die Ausrichtung des Weiteren beeinflusst. 66 Reflexive Differenzierung zwischen Leib und Körper: Gerade Gewohnheiten irritierende Empfindungen geben Anlass zur Reflexion. Wie ist damit umzugehen, welche Veränderungen sind nötig? In der geschilderten Variation verdichtet sich eine Empfindung des Unbehagens, die Anlass zu einer veränderten Situationsdeutung gibt. Die Konsequenzen sind nicht absehbar, werden aber als sehr weitreichend empfunden. Das löst gemischte Gefühle aus, nämlich zum einen Erleichterung und Begeisterung, weil ein für Frau Wollen wichtiger Zusammenhang klarer geworden ist, wie auch Verunsicherung, weil gewohnte und geteilte Abläufe zweifelhaft geworden sind. Zweifel dieser Art über die Tragfähigkeit von Empfindungen kann sich in einer reflexiven Differenzierung artikulieren, indem zwischen dem Leib als Ausdruck von Bedeutsamkeit und dem Körper als physiologischem Funktionszusammenhang unterschieden wird. Frau Wollen wägt retrospektiv zwei Beschreibungen ihres Erlebens gegeneinander ab. War das mit einem Druck in der Magengegend verbundene Unbehagen wirklich eine leiblich-affektive Resonanz, die die Bedeutsamkeit der beobachteten Szene erschließen kann? Stiften die leiblichen Erinnerungen an ähnliches Unbehagen einen realen Zusammenhang? Frau Wollen ist unsicher, ob ihr leibliches Empfinden in dieser Situation als bedeutungsstiftend gelten kann und ob sich Handlungen daran anschließen lassen dürfen. Denn möglicherweise ist der Zusammenhang eingebildet. Magendruck ist ein ihr bekanntes körperliches Leiden ohne weitergehende semiotische Belastbarkeit. Eine Möglichkeit, mit einem solchen Zweifel umzugehen, liegt darin,
Vgl. Dewey Qualitative Thought, LW.5.254: »That is, the quality, although dumb, has as a part of its complex quality a movement or transition in some direction.« Vgl. außerdem ebd., LW.5.261: »Omitting reference to ramifications, the gist of the matter is that the immediate existence of quality, and of dominant and pervasive quality, is the background, the point of departure, and the regulative principle of all thinking.«
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4 · Konstruktion: Handeln als dialektischer Prozess
das Gespräch zu suchen. Nehmen wir an, Frau Wollen erzählt ihrer Freundin von dieser Unsicherheit und diese bestärkt den Zweifel: Fr: »Bist du sicher, dass du dich nicht getäuscht hast? Du weißt doch gar nicht, was die beiden vielleicht gesprochen haben. Und was soll das mit deinem Unbehagen sonst zu tun haben? Also, ich bin nicht überzeugt. Bevor du mit jemand anderem sprichst, musst du auf jeden Fall noch mehr Informationen haben. Das ist keine Basis für Rettungsaktionen, finde ich.«
Für Frau Wollen mag das zur Konsequenz haben, ihre Empfindung in eine Art Hypothese zu verwandeln, unter der sie die Teamgespräche in Zukunft anders beobachtet. Möglicherweise verdichtet sich die Hypothese zu einem artikulierbaren Eindruck oder sie verliert sich. Das leibliche Empfinden fungiert dabei weiter als Sensorium für in dieser Hinsicht bedeutsame und nicht bedeutsame Interaktionen. In der reflexiven Bezugnahme darauf hat die Unterscheidung zwischen Leib und Körper eine wichtige sachliche Funktion, unabhängig davon, welche Worte dafür gewählt werden. Die Unterscheidung dient als kritisches Korrektiv gegen mögliche semantische Überdehnungen des leiblichen Ausdrucksverhaltens. Sie dient als Leitfaden, um im Selbst- und Fremdverhältnis mehrere Perspektiven einnehmen zu können. 67
4.5 Rückwirkungen gestalten 3: Handeln heißt anschließen Die Gestaltung von Entwürfen bedeutet, in konkreten Kontexten tätig zu werden. Diese unterscheiden sich vor allem durch die verschiedenartigen Regeln, die dort gelten. Jede Gestaltung muss darauf Bezug nehmen, an einige dieser Regeln anschließen und an andere vielleicht bewusst nicht. Diese Art von Anschluss an Vorhandenes soll im ersten Schritt dieses Abschnitts untersucht werden. Wenn der Anschluss an Vorhandenes für die Gestaltung derart wichtig ist, wie ist dann Kritik an bestimmten Verhältnissen möglich? Diese Frage soll im zweiten Schritt nur knapp besprochen werden, denn sie wird für die Gestaltung von Interaktionen später noch einmal wichtig
Vgl. zu den Leib-Körper-Unterscheidungen bei Helmuth Plessner, Bernhard Waldenfels und Hermann Schmitz z. B. Katrin Wille, »Spekulation als Aufklärung über die Selbstreflexivität von Unterscheidungen« (online): https://epub.ub.unimuenchen.de/12708/1/wille_katrin.pdf (abgerufen 31. 3. 2016).
67
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Rückwirkungen gestalten 3: Handeln heißt anschließen
werden. 68 Wenn außerdem Kontexte und ihre Regeln in die Gestaltung miteinzubeziehen sind, Kontexte aber ineinander verwoben sind und sich überschneiden, wo ist dann die Grenze für die Gestaltung einer Handlung? Die Frage nach der Begrenzung der Zurechenbarkeit von Konsequenzen taucht hier wieder auf. Deshalb ist im Weiteren eine erneute Beschäftigung mit der Unterscheidung zwischen Tat und Handlung nötig. 69 Die Vielfalt der Kontexte: Mit jeder Handlung muss in irgendeiner Weise an Vorhandenes bzw. an andere Handlungen angeschlossen werden. In dem vielfach variierten Teamgespräch sucht Frau Wollen einen zeitlich und thematisch passenden und günstigen Anschluss. Angeschlossen wird aber auch an die Vergangenheit und thematisch weiter verzweigte Gebiete. Der Gesprächsbeitrag von Frau Wollen zum Beispiel bezieht sich zurück auf eine geteilte Vergangenheit der Teammitglieder, die an den Teamsitzungen der letzten Monate oder Jahre teilgenommen und eine gemeinsame Erinnerung an die besprochenen Themen und die teilnehmenden Personen haben. Jede Handlung findet in einem Gesprächsraum statt, der durch verschiedene Regeln aufgespannt wird. Die Teamgespräche laufen vermutlich nach einem mehr oder weniger variablen Muster ab, das den Gesprächen eine ähnliche Choreographie verleiht. Es könnte sein, dass die Chefin das Gespräch immer eröffnet, das Wort erteilt, die Themen setzt, zusammenfasst, Aufträge verteilt und abschließt. Solche Regeln machen die Teamgespräche unterscheidbar von anderen Gesprächen. Frau Wollen kennt diese Regeln und sie muss sich mit ihrem Gesprächsbeitrag an sie halten oder sie gezielt durchbrechen. Beides sind Formen der Orientierung an den geltenden Regeln. Die Einhaltung könnte bedeuten, dass Frau Wollen sich zu Wort melden muss und von der Chefin für ihren Beitrag das Wort erteilt bekommt. Dann würde es sich anbieten, den Beitrag mit einer Bezugnahme auf das Vorherige einzuleiten, wie zum Beispiel: Wo: »Ich möchte einen Vorschlag machen, der mit dem Problem des Kunden K., das wir gerade besprochen haben, gar nichts zu tun hat. Ich möchte zurückkommen auf das Projekt P, an dem die Kollegen Not und Bloß beteiligt sind …«
68 69
Vgl. Teil I, Kapitel 4.6. Vgl. dazu schon Teil I, Kapitel 4.3.
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4 · Konstruktion: Handeln als dialektischer Prozess
Frau Wollen kann ihren Beitrag aber auch in bewusster Unterbrechung der Regeln, wie zum Beispiel der Regel des Worterteilens, platzieren, indem sie direkt im Anschluss an eine als demütigend empfundene Sequenz zwischen Herrn Not und der Chefin das Wort ergreift, z. B. derart: »Entschuldigen Sie, aber mir kommt gerade eine Idee, wenn ich Ihnen zuhöre, die hier vielleicht weiterhelfen könnte.« Es gibt viele subtile, kunstvolle und oft sehr wirksame Kombinationen zwischen dem Einhalten und dem Durchbrechen der Regeln, wie z. B. äußerliche Regeln einzuhalten (wie die Praxis des Worterteilens durch die Chefin) und implizite Regeln (wie die Verwendung eines bestimmten Vokabulars, die Einhaltung einer gewohnten Sitzordnung, das Sprechen in einer bestimmten Tonlage) zu durchbrechen. Solche Regeln sind eingebettet in Regeln, die nicht nur für das Team spezifisch sind, sondern für die Institution, zu der dieses Team gehört. Diese Einbettung in übergreifende Regeln kann man fortsetzen, es wirken Regeln für diesen Typ von Institutionen, für den gesellschaftlichen Bereich, zu dem diese Institutionen gehören, für die Gesellschaft insgesamt, den kulturellen Kontext und die historische Epoche. 70 Die meisten dieser Regeln sind implizit, wir halten uns an sie, ohne dass uns dies bewusst ist. Gerade diese Regeln sind hochgradig wirksam, wie die Einhaltung von impliziten Hierarchien oder Gewohnheitsrechten. Implizite Regeln sind nicht in Form eines Regelkatalogs aufgeschrieben und allen zur Kenntnis gegeben, sondern wirken als Anschlussgewohnheiten. Dieser kontinuitätsstiftenden Wirkung zwischen Vergangenheit und Zukunft ist in der pragmatistischen Begriffsbildung des habit Rechnung getragen. 71 Habits sind
Diese Verschachtelung von Kontexten wird in der phänomenologischen Handlungstheorie sehr stark betont. Vgl. dazu zum Beispiel: Kiyokazu Washida, »Handlung, Leib und Institution – Perspektiven einer phänomenologischen Handlungstheorie«, in: Y. Nitta (Hg.), Japanische Beiträge zur Phänomenologie, Freiburg/München 1984, S. 319–349, S. 322: »Wenn man eine Handlung betrachtet, findet man also in vertikaler Schichtung verschiedener konventioneller Bedeutungen und in horizontaler Richtung eine Verschränkung, Verwicklung, Parallele und Verkettung mit anderen unzählbaren sinnhaften Geschehnissen.« Washida betont, dass die Welt in der phänomenologischen Auffassung im Kontext von Handlungszusammenhängen erscheine und über Handlungsmöglichkeiten erschlossen sei, ebd., S. 343. Dies ist ein Punkt, der auch im Pragmatismus von großer Wichtigkeit ist. 71 »The basic characteristic of habit is that every experience enacted and undergone modifies the one who acts and undergoes, while this modification affects, whether we wish it or not, the quality of subsequent experiences.« (Dewey, Experience, LW.13.18). 70
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Rückwirkungen gestalten 3: Handeln heißt anschließen
individuelle und kollektive Aufspeicherungen und Verarbeitungen von gemachten Erfahrungen, durch die sich Reaktionsformen und Weisen der Aufnahmebereitschaft herausgebildet haben. Habits umfassen gleichermaßen kognitive und nicht-kognitive Aspekte. Die nicht-kognitiven Aspekte sind von großer Bedeutung und erlauben es, die Qualitäten von Situationen zu erfassen. Habits garantieren die Kontinuität der Erfahrung, also den ständigen Bezug auf vergangene Erfahrungen, mittels dessen der Zukunftsbezug überhaupt erst realisiert werden kann. Solche habits werden erst bewusst, wenn Irritationen auftauchen, die Anlass dazu geben, zwischen der Teilnehmer- und der Beobachterperspektive hin und her zu wechseln. Wenn Frau Wollen und Herr Wunsch sich überlegen, wie sie ihre Intervention genau gestalten wollen, vollziehen sie genau einen solchen Wechsel. Sie erwägen Wirkungen und Konsequenzen ihres Handelns, indem sie sich in verschiedene Perspektiven hineinversetzen. Die Antizipation möglicher Konsequenzen beeinflusst und verändert die Art des Vorgehens, also die Wahl der Mittel, aber konkretisiert auch das Ziel der beiden. Indem sie sich wie in einer der Variationen gegen ein konfrontatives und für ein indirektes Vorgehen entscheiden, gestalten sie die Mittel und das Ziel. Das abstrakte Ziel, Herrn Not zu unterstützen, wird weiterbestimmt zum konkreteren Ziel, Herrn Not auf nicht-konfrontative Weise zu unterstützen und in die Projektabläufe einzugreifen. Dabei werden auch die Gewohnheiten und Abläufe sichtbarer, die im Team im Speziellen und in dem institutionellen Kontext im Allgemeinen gelten. Wir können uns vorstellen, wie Frau Wollen und Herrn Wunsch auffällt, dass in Teamsitzungen Aussprachen über Erfahrungen und Schwierigkeiten in Projekten kaum stattfinden. Die Sitzungen haben ausschließlich den Charakter, Anweisungen von der Chefin entgegenzunehmen und technische Koordinationen zu vereinbaren, etwa wer bis wann wem welche Ergebnisse zwecks Kontrolle oder Weiterbearbeitung vorlegt. Wortbeiträge, die die Inhalte der Projekte betreffen, kommen so gut wie nicht vor. Als ihnen das klar wird, macht sich erst einmal Resignation breit. Stellen wir uns folgende Reaktion von Herrn Wunsch vor: Wu: »Ich sehe keine Chance für unsere Idee, wirklich nicht. Mir wird erst jetzt richtig klar, wie wenig wir alle zu sagen haben, trotz der regelmäßigen sogenannten Teamsitzungen. Niemand mischt sich ein, wir alle führen nur brav aus und das Schlimmste ist, wir merken es noch nicht einmal!«
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In dem Durchspielen der Situation und der Erwägung der Konsequenzen wird Herrn Wunsch das feingesponnene Netz der Gewohnheiten spürbar, das den gemeinsamen Arbeitsalltag trägt und steuert. Angesichts dieses dichten, undurchdringlich und unflexibel wirkenden Netzes scheint ihm auch ein nicht-konfrontatives Vorgehen keine realistische Möglichkeit zu sein, die irgendeine Aussicht auf Erfolg hat. Hieran wird deutlich, dass einem Handelnden nicht abstrakt alle Möglichkeiten offenstehen, sondern solche, die durch die expliziten und impliziten Strukturen »lebendig« sind, wie es bei James heißt. Was lebendige Möglichkeiten sind und was nicht, liegt nicht nur am einzelnen Individuum und Handelnden, sondern vor allem an den Strukturen und Traditionen des institutionellen Umfeldes. Herr Wunsch erlebt, dass sein im Gespräch mit Frau Wollen neu gewonnenes Vorhaben, Herrn Not zu helfen und der Chefin in Bezug auf den unfairen Umgang mit ihm Einhalt zu gebieten, gegen die eingespielten Verfahrensweisen steht. Er sieht keinen Eingriffspunkt und keine Artikulationsmöglichkeiten. 72 Vorhaben und Handlungsmöglichkeiten scheinen sich unvereinbar gegenüberzustehen und Herr Wunsch erlebt sich so als fast vollständig in die Passivität gedrängt, als Rädchen in einem Getriebe, das gar nicht selbst handelt, sondern durch die Umstände gezwungen ist. Stellen wir uns nun folgende Reaktion von Frau Wollen vor: Wo: »Wenn ich dir zuhöre, dann kommt mir die blanke Wut! Nicht auf dich, nein, du hast schon irgendwie recht. Sondern Wut auf diese Situation, auf die Chefin, auf die anderen und weißt du, auch auf uns. Dass wir uns das gefallen lassen, dass wir so lange mitgemacht haben, ohne es zu merken, wie du gesagt hast. Das finde ich eigentlich das Allerschlimmste. Ich bin so wütend, ich würde am liebsten eine Revolution anstiften und alle zum Widerstand aufrufen!«
Frau Wollen fühlt sich durch die Resignation von Herrn Wunsch geradezu angestachelt, umstürzlerische Ideen zu entwickeln. In ihrem Vgl. dazu die Überlegungen von Hartmann zum pragmatistischen Gewohnheitskonzept: »Unsere Überzeugungen sind aber häufig eingelassen in ein praktisch folgenreiches Netz von Dispositionen, von Wahrnehmungs- und Handlungsmustern, durch das sie gleichsam erst hindurchgehen müssen, um motivational wirksam zu werden. Das heißt, selbst wenn sich unsere Überzeugungen ändern, wenn wir etwa gute Gründe anführen können, eine bestimmte Handlung nicht mehr durchzuführen, heißt das noch nicht, dass wir die Handlung tatsächlich aufgeben oder gar, dass wir unmittelbar zu einer neuen Handlung übergehen.« (Hartmann, Die Kreativität der Gewohnheit, a. a. O., S. 155).
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Rückwirkungen gestalten 3: Handeln heißt anschließen
Affekt der Wut hat sie den Impuls, sich durch Destruktion aus den Gewohnheiten zu befreien und erkauft ihr Aktivitätsgefühl mit einem imaginierten Bruch mit den Verhältnissen, in denen sie steht. Dies ist eine Situation, die in sehr verschiedener Weise weitergeführt werden könnte. Es ist denkbar, dass Frau Wollens Wut sich mit ihrer Handlungsmacht verbindet und auf dem Boden der gegebenen Verhältnisse Veränderungen initiiert. Ein Ausbruch starker Gefühle wie Wut und die fiktive Destruktion könnten für Frau Wollen aber auch ausreichende Genugtuung gewähren, die sich nicht in Handlungen fortsetzt, sondern möglicherweise in einen Kreislauf mündet, sich im geschützten Rahmen immer wieder solchen Gefühlen der Handlungsmacht hinzugeben, um dann weiterzumachen wie bisher. Oder diese Gefühle können sich zu einer Haltung sehr grundsätzlicher Opposition weiterentwickeln, die auf dem Gegensatz zu den Verhältnissen beruht und keine Möglichkeiten der Vermittlung sieht und sehen will. Die beiden letztgenannten Reaktionen wären solche, mit denen der Anschluss an Vorhandenes und damit die Gestaltung des Entwurfes abgebrochen würden. Die mögliche Hingabe an starke Gefühle wie Wut und an Szenarien der Zerstörung zusammen mit dem Weitermachen wie bisher kann mit den bisher gewonnenen begrifflichen Mitteln als Differenzerfahrung analysiert werden. Frau Wollen könnte in diesem Fall unter Anwendung der Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille sogar als Wünschende beschrieben werden. Sie würde sich die Zerstörung der Verhältnisse wünschen und dies vielleicht dramatisch inszenieren, aber es nicht wollen. Und die letztgenannte Reaktion lässt sich als Gegensatzerfahrung deuten, die sich zu einer Einstellung der Überheblichkeit verfestigen kann. Eine Spielart von Überheblichkeit wäre eine Haltung revolutionärer Destruktion, verbunden mit der Überzeugung, zu gut für diese Welt zu sein und deshalb nicht weiter gestaltend einzugreifen. Nehmen wir nun aber an, dass die Wut von Frau Wollen eine Phase darstellt, in der sie ihre Handlungsmacht spürt und damit die Voraussetzung gegeben ist, Ansatzpunkte zur Veränderung der Situation zu sehen. Sie könnte den Dialog folgendermaßen fortsetzen: Wo: »Entschuldige, ich musste mir ein bisschen Luft machen. Aber weder meine Wut noch deine Resignation scheinen mir das zu sein, was es jetzt braucht, was Herr Not braucht und was wir brauchen. Wir müssen bei irgendetwas ansetzen, wo die Chefin nicht widersprechen kann. Und weißt du, was mir da eingefallen ist? Erinnerst du dich an die Zeit, als sie die Teamleitung übernommen hat? Da hat sie uns lang und breit erzählt, dass
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sie einen kooperativen Führungsstil hat und wie unsere Zusammenarbeit aussehen soll. Sie hat uns damals sogar irgend so ein Blatt ausgeteilt, wahrscheinlich hat sie das aus einem modischen Seminar mitgenommen. Aber darauf können wir uns beziehen, auf ihre eigenen Worte, wäre das nicht eine Idee?«
Frau Wollen betrachtet das Netz gemeinsamer Erfahrungen und Gewohnheiten differenziert und nicht als einheitlichen monolithischen Block, der undurchdringlich ist und dem man sich nur ergeben oder dagegen kämpfen kann. Vielmehr sieht sie das Zusammenwirken verschiedener Tendenzen und Erfahrungen, abgebrochener und weitergeführter Handlungsstränge, die die geteilte Vergangenheit und das gemeinsame Gedächtnis ausmachen. Hier sucht sie Ansatzpunkte für die Kritik dominant gewordener Formen und Winke für die Ausbildung neuer Gewohnheiten, die als besser und offener eingeschätzt werden. 73 Sie sieht genau in diesen Abbrüchen Anknüpfungspunkte für die Gestaltung ihrer Kritik. Ansatzpunkte für Kritik: Frau Wollens Kritik hat sich verschoben oder zumindest ausgeweitet. Zunächst bewertet sie das Verhalten der Chefin Herrn Not gegenüber als ungerecht und unfair. Wie kommt sie zu solchen Bewertungen? Maßstäbe zur moralischen Bewertung von Verhaltensweisen wie Fairness und Gerechtigkeit gehören zum kulturellen Kontext von Frau Wollen. Die Kritik an der Chefin hat sich auf die Art ihrer Teamleitung ausgeweitet, die sich bei näherer Betrachtung und dem Austausch von Empfindungen als kritikwürdig erweist. Hier sind es nicht so sehr Werte wie Fairness und Gerechtigkeit, sondern im engeren Sinne demokratische Werte wie Partizipation und Diskursivität, die zur Bewertung herangezogen werden. Das Team, von der Chefin geleitet, befindet sich nicht außerhalb des gesellschaftlichen Raums, das zeigt sich zum Beispiel an den Formeln, mit denen die Chefin ihre Amtszeit eingeleitet hatte und auf die sich Frau Wollen auch deshalb möglicherweise wirksam beziehen kann, weil diese Formeln von einem breit geführten gesellschaftlichen Diskurs gedeckt und legitimiert sind. Gegenstand der Kritik sind also nicht mehr nur einzelne Verhaltensweisen, sondern Regeln und Gewohnheiten, die die Chefin im Team durchgesetzt hat und aufrechterhält. Maßstab für die Kritik sind andere Gewohnheiten im
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Vgl. dazu aus »gewohnheitstheoretischer Sicht« Hartmann, ebd., S. 189–194.
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Rückwirkungen gestalten 3: Handeln heißt anschließen
Kontext der geteilten Geschichte dieses Teams, die legitime und vor allem auch autoritative Bezugsgrößen sind. Die Kritik an dem Führungsstil der Chefin im privaten Gespräch zu äußern und sich dabei auf geteilte gesamtgesellschaftliche Normen und Werte zu beziehen, ist ein wichtiger, aber noch kein wirksamer Schritt. Es würde wahrscheinlich ohne die erwünschten Konsequenzen bleiben, wenn die beiden die Chefin mit dem Vorwurf konfrontieren würden, ihr Führungsstil sei unkooperativ. Denn was ein kooperativer und was ein nicht kooperativer Führungsstil ist, folgt nicht einfach aus dem Wert der Kooperation. Auf dieser abstrakten Ebene lässt sich viel schneller Einigkeit erzielen, als darüber, ob konkrete Verhaltensweisen als kooperativ gelten können oder nicht. Diese Schwierigkeit liegt auch darin begründet, dass Werte und Normen in Spannungsfeldern zu anderen Werten und Normen stehen und ständige Abwägungsprozesse zwischen konkurrierenden Ansprüchen nötig sind. Leitungspersonen sollen zum Beispiel kooperativ sein, aber auch ihre Leitungsfunktion erfüllen. Teilnehmer_innen am Arbeitsmarkt sollen pünktlich und pflichtbewusst, aber auch flexibel sein. Frau Wollen und Herr Wunsch würden vermutlich keine schnellen Erfolge erzielen, sondern würden bestenfalls den Weg mühsamer Aushandlungsprozesse weisen können. 74 Erneute Differenzierung zwischen Tat und Handlung: Gestaltungen kennzeichnet es, an Vorhandenes anzuschließen. An welche Regeln oder geteilte Erfahrungen aber angeschlossen wird und wie dies geschieht, kann nicht festgelegt werden. Vielmehr bleibt in den meisten Situationen ein Spielraum, Anschlussgewohnheiten zu verschieben. Dies ist nicht nur durch eine einmalige Handlung zu leisten, sondern es sind Wiederholungen und neue Gewohnheitsbildungen nötig. Dazu gehört, die Konsequenzen der Handlungen miteinzubeziehen, auf Widerstand, Einwände und Kritik zu reagieren, sowie daran erneut anzuschließen. Was das konkret bedeuten kann, mag ein erneuter Blick auf den Widerstand ergeben, den Frau Wollens Intervention im Teamgespräch durch die Person von Herrn Bloß erfährt. Wer die kommunikativen Gewohnheiten im Team nicht einhält, Vgl. Hartmann: »Die Interessen und Strebungen sind noch nicht gerichtet genug, damit man sagen kann, damit seien klare Zwecke verbunden. […] Dewey wird nicht müde zu betonen, dass Zwecke, die nicht Auskunft darüber geben, wie sie konkret zu verwirklichen sind, zu bloßen Träumereien werden.« (Ebd., S. 99, 101).
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wie Frau Wollen durch ihre ungewohnte Intervention, muss damit rechnen, dass dies von der Leitung des Teams wie auch von denen, die die kommunikativen Gewohnheiten mittragen, sanktioniert wird. Die Reaktion von Herrn Bloß, Frau Wollen anderen gegenüber als scheinheilige Widerstandskämpferin abzuwerten, kann als eine solche Sanktion verstanden werden. Herr Bloß deutet und bewertet Frau Wollens Verhalten in einer Weise, die konform mit den Gewohnheiten ist. Wer gegen die Regel verstößt, dass nur die Chefin Vorschläge machen darf, wer die Verteilung und den Entzug von Anerkennung durch die Chefin nicht mitträgt, der muss mit scharfen Reaktionen rechnen. Frau Wollen, die einen Bruch mit diesen Gewohnheiten vollzieht, kann diese Angriffe von sich weisen, sie erfüllen ja nur die Erwartungen der Chefin und perpetuieren die Gewohnheiten im Team. Es stellt sich aber die Frage, ob diese die herrschenden Gewohnheiten verteidigenden Reaktionen mit zu den Konsequenzen von Frau Wollens Handeln gehören, die zu antizipieren wären. Natürlich können die konkreten Reaktionen derer, die die Gewohnheiten verteidigen, nicht im Detail antizipiert werden und es kann sein, dass durch die Art des Angriffs biographische Erinnerungen wachgerufen werden, die nicht voraussehbare Reaktionen auslösen. Aber von dem geteilten Teamkontext her gesehen ist die Reaktion zu verstehen als eine, die die Gewohnheiten des Teams verteidigt und in dieser Funktion gehört sie zu den direkten Konsequenzen der Handlung. Die Frage, was zur Handlung von Frau Wollen gehört und was nicht, taucht hier mit größerer Dringlichkeit wieder auf. Ich erinnere zur Klärung an die Unterscheidung zwischen Tat und Handlung von Hegel, die an einer früheren Stelle schon einmal wichtig geworden ist. 75 Das, was im eigenen Verantwortungsbereich liegt, nennt Hegel in der Rechtsphilosophie »Handlung«, und das, was über den eigenen Verantwortungsbereich hinausgeht, nennt er »Tat«. Mit der Unterscheidung zwischen Tat und Handlung ist eine Differenzierung für das gewonnen, was im Pragmatismus sehr allgemein als Konsequenzen von Handlungen zusammengefasst wird. Mit dieser Differenzierung wird m. E. die Trennung zwischen Handlungen und ihren Konsequenzen genauso zurückgewiesen, wie ihre einfache Identifikation. 76 Vielmehr ermöglicht sie, mit den vielfältigen Konsequenzen Vgl. Teil I, Kapitel 4.3. Hegel führt die Unterscheidung als Differenzierung gegen zu abstrakte Positionen ein: »Der Grundsatz: bei den Handlungen die Konsequenzen verachten, und der an-
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Rückwirkungen gestalten 3: Handeln heißt anschließen
der eigenen Handlungen umgehen und sie gestalten zu können. Das Besondere an der Unterscheidung zwischen Tat und Handlung ist nun aber, dass sie zu einem Reflexionsprozess auffordert, der Perspektivenerweiterungen nötig macht. Die Unterscheidung ist deshalb, mit Rückgriff auf das im zweiten Kapitel 77 eingeführte Vokabular, als Differenzierung zu verstehen. Es werden keine Verhaltensweisen eingeteilt, die einen als Taten, die anderen als Handlungen. Es werden auch keine paarigen Begriffsbestimmungen präsentiert und es wird nicht primär ein Kontrast aufgebaut. Was macht nun im Unterschied dazu den Differenzierungsprozess zwischen Tat und Handlung aus? Der Einsatzpunkt liegt darin, aus der Perspektive des Handlungssubjektes eine Grenze der Zurechenbarkeit zu ziehen. Im Falle von Frau Wollen würde sich diese Grenze durch die Abwägung ergeben, was sie mit ihrer Intervention beabsichtigt hat, was ihrer Aktivität zuzuschreiben ist und was ihren Verantwortungsbereich markiert und was demgegenüber daraus geworden ist, sei es durch bloßen Zufall 78 oder durch Instrumentalisierungen anderer, die deshalb deren Verantwortungsbereich zuzurechnen sind. Diese Abwägung führt Frau Wollen zunächst dazu, die aus ihrer Sicht übelwollende, verzerrende Deutung durch Herrn Bloß von sich zu weisen und aus ihrem Verantwortungsbereich auszugrenzen. Was Herr Bloß aus dem Gespräch gemacht hat, seine verzerrende Hetze gegen sie, habe mit ihren Handlungen nichts zu tun. Diese Grenzziehung entlastet zunächst von der Zuschreibung individueller Schuld, die dann eine hohe Dringlichkeit bekommt, wenn die Folgen einer Handlung für das Handlungssubjekt, andere Beteiligte oder die weitere Umgebung mit Beschädigungen von deren Leib und Leben einhergehen. dere: die Handlungen aus den Folgen beurteilen und sie zum Maßstabe dessen, was recht und gut sei, zu machen – ist beides gleich abstrakter Verstand.« (Hegel, R, GW 14,1, S. 105, § 118). 77 Vgl. Teil I, Kapitel 2.2.4. 78 Die Diskussion über »abweichende Kausalketten« scheint mir ein Sonderfall von dieser »Dialektik zwischen Tat und Handlung« zu sein. In den von Davidson und anderen konstruierten Fällen »verursachen« unwillkürliche Körperbewegungen Ereignisse, die den intendierten Handlungen gleichen, die aber nicht durch Handlungsgründe, sondern eben durch »Missgeschicke« und Zufallsketten »verursacht« worden sind. Diese unwillkürlichen Körperbewegungen und Zufallsketten gehören in der hier vorgeschlagenen Perspektive zur Tat. Vgl. für eine kritische Diskussion dieser Debatte Guido Löhrer, »Abweichende Kausalketten, abwegige Handlungsverläufe und die Rückkehr teleologischer Handlungserklärungen«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 54 (2006) 5, S. 785–800.
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4 · Konstruktion: Handeln als dialektischer Prozess
Die Differenzierung erlaubt es aber nicht, einen prinzipiellen Gegensatz zwischen unseren Handlungen und unseren Taten zu errichten. Dies würde fälschlicherweise suggerieren, unsere Aktivitäten hätten eine klare Kontur, unabhängig von ihren Wirkungen, und seien von diesen isolierbar. Zudem haben die Überlegungen zu den Gegensatzerfahrungen 79 gezeigt, wie der Aufbau eines Gegensatzes dazu genutzt werden kann, unser Gegenüber in allen seinen Ausdrucksformen vorzuverurteilen. Es gehört zu der Verwendung der Unterscheidung zwischen Tat und Handlung als Differenzierung, den gesetzten Schnitt immer auch unter Irrtumsverdacht zu stellen. Diese Grenzziehung hat eine grundlegende Funktion in unserer rechtlichen Praxis bei der Begrenzung der Schuld der Akteure. Dies erfordert eine genauere Untersuchung der Kontexte und den Einbezug mehrerer Perspektiven und Beschreibungen. Für die richterliche, »unabhängige« Entscheidung müssen mehrere Grenzziehungen ins Verhältnis gesetzt werden. Unsere individuelle und rechtliche Praxis, eine Grenze zwischen solchen Konsequenzen unseres Handelns zu ziehen, die uns zuzurechnen sind und solchen, für die das nicht gilt, ist selber abhängig von kulturellen Auffassungen über das Subjekt und dessen Verhältnis zu seinem sozialen Kontext, von Gewohnheiten der Verantwortungszuschreibung und dem Verständnis von individueller oder kollektiver Verantwortung überhaupt. Um die Wirksamkeit dieses impliziten Hintergrundes sichtbar zu machen, sind Kontrastbildungen, die durch historische oder interkulturelle Studien möglich werden, das Mittel der Wahl. Vor dem Hintergrund eines antiken heroischen Bewusstseins z. B. würde die Grenzziehung zwischen Tat und Handlung nicht greifen. Der Heros übernimmt Schuld für alle Konsequenzen seiner Handlung, auch für die Wirkungen, die durch Nichtwissen entstanden sind. Das klassische Beispiel dafür ist Ödipus, der die Schuld und Verantwortung für die Tötung eines Mannes, der sich als sein Vater herausstellt, und für das sexuelle Verhältnis zu einer Frau, die sich als seine Mutter herausstellt, übernimmt. Dies hängt mit Vorstellungen zusammen, sein Schicksal, das man nicht vorhersehen und steuern kann, zu akzeptieren. Auch in anderen Kulturen wird diese Grenzziehung ganz anders gehandhabt. MariaSibylla Lotter hat in ihrer Studie zu den kulturellen Grundlagen der Moral gezeigt, dass die Zuschreibung von Schuld für einzelne Hand79
Vgl. Teil I, Kapitel 4.2.
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Rückwirkungen gestalten 3: Handeln heißt anschließen
lungen z. B. in der tibetischen Tradition als oberflächlich gilt und den Einbezug viel weiterer Kontexte nötig macht. 80 Was ergibt sich daraus nun für die Situation von Frau Wollen? Aus der individuellen Perspektive von Frau Wollen gehört die Reaktion von Herrn Bloß nicht zu den ihr zurechenbaren Konsequenzen ihrer Handlung. Sein Verhalten ist Ausdruck seiner aggressiven Persönlichkeit und gehört deshalb zu ihrer Tat. Frau Wollens Handlung ist aber eine Intervention in ein institutionelles Gefüge und deshalb müssen alle Konsequenzen auch als Ausdruck institutioneller Dynamiken verstanden werden. In dieser Perspektive bekommt Frau Wollens Handeln erst vor dem Hintergrund der Gewohnheiten des Teams seine Bedeutung. Der Widerstand, den ihr Bruch mit den Gewohnheiten hervorruft, durch den ihr Verhalten als regelwidrig und illegitim zurückgewiesen wird, gehört in dieser Betrachtung zu ihrer Handlung. Die Reaktion von Herrn Bloß ist eine Variante, wie sich Widerstand artikulieren kann und es gehört zu Frau Wollens Verantwortung, mit Widerstand zu rechnen und sich diesen in gewissem Sinne zuzuschreiben und daran anzuschließen. Wenn Frau Wollen die Reaktion von Herrn Bloß empört oder beleidigt zurückweist, dann bricht sie die begonnene Handlung ab. Damit dies nicht geschieht, müsste Frau Wollen zumindest ihre individuelle Perspektive um die institutionelle ergänzen. Dann würde ihre Handlung nicht in einem individuellen Streit blockiert, sondern es könnte beispielsweise eine Diskussion über die problematische Gewohnheit beginnen, die Verteilung von Anerkennung durch die Chefin einfach zu übernehmen. Diese Perspektivenerweiterung ist sehr weitreichend und legt nahe, die einzelnen Akteure als Manifestationen umfassenderer Kontexte zu sehen. Eine solche Betrachtung kann in einigen Kulturen und Zeiten ausgesprochen dominant sein und die Reduktion auf die individuelle Perspektive fast als illegitim erscheinen lassen, wie dies vielleicht für die griechische Antike und die tibetische Gemeinschaft der Fall sein mag. Es stellt sich die Frage, wie diese beiden Perspektiven zueinander ins Verhältnis gesetzt werden können. Mit der Differenzierung zwischen Tat und Handlung ist das Angebot gemacht, eine Perspektivenerweiterung zu vollziehen. Die Anwendung der Unterscheidung erfordert es zunächst, aus der individuellen Perspektive Grenzen der Vgl. Maria-Sibylla Lotter, Scham, Schuld, Verantwortung. Über die kulturellen Grundlagen der Moral, Berlin 2012, S. 145–150.
80
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4 · Konstruktion: Handeln als dialektischer Prozess
Zurechnung zu ziehen und zwischen Handlungen und Taten zu unterscheiden. In dieser Betrachtung ist Frau Wollens Kränkung durch die abwertende Bezeichnung als »scheinheilige Widerstandskämpferin« berechtigt und die Forderung nach einer Entschuldigung könnte angemessen sein. Zur Bedeutung der Handlung gehören aber deren vollständige Konsequenzen, die durch die Erweiterung der Perspektive auf den institutionellen Kontext und in anderen Fällen sogar auf den kulturellen Kontext als Teile der Handlung verständlich werden. Die erste Grenzziehung zwischen Tat und Handlung soll deshalb in Form einer Perspektivenerweiterung aufgehoben werden, um die Tat als Handlung zu betrachten. Damit ist keine Destruktion der Grenzziehung gemeint. Vielmehr wird die Grenzziehung dadurch relativiert und kann weiteres Handeln nicht ohne Einbezug der Perspektivenerweiterung orientieren.
4.6 Rückwirkungen gestalten 4: Handeln heißt ein Interaktionsangebot machen Handeln bedeutet, ein Interaktionsangebot zu machen. Darin liegt eine vierte wichtige Dimension der Gestaltung von Entwürfen. Dies knüpft direkt an die Überlegungen zum Anschluss an Vorhandenes aus dem vorherigen Abschnitt an. Während der Fokus dort aber auf den Einbezug von Vergangenheit und Gegenwart gerichtet war, soll jetzt die Offenheit gegenüber der Zukunft betrachtet werden. Hierfür sind mir folgende Aspekte besonders wichtig. Erstens ist die irreduzible Unbestimmtheit und Unsicherheit des Handelns festzuhalten. Zweitens, und hierauf liegt in diesem Abschnitt mein Hauptaugenmerk, soll deutlich werden, dass jede Handlungssituation moralisch valent und die moralische Beurteilung ein Horizont ist, in dem schlichtweg jede Handlung steht. Unbestimmtheit und Unsicherheit: Entwürfe sind etwas notorisch Unbestimmtes und Unselbstständiges. Dies ist kein Mangel, sondern darin liegt ihre besondere Stärke. Entwürfe ermöglichen es, von den bestehenden Umständen zu abstrahieren, sich aus der Gegenwart zu lösen, Abstand zu nehmen und sich auf etwas zu richten, was (noch) nicht ist. Dies macht der gewählte Reflexionsausdruck »Entwurf« sehr deutlich, durch den das gemeinsame Merkmal von Absichten, Zwecken, Zielen, Vorsätzen, Vorhaben etc. herausgestellt werden 366 https://doi.org/10.5771/9783495817360 .
Rückwirkungen gestalten 4: Handeln heißt ein Interaktionsangebot machen
soll. In der Gestaltung verlieren die Entwürfe weitgehend ihre Unbestimmtheit und werden sukzessive durch Festlegungen, Verkörperungen und Anknüpfungen an Vorhandenes bestimmter. Dadurch löst sich ihre Unbestimmtheit aber nicht vollständig auf. Denn um orientieren zu können, bedarf es einer gewissen Unbestimmtheit, um bei jedem Schritt der Weiterbestimmung verschiedene Möglichkeiten sehen und qualifizieren zu können. Das Wechselspiel zwischen Unbestimmtheit und Weiterbestimmung findet unter Bedingungen statt, über die man nicht verfügen kann. Handelnde müssen damit rechnen und in gewisser Weise antizipieren, dass Interessenskonflikte mit anderen entstehen, Missverständnisse auftauchen, materielle Möglichkeiten wegbrechen oder unvorhersehbare Ereignisse die Gestaltungen unterbrechen. Kurz: Handelnde erfahren die Widerständigkeit der Umgebung. Das ist in dieser Abstraktheit leicht gesagt, bedeutet aber für die Handelnden eine hohe Unsicherheit. Handeln unter Bedingungen vollständiger Unsicherheit ist kaum möglich. Es bedarf geteilter Orientierungen, auf die man zurückgreifen kann und gewisse Verlässlichkeiten, um mit Unsicherheit umzugehen. Dies ist in der Soziologie und Sozialphilosophie vielfach untersucht und es sind verschiedene Vorschläge gemacht worden, welche Formen der Reduktion von Unsicherheit besonders wirksam sind, sei es durch Vertrauen 81 oder durch die Bildung geteilter Werte 82. Die Antizipation der Reaktionen anderer hat auch die Funktion, Unsicherheit zu reduzieren. Durch Fragen, wie: »Wie könnte der andere reagieren?«, »Was mache ich, wenn er Widerstand zeigt?«, »Wie bringe ich ihn dazu, meinen Vorstellungen gemäß zu reagieren?«, werden mögliche Reaktionen anderer strategisch in das eigene Handeln einbezogen. Solche strategischen Überlegungen können Unsicherheit reduzieren, aber nicht eliminieren. Zudem sind sie unvollständig, wenn mit ihnen von einem statischen Verständnis der Entwürfe (Absichten, Zwecke oder Interessen) von Akteuren ausgegangen wird. Denn die Antizipation möglicher Reaktionen anderer wirkt auf die eigenen Entwürfe zurück und kann diese erheblich verändern. Durch Fragen, wie: »Welche Verbindlichkeiten gehe ich ein, indem ich diesen oder jenen Wortbeitrag leiste?«, treten die spezifisch sozialen Wirkungen in den Blick. Die Festlegung auf einen Wortbeitrag in einer bestimmten Situation be81 82
Vgl. z. B. Martin Hartmann, Die Praxis des Vertrauens, Berlin 2011. Vgl. z. B. Hans Joas, Die Entstehung der Werte, Frankfurt a. M. 1997.
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4 · Konstruktion: Handeln als dialektischer Prozess
deutet auch, dies anderen gegenüber vertreten zu müssen. Solche Überlegungen beziehen die Ansprüche und Erwartungen, die Akteure aneinander haben, mit ein, und können starke Modifikationen der Entwürfe zur Folge haben. Die Moralität des Handelns: In unserem Handeln spielen immer auch moralische Ansprüche eine Rolle. In der Regel wirken diese eher als eine Art empfindliches Sensorium für die Missachtung solcher Ansprüche, denn als expliziter Katalog von Pflichten und Rechten. Verletzungen moralischer Ansprüche können bei Betroffenen wie Beobachtenden Unbehagen auslösen, wie es mit der Figur von Frau Wollen vorgeführt wurde. Solches Unbehagen drängt oft zur Artikulation. Mit den Variationen sollte nachvollzogen werden, wie Frau Wollen in der Reflexion auf dieses Unbehagen und im Austausch mit Herrn Wunsch zu sprachlichen Beschreibungen und zu begrifflicher Verarbeitung findet. Frau Wollen wird klar, dass sie das Verhalten der Chefin als ungerecht empfindet und sie versucht, diese Bedeutungsgebung durch die Beschreibung von Beobachtungen für andere nachvollziehbar zu machen. Indem sie das Gespräch mit Herrn Wunsch sucht, tritt sie in einen Prozess moralischer Verständigung ein. Dieser umfasst den Austausch über angemessene Beschreibungen wie auch über Bewertungen und deren Rechtfertigung. Ich will diese drei Hinsichten moralischer Verständigung, Beschreibung, Bewertung und deren Rechtfertigung in Bezug auf die Variationen nacheinander genauer reflektieren. Frau Wollen muss ihre diffuse Unrechtsempfindung in Bezug auf geteilte Erfahrungen nachvollziehbar machen. Fehlt eine solche Plausibilisierung, dann entstehen zu Recht der Vorwurf der Abstraktion und vielleicht sogar der Vorwurf, eigene Interessen zu verdecken. Denn moralische Kritik wirkt wie eine Art Unterbrechung der Abläufe. Wenn ein moralischer Vorwurf im Raum steht, kann nicht einfach mit dem Tagesgeschäft weiter gemacht werden. An dem Austausch über die Beschreibung moralisch problematischen Verhaltens hängt also viel. Frau Wollen versucht nun im Gespräch mit Herrn Wunsch, dessen Aufmerksamkeit auf unscheinbare Begebenheiten zu lenken, in denen sich das ungerechte Verhalten der Chefin zeigt. Dabei passt sie ihre Darstellung den Reaktionen des Gegenübers an. Wo sie dessen Nachdenklichkeit bemerkt, legt sie schnell mit einer weiteren gemeinsamen Erfahrung nach. Vielleicht benutzt sie auch Ausdrücke, von denen sie weiß, dass sie ihrem Gegenüber besonders wichtig und 368 https://doi.org/10.5771/9783495817360 .
Rückwirkungen gestalten 4: Handeln heißt ein Interaktionsangebot machen
verständlich sind, um ihm ihre Sicht plausibel werden zu lassen. Die Reaktionen von Herrn Wunsch haben also starke Wirkung auf die Art der Darstellung. Variieren wir die Situation und stellen uns vor, wie Herr Wunsch sagt: Wu: »Weißt du, ich stimme Dir zu, dass die Chefin offener sein könnte, uns mehr nach unseren Vorschlägen fragen könnte. Das finde ich ganz richtig und ich würde auch gerne mit dir zusammen überlegen, was wir unternehmen könnten. Aber die Sache mit Herrn Not kann ich nicht sehen. Herr Not ist aus meiner Sicht ein unsicherer Typ, der leicht unter Druck gerät und dann unheimlich zittrig wird. Das erlebe ich auch im Umgang mit mir und anderen, nicht nur mit der Chefin.«
So eine Rückmeldung könnte Frau Wollen zum Anlass nehmen, ihre Beschreibung zu revidieren oder sie an weiteren Beobachtungen zu überprüfen. Gelingt es Frau Wollen nicht, andere mit ihrer Beschreibung zu überzeugen, fehlt das Fundament für die moralische Bewertung. Das heißt natürlich nicht, dass die moralische Bewertung unberechtigt ist. Es gibt viele Kontexte, in denen derartige moralische Verständigungen gar nicht möglich sind. Dies gilt zum Beispiel für das Team, in dem Frau Wollen und Herr Wunsch arbeiten. Die üblichen Gesprächsgewohnheiten verunmöglichen die moralische Verständigung unter den Teammitgliedern, wie dies zum Beispiel in Form von regelmäßigen Gesprächen darüber, ob die Arbeitsverteilung, die Umgangsweisen und Gesprächsformen als fair empfunden werden oder nicht, geschehen könnte. In Gruppen, in denen es zu den Gewohnheiten gehört, moralische Selbstreflexion anzustellen, könnten solche Beschreibungen direkt zum Thema gemacht werden. Wo das nicht der Fall ist, wirkt das Einklagen einer moralischen Selbstreflexion oft eigentümlich fehl am Platz und wird als »Moralisierung« oder auch »Psychologisierung« und damit als unsachlicher, selbst psychisch verdächtiger Beitrag zurückgewiesen. Frau Wollen könnte aber auch den Charakter der bisherigen moralischen Verständigung mit Herrn Wunsch verändern und auf die Art der beiden Beschreibungen reflektieren. Herr Wunsch deutet Herrn Nots Unsicherheit nicht als spezifische Wirkung des Verhaltens der Chefin, sondern als Ausdruck eines individuellen Problems von Herrn Nots Persönlichkeit, während Frau Wollen selbst die Interaktion zwischen beiden und die institutionellen Rahmenbedingungen miteinbezieht. An Herrn Not, dem scheinbar schwächsten Charakter im Team, zeigen sich die Willkür der Chefin, das diffuse Ausspielen 369 https://doi.org/10.5771/9783495817360 .
4 · Konstruktion: Handeln als dialektischer Prozess
der hierarchischen Asymmetrie und die anti-kooperative Einstellung ganz besonders. Dies könnte Herrn Wunsch überzeugen und beide könnten ihr Gespräch darüber fortsetzen, worin ihr moralischer Vorwurf an die Chefin besteht. In alltäglichen moralischen Verständigungen wird die Reflexion über die Bewertungen und ihre Maßstäbe meist nicht explizit geführt, sondern ergibt sich zusammen mit den Beschreibungen. In Frau Wollens Beschreibung kommt die Überzeugung zum Ausdruck, dass die Chefin Herrn Not in einer Weise behandelt, die ihn verunsichert und demütigt. Dies beurteilt sie als unfair, weil die Chefin dadurch Herrn Nots Handlungs- und Ausdrucksfreiheit beeinträchtigt und weil sie Herrn Not ohne ersichtlichen und ohne legitimen Grund schlechter behandelt als die anderen Mitglieder des Teams. Als Maßstäbe für mangelnde Fairness nimmt Frau Wollen also zweierlei in Anspruch, zum einen die Maßgabe, dass man mit seinem Verhalten andere nicht gezielt verunsichern und demütigen darf, und zum anderen den Anspruch vor allem an Verantwortungsträger, die Mitarbeiter_innen gleich zu behandeln. Wenn Frau Wollen und Herr Wunsch darin übereinkommen, dass die allgemeinen Zustände im Team problematisch sind, weil sie den Teammitgliedern kaum Vorschlags- und eigene Gestaltungsmöglichkeiten bieten, dann teilen sie die Überzeugung, dass Teammitglieder Vorschlags- und Gestaltungsrechte haben sollten. Frau Wollen und Herr Wunsch mögen diese Überzeugungen teilen. Wenn sie nun ihre Intervention im Teamgespräch auf dieser Grundlage planen, müssen sie mit Widerspruch gegen genau diese Überzeugungen rechnen. Stellen wir uns folgende Variation vor: Herr Bloß, als Advokat der herrschenden Gewohnheiten, sucht das Gespräch mit den beiden Kritikern. Er wirft den beiden vor, die funktionierende Ordnung zu stören und alles durcheinanderzuwerfen. Dadurch nötigt er die beiden dazu, die Maßstäbe ihrer Kritik zu artikulieren und es entbrennt ein Streit über deren Berechtigung. Die Kritik, es könnten im Team von Seiten der Teammitglieder gar keine Vorschläge eingebracht werden, weist er zurück: Blo: »Also entschuldigt, das klingt, als würdet ihr für eine bessere Welt kämpfen wollen. Seid doch mal realistisch. Wenn jeder Vorschläge machen würde, das ergäbe ja ein heilloses Durcheinander! Dafür gibt es doch Hierarchien, die einen sagen an, die andern führen aus. Wenn euch das nicht passt, dann müsst ihr entweder versuchen, selber Chefs zu werden, oder ihr wechselt den Beruf.«
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Rückwirkungen gestalten 4: Handeln heißt ein Interaktionsangebot machen
Solche oder ähnliche Situationen, die in beruflichen Kontexten keinesfalls eine Seltenheit sind, nötigen zu weiter ausgreifenden Überlegungen über berechtigte Maßstäbe für moralische Kritik. Genau hierin sehen die meisten ethischen Theoriebildungen ihr Kerngeschäft. Ich will in diesem Rahmen keine Auseinandersetzung mit verschiedenen möglichen Argumentationsfiguren beginnen. Vielmehr will ich das ethische Reflexionspotenzial zeigen, das in den bisher entwickelten Unterscheidungen liegt. Besonders wichtig dafür erscheinen mir der Gedanke, Handeln konsequent als Gestaltung von Rückwirkungen zu verstehen und die damit verbundene Differenzierung zwischen Tat und Handlung. 83 Ich komme deshalb darauf noch einmal zurück: Handelnde antizipieren die Reaktionen anderer, um die eigenen Entwürfe über die möglichen Wirkungen allererst zu bestimmen. Die Reaktionen anderer wirken auf die eigenen Entwürfe zurück und bilden einen ständigen Bezugspunkt in der Gestaltung. Dies macht deutlich, dass in der irreduziblen Unbestimmtheit der Entwürfe ein normatives Moment liegt. Die Reaktionen der anderen helfen uns dabei, unser Handeln zu verstehen. Die Differenzierung zwischen Tat und Handlung fordert dazu auf, die Perspektive zu erweitern und Handlungen als Taten zu betrachten. Dies ist aber nur dann möglich, wenn das jeweilige Geschehen nicht mehr als lineare Sequenz von Aktivitäten Einzelner betrachtet wird, sondern als Interaktion, an der mehrere teilhaben. Dadurch verändert sich der Blick auf die Situation, auf sich selbst und auf die anderen. Die eigenen Handlungen werden im Hinblick auf ihre möglichen Konsequenzen für die Situation und das heißt vor allem auch für die an der Situation Beteiligten betrachtet. Als Teilhabende an Situationen mit ihren irreduziblen Kontingenzen sollen wir unseren Verantwortungsbereich erweitern. Die Betrachtung von Handlungen als Taten erfordert aber noch eine Erweiterung. Zu den Situationsbedingungen gehören institutionelle und geschichtliche Bedingungen, auf die die individuellen Akteure keinen oder kaum einen Einfluss haben, die aber die Handlungsmöglichkeiten erheblich prägen. In dieser Perspektive ist auch das individuelle Handeln Ausdruck von sozialen Regeln wie auch von geschichtlichen und kulturellen Konstellationen. Diese ergeben sich Im Hintergrund stehen meine Überlegungen zur pragmatistischen Ethik, vgl. Katrin Wille, »Ethik der Veränderung. Überlegungen im Ausgang von John Dewey«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 64 (2016) 3, S. 380–409.
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4 · Konstruktion: Handeln als dialektischer Prozess
durch die Konsequenzen, die kollektive Handlungen entfalten. Hier ergeben sich Fragen wie: Inwiefern ist die Reaktion anderer auf mein Verhalten eine Antwort auf die Regeln und Zwänge der Institution, die die Bedingungen meiner Handlung darstellen? Inwiefern stabilisiert mein Handeln diese Regeln und welche Alternativen gäbe es hierzu? Diese Überlegungen zeigen deutlicher, inwiefern die Rede von Rückwirkungen einen normativen Charakter hat. Die Aufforderung zu einer konsequenten Gestaltung von Rückwirkungen, die keine prinzipielle Grenze errichtet, ist die Aufforderung zu einer beständigen Erweiterung des eigenen Kontextes. Rückwirkungen zu gestalten bedeutet, durch den Einbezug der Perspektiven und Ansprüche anderer eine Perspektive der Allheit, der Allgemeinheit aufzubauen. Diese Aufforderung hat eine konstruktive und eine kritische Pointe. Konstruktiv leitet sie das eigene Handeln an. Die Orientierung liegt in der Aufforderung, das eigene Handeln im Hinblick auf die Möglichkeiten der Teilhabe anderer auszurichten. Ausgangspunkt sind immer konkrete Situationen, die im Hinblick auf ihre möglichen Konsequenzen erweitert werden sollen. Andererseits liegt darin auch eine Aufforderung zur Kritik an solchen eigenen oder fremden Handlungen, durch die eine prinzipielle Grenze errichtet oder eine Kontexterweiterung zurückgewiesen wird. Gegenstand von Kritik wären also der Aufbau von Gegensätzen, die nicht mehr zurückgenommen werden, aber auch die Beschränkung der eigenen Verantwortung auf das individuelle Handeln, die nicht noch einmal durch die zweite Perspektive der Aufhebung der Unterscheidung kritisch gespiegelt wird. Diese kritische Spiegelung bedeutet, dass die notwendige Begrenzung des eigenen Verantwortungsbereichs mit dem Anspruch an die Erweiterung der eigenen Verantwortung konfrontiert wird, der Verantwortung für die Rahmensetzungen der individuellen Handlungen in den jeweiligen Institutionen, in denen wir leben, für die allgemeineren gesellschaftlichen Bedingungen und für die Besonderheiten der eigenen Kultur.
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Schluss des ersten Teils: Die Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille im Rahmen einer dialektischen Handlungstheorie
Differenzerfahrungen gehören zu den Herausforderungen, mit denen wir in unserem Alltag umgehen müssen. Manche unserer Unterscheidungen machen auf solche Differenzerfahrungen aufmerksam und dazu zählt auch die Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille. Ich habe diesen ersten Teil mit ausführlichen Beschreibungen von möglichen Differenzerfahrungen begonnen, die mit der begrifflichen Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille abgekürzt werden, um zu zeigen, welche Herausforderungen sich genau damit verbinden und wie weit diese verbreitet sind. Differenzerfahrungen bedeuten nicht nur eine Herausforderung für die gelebte Praxis, sondern auch für die Reflexion darüber, wie sie zum Beispiel in der praktischen Philosophie vorgenommen wird. Ein Vorschlag zur Analyse legt sich nahe: Zwei ontologisch verschiedene Einheiten müssen miteinander kausal verknüpft werden. Im Falle von Differenzerfahrungen ist der Kausalzusammenhang gestört. Differenzerfahrungen sind deshalb Abweichungen vom Normalfall. In dialektischen Reflexionen über menschliche Praxis nehmen Differenzerfahrungen eine Schlüsselstellung ein. Sie werden nicht als schwer zu integrierendes Randphänomen aufgefasst, sondern verdienen besonderes Interesse. Dem liegt keine anthropologische Überzeugung zugrunde, der Mensch sei ein dramatisches Wesen und deshalb müsse vor allem über Brüche, Spannungen und Formen des Scheiterns nachgedacht werden. Vielmehr zeigt sich in Differenzerfahrungen besonders deutlich, dass Tätigkeiten eine doppelte gegenstrebige Wirkung haben. Differenzerfahrungen erlauben vielfältige Anschlüsse und sind nicht festgelegt auf starre Gegensätze. Sie lenken die Aufmerksamkeit auf das Zusammenspiel des Differenten und dessen vielfältige Ausdrucksweisen. Es ist ein wichtiges Anliegen dialektischer Untersuchungen, dieses Zusammenspiel zu erkunden und dabei offene Regularitäten festzustellen. Die zeigen sich aber nur dann, wenn dieses Zusammenspiel nicht nur von außen analysierend betrachtet, sondern auch mitvollzogen wird. Es ist also ein sys373 https://doi.org/10.5771/9783495817360 .
Schluss des ersten Teils
tematischer Wechsel zwischen Mitvollzug und auswertender Reflexion nötig. Die Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille hat für die dialektische Untersuchung, die im vierten Kapitel dieses Teils durchgeführt wurde, die Funktion gehabt, einen Problemzusammenhang zu eröffnen und den Blick auf die doppelte gegenstrebige Wirkung zu lenken, die für menschliches Handeln charakteristisch ist. Wird diese selber thematisiert, ist eine sehr viel grundsätzlichere Betrachtung über die Dialektik des Handelns nötig, in der die Differenzerfahrung zwischen Wünschen und Wollen eine mögliche Variante darstellt. Mit diesen Schlussbetrachtungen sollen die Revisionen 1 zusammengefasst werden, die sich aus der Dialektik des Handelns gegenüber dem nach wie vor dominanten Bild einer Kausaltheorie des Handelns ergeben. Die Konsequenzen, die daraus für das Nachdenken über die Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille folgen, lassen sich gut anschließen. Eine erste Revision betrifft die problematische Annahme der Bestimmtheit dessen, was oft als Wünsche (im Sinne von desire) oder Absichten bezeichnet wird, die im Handeln umgesetzt werden sollen. Eine genauere Betrachtung von Handlungssituationen zeigt, dass Wünsche (im Sinne von desire) oder Absichten hochgradig unbestimmt sind und entweder als orientierende Entwürfe (dazu die Figur »Frau Wollen«) oder als Produkte nachträglicher Reflexionen (dazu die Figur »Frau Vollzug«) aufs eigene Handeln vorkommen. Damit hängt eng die zweite Revision zusammen. Denn aus der Annahme der Bestimmtheit von Wünschen (im Sinne von desire) oder Absichten folgt eine Fehleinschätzung der Bedeutung der »Umsetzung« oder »Realisierung« der Wünsche (im Sinne von desire) oder Absichten. Dabei werden die unbestimmten Entwürfe allerdings erst weiterbestimmt. Ihre Funktion besteht darin, die bestimmenden Ich spiele mit dem Ausdruck »Revisionen« nicht auf die sehr wirksam gewordene Unterscheidung Strawsons zwischen deskriptiver und revisionärer Metaphysik an: Deskriptive Metaphysik solle die tatsächliche Struktur unseres Denkens über die Welt beschreiben und revisionäre wolle eine bessere Struktur hervorbringen. Vgl. Strawson, Individuals, a. a. O., S. 9. Abgesehen davon, dass diese Unterscheidung aus meiner Sicht zu denen gehört, die unbedingt einer unterscheidungskritischen Reflexion bedürfen, geht es mir hier um Revisionen eines weit verbreiteten Modells menschlichen Handelns. 1
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Schluss des ersten Teils
Gestaltungsschritte zu orientieren. Es ist keineswegs der Fall, dass sich bestimmende Gestaltungsschritte der theoretischen Reflexion entziehen würden. Vor allem in der sogenannten »pragmatistischen Handlungstheorie« finden sich viele Vorschläge, Gestaltungsprozesse in ihrer Struktur und Dynamik zu klären. Der Schlüsselbegriff dafür ist der der »Rückwirkung« von Gestaltungen auf die orientierenden Entwürfe und die vielfältigen Bedingungen für die weiteren Anschlüsse. Als dritte Revision soll eine Implikation der beiden vorherigen zum Ausdruck kommen. Handlungen sind nicht als lineare oder kausale Abfolge von Ereignissen zu verstehen. Vielmehr werden der reflexiven Analyse zwei Aspekte jeder Handlung zugänglich, die möglichst offen als »orientierender Entwurf« und »Gestaltung« bezeichnet werden. Die Ausbildung einer Absicht, etwas zu tun, ist selber eine Handlung, die zwei Aspekte aufweist und für die der enge Verweis auf Anschlusshandlungen charakteristisch ist. Diese Revisionen haben Konsequenzen für das Nachdenken über die Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille, mit dem der erste Teil begonnen hat. Wie stellt sich diese Unterscheidung in der Perspektive einer dialektischen Handlungstheorie dar? Im Rückblick auf den gesamten Durchgang und im Anschluss an die drei Revisionen kann die Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille helfen, eine irritierende Doppeldeutigkeit 2 aufzulösen: Viele unserer Handlungen dienen dazu, praktische Vorstellungen über die Zukunft, die uns und unsere Umgebung betreffen, zu entwickeln. Praktische Vorstellungen sind Ausrichtungen auf zukünftige Möglichkeiten, die Gefühle der Lust oder Abneigung in dem, der die Vorstellungen entwickelt, bewirken. Das zeitliche Spektrum ist groß. Es kann sich um Vorstellungen handeln, die die nächsten Minuten betreffen, aber auch um Vorstellungen über das eigene Lebensende, das in den meisten Situationen in eine fernere Zukunft verlegt wird. Diese praktischen Vorstellungen können als »Wünsche« bezeichnet werden, die auf Anschlusshandlungen verweisen. Welche Anschlusshandlungen das genau sind oder welchen Charakter die Trotz der großen Bedeutung, die Doppeldeutigkeiten in dialektischen Untersuchungen zukommt, muss unterschieden werden zwischen Doppeldeutigkeiten, durch die wichtige Differenzierungen verdeckt werden und die aufgelöst werden können und sollen und irreduziblen Doppeldeutigkeiten.
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Schluss des ersten Teils
Verweisungen haben, ist dabei offen. Es ist geradezu kennzeichnend für einige Wünsche, dies weitgehend offen zu lassen, während die Ausrichtung auf klarer konturierte Anschlüsse zu anderen Wünschen gehört. Handelt es sich um Wünsche, die sich auf Sachverhalte beziehen, die die menschlichen Möglichkeiten übersteigen, wie um den Wunsch, unsterblich zu sein, bleiben die möglichen Anschlüsse sehr unbestimmt. Mögliche Anschlüsse könnten sein, sich das Körpergefühl, wie es wäre, fliegen zu können, ausführlich auszumalen. Wünsche, die sich auf Sachverhalte beziehen, die wir wegen unserer individuellen Bedingungen nicht erfüllen können, wie die, dass ein bestimmter Athlet den Wettkampf gewinnen möge, könnte Anschlüsse nahelegen, wie den Wettkampf zu verfolgen oder sich nach dem Ergebnis zu erkundigen. Wünsche wie die, morgen mit dem Schreiben zu beginnen, legen Anschlüsse nahe, wie sich morgen an den Schreibtisch zu setzen und mehrere Seiten mit Text zu füllen. Ob diese oder andere Anschlüsse erfolgen, bleibt offen. Wünsche determinieren nicht ihre Erfüllung. Sie können erfüllt werden oder auch nicht. Ob es sich um »bloße Wünsche« handelt, kann oft erst retrospektiv eingeschätzt werden. Im Falle von Herrn Wunsch kann nach seinem Schweigen in der Teamsitzung gesagt werden, er habe den bloßen Wunsch gehabt, Herrn Not zu unterstützen. Frau Wollen hat an ihren Wunsch, Herrn Not zu unterstützen, angeschlossen. In ihrem Gesprächsbeitrag hat sie den orientierenden Entwurf, Herrn Not zu unterstützen, in bestimmter Weise gestaltet. Das Zusammenspiel der beiden Aspekte des Handelns, also zwischen orientierendem Entwurf und Gestaltung, kann als »Wollen« bezeichnet werden. Wollen kann nicht abgelöst von diesem Zusammenspiel betrachtet werden. Wollen ist das gestaltende Tätigsein selbst, das wir nicht vergegenständlichen können, sondern das sich in den Akten der Festlegung, der Verkörperung, des Anschließenes an Vorhandenes und an der Gestaltung von Interaktionen zeigt. Dies vollzieht sich in ständigen Rückwirkungen, die teilweise kaum wahrgenommen werden können, manchmal aber gezielte Umorientierungen nötig machen. Angesichts von unvorhergesehenen Schwierigkeiten sind solche Umorientierungen mitunter mit großen Anstrengungen verbunden. Ein Beispiel wäre politischer Widerstand, in dem zum Teil mit erheblichen und lebensbedrohlichen reaktionären Gegenkräften zu rechnen ist. Es gibt Handlungen, in denen solche Schwierigkeiten, wie körperliche Leistungsgrenzen, gezielt provoziert werden. Ein Beispiel dafür wäre der Leistungssport. Hier gehört Anstrengung zur 376 https://doi.org/10.5771/9783495817360 .
Schluss des ersten Teils
Gestaltung des Zusammenspiels zwischen orientierendem Entwurf und Gestaltung. Die Empfindung von Anstrengung ist aber kein Merkmal, das Wollen notwendig zukommen muss. Mit diesem terminologischen Vorschlag kann die Doppeldeutigkeit aufgelöst werden, die darin lag, den Ausdruck »orientierender Entwurf« als Aspekt der Handlung wie auch als Bezeichnung für Handlungen, in denen sich Absichten (Zwecke, Ziele etc.) bilden, zu verwenden. In diesem Vorschlag sind Anregungen aus den Überlegungen Kants und Wittgensteins mit der Dialektik des Handelns verbunden. Kants Analyse des Wünschens klärt darüber auf, dass praktische Vorstellungen mit Lust und Unlust verbundene Wirkungen sind, für die es charakteristisch ist, Gegenwirkungen hervorrufen zu können. Wittgenstein zeigt, dass Wollen und Wünschen keine symmetrische Unterscheidung bilden. Der Begriff »Wollen« bedeutet die immer schon vorauszusetzende Form des Tätigseins selbst. Wollen manifestiert sich aber auch im konkret vollzogenen Handeln (bei dem immer auch der Körper beteiligt ist). Wünschen ist eine konkrete Tätigkeit, die sich auf vorgestellte Sachverhalte richtet. Wünsche legen ihre Erfüllung nicht fest. Dialektische Überlegungen gehen den vielfältigen Dynamiken nach, die sich zwischen den Aspekten des Handelns entwickeln können. Es kommt mir weniger darauf an, am Ende der langen Ausführungen das dürre Gerippe eines terminologischen Vorschlags vorlegen zu können, der alles Vorherige integriert und eine griffige Alternative zu anderen Modellen des Handelns unterbreitet. Viel wichtiger ist mir als Ergebnis des Ganzen die reflexive Produktivität der Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille wie der dialektischen Dynamiken. Mit »reflexiver Produktivität« meine ich die Möglichkeit, uns als Handelnde besser beschreiben, verstehen und unsere Erfahrungen vertiefen zu können. Deshalb folgt aus den hier vorgelegten Überlegungen auch keine Revision unseres Sprachgebrauchs. Ich meine nicht, dass wir immer da, wo wir den Ausdruck »Wollen« verwenden, um damit unsere Entschlossenheit zum Ausdruck zu bringen, in Zukunft »Wünschen« sagen sollten. Aber ich will empfehlen, dass wir uns immer dann, wenn wir uns wundern, warum wir trotz großer Entschlossenheit dieses oder jenes nicht gemacht haben, der reflexiven Produktivität der Unterscheidung zwischen Wünschen und Wollen erinnern.
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Teil II: Unterscheidungsforschung als Methode
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Einleitung in den zweiten Teil Unterscheidungsforschung wurde als ein philosophisches Vorgehen bestimmt, das eine doppelte Aufmerksamkeit ausbildet und aufrechterhält, nämlich einerseits die Aufmerksamkeit auf die Sache, die unterschiedenen Inhalte und andererseits die Aufmerksamkeit auf die jeweiligen Unterscheidungen als Unterscheidungen. Im ersten Teil wurde der Versuch gemacht, am Beispiel der Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille mit dieser doppelten Aufmerksamkeit zu arbeiten. Das Anliegen des zweiten Teils liegt darin, die doppelte Aufmerksamkeit selber zu thematisieren und näher zu spezifizieren.
a)
Zum Ausdruck »Unterscheidungsforschung«
Für ein solches philosophisches Vorgehen lassen sich verschiedene Bezeichnungen finden, zum Beispiel »Unterscheidungsreflexion«, »Unterscheidungstheorie« oder »Unterscheidungsforschung«. Ich favorisiere als Methodenausdruck die Bezeichnung »Unterscheidungsforschung«. Er scheint mir der umfassendste und der offenste zu sein, weil damit der explorierende, mit Variationen experimentierende und ergebnisoffene Charakter besonders betont ist. Mit dem Ausdruck »Unterscheidungsreflexion« wird vor allem der reflexiven Perspektive auf Unterscheidungen Rechnung getragen, die sehr wichtig für den hier vorgelegten Ansatz ist. Deshalb ist die Unterscheidungsreflexion ein Teil der Unterscheidungsforschung und der Ausdruck kann verwendet werden, um die besondere Art der Aufmerksamkeitswendung auf Unterscheidungen als Unterscheidungen zu betonen. Mit dem Ausdruck »Unterscheidungstheorie« ist der Akzent auf die Versuche gelegt, bestimmte Unterscheidungsweisen auszuzeichnen, als Grundlage zu rechtfertigen und in der Anwendung zu plausibilisieren. Zum Beispiel kann man im Anschluss an Luhmann von einer »Unterscheidungstheorie« sprechen, in der Unterscheidung als Zwei-Seiten-Form konzeptualisiert und als Kristallisationspunkt für soziologische Theoriebildung angesetzt wird. 1 Es können auch PhiDer einschlägige Text dafür ist das erste Kapitel »Gesellschaft als soziales System« aus Niklas Luhmanns Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1998. Vgl. zu den Konsequenzen für eine soziologische Unterscheidungstheorie Athanasios Karafillidis, Soziale Formen. Fortführung eines soziologischen Programms, Wiesbaden 2010.
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losophien über die in ihnen wirksamen Unterscheidungstheorien kontrastiert werden. So setzt beispielsweise Deleuze in seiner Studie zu Spinoza die »Unterscheidungstheorie« von Spinoza als Theorie realer, aber nicht-numerischer Unterscheidungen scharf gegen die cartesischen numerischen Unterscheidungen ab und legt damit sein Interpretationsfundament beider Philosophien. 2 Der Ausdruck »Unterscheidungstheorie« ist also wichtig, um solche Unterscheidungsweisen zu bezeichnen, kritisch zu analysieren, zu kontrastieren und konstruktiv vorzuschlagen, denen eine grundlegende Funktion zukommen soll. Mit der Analyse, Konstruktion und Kritik solcher Unterscheidungsweisen sind ebenfalls wichtige Aspekte des hier vorgelegten Ansatzes benannt, die aber auch nicht das vollständige Anliegen ausmachen. Mit dem Ausdruck »Unterscheidungsforschung« dagegen sollen eine Praxis und eine Theorie des Nachdenkens über Unterscheidungen miteinander verbunden werden, nämlich sich sowohl in der doppelten Aufmerksamkeit zu üben als diese auch zu explorieren mit dem Ziel, Verfahren der Beschreibung, Analyse, Konstruktion und Kritik von Unterscheidungen vorzuschlagen. 3 Unterscheidungsforschung muss ihr eigenes Vorgehen erst generieren und ist deshalb keine Untersuchung mit vorgegebenen wissenschaftlichen Methoden. Ausgangspunkte sind Fragen an zweifelhaft gewordenen Unterscheidungsgewohnheiten oder irritierende Differenzerfahrungen. Dewey schlägt vor, Anlässe für Forschung »unbestimmte Situationen« zu nennen, die als gestört, aufgewühlt, mehrdeutig, verworren oder widersprüchlich charakterisiert werden können. 4 Diese Weisen von Unbestimmtheit zu beschreiben, zu analysieren und zu verstehen gehört schon in die »Forschung«. Nicht jede unbestimmte Situation erfordert eine »Lösung« im Sinne einer Auflösung der Unbestimmtheit, wohl aber einen Prozess sukzessiven Bestimmterwerdens, der in einigen Fällen auch »nur« darin bestehen 2 Vgl. Gilles Deleuze, Spinoza und das Problem des Ausdrucks in der Philosophie, S. 162: »Spinoza dagegen geht mit seiner Theorie der Unterscheidungen einen anderen Weg.« Im Original lautet die Passage: Deleuze, Spinoza et le problème de l’expression, S. 165: »Spinoza, au contraire, trouve une autre voie dans sa théorie des distinctions.« 3 Zudem soll in dem Wort »Forschung« die Art von literarischer Untersuchung anklingen, die Proust in Auf der Suche nach der verlorenen Zeit vorlegt hat. Dieses Werk präsentiert reflexionsstarke Beschreibungen, in denen Transformationen und Deformationen sichtbar werden. Eine dieser Transformationen ist die vom Schreiben-Wünschen zum Schreiben-Wollen. 4 Vgl. Deweys Entfaltung der Peirce’schen doubt-belief-theory in Logic: The Theory of Inquiry, LW.12.109 ff.
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mag, die Dimensionen irreduzibler Unbestimmtheit zu verstehen. Forschung in diesem Sinne vollzieht sich mittels Operationen, das sind Weisen der Einwirkung auf bestehende Bedingungen. Verstanden als »funktionale Arbeitsteilung« unterscheidet Dewey zwischen Ideen und Begriffen als Operationen, die Konsequenzen von Einwirkungen antizipieren, auf der einen Seite, und Tätigkeiten, Techniken und Organen, also Modifikationen »realer« Situationen, auf der anderen Seite. Im Falle der Unterscheidungsforschung sind Unterscheidungen Gegenstand und Mittel der Forschung. Sie umgreifen die Unterscheidung zwischen beiden Arten von Operationen und können ideelle oder begriffliche Operationen wie reale Operationen sein. Vor dem Hintergrund dieses Verständnisses will ich skizzieren, inwiefern im ersten Teil »Unterscheidungsforschung« betrieben wurde und welche methodischen Überlegungen im zweiten Teil noch anzustellen sind.
b)
Rückblick aus methodischer Perspektive
Im ersten Teil wurde die Differenzerfahrung zwischen dem Vorhaben, etwas zu tun und dem davon abweichenden Tun als Ausgangspunkt gewählt und in drei Beschreibungen von Situationen entfaltet. Unterscheidungen sind hierbei als Handlungsmuster, als sprachliche Vollzüge und als begriffliche Verarbeitungen wirksam. Es ist ein zentrales Anliegen von Unterscheidungsforschung, (unbestimmte) Situationen zu beschreiben, in denen Unterscheidungen als ein solches Gemisch mit verschiedenen Akzentuierungen sichtbar werden. Situationen sind Erfahrungsfelder und Erfahrungshorizonte für Unterscheidungen. Dewey bestimmt Situationen als ein Ganzes mittels durchgängigen Qualitäten, die sich in Empfindungen und Gefühlen, in Handlungen und Überzeugungen manifestieren können. 5 Im Anschluss daran erscheint es mir wichtig, auch diese Dimensionen in die Beschreibungen und Entwürfe von Situationen miteinzubeziehen. Bei der Beschäftigung mit Möglichkeiten, diese Differenzerfahrung zu analysieren und begriffliche Lösungen zur Erklärung oder Überwindung anzubieten, ist es ein zweites zentrales Anliegen von Unterscheidungsforschung, einen Blick für den Variantenreichtum von Unterscheidungen und Unterscheidungsweisen zu gewinnen 5
Ebd., LW.12.72 ff.
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und die Konsequenzen der jeweiligen Varianten zu ermessen. Dies sind die spezifischen »ideellen« Operationen der Unterscheidungsforschung und es stellt einen eigenen Zweck dar, Varianten zu durchlaufen und in den jeweiligen Konsequenzen abzuwägen. Das dritte Anliegen geht dahin, unbestimmte Situationen wie die gewählte Differenzerfahrung als Ausgangspunkt zu nehmen und Möglichkeiten für eine umfassende Gestaltung konstruktiv zu entwickeln. Mit dem Rahmen einer dialektischen Handlungstheorie sind einerseits bestimmte inhaltliche Unterscheidungen (wie »orientierender Entwurf« und »Gestaltung«) vorgeschlagen. Andererseits wird eine dialektische Unterscheidungsweise vorgeführt, für die der dynamische Charakter von Unterscheidungen im Mittelpunkt steht (der in ihrer Eigenart liegt, Unterschiedenes zu trennen und zu beziehen). Es ist wichtig, die Konsequenzen dieses Vorgehens als mögliche Erfahrungen mit engem Rückbezug auf Situationsbeschreibungen zu erwägen. Im ersten Teil wurde gezeigt, wie Unterscheidungen forschend zum Gegenstand gemacht werden können. Dabei wurden Unterscheidungen und Unterscheidungsweisen als Mittel verwendet, die sich teilweise aus der unbestimmten Situation der jeweiligen Differenzerfahrungen ergeben haben, teilweise aber auch aus der Beschäftigung mit anderen unbestimmten Situationen übertragen wurden. Die Anlässe und Quellen für diese Übertragungen zu thematisieren und zu plausibilisieren, stellt die Aufgabe des zweiten Teils dar.
c)
Zum Aufbau des zweiten Teils
Der zweite Teil gliedert sich in drei Kapitel, in denen jeweils einer der drei Ansprüche thematisiert werden soll, die in der allgemeinen Einleitung, mit der diese Untersuchung eröffnet wurde, für Unterscheidungsforschung formuliert sind, nämlich spezifisch, inhaltsgesättigt und systematisch zu sein. Im ersten Kapitel wird entwickelt, was es heißt, dass Unterscheidungsforschung spezifisch sein soll (1. Kapitel: Warum Unterscheidungsforschung spezifisch ist). Dafür muss der Charakter der doppelten Aufmerksamkeit näher betrachtet werden (1.1 Aufmerksamkeit auf Unterscheidungen). Was dabei aber eigentlich geschieht und was Unterscheidungen bedeuten, erschließt sich über die Pragmatik von Unterscheidungen (1.2 Pragmatik von Unterscheidungen). Die meisten Unterscheidungen sind nicht thematisch, 384 https://doi.org/10.5771/9783495817360 .
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sondern operativ und wirken als Unterscheidungsgewohnheiten (1.3 Unterscheidungsgewohnheiten). Im zweiten Kapitel soll der Frage nachgegangen werden, welche Ausgangspunkte gewählt werden können, um Unterscheidungsweisen in einen Überblick zu bekommen. Eine abstrakte oder formale Betrachtung würde der Vielfalt verwendeter Unterscheidungsweisen nicht gerecht werden können. Ich will in drei Lektüren von Texten, die in eine Tradition des Nachdenkens über Unterscheidungen einbezogen werden müssten, zeigen, wie allgemeine Betrachtungen über Unterscheidungen angestellt werden können, die den Bezug auf Inhalte nicht verlieren. 6 In diesen Lektüren soll aufgezeigt werden, was die Quellen für das »methodische Handwerkszeug« sind, das ich in den Analysen und Konstruktionen des ersten Teils verwendet habe (2. Kapitel: Warum Unterscheidungsforschung inhaltsgesättigt ist). Im ersten Abschnitt dieses zweiten Kapitels stelle ich vor, wie ich die vier Praktiken des Unterscheidens aus der Lektüre des platonischen Sophistes gewonnen habe und inwiefern es sich hierbei um eine Möglichkeit handelt, allgemeine Betrachtungen über Unterscheidungen anzustellen, die dennoch inhaltsgesättigt bleiben. Das erlaubt es, den Gebrauch der Praktiken des Unterscheidens im ersten Teil zu reflektieren und in einen Überblick zu bringen (2.1 Praktiken des Unterscheidens). Im zweiten Abschnitt des zweiten Kapitels wird gefragt, worin der Beitrag eines abstrakten Blicks auf Unterscheidungen als Grenzziehung zwischen Seiten in einem Kontext bestehen könnte. Wie ist ein solcher Abstraktionsvorgang zu plausibilisieren? Und was trägt eine solche Perspektive auf Unterscheidungen bei (2.2 Strukturen von Unterscheidungen)? Aus der Beschäftigung mit Deleuzes’ Differenz und Wiederholung gewinne ich das wichtige Plädoyer dafür, das Nachdenken über Unterscheidungen konsequent mit dem »Gewimmel der Differenzen« zu konfrontieren (2.3 Unüberblickbarkeit und Vorgängigkeit). Die Lektüren verfolgen ganz bestimmte Zwecke und werden deshalb nicht mit dem Anspruch exegetischer Vollständigkeit durch-
Vgl. zu der Aufgabe, solch eine Traditionslinie in historischen Studien zu bahnen, die Überlegungen in der allgemeinen Einleitung, Abschnitt v.
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geführt. Deshalb müssen viele Aspekte der gegenwärtigen Diskussion über diese Texte unberücksichtigt bleiben. Um Reduktionen auf bestimmte Varianten des Unterscheidens kritisieren zu können, wird im dritten Kapitel nach einem systematischen Ausgangspunkt gesucht, Unterscheidungen zu thematisieren und Kritikmöglichkeiten aufzuzeigen. Hierfür wird beim dynamischen Charakter von Unterscheidungen angesetzt (3. Kapitel: Warum Unterscheidungsforschung systematisch ist). Die zentrale Quelle für dieses Unterscheidungsverständnis ist die Einleitung in die Phänomenologie des Geistes von Hegel (3.1 Dialektisches Unterscheiden: Quellen und Bezüge; 3.2 Die Tätigkeiten des Unterscheidens: Trennen und Beziehen). Dabei soll das dynamische Durchlaufen von Verschiedenheitserfahrungen, Differenzerfahrungen und Gegensatzerfahrungen reflektiert werden, das im ersten Teil in Form eines Beitrags zur dialektischen Handlungstheorie vollzogen wurde (3.3 Verschiedenheitserfahrungen, Differenzerfahrungen, Gegensatzerfahrungen). Im letzten Schritt werde ich die Rückwirkungen zwischen Unterschiedenen, die in Form von Erfahrungen mit Unterscheidungen zugänglich werden, mit Bezug auf den Erfahrungsbegriff von Dewey feiner vorzustellen versuchen (3.4 Rückwirkungen erfahren). In allen Schritten nehme ich Bezug auf die Ergebnisse und Vorgehensweisen des ersten Teils, die als Material für die methodischen Überlegungen dienen. An verschiedenen Stellen ist es nötig, auch andere Unterscheidungen als die zwischen Wunsch und Wille einzubeziehen.
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1. Kapitel: Warum Unterscheidungsforschung spezifisch ist
Einleitung zum ersten Kapitel Sokolowski und König kommentieren beide die Eigenart und Merkwürdigkeit, die Aufmerksamkeit von den inhaltlichen Themen und Fragen auf die Formungen durch Unterscheidungen zu richten. König beschreibt sein Vorgehen als »eigenartige logische Reflexion, die in dem gewöhnlichen, rein den Sachen zugewendeten Nachdenken, nicht vorkommt« 1 und findet in dieser Reflexion in kleinschrittiger Arbeit zu der Theoriefigur des radikalen Unterschieds. Im Titel seines späteren Textes zu Unterscheidungsfragen formuliert Sokolowski den Anspruch seiner Untersuchungen: The Method of Philosophy: Making Distinctions. Wenn wir eine Unterscheidung treffen, richtet sich unsere Aufmerksamkeit meist auf die beiden unterschiedenen Inhalte. Es ist eine »reflexive Wende« nötig, um die Aufmerksamkeit auf die Unterscheidungen selbst zu richten. Sokolowski bestimmt Philosophie als intellektuelle Aktivität, die mit Unterscheidungen arbeitet. Die Methode ist das Treffen und Befragen von Unterscheidungen. 2 Aber Philosophie trifft nicht einfach Unterscheidungen, sondern arbeitet mit Unterscheidungen, verweilt dabei und zeigt, warum bestimmte Unterscheidungen getroffen werden müssen und andere unwirklich oder ungültig und aufzulösen sind. Sokolowski vollzieht seine Analysen zwar in phänomenologischer Einstellung, weist also an vielen Unterscheidungen auf, wie uns Unterscheidungen gegeben sind. Gleichzeitig liegt sein Interesse an Unterscheidungen aber darin, dass hier eine Möglichkeit des Übergangs von der natürlichen zur phänomenologischen Einstellung liegt. Unterscheidungen wirken auch in der Alltagskommunikation kontemplativ und reflexiv und können als lebensweltliche Antizipationen der phänomenologischen Kontemplation verstanden werden und als Bei1 2
König, »Der Begriff eines formalen oder radikalen Unterschieds«, a. a. O., S. 102. Sokolowski, »The Method of Philosophy: Making Distinctions«, a. a. O., S. 516.
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spiel herangezogen werden, um zu zeigen, was es heißt, die phänomenologische Einstellung einzunehmen. Das hier vorgestellte Verständnis von Unterscheidungsforschung ist kein Beitrag zur Phänomenologie und der nun schon mehrfach zitierte Sokolowski ist auch nicht als zentraler Gewährsmann dieses Ansatzes zu verstehen. Autoren wie er und wie König oder Spencer Brown und natürlich auch andere sind, teilweise zu ihrer eigenen Überraschung, auf die enorme Wichtigkeit von Unterscheidungsforschung gestoßen. Sokolowski hat sich intensiver als andere für die Art des Aufmerksamkeitswechsels interessiert und für genaue Beschreibungen der Wirkungen von Unterscheidungen. Dies sind Schwerpunktsetzungen, die vor dem Hintergrund phänomenologischer Schulungen verständlich sind. Für die Herstellung methodischer Reflektiertheit und Transparenz scheint es mir geboten zu sein, sich zunächst an diese Schwerpunktsetzung anzuschließen, um das Spezifikum der Aufmerksamkeit auf Unterscheidungen genauer angeben zu können. Deshalb soll die doppelte Aufmerksamkeit, die für die Unterscheidungsforschung kennzeichnend ist, im ersten Abschnitt dieses Kapitels in ein kontrastives Verhältnis zu der Aufmerksamkeitslenkung gesetzt werden, die Husserl als »phänomenologische Epoché« oder auch »phänomenologische Reduktion« charakterisiert hat (1.1 Aufmerksamkeit auf Unterscheidungen). Die Bedeutung von begrifflichen Unterscheidungen erschließt sich über ihre Pragmatik, über die möglichen praktischen Wirkungen. Dies bedeutet für Unterscheidungen, zum einen nach den praktischen Wirkungen der unterschiedenen Begriffe zu fragen. Hierfür kann eng an die methodischen Einsichten des Pragmatismus angeknüpft werden. Was aber sind mögliche praktische Wirkungen von Unterscheidungen? Ich werde im zweiten Abschnitt dieses Teils einige wichtige Wirkungsweisen von Unterscheidungen vorschlagen (1.2 Pragmatik von Unterscheidungen). Über die wenigsten unserer Unterscheidungen denken wir explizit nach, vielmehr sind sie operativ. Sie wirken als Unterscheidungsgewohnheiten und bilden den Horizont für die Unterscheidungen, auf die wir aus verschiedenen Gründen unsere Aufmerksamkeit richten. Jede Einführung von neuen Unterscheidungen oder Unterscheidungsweisen ist abhängig von einem Geflecht von Unterscheidungsgewohnheiten, die dadurch auffällig werden können (1.3 Unterscheidungsgewohnheiten).
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Aufmerksamkeit auf Unterscheidungen
1.1 Aufmerksamkeit auf Unterscheidungen Die Methodenbegriffe »phänomenologische Epoché« oder »phänomenologische Reduktion« stehen für eine Veränderung der Blickrichtung weg von der »schlechthin vorhandenen Welt« hin auf das Bewusstsein in seiner weltkonstituierenden Aktivität, auf die Intentionalität. 3 Husserl beschreibt dies vielfach als einen Bruch, einen Schnitt zwischen der natürlichen und der phänomenologischen Einstellung, in welcher erst »eine konkrete und systematische Aufklärung jener mannigfaltigen intentionalen Bezogenheiten« geleistet werden kann, »die einer möglichen Welt überhaupt als Umwelt einer entsprechenden möglichen Subjektivität wesensmäßig zugehören […]«. 4 Der natürliche Glaube an die Welt muss im Methodenschritt der Epoché eingeklammert werden, um die uns umgebenden Dinge als Erscheinungen unseres Bewusstseins analysieren und die Konstitutionsakte aufweisen zu können, die wir in unserem natürlichen Glauben an die Welt immer schon vollzogen haben. Diese Reflexionsfigur, dass uns etwas, was wir selbstverständlich immer schon verwenden, als es selbst in die Aufmerksamkeit rückt, diese Umwendung des Blicks von der Ausrichtung auf einen Gegenstand (intentio recta) auf die Ausrichtung selbst (intentio obliqua) ist in der Philosophie sicher altbekannt. Wir finden sie in den verschiedensten philosophischen Traditionen. Zum Beispiel eröffnet Locke seinen Essay concerning Human Understanding mit dieser Figur. 5 Während die meisten Philosophen, die einen Einstellungswechsel fordern, diesen einfach vollziehen und ihre sachlichen Ergebnisse vortragen, reflektiert Husserl den von ihm eingeforderten Einstellungswechsel selbst. Im Folgenden soll der Versuch gemacht werden, den spezifischen Charakter der doppelten Aufmerksamkeit im Kontrast zur phänomenologischen Einstellung in drei Hinsichten zu skizzieren. Vgl. den Überblicksartikel zur Reduktion, Sebastian Luft, »Reduktion«, in: HusserlLexikon, hrsg. v. H.-H. Gander, Darmstadt 2010, S. 252–257. 4 Edmund Husserl, »Der Encyclopaedia Britannica Artikel« (1927), in: Husserliana, Edmund Husserl. Gesammelte Werke, Den Haag bzw. Dordrecht/Boston/Lancaster 1950 ff., Bd. IX, hrsg. v. W. Biemel 1968, S. 237–301, S. 291. 5 »For I thought that the first Step towards satisfying several Enquiries, the Mind of Man was very apt to run into, was, to take a Survey of our own Understandings, examine our own Powers, and see to what Things they were adapted.« (Locke, An Essay concerning Human Understanding, I.1.7). 3
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Einstellungswechsel oder Erweiterung der Aufmerksamkeit: Husserls phänomenologischer Perspektivwechsel vollzieht sich ausgehend von der natürlichen Einstellung, innerhalb derer wir uns »geradehin« bewusst betätigen und unseren Blick auf die jeweiligen Sachen, Gedanken, Werte und Ziele richten, zur phänomenologischen Einstellung, in der die Sachen, Gedanken, Werte und Ziele als intentionale Gegenstände, als Erscheinungen des Bewusstseins sichtbar werden. Für die Unterscheidungsforschung ist die Erweiterung der Aufmerksamkeit von den unterschiedenen Inhalten auf diese als unterschiedene kennzeichnend. Es wird bei dieser Erweiterung miteinbezogen, wie die jeweiligen Inhalte unterschieden werden, also wie die Unterscheidungsweisen bestimmt werden können, durch die Inhalte unterschieden werden. Während in Bezug auf die phänomenologische Reduktion meist vom Einstellungs- oder Perspektivenwechsel gesprochen wird, favorisiere ich die Ausdrücke »doppelte Aufmerksamkeit« oder »Erweiterung der Aufmerksamkeit«. Der Begriff »Einstellungswechsel« suggeriert zum einen, es handele sich dabei um einen einmaligen Akt vergleichbar mit dem Wenden des Kopfes, durch das eine andere räumliche Perspektive auf die Dinge entsteht. Die doppelte Aufmerksamkeit produziert sich erst sukzessive durch den Einbezug der Unterscheidungsweisen. Zum anderen ist der phänomenologische »Einstellungswechsel« ein Bruch mit der natürlichen Einstellung. Wie das Verhältnis der beiden »Iche«, des transzendentalen Ich und des natürlichen Ich, zu verstehen ist, hat Husserl intensiv bedacht. 6 Die Aufmerksamkeitserweiterung auf Unterscheidungen als Unterscheidungen ist im Falle der Unterscheidungsforschung aber nun gerade rückgebunden an die »natürliche« Verwendung von Unterscheidungen. Die Schwierigkeiten, die dabei entstehen können, liefern die Anlässe dafür, die Wirkungen von Unterscheidungen zu beschreiben, Unterscheidungsweisen zu analysieren und möglicherweise konstruktive Vorschläge zu machen.
6 Vgl. Husserl »Mein transzendentales Ich ist also evident ›verschieden‹ vom natürlichen Ich, aber keineswegs ein zweites, als ein davon getrenntes im natürlichen Wortsinn, wie umgekehrt auch keineswegs ein in natürlichem Sinne damit verbundenes oder mit ihm verflochtenes. Es ist eben das (in voller Konkretion gefasste) Feld der transzendentalen Selbsterfahrung, die jederzeit durch bloße Änderung der Einstellung in psychologische Selbsterfahrung zu wandeln ist.« (Husserl, »Der Encyclopaedia Britannica Artikel«, a. a. O., S. 294).
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Aufmerksamkeit auf Unterscheidungen
Uninteressierter Zuschauer oder Beobachterperspektive: In der phänomenologischen Einstellung ist das transzendentale Ich unbeteiligter und uninteressierter Zuschauer des natürlichen Ich in seinen verschiedensten Vollzügen. In der Aufmerksamkeitserweiterung auf Unterscheidungen als Unterscheidungen ist es wichtig, mögliche alltägliche Unterscheidungsvollzüge erst einmal zu inszenieren und mitzuvollziehen und die Reflexion daran anzuschließen. In einem wichtigen Sinne ist diese Reflexion immer unvollständig. Denn die Verwendung von Unterscheidungsweisen kann man nicht vollständig zum Gegenstand machen, wie z. B. die Dingwahrnehmung. Wenn über die Wirkung von Unterscheidungsweisen reflektiert wird, geschieht das immer und notwendig durch bestimmte Unterscheidungsweisen. Deshalb sind Vorschläge dazu immer angewiesen auf andere Unterscheidungskritik. Urteilsenthaltung oder Variation: Nach Husserl ist die Epoché als Einklammerung aller Seinsurteile (»Urdoxa«) und aller »doxischen Modalitäten« (wie Glauben, Zweifeln, Für-möglich-Halten, Vermuten) selber keine Einstellung des Zweifelns (das wäre selber wieder eine doxische Modalität), aber auch kein »künstlicher« Zweifel wie der cartesianische methodische Zweifel, sondern eine Urteilsenthaltung. Für die Aufmerksamkeitserweiterung auf Unterscheidungen als Unterscheidungen ist es ebenfalls von großer Bedeutung, zunächst keine Beurteilung von Unterscheidungen und Unterscheidungsweisen vorzunehmen. Die Betrachtung von Varianten und deren aktive Vervielfältigung ist ein wichtiger und eigenständiger Teil der Unterscheidungsforschung. Erst auf dieser Basis kann eine kritische Diskussion von Unterscheidungen und ihrem Gebrauch sinnvoll erfolgen. Nach meinem Eindruck ist das Interesse an Variationen und an aktiver Urteilsenthaltung in der philosophischen Diskussion der Vergangenheit und Gegenwart zu schwach ausgeprägt. Hier kann Husserls emsige Vervielfältigung von Variationen als wichtige Anregung dienen. Meist wird die offene Betrachtung von Variationen der Verwendung übersprungen durch Klassifikationen, Einordnungen, Positionalisierungen und die Etikettierung durch selbstgewisse Bewertungen. Dieser Zugriff auf Unterscheidungen, zunächst Varianten zu bilden und zu reflektieren mit der Offenheit dafür, dass sich die jeweilige Unterscheidung auch als eine erweisen könnte, die problematische Konsequenzen mit sich bringt, ist in der Unterscheidungsforschung jeder Unterscheidung gegenüber einzuüben. Dies 391 https://doi.org/10.5771/9783495817360 .
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gilt auch und gerade für so grundlegende Unterscheidungen wie Sinnlichkeit und Verstand, a priori und a posteriori, Genesis und Geltung oder Werte und Fakten. Und deshalb scheint mir eine Einschätzung wie die folgende problematisch zu sein: Die sachliche Bedeutung dieser Unterscheidung ist in ihrer geschichtlichen Entwicklung darzustellen; denn es gibt Unterscheidungen, die – aus welchen Gründen auch immer einmal gemacht – irreversibel sind, weil sie das Reflexionspotenzial steigern. Die Unterscheidung von Sinnenwelt und Verstandeswelt ist eine solche, denn sie impliziert eine Steigerung der Distanz und der Abstraktion vom Sichtbaren und empfiehlt sich dadurch als ein Dispositiv des Denkbaren überhaupt. 7
Ob man von »irreversiblen Unterscheidungen« sprechen kann, erfordert nicht nur eine Reflexion auf den Gegenstand, also die konkrete Unterscheidung zwischen Sinnenwelt und Verstandeswelt, deren Begründung, deren Möglichkeiten und deren Wirkungskraft. Vielmehr scheint eine solche Behauptung auch eine Reflexion auf Unterscheidungen als Unterscheidungen zu erfordern: Was macht die Irreversibilität von Unterscheidungen aus? Wie sind irreversible von reversiblen Unterscheidungen zu unterscheiden? Was könnte diese Unterscheidung rechtfertigen? Solchen Fragen nach der Rechtfertigung von Unterscheidungen sollten solche nach ihrer Bedeutung vorausgehen. Die Bedeutung von begrifflichen Unterscheidungen erschließt sich über ihre Pragmatik. Dies soll im nächsten Abschnitt vertieft werden.
1.2 Pragmatik von Unterscheidungen Mit der Pragmatik von Unterscheidungen ist der Vorschlag verbunden, die Bedeutung von begrifflichen Unterscheidungen (d. h. die Unterscheidung von Begriffen und nicht von Wahrnehmungen oder von Dingen oder Ereignissen) über ihre praktischen Wirkungen zu erschließen. Damit knüpfe ich an das pragmatistische Methodenverständnis an und habe dies im Aufbau des ersten Teils bereits realisiert. Über eine Unterscheidung wie die zwischen Wunsch und Wille nachzudenken, bedeutet zunächst, sich ihre »Pragmatik«, ihre möglichen praktischen Wirkungen zu vergegenwärtigen. Nun bedeutet Peter Probst, »Sinnenwelt/Verstandeswelt«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 9, S. 869–874, S. 869.
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Pragmatik von Unterscheidungen
die unscharfe Aufforderung, praktische Wirkungen zu betrachten, bei Unterscheidungen zweierlei. Zum einen müssen die praktischen Bedeutungen der unterschiedenen Begriffe zum Thema gemacht werden (dies ist vor allem in der ersten aus Prousts Texten gewonnenen Beschreibung geschehen). Und zum anderen muss die spezifische Wirkung von Unterscheidungen sichtbar gemacht werden (dies ist vor allem in der zweiten Beschreibung, dem Gespräch zwischen Frau Wollen und Herrn Wunsch geschehen). Allgemeine Überlegungen zur zweiten Frage finde ich in den pragmatistischen Texten nicht und so ist eine kreative Erweiterung nötig, die ich im zweiten Schritt dieses Abschnitts vorschlagen will. Im dritten Schritt setze ich mich mit der Behauptung des Phänomenologen Sokolowski auseinander, jede Unterscheidung habe eine reflexive Wirkung. Ich beginne aber im ersten Schritt im engen Anschluss an Peirce und Dewey mit der Frage, was eigentlich alles einzubeziehen ist, wenn die praktischen Wirkungen von Begriffen betrachtet werden. Praktische Wirkungen von Begriffen: Zur Klärung dieser Frage will ich an pragmatistische Überlegungen anknüpfen. Gemäß der pragmatischen Maxime erhält ein Begriff seine Bedeutung über die denkbaren praktischen Wirkungen (bzw. die Wirkungen, die denkbarerweise praktische Relevanz haben). 8 An der Frage, was genau mit »denkbaren praktischen Wirkungen« gemeint ist, hat Peirce sich im Laufe seines Denkens immer wieder abgearbeitet. Die geführten Diskussionen mit den jüngeren Pragmatisten James und Dewey zeigen, dass damit ein Bedeutungsspektrum aufgemacht werden soll, dass die Bedeutungen des Begriffs »Regel« als Anleitung für Handlungen und die konkreten Handlungen selbst umfassen soll. Immer da, wo eine Seite dieses Spannungsfelds unterbetont wird, ist nachzubessern. Wenn die jüngeren Pragmatisten James und Dewey die konkrete Handlung überbetonen, dann streicht Peirce demgegenüber den Regelcharakter heraus. Wenn die sinnliche Konkretheit, Wahrnehmbarkeit und Nachvollziehbarkeit in der Wiederholung von Erfahrungen vernachlässigt wird, fordert Peirce diese Aspekte ein. Bei der Arbeit an Unterscheidungen soll also zunächst gefragt werden, worin die möglichen praktischen Wirkungen der unterschiedenen Begriffe liegen können, in denen sich sowohl der Regelcharak-
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Vgl. dazu auch schon die Einleitung zum ersten Kapitel des ersten Teils, Abschnitt a).
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ter wie die mögliche Konkretion in der Erfahrungswelt zeigen. Auf was genau ist zu achten und was gehört alles dazu, wenn man dies versucht? Auf diese Frage hat meine Lektüre der pragmatistischen Gründungstexte 9 von Peirce Folgendes ergeben. Ich will dies zuerst an einer Unterscheidung deutlich machen, die Peirce in diesen Texten selber bearbeitet, nämlich die Unterscheidung zwischen Zweifel (doubt) und Überzeugung (belief). Peirce bietet in dem Aufsatz The fixation of belief drei Möglichkeiten für die praktischen Wirkungen von Zweifel und Überzeugung an: Dazu gehören erstens die Handlungsformen, d. h. für den Begriff »Überzeugung« z. B. die Handlungsform des Urteil-Abgebens und für den Begriff »Zweifel« die Handlungsform des Fragen-Stellens. Zweitens sind die Wirkungen auf die Lebensführung einzubeziehen. Im Falle des Begriffs »Überzeugung« bestehen diese in dem Versuch, Gewohnheiten (habit) auszubilden, die unser Handeln bestimmen. Und im Falle des Begriffs »Zweifel« bestehen diese in Versuchen, den Zweifel wieder loszuwerden und deshalb Veränderungen zu initiieren. Drittens sind die Empfindungs- und Gefühlsqualitäten zu beschreiben. Für den Begriff »Überzeugung« sind das Ruhe und Zufriedenheit und für den Begriff »Zweifel« Unbehagen und Unzufriedenheit. Ich will diese drei Hinsichten praktischer Wirkungen auf die Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille anwenden. Als Reservoir für Handlungsformen, Wirkungen auf die Lebensführung und Empfindungs- und Gefühlsqualitäten verwende ich die Beschreibung Prousts. Zu den Handlungsformen des Begriffs »(bloßer) Wunsch« gehört es, sich einen als positiv bewerteten Sachverhalt vorzustellen und sich für einen Zeitpunkt in der Zukunft vorzunehmen, Mittel zu ergreifen, um diesen Sachverhalt zu realisieren, aber in der Gegenwart wie in der dann eintretenden Zukunft tatenlos zu bleiben und den gesetzten Zeitpunkt weiter in die Zukunft zu verschieben. Empfindungs- und Gefühlsqualitäten während der Vorstellung dieser Zukunft sind Beschwingtheit, gar Begeisterung, in der dann eintretenden Zukunft sind es Empfindungen von Diskontinuität. Die Wirkungen auf die Lebensführung zeigen sich als Selbststabilisierungen und Wiederholungen der Handlungsmuster. Zu den Handlungsformen des Begriffs »Wollen« gehört es, AbCharles Sanders Peirce, »The Fixation of Belief« (1877), CP 5.358–387 und »How to Make Our Ideas Clear« (1878), CP 5.388–410.
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Pragmatik von Unterscheidungen
läufe zu steuern und Lösungen für Schwierigkeiten zu finden. Die Empfindungs- und Gefühlsqualität erscheint als Bereitschaftsgefühl für die Aufgabe. Und die Wirkungen auf die Lebensführung könnten darin bestehen, weniger mit den eigenen Selbstbildern und Zukunftsvorstellungen beschäftigt zu sein und mehr mit der Herausforderung, die eigenen Empfindungen schriftstellerisch zu intensivieren. Die Frage, ob dieser Ansatz bei der Pragmatik von Unterscheidungen gerechtfertigt und verallgemeinerbar 10 ist, wird im dritten Kapitel dieses Teils diskutiert. Praktische Wirkungen von Unterscheidungen: Was sind nun die Wirkungen von Unterscheidungen selbst und nicht vor allem der unterschiedenen Begriffe? Können hier auch Handlungsformen, Wirkungen auf die Lebensführung und Empfindungs- und Gefühlsqualitäten angegeben werden? Ich will diese Frage nicht direkt beantworten, sondern zuerst die Wirkung, die die Einführung der Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille in der zweiten und dritten Beschreibung des ersten Teils hatte, ihrerseits beschreiben. Zur zweiten Beschreibung: Frau Wollen hat die Unterscheidung im Gespräch mit Herrn Wunsch als Hypothese eingeführt. Das Ausdrucksverhalten von Herrn Wunsch hat dazu den Anlass gegeben: seine Begeisterung nach anfänglicher Zögerlichkeit im ersten Gespräch, sein Schweigen, sein ausweichender Blick, seine abgewandte Körperhaltung im zweiten Gespräch. Die Anwendung der Unterscheidung durch Frau Wollen verarbeitet also bestimmte wahrgenommene Unterschiede. Im Falle der konstruierten Situation verbindet sich mit der Klärung der Frage, ob es sich um einen Wunsch gehandelt hat oder vielleicht um Täuschung oder Angst, ein vitales Interesse, denn davon hängt die Art des moralischen Vorwurfs ab, der hier erhoben werden soll. Der Gebrauch der Unterscheidung scheint damit einerseits einen diagnostischen Zweck zu haben und andererseits orientierend zu wirken, denn er orientiert den Charakter weiterer sich anschließender Handlungen. Für das Gegenüber wirkt die Anwendung der Unterscheidung wie ein Deutungsangebot (oder, je nach sozialem Kontext auch wie ein Deutungszwang) für das eigene Verhalten in der relevanten Situation. Wenn Herr Wunsch das Deu-
Die Frage nach der Verallgemeinerbarkeit scheint mir Peirce in dem Text »How to Make Our Ideas Clear« (1878) in dem schwierigen Diamantenbeispiel zu erwägen.
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tungsangebot annimmt, dann hat die Unterscheidung für ihn eine reflexive Wirkung. Die Unterscheidung stellt eine Möglichkeit bereit, sich selbst und anderen eine Abweichung von Erwartungen und eine Nicht-Einhaltung von Zusagen verständlich zu machen. Selbstverständlich kann so ein Deutungsangebot zurückgewiesen oder angenommen werden, nicht, um etwas zu verstehen, sondern um sich mit dem geringstmöglichen Schaden aus der Affäre zu ziehen. Bleiben wir aber bei der Konstruktion der Situation, dann nimmt Herr Wunsch die Unterscheidung als Deutungsangebot an und gesteht dadurch gleichzeitig ein, den berechtigten Ansprüchen und Erwartungen von Frau Wollen nicht gerecht geworden zu sein. 11 Zur dritten Beschreibung: Hier wird die Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille verwendet, um in einer Diskussion über eine gesellschaftliche Frage wie die Organtransplantation oder die Patientenverfügung einen Deutungsvorschlag zu machen. In unseren Handlungen zeigt sich, welche Überzeugungen wir haben und was wir wollen. Meinungsäußerungen sollten anders bezeichnet werden, am besten als Ausdruck von Wünschen. Als Deutungsvorschlag hat die Anwendung der Unterscheidung hier auch einen reflexiven Zweck. Da der Deutungsvorschlag nun in kritischer Absicht vorgenommen wird und andere für weniger geeignet gehalten werden, sowohl um die Situation zu beschreiben, wie auch um adäquate Maßnahmen für die Situation zu finden, wird mit der Anwendung der Unterscheidung auch ein kritischer Zweck verfolgt. Die Maßnahmen, die sich nahelegen, sind in der dritten Beschreibung nur angedeutet und sind natürlich selber Gegenstand einer genauen Diskussion in der Angewandten Ethik. Aber die Anwendung der Unterscheidung in diesen Zusammenhängen zielt darauf ab, weitere Diskussionen zu orientieren und im Falle der Organtransplantation über eine verstärkte öffentliche Diskussion konkreter Situationen (Stichwort: Aufklärung) und im Falle der Patientenverfügung über die Bedingungen der Bindungskraft von Patientenverfügungen nachzudenken. Die Wirkung der Unterscheidung liegt also auch hier wieder in der Orientierung von Anschlüssen durch weitere Handlungen. In der dritten Beschreibung wird besonders deutlich, dass die Anwendung verschiedener Unterscheidungen verschiedene Darstellungen der
Die Anwendung der Unterscheidung zur moralischen Selbstkritik kann man bei Kant nachvollziehen, vgl. dazu Teil I, Kapitel 2.2.5.
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Pragmatik von Unterscheidungen
Wirklichkeit zur Folge haben. Die Anwendung der Unterscheidung rational-irrational auf die Diskrepanz zwischen Meinungsäußerung und Handlung hat eine ganz andere Sicht der Dinge zur Folge und produziert andere Anschlüsse für Handlungen als die Anwendung der Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille auf eben diese Diskrepanz. Man kann sagen, dass Unterscheidungen wirklichkeitserzeugend wirken können, indem sie die realen Bedingungen ändern. Auf die Frage nach möglichen praktischen Wirkungen von Unterscheidungen haben sich verschiedene Wirkungsweisen herauskristallisiert. Die diagnostische Wirkung von Unterscheidungen besteht darin, Unterscheidungen zur Einordnung von »Gegenständen« (im weiten Sinne) zu verwenden, also zu diagnostizieren: Handelt es sich bei Verhalten x um Handlungsformen, die mit dem Wünschen oder um solche, die mit dem Wollen zu verbinden sind? Die reflexive Wirkung von Unterscheidungen besteht darin, sich durch die Anwendung einer Unterscheidung auf ein Verhalten zurückzubeziehen, es zu deuten und zu verstehen. An solche reflexiv gewonnenen Einsichten könnte sich aber auch eine Verhaltensänderung anschließen und damit würde sich die reflexive zu einer transformativen Wirkung erweitern. Möglicherweise kann die Einsicht von Herrn Wunsch, den Widerstand im öffentlichen Gespräch gegen die Chefin mehr gewünscht als gewollt zu haben, dazu führen, für ihn angemessenere Formen des Widerstands zu entwickeln. Die orientierende Wirkung von Unterscheidungen richtet sich auf die möglichen Anschlüsse durch weitere Handlungen, von denen einige wahrscheinlicher als andere sind. Dabei gäbe es die Möglichkeit, verschiedene Qualitäten zu differenzieren, wie einen öffnenden, explorierenden Charakter oder einen Gewohnheiten tradierenden Charakter. Und die kritische Wirkung manifestiert sich in Bewertungen von Unterscheidungsgewohnheiten als wünschenswert oder problematisch und veränderungswürdig. Zudem wirken Unterscheidungen in verschiedenem Grade wirklichkeitserzeugend. Ob ein Verhalten als irrational oder als Ausdruck eines Wunsches angesehen wird, erzeugt eine andere Realität und verändert die realen Bedingungen. Bei der Verwendung von Unterscheidungen können nun bestimmte Wirkungen wichtiger sein als andere. Die orientierende und die wirklichkeitserzeugende Wirkung scheinen mir besonders grundlegend und eng miteinander verbunden zu sein. Wirklichkeit ist hier nicht verstanden als die Gesamtheit der Umstände, die so sind wie sie sind bzw. die nach eigenen Gesetzlichkeiten ablaufen und die wir mit 397 https://doi.org/10.5771/9783495817360 .
1 · Warum Unterscheidungsforschung spezifisch ist
Hilfe von Unterscheidungen etwa adäquat abzubilden haben. Wirklichkeit ist auch nicht verstanden als der der Vielfalt der Erscheinungen zu Grunde liegende, eigentliche, wesentliche Zusammenhang, der mit Hilfe von richtig eingesetzten Unterscheidungen gewissermaßen herausgeschält wird. Wirklichkeit ist vielmehr etwas, in das wir eingebunden sind, auf das wir reagieren und das wir durch jede unserer Reaktionen ein Stück miterzeugen und verändern. Als abstrakte These ist die Aussagekraft sehr begrenzt. Deshalb ist es wichtig, die Handlungsformen, die Wirkungen auf die Lebensführung und die Empfindungs- und Gefühlsqualitäten zu beschreiben, die die jeweiligen Wirkungen von Unterscheidungen zum Ausdruck bringen. Für die mögliche transformative Wirkung der Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille bei Herrn Wunsch ist damit schon begonnen worden. Möglicherweise verändert die reflexive Wirkung der Unterscheidung Herrn Wunsch und er sucht in Zukunft nach Handlungsmöglichkeiten, die seiner vorsichtigeren und zurückhaltenderen Art angemessener sind. Aus dem Gefühl der eingestandenen Scham Frau Wollen gegenüber kann eine realistischere Selbsteinschätzung des eigenen Mutes folgen. Und es liegt nahe, dass Herr Wunsch sich in Situationen der Begeisterung für die Pläne anderer auch erlaubt, dem Spektrum seiner Empfindungen dazu Ausdruck zu verleihen. Die reflexive Wirkung von Unterscheidungen: Ich möchte mich abschließend mit der Behauptung von Sokolowski auseinandersetzen, jede Unterscheidung habe vor allem eine reflexive, und das heißt für ihn auch eine kontemplative Wirkung. Sokolowski sieht in unserer alltäglichen Verwendung von Unterscheidungen eine Art proto-philosophische Praxis (deshalb steht man mit ihrer genauen Beschreibung sozusagen schon in der Philosophie). Die reflexive/kontemplative Wirkung von Unterscheidungen ist nichts, was ihnen vom Anwender absichtsvoll gegeben werden kann oder auch nicht. Es gehört zur Funktionsweise von Unterscheidungen, reflexiv/kontemplativ zu sein. Was damit gemeint ist, kann die folgende Passage deutlicher machen: Suppose, for example, that we are engaged in a conversation and I am disparaging one of the participants and you reprimand me by saying, »Be more careful about how you talk; you’re not just being ironic, you are getting sarcastic; sarcasm is not irony.« It is not likely that one would explore the distinction between sarcasm and irony in a philosophical treatise; it is more limited in scope than that between anger and hatred, but it is still a some-
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Pragmatik von Unterscheidungen
what philosophical move in the conversation, a slightly contemplative move in the flow of argument. 12
Werden Unterscheidungen, wie »Sarcasm is not irony«, in einem Gespräch explizit eingeführt, ist nach Sokolowski dadurch der Handlungsfluss für einen Moment unterbrochen. Die Aufmerksamkeit wird auf einen allgemeineren Zusammenhang gerichtet und auf die mögliche Deutung der Situation in diesem neuen Licht. Liest man seine beiden Texte zur phänomenologischen Klärung von dem, was Unterscheidungen leisten, im Zusammenhang, lassen sich verschiedene Hinsichten zusammentragen, die diese reflexiv/kontemplative Wirkung genauer erschließen können. 13 Ich möchte die von ihm vorgeschlagenen Hinsichten nicht einfach auflisten und auch nicht an seinen sehr verschiedenartigen Beispielen vorstellen, sondern an der von mir entworfenen zweiten Beschreibung aus dem ersten Teil erläutern. Dafür modelliere ich den Redebeitrag von Frau Wollen dem Vorbild von Sokolowskis Beispiel folgend um. Stellen wir uns vor, wie Frau Wollen zu Herrn Wunsch sagt: Wo: »Weißt du was, ich habe den Eindruck, du willst dich überhaupt nicht einsetzen, du wünschst es dir bloß. Wünschen ist nicht Wollen.«
Wer in dieser Weise eine Unterscheidung in ein Gespräch einbringt, zumal in ein emotional erhitztes Gespräch, reagiert auf ein Gefühl der Unklarheit oder Verwirrung (obscurity) und folgt einem Drang (urge), diese zu klären. Beides wirkt wie eine Art Wahrnehmung, dass hier eine Unterscheidung nötig ist. Frau Wollen ist von dem Verhalten von Herrn Wunsch irritiert und sie weiß es nicht recht zu deuten. Nehmen wir an, er schaut schweigend zur Seite, weicht ihrem Blick aus, wirkt nervös, etwas hilflos, als sie ihm so gegenübersteht. Frau Wollen erinnert sich an den Eindruck der Tatkraft, den sie von ihm bei ihrem ersten Gespräch hatte und sie spricht diesen sich ihr geradezu aufdrängenden Eindruck aus. Indem sie die Unterscheidung zwischen Wünschen und Wollen gebraucht, wendet sie sich auf die vorherigen Gespräche zurück und stellt einen Zusammenhang zwischen beidem her. Das Einspielen einer Unterscheidung unterbricht den Verlauf des Geschehens und fordert einen Abstand dazu ein. Durch die Verwendung der Unterscheidung soll auf etwas aufmerksam gemacht 12 13
Sokolowski, »The Method of Philosophy: Making Distinctions«, a. a. O., S. 525. Ebd., sowie Sokolowski, »Making Distinctions«, a. a. O.
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1 · Warum Unterscheidungsforschung spezifisch ist
werden, was sich im Verlauf der Ereignisse nicht deutlich zeigen konnte. 14 Mit jeder Anwendung einer Unterscheidung wird auch ein Allgemeinheitsanspruch erhoben: Mit ihr wird zwar die Situation geklärt (du wünscht dir das, du willst es gar nicht), aber sie hat auch darüber hinaus Geltung (Wünschen ist nicht Wollen). Die Unterscheidung kann eine Situation klären und neu konturieren, weil sie in der Situation angemessen ist und gleichzeitig über diese Situation hinausreicht. Sie soll auch für andere vergleichbare Situationen gelten und hat nicht nur einen »ad hoc-« Charakter, sondern sogar einen »impact of necessity«. Sokolowskis Überlegungen erscheinen mir wichtig und hilfreich für Situationen wie die in dem geschilderten Gespräch zwischen Frau Wollen und Herrn Wunsch. Aber gilt diese reflexive Wirkung von Unterscheidungen auch für die Unterscheidungsgewohnheiten, in denen wir leben? Dies ist sicher nicht der Fall und Sokolowski hat hier vor allem die sprachlich explizit artikulierten Unterscheidungen der Form: »x ist nicht y« im Blick. Die reflexive Wirkung von Unterscheidungen gilt also dort, wo Unterscheidungen thematisch werden und nicht dort, wo sie operativ sind. Die meisten Unterscheidungen sind aber als Unterscheidungsgewohnheiten operativ. Dem will ich mich im nächsten Abschnitt zuwenden.
1.3 Unterscheidungsgewohnheiten Dass wir inmitten von Unterscheidungsgewohnheiten leben ist wohl plausibel; was für die meisten Bereiche des Alltags gilt, gilt auch für die Verwendung von Unterscheidungen – aber was heißt das genauer? Ich will in diesem Abschnitt den Ausdruck »Unterscheidungsgewohnheiten« konturieren, zeigen, inwiefern Begriffe als Unterscheidungsgewohnheiten aufgefasst werden können und die Kulturabhängigkeit von Unterscheidungen reflektieren. Dabei beziehe ich mich an verschiedenen Stellen auf die drei Beschreibungen aus dem ersten Kapitel des ersten Teils zurück – in Anlehnung an Proust aus der Perspektive der ersten Person, in einer (fingierten) Gesprächssequenz zwischen zwei Dialogpartnern und aus der Perspektive der Sokolowski meint sogar, dass »maßgebliche« Unterscheidungen ein konkretes Vorkommnis das sein lassen, was es ist, vgl. Sokolowski, »Making Distinctions«, a. a. O., S. 653.
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Unterscheidungsgewohnheiten
dritten Person als kritische Einschätzung einer gesellschaftlichen Tendenz. Unterscheidungsgewohnheiten: Mit Gewohnheiten im Allgemeinen wie auch mit Unterscheidungsgewohnheiten sind vielfach wiederholte, gut eingespielte Abläufe gemeint. 15 Sie wirken oft vorsprachlich und orientieren unsere Reaktionsmuster wie auch unsere Aufnahmebereitschaft. Diese sind durch Wiederholungen und ihre Auswirkungen in der Sprache, im Empfinden und Verhalten relativ stabil und sich selbst erneuernd. Dies bedeutet, dass die Gewohnheit eine Vergangenheit mitführt, in der sie schon oft wiederholt worden ist und eine Dynamik zeigt, ihre Wiederholung in der Gegenwart und Zukunft wahrscheinlich zu machen. Dadurch entstehen für die, die in den Gewohnheiten leben, Selbstverständlichkeiten, die gerade dadurch oft gar nicht mehr eigens bemerkt werden. Gewohnheiten fungieren wie Filter von Erfahrungen, durch die nur Bestimmtes gesehen und anderes nicht gesehen bzw. nur Bestimmtes erfahren und anderes nicht erfahren werden kann. Dies erzeugt Vertrautheit mit dem Erfahrungsbereich, bestätigt Abgrenzungsgewohnheiten und bewirkt möglicherweise zunehmende Unvertrautheit mit anderen Erfahrungsmöglichkeiten. In Prousts Beschreibung zeigte sich, inwiefern die Darstellung der »Choreographie des Wünschens« auf gewohnte Abläufe bezogen ist. Die Praxis, jeden Tag den Entschluss zu schreiben zu erneuern, wird durch die tägliche Wiederholung zu einer gut unterscheidbaren und wiedererkennbaren Beschäftigung. Auch Wahrnehmungen können als Unterscheidungen und Unterscheidungsgewohnheiten aufgefasst werden. Arbogast Schmitt greift die aristotelische Auffassung, jede Wahrnehmung sei eine Unterscheidung, in seiner Unterscheidungsphilosophie auf. 16 Der locus classicus für das Nachdenken über Gewohnheiten ist natürlich die HexisLehre von Aristoteles in der Nikomachischen Ethik. Ich werde hier nicht im Einzelnen darauf eingehen. 16 Schmitt kontrastiert die antike Philosophie von Platon und Aristoteles als »Unterscheidungsphilosophie« mit der »Bewusstseinsphilosophie« der Moderne. Unterscheidungstätigkeiten beschränken sich keinesfalls nur auf bewusste Akte, sondern bilden einen Komplex aus Wahrnehmungen, Lust- und Unlustgefühlen und Kognitionen. Wahrnehmungen sind Unterscheidungen elementarer Art, über die auch Tiere verfügen, wenn sie zwischen Nahrung und Nicht-Nahrung oder zwischen Gefahren und Nicht-Gefahren unterscheiden. Vgl. Arbogast Schmitt, Die Moderne und Platon. Zwei Grundformen europäischer Rationalität, 2., überarb. Aufl., Stuttgart 2008. 15
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Es stellt sich die Frage, wie solche Gewohnheiten überhaupt veränderbar sind. Proust zeigt in seiner literarischen Darstellung des Weges, vom Wunsch zu schreiben ins Schreiben überzugehen, welchen Anteil dabei die leibliche Erinnerung von Empfindungen hat, sowie die Reflexion auf diese Empfindungen als Widerspiegelungen einer »Welt« wie die Bereitschaft, einen gewohnten Zustand aufzugeben (von dem aus die Wünsche produziert werden). 17 In der dritten Beschreibung ist die Situation für die Veränderung von Unterscheidungsgewohnheiten eine ganz andere. Hier haben wir es nicht mit eingeschliffenen individuellen Gewohnheiten zu tun, die durch ihre selbststabilisierende Kraft manchmal unerschütterlich wirken, sondern mit einem öffentlichen Diskurs, in dem verschiedene Beschreibungsgewohnheiten, zum Teil gestützt durch theoretisch abgesicherte Unterscheidungsgewohnheiten, in Konkurrenz stehen. Eine öffentliche Diskussion hat die Funktion, verschiedene Unterscheidungsgewohnheiten zum Ausdruck und in die gegenseitige Kritik kommen zu lassen. Wenn dies in Bezug auf manche Themen auch nur der Möglichkeit nach gilt, liegt doch genau in dieser (wenn auch ungenutzten) Möglichkeit der Anknüpfungspunkt für die Veränderung von öffentlich geteilten Gewohnheiten. Begriffe als Unterscheidungsgewohnheiten: Ebenso ist die Verwendung von Begriffen weitgehend als Unterscheidungsgewohnheit zu charakterisieren. Arno Ros bestimmt Begriffe als Unterscheidungsgewohnheiten, und das heißt genauer als »Bezugspunkte für die Einordnung von Gegenständen«. 18 Einen Begriff zu verwenden heißt demnach, mit Rückgriff auf einen gewohnheitsmäßig verwendeten Bezugspunkt zu entscheiden, ob ein Gegenstand darunter eingeordnet werden soll oder nicht. Wenn Proust zum Beispiel verschiedene Typen benennt, für die die »Choreographie des Wünschens« in besonderem Maße gelten soll, den Trägen, den Religiösen, den Künstler, den Süchtigen, dann verstehen wir ihn deshalb, weil wir über Fähigkeiten und Erfahrungen verfügen, Personen in bestimmten Situationen oder Lebensphasen als träge, religiös, künstlerisch oder süchtig Diese Deutung ergibt sich aus dem Kontext der in der ersten Beschreibung ausgewerteten Stellen. Den letzten Punkt hat Proust in seinen Reflexionen auf die Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille betont, vgl. dazu die Darstellung in Teil I, Kapitel 1.1. 18 Vgl. Arno Ros, »Was ist Philosophie?«, in: R. Raatzsch (Hg.), Philosophieren über Philosophie, Leipzig 1999, S. 36–58, S. 48. 17
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Unterscheidungsgewohnheiten
einzuordnen und sie von zupackenden, atheistisch gesonnenen, technokratischen oder »cleanen« zu unterscheiden. Wenn wir die dritte Beschreibung zu den Themen Organtransplantation und Patientenverfügung betrachten, dann geht es hier darum, eine bestimmte weitverbreitete Unterscheidungsgewohnheit zu kritisieren und zu verändern. Vielfach kann man nämlich auf die Unterscheidungsgewohnheit treffen, Abweichungen zwischen geäußerten Meinungen und Handlungen als »irrational« und damit unter Zuhilfenahme der Unterscheidung rational-irrational zu beschreiben. Dies wird durch die weithin geteilte Gewohnheit gestützt, den engen Bereich von sogenannten rationalen Verhaltensweisen gegenüber dem großen Bereich von »irrationalen« leiblichen und emotionalen Ausdrucksformen abzugrenzen. Man könnte den Bereich der leiblichen und emotionalen Ausdrucksformen genauso gut »nicht-rational« oder »vorrational« nennen oder gar die Rede von »Rationalität« und »Irrationalität« ganz ersetzen durch »Überzeugungen, die sich in Handlungen zeigen«, auf der einen, und »Meinungen, die sich nicht in entsprechenden Handlungen zeigen müssen«, auf der anderen Seite. Kulturabhängigkeit von Unterscheidungsgewohnheiten: Unser gesamtes Sprechen, Handeln und Wahrnehmen ist durchzogen von bzw. gebildet durch Unterscheidungsgewohnheiten und es ist kein Sprechen, Handeln und Wahrnehmen, kein Empfinden und Fühlen jenseits solcher Unterscheidungsgewohnheiten denkbar. Bei geteilten Gewohnheiten, bei denen Sprache, Handeln und Empfindungsformen miteinander verwoben sind, wird in der neueren Philosophie häufig von »Praktiken« gesprochen. Unterscheidungsgewohnheiten selbst können in der Regel nur im Kontrast zu anderen Unterscheidungsgewohnheiten gesehen werden oder werden auffällig, wenn ihre Funktionalität nicht mehr gegeben ist. Die beschreibende Unterscheidungsforschung ist so einerseits darauf verwiesen, Varianz herzustellen und Unterscheidungsgewohnheiten in ihrer Vielfalt zu beobachten. Das Studium anderer Sprachen und Kulturen 19, wie auch
Den Ausdruck »Unterscheidungsgewohnheiten« habe ich in der kleinen Studie »Unterscheidungsgewohnheiten, Unterscheidungsstrukturen – literarisch und philosophisch reflektiert« anhand eines literarischen Beispiels zu der Unmöglichkeit, sich in der japanischen Sprache ohne geschlechtliche Informationen über sich selbst selbst zu bezeichnen, also »Ich« zu sagen, etwas weiterentwickelt. Vgl. Wille, »Unterschei-
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1 · Warum Unterscheidungsforschung spezifisch ist
historische Studien oder die Arbeit mit experimentell erstellten Variationen sind dafür geeignete Möglichkeiten. Im Vergleich der Sprachen und Kulturen sehen wir zum Beispiel verschieden ausgebildete Gewohnheiten in Bezug auf die »Gliedrigkeit« oder »Stelligkeit« von Unterscheidungen. Betrachten wir viele unserer Unterscheidungen genauer, so kann man gerade im Kulturvergleich eine gewisse Vorliebe für zweistellige Unterscheidungen beobachten. Es ist aufschlussreich, verschiedene Kulturen auf ihre Gewohnheiten und Präferenzmuster für die Gliedrigkeit oder Stelligkeit von Unterscheidungen hin zu befragen. In der technischen Moderne des Westens herrschen die binären Codierungen vor, wie beim An und Aus der elektrischen Schaltkreise oder der 0 und 1 bei der Programmierung von Computern. In der chinesischen Tradition wird die Welt als Ineinanderschachtelung von Schichten verstanden und die Schichten folgen verschiedenen Unterscheidungsmustern. Die erste Differenzierungsebene ist dabei die der binären Pole zwischen Yin-Chi und Yang-Chi, die sich – anders als die binären Codierungen unseres Kulturkreises – gegenseitig hervorbringen und ineinander enthalten sind. Eine weitere Schicht im klassisch chinesischen Aufbau der Welt ist ein pentatonisches Muster der fünf Wandlungsphasen. 20 Kennzeichnend für die indische Tradition sind dagegen feingliedrige Reihenbildungen und vielfache Differenzierungen wie z. B. die fünf Daseinsfaktoren (skandhas) oder der achtfache Pfad. 21 Ein Blick auf andere Kulturen und Sprachen kann uns davor bewahren, unsere Unterscheidungsgewohnheiten für den selbstverständlichen Ausgangspunkt zu halten. Das ist leichter gesagt als wirklich vollzogen und von dem französischen Philosophen und Sinologen François Jullien können wir lernen, wie groß die Erkenntnisgewinne sind, wenn wir z. B. den »Umweg über China« gehen und uns unsere Unterscheidungsgewohnheiten dadurch fremd und merkwürdig werden lassen. Wie würde sich die Wirklichkeit, die wir kennen, verändern, wenn die Unterscheidung zwischen Diesseits und Jenseits ihren Sinn verlöre? Ganze Sprachspiele würden aufgelöst, denn das Sprachspiel des Diesseitigen gegenüber dem Jenseitigen dungsgewohnheiten, Unterscheidungsstrukturen – literarisch und philosophisch reflektiert«, a. a. O. 20 Vgl. Gudula Linck, Leib und Körper. Zum Selbstverständnis im vormodernen China, Frankfurt a. M. 2001, S. 168 ff. 21 Vgl. Rolf Elberfeld, Phänomenologie der Zeit im Buddhismus. Methoden interkulturellen Philosophierens, Stuttgart-Bad Cannstatt 2004, S. 71 ff.
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Unterscheidungsgewohnheiten
taucht in vielen Varianten auf, die unsere theoretische und praktische Tradition zutiefst prägen: Immanenz und Transzendenz, Welt und Gott, Unsterblichkeit der Seele, Vergänglichkeit und Ewigkeit. Ganze Handlungsformen, Institutionen und Theorieformen verlören ihren Halt: Kirchen, Gottesbeweise, Theorien über die Unsterblichkeit der Seele. Mit den Handlungsformen engstens verbunden sind Kulturen der Wahrnehmung und der Gefühle, die nicht mehr auftauchen würden: Angst vor dem Jüngsten Gericht, Sehnsucht nach dem Paradies. Welche anderen Sprachspiele, Theorie- und Praxisformen, bedrängenden oder befreienden Gefühle ohne diese Unterscheidung entstehen können, ist in unsere Tradition kaum zu übersetzen, geschweige denn zu integrieren. Diese wenigen und pauschalen Hinweise, die von Spezialist_innen für komparative Philosophie fundiert werden müssten, sollen Eines zeigen: Wir erzeugen in Abhängigkeit davon, welche Unterscheidungsgewohnheiten wir verwenden, eine je andere kulturelle Wirklichkeit. Die Ausprägung von Unterscheidungsgewohnheiten ist natürlich kein Akt der subjektiven Willkür, sondern ist angewiesen auf die Eingebundenheit in kulturelle Praktiken, in denen sich mit sprachlichen Unterscheidungen verbundene Handlungsspielräume eröffnen.
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2. Kapitel: Warum Unterscheidungsforschung inhaltsgesättigt ist
Einleitung zum zweiten Kapitel Der Anspruch, Unterscheidungen als Unterscheidungen zu thematisieren, kann leicht isoliert betrachtet werden. Die alte philosophische Figur, etwas als etwas, etwas als es selbst zu erkennen, wird oft unabhängig von den vielen Varianten des Gebrauchs an sich selbst durchgespielt. Im Falle von Unterscheidungen könnte man versucht sein, eine formale Struktur von Unterscheidungen als solchen zu ermitteln und von dieser her den Unterscheidungsgebrauch zu analysieren. Ich will drei Gründe nennen, warum eine isolierte Formbetrachtung von Unterscheidungsweisen nicht sinnvoll ist. Die Beschäftigung mit Varianten des Unterscheidens erhält ihre Relevanz und Legitimation erstens durch Anlässe, Schwierigkeiten oder Streitigkeiten. Die Gefahren einer isolierten Betrachtung finden sich gewissermaßen im historischen Gedächtnis der Unterscheidungsforschung. Die scholastischen Distinktionsanalysen sind zu einem Stück filigraner Schulmetaphysik geworden, deren pragmatische Relevanz so sehr in den Hintergrund getreten ist, dass sie für die weitere philosophische Arbeit hinfällig geworden ist. 1 Der zweite Grund besteht darin, dass in der Tradition der Geschichte der Philosophie verschiedenste Bestimmungen des Unterscheidungsvokabulars wie »Unterscheidung«, »Unterschied«, »Verschiedenheit«, »Differenz« vorliegen, die in mehreren Disziplinen der Philosophie entwickelt wurden. 2 Es ist gar nicht klar, in welcher Disziplin und mit welchen Mitteln die Formen von Unterscheidungen verhandelt werden sollten. In erkenntnistheoretischen, metaphysischen und logischen Traktaten der Tradition finden sich Betrachtun-
Vgl. dazu die dritte Skizze im Abschnitt i der allgemeinen Einleitung. Vgl. die Überlegungen zum begrifflichen Feld in der allgemeinen Einleitung, Abschnitt vi.
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Einleitung zum zweiten Kapitel
gen der geistigen Operation des Unterscheidens (vgl. z. B. Locke 3), zur Kategorie des Unterschieds (vgl. z. B. die Metaphysik des Aristoteles 4) und zu konträren und kontradiktorischen Unterscheidungen bzw. Gegensätzen (vgl. z. B. Analytica priora von Aristoteles 5). Diese disziplinäre »Zerstreuung« zeigt, dass offen ist, in welche Disziplin der Philosophie die Beschäftigung mit Unterscheidungen eigentlich gehört oder ob sie nicht vielmehr einer Einteilung der Disziplinen vorausgehen müsse. Daraus folgt für die Unterscheidungsforschung, dass sie sich mit den historischen Vorlagen beschäftigen und entweder daran anschließen oder sich kritisch dazu verhalten muss. Der dritte Grund ergibt sich gleich aus dem zweiten. Wird der Begriff »Unterscheidung« als solcher und in Abstraktion von inhaltlichen Fragen behandelt, dann besteht die Gefahr, dass eine eingeschränkte Form des Unterscheidens als allgemeingültig angesetzt wird und die normativen Setzungen gar nicht bemerkt werden. Hier ist kritische Reflexion nötig, um diese Grenzüberschreitung sichtbar zu machen. Dies ist eine der Aufgaben, die sich die Philosophien stellen, die ich »Differenztheorien des 20. Jahrhundert« 6 nenne, wenn z. B. Deleuze an Aristoteles kritisiert, dass dieser den konträren Gegensatz für die ausgezeichnete Figur des Unterscheidens halte. 7 Die Abstraktion von Formen aus sachhaltigen Zusammenhängen ist leicht voreilig, sodass nur vermeintlich allgemeingültig ist, was per Abstraktion gewonnen wurde. Oft wird über illustrierende Beispiele indirekt und nicht methodisch kontrolliert Anschaulichkeit hergestellt, die wiederum auf bestimmte Anwendungen festlegt, sodass sich in abstrakte Zusammenhänge leicht und wiederum methodisch unkontrolliert Vorstellungen hineinmischen. Über die Möglichkeiten und Grenzen der allgemeinen Betrachtung von Unterscheidungen muss also intensiv nachgedacht werden. Ich will mich in diesem Kapitel mit allgemeinen Überlegungen zu Unterscheidungen und Unterscheidungsweisen beschäftigen, in denen dieses Problem reflektiert wird. Jeder dieser Beiträge nimmt eine Locke, An Essay concerning Human Understanding, II.11. Aristoteles, Met. VII 12; VIII 6; X 3. 5 Aristoteles, An. pr. I 2. 6 Vgl. zu diesem Ausdruck die Überlegungen zur Forschungslage in der allgemeinen Einleitung, Abschnitt v. 7 Deleuze, Differenz und Wiederholung, 2. korr. Aufl., München 1997, S. 51 f. (Übersetzung Joseph Vogl). 3 4
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2 · Warum Unterscheidungsforschung inhaltsgesättigt ist
sehr grundsätzliche Frage unseres Unterscheidungsgebrauchs auf und entwickelt daraus Vorschläge, Unterscheidungsweisen zu differenzieren. Auch daran zeigt sich der Inhalts- und Anlassbezug von allgemeinen Überlegungen zu Unterscheidungen. Ich verstehe alle drei Beiträge als wichtige Vertiefungen der doppelten Aufmerksamkeit. Dies betrifft sowohl die Fragestellungen, wie auch die Differenzierungen von Unterscheidungsweisen. Nachdenken über unseren Unterscheidungsgebrauch ist dann wichtig, wenn es um die existentielle Dringlichkeit von Unterscheidungen geht. Die Schwierigkeiten, die dabei auftauchen, haben nicht immer nur mit der Sache, sondern auch mit den Verfahren und Praktiken des Unterscheidens zu tun. Ich will zeigen, inwiefern Platons Sophistes als Beitrag zu dieser Frage gelesen werden kann. Das Nachdenken über Unterscheidungen wird auch nötig, wenn eingespielte Unterscheidungen als Einschränkung erlebt werden. Dies kann in lebensweltlichen Zusammenhängen der Fall sein, aber auch in theoretischen Fragen. Um die Art der Einschränkung zu verstehen und mögliche Alternativen zu finden, können Unterscheidungen zurückgenommen werden. Dies ist keine einfache Elimination und auch keine Zurückweisung, sondern eine Art Erkundung, wie die als problematisch empfundene Unterscheidung eigentlich funktioniert und wie sie aufgebaut ist. Es werden dabei Strukturen von Unterscheidungen sichtbar. Wird diese Erkundung auch auf solche Unterscheidungen ausgedehnt, die die Begrifflichkeit des Unterscheidens selbst betreffen, wie die Unterscheidung zwischen Unterscheidungen und Unterschieden, dann können Hinsichten gewonnen werden, um Aufbau und Funktion von Unterscheidungen analysieren und variieren zu können. Die Reflexion auf Unterscheidungen kann sich zudem an der Einsicht entzünden, dass wir in Unterscheidungen verstrickt sind und dass es keine Möglichkeit gibt, Unterscheidungen von außen zu überblicken. Versuche, wie die, Praktiken des Unterscheidens oder Strukturen von Unterscheidungen zu gewinnen, finden inmitten des Unterscheidungsgebrauchs statt bzw. sind selber ein Umgang mit Unterscheidungen. Diese irreduzible Vorgängigkeit von Unterscheidungen vor unseren Versuchen, sie zu analysieren und aktiv zu gestalten, gibt Anlass dazu, von dieser Perspektive her Unterscheidungsweisen zu differenzieren. Die Grenze eines analysierenden und reflektierenden Umgangs mit Unterscheidungen liegt zudem darin, dass unsere Unterscheidungen abhängig sind von einer Mannigfaltigkeit mini408 https://doi.org/10.5771/9783495817360 .
Einleitung zum zweiten Kapitel
maler Unterschiede, die sich dem Zugriff durch Unterscheidungen entziehen. Unterschiede sind in dieser Betrachtung nicht der reale Bewährungsgrund unserer Unterscheidungen, sondern die Grenze unseres Unterscheidungsgebrauchs. Deleuze hat den Versuch unternommen, Unterscheidungsweisen zu differenzieren, die der Einsicht in die Vorgängigkeit wie auch den sich entziehenden Unterschieden Ausdruck geben können. Ich will diese Fragestellungen im Folgenden in etwas allgemeinerer Perspektive entwickeln, um die Anlässe für die dadurch notwendigen Untersuchungen in den einzelnen Abschnitten dieses Kapitels plastischer werden zu lassen.
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Zur existentiellen Dringlichkeit von Unterscheidungen
Unterscheidungsfragen haben oft eine hohe existentielle Dringlichkeit. Dies können Fragen nach schwierigen und folgenreichen Grenzziehungen sein. Wann ist etwas gefährlich und wann ist es herausfordernd? Wann ist ein Redebeitrag ironisch und wann sarkastisch? Die Fähigkeit, solche und ähnliche Grenzziehungen vorzunehmen, wird oft »Unterscheidungsvermögen« genannt. Es ist ein hohes Erziehungsziel, das Unterscheidungsvermögen junger Menschen auszubilden und zu stärken. Und dennoch gibt es viele Beispiele dafür, wie das Unterscheidungsvermögen ganzer Gesellschaften fehlgeleitet sein kann. Spätestens dann ist es wichtig, über Unterscheidungen und ihren Gebrauch selbst nachzudenken. Der platonische Dialog Sophistes beginnt mit genau einem solchen Problem. Der Kontext der Rahmenerzählung ist das fehlgeleitete Unterscheidungsvermögen der Athener Gesellschaft. Sokrates’ Wirken durch seine beharrliche Gesprächsführung wird nicht als Beitrag öffentlicher Selbstverständigung aufgefasst, sondern als Einführung einer neuen Religion zurückgewiesen. Und weil er dadurch die Jugend aufwiegele und die öffentliche Ordnung störe, sei es rechtens, ihn zum Tode zu verurteilen. 8 Um dieses Urteil der Athener kritisieren zu können, ist es nach Platon wichtig, noch eine weitere Unterscheidung mit ins Spiel zu bringen. Der Philosoph Sokrates muss nicht nur von einem irregelei8 Auf den Sophistes wurde schon zu Beginn der allgemeinen Einleitung, Abschnitt i Bezug genommen. Hier ist nun der Ort, diesen Initialtext der Unterscheidungsforschung ausführlicher zu besprechen.
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2 · Warum Unterscheidungsforschung inhaltsgesättigt ist
teten Religionsstifter unterschieden werden, sondern auch von den Sophisten. In Platons Perspektive trifft der Vorwurf, die Jugend zu verführen, viel eher die Sophisten und nicht Sokrates. Also ergibt sich die Notwendigkeit, die Unterscheidung zwischen Sophist und Philosoph selber zum Gegenstand des Nachdenkens zu machen. Wie muss man die Unterscheidung zwischen Sophist und Philosoph verstehen und gebrauchen, damit klar wird, dass Sokrates ein Philosoph und kein Sophist ist? Eine der wesentlichen Einsichten ist, dass diese Frage nicht allein mit Blick auf den Inhalt der Unterscheidung beantwortet werden kann. Platon führt vor, dass die alleinige Konzentration auf die inhaltliche Bestimmung des Sophisten und des Philosophen zu einem Ergebnis führen kann, in dem Sophist und Philosoph ununterscheidbar geworden sind. Denn durch diese ausschließliche Konzentration auf die Inhalte kann nicht bemerkt werden, dass die Art und Weise, wie diese Inhalte gewonnen werden, die Inhalte selber formt oder verformt. Es ist also unabdingbar, die Verfahrensweisen mit in die Betrachtung einzubeziehen. Das ist das erste wichtige Ergebnis des Dialogs. Platon betrachtet drei Verfahrensweisen, zwischen Sophist und Philosoph zu unterscheiden, und zeigt vor allem ihre problematischen Extremformen auf. Das Wissen darum, dass man eine Verfahrensweise des Unterscheidens verwendet und die Angabe der Regeln, die dabei befolgt werden, reichen nicht aus. Die Untersuchung muss weitergehen und es muss nach den Gründen gefragt werden, wieso es bei den Verfahren zu problematischen Extremformen kommen kann. Diese kritische Untersuchung bedarf nun selbst eines Verfahrens, das einen eigentümlichen doppelten Status hat. Einerseits ist es ein Verfahren neben den anderen drei genannten und andererseits hat es einen ganz anderen Charakter, weil damit die begrifflichen Tätigkeiten in Frage stehen, die man vollziehen muss, indem man sie betrachtet. In diesem selbstreflexiven Verfahren zeigt sich die gegenseitige Abhängigkeit und Wechselbezüglichkeit der grundlegenden begrifflichen Tätigkeiten, die Platon als »Grundbegriffe« (megista gene) bezeichnet. Mit dieser Einsicht kann nun an solchen Verfahren Kritik geübt werden, die allein die Trennungen, z. B. in Form von pauschalen Entgegensetzungen, zwischen Begriffen betonen. Und es kann Kritik an dem Anspruch geübt werden, Verfahrensweisen ungeachtet der besonderen Inhalte auf alles anzuwenden und zu formalen und darum allgemeingültigen Verfahren zu erklären. Damit existentiell wichtige Grenzziehungen gelingen können, muss das Wechselver410 https://doi.org/10.5771/9783495817360 .
Einleitung zum zweiten Kapitel
hältnis zwischen Trennen und Beziehen und zwischen Formen und Inhalten mitbedacht und für das jeweilige Anliegen ausgewiesen werden. Die vorgeschlagene Lektüre des Sophistes hat für das Anliegen der Unterscheidungsforschung in dreierlei Hinsicht eine große systematische Bedeutung. Erstens ist damit die Begründung und Rechtfertigung der doppelten Aufmerksamkeit auf die Inhalte von Unterscheidungen einerseits wie auf Unterscheidungsweisen andererseits gegeben. Zweitens werden vier sehr grundlegende Verfahrensweisen des Unterscheidens diskutiert, die über die Fragen des Dialogs hinaus Verwendung finden und in ihren Möglichkeiten und Grenzen als »Praktiken des Unterscheidens« betrachtet werden sollen. Drittens führt der Dialog zu der Einsicht, dass die grundlegende Tätigkeit des Unterscheidens doppelt zu bestimmen ist, nämlich als Trennen und als Beziehen. Beide bilden ein unauflösliches Wechselverhältnis. An diese »dialektische« Einsicht wird im dritten Kapitel dieses Teils wieder angeknüpft, um sie weiter auszuführen. Denn nach meinem derzeitigen Verständnis geht Platon hier nicht weiter. Die skizzierte Lektüre des Sophistes führe ich im ersten Abschnitt dieses Kapitels vor (2.1 Praktiken des Unterscheidens).
b)
Unterscheidungen zurücknehmen
Unterscheidungen erfüllen Ordnungsleistungen, die uns in den meisten Fällen zur Gewohnheit geworden sind. Wiederholungen und Gewohnheitsbildungen sind strukturbildend, indem sie das Handeln orientieren und Bereiche der Wirklichkeit über die Wiedererkennung der jeweiligen Unterschiede geordnet werden. Wir sind es gewohnt, die Zusammenhänge um uns herum unter Verwendung von Begriffen so oder so zu ordnen. Viele Unterscheidungen, die für unsere alltägliche Orientierung vielleicht gar nicht so wichtig sind, wie die Unterscheidung zwischen Diesseits und Jenseits, prägen den kulturellen Rahmen, in dem wir uns bewegen. Die Konsequenzen, die diese oder andere Unterscheidungen für unsere kulturelle Wirklichkeit haben, werden oft erst in der Konfrontation mit anderen Unterscheidungsgewohnheiten auffällig. Die Erfahrung, dass andere anders unterscheiden oder das, was für uns selbstverständlich ist, möglicherweise gar nicht unterscheiden, kann Anlass dafür geben, gewohnte oder gar nicht bemerkte Unterscheidungen zu betrachten, zu kritisieren, zu411 https://doi.org/10.5771/9783495817360 .
2 · Warum Unterscheidungsforschung inhaltsgesättigt ist
rückzuweisen oder zu verändern. Manche Unterscheidungsgewohnheiten können als einschränkend empfunden werden. Erfahrungen von Einschränkungen durch Unterscheidungsgewohnheiten sind für viele kritische Reflexionen auf bestimmte Unterscheidungen sehr wichtig. Dies gilt zum Beispiel in hohem Maße für die Geschlechterunterscheidung. Die Erfahrung, in sehr vielen Lebensbereichen als männlich oder weiblich eingeordnet zu werden, ist für viele Menschen aus verschiedenen Gründen sehr beschränkend. Solche Erfahrungen können den Anlass dafür geben, Möglichkeiten zu erkunden, die Unterscheidung zurückzunehmen. Dies ist vor allem für Unterscheidungen, die uns selbstverständlich sind, sehr schwierig. Und im Falle von Unterscheidungen, die mit großer Macht als »unhintergehbar«, »unabdingbar«, »eine Zugehörigkeit sichernd« oder »ein bestimmtes Niveau garantierend« angesehen werden, kann dies sogar mit dem Risiko verbunden sein, sich ins lebensweltliche oder intellektuelle Abseits zu befördern. Unterscheidungen zurückzunehmen, heißt natürlich nicht einfach, zu behaupten, es wäre nicht sinnvoll, diese Unterscheidung zu verwenden. Es ist deshalb kein Negationsvorgang, im Sinne einer Behauptung, eine Unterscheidung würde nicht gelten, und auch kein Abstraktionsvorgang, verstanden als methodische Abblendung bestimmter Aspekte zum Zwecke der Gleichbehandlung unterschiedener Gegenstände oder Sachverhalte. Unterscheidungen zurückzunehmen ist eine Erkundung, wie die jeweilige als problematisch, irritierend oder einschränkend empfundene Unterscheidung aufgebaut ist und welche Funktionen sie erfüllt. Dabei zeigt sich, dass Unterscheidungen sehr verschieden aufgebaut oder strukturiert sein können. Ob eine Unterscheidung zum Beispiel zweioder dreigliedrig ist, macht für die Geschlechterunterscheidung einen großen Unterschied. Empfundene Einschränkungen können mit solchen Strukturen von Unterscheidungen zu tun haben. Wird ein solcher Zusammenhang zwischen der Struktur einer Unterscheidung und einer Einschränkungserfahrung gesehen, könnten sich politische Akte anschließen. Einige der Menschen, die im zweigeschlechtlichen System keinen Platz finden, könnten beispielsweise für die Aufhebung der zweigliedrigen Geschlechterunterscheidung kämpfen und für die Verwendung einer drei- oder mehrgliedrigen Geschlechterunterscheidung eintreten. Das Vorgehen, Unterscheidungen zurückzunehmen und dabei auf ihre Strukturiertheit zu achten, kann Anlass dazu geben, bestimmte Strukturen oder ganze Unterscheidungen zu kritisieren und zurückzuweisen. 412 https://doi.org/10.5771/9783495817360 .
Einleitung zum zweiten Kapitel
Durch die Erkundung der Vielfalt möglicher Strukturen von Unterscheidungen wird die Einsicht in die Variabilität erhöht und die Unterscheidung wird immer unbestimmter. So kann die Frage auftauchen, welche Konsequenzen es hätte, die Unterscheidung gar nicht zu verwenden, sondern bestimmte Zusammenhänge vielleicht ununterschieden und unbestimmt zu lassen. Dies kann dann eine produktive Fragestellung sein, wenn Unterscheidungen sich verfestigt haben und Erfahrungen eher zu verhindern, als zu ermöglichen scheinen. Für das Anliegen der Unterscheidungsforschung ist das Vorgehen, Unterscheidungen zurückzunehmen, eine weitere wichtige Übung in doppelter Aufmerksamkeit, die bestimmte Einsichten in Unterscheidungen ermöglicht, aber auch eine große verändernde Kraft freisetzen kann. Ich will dies Vorgehen in diesem Zusammenhang an einer Unterscheidung durchführen, die für das Nachdenken über Unterscheidungen von großer Bedeutung ist, nämlich der Unterscheidung zwischen Unterscheidungen und Unterschieden. Wird diese Unterscheidung zurückgenommen, kann zum einen deutlich werden, was es genauer heißt, dass Unterscheidungen strukturiert sind und welche Hinsichten es geben könnte, um diese Strukturen zu analysieren und zu variieren. Zum anderen kann die begriffliche Korrelation Unterscheidungen – Unterschiede in ihrer Funktion und ihrem Aufbau betrachtet werden (2.2 Strukturen von Unterscheidungen).
c)
In Unterscheidungen verstrickt
In beiden skizzierten Beiträgen ist die doppelte Aufmerksamkeit realisiert und es deutet sich die jeweilige Produktivität für philosophische Fragen an. Die gewonnenen Differenzierungen ermöglichen eine analysierende und reflexive Betrachtung von Unterscheidungen. Die Praktiken des Unterscheidens und die Strukturen von Unterscheidungen können auf die Beschäftigung mit anderen Unterscheidungen übertragen werden und haben deshalb auch den Charakter von Werkzeugen. Ich habe von diesen Werkzeugen vor allem im zweiten und dritten Kapitel des ersten Teils Gebrauch gemacht. Dieses zweite Kapitel hat deshalb auch die Funktion, den methodischen Hintergrund für die Analysen und die kritischen Diskussionen im ersten Teil zu präsentieren. Die Präsentation der Praktiken des Unterscheidens und 413 https://doi.org/10.5771/9783495817360 .
2 · Warum Unterscheidungsforschung inhaltsgesättigt ist
der Strukturen von Unterscheidungen als Werkzeuge zur Analyse von Unterscheidungen birgt nun aber die Gefahr einer Reduktion von Unterscheidungen auf Instrumente, die zu bestimmten Zwecken eingesetzt werden können. Das wäre zu kurz gegriffen, denn Unterscheidungsweisen sind Werkzeuge oder Instrumente, die selber von dem Gebrauch machen, was sie modellieren helfen sollen. Es werden Unterscheidungen verwendet, um Unterscheidungen zu analysieren. Es gibt keinen Standpunkt außerhalb von Unterscheidungen. Die Unterscheidungen über den Unterscheidungsgebrauch vollziehen sich im Unterscheidungsgebrauch. Es kann keine Perspektive der neutralen Beobachtung geben, sondern nur eine, die immer schon in Unterscheidungen verstrickt ist und der eine Fülle von Unterscheidungen vorausgehen. Es gilt, diesen Punkt eigens zu stärken und ihn als expliziten Ausgangspunkt für das Nachdenken über Unterscheidungen zu wählen. Es gibt Unterscheidungen, die auf einen Gegenstandsbereich angewandt werden, aber nicht auf den zutreffen, der die Unterscheidung verwendet, wie zum Beispiel die Unterscheidungen zwischen Obstsorten. Wer sie verwendet, um sich zu orientieren, welche Obstsorten in einem üppigen Obstsalat verarbeitet sind, ist selber keine Obstsorte. Andere Unterscheidungen, wie zum Beispiel die Geschlechterunterscheidung, ist dagegen eine, die alle, die sie verwenden, selbst betrifft, indem sie sich selbst mittels dieser Unterscheidung unterscheiden müssen. Die Geschlechterunterscheidung ist also ein Werkzeug, das seinen Verwender selbst formt. Durch Unterscheidungen wie die Geschlechterunterscheidung werden diejenigen, die sie verwenden, zu dem, was sie sind. Für Unterscheidungen als solche gilt das Gleiche wie für die Geschlechterunterscheidung. Der Bezug auf den Gegenstand impliziert einen Selbstbezug und noch stärker, er wirkt produktiv. Diese Vorgängigkeit von Unterscheidungen gegenüber deren Verwendern und die formende, produktive Wirkung von Unterscheidungen sind sprachlich und begrifflich schwer zu fassen, weil sie einen Überstieg über unsere Perspektive als Verwender von Unterscheidungen erfordern. Deleuze stellt sich in seiner Differenzphilosophie den Grenzen des üblichen Unterscheidungsgebrauchs und versucht, einerseits die unüberblickbare Fülle von Unterschieden, die nicht wahrgenommen werden können und sich dem unterscheidenden Zugriff entziehen, ins Denken und in die Begriffsbildung einzubeziehen. Andererseits fragt er nach Unterscheidungsweisen, die den Überstieg über den üb414 https://doi.org/10.5771/9783495817360 .
Praktiken des Unterscheidens
lichen Unterscheidungsgebrauch zum Ausdruck bringen können (2.3 Unüberblickbarkeit und Vorgängigkeit).
2.1 Praktiken des Unterscheidens Die platonischen Dialoge beginnen mit einer Situationsbestimmung: Wer spricht mit wem warum in welchem Kontext worüber. Geht man den historischen Anspielungen nach, gewinnen diese Situationen an Kontur und auch an Bedeutung für die gedankliche Entwicklung. Für die Situation, die zu Beginn des Sophistes entworfen wird, ist zweierlei charakteristisch. Es geht um die sachliche Verständigung über die Unterscheidung zwischen Sophist und Philosoph (und Staatsmann), 9 und um Verfahrensweisen, wie diese Unterscheidung gefunden und besprochen werden soll. Die Personenkonstellation, die dafür gewählt wird, spiegelt geradezu die sachlichen und methodischen Fragen wider. Es stehen sich Sokrates, ein Fremder aus Elea und die philosophisch interessierten Mathematiker Theodoros und Theaitetos gegenüber. Die Person Sokrates und die Person des Fremden aus Elea verkörpern die Dringlichkeit und die existentielle Relevanz der sachlichen und methodischen Frage. Der Vorwurf gegen Sokrates, Sophist zu sein, liegt bereits als gerichtliche Anklage unter Androhung der Todesstrafe vor – so wissen wir aus dem fiktiven Arrangement der Dialoge. An seiner Person wird deutlich, wie hoch die Verwechslungsgefahr zwischen Sophist und Philosoph ist und welche Konsequenzen diese Verwechslung nach sich ziehen kann. Die Person des Fremden aus Elea verkörpert eine ähnliche Verwechslungsgefahr. Aus der eleatischen Schule des Parmenides und Zenon hatte sich eine Linie eristischen Philosophierens herausgebildet, die das Widersprechen um seiner selbst willen kultivierte. Es ist bewusst eine offene Frage, welches philosophische Selbstverständnis der Fremde mitbringt. 10 Durch diese Situation wird das Nachdenken über Unterscheidungen und Verfahrensweisen des Unterscheidens zu Die dreigliedrige Unterscheidung Sophist – Philosoph – Staatsmann wird zu Beginn thematisiert. Das dritte Glied wird in diesem Dialog aber sehr schnell vernachlässigt und erst im Politikos wieder aufgenommen. Das Thema des Sophistes ist die Unterscheidung zwischen Sophist und Philosoph. 10 Eine ähnliche Deutung schlägt Francis Cornford vor, vgl.: Francis MacDonald Cornford, Plato’s Theory of Knowledge. The ›Theatetus‹ and the ›Sophist‹ of Plato translated with a running commentary, London 1951, S. 169. 9
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2 · Warum Unterscheidungsforschung inhaltsgesättigt ist
einem eminent praktischen Anliegen. Steht die Unterscheidung zwischen Sophist und Philosoph nicht zur Verfügung, besteht nicht nur die Gefahr, dass unsere Urteile fehlgehen, wie die der Ankläger von Sokrates, die ihn als Protagonisten einer gesellschaftlich zersetzenden intellektuellen Praxis anklagen, verurteilen und hinrichten, sondern dass solche Urteile noch nicht einmal kritisierbar sind. Aber wie, so lautet die dringliche Frage, müssen wir mit Unterscheidungen umgehen, um diesen Gefahren der Verwechslung nicht zu erliegen? Dies ist keineswegs selbstverständlich und es ist zunächst eine methodische Verständigung nötig. Denn es liegt nicht auf der Hand, wie man sich mit einer Unterscheidung beschäftigen soll. Sokrates schlägt seinem Gesprächspartner drei Verfahrensweisen vor, dihaireisthai (διαιρεῖσϑαι), diakrinein (διακρίνειν) und diorisasthai (διορίσασϑαι), die er im Prolog nur kurz nennt und nicht weiter erläutert, die im Verlauf des Dialogs aber im Gebrauch geprüft werden. Im ersten Schritt will ich meine Lektüre des Dialogs vorstellen, in der der Fokus auf die Reflexion und Kritik von zunächst drei und im weiteren Verlauf vier Verfahrensweisen (hinzu kommt noch diapherein) des Unterscheidens gelegt wird (2.1.1 Verfahren, die Unterscheidung zwischen Sophist und Philosoph zu untersuchen). Ich will im zweiten Schritt den Vorschlag machen, diese Verfahrensweisen als grundlegende »Praktiken des Unterscheidens« zu verallgemeinern und ihre mögliche Anwendung auf andere Unterscheidungen (wie sie im zweiten Kapitel des ersten Teils bereits durchgeführt wurde 11) zu skizzieren (2.1.2 Vier Praktiken des Unterscheidens).
2.1.1 Verfahren, die Unterscheidung zwischen Sophist und Philosoph zu untersuchen Ich will mich in meiner Lektüre auf die Frage nach den Verfahrensweisen des Unterscheidens konzentrieren. Damit werden viele andere wichtige Themen und Fragen des Textes bewusst abgeblendet. Der Dialog wird also nicht, wie häufig üblich, als Ontologie, als revisionistischer oder vertiefender Beitrag zur Ideenlehre der mittleren Dialoge 12, als Abhandlung über die Möglichkeit falscher ÜberzeugunVgl. Teil I, Kapitel 2.2.4. Vgl. zum Beispiel Wilhelm Kamlah, Platons Selbstkritik im Sophistes, München 1963.
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Praktiken des Unterscheidens
gen 13 oder als sprachanalytischer Traktat über die Verwendungsarten von »ist« 14 oder als Theorie des Logos 15 rezipiert. Damit sind wichtige Schwerpunkte der langen Deutungsgeschichte des Dialogs genannt, die selber ein hochinteressantes Kapitel der Philosophiegeschichte darstellt. 16 Es kann nur auf einige wenige der neueren Deutungen Bezug genommen werden, denn es kommt hier vor allem darauf an, den Sophistes als einen Traktat über grundlegende Verfahrensweisen des Unterscheidens zu präsentieren, in dem deren Grenzen und Möglichkeiten diskutiert werden und gezeigt wird, wie die Themen, Methoden und Personen beim Unterscheiden wechselseitig aufeinander Einfluss nehmen. Denn durch die Personenkonstellation ist klar: Es ist nicht nur auf die sachlich-argumentative Entwicklung im Dialog zu achten und auf die Verfahrensweisen und deren Möglichkeiten und Grenzen, sondern auch auf die Interaktion zwischen den Beteiligten, auf die Wirkungen der sich entfaltenden Rede. 17 Wir sind als Leser_innen gezwungen, den Dialog in mehreren und verschiedenen Durchgängen zu erschließen und uns an jeweils anderen möglichen roten Fäden zu orientieren, um dann erst allmählich deren Zusammenspiel zu entdecken. Darin liegt die Unerschöpflichkeit dieses Textes und wahrscheinlich ist dies ein Kriterium dafür, warum einige Texte Kandidaten für klassische Texte sind und andere nicht. Der Dialog Sophistes ist ausgesprochen kunstvoll komponiert und scheint mir ein Meisterstück in der Frage nach dem Umgang mit Unterscheidungen in der Philosophie zu sein. Um die verschiedenen Weisen des Unterscheidens im Verhältnis zueinander reflektieren und überzogene Geltungsansprüche kritisieKenneth M. Sayre, Plato’s Analytic Method, Chicago/London 1969, S. 138. Vgl. aus der Fülle der Literatur zu dieser Thematik: Michael Frede, Prädikation und Existenzaussage. Platons Gebrauch von »… ist …« und »… ist nicht …« im Sophistes, Göttingen 1967. 15 Vgl. zum Beispiel Peter Kolb, Platons »Sophistes«. Theorie des Logos und Dialektik, Würzburg 1997 und Andreas Eckl, Sprache und Logik bei Platon. Zweiter Teil. Ideenlogik und Logos der grammatischen Form im »Sophistes«, Würzburg 2011. 16 Zur Deutung im Neukantianismus und der Deutung Heideggers siehe Markus J. Brach, Heidegger – Platon. Vom Neukantianismus zur existentiellen Interpretation des »Sophistes«, Würzburg 1996. Eine ausführliche Diskussion wichtiger Interpretationsansätze in der Rezeptionsgeschichte des Sophistes bietet Kolb, Platons »Sophistes«, a. a. O., S. 200–248. 17 Vgl. zum dramatischen Charakter von Platons Dialogen: Charles Kahn, »Drama and Dialectic in Plato’s Gorgias«, in: Oxford Studies in Ancient Philosophy 1(1983), S. 75–121. 13 14
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2 · Warum Unterscheidungsforschung inhaltsgesättigt ist
ren zu können, ist der Gang der Untersuchung bis zu dem Punkt fortzuführen, wo ein Netz grundlegender Begriffe in den Blick gerät, das vor allem eines zeigt: Es ist eine unberechtigte Festlegung, eine bestimmte Begriffsbestimmung oder einen bestimmten Gegensatz als eine Art Axiom an den Anfang zu setzen und daraus andere Begriffsverhältnisse und Methoden abzuleiten. Vielmehr ist mit einem Geflecht von Grundbegriffen und begrifflichen Implikationen zu arbeiten. Es gibt Verfahrensweisen des Unterscheidens, die dem mehr Rechnung tragen als andere und dies kann deshalb als Kriterium dafür gelten, welche Verfahrensweisen einen weiteren und welche einen engeren Geltungsbereich beanspruchen können. Es scheint mir möglich und hilfreich zu sein, diese Lektürehinsicht kleinschrittig und ausführlich am Dialogtext zu entfalten. Da es mir in diesem zweiten Teil aber vor allem darum geht, Verfahren zur Unterscheidungsforschung zu gewinnen und nicht darum, Textinterpretationen vorzulegen, kann die Arbeit mit dem Sophistes nur in großen Linien und einigen wichtigen Vertiefungen präsentiert werden. Obwohl die Verfahrensweisen des Unterscheidens im Verlauf des Dialogs mit Bezug aufeinander erläutert und nicht linear der Reihe nach abgehandelt werden, versuche ich durch Zwischenüberschriften die Schwerpunkte der Betrachtung um der besseren Lesbarkeit willen zu benennen. 2.1.1.1 Begriffe teilen: dihaireisthai Theodoros stellt Sokrates einen Fremden vor (xenos), einen »gar philosophischen Mann«, der sich Parmenides und Zenon verbunden fühlt. Das liefert Sokrates das Thema. Was ist das eigentlich, ein Philosophierender? In der kurzen Eröffnungssequenz zwischen Sokrates, dem Fremden und Theodoros werden eher beiläufig drei Herangehensweisen an diese Frage angedeutet. Diese Andeutung ist im deutschen Text (zum Beispiel in der Übersetzung von Schleiermacher) fast nicht vernehmbar und bedarf deshalb besonderer Aufmerksamkeit. In seiner Bemerkung, dass das Geschlecht bzw. der Begriff (genos, Schleiermacher übersetzt hier »Geschlecht«) des Philosophen nur schwer von anderen zu unterscheiden sei, verwendet Sokrates das Tätigkeitswort »diakrinein« (διακρίνειν). 18 Manche verDiese wichtige Passage lautet im Original: »τοῦτο μέντοι κινδυνεύει τὸ γένος οὐ πολύ τι ῥᾷον ὡς ἔπος εἰπεῖν εἶναι διακρίνειν ἢ τὸ τοῦ θεοῦ: πάνυ γὰρ ἇνδρες
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Praktiken des Unterscheidens
wechseln die Philosophen mit Sophisten, andere mit Staatsmännern, andere halten sie für Verwirrte (manikos). Die Tätigkeit des diakrinein verwirklicht das nötige Differenzierungsvermögen, das angesichts der bestehenden Verwechslungsgefahr nicht leicht zu erwerben und zu bewahren ist. 19 An diese Bemerkung schließt Sokrates eine Frage an den Fremden an, in der er eine leichte Verschiebung vornimmt. Sokrates will wissen, wie die Unterscheidungsgewohnheiten (Sokrates verwendet das Verb nomizō) in den Gegenden seien, aus denen der Fremde kommt. »Ob sie dies alles [Philosoph, Sophist, Staatsmann] für einerlei hielten oder für zweierlei, oder ob sie, so wie die drei Wörter, so auch drei Gattungen unterscheidend, nach der Zahl der Namen mit jedem auch einen besonderen Begriff verknüpften?« 20 Sokrates bietet dem Fremden in seiner Frage gleich ein Relationsgeflecht an zwischen einem ersten Relatum, dem, worum es geht, der Sache, und einem zweiten Relatum, der sprachlichen Ebene, hier der Namen oder Wörter (onomata), und einem dritten Relatum, den Begriffen, die hier »genē«, an anderen Stellen auch »logoi« genannt werden (vgl. 218c4). 21 In seiner Frage verwendet Sokrates die mediale Form des Tätigkeitsworts dihaireisthai (διαιρεῖσϑαι). 22 Mit der Tätigkeit des οὗτοι παντοῖοι φανταζόμενοι διὰ τὴν τῶν ἄλλων ἄγνοιαν »ἐπιστρωφῶσι πόληας«, οἱ μὴ πλαστῶς ἀλλ᾽ ὄντως φιλόσοφοι, καθορῶντες ὑψόθεν τὸν τῶν κάτω βίον, καὶ τοῖς μὲν δοκοῦσιν εἶναι τοῦ μηδενὸς τίμιοι, τοῖς δ᾽ ἄξιοι τοῦ παντός: καὶ τοτὲ μὲν πολιτικοὶ φαντάζονται, τοτὲ δὲ σοφισταί, τοτὲ δ᾽ ἔστιν οἷς δόξαν παράσχοιντ᾽ ἂν ὡς παντάπασιν ἔχοντες μανικῶς.« (Platon, Soph. 216c1-d2). 19 Es ist interessant, inwieweit Marsilio Ficino in seiner lateinischen Übersetzung das Vokabular des Unterscheidens differenziert hat. Er übersetzt an dieser Stelle »diakrinein« mit dem lateinischen Ausdruck »discernere«. Vgl. Marsilio Ficino, Divini Platonis Opera omnia quæ exstant, Lugduni 1590. Vgl. zur Bedeutung der Übersetzung und des Kommentars von Ficino, Michael J. B. Allen, Icastes: Marsilio Ficino’s Interpretation of Plato’s »Sophist«. Five Studies and a Critical Edition with Translation, Berkeley/Los Angeles 1989. 20 Deutsche Übersetzung nach Schleiermacher. Der Text im griechischen Original lautet: »πότερον ἓν πάντα ταῦτα ἐνόμιζον ἢ δύο, ἢ καθάπερ τὰ ὀνόματα τρία, τρία καὶ τὰ γένη διαιρούμενοι καθ᾽ ἓν ὄνομα γένος ἑκάστῳ προσῆπτον.« (Platon, Soph. 217a6–8). 21 Der Ausdruck »to genos« steht an einigen Stellen für die Sache, an anderen für die Begriffe der Sache. Eckl hält dies für eine gezielte Konfundierung von Sache und Begriff, die in eine Situation der Verwirrung führen und die Leser_innen zur kritischen Auflösung drängen soll. Vgl. Eckl, Ideenlogik und Logos der grammatischen Form im »Sophistes«, a. a. O., S. 30. 22 Ficino übersetzt »dihaireisthai« an dieser Stelle mit dem lateinischen Wort »distinguere«. Die Verwendung der medialen Form im Griechischen διαιρεῖσϑαι anstelle
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2 · Warum Unterscheidungsforschung inhaltsgesättigt ist
dihaireisthai ist die Herstellung begrifflicher Ordnung durch angemessene Zerlegung eines sachlichen Zusammenhangs gemeint, wie dessen sprachliche Abbildung. Der Fremde bestätigt die dreigliedrige Unterscheidungsgewohnheit Sophist, Staatsmann, Philosoph und äußert damit die Überzeugung, auf der Ebene konventionellen Unterscheidungsgebrauchs tauche keine Schwierigkeit auf. Der Fremde nimmt wieder eine leichte Verschiebung vor, wenn er die eigentliche Aufgabe dort ansiedelt, genau zu unterscheiden, was jedes ist. 23 Der Fremde verwendet hier das Tätigkeitswort diorisasthai (διορίσασϑαι). Die Tätigkeit des diorisasthai richtet sich auf das jeweils Unterschiedene in der Absicht, durch dessen Bestimmung eine verlässliche Grenze zu ziehen. 24 Diese Tätigkeit ist mit der Was-ist-Frage (ti pot’ estin) verbunden, die eine begriffliche Untersuchung einleitet und steuert. Es sind nebenbei also schon drei eng beieinander liegende Tätigkeiten genannt worden, diakrinein, dihaireisthai, diorisasthai. Und aus dem Kontext der Verwendung sind die je unterschiedlichen Verfahrensweisen, eine Untersuchung durchzuführen, angeklungen. Die Tätigkeit des diakrinein bezieht sich auf Zusammenhänge, die schwer auseinanderzuhalten sind. Der Zweck liegt darin, diese Differenzierung, an der sehr viel liegt, deren Misslingen wie deren Gelingen große Konsequenzen hat, angemessen zu vollziehen. Die Differenzierung bezieht sich auf den Begriff (genos) des Philosophen. Die Tätigkeit des dihaireisthai bezieht sich auf die Begriffe (genē) und hat den Zweck, diese voneinander zu separieren, um begriffliche Ordnung herzustellen. Die Tätigkeit des diorisasthai hat den Zweck, genau zu begrenzen, was das je Einzelne ist. Damit werden im Prolog in der allerersten Gesprächssequenz verschiedene Verfahrensweisen des Unterscheidens angedeutet, die zunächst hinter der Sache, nämlich der inhaltlichen Unterscheidung zwischen Sophist und Philosoph, zurückzutreten scheinen. Sobald der Fremde gemäß Vereinbarung die Gesprächsleitung von Sokrates übernimmt, knüpft er an diese Erwähnung verschiededes Aktivs διαιρεῖν mag ein Hinweis darauf sein, dass es bei diesem Verfahren teilweise darum geht, Teilungen aktiv vorzunehmen und teilweise darum, in der Sache liegende Teilungen aufzunehmen. 23 Es heißt im Text: »καθ᾽ ἕκαστον μὴν διορίσασθαι σαφῶς τί ποτ᾽ ἔστιν, οὐ σμικρὸν οὐδὲ ῥᾴδιον ἔργον.« (Platon, Soph. 217b2–3). 24 Marsilio Ficino übersetzt »diorisasthai« an dieser Stelle mit dem lateinischen Wort »distinguere« und fügt erläuternd hinzu »sit definire«.
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Praktiken des Unterscheidens
ner Tätigkeiten des Unterscheidens an. Er schlägt vor, sich zuerst dem Sophisten zuzuwenden, um einen Begriff (logos) für die Sache (ergon und pragma) zu gewinnen, von der bisher nur Einigkeit über deren Namen besteht. Hierfür ist ein Verfahren (methodos) nötig, das sich dem je Einzelnen zuwendet und fragt, was es jeweils ist, dies aber im Modus von Zerlegungen tut und sich dadurch als Spielart der begrifflichen Teilung, also der Tätigkeit des dihaireisthai erweist. Diese Tätigkeit wird durchgeführt und nicht abstrakt besprochen und so wird die Leser_in, wie auch der Gesprächspartner Theaitetos, in den Mitvollzug dieser Tätigkeit hineingezogen. Das Verfahren wird an einem einfachen Beispiel, der Frage, was ein Angelfischer sei, vorgeführt. Dabei werden die Grundregeln leicht ersichtlich. Als Ausgangspunkt wird ein allgemeiner Begriff gewählt und damit ein weites begriffliches Feld abgesteckt, in das der zu bestimmende Begriff in jedem Fall fällt. Schrittweise wird dieser allgemeine Begriff dann in zwei Gegenbegriffe zerteilt. Weiter wird immer die Seite nach demselben Verfahren weiterzerteilt, auf die der zu bestimmende Begriff gehört. Dies Verfahren wird so lange weiterverfolgt, bis das Wesen des zu bestimmenden Begriffs gefunden ist und keine weitere Zerteilung mehr möglich oder nötig ist. Eine Zusammenfassung aller Teilungsschritte soll das Wesen des zu bestimmenden Begriffs vollständig angeben. Dieses Verfahren wird in sechs Durchläufen auf den Sophisten angewandt. Diese haben sechs verschiedene Vorschläge zum Ergebnis, die nicht ohne Weiteres vereinbar sind. Der Sophist erscheint sowohl als lohnfordernder Jäger von wohlhabenden jungen Männern (1.), wie als Händler mit Kenntnissen, sei es als »Großhändler« (2.), als »Krämer« (3.) oder als »Eigenhändler« (4.) oder als Eristiker, Künstler im Streit und Widersprechen (5.) und überraschenderweise als Elenktiker, Reinigungskünstler der Seele (6.). Vor allem der sechste Durchlauf wirft viele Fragen auf, die in dem bis dahin schon längst eingetretenen Zustand der Verwirrung nicht unbedingt auffällig werden müssen. Zu den beständigen Kontroversen in der Deutung des Sophistes gehört die Einschätzung dieses Dihairesenteils. Führt Platon hier affirmativ eine philosophische Methode vor, die als philosophisch wertvoll zu beurteilen ist, weil sie tatsächlich zur begrifflichen Klärung führen kann? 25 Oder macht Platon zwar einen positiven methoSeit der Antike (z. B. Seukippos) gibt es viele Interpreten, die dies zu zeigen versuchen. Vgl. vor allem Julius Stenzel, Studien zur Entwicklung der platonischen Dia-
25
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2 · Warum Unterscheidungsforschung inhaltsgesättigt ist
dischen Vorschlag, der aber als philosophisch irreführend zu beurteilen und deshalb zurückzuweisen ist? 26 Oder legt Platon hier eine Art performative Methodenkritik vor, deren kritischer Mitvollzug die innere Widersprüchlichkeit entdecken kann, in die das Verfahren führt, und der zur kritischen Reflexion befähigen soll? 27 Dieser dritten Deutungslinie schließe ich mich entschieden an und fokussiere hierbei besonders auf die Kritik am Unterscheidungsgebrauch. Die verschiedenen Einschätzungen sind in der Forschungsliteratur sehr ausführlich an den einzelnen dihairetischen Durchgängen aufgewiesen worden. Ich will mich hier nicht im Einzelnen mit den Details des Verfahrens beschäftigen, sondern das leitende Anliegen des gesamten Dialogs, nämlich der Realität mangelnden Unterscheidungsvermögens und der akuten Gefahr der Verwechslung zwischen Sophist und Philosoph zu begegnen, mit der Wirkung der dihairetischen Durchgänge konfrontieren. Im Prolog klang die Frage an, welche der genannten Unterscheidungstätigkeiten, dihaireisthai (διαιρεῖσϑαι), diakrinein (διακρίνειν) oder diorisasthai (διορίσασϑαι) zu einer Verfahrensweise des Unterscheidens entwickelt werden kann, die eine Klärung der gefährdeten Unterscheidung zwischen Sophist und Philosoph ermöglicht. Während des Durchlaufs durch die sechs Dihairesen ist nun allerdings folgende sehr merkwürdige Situation eingetreten. Jeder Einzelschritt des Verfahrens wirkt klar und nachvollziehbar, das leicht erkennbare Prinzip der Gedankenführung erscheint von bilderbuchartiger Transparenz und Stringenz zu sein – insgesamt dagegen entsteht vollständige Verwirrung. Der Eindruck der Klarheit ergibt sich einerseits daraus, dass die inhaltlichen Entscheidungen für einen Ausgangspunkt, für die schrittweise Eingrenzung, wie für den Endpunkt eng an allseits bekannte Themengebiete anknüpfen, an geteilte Meinungen über menschliche Tätigkeiten. Hier ist kein Experlektik von Sokrates zu Aristoteles, 3. Aufl., unverän. Nachdr. d. 2. erw. Aufl., Darmstadt 1961. Ausführlich dazu Kolb, Platons »Sophistes«, a. a. O., S. 202–213. Vgl. auch die sympathisierende Überblicksdarstellung von Niko Strobach, »Dialektik/Dihairesis«, in: C. Horn/J. Müller/J. Söder (Hg.), Platon-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart/Weimar 2009, S. 258–263. 26 Die Linie der Kritiker geht ebenfalls bis in die Antike zurück, vgl. zur Kritik von Aristoteles bis Ryle ebenfalls Kolb, Platons »Sophistes«, a. a. O. 27 Vgl. ganz entschieden in diese Richtung Eckl, Ideenlogik und Logos der grammatischen Form im »Sophistes«, a. a. O., aber auch Kolb, Platons »Sophistes«, a. a. O. und Christian Iber, Kommentar, in: Platon. Sophistes. Gr.-dt., aus dem Griechischen von F. Schleiermacher. Kommentar von Christian Iber, Frankfurt a. M. 2007, S. 179–460.
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Praktiken des Unterscheidens
tenwissen nötig, keine tiefen Einsichten, keine filigranen Argumentationen. Und andererseits springt das Prinzip der sukzessiven Eingrenzung sofort ins Auge. Jeder Schritt scheint eine disjunkte Zerlegung eines allgemeinen Begriffs zu sein. Es werden also kontradiktorische Gegensatzpaare gebildet, deren Charakteristikum es ist, dass sie sich nicht überschneiden und dass sie den allgemeinen Begriff vollständig, ohne Rest, zerteilen. Die Entscheidung für die Weiterzerteilung der einen und gegen die andere Seite, erfolgt wieder mit Rückverweis auf geteilte Meinungen. Der Bezug auf geteiltes Wissen und die logische Einfachheit und Schärfe im Zusammenhang erzeugen den Eindruck von zwingender Klarheit. Das Verfahren wird zuerst an einem einfachen Beispiel aus dem Bereich »handwerklicher« Tätigkeiten eingeübt, am Beispiel des Angelfischers, und dann auf den Sophisten übertragen. Der Übungsdurchlauf setzt an bei der Gegenüberstellung zwischen Künstler (technitēs) und Kunstlosem (atechnon). Die Antwort auf die Frage, wohin der Angelfischer gehöre, ist klar. Ohne Zweifel hat er eine Kunst ausgebildet und deshalb scheidet die entgegengesetzte Seite aus und wird nicht weiter betrachtet. Das Vorgehen, den verbleibenden Begriff nach dem Modell disjunkter Zerlegung zu zerteilen, wird iteriert und durch die schrittweisen Subsumptionen unter eines der dichotomen Glieder wird gleichzeitig ein Vorverständnis über den Angelfischer in Anspruch genommen, wie auch eine sukzessive Präzisierung dessen, was ihn ausmacht, erzeugt. Dieses Verfahren wird nun auf den Sophisten übertragen. Der erste Versuch ist in Bezug auf den Einstieg, eine Reihe von Schritten und das sachliche Thema der Jagd eng an der Übungsdihairese orientiert. Mit dem Ergebnis, die sophistische Kunst sei »die von der nachstellend bezwingenden aneignenden Kunst, und zwar von der Tiernachstellung zu Lande auf Menschen, nämlich der nicht öffentlichen Überredungskunst lohnforderndem, für Geld sich verkaufendem, scheinbar belehrenden Teil auf reiche, angesehene Jünglinge angestellte Jagd« (Soph. 223b1–5), zeigt sich der Fremde deshalb nicht zufrieden, weil unter der sophistischen Kunst gemeinhin noch viel mehr als dies verstanden wird und es scheint noch eine andere Bestimmung (heteron genos) nötig zu sein (Soph. 223c1–3). Die Wirkung, die durch die nächsten vier Durchläufe erzeugt wird, ist nun aber gegenläufig zu diesem Eindruck der Klarheit des methodischen Verfahrens. Denn es wird immer unverständlicher, was der Sophist ist, es erscheint immer willkürlicher, wie die Ansatz423 https://doi.org/10.5771/9783495817360 .
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punkte gewählt werden und welche Stränge weiterverfolgt werden und welche nicht. 28 Der Eindruck der Unklarheit breitet sich eigentümlicherweise unterhalb eines Eindrucks von großer Einfachheit aus. Jeder einzelne Schritt kann erklärt werden und man kann die Fragen, unter welchen der disjunkten Begriffe der Sophist subsumiert werden könne, auf den ersten Blick eindeutig und unmissverständlich beantworten. Die Regeln, die angewendet werden, liegen offen zu Tage und scheinen einen zwingenden Charakter zu haben. Und dennoch wachsen das Unbehagen und proportional dazu die Unfähigkeit, es zu artikulieren. Würde man sich vorstellen, hier einzuhaken, nachzufragen, könnte das Gegenüber mit berechtigtem Bezug auf geteilte Unterscheidungsgewohnheiten sagen: Aber so unterscheiden wir doch! In diese Situation hinein erfolgt ein weiterer Durchlauf, der anders ansetzt und wesentlich komplizierter aufgebaut ist. Der Fremde fragt scheinbar unvermittelt nach alltäglichen Tätigkeiten des Sonderns und Scheidens und Reinigens im Haushalt und hebt die Tätigkeit des Sonderns (diakrinein) und die dazugehörige Kunst der Sonderung (diakritikē) 29 hervor. Hiermit wird an den Prolog wieder angeknüpft, in dem diakrinein als die Tätigkeit eingeführt wurde, durch die unterschieden werden kann, was leicht zu verwechseln ist. Die anschließenden Teilungen führen zu einer Spezifizierung dieser Kunst der Sonderung als Tätigkeit des Fragens und Aufdeckens von Widersprüchen bei unberechtigten Wissensansprüchen, die als Test Hinzu kommt die irritierende Tatsache, dass Entscheidungen gegen die weitere Verzweigung eines Gliedes in einer Dihairese für spätere nicht mehr zu gelten scheinen. Vgl. z. B. Platon, Soph. 223c9 in Kontrast zu Platon, Soph. 219d4 f. oder Platon, Soph. 223d2 f. in Kontrast zu Platon, Soph. 224e2. Vgl. zu diesen und anderen Unstimmigkeiten sehr ausführlich Eckl, Ideenlogik und Logos der grammatischen Form im »Sophistes«, a. a. O., S. 44–119. Eckl trifft zum Beispiel die wichtige Feststellung, dass sich sogar die Richtung der Teilung umdrehen kann. Was in der zweiten Dihairese der allgemeinere Begriff ist, wird in der dritten und vierten Dihairese zum spezielleren. Vgl. Eckl, ebd., S. 86, Fßn. 140. Auch hier erweist sich das dihairetische Verfahren wieder als formales Schema, das mit den Inhalten beliebig und sogar gegensätzlich umgehen kann und dadurch letztlich sogar inhaltliche Widersprüche produziert. 29 Das Tätigkeitswort »diakrinein« dominiert deutlich die sechste Dihairese. Die Tatsache, dass noch weitere Ausdrücke für das Spektrum der Tätigkeiten des Unterscheidens vorkommen, zum Beispiel auch der Ausdruck für das dihairetische Verfahren selbst, »dihaireisthai« (vgl. Platon, Soph. 226c3), kann als Hinweis darauf gewertet werden, dass der Tätigkeit des diakrinein eine Rolle zukommt, von der her verwandte Tätigkeiten reflektiert werden können. 28
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oder prüfende Zurechtweisung (elenchos) bezeichnet wird. Dem Gesprächspartner des Fremden, Theaitetos, fällt nicht auf, dass diese Bestimmung genau den Anspruch des sokratischen Philosophierenden trifft. 30 Hier führt das Verfahren der disjunkten Zerteilung (dihaireisthai) also zur Ununterscheidbarkeit von Unterschiedenem. Dies Verfahren wird damit als etwas entlarvt, das in dieser Weise durchgeführt die Fähigkeit zur Sonderung von Unterschiedenem (diakrinein) unterhöhlt. Das Regime des dihaireisthai scheint eine akute Gefahr für die subtilere, an den Inhalten orientierte Tätigkeit des diakrinein zu bedeuten. In der Behandlung des diakrinein mit den methodischen Mitteln des dihaireisthai taucht in einem Zwischenschritt eine weitere Tätigkeit des Unterscheidens auf: diapherein (διαφέρειν), die verwandt ist mit den bisherigen Tätigkeiten des Unterscheidens, aber dennoch einen deutlich anderen Akzent setzt. 31 Diapherein meint hier »gegeneinander tragen«, »entgegensetzen«, »nicht übereinstimmen«, »voneinander abweichen«. Diese Tätigkeit wird illustriert mit Bildern des Gegeneinander-Streitens von Kräften in der Seele des Menschen. Die Tatsache, dass mit dem Verfahren des dihaireisthai, wie es ausgeführt wird, diese Abzweigung zur Tätigkeit des Streitens verpasst wird (obwohl der Sophist im vorangehenden Durchlauf als Streitkünstler bestimmt worden ist), zeigt noch einmal, dass damit keine sachlich relevanten Verschiedenheiten herausgearbeitet werden können. Es ist in dem bisherigen methodischen Korsett jede Möglichkeit verloren gegangen, die Verschiedenheit zwischen den Tätigkeiten dihaireisthai, diakrinein, diorisasthai und diapherein sehen, geschweige denn thematisieren zu können. Dafür muss dieser methodische Rahmen verlassen werden. Die Besonderheiten und Grenzen des dihairetischen Unterscheidens seien im Folgenden pointiert: Es gibt eine Fülle an Literatur speziell zur sechsten Dihairese und es wird höchst unterschiedlich beurteilt, wie diese zu deuten ist, ob als Kritik an historischen Figuren der sophistischen Bewegung, ob als Selbstkritik von Sokrates bzw. Platon oder als Charakterisierung der sokratischen Elenktik mit dem Ziel, auf die Widersprüche und Gefahren der dihairetischen Methode selbst hinzuweisen, die in die Indifferenz zwischen sophistischer Eristik und platonischer Elenktik führe, um dadurch einen unübersehbaren Grund für die (Selbst-)Kritik an der dihairetischen Methode zu liefern. Diese Auffassung vertritt in Auseinandersetzung mit der Forschungslage dazu Eckl und ich schließe mich dieser Deutung an, vgl. Eckl, Ideenlogik und Logos der grammatischen Form im »Sophistes«, a. a. O., S. 94–113. 31 Ficino übersetzt »diapherein« an dieser Stelle mit dem lateinischen Wort »dissentire«. 30
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Mit der Tätigkeit des dihaireisthai ist der Anspruch erhoben, Zerlegungen nach einem einfachen logischen Schema vorzunehmen, das als Modell für alle inhaltlichen Trennungen herangezogen wird, egal, ob es durch die Inhalte eingelöst wird oder nicht. In diesem Sinne ist das Verfahren formal. Dementgegen steht der an vielen Stellen erhobene Anspruch, die in der Sache selbst liegenden Einschnitte abzubilden. Die Wirklichkeit scheint gewissermaßen auf die in ihr vorfindlichen Einschnitte abgesucht zu werden (z. B. Soph. 226e1). Das formale Prinzip der disjunkten Zerlegung scheint teilweise eine ontologische Wendung zu bekommen. Und wieder an anderen Stellen werden die Teilungen als aktive Setzungen bezeichnet (z. B. Soph. 221d4, Soph. 227d). 32 In beiden Deutungen bleibt unklar, wie die wirklichen Einschnitte zu finden oder die konstruktiven Setzungen zu gewinnen sind, worauf zu achten oder was auszublenden ist. Und darauf zielt die kritische Vorführung dieser dihairetischen Tätigkeit, dass auf beliebige Unterschiede verwiesen werden kann, die nach einem nur scheinbar klaren Verfahren in einen Zusammenhang gebracht werden. Die Diskrepanz zwischen dem einfachen logischen Schema und der Vielfalt der inhaltlichen Realisierungen bleibt in einem ersten Mitvollzug nur als Eindruck der Verwirrung zurück. Bei näherem Hinsehen zeigt sich dann, dass das Modell der disjunkten Zerlegung verschiedene Arten von Gegenüberstellungen überformt. Einige der dihairetischen Schritte folgen diesem Modell, zum Beispiel die erste Zerlegung der Übungsdihairese in einen Künstler (technitēs) und einen Nicht-Künstler oder Kunstlosen (atechnos). Hier findet eine überschneidungsfreie und vollständige Zerlegung statt, denn es kann keinen dritten möglichen Begriff geben, unter den der Sophist zu subsumieren wäre. Aber schon die nächste Zerlegung in der Übungsdihairese ist von ganz anderer Art. Hier werden die Künste in erwerbende und herstellende Künste eingeteilt. Dies ist keine disjunkte Zerlegung der Künste, es könnte andere Künste geben und es gibt sie auch, wie Regierungskunst, auf Erkenntnis zielende Künste und Eckl hebt diese Stellen besonders hervor (und blendet die »ontologisierende« Redeweise demgegenüber ab), denn hierin scheint ihm die Stärke der dihairetischen Methode zu liegen, die neben all den Schwächen und Schwierigkeiten nicht aus dem Blick verloren werden darf. Mit dieser Methode scheint ihm immerhin die grundlegende und dennoch keineswegs selbstverständliche logische Distanz zwischen Sache und Logos bzw. Begriff gehalten zu werden, vgl. Eckl, Ideenlogik und Logos der grammatischen Form im »Sophistes«, a. a. O., S. 52.
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mögliche andere. Außerdem ist nicht ausgeschlossen, dass es Überschneidungen gibt, Künste, die herstellend und erwerbend sind. Das formale Modell macht es schwierig, Mischformen oder Wechselverhältnisse zwischen entgegengesetzten Begriffen zu thematisieren. Angenommen, das »Wesen« einer Sache läge in einem begrifflichen Wechselverhältnis, könnte dies schon allein durch die methodischen Rahmensetzungen nicht erfasst werden. Die Anwendung des formalen Modells trotz dieser inhaltlich möglichen Varianten scheint die unausgesprochene Einschätzung mitzutransportieren, dass die gewählte Gegenüberstellung für den hier zu klärenden Begriff relevant sei, andere nicht. Es werden neben den disjunkten Zerlegungen in kontradiktorische Gegenteile aber auch noch inhaltliche Gegenüberstellungen verwendet, die einen Bereich zwar nicht erschöpfend zerlegen, für eine bestimmte Frage aber allein relevant sind. Außerdem kommen Gegenüberstellungen vor, die nur durch die Verbindung mit anderen Unterscheidungsgewohnheiten wie räumlichen oder zeitlichen zu quasi-disjunkten Zerlegungen werden. Wenn in der Übungsdihairese in Lebewesen unter oder über Wasser zerlegt wird, haben wir es mit einem solchen Fall zu tun. Das Wissen um räumliche Unterscheidungen bzw. eine bestimmte Deutung räumlicher Unterscheidungen macht diese Zerlegung zu einem Anwendungsfall des Verfahrens. An einigen Stellen taucht die Schwierigkeit auf, dass das negierte Glied eines kontradiktorischen Gegensatzes mit einer inhaltlichen Bestimmung identifiziert wird. Auch hierfür findet sich ein Beispiel in der Übungsdihairese, wenn nicht-verwundende Jagd mit Gehegejagd gleichgesetzt wird. Damit wird aus einem kontradiktorischen Gegensatz, der allein per Satznegation gebildet werden kann und in diesem Sinne eine logische Form ist, ein konträrer Gegensatz. All diese Varianten von Gegenüberstellungen tauchen schon in der inhaltlich anspruchslosen Angelfischer-Übungsdihairese auf, über die die dihairetische Methode hinweggeht. Dort mag es sein, dass diese Varianten sachlich irrelevant sind. Es ist aber keineswegs klar, dass dies auch für die schwierige Frage nach der Bestimmung des Sophisten gilt. Angesichts der akuten Verwechslungsgefahr zwischen Philosoph und Sophist ist dies unwahrscheinlich. Und genau deshalb wird es an einer späteren Stelle wichtig werden, Weisen von Gegenüberstellungen zu differenzieren. Damit ist eine Reihe von Schwierigkeiten benannt, die dem Verfahren, Unterscheidungen dihairetisch zu gewinnen und zu prozes427 https://doi.org/10.5771/9783495817360 .
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sieren, eigen sind. Dennoch bedeutet die Schärfe dieser kritischen Diagnosen nicht, dass dies Verfahren unter allen Bedingungen vollständig verfehlt ist. Das Verfahren scheint aber von anderen abhängig zu sein, die eine höhere Inhaltssättigung aufweisen, die Differenzierungen wie zum Beispiel die zwischen Gegensatzformen ermöglichen, und die die Betrachtung von Wechselverhältnissen zwischen Unterschiedenen nicht ausschließen. In einem Gefüge von mehreren Verfahrensweisen des Unterscheidens könnte dem dihairetischen Verfahren die Funktion zukommen, ein anderweitig erarbeitetes begriffliches Feld zu ordnen und übersichtlich zu gliedern. Der weitere Verlauf des Dialogs kann nun so verstanden werden, dass ein solches Gefüge von Verfahrensweisen des Unterscheidens entstehen soll, von denen sich eine als die qualifizieren mag, mit Hilfe derer andere in ihrem Verhältnis zueinander kritisch reflektiert werden können. 2.1.1.2 Gegen-Sprechen: diapherein In dem folgenden Neuansatz wird eine der Tätigkeiten des Sophisten herausgehoben, nämlich die des Streitenden (antilogikos) oder, wie Schleiermacher übersetzt, des Künstlers im Streitgespräch. Das dihairetische Verfahren ermöglicht es nicht, die verschiedenen Ergebnisse des Verfahrens zu qualifizieren und in ein Verhältnis zu setzen. Es bleibt also nichts übrig, als die Ergebnisse als verschiedene mögliche Hypothesen zu verstehen und im Einzelnen zu prüfen. Dass zunächst mit der Bestimmung des Streitenden begonnen wird, mag auch als Reaktion auf die Vielzahl von »miteinander streitenden« Bestimmungen verstanden werden, was dem Gesprächsgegenstand, dem Sophisten, nicht äußerlich ist, sondern diesen geradezu inszeniert. Der Fremde schließt damit an zwei Zwischenergebnisse wieder an, die sich im einteilenden Verfahren ergeben haben. In der fünften Dihairese wurde der Sophist als Eristiker, Streitkünstler, bestimmt. Diese Bestimmung ging aus einer Trennung des allgemeineren Begriffs hervor, nämlich des streitenden Wortwechsels (antilogikon) (Soph. 225b9). Dieser kann kunstlos (atechnon) und kunstvoll (entechnon) betrieben werden, im letzten Fall handelt es sich um die Eristik. Mit seinem Vorschlag bezieht sich der Fremde also auf eine allgemeinere Bestimmung des Gegensprechens, Widersprechens, Streitens, einen Gegensatz-Aufbauens (antilegein) zurück. Außerdem kann in diesem Neueinsatz auch noch eine andere Anknüpfung an ein früheres Zwischenergebnis gesehen werden: In 428 https://doi.org/10.5771/9783495817360 .
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der sechsten Dihairese, die bei den verschiedenen Tätigkeiten der Reinigung (diakrisis) ansetzt, wurde zwischen zwei Arten der Schlechtigkeit (kakia) unterschieden, der Krankheit (nosos) auf der einen Seite und der Hässlichkeit (aischos) auf der anderen Seite. Krankheit wird bestimmt als Zwist, Streit, Opposition (diaphora). Eine kranke Seele ist demnach eine, in der Meinungen (doxa) und Begierden (epithymia), Ärger (thymos) und Lüste (hēdone), Vernunft (logos) und Schmerz (lypē) gegeneinander opponieren (diapherein) (Soph. 22a7 ff.). Die Tätigkeit des diapherein steht hier für die Entgegensetzung zwischen realen Kräften in einer Seele und erscheint wie eine Art »reales Äquivalent« zu der sprachlichen Tätigkeit des Entgegensprechens (antilegein) zwischen Redenden. Die Tätigkeit des Reinigens (diakrinein) soll sich nun aber im weiteren Verlauf dieser sechsten Dihairese nicht auf die Entgegensetzung von Kräften richten (was »Krankheit« genannt wird), sondern auf Formen des Irrens, des unabsichtlichen Fehlgehens, die als Hässlichkeit bestimmt werden. Der Elenktiker bezieht sich auf die, die zu wissen meinen, aber nicht wirklich wissen. Die Beschäftigung mit dem Kampf der Kräfte und den Tätigkeiten des Opponierens und Entgegensetzens bleibt in der sechsten Dihairese unberücksichtigt. Ich meine, dass der Fremde diesen fallen gelassenen Faden wiederaufnimmt und die beiden Tätigkeiten des Gegensprechens (antilegein) und Entgegensetzens (diapherein) eigens zum Gegenstand macht. Diese Tätigkeiten stehen für das spezifische Verfahren, mit Unterscheidungen umzugehen, das Sophisten verwenden. Wie soll dieses sophistische Verfahren nun untersucht werden? Welche Möglichkeiten stehen hier zur Verfügung? Diese Frage bleibt an dieser Stelle ungeklärt, es ist nur deutlich, dass der Fremde das dihairetische Verfahren zunächst nicht verwendet. Möglicherweise soll damit deutlich werden, dass der Weg, ein Verfahren vorweg ohne Rückbezug auf die Sache zu wählen und zu verfolgen, sich als problematisch erwiesen hat. Es scheinen hier verschiedene Verfahren ausprobiert zu werden, teilweise scheint der Fremde orientiert an der Was-ist-Frage (die in Soph. 232a5 anklingt) die Implikationen des Gegensprechens aufdecken zu wollen 33, teilweise wird in einer kurzen Sequenz wieder auf die dihairetische Methode zurückgegriffen. Möglicherweise kristallisiert sich erst in dieEckl interpretiert den Abschnitt Platon, Soph. 232b1–237b6 vor allem als Rückgriff auf die maieutische Methode der mittleren Ideenlehre, letztlich in selbstkritischer Absicht, vgl. Eckl, ebd., S. 120–137.
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sen Versuchen der Klärung des Gegenstandes heraus, welches Verfahren angemessen ist. Der Gegenstand der Betrachtung ist die Tätigkeit des Gegensprechens oder Widersprechens. Diese sehr allgemeine Tätigkeit wird hier in einer extremen Variante untersucht. Die Tätigkeit, zu jeder Behauptung eine Gegenbehauptung derart aufzustellen, dass die anfängliche Behauptung als »besiegt« gelten kann, wird als eine gekennzeichnet, die sich auf alle Inhalte richten kann. Diese Tätigkeit in dieser extremen Variante scheint also auf Beliebiges bezogen und ohne weitere Ansehung der besonderen Bedingungen und Inhalte erfolgreich angewandt werden zu können. Die Möglichkeit, diese Tätigkeit auf alles anwenden zu können, erzeugt sogar den Anspruch, sich mit beliebigen Inhalten, also allem, auszukennen und (in einem gewissen Sinne) davon Wissen zu haben. Das Absehen von Inhalten in der Anwendung auf Beliebiges zusammen mit dem Anspruch, sich aber in allem auszukennen, lassen Zweifel an der Extremform dieser Tätigkeit aufkommen. Wohin hat nun diese Charakterisierung der Tätigkeit des Gegensprechens geführt? Der Gegenstand hat sich als einer entpuppt, der paradigmatisch für den Elenktiker, den Reinigungskünstler ist. Dessen Gegenstände sind nämlich Wissensansprüche, die sich als unberechtigt erweisen, also Formen des vermeintlichen Wissens, die Wissen zu sein scheinen, ohne es zu sein. Und um so einen Fall scheint es sich bei der Extremform des Gegensprechens zu handeln. Damit klärt sich auch die Verfahrensfrage. Das Verfahren, das hier anzuwenden ist, ist ein prüfendes Scheiden, um Verwechslungen aufzulösen, nämlich Verwechslungen zwischen dem, was Wissen zu sein scheint und dem, was Wissen ist. Und genau das wurde in der sechsten Dihairese als Tätigkeit des elenchein oder des auf Verwechslungen gerichteten diakrinein bestimmt. Es wird nun die Verwechslung zwischen Sophist und Philosoph, die in der sechsten Dihairese unterlaufen ist, aufgeklärt. Bei der Tätigkeit des elenchein handelt es sich nicht um eine Bestimmung des Sophisten, sondern um die philosophische Tätigkeit. Dieser Unterschied ist zu fein für das dihairetische Verfahren. Es eignet sich nicht, um Verwechslungen zu bemerken und verfehlte Ansprüche sichtbar zu machen. Dies leistet nur ein spezifiziertes diakrinein oder elenchein. Die Frage tut sich auf, was diese Tätigkeiten ausmacht, was sie voraussetzen und wie sie zu üben sind. Es ist diese Frage, die sich hier stellt und die entwickelt wird. In der weiteren Lektüre des Sophistes konzentriere ich darauf meine Aufmerksamkeit. 430 https://doi.org/10.5771/9783495817360 .
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2.1.1.3 Verwechslungen auflösen: diakrinein 1 Was die Tätigkeit des diakrinein als Auflösung von Verwechslungen ausmacht, wird nicht direkt besprochen, sondern zeigt sich an der Art, wie mit dem Gegenstand, nämlich der sophistischen Tätigkeit des antilegein, umgegangen wird. Damit gewinnt der Dialog seine eigentliche Fragestellung. Mit welchen Verfahrensweisen des Unterscheidens können wir angemessen unterscheiden und mit welchen nicht oder jedenfalls nicht ohne Weiteres? Nach der vorgeführten Kritik an der Verfahrensweise des dihairetischen Unterscheidens wird die Frage jetzt auf doppelte Weise verfolgt. Auf der inhaltlichen Ebene wird die Tätigkeit des antilegein (als Konkretisierung des diapherein) diskutiert und zwar unter Anwendung des Verfahrens des diakrinein. Die Verfahrensweise des diakrinein erweist sich also als eine, die zur kritischen Reflexion auf andere Verfahrensweisen des Unterscheidens geeignet ist. Was kennzeichnet nun das Verfahren des diakrinein? Dafür ist noch einmal zurückzublicken, wie bisher mit der Tätigkeit des antilegein umgegangen worden ist: Der gewählte Ausgangspunkt, die Tätigkeit des antilegein bei den Sophisten, ist einer, der auf die gegenwärtige Situation Bezug nimmt (es stehen sich mehrere Ergebnisse entgegen) und auf vorherige Überlegungen. Es wird also ein Anfang gewählt, der in der geteilten Situation plausibilisiert werden kann. Der Gegenstand, die untersuchte Tätigkeit des antilegein, wird nun auf ihren Anwendungsbereich hin befragt: Worauf bezieht sich diese Tätigkeit? Dadurch wird der maximal allgemeine Anspruch sichtbar, den diese Tätigkeit beansprucht, sich auf alles zu beziehen. Sie ist dem Anspruch nach inhaltsleer und in diesem Sinne formal, rein als Verfahren selbst an beliebigen Inhalten lernbar. (Damit hat sie etwas mit dem Verfahren des dihaireisthai gemein, denn das kann sich auch auf Beliebiges beziehen, auf Angelfischer und alle anderen möglichen Künste.) Mit diesem Anspruch wird eine Unterscheidung ins Spiel gebracht, nämlich die Unterscheidung zwischen Form und Inhalt. Formen werden beim dihaireisthai und beim antilegein als von Inhalten ablösbar gedacht. So hat es den Anschein, als könnten alle Inhalte auf gleiche Weise behandelt werden. Dies, so kann man negativ schließen, scheint für das Vorgehen des diakrinein nicht zu gelten, es ist nicht ablösbar von den Inhalten und kann nicht als Schema auf alles Mögliche angewandt werden. Das klare Votum hier ist: Es ist
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problematisch, Verfahren des Unterscheidens formal, abgelöst von allen Inhalten, zu entwickeln. Antilegein bedeutet, jede Aussage ins Gegenteil zu verkehren (Soph. 239d) und den Gesprächspartner in Widersprüche hineinzutreiben, die sachlich begründet erscheinen. Der Gesprächspartner, kann dem, obwohl er Experte auf einem bestimmten sachlichen Gebiet sein mag, nichts entgegensetzen und in den Augen des Publikums scheint der Vertreter des sophistischen antilegein den argumentativen Sieg davon zu tragen. Das Verfahren des antilegein scheint also überzeugend zu sein und führt oft zum argumentativen Erfolg. Das mündet, und das reflektiert der Fremde auch, in eine Einstellung, alles im Griff zu haben, die Verschiedenheit der Inhalte nicht berücksichtigen zu müssen, immer sofort zu wissen, wie zu verfahren ist und immer das letzte Wort zu haben. Die Gewissheit, jeden Gesprächspartner in Widersprüche verwickeln zu können, beruht auf einer dichotomen Disjunktion zwischen Sein und Nichtsein: entweder Sein oder Nichtsein. Das Votum von Parmenides, dass nur das Sein seiend ist, lässt sich überzeugend kritisieren. Denn jedes Verbot, das, was ganz und gar nichtseiend ist (to mēdamōs on), zu denken, ist ein Fall davon, dem Nichtseienden Sein zuzusprechen. Die sophistische Konsequenz liegt darin, den Sinn der Rede vom Seienden aufzulösen und die Widersprüchlichkeit aller Rede über Sein und Seiendes zu zeigen. Die abstrakte Grundlage für das sophistische antilegein ist die Umkehrung der dichotomen Disjunktion zwischen Sein und Nichtsein. Die rednerische Geschicklichkeit der Vertreter des antilegein besteht nun darin, die allgegenwärtige Widersprüchlichkeit an den jeweiligen Gegenständen der Rede und den jeweiligen Situationen zu zeigen und damit die vielen bestehenden Modalitäten von Gegensatzbeziehungen (die auch schon im dihairetischen Verfahren übergangen worden sind) auf das kontradiktorische Entweder – Oder zu reduzieren. 34 Die komplexen Beziehungen begrifflicher Kontraste, die sich kaum schematisieren lassen, werden durch einfache und starre Gegensätze überschrieben. Eckl pointiert eine Implikation der Tätigkeit des antilegein folgendermaßen: »Der Sophist arbeitet mit der Reduktion komplexer logischer Verhältnisse auf das kontradiktorische Gegensatzverhältnis, ordnet die Behauptung des Gegners durch schnellen, schwer nachvollziehbaren Perspektivwechsel (ἐπάλλαξις) zwangsweise einmal der einen, dann der anderen Seite zu, so dass sie widersprüchlich erscheint, und kann dann das Gegenteil der Behauptung als allein und ausschließlich wahr reklamieren.« (Eckl, ebd., S. 189).
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Wird dieser Anspruch, die Form der Entgegensetzung auf alle Inhalte anwenden zu können, aber mit der Wirklichkeit ins Verhältnis gesetzt, dann zeigt sich sogar schärfer, dass mit diesem Anspruch eine Verwechslung zwischen dem Schein, über alle Inhalte etwas sagen zu können und sie zu wissen, und der Wirklichkeit, besteht. Kennzeichen der Tätigkeit des antilegein scheint zu sein, dass dadurch eine Differenz überdeckt wird, die Differenz zwischen Anspruch und Wirklichkeit oder zwischen Schein und Sein. Stärker noch: die Differenz zwischen Schein und Sein ist durch die Konsequenzen der dichotomen Disjunktion zwischen Sein und Nichtsein aufgelöst. Für das Vorgehen des diakrinein ist es charakteristisch, diese Unterscheidung zu treffen. Diese Unterscheidung ist ausgesprochen zentral und man könnte fast sagen, dass es eine der Hauptfragen des gesamten Dialoges ist, die begrifflichen Implikationen und Voraussetzungen dieser Unterscheidung freizulegen. Der Dialog hat bisher gezeigt, dass diese Unterscheidung als dreigliedrige Unterscheidung zwischen Sein, Schein und Nichtsein zu reflektieren ist. Denn als denkende, sprechende und handelnde Wesen gehen wir ständig mit Darstellungen von etwas um, die eine sinnliche Gestalt haben und deshalb als Erscheinungen bezeichnet werden können. Manche dieser Erscheinungen von etwas verzerren das, was sie zur Erscheinung bringen sollen unabsichtlich oder absichtlich und diese können dann »Schein« genannt werden. Eine Erscheinung ist nicht das, was sie zur Erscheinung bringt, sie ist und bleibt etwas »anderes«. Erscheinungen implizieren also eine Beziehung der Differenz oder der Andersheit und der Selbigkeit. Was als Schein durchschaut wird, bringt das nicht zur Erscheinung, was es vorgibt zur Erscheinung zu bringen. Schein wirkt so, als läge wie bei der Erscheinung die doppelte Beziehung von Andersheit und Selbigkeit vor, ohne dass die Beziehung der Selbigkeit tatsächlich realisiert ist. Wie kann diese »Negativität« der Erscheinung und des Scheins ausgesprochen und gedacht werden? Die Tätigkeit des diakrinein bedeutet nun, mit dieser Unterscheidung umgehen und sie selber thematisieren zu können. In diesem Sinne ist diakrinein im Unterschied zu den anderen Verfahrensweisen des Unterscheidens reflexiv, indem es sich auf die anderen Weisen des Unterscheidens richten kann, und selbstreflexiv, indem es sich auf sich selbst richten kann. Diese doppelte Gestalt des diakrinein wird im Dialog vorgeführt. Neben dem dihaireisthai und dem antilegein (als Spezialisierung des diapherein) wird im Anschluss noch eine dritte Weise des Unterscheidens, das diorisasthai, kritisch diskutiert. Erst 433 https://doi.org/10.5771/9783495817360 .
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im Anschluss daran werden die philosophischen Grundlagen des diakrinein mittels des diakrinein zum Gegenstand des Nachdenkens gemacht. 2.1.1.4 Begriffe bestimmen: diorisasthai Die Schwierigkeiten, die mit der strikten Gegenüberstellung von Sein und Nichtsein im antilegein entstanden sind, werden in der Dramaturgie des Dialogs nicht direkt adressiert, sondern es wird ein Umweg über die Autoritäten genommen. Zuerst werden vorhandene Lehren daraufhin befragt, wie sie das Sein (und damit gewissermaßen auch das Nichtsein) bestimmen. Gegenstand sind solche Theorieansätze, die sich an eine Sonderung der Dinge gewagt haben, »um zu bestimmen (diorisasthai), welcherlei und wievielerlei sie sind« (Soph. 242c). 35 Damit findet ein Rückbezug auf den Prolog statt, in dem verschiedene Weisen, der Unterscheidung zwischen Sophist und Philosoph nachzugehen, angedeutet wurden, auch die Tätigkeit des diorisasthai, die sich auf das jeweils Unterschiedene in der Absicht, durch dessen Bestimmung eine verlässliche Grenze zu ziehen, richtet. Es stellt sich dabei auch die Frage, ob mit der Tätigkeit des diorisasthai und deren Ergebnissen wirksam auf die Gefahren des sophistischen antilegein eingegangen werden kann. Die Tätigkeit des diorisasthai wird nun aber gleich über ihr größtes Problem eingeführt, nämlich über ihre Bezugslosigkeit, bzw. genauer über die Abblendung von Bezügen. Es werden Bestimmungen des Seins vorgetragen und dies geschieht folgendermaßen: »[O]hne zu fragen, ob wir ihnen folgen in ihren Reden oder zurückbleiben, bringen sie jeder das seinige zu Ende« (Soph. 243a7–9). Es werden also Behauptungen oder gar Lehren vorgetragen, ohne diese denen gegenüber zu plausibilisieren, die andere Bestimmungen vortragen oder die nach Erklärungen suchen. Wie ist mit solchen Lehren umzugehen? Hier taucht wieder die Verfahrensfrage auf, denn es fragt sich erneut, mit welcher Verfahrensweise des Unterscheidens das diorisasthai zu untersuchen ist. Der Vorschlag des Fremden, eine dialogische Situation zu entwerfen und die Lehren so auszufragen, als seien ihre Vertreter zugegen, reagiert auf diesen problematischen Der Beitrag des Fremden lautet im Zusammenhang: »εὐκόλως μοι δοκεῖ Παρμενίδης ἡμῖν διειλέχθαι καὶ πᾶς ὅστις πώποτε ἐπὶ κρίσιν ὥρμησε τοῦ τὰ ὄντα διορίσασθαι πόσα τε καὶ ποῖά ἐστιν.«
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Zug des diorisasthai. Aus der sechsten Dihairese ist bekannt, dass es die Tätigkeit des diakrinein kennzeichnet, die dialogische Form des Fragens und Antwortens zu wählen (Soph. 230b4–5). Und deshalb wird wieder das Verfahren des diakrinein bemüht, um die Tätigkeit des diorisasthai zu besprechen. Dabei wird ein hypothetischer Rahmen gesetzt, in dem Fragen gestellt und Antworten gegeben werden könnten, die in der Realität vielleicht verweigert würden und die vielleicht dazu führen, die Lehren besser zu machen, als sie bisher zu sein schienen (Soph. 246d4–9). Etwas zu bestimmen, diorisasthai, heißt, die Eigenbedeutung eines Begriffes anzugeben. In gewissem Sinne kann die Tätigkeit des diorisasthai als Antwort auf die Frage: Was ist x? verstanden werden. Diese für die platonische Philosophie so charakteristische ti-estiFrage steht also hier auch auf dem Prüfstand. Die Auseinandersetzung mit der Tätigkeit des diorisasthai scheint mir der systematische Ort für die Selbstkritik Platons an der von ihm entwickelten Ideenlehre zu sein. Diese Bestimmung kann durch treffende Charakterisierungen geschehen und treffend sind solche, die den zu bestimmenden Begriff identifizierbar und unverwechselbar machen, die, klassisch formuliert, sein Wesen angeben. Die Tätigkeit des diorisasthai kann etwas technischer formuliert auch als Definieren bzw. als Vorschlagen von Realdefinitionen verstanden werden. Dies ist sicher ein legitimes und an vielen Stellen wichtiges Verfahren. Aber es ist einseitig und dann problematisch, wenn es nicht erweitert wird durch die Einsicht in die inhärente Relationalität, die Beziehung auf andere Begriffe, durch deren Einbezug sich die festgesetzte Bedeutung verändern kann. 36 Im Dialog versucht der Fremde diese Problematik folgendermaßen zu zeigen. Nehmen wir eine beliebige Behauptung, die Ergebnis des diorisasthai sein kann, wie zum Beispiel: »Die zwei Grundprinzipien des Seins sind Wärme und Kälte«, oder: »Alles ist Wärme und Kälte.« Auf inhaltlicher Ebene sind zwei Bestimmungen ausgesprochen. Aber ist die Behauptung selbst, die Zuschreibung dieser beiden Bestimmungen zu allen möglichen Gegenständen nicht ein
Vgl. die sehr erhellende Auslegung einer Stelle aus dem Dialog Phaidon von Eckl mit dem Fokus darauf, dass in der mittleren Ideenlehre (z. B. im Phaidon) die Möglichkeit der »Vermischung« von Ideen mit anderen Ideen dezidiert ausgeschlossen wurde, vgl. Eckl, Ideenlogik und Logos der grammatischen Form im »Sophistes«, a. a. O., S. 292, Fßn. 461.
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Drittes, das mit einbezogen werden muss und die inhaltlichen Bestimmungen selber verändert? Das Verfahren des Bestimmens selber kann nicht ausgeblendet und vernachlässigt werden. Die einseitige Fokussierung auf den Inhalt der Bestimmungen, die es erlaubt, diese festzusetzen, muss erweitert werden durch den Einbezug des Verfahrens selbst. Dies hat aber einen anderen Charakter und kann nicht einfach als dritte Bestimmung oder drittes Prinzip neben die anderen gestellt werden. Wie also ist dieser Größe des Verfahrens selbst angemessen Rechnung zu tragen? Die Verfahrensweise des diorisasthai, die ganz auf die inhaltlichen Bestimmungen fixiert ist, kann das nicht fassen. Deshalb scheint das Ergebnis der kritischen Befragung negativ und die Dialogpartner teilen die Erfahrung der Ratlosigkeit. Das, was klar zu sein schien, hat seine Überzeugungskraft verloren. Die kritische Untersuchung der Tätigkeit des diorisasthai ist an einen Punkt geraten, an dem wiederum das Verfahren der Untersuchung, das der Fremde hier angewandt hat, in den Vordergrund tritt, nämlich das diakrinein. Die Unterscheidung zwischen dem, was etwas zu sein scheint und dem, was es wirklich ist, realisiert sich hier als gemeinsame Erfahrung, wie etwas, das überzeugt hat, nicht mehr überzeugt oder wie sich Plausibilität auflöst. Zum diakrinein gehört also auch, in Irritationen zu geraten, Zusammenhänge problematisch werden zu lassen und Unterscheidungen aufzulösen (Soph. 244a). Letztlich geht es im gemeinsamen diakrinein darum, eine Veränderung im Verstehensprozess zu machen. Das, was mal verstanden wurde, Unterscheidungen, die mal getroffen wurden, verändern sich, müssen anders und neu getroffen werden. Die Tätigkeit des diakrinein heißt auch die Erfahrung des Anderswerdens zu inszenieren, des Anderswerdens von etwas, das stabil und überzeugend und alternativlos zu sein »schien«. Diese Erfahrung des Anderswerdens, die zentral für das diakrinein ist, muss nun auch kritisch gegen die Inhalte bestimmter Lehren gehalten werden. Lehren, die nicht erlauben, dies begrifflich zu explizieren, indem sie nur ein unbewegliches Eines und Ganzes setzen, werden dem nicht gerecht. Welche begrifflichen Zusammenhänge sind nötig, um diese Erfahrung fassen zu können? 2.1.1.5 Selbstreflexives Unterscheiden: diakrinein 2 Im Verlauf des Dialoges wurde beständig zweierlei prozessiert. Es wurden auf der inhaltlichen Ebene Verfahrensweisen des Unterscheidens behandelt, dihaireisthai, diapherein bzw. antilegein und diori436 https://doi.org/10.5771/9783495817360 .
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sasthai. Dies geschah im Falle der beiden letzteren Verfahrensweisen unter Anwendung eines anderen Verfahrens, des diakrinein. Das Verfahren des diakrinein wurde also auch performativ eingeführt. Was kann im Rückblick über dies Verfahren gesagt werden und was sind dessen begriffliche Voraussetzungen? Mit Hilfe welcher Begriffe ist es zu erläutern und in welchem Verhältnis stehen die Begriffe zueinander? In den sehr allgemeinen Ausführungen, die der Fremde im Dialog zur dialektischen Wissenschaft vornimmt, werden m. E. genau diese Fragen an das diakrinein gestellt. Ich will damit beginnen, die Besonderheiten des diakrinein zusammenzuführen. Die Tätigkeit des diakrinein setzt nicht mit einer freien Konstruktion von etwas ein, sondern bei einem Problemzusammenhang, hier den dihairetischen Versuchen, den Sophisten zu bestimmen. Es ist wichtig, sich auf die behandelten Inhalte einzulassen und kein Schema, das sich von Inhalten ablösen lässt, anzuwenden. Die Arbeit mit einem Schema führt leicht zu der Haltung, immer schon zu wissen, wie zu verfahren ist. Diese Einstellung gegenüber inhaltlichen Problemzusammenhängen wird als unhaltbar zurückgewiesen. Denn sie sitzt einer Verwechslung auf bzw. produziert diese neu, die der Tätigkeit des diakrinein den Legitimationsgrund gibt, nämlich der Verwechslung zwischen dem, wie etwas zu sein scheint, und dem, wie es ist. Immer schon wissen zu wollen, wie sich die Dinge verhalten, produziert notwendig Schein, da der Vielfalt der Erscheinungsmöglichkeiten nicht Rechnung getragen wird. Die besondere Aufgabe bei der Tätigkeit des diakrinein besteht dann darin, verschiedene Vorgehensweisen zu entwickeln, um den konstitutiven Abstand zwischen den vielfältigen Erscheinungsweisen und dem ideellen Zielpunkt einer erscheinenden Sache selbst sichtbar zu machen. Eine zentrale Vorgehensweise ist die dialogische Gesprächsform im Fragen und Antworten, durch die auch Autoritäten geprüft werden. Diese Vorgehensweise ermöglicht es im Unterschied zur monologischen Darstellung, mit einer doppelten Aufmerksamkeit zu arbeiten, nämlich mit der Aufmerksamkeit auf die zu verhandelnden Gesprächsinhalte wie auf die Verfahren, mit denen diese Inhalte behandelt werden. Die Tätigkeit des diakrinein ist also dadurch gekennzeichnet, ein bestimmtes Verfahren nicht nur auszuführen, sondern die Rückwirkungen des Verfahrens auf die besprochenen Inhalte zu bemerken und auffällig zu machen. Derartige Reflexionen führen oft dazu, dass der Eindruck der Sicherheit sich auflöst, der durch die nicht reflektierte Anwendung be437 https://doi.org/10.5771/9783495817360 .
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stimmter Verfahren entstanden ist. Es ist deshalb eine wichtige Eigenheit der Tätigkeit des diakrinein, Erfahrungen der Auflösung von Überzeugungen, Unterscheidungen und der Gewissheit über Verfahrensweisen zu durchlaufen. Dies macht diese Tätigkeit geeignet, sich auch kritisch auf andere Weisen des Unterscheidens zu richten. Die Tätigkeit des diakrinein soll deshalb »reflexives Differenzieren« genannt werden. Mit Hilfe welcher Begriffe kann das Verfahren des diakrinein selber reflektiert werden? Um diese Frage zu beantworten, soll auf die Dramaturgie des Dialogs Bezug genommen werden. Die war bisher die folgende: Die Tätigkeit des diakrinein wurde vorgeführt. Die Gegenstände, die mit dieser Verfahrensweise des Unterscheidens untersucht wurden, waren die Tätigkeiten dihaireisthai und diorisasthai und diapherein, die selber auch als Verfahren des Unterscheidens verwendet werden können. Trotz der großen Verschiedenheit zeigte sich eine Gefahr, der diese Tätigkeiten nichts entgegensetzen können, wenn sie selbst ohne weitere kritische Reflexion als Verfahren des Unterscheidens verwendet werden. Diese Gefahr bestand darin, Unterscheidungen auf ihre trennende Funktion zu reduzieren. Diese trennende Funktion ist ohne Zweifel wichtig und die grundlegenden Begriffe, mit denen im Dialog gearbeitet worden ist, Sein, Ruhe und Bewegung, sind notwendigerweise auch voneinander zu trennen, um ihre Eigenbedeutung hervortreten zu lassen. Die Wichtigkeit dieser Funktion wie die darin liegende Gefahr geben den Anlass dazu, die trennende Funktion selber zum Gegenstand zu machen: Dies ist aber kaum allein möglich, denn die trennende Funktion ist eng mit der identifizierenden Funktion verbunden. Durch Trennungen werden identifizierbare Einheiten erzeugt. Trennungsfunktion und Identifizierungsfunktion müssen also zusammen betrachtet werden. Die Überlegungen des Fremden setzen bei der Trennungsfunktion an. Trennungen erzeugen ein Relationsgeflecht aus mindestens zwei Relata (etwas ist getrennt von anderem). Diese voneinander Getrennten sind voneinander Verschiedene. Diskutiert man die grundlegende Funktion der Trennung, die Erzeugung von Verschiedenem wie im Sophistes unter dem Begriff »Verschiedenheit« (thateron), dann kommt diesem Begriff deshalb eine Schlüsselrolle zu, weil es sich offensichtlich um einen Begriff handelt, der ein Beziehungsgefüge impliziert, der in sich komplex ist. Unter den Begriff »Verschiedenheit« können solche spezifischen Tätigkeiten des Trennens 438 https://doi.org/10.5771/9783495817360 .
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subsumiert werden, durch die Beziehungsgefüge entstehen. Der Begriff »Verschiedenheit« wird in der Literatur sei es als Relations-, oder Relativ- oder Funktionsbegriff bezeichnet. 37 Damit sind verschiedene mögliche Qualifizierungen und Konkretisierungen der Erzeugung von Beziehungsgefügen gemeint. Wird nun aber dieses Beziehungsgefüge, für das der Begriff »Verschiedenheit« steht, zum Thema gemacht, dann ist dies nur möglich, wenn dabei die anderen genannten Grundbegriffe (wie »Identität«, »Sein«, »Ruhe« und »Bewegung«) wie auch der Grundbegriff »Verschiedenheit« selbst verwendet werden. Und umgekehrt: Wenn die Grundbegriffe »Identität«, »Sein«, »Ruhe« und »Bewegung« thematisiert werden, kann dies nur unter Verwendung der anderen Grundbegriffe wie ihrer selbst geschehen. Durch diese gegenseitige Bezogenheit aufeinander ist es möglich, das grundbegriffliche Netz von jedem der zugehörigen Begriffe aus zu erschließen. Im Sophistes selber wird dies ausgehend vom Begriff der Bewegung vorgeführt. Für die Konzentration der Aufmerksamkeit auf die Verfahrensweisen des Unterscheidens liegt es nahe, den Ausgangspunkt bei der Verschiedenheit zu nehmen. Für diese gegenseitige Bezogenheit verwendet Platon im Sophistes die berühmte Metapher der Verflechtung (symplokē). Die Verflechtung der Grundbegriffe bedeutet nicht ihre gegenseitige Identifizierung. Verschiedenheit ist also nicht Identität, und Ruhe ist nicht Bewegung. Die Möglichkeit, Begriffe in ein kontradiktorisches Verhältnis zu setzen, muss bestehen bleiben. Was voneinander verschieden ist, kann nicht miteinander identisch sein, auch wenn es natürlich möglich ist, dass etwas in bestimmter Hinsicht von anderem verschieden ist und in anderer Hinsicht mit eben diesem anderen identisch ist. Der Satz vom Widerspruch bleibt in Geltung. Die Metapher der Verflechtung pointiert eine Einsicht, die für die Tätigkeit des diakrinein charakteristisch ist. Die Tätigkeit des diakrinein reflektiert das Wechselverhältnis zwischen den Inhalten (wie zum Beispiel die Unterscheidung zwischen Sophist und Philosoph) und den operativen Unterscheidungsweisen dihaireisthai, diorisasthai oder diapherein. Dabei werden die Unterscheidungsweisen selber thematisch. Das Verfahren, mittels dessen die Überbetonung des trennenden Charakters Vgl. Eckl, ebd., S. 319, Fßn. 489 mit Bezug auf diese Unterscheidung bei Cornford, Plato’s Theory of Knowledge, a. a. O., S. 283 und Ehrhard Scheibe, »Über Relativbegriffe in der Philosophie Platons«, in: Phronesis 12 (1967), S. 28–49.
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dieser Unterscheidungsweisen problematisiert wird, kann nur das diakrinein sein, in dem wiederum wechselseitig voneinander abhängige Grundbegriffe operativ sind. Diese Grundbegriffe können jeweils einzeln oder paarweise zum Thema gemacht werden, aber immer so, dass die anderen Grundbegriffe in dieser Thematisierung operativ sind. Genau darin, dass die Grundbegriffe einander in Anspruch nehmen, liegt ein wichtiger Sinn der »Verflechtung der Grundbegriffe«. 38 Dies kann exemplarisch gezeigt werden (im Sophistes geschieht dies am Beispiel des Grundbegriffs Bewegung), aber es entfaltet seine Virulenz nur in der kritischen Reflexion auf ungerechtfertigte Einschränkungen. Alle Verfahren des Unterscheidens verweisen auf den Grundbegriff »Verschiedenheit«. Aber nicht nur das, der Grundbegriff »Verschiedenheit« wird sogar allgemeiner in Anspruch genommen, wenn von irgendwelchem Seienden die Rede ist. Denn um sich auf etwas überhaupt beziehen zu können, muss es verschieden von anderem sein. Seiendes überhaupt ist »verflochten« mit der Verschiedenheit oder ist verschieden von anderem. Der Grundbegriff der Verschiedenheit ist wiederum verflochten mit dem des Nichtseins, denn verschieden von anderem zu sein, bedeutet, dieses andere nicht zu sein. Und das, wovon ein Seiendes verschieden ist, das, was es nicht ist, ist unendlich viel mehr, viel umfangreicher als das, was es ist. Jedes Seiende hat, so könnte man vielleicht sagen, unendlich viele virtuelle Bezüge, die sich nicht vollständig angeben und nicht eingrenzen lassen (vgl. die zentralen Stellen Soph. 256d8–e4 und e6–7). »Verschiedenheit« ist also ein Grundbegriff, der von allem in Anspruch genommen wird und den man von allem aussagen kann. Der Begriff »Verschiedenheit« gehört in ein Ensemble von Grundbegriffen (im Sophistes werden fünf Grundbegriffe ins Verhältnis gesetzt, zur Verschiedenheit gehören noch: Selbigkeit, Sein, Ruhe und Be-
Eckl deutet die Verflechtung der Grundbegriffe im Anschluss an Wolfgang Marx als »topologische Verschiebung« und meint damit die Möglichkeit, die Grundbegriffe jeweils einzeln in ihrer bestimmenden Funktion zu thematisieren (das wird die »Position der Getrenntheit« genannt) sowie die Verschiebung der Grundbegriffe in die »Position der Verbindung«, in der die Grundbegriffe durch andere bestimmt werden, Eckl, Ideenlogik und Logos der grammatischen Form im »Sophistes«, a. a. O., S. 301– 306. Mir scheint die Redeweise von einer »topologischen Verschiebung« zu technisch und zu statisch zu sein, da sie von den möglichen Anlässen der Verschiebung von der einen Position in die andere abstrahiert.
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wegung 39) und kann nur in diesem Zusammenhang und nicht isoliert davon besprochen werden. Dem Grundbegriff Verschiedenheit kommt eine besondere Bedeutung zu. Daraus kann man nicht folgern, dass er der wichtigste Begriff oder gar der erste Begriff in einer hierarchischen Pyramide sei. Dem Grundbegriff der Verschiedenheit kommt bei der Plausibilisierung der »Verflechtung« aller Grundbegriffe durch seine offensichtliche Relationalität eine besondere Schlagkraft zu. Aber ganz wie bei allen anderen Grundbegriffen auch, sind bei jeder Verwendung eines Grundbegriffs die anderen operativ und werden mitgeführt. Dies wird im Sophistes nicht direkt ausgeführt, sondern punktuell in Bezug auf diesen oder jenen Zusammenhang deutlich. Es liegt aber gewissermaßen in der Programmatik der Schrift, diese unausgeführten Bezüge bei Bedarf zu entfalten. Der Begriff »Gegensatz« gehört nicht zu den Grundbegriffen, denn man kann ihn nicht von allem aussagen (was die Tätigkeit des antilegein fälschlicherweise behauptet). Der Begriff »Gegensatz« kann deshalb kein Grundbegriff sein. Was von allem behauptet werden kann, ist also viel unspezifischer, offener und führt nicht zu inhaltlichen Urteilen. Diese sehr unbestimmte Relation des Verschieden-Seins-von hat ein breites Spektrum von Konkretisierungen, die sehr unterschiedliche Konsequenzen haben. Voneinander verschiedenes Seiendes kann einander in sehr verschiedener Weise gegenübergestellt werden (der Fremde macht den Hinweis, dass die Natur des Verschiedenen ebenso »ins Kleine zerteilt« zu sein scheint, wie die Erkenntnis, Soph. 257c6–7). Für diese offene Gegenüberstellung verwendet der Fremde den Ausdruck antithesis (ἀντίθεσις) (Soph. 257e1 ff.). Durch Gegenüberstellungen kann ein Spektrum von möglichen Abstufungen (zwischen Größe und Nichtgröße oder zwischen Schönheit und Nichtschönheit) eröffnet werden oder es können verschiedene Spielarten von Gegensätzen ausgedrückt sein, deren Relata sich nicht unbedingt ausschließen müssen (wie im Falle des subkonträren Gegensatzes, vgl. den folgenden Abschnitt zu den Praktiken des Unterscheidens). Nur im Falle des kontradiktorischen Gegensatzes, der
Es wird in der Forschung verschieden beantwortet, ob der Begriff »Nichtsein« im Sophistes letztlich zu den Grundbegriffen gehört. Es ist wichtig festzuhalten, dass Platon keine Abgeschlossenheit der Grundbegriffe behauptet. Es liegt sogar nahe, dass Begriffe wie »Einheit« und »Vielheit« oder auch der Begriff der Grenze zu den Grundbegriffen zu zählen sind. Vgl. dazu Eckl, ebd., S. 301, Fßn. 475.
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vor allem gemeint ist, wenn der Fremde den Ausdruck »enantion« (ἐναντίον) verwendet (Soph. 258b3), schließen sich die beiden Relata des Gegensatzes derart aus, dass aus der Wahrheit des einen die Falschheit des anderen folgt und umgekehrt. Bei jeder Gegenüberstellung sind die anderen Grundbegriffe Identität, Sein, Ruhe und Bewegung je anders operativ. Die Tätigkeit des diakrinein als Fähigkeit, Verwechslungen zu erkennen und aufzulösen, muss sich also auf diese grundbegriffliche Überlegung zurückbeziehen. Gegenüberstellungen und auch Verneinungen dürfen nicht schlechthin mit Gegensatzbildungen verwechselt werden, sondern Verneinungen zeigen zunächst an, dass das, was verneint wird, verschieden ist von dem, was Gegenstand der Verneinung ist (Soph. 257b9-c3). Für das Verfahren des diakrinein ist eine besondere Vorsicht im Umgang mit den vielen verschiedenen Erscheinungsformen von Gegenüberstellungen kennzeichnend. Darin liegt ein wichtiges kritisches Potenzial gegenüber dem sophistischen antilegein wie auch gegen unreflektierte Formen des dihaireisthai. Wird nun die Reduktion dieser Vielfalt von Gegenüberstellungen auf den kontradiktorischen Gegensatz und die daraus folgenden Konsequenzen kritisiert, dann zeigen sich allererst mögliche Alternativen. Werden andere Formen von Gegenüberstellungen als der kontradiktorische Gegensatz verwendet, verändert das wiederum die einander entgegengesetzten Inhalte. Es ist ein wichtiges Anliegen des diakrinein, diese Rückwirkungen zwischen Formen der Gegenüberstellung und Inhalten aufzuzeigen. Die Tätigkeit des diakrinein wird im Sophistes vorgeführt wie selber zum Gegenstand gemacht. Die Durchsichtigkeit dieses Verfahrens, die in der grundbegrifflichen Reflexion erreicht ist, macht es nun möglich, den anderen Verfahrensweisen des Unterscheidens, die in ihren Problematiken diskutiert und kritisiert worden sind, den ihnen gemäßen Platz anzuweisen. Das dihaireisthai ist dann sinnvoll, um begrifflich erschlossene Themengebiete zu ordnen. Das diapherein und die Spielart des antilegein müssen in ihrer Abhängigkeit vom Vorgang des Gegenüberstellens (antithesis) gesehen werden, um als Varianten verstanden werden zu können, die in bestimmten Kontexten berechtigterweise Verwendung finden, denen aber keinerlei Allgemeinheitsanspruch zugebilligt werden darf. Und die Tätigkeit des diorisasthai kann berechtigterweise als erster Schritt der Annäherung an einen Zusammenhang gelten, der durch die Reflexion auf die anderen operativen Grundbegriffe ergänzt und erweitert werden muss. Damit haben die Tätigkeiten einen Grad an Allgemeinheit 442 https://doi.org/10.5771/9783495817360 .
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erreicht, der es erlaubt, sie auch außerhalb des Sophistes als Verfahrensweisen des Unterscheidens zu adressieren. Dieser Übergang soll im nächsten Abschnitt gemacht werden.
2.1.2 Vier Praktiken des Unterscheidens Der Dialog Sophistes liefert Begründungen für die Beschäftigung mit Unterscheidungen als Unterscheidungen, aber er bietet auch eine Reihe von Werkzeugen an. Ein sehr erschließendes Werkzeug für den reflektierten Umgang mit Unterscheidungen liegt in den vier Verfahrensweisen des Unterscheidens. Damit hat Platon sehr grundlegende und verbreitete Weisen zusammengeführt, wie mit Unterscheidungen umgegangen wurde und wird. Ich habe in meiner Lektüre des Sophistes im letzten Abschnitt viel Wert darauf gelegt, wie drei dieser Verfahrensweisen eingeführt werden. Dies geschieht nämlich zu Beginn des Dialogs beiläufig und die üblichen sprachlichen Ausdrücke für die drei Verfahren sind so eng mit Gewohnheiten verwoben, dass alle Beteiligten wissen, was gemeint ist. Ich bemühe mich in meinem Vorschlag, dieses erschließende Werkzeug aufzunehmen und zu Praktiken des Unterscheidens zu erweitern, auch darum, sprachliche Ausdrücke zu finden, die auf Gewohnheiten, Unterscheidungen zu gewinnen, hinweisen. Platon kam es im Sophistes darauf an, die problematischen Reduktionsformen der ersten drei Verfahrensweisen aufzuzeigen sowie die Möglichkeit der vierten Verfahrensweise, die Gründe für diese Schwierigkeiten einzusehen. Die vierte Verfahrensweise ist deshalb nach Platon die im eigentlichen Sinne philosophische. Mir kommt es in diesem Abschnitt darauf an, dieses Urteil Platons erst einmal zurückzustellen und die vier Praktiken in ihrer Verschiedenheit und großen Varianz zu skizzieren. Dabei zeigt sich sehr schnell, dass eine umfassende Darstellung mit Einbezug möglichst vieler Varianten einen enzyklopädischen Charakter bekäme, der das hier verfolgte Gesamtanliegen übersteigt. Ich will deshalb nicht mehr als einen Umriss der vier Praktiken geben und ihre Anwendung durch den Rückbezug auf den ersten Teil andeuten, wo die vier Praktiken des Unterscheidens bereits als Werkzeug zur Interpretation kantischer Unterscheidungen eingesetzt worden sind. Praktiken sind zu Gewohnheiten gewordene Verfahren, die als Gesamtheit und nicht in einer Befolgung von isolierten Teilschritten 443 https://doi.org/10.5771/9783495817360 .
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ausgeführt werden. Sie sind mit anderen Gewohnheiten verzweigt und lassen ihre Verwender Teil einer Gemeinschaft sein, die diese Gewohnheiten teilen. Eine Praxis wiederum verstehe ich als einen größeren Zusammenhang, der durch die regelmäßige und gemeinschaftliche Ausübung von Techniken und Praktiken entsteht. Unsere Praxis des Unterscheidens weist einige weit verbreitete Praktiken auf, die einfach ohne weitere Rechtfertigung und Erläuterung aufgerufen und verwendet werden können, die aber natürlich für besondere Zwecke konkretisiert, reflektiert und kritisiert werden müssen. Diese Praktiken sind das Einteilen, das Platon in der besonderen Gestalt der dihairetischen Teilung vorgestellt hat, das Kontrastieren, das Platon in der besonderen Form des Gegen-Sprechens (antilegein, diapherein) präsentiert hat, das Bestimmen von Begriffen (diorisasthai), das Platon in Form von ontologischen Bestimmungen des Seins als Ruhe oder als Bewegung thematisiert hat und das Differenzieren, das darauf zielt, Verwechslungen zu vermeiden und das es ermöglicht, Praktiken als Praktiken des Unterscheidens zu reflektieren (diakrinein). Es ist sicher schwierig, die Praktiken des Unterscheidens in dieser größeren Allgemeinheit so zu konturieren, dass alle möglichen Anwendungsfälle eindeutig subsumiert werden könnten. So vorzugehen, hieße, sich in der Praktik des Einteilens zu bewegen und den unberechtigten Anspruch zu erheben, dass über Unterscheidungen im Allgemeinen im Modus des Einteilens gesprochen werden können müsse. Eine der wichtigen Einsichten des Sophistes besteht hingegen darin, dass dieser Anspruch zurückzuweisen ist und dass allein die Verfahrensweise des Differenzierens dazu geeignet ist, die Verhältnisse zwischen den Verfahrensweisen zu reflektieren, ohne ihnen ein äußerliches Regelwerk »überzustülpen«. Ich folge dieser Einsicht und bemühe mich darum, den jeweiligen Ort im Netz der Begriffe bzw. hier der Praktiken des Unterscheidens zu markieren. 2.1.2.1 Einteilen Mit der Praktik des Einteilens wird Ordnung in Begriffsfeldern hergestellt. Das jeweilige Begriffsfeld wird eingeteilt in Über- und Unterbegriffe, d. h. in umfassendere, allgemeinere und speziellere Begriffe. Man könnte auch das traditionelle Begriffspaar von Gattungen und Arten bemühen und sagen: In Einteilungen werden Gattungsbegriffe an den Anfang gestellt, die dann in Artbegriffe und weiter in Unterartbegriffe unterteilt werden, so lange, bis die jeweiligen Einteilungs444 https://doi.org/10.5771/9783495817360 .
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zwecke hinreichend erfüllt sind. So werden Beziehungen zwischen Graden der Allgemeinheit oder Umfänglichkeit wie zwischen gleichgeordneten Begriffen sichtbar. Die Zwecke können sein, verschiedene vorliegende »Gegenstände« (im weiten Sinne verstanden), wie Ereignisse, Individuen, Ausprägungen, unter die passenden Begriffe zu subsumieren und dadurch zu ordnen, oder, wie im Falle des dihairetischen Verfahrens, durch einen Prozess sukzessiver Spezifikation Klärungen über das Gefüge von Abhängigkeiten und Beziehungen herzustellen. Die Regeln, nach denen die Spezifikationsschritte vorgenommen werden, wie die, nach denen die auf einer Ebene befindlichen Begriffe voneinander geteilt werden, können sehr verschieden sein. Die Regeln des vorgeführten dihairetischen Verfahrens im Sophistes, durch kontradiktorische Begriffe disjunkte Teilungen vorzunehmen und nach geteiltem Vorwissen weiter zu spezifizieren, sind einerseits zu speziell, andererseits aber auch zu beliebig. Denn Teilungen in mehr als zwei Glieder über bestimmte differentiae specificae sind oft geboten und die Hinsicht der Spezifikation muss klarer ausgewiesen sein und nachvollziehbaren Regeln folgen. Tragfähige Klassifikationen und Taxonomien entstehen in vielen Bereichen durch vorläufige Versuche, die dann im Gebrauch verändert und zu einem späteren Zeitpunkt kodifiziert werden. Diese Charakterisierung der Praktik des Einteilens ist bewusst vage gehalten und ließe sich leicht mit wissenschaftstheoretischen Überlegungen zu Formen der Klassifikation präzisieren. Dann allerdings wäre die Grenze zum Expertenwissen überschritten und der informelle Charakter einer geteilten und zur Gewohnheit gewordenen Praktik mit vielen möglichen Ausgestaltungen und Variationen verloren. Um genau dieses Maß an Vagheit zu erhalten, werden hier offenere Begrifflichkeiten gewählt. Dennoch zeigen sich die Möglichkeiten und Grenzen der Praktik des Einteilens nur in der konkreten Verwendung. Eine sehr enge Konkretisierung dieser Praktik ist das dihairetische Verfahren, das in der älteren Literatur zum Sophistes teilweise dennoch als Vorbild für philosophische Begriffsordnung und -bildung empfohlen wurde. 40 Eine weitere Anwendung der Praktik des Einteilens wurde in Bezug auf die kantische Ordnung praktischer Begriffe in der Einleitung zur Metaphysik der Sitten be-
40 Vgl. z. B. Stenzel, Studien zur Entwicklung der platonischen Dialektik von Sokrates zu Aristoteles, a. a. O.
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sprochen. 41 Ich will daran anknüpfen und die Möglichkeiten und Grenzen darstellen: Als Einteilung gelesen liefert die kantische Passage eine hierarchische Ordnung praktischer Begriffe. An der Spitze steht der allgemeinste Begriff, das Begehrungsvermögen, das nach Stufen der Spezifikation in Artbegriffe untergliedert wird. Die Artbegriffe, die auf einer gleichen Spezifikationsstufe liegen, müssen scharf, also überschneidungsfrei voneinander abgegrenzt werden und sollten vollständig sein. Artbegriffe funktionieren klassifikatorisch. Sie erlauben, alle konkreten Akte des Begehrens anhand bestimmter Merkmale unter einen der Artbegriffe zu subsumieren. Bezieht man nun diese als Einteilung interpretierte Passage zurück auf die philosophischen Entfaltungen der Begriffe Wille und Wunsch, die Kant an anderer Stelle gegeben hat, dann ergeben sich zwei Schwierigkeiten. Erstens können Wechselbeziehungen zwischen Artbegriffen nicht abgebildet werden. Wenn dieses aber, wie im Falle des Verhältnisses der realen Entgegensetzung von Willkür und Wunsch, den begrifflichen Kern der Begriffe berührt, dann ist dies eine erhebliche Einschränkung. Das zweite Problem ergibt sich daraus, dass der Willensbegriff bei Kant möglicherweise gar kein klassifizierender Artbegriff ist und deshalb in einer Einteilung klassifizierender Begriffe gar keinen sinnvollen Ort finden kann. So betrachtet, erscheint es ausgesprochen reduzierend, verschiedene begriffliche Verhältnisse unter Anwendung der genannten Regeln der Einteilungen zu betrachten. Die Praktik des Einteilens erfüllt oft eine wichtige Funktion der Orientierung in einem Sachgebiet. Es gehört zu den Regeln dieser Praktik, begriffliche Wechselbeziehungen abzublenden. Dies einzufordern heißt, die Praktik des Einteilens zu verlassen. Dennoch muss man sich bei deren Verwendung über diese Abblendungen im Klaren sein. Weil dies nicht immer der Fall ist, gibt es in der Philosophie viele kritische Einwände gegen den einteilenden Umgang mit philosophischen Begriffen. Eine dieser Stimmen ist König. Er sucht für die Unterscheidung zwischen theoretischen und praktischen Sätzen eine angemessene Unterscheidungsweise, die er »radikalen Unterschied« nennt. 42 Als Kontrastbegriff wählt er den »Artunterschied«. Aus seiner Sicht besteht die Hauptschwierigkeit darin, dass Einteilungen dazu zwingen, aus einer Außenperspektive über Unter41 42
Vgl. Teil I, Kapitel 2.2.4. Vgl. König, »Der Begriff eines formalen oder radikalen Unterschieds«, a. a. O.
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schiede zu sprechen. Er sucht dagegen nach einer Möglichkeit aus einer Perspektive des Vollzugs zu sprechen. In Königs kritischer Abgrenzung gegenüber dem »Artunterschied« wird sehr deutlich, inwiefern Einteilungen von der Vorstellung geleitet sind, von einer Art Zentralperspektive her begriffliche Ordnungen im Raum unter Absehung von Zeit zu entwerfen. Der Raum wird durch die Gattung aufgespannt. Der gesamte Raum wird zunächst in ein Oben und Unten zerteilt. Durch die Teilung der umfassenden Gattung durch Einteilungskriterien, die differentiae specificae, entsteht eine oberste Stufe der Allgemeinheit, die Gattung selbst und die erste Spezifizierungsstufe von unterschiedenen Arten. Die allgemeinste Stufe der Gattung bleibt durch die Teilungen unverändert. Jede Art der ersten Stufe kann prinzipiell durch Anwendung weiterer Einteilungskriterien unterteilt werden, sodass weitere Stufen der Spezifizierung entstehen. Das Stufenmodell von Artunterschieden innerhalb einer Gattung wird in Königs Sicht in der Meinung verwendet, dass seiende Artunterschiede vorgestellt werden. Einige Lebewesen sind vernünftig. Die Artunterschiede bestehen unabhängig von Theorien, innerhalb derer sie entwickelt werden, sozusagen von Natur. Der Rechtsgrund für die Verwendung von Artunterschieden liegt in dem faktischen Vorliegen von Unterschieden, die durch bestimmte Verfahren, mal lebensweltlich eingebettet, mal technisch spezialisiert, anschaulich gemacht werden können. Artunterschiede innerhalb einer Gattung sind »unterschiedliche Bestimmtheiten«. Das Wissen von Artunterschieden setzt die Bestimmtheit des Gewussten voraus. Von dieser kritischen Einschätzung ist sicher nicht jede Einteilung getroffen, in denen z. B. der Modellcharakter von Einteilungen klar reflektiert wird. Dennoch machen Königs kritische Ausführungen auf Voraussetzungen dieser Praktik aufmerksam, wie die bei Einteilungen eingenommene Außenperspektive, die Abblendung von Zeit und die vorausgesetzte Bestimmtheit. Es scheint mir wichtig, diese und mögliche andere Voraussetzungen zu benennen, um deutlicher sehen zu können, für welche philosophischen Fragestellungen Einteilungen geeignet sind und für welche eher nicht. 2.1.2.2 Kontrastieren In der Deutung des Sophistes wurde der Vorschlag gemacht, die Tätigkeit des antilegein als spezielle Form des allgemeineren diapherein aufzufassen. Dies wird im Dialog selber höchstens angedeutet, 447 https://doi.org/10.5771/9783495817360 .
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scheint mir aber sachlich gerechtfertigt, um der Vervielfältigung von Gegensatzbeziehungen, die im Dialog vorgenommen wird, einen begrifflichen und sprachlichen Zusammenhang zu geben. Das sophistische antilegein ist eine Extremform, die durch den Versuch gekennzeichnet ist, eine logisch-ontologische Formel zu gewinnen. Mit deren Hilfe wird die Komplexität der Gegensatzverhältnisse auf den kontradiktorischen Gegensatz reduziert. Die Tätigkeit des diapherein ist allgemeiner als Umgang mit gegeneinander streitenden Kräften eingeführt. Ich will auch dies noch verallgemeinern und die Praktik des Kontrastierens als Umgang mit Kontrasten und Gegenläufigkeiten verstehen. Ein Rückblick auf das Bisherige ergibt schon eine Vielfalt solcher Kontraste: In der kantischen Analyse des Wünschens spielt die Figur der realen Entgegensetzung eine Schlüsselrolle. Kant grenzt sie von der formalen Entgegensetzung ab. 43 Sigwart arbeitet mit einem Spektrum von Stärkegraden, das zwischen den Polen minimaler und maximaler Stärke aufgespannt wird. 44 Im Entwurf der dialektischen Handlungstheorie sind Differenzerfahrungen und Gegensatzerfahrungen beschrieben. Und im Sophistes selber ist besonders eine Differenzierung zwischen Formen des Entgegensetzens wichtig, nämlich zwischen dem kontradiktorischen Gegensatz (enantion) und der offeneren Gegenüberstellung (antithesis), die als Hinweis darauf zu verstehen ist, dass hier feinere Betrachtungen möglich und nötig sind. Dass dies im Sophistes aber nicht geschieht, sei als Votum dafür gewertet, dass es für die inhaltliche Arbeit mit Gegensätzen nur von eingeschränktem Wert ist, eine Klassifikation von Gegensatzformen zu unternehmen. Methodisch würde dies bedeuten, die Praktik des Kontrastierens mit den methodischen Mitteln der Praktik des Einteilens zu behandeln. Dies ist natürlich möglich, steigert aber nicht unbedingt die Differenzierungsfähigkeit von Gegensatzformen im Gebrauch. Die Frage, welche Unterscheidungen unter Verwendung welcher Modellierungen von Entgegensetzungen getroffen werden können, wird durch einen Katalog von Formen des Entgegensetzens nicht beantwortet, denn solche Entscheidungen hängen von den jeweiligen Fragestellungen und Erkenntnisinteressen ab. Dies lässt sich zum Beispiel an dem Streit über die Unterscheidung zwischen wahr und falsch studieren, wenn darüber gestritten wird, ob die Unter43 44
Vgl. Teil I, Kapitel 2.2.3. Vgl. Teil I, Kapitel 2.1.2.
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Praktiken des Unterscheidens
scheidung zwischen wahr und falsch nicht graduell funktionieren könne, oder ob hier das »Prinzip vom kategorischen, absoluten, nichtgradualen oder nichtabstufbaren Charakter der Wahrheit« gelte. 45 Diese Entscheidung hängt von sachlichen Erwägungen ab und liegt nicht in den verwendeten Kontrastformen selbst. Deswegen will ich auch hier nur auf einige verwendete Konkretisierungen der Praktik des Kontrastierens zurückblicken und einige wenige Ergänzungen hinzunehmen. Ich beziehe mich zurück auf Kants Unterscheidung zwischen zwei Gegensatzbildungen 46: Kant misst dem Kontrast zwischen realem und logischem Gegensatz große Bedeutung bei und unterstreicht die Wichtigkeit, beide Formen nicht miteinander zu verwechseln. Die logische Entgegensetzung ist der kontradiktorische Gegensatz, durch den ein Widerspruch entsteht. Demgegenüber steht die reale Entgegensetzung zwischen Kräften, die nur im Verhältnis zueinander und in Bezug auf die Zuordnung zu einem Gegenstand als »negativ« oder »positiv« zu bezeichnen sind. Beispiele dafür sind physikalische Größen wie Attraktion und Repulsion, deren Zusammenwirken ein »Positives« erzeugt. In beiden Fällen sind zwei Seiten einander gegenübergestellt. Man kann sich fragen, ob es zu den Regeln der Kontrastbildung gehört, dass zwei Seiten einander gegenübergestellt werden und ob sich mit der Erweiterung auf drei oder mehr Seiten der Kontrast auflösen würde. Im Falle der logischen Entgegensetzung kann es nur zwei Seiten geben, die Grenze ist scharf und die Möglichkeit ist ausgeschlossen, dass aus dem Verhältnis beider Seiten ein neues »Positives« entsteht. Im Falle der realen Entgegensetzung dagegen wird gezeigt, wie aus einem Positiven und einem real entgegengesetzten anderen Positiven ein neues Positives entsteht. Die beiden Entgegengesetzten können also in ein positives Verhältnis zueinander treten und verschiedene »Positivitäten« produzieren. Kontraste, die reale Entgegensetzungen sind, scheinen ein Spektrum zu eröffnen, in dem verschiedene Grade von »Positivitäten« möglich sind. Ein solches Vorgehen bringt eine dynamische Ordnung in einen Zusammenhang und lässt Raum für immer weitere Differenzierungen. In den sich dadurch ergebenden
Geert Keil, »Die Wahrheit verträgt kein Mehr oder Minder«, in: S. Tolksdorf/ H. Tetens (Hg.), In Sprachspiele verstrickt – oder: Wie man der Fliege den Ausweg zeigt. Verflechtungen von Wissen und Können, Berlin/New York 2010, S. 81–100, S. 82. 46 Vgl. Teil I, Kapitel 2.2.3. 45
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Zwischenraum können verschiedene Übergangsformen eingetragen werden. Im Falle der realen Entgegensetzung kann man besonders deutlich sehen, wie die entgegengesetzten Größen im Verhältnis zueinander erst die Funktion »negativ« oder »positiv« zu sein, annehmen. Es verändert sich die Qualität der Seiten, sie »werden« positiv oder negativ durch ihr Verhältnis. Dies geschieht durch die Abgrenzung, durch die aber ein Verhältnis möglich wird, das sogar ein Produkt erzeugt. Die Art der Abgrenzung, die Art der Beziehung und die Art der Seiten stehen also in einem Abhängigkeitsverhältnis. Allgemeiner betrachtet kommt es bei Kontrasten auf die genaue Gestaltung des kontrastiven Verhältnisses an. Schon an der Abgrenzung zu anderen Arten von Kontrasten, wie hier der logischen Entgegensetzung, wird deutlich, dass ein großer Spielraum von Möglichkeiten besteht. Die Regeln für die Bildung solcher Kontraste variieren erheblich. Es lässt sich allgemein nur festhalten, dass die Bildung von Kontrasten bedeutet, dass sie einerseits eine verschiedene Seiten voneinander abgrenzende Funktion haben, eine Grenzziehungsfunktion, die sehr verschieden modelliert werden kann und dass sie andererseits eine beziehende, Verhältnis bildende Funktion haben, die sehr verschieden modelliert werden kann. Diese beiden Funktionen können getrennt voneinander betrachtet und gestaltet werden, es ist aber nicht denkbar, dass ein Kontrast nur eine dieser Funktionen hat. Die Art der Modellierung wirkt zurück auf die Qualität und Art der Seiten, die in ein Kontrastverhältnis gesetzt werden. Die Kontraste verweisen meist auf andere Kontraste und haben einen Kontext, in dem die Grenzbildungsfunktion ermöglicht wird. Kontrastbildungen haben bestimmte Zwecke, von denen die genaue Modellierung abhängt. Kants Philosophie ist ausgesprochen reich an verschiedenen Formen der Entgegensetzung, und er hat ein hohes Bewusstsein dafür, welche Formen für welche Inhalte geeignet sind und welche nicht. Michael Wolff 47 stellt verschiedene Arten von Entgegensetzungen dar, die er für Kants Transzendentalphilosophie für besonders wichtig hält. Die dialektische Entgegensetzung, die Kant in der Transzendentalen Dialektik für die Analyse der Antinomien verwendet, besteht darin, dass zwei Sätze ihrer Form nach in einer kontradiktorischen Beziehung stehen. Diese kontradiktorische Form ist unvermeidlich und nicht durch sprachliche Umformungen eliminierbar. Die geIch folge hier der Darstellung von Michael Wolff, Der Begriff des Widerspruchs, a. a. O., S. 41–77.
47
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nauere Analyse zeigt aber, dass die Entgegensetzung »dialektisch« ist und das heißt, dass sich die Sätze nur scheinbar widersprechen und dennoch den notwendigen Anschein haben, dass sie sich widersprechen. Dafür muss der Inhalt berücksichtigt und der Gegenstand, dem hier entgegengesetzte Bestimmungen zugesprochen werden, genauer betrachtet werden. Wenn mitbedacht wird, in welcher Weise von dem Gegenstand gesprochen wird, zeigt sich, dass die beiden Sätze entweder in einem konträren (für die ersten beiden Antinomien) oder in einem subkonträren Verhältnis zueinander stehen. Für den Fall der ersten Antinomie gilt, dass die beiden scheinbar logisch entgegensetzten Sätze: »Die Welt ist der Größe nach unendlich« – »Die Welt ist der Größe nach endlich« 48, auf einer problematischen Voraussetzung beruhen, die mithilfe der Unterscheidung zwischen Ding an sich und Erscheinung aufgedeckt und zurückgewiesen werden kann. An die Stelle der Behauptung: »Die Welt ist entweder endlich oder unendlich«, tritt die Behauptung, dass die Welt weder endlich noch unendlich ist. Beide Sätze sind zu verneinen. Denn der Welt an sich kommen gar keine Bestimmungen zu, an sich selbst ist sie weder endlich noch unendlich. Die Entgegensetzung zwischen den beiden Sätzen ist also konträr und nicht kontradiktorisch. Für die Analyse von dialektischen Gegensätzen greift Kant auf die verbreitete Unterscheidung zwischen konträren und kontradiktorischen Gegensätzen zurück. Konträre Begriffe oder Aussagen schließen sich in einer Weise aus, in der ein mittlerer dritter Begriff »zwischen« ihnen möglich ist (z. B. blau und gelb, es gibt noch andere »mittlere« Farbbegriffe). 49 »Subkonträr« werden solche partikulär bejahenden und partikulär verneinenden Aussagen genannt, die sich auszuschließen scheinen, die aber beide zugleich wahr sein können (aber nicht beide zugleich falsch). Kontradiktorische Begriffe oder Aussagen schließen einander in der Weise aus, dass es keinen mittleren Begriff gibt (z. B. blau und nicht-blau, damit sind alle Farbbegriffe erfasst). Während die Einteilung in kontradiktorischen, konträren und subkonträren Gegensatz eher gut vertraut ist, handelt es sich bei dem realen Gegensatz und dem dialektischen Gegensatz um Formen, die aus der Arbeit mit philosophischen Problemen heraus erwachsen sind und über deren Berechtigung kein philosophischer Konsens be-
48 49
Kant, KrV, A 504/B 533. Vgl. diese Darstellung Wolff, Der Begriff des Widerspruchs, a. a. O., S. 101.
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steht. Eine vollständige Übersicht über Formen der Entgegensetzung kann es deshalb nicht geben. 2.1.2.3 Bestimmen Die Tätigkeit des diorisasthai wird im Sophistes mit besonderer Akzentuierung der Gefahren vorgestellt, die darin bestehen, die begrifflichen Abhängigkeiten nicht einholen zu können, wodurch es zu bloßen Behauptungen und Scheindefinitionen kommt. Dennoch wird eine sehr grundlegende Tätigkeit sichtbar, die in der platonischen Philosophie in Kopplung mit der ti-esti-Frage eine große Bedeutung hat. Da diese Tätigkeit weit über die Philosophie hinaus vollzogen wird, sowohl lebensweltlich als auch in anderen Wissenschaften, will ich von einer dritten Praktik des Unterscheidens sprechen, nämlich von der Praktik des Bestimmens. Im Zentrum steht die Antwort auf die Frage: »Was ist x?« Damit soll der in Frage stehende Begriff derart umgrenzt werden, dass er von allem anderen und vor allem von Ähnlichem unterscheidbar ist. Geht der Anspruch dahin, die Bestimmung nach bestimmten Kriterien festzulegen und für verschiedene Kontexte verfügbar zu machen, werden (verschiedene Arten von) Definitionen gebildet. Die vorgenommenen Abgrenzungen oder Umgrenzungen haben meist die Funktion, das, was abgegrenzt wird, genauer zu bestimmen. An dem, wovon dies abgegrenzt wird, besteht bei Abgrenzungen meist kein oder deutlich geringeres Interesse. Darin unterscheidet sich eine Abgrenzung von einer Kontrastierung, bei der es um das Kontrastverhältnis und um die sich darin zeigenden kontrastierenden Qualitäten beider (oder mehrerer) Seiten geht. Jemand kann etwas von anderem abgrenzen. Es gibt aber auch reflexive Verwendungen, wo sich jemand von anderem abgrenzt. In beiden Fällen ist es nötig, eine Grenzziehung vorzunehmen, die vor allem das, was abgegrenzt wird, identifizierbar macht und Verwechslungen möglichst verhindert. Begriffliche Abgrenzungen können den Charakter von Definitionen haben, müssen es aber nicht. Sie können auch Vorbereitungen von Definitionen sein, Ergänzungen oder Entfaltungen von Definitionen mit dem Zweck, Missverständnissen vorzubeugen oder die Leistungskraft der Grenzziehungen, die bei Definitionen vorgenommen werden, in Bezug auf naheliegende Verwechslungen zu demonstrieren. Dieses Vorgehen, Definitionen anhand von verschiedenen Ab452 https://doi.org/10.5771/9783495817360 .
Praktiken des Unterscheidens
grenzungen vorzubereiten oder zu entfalten, kann man besonders gut, gewissermaßen in Reinform, bei Aristoteles studieren. Um ein Beispiel zu geben, blicke ich zurück auf die Überlegungen zur Unterscheidung zwischen boulēsis und prohairesis bei Aristoteles, die in der Einleitung in den ersten Teil vorgetragen sind. 50 Hier kommt es mir nicht auf die inhaltlichen Zusammenhänge, sondern auf Aristoteles’ Verfahren der abgrenzenden Bestimmung am Beispiel der prohairesis im vierten Kapitel des dritten Buchs der Nikomachischen Ethik an. 51 Er führt den Ausdruck zunächst mit einigen noch vagen, offenen Bestimmungen ein. Prohairesis scheine das Eigentümliche der Tugend auszumachen, da dadurch der Unterschied der Charaktere begründet werde. Es handele sich um etwas Freiwilliges und habe mit Vernünftigkeit zu tun. Dies schärft Aristoteles nun durch eine Reihe von Abgrenzungen, zu denen auch die Abgrenzung zwischen prohairesis und boulēsis gehört. Boulēsis könne sich auf Unerreichbares beziehen, prohairesis dagegen nicht, sondern immer nur auf Mögliches. Boulēsis setze (auch unerreichbare) Ziele, prohairesis nicht, sondern richte sich auf die dahin führenden Mittel. Nach dem Durchlauf dieser und anderer Abgrenzungen wird nun nach einer Definition der prohairesis gefragt, durch die die negativen Abgrenzungen in eine zusammenfassende positive Bestimmung münden sollen: »Was ist nun der Vorsatz (prohairesis) und von welcher Art ist er, da er keines von den genannten Dingen ist?« 52 In der Antwort auf diese Frage werden die vorläufigen Bestimmungen zusammengefügt und präzisiert: »Da nun Gegenstand des Vorsatzes etwas Erstrebtes und Überlegtes unter denjenigen Dingen ist, die in unserer Macht stehen, wird auch der Vorsatz ein mit Überlegung verbundenes Streben nach den Dingen sein, die in unserer Macht stehen.« 53 Während bei Definitionen und Begriffsbestimmungen im Allgemeinen der Anspruch besteht, den jeweiligen Begriff, hier »prohairesis«, sowohl inhaltlich positiv zu klären als auch negativ die Möglichkeit an die Hand zu geben, zu entscheiden, was alles nicht darunter fällt, sind die vorbereitenden Abgrenzungen in der aristotelischen Vorgehensweise vor allem dafür zuständig, den negativen Part zu explizieren und mit jeder Abgrenzung neu Teilgrenzen zu 50 51 52 53
Vgl. Teil I, Einleitung in den ersten Teil, Abschnitt b). NE III 4, 1111b19–30. NE III 4, 1112a13 (Übersetzung Ursula Wolf). NE III 4, 1113a10–12 (Übersetzung Ursula Wolf).
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errichten. Diese müssen dann so zusammengefasst werden, dass, dem Anspruch nach, alle Verwechslungen ausgeschlossen sind und der wohlbestimmte Begriff in allen möglichen Situationen sicher angewendet werden kann, um zu entscheiden, welche Gegenstände unter ihn fallen und welche nicht. 2.1.2.4 Differenzieren Die drei Praktiken des Unterscheidens, Einteilen, Kontrastieren und Bestimmen, betonen die Trennungen zwischen den Unterschiedenen und die Bezüge ergeben sich mit, werden aber nicht eigens thematisiert und gestaltet. In der bisherigen Darstellung der drei Praktiken des Unterscheidens sind vielfältige Bezüge zwischen ihnen deutlich geworden. Das legt nahe, dass zwischen verschiedenen Praktiken des Unterscheidens auch hin und hergewechselt werden kann. Es ist außerdem denkbar, dass die Praktiken des Unterscheidens auch andere Praktiken des Unterscheidens thematisieren können. Es könnte zum Beispiel bestimmt werden, worin die Praktik des Einteilens besteht. Es ist sogar nicht ausgeschlossen, dass die Praktiken sich selbst thematisieren. Es könnte beispielsweise der Versuch gemacht werden, das Einteilen einzuteilen oder das Bestimmen zu bestimmen. Trotz dieser Möglichkeiten scheint es mir eine bedenkenswerte Einschätzung aus dem Sophistes zu sein, dass es eine eigene Praktik braucht, mittels derer die anderen in ihren spezifischen Fokussierungen auf den trennenden Charakter von Unterscheidungen reflektiert werden können und die den verbindenden Charakter eigens entfalten kann. Diese Praktik des reflexiven Differenzierens hält die Aufmerksamkeit auf der Wechselwirkung zwischen den Inhalten und den angewandten Verfahrensweisen des Unterscheidens. Differenzierungen werden oft da nötig, wo Verwechslungen drohen oder reduktive Vereinfachungen vorgenommen werden. Diese Verwechslungen können, wie im Falle der Verwechslungsgefahr zwischen Sophist und Philosoph in Bezug auf Sokrates, existentiell bedrohlich sein. Die Praktik des Differenzierens stellt keine schnelle Unterscheidungshilfe in der Not zur Verfügung. Sie ist kein Trainingsprogramm dafür, fehlende Unterscheidungskriterien zu liefern oder auf übersehene Unterschiede hinzuweisen. Vielmehr ist die Praktik des Differenzierens durch die Einforderung der doppelten Aufmerksamkeit gekennzeichnet. Verwechslungen, zumal hartnäckige, schwer auflös454 https://doi.org/10.5771/9783495817360 .
Praktiken des Unterscheidens
bare Verwechslungen, kommen oft dadurch zustande, dass eine unangemessene Praktik des Unterscheidens verwendet worden ist. Welche Praktik des Unterscheidens für welche Inhalte angemessen ist, ist schwer zu sagen und unabhängig von dem konkreten Inhalt und Anlass nicht zu entscheiden. Aber es lässt sich negativ festhalten, welche Varianten und Verständnisse der Praktiken des Unterscheidens unangemessen sind. Das sind nämlich solche Varianten, in denen mit einfachen Kontrasten gearbeitet wird und die mit dem Anspruch auftreten, dies sei die einzig mögliche und richtige Variante. Demgegenüber besteht die Praktik des Differenzierens darin, die Vielfalt der Varianten innerhalb jeder Praktik des Unterscheidens einzufordern und die unzulässigen und erschlichenen Vereinheitlichungen aufzudecken. Unangemessen ist außerdem der Anspruch, eine Variante zu der Form zu erklären, die auf alle Inhalte angewendet werden kann, ohne die Inhalte genauer betrachten zu müssen. Und genau dies führt zu der Einstellung, dass man meint etwas zu wissen, ohne es zu wissen. Diese Einstellung zu propagieren und zu verbreiten, ist das, was den Sophisten kennzeichnet. Und der (differenzierende) Philosoph ist gerade der, der genau über diese überzogenen Ansprüche aufklärt. Eine Variante dieser Praktik des Differenzierens wurde im Kapitel über Wittgensteins Analyse der Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille vorgeführt. 54 Wittgenstein nimmt in diesem thematischen Zusammenhang zwei Differenzierungen vor. Die erste Differenzierung ist die zwischen sinnvollen, sinnlosen und unsinnigen Sätzen und die zweite Differenzierung ist die zwischen Wünschen und Wollen. In beiden Fällen besteht Verwechslungsgefahr und zwar genau wegen der mangelnden Reflexion auf die Praktik dieser Unterscheidungen. Die Unterscheidung zwischen sinnvollen, sinnlosen und unsinnigen Sätzen ist keine Einteilung von Sätzen, obwohl es so scheint. Und die Unterscheidung zwischen Wünschen und Wollen ist kein Kontrast, obwohl es so zu sein scheint. Unsinnige Sätze erscheinen als eine Art von Sätzen neben anderen. Und gleichzeitig sind sie es nicht, weil in ihnen das zum Ausdruck kommt, was Sätze überhaupt erst ermöglicht. Damit liegen sinnvolle und unsinnige Sätze nicht auf einer Ebene. 55 Ganz ähnlich verhält es sich mit dem Kontrast zwischen Wünschen und Wollen. Dies liegt nahe, denn Sätze über Wün54 55
Teil I, Kapitel 2.3. Vgl. zum Status der sinnlosen Sätze genauer Teil I, Kapitel 2.3.1.1.
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sche sind sinnvolle Sätze und Sätze über den Willen sind unsinnige Sätze. Wollen hat eine Erfahrungsdimension, wie das Wünschen auch. Wünschen und Wollen scheinen deshalb auf einer Ebene zu liegen und vergleichbar zu sein. Aber dies ist nicht der Fall, denn Wollen stellt die Form des Tätigseins selbst dar, die nicht verlassen werden kann, sondern immer in Anspruch genommen werden muss. Deshalb lässt sie sich nicht, wie das Wünschen, von außen betrachten. Für die Differenzierungen, die Wittgenstein vornimmt, ist die Ungleichartigkeit der differenzierten Seiten von Bedeutung. Sie liegen nicht auf einer Ebene, sie sind nicht symmetrisch. Vielmehr umgreift die eine die andere, und die Unterscheidung ist asymmetrisch. Hier kommen über die Praktiken des Unterscheidens hinaus weitere Möglichkeiten ins Spiel, Unterscheidungsweisen zu beschreiben. Wie sind diese zu gewinnen? Was für eine Betrachtung ist damit verbunden? Diese Frage macht eine Verschiebung der Perspektive auf Unterscheidungen nötig, die ich im nächsten Abschnitt vollziehen will.
2.2 Strukturen von Unterscheidungen In der Einleitung zu diesem Kapitel habe ich die allgemeinere Fragestellung skizziert, die Anlass dafür sein kann, Unterscheidungen zurückzunehmen. Die Funktion und der Aufbau von Unterscheidungen zeigen sich an den Konsequenzen, die das Nicht-Treffen dieser Unterscheidungen haben würde. Wie müssten zum Beispiel unsere sprachlichen Formen verändert werden, die Verwaltungsakte, die Vorbereitung werdender Eltern, die ärztlichen Tätigkeiten, wenn die Geschlechterunterscheidung zurückgenommen würde? Solche Überlegungen können vor allem den Zweck haben, die Kontingenz der jeweiligen Unterscheidung deutlich werden zu lassen und der Frage nach Möglichkeiten nachzugehen, anders zu unterscheiden. Mit dem Vorgehen, Unterscheidungen zurückzunehmen, werden Eindeutigkeiten aufgelöst und in Mehrdeutigkeiten überführt. Mit diesem Abschnitt verfolge ich drei Anliegen, die miteinander zusammenhängen. Es geht mir zum einen darum, das Vorgehen, Unterscheidungen zurückzunehmen, in einer möglichen Variante vorzuführen. Dabei soll zweitens deutlich werden, dass und inwiefern Unterscheidungen strukturiert sind. Es soll der Versuch unternommen werden, durch dieses Vorgehen grundlegende und offene Hinsichten zu gewinnen, um Strukturen von Unterscheidungen ana456 https://doi.org/10.5771/9783495817360 .
Strukturen von Unterscheidungen
lysieren und variieren zu können. Das Vorgehen, Unterscheidungen zurückzunehmen, soll drittens am Beispiel einer Unterscheidung vollzogen werden, die für das Nachdenken über Unterscheidungen eine große Bedeutung hat, nämlich die Unterscheidung zwischen Unterscheidung und Unterschied. In vielen philosophischen Texten könnte man Beispiele für das Vorgehen, Unterscheidungen zurückzunehmen, finden. Die Anregung dafür, dies Vorgehen auf das Unterscheiden selbst anzuwenden und dadurch Strukturen von Unterscheidungen sichtbar zu machen, geht auf einen Text zurück, der dies Vorgehen aus formalen Interessen angedeutet hat. Ich will diese Bezüge im ersten Schritt vorstellen (2.2.1 Zurücknehmen von Unterscheidungen: Quellen und Bezüge). Im zweiten Schritt soll das Vorgehen an der Unterscheidung zwischen Unterscheidung und Unterschied vorgeführt werden (2.2.2 Unterscheidungen und Unterschiede). Im dritten Schritt soll gezeigt werden, welche Hinsichten damit gewonnen sind, um Strukturen von Unterscheidungen analysieren und variieren zu können (2.2.3 Strukturen von Unterscheidungen analysieren).
2.2.1 Zurücknehmen von Unterscheidungen: Quellen und Bezüge Das Vorgehen, Eindeutigkeiten aufzulösen und in Mehrdeutigkeiten zu überführen, ist für die Reflexion auf unsere Zeichen- und damit verbundenen Denkgewohnheiten äußerst produktiv. Dadurch werden bestimmte Inhalte und Strukturen schrittweise abgeblendet. Nun kann man differenzieren zwischen einer Art von Abblendung, die das Abgeblendete wegschneidet, oft »Abstraktion« genannt, und einer Abblendung, die das Abgeblendete erhalten kann – hierfür fehlt ein Terminus, der genauso gängig wäre wie der der Abstraktion. Der Mathematiker Spencer Brown und sein Interpret Louis Kauffman nennen dies »Kondensierung«. Damit ist kein chemischer Veränderungsprozess von einem gasförmigen in einen flüssigen Zustand gemeint, sondern eine Art Verdichtung sehr vielfältiger und komplexer Strukturen. Kauffman, der sich intensiv zu Spencer Browns Vorschlag geäußert hat, hat viel dazu beigetragen, dieses Vorgehen der Verdichtung verständlicher zu machen. Kauffman spielt in kreativer Variation von Spencer Browns Texten Prozesse von Kondensierungen formaler Zeichen durch. Es gilt, in dem Prozess Zeichen zu finden, 457 https://doi.org/10.5771/9783495817360 .
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die immer offener werden. Kauffman nennt solche Zeichen im Anschluss an Überlegungen von Peirce »Pivot-Zeichen«. Kauffman schreibt: Along with the concept of a portmanteau word or symbol there is a notion that I like to call a »pivot duality«. A portmanteau word is a combination of separate meanings such that their signs can be fitted together. In a pivot duality a word or symbol can be interpreted in more than one way, and this multiplicity of interpretation gives rise to a pivot, or translation, between the different contexts of these interpretations. 56
Unter einem »portmanteau sign« versteht Kauffmann ein Zeichen, das eine Kombination von verschiedenen Bedeutungen ist, sodass diese in dem Zeichen zusammengesetzt oder kondensiert werden. Unter »pivot duality« versteht er ein Zeichen, dass in mehr als einer Weise interpretiert werden kann. Diese Multiplizität der Interpretation führt zu einem Drehpunkt zwischen den verschiedenen Kontexten, der auf eine offenere Form hinweist. Beide Formen sind nach Kauffman zentral für Zeichen und vor allem für formale Zeichen. Dagegen steht der Wunsch, Zeichen so zu bilden, dass jedes Zeichen eine einzige ihm zugewiesene Bedeutung hat. Dies ist nach Kauffman nicht möglich und verstößt gegen die Idee von Sprache. Man könnte also sagen, dass in einem solchen Kondensierungsprozess Pivots (Drehpunkte) für verschiedene Ausdifferenzierungen entwickelt werden. Was dabei aufgegeben wird, ist die Idee von Zeichen, die klar umrissene und möglichst scharf individuierte Bedeutungen besitzen. Kauffman scheint damit eine Auffassung des Formalen auf den Punkt zu bringen (und sich dabei auf Spencer Brown und auf Peirce zu beziehen), die formale Ausdrücke als systematisch mehrdeutige Ausdrücke versteht und das Ideal der Eindeutigkeit offensiv zurückweist. 57 Üblicherweise ist eine der höchsten Maximen bei der Entwicklung von formalen Sprachen Eindeutigkeit, also gerade im Gegenteil das Auflösen von Mehrdeutigkeiten. 58 56 Louis H. Kauffman, »The Mathematics of Charles Sanders Peirce«, in: Cybernetics and Human Knowing 8 (2001) 1–2, S. 79–110, S. 84. 57 An anderer Stelle habe ich den Versuch gemacht, diese Auffassungen des Formalen zu kontrastieren. Vgl. Katrin Wille, »Forme(l)n ohne Inhalt? Formale Sprachen als Artikulationsformen des Denkens«, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 40 (2015) 2–3, S. 161–179. 58 Gottlob Frege schreibt in seinem Aufsatz »Über die wissenschaftliche Berechtigung einer Begriffsschrift«: »Die Sprache aber erweist sich als mangelhaft, wenn es sich darum handelt, das Denken vor Fehlern zu bewahren. Sie genügt schon der ersten
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Strukturen von Unterscheidungen
Der Mathematiker Spencer Brown hat in seinem Text Laws of Form einen Vorschlag für eine solche Kondensierung vorgelegt. Er versteht den Text als mathematischen Text. Aber die große Offenheit hat zu vielen Anschlüssen auch in anderen Wissenschaften geführt. Denn die Grundoperation, die Spencer Brown vorschlägt, ist derart offen, dass dadurch keine Festlegung auf einen bestimmten Bereich geschieht. Die Grundoperation ist: unterscheiden. In dem Text wird diese Grundoperation in knappen Zügen charakterisiert, um daraus formale Zeichen und Gesetze für deren Gebrauch zu gewinnen. Dabei werden zwei Richtungen sichtbar. Der Text der Laws of Form selber verfährt konstruktiv. Es fängt mit einer Setzung an, der Idee der Unterscheidung, und von da aus werden sukzessiv syntaktische und semantische Regeln gewonnen. Die andere Richtung wird in den vielfältigen kommentierenden Beitexten wie Vorworten, Einleitungen und Anmerkungen, die Spencer Brown zu dem formalen Aufbau seines Kalküls verfasst hat, angedeutet. Sie besteht in dem Vorgehen, bei üblichen Zeichen und damit formalen Grundunterscheidungen anzusetzen und die getroffenen Unterscheidungen zurückzunehmen. Die genaue Auseinandersetzung mit dem Text der Laws of Form und verschiedenen Deutungen habe ich an anderer Stelle vollzogen. 59 Der Text dient hier nur als Anregung, das Vorgehen, Unterscheidungen zurückzunehmen, als Möglichkeit einer doppelten Aufmerksamkeit auf Unterscheidungen zu entwickeln. Denn um die philosophischen Möglichkeiten zu zeigen, muss man sich von dem gesetzten Rahmen, den Formalwissenschaften, lösen. Das macht einen anderen Umgang nötig, als den Text mehr oder weniger stark philosophisch zu interpretieren. 60 Vielmehr ist die Evidenz für die Frage nach UnterAnforderung nicht, die man in dieser Hinsicht an sie stellen muss, der, eindeutig zu sein. […] Die Sprache ist nicht in der Weise durch logische Gesetze beherrscht, dass die Befolgung der Grammatik schon die formale Richtigkeit der Gedankenbewegung verbürgte.« (in: Gottlob Frege, Begriffsschrift. Eine der arithmetischen nachgebildete Formelsprache des reinen Denkens, Halle 1879, S. 106–114, S. 108). 59 Wille (zusammen mit Schönwälder-Kuntze/Hölscher), George Spencer Brown. Eine Einführung in die »Laws of Form«, a. a. O. 60 Dieses interpretierende Vorgehen von Spencer Browns Rahmensetzung für die Soziologie wählen Dirk Baecker und Athanasios Karafillidis. Karafillidis legt eine ausführliche soziologische Interpretation vor, in: ders., Soziale Formen. Fortführung eines soziologischen Programms, a. a. O., S. 107–165. Baecker und Karafillidis entwickeln damit den Vorschlag Luhmanns weiter, Spencer Browns »Form der Unterscheidung« als formale Grundlage für die Selbstreflexivität von Unterscheidungen zu deuten und für soziologische Analysen einzusetzen. Ich verwende Spencer Browns
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scheidungen und deren Betrachtung philosophisch überhaupt erst einmal aufzubauen. Dabei wird der Text der Laws of Form als Text immer unwichtiger, aber einige der philosophischen Potenziale, Unterscheidungen als solche zu reflektieren, möglicherweise deutlicher. Deshalb beziehe ich mich im Folgenden nicht auf die Texte von Spencer Brown und Kauffman. Soll dies nicht nur abstrakt behauptet werden und soll nicht nur »über« das Zurücknehmen von Unterscheidungen gesprochen werden, muss bei irgendeiner Unterscheidung angesetzt werden. Ich wähle nicht wie im ersten Teil eine Unterscheidung, die einen klaren Gegenstandsbereich hat, wie die Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille. Vielmehr habe ich die Absicht, mit den folgenden Überlegungen zum Vorgehen des Zurücknehmens von Unterscheidungen auch eine Reflexionslücke zu füllen, die mein bisheriges Nachdenken über Unterscheidungen aufweist. Es soll um die Unterscheidung zwischen Unterscheidungen und Unterschieden gehen.
2.2.2 Unterscheidungen und Unterschiede Ich beginne damit, einige Verwendungen der begrifflichen Korrelation Unterscheidungen – Unterschiede vor Augen zu führen. Es gibt Situationen, in denen beide Seiten sehr klar zu unterscheiden sind und verschiedene Funktionen erfüllen. Es gibt aber auch Situationen, in denen die beiden Seiten derart ineinander verflochten sind, dass eine Grenzziehung künstlich erscheint. Im ersten Schritt zeige ich einige Verwendungen der Unterscheidung zwischen Unterscheidungen und Unterschieden auf (2.2.2.1 Verwendungen der Unterscheidung zwischen Unterscheidungen und Unterschieden). Im zweiten Schritt skizziere ich eine Möglichkeit, diese Unterscheidung zurückzunehmen (2.2.2.2 Zurücknehmen statt Abstraktion).
Text hier nur als Anregung für das Verfahren, Unterscheidungen zurückzunehmen und Hinsichten für die Analyse der Strukturen von Unterscheidungen zu gewinnen. Ich glaube nicht, dass Spencer Browns Figur des »Re-entry« und der »Wiedereintritt in die Form« die philosophische Last tragen können, die Selbstreflexivität des Unterscheidens aufgewiesen zu haben. Deshalb beziehe ich mich für die Dimension der Selbstreflexivität des Unterscheidens auf andere Quellen. Vgl. dazu Teil II, Kapitel 3.2.2.
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Strukturen von Unterscheidungen
2.2.2.1 Verwendungen der Unterscheidung zwischen Unterscheidungen und Unterschieden Die Unterscheidung zwischen Unterscheidungen und Unterschieden ist ausgesprochen wichtig für unseren Unterscheidungsgebrauch, aber sie ist auch nicht ganz leicht zu treffen und hat ein hohes Verwicklungspotenzial. Deshalb sollen fünf Verwendungen skizziert werden, in denen Bezugsmöglichkeiten der unterschiedenen Seiten vorgenommen sind. Erstens: Ich will ansetzen bei dem alltagssprachlichen Befund, dass wir mit Unterschieden Beschaffenheiten der Wirklichkeit meinen und mit Unterscheidungen die Akte unseres Bewusstseins, seien es Wahrnehmungsakte oder Akte des Denkens. »Unterschied« wäre dann eine ontologische Kategorie, »Unterscheidung« eine psychologische. Verwendet jemand eine Unterscheidung, unterstellen wir in der Regel, dass damit vorhandene Unterschiede repräsentiert werden sollen. Entsteht der Eindruck, dass dies nicht der Fall sei, also dass Unterscheidungen offensichtlich bestehende Unterschiede nicht berücksichtigen oder gar verdecken, ist das ein Grund zur Kritik an Unterscheidungen. Solche Kritik bedarf der Unterscheidung zwischen Unterscheidung und Unterschied, diese dient als kritisches Instrumentarium. Zweitens: Es gibt aber auch solche Fälle, in denen wir den Eindruck haben, dass durch Unterscheidungen erst bestimmte Unterschiede sichtbar geworden sind. So einen Fall hatte vielleicht Sokolowski mit dem im ersten Kapitel zitierten Beispiel im Blick. 61 Wenn der eine Freund den anderen darauf aufmerksam macht, sein Wortbeitrag sei nicht ironisch, sondern sarkastisch, dann kann durch die Verwendung der Unterscheidung ein Unterschied auffällig werden, der sonst nicht bemerkt worden wäre. Solche Fälle gibt es sicher oft, in denen wir sagen würden, dass vorhandene Unterschiede zwar bestehen, aber nicht bemerkt werden. Neuentdeckungen machen wir uns in der Regel auf diese Weise verständlich. In manchen Gebieten müssen erst technische Unterscheidungsmöglichkeiten geschaffen werden, um vorhandene Unterschiede zu entdecken. Die Geschichte der Naturwissenschaften stellt ein reiches Feld von Beispielen für diesen Zusammenhang dar.
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Vgl. Teil II, Kapitel 1.1.
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Drittens: In anderen Fällen werden durch die Verwendung von Unterscheidungen bestimmte Unterschiede so stark hervorgehoben, dass andere Unterschiede verdeckt werden. In der Diskussion der Geschlechterunterscheidung sind solche Erfahrungen sehr ernst genommen worden, in denen Menschen sich auf einen Unterschied festgelegt und eingeschränkt fühlten. Viertens: In manchen Fällen erscheint es so stark von Unterscheidungsgewohnheiten abhängig zu sein, was überhaupt als Unterschied wahrgenommen werden kann, dass man sich zuweilen fragen kann, ob solche Unterschiede unabhängig von den Unterscheidungsgewohnheiten überhaupt Bestand hätten. Für die Klärung philosophischer Fragen kann man sich in solchen Fällen nicht an bestehenden Unterschieden orientieren. Für den Problemzusammenhang im Sophistes zeigte sich z. B., dass zwar viele Unterschiede zwischen Sophist und Philosoph angegeben, diese aber in keinen sinnvollen Zusammenhang gebracht werden können. Die angeführten Unterschiede sind so eng mit Unterscheidungsgewohnheiten verwoben, dass sie für die philosophische Untersuchung, die die reduktiven Konsequenzen einiger Unterscheidungsgewohnheiten zeigen will, keine Bewährungsprobe darstellen können. Fünftens: Nun gibt es auch solche Fälle, in denen Unterscheidungen erzeugend wirken und Neues in die Welt bringen. Unterscheidungen können also auch produktiv sein, sie können Unterschiede erzeugen, die zu einem wichtigen Teil unserer Wirklichkeit werden. Die Auflistung verschiedener Verwendungsfälle ist nicht vollständig und könnte fortgesetzt werden. Es würde sich lohnen, für verschiedene Verwendungsfälle konkrete Situationen zu entwerfen. Bleibt man bei der Sammlung von Verwendungsfällen stehen, besteht die Neigung, eines der beiden Relata als fix zu setzen und das andere als variabel. Wenn Unterscheidungen sich an Unterschieden bewähren sollen, dann werden die Unterschiede als bestehend gesetzt und gelten als Maßstab für die Bewährung. Und wenn mit Unterscheidungen Unterschiede sichtbar werden, sind die Unterscheidungen der Fixpunkt. Dies provoziert die Frage, was früher bzw. fundamentaler ist und was von was abhängig ist. So zu fragen, bedeutet, eine Figur von Fundamentalbegründungen anzuwenden, die ihrerseits wieder gerechtfertigt und kritisch befragt werden müsste. Die Anwendung solcher Figuren führt dazu, theoretische Lager zu unterscheiden und 462 https://doi.org/10.5771/9783495817360 .
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einander gegenüberzustellen. Als »Realismus« oder »Empirismus« wird die Auffassung bezeichnet, dass Unterschiede Unterscheidungen fundieren. Und als »Konstruktivismus« oder »Idealismus« wird die Auffassung bezeichnet, dass Unterschiede durch Unterscheidungen erzeugt werden. Die Suche nach einem Fundierungsverhältnis impliziert, dass die Seiten der Unterscheidung in einer einseitigen Weise voneinander abhängig sind. Zudem wird dadurch nahegelegt, die Unterscheidung zwischen Unterscheidungen und Unterschieden über die Unterscheidung zwischen innen (im Bewusstsein) und außen (in der Wirklichkeit, unabhängig von unserem Bewusstsein) zu erläutern. Dadurch wird das Bild von einem Bewusstsein als Ort der Unterscheidungen, das wirklichen Unterschieden gegenübersteht, mittransportiert. Sokolowski hat genau daran Kritik geübt. In der allgemeinen Einleitung, mit der diese Arbeit begonnen hat, ist Sokolowskis begrifflicher Gegenvorschlag erwähnt. 62 Seine Kritik setzt an dieser reduzierenden Zuordnung an und er plädiert dafür, Unterscheidungen nicht zu subjektivieren, sondern ihnen den gleichen Wirklichkeitsgehalt zuzusprechen wie Unterschieden. Der Unterschied zwischen beidem liegt darin, dass Unterscheidungen in Situationen entwickelte Unterschiede sind: A distinction is energetic. Since a distinction is a difference displayed, we have to have someone there who displays the difference and also a dative for the display, someone for whom the display happens. 63
Unterschiede kann man aufnehmen oder nennen. Unterscheidungen sind demgegenüber explizit entwickelte Unterschiede. Man kann also Unterscheidungen treffen oder vollziehen und nicht nennen oder aufnehmen. Die Wirklichkeit von Unterscheidungen liegt in Situationen, in denen sie sich manifestieren und entfaltet werden können. Wenn die Entwicklung von Unterschieden nicht interessiert oder nicht mitvollzogen werden kann, dann gibt es Unterschiede ohne Unterscheidungen. Sokolowski verweist auf subtile künstlerische Wahrnehmungen, die ein Laie nicht teilen kann, sondern der nur den Hinweis auf Unterschiede aufnehmen kann. Bei einer Unterscheidung wird der sichtbar, der die Unterscheidung vollzieht und der, für den sie vollzogen wird. 62 63
Vgl. allgemeine Einleitung, Abschnitt vi. Sokolowski, »The Method of Philosophy: Making Distinctions«, a. a. O., S. 523.
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Mir erscheint die Kritik von Sokolowski sehr treffend und wichtig und sein Vorschlag überzeugend. Dennoch scheint es mir ebenfalls wichtig, die mögliche Widerständigkeit und Andersartigkeit der Unterschiede gegenüber den Unterscheidungen deutlicher zu betonen. Ich habe mich in meinen bisherigen Überlegungen von der Hypothese der gegenseitigen Abhängigkeit von Unterscheidungen und Unterschieden leiten lassen. Ich bin in der Darstellung der Variationen im vierten Kapitel des ersten Teils von der Fülle von Unterscheidungsgewohnheiten ausgegangen, die unsere Wahrnehmung von Unterschieden steuert. Genauso wichtig war es aber, zu zeigen, wie die Wahrnehmung von Unterschieden Unterscheidungsgewohnheiten irritieren und verändern kann. In vielen Fällen verhält es sich so, dass Unterscheidungsgewohnheiten den organisierenden Rahmen darstellen, aber selber Medium und nicht Gegenstand der Erfahrung sind. Dennoch können Unterschiede auffällig werden, die nicht sofort gewohnheitsmäßig verarbeitet werden, sondern die irritieren und Veränderungen induzieren können. Die wichtige Variation, in der Frau Wollen Herrn Nots Haltungsveränderung auffällt, ist dafür ein Beispiel. 64 Beide Begriffe, »Unterscheidung« und »Unterschied«, bilden eine Korrelation und können nur im Verhältnis zueinander geklärt werden. Es scheint mir deshalb schwierig, sich einer disziplinären Arbeitsteilung anzuschließen, d. h. die Beschäftigung mit den Unterschieden in die Metaphysik zu verlegen und die Beschäftigung mit Unterscheidungen in die Epistemologie. Eine starke Betonung der gegenseitigen Abhängigkeit von Unterscheidungen und Unterschieden könnte den Anlass dafür geben, die Unterscheidung zwischen Unterscheidungen und Unterschieden zurückzunehmen und die Mehrdeutigkeiten und Unbestimmtheiten zu erkunden, die sich dadurch auftun. Man könnte bei dieser Erkundung die Aufmerksamkeit auf die begrifflichen Strukturen legen, die Unterscheidungen und Unterschiede kennzeichnen und die unbestimmter werden, wenn die Unterscheidung zurückgenommen wird. Eine solche Erkundung will ich im nächsten Abschnitt vornehmen. Das Interesse ist vor allem ein analytisches. Welche Festlegungen können zurückgenommen werden und welche Offenheiten entstehen? Welche Möglichkeiten für die Analyse und Variation ergeben sich dadurch? Es sind aber auch Erkundungen vorstellbar, die stärker an 64
Vgl. Teil I, Kapitel 4.4.
464 https://doi.org/10.5771/9783495817360 .
Strukturen von Unterscheidungen
den philosophisch-inhaltlichen Möglichkeiten von Unbestimmtheit interessiert sind. Wenn die Korrelation Unterscheidungen – Unterschiede zurückgenommen wird, können Mannigfaltigkeiten in die Aufmerksamkeit treten, die nicht als Unterschiede wahrgenommen werden und auch nicht durch Unterscheidungen erfasst werden können und die dennoch hochgradig wirksam sind. Ich meine, dass Deleuze diesen Weg geht und den Versuch einer philosophischen Erkundung des Gewimmels der Differenzen vornimmt. Ich werde mich dieser Konsequenz des Vorgehens, die Unterscheidung zwischen Unterscheidungen und Unterschieden zurückzunehmen, im letzten Abschnitt dieses Kapitels zuwenden. 2.2.2.2 Zurücknehmen statt Abstraktion Das Vorgehen, Unterscheidungen zurückzunehmen, bedeutet nicht, die eine Seite der Unterscheidung in die andere aufzulösen oder die eine gegen die andere durchzusetzen, also zum Beispiel zu behaupten: Es macht gar keinen Sinn mehr, von Unterschieden zu reden, sondern nur noch von Unterscheidungen. Vielmehr soll es auf das, wodurch wir üblicherweise beide Seiten voneinander unterscheiden, nicht ankommen. Geht man von dem weit verbreiteten Verständnis aus, das Sokolowski kritisiert, dann würde das bedeuten, keine Grenze zu ziehen zwischen dem, was verschiedene Beschaffenheiten »sind« und den Leistungen unseres Bewusstseins. Das heißt aber wiederum auch nicht, eine Identität zwischen beidem zu behaupten, wie zum Beispiel: »Sein ist Bewusstsein«. Es soll eine Mehrdeutigkeit geschaffen werden, eine Möglichkeit, nicht entscheiden zu müssen, ob es sich um das eine oder das andere handelt. Das bringt eine Reihe von sprachlichen Problemen mit sich, denn wir verwenden entweder das eine Wort oder das andere und rufen damit häufig verbreitete Unterscheidungshinsichten wach. Man könnte ein anderes Wort prägen oder eine Bindestrich-Konstruktion wählen, wie: Unterscheidung-Unterschied. Ein solches Zurücknehmen soll nun aber nicht einfach behauptet werden, sondern es soll vollzogen werden. Ich konzentriere mich auf die Analyse von Unterscheidungen und Unterschieden als begriffliche Relationen und frage nicht nach den Konsequenzen für das Verhältnis von Ontologie und Epistemologie. Deshalb bleiben viele philosophische Erkundungswege dieser entstehenden Unbestimmtheit an dieser Stelle unbeschritten. 465 https://doi.org/10.5771/9783495817360 .
2 · Warum Unterscheidungsforschung inhaltsgesättigt ist
Ich bediene mich eines Werkzeugs, das mir für mein Anliegen geeignet scheint, und betrachte »unterschieden-sein« und »unterscheiden« als Ausdrücke für zwei Relationen. Die beiden Relationen, für die die Ausdrücke stehen, haben verschiedene Eigenschaften. Ich werde diese Eigenschaften durchgehen und die Festlegungen zurücknehmen und dadurch Bestimmungsmöglichkeiten von Unterscheidungen-Unterschieden sichtbar machen. Um von Unterschieden im Sinne von unterschiedlichen Beschaffenheiten zu sprechen, verwenden wir das Wort »Unterschied« an der Subjektstelle oder das Prädikat »ist unterschieden von«. In manchen Situationen reicht es, einfach die Unterschiedenheit zu behaupten. Jemand könnte fragen: »Sind grüner und schwarzer Tee eigentlich das Gleiche?« und ein anderer könnte antworten: »Nein, es gibt Unterschiede.« Oft kann man dann auch sagen: »Nein, sie sind verschieden.« Hier kommt es nicht darauf an, inwiefern die beiden verschieden sind, sondern nur, dass sie verschieden sind. In anderen Situationen könnte nach der Art der unterschiedlichen Beschaffenheit gefragt werden: »Was ist eigentlich der Unterschied zwischen grünem und schwarzem Tee?« Und die Antwort könnte sein: »Der Unterschied liegt in der Herstellungsart. Schwarzer Tee ist fermentiert und grüner nicht«, oder, etwas umständlicher: »Schwarzer Tee ist von grünem Tee durch die Fermentierung unterschieden.« Um Unterscheidungen auszudrücken wird meist jemand genannt, der die Unterscheidung trifft oder es wird ein Kontext angegeben, in dem die Unterscheidung gilt. Zum Beispiel können wir sagen: »Meine Tante unterscheidet immer zwischen den Tees mit einem bitteren Nachgeschmack und den Tees, die einen blumigen Nachgeschmack haben.« Oder wir können sagen: »Die Unterscheidung zwischen Diesseits und Jenseits wird in Ostasien nicht getroffen.« Oder wir können auch sagen: »Jennifer unterscheidet sich von den anderen in ihrer Klasse, indem sie immer rote Schuhe anzieht.« Die Ausdrücke: »unterscheiden zwischen« und »unterschieden sein« stehen für Relationen. Relationen haben verschiedene »Stelligkeiten«. In dem Satz: »Schwarzer Tee ist von grünem Tee durch die Fermentierung unterschieden«, ist die Relation: »( ) ist von ( ) unterschieden durch ( )« dreistellig. Wo es nicht auf die Hinsicht des Unterschiedenseins ankommt, ist die Relation zweistellig: »( ) ist von ( ) unterschieden/verschieden«. Einstellig kann die Relation nicht sein, sie ist keine Eigenschaft. Sie kann vier- und mehrstellig werden durch 466 https://doi.org/10.5771/9783495817360 .
Strukturen von Unterscheidungen
die Vermehrung der unterschiedenen Seiten, wie z. B.: »Weißer Tee ist von grünem Tee und rotem Tee und schwarzem Tee unterschieden.« Die Relation »unterscheiden« dagegen scheint mindestens dreistellig zu sein. In dem Satz: »Meine Tante unterscheidet immer zwischen den Tees mit einem bitteren Nachgeschmack und den Tees, die einen blumigen Nachgeschmack haben«, ist die Relation »( ) unterscheidet zwischen ( ) und ( )« dreistellig. Etwas anders verhält sich der Ausdruck »sich unterscheiden«. Steht der Ausdruck für eine eigene Relation? Dann wäre die Relation in dem oben genannten Satz: »( ) unterscheidet sich von ( ) indem ( )«. Oder handelt es sich um die vierstellige Relation: »( ) unterscheidet ( ) von ( ) indem ( )«? Einiges spricht für den zweiten Vorschlag, aber der Ausdruck »sich unterscheiden« scheint ein besonderer Fall zu sein. Die Relation kann nicht zweistellig und nicht einstellig (also eine Eigenschaft) sein, sie kann dreistellig oder vierstellig sein und durch Vermehrung der unterschiedenen Seiten mehr als vierstellig sein. Auch wenn bei der Frage nach der Stelligkeit von Relationen irrelevant ist, welche Art von Ausdrücken sinnvollerweise eingesetzt werden kann, so fällt hier doch eines auf, das für beide Relationen große Bedeutung hat. Um dies einzubeziehen muss der bisher verwendete Rahmen für die Analyse überschritten werden, um auf die Funktionsverschiedenheit der einzusetzenden Ausdrücke (in der Terminologie Freges der »Argumente«) zu reflektieren. Bei beiden Relationen sind zwei Relata von gleicher Art und das dritte Relatum hat einen anderen Charakter. Im Falle der dreistelligen Relation »unterschieden-sein« können an zwei Stellen singuläre Terme (wie »Jennifer«) oder generelle Terme (wie »schwarzer Tee«) eingesetzt werden. An der dritten Stelle kann nur ein genereller Term eingesetzt werden (wie »die Fermentierung«), der eine andere Funktion hat als die beiden anderen Terme. Hiermit wird die Art der Unterschiedenheit der Gegenstände oder Sachverhalte, für die die beiden anderen Terme stehen, zum Ausdruck gebracht. Im Falle der dreistelligen Relationen »unterscheiden zwischen« und »sich unterscheiden« können an zwei Stellen singuläre Terme (wie »Jennifer«) oder generelle Terme (wie »schwarzer Tee«) eingesetzt werden und die dritte Stelle gibt eine Art Situationsindex an (jemand unterscheidet oder in einem Kontext wird unterschieden). Im Falle der vierstelligen Relation »( ) unterscheidet ( ) von ( ) indem ( )« kann an die vierte Stelle nur ein genereller Term eingesetzt werden, der die Unterscheidungshinsicht angibt. 467 https://doi.org/10.5771/9783495817360 .
2 · Warum Unterscheidungsforschung inhaltsgesättigt ist
Bisher sind zwei Strukturmerkmale betrachtet worden, die Stelligkeit und die verschiedenen Funktionen der Stellen. Die beiden Relationsausdrücke »unterscheiden zwischen« und »unterschieden sein« stehen für Relationen, die in einigen Hinsichten unterschiedliche Strukturmerkmale aufweisen. Diese Verschiedenheiten sollen zurückgenommen werden. Unterscheidungen-Unterschiede können mit einem Situationsindex versehen sein, es kann die Art der Unterschiedenheit der Gegenstände oder Sachverhalte oder die Unterscheidungshinsicht angegeben werden. Die unbestimmte Relation »unterschieden-sein/unterscheiden« ist mindestens zweistellig. Relationen haben aber noch andere Eigenschaften, die nun zu betrachten sind. Relationen werden meist drei Eigenschaften zugeschrieben. Sie sind erstens entweder symmetrisch oder asymmetrisch, zweitens reflexiv oder irreflexiv, drittens transitiv oder intransitiv. Symmetrische Relationen sind solche, bei denen man die Reihenfolge der Relata umkehren kann. »Peter ist Geschwister von Petra«, ist umkehrbar, Petra ist auch Geschwister von Peter. Bei asymmetrischen Relationen ist die Reihenfolge nicht umkehrbar, z. B.: »Peter ist kleiner als Petra.« Die Relation, für die der Relationsausdruck »unterschieden-sein« steht, ist symmetrisch. Wenn grüner Tee von schwarzem Tee unterschieden ist, dann ist schwarzer Tee auch von grünem Tee unterschieden. Dies gilt nicht so einfach für die Relation, für die der Relationsausdruck »unterscheiden« steht. Zwar ist die Relation »unterscheiden« in dem Satz: »Meine Tante unterscheidet immer zwischen den Tees mit einem bitteren Nachgeschmack und den Tees, die einen blumigen Nachgeschmack haben«, symmetrisch. Die Reihenfolge der Tees ist umkehrbar. Für den Ausdruck »sich unterscheiden« liegen die Dinge anders. Es ist möglich, dass Jennifer sich von den anderen unterscheidet, dass die anderen sich aber nicht von Jennifer unterscheiden. »Sich unterscheiden« verbindet zwei Bedeutungen. Man kann den Ausdruck verwenden, um einen Zustand des Unterschiedenseins auszudrücken. Dann funktioniert er wie die Relation »unterschiedensein«, z. B.: »Grüner und schwarzer Tee unterscheiden sich.« Man kann den Ausdruck aber auch verwenden, um eine Tätigkeit auszudrücken, die nicht reziprok ist. Und genau in dieser doppelten Bedeutung kann der Satz über Jennifer verstanden werden. Die Relation, für die der Relationsausdruck »unterscheiden« steht, kann also symmetrisch oder asymmetrisch sein. Die Relation, für die der Rela468 https://doi.org/10.5771/9783495817360 .
Strukturen von Unterscheidungen
tionsausdruck »unterschieden-sein« steht, kann nur symmetrisch sein. Relationen sind zweitens reflexiv oder irreflexiv. Reflexiv sind solche Relationen, die zwei gleiche Relata zulassen bzw. auf sich selbst anwendbar sind. »Ist identisch mit« gilt in der Regel als reflexive Relation, denn alles ist identisch mit sich selbst, und so kann an beiden Stellen der Relation der gleiche Ausdruck eingesetzt werden: »Die Schale grüner Tee hier ist identisch mit der Schale grüner Tee hier.« Irreflexiv sind solche Relationen, die nicht auf sich selbst anwendbar sind, z. B.: »ist nichtidentisch mit«, z. B.: »Die Schale grüner Tee hier ist nichtidentisch mit der Schale grüner Tee hier.« (Es geht hier um den Fall, in dem der Ausdruck »die Schale grüner Tee« für dieselbe Schale steht.) Die Relation »unterschieden-sein« ist irreflexiv. »Die Schale grüner Tee hier ist unterschieden von der Schale grüner Tee hier«, scheint dann kein sinnvoller Satz zu sein, wenn mit dem Ausdruck »die Schale grüner Tee« in beiden Verwendungen derselbe Gegenstand bezeichnet werden soll. Das gleiche gilt für den Fall: »Meine Tante unterscheidet immer zwischen den Tees mit einem bitteren Nachgeschmack und den Tees mit einem bitteren Nachgeschmack.« Allerdings kann der Ausdruck »sich unterscheiden« reflexiv verwendet werden: »sich von sich unterscheiden«. Diese Verwendung ist nicht ganz einfach zu verstehen, aber manchmal setzen wir sie ein für Erzeugungsakte besonderer Art, z. B. könnte man sagen, dass sich beim Prozess der Zellteilung eine Zelle von sich selbst unterscheidet. Vielleicht wäre es auch angemessen, den christlichen Schöpfungsgedanken als Selbstunterscheidung Gottes zu beschreiben. »Gott ist der Schöpfer«, würde dann in einem bestimmten Sinne bedeuten, dass Gott sich von sich selbst unterscheidet. Die Relation »unterscheiden« kann irreflexiv und reflexiv sein, die Relation »unterschieden-sein« nur irreflexiv. Relationen sind drittens transitiv oder intransitiv. Die Relation »größer sein als« ist transitiv. Wenn Petra größer ist als Peter und Peter größer ist als Benno, dann ist auch Petra größer als Benno. Die Relation »verliebt sein in« ist dagegen nicht transitiv. Wenn Peter in Adelheid verliebt ist und Adelheid in Bettina verliebt ist, dann ist Peter nicht automatisch auch in Bettina verliebt, wahrscheinlich würde eher das Gegenteil zutreffen. Die Relation »unterschieden-sein« erscheint transitiv. Wenn grüner Tee von schwarzem Tee unterschieden 469 https://doi.org/10.5771/9783495817360 .
2 · Warum Unterscheidungsforschung inhaltsgesättigt ist
ist und schwarzer Tee von weißem Tee, dann ist auch grüner Tee von weißem Tee unterschieden. 65 Der Ausdruck »sich unterscheiden« kann aber intransitiv verwendet werden. Wenn Jennifer sich durch die roten Schuhe von den anderen ihrer Klasse unterscheidet und die anderen aus ihrer Klasse sich durch gelbe Mützen von der anderen Klasse unterscheiden, dann heißt das nicht unbedingt, dass Jennifer sich auch (durch eine gelbe Mütze) von der anderen Klasse unterscheidet. Die Relation »unterscheiden« kann intransitiv oder transitiv sein, die Relation »unterschieden-sein« (mit der unten genannten Einschränkung) transitiv. Betrachten wir »unterschieden-sein« und »unterscheiden« als Relationen und überprüfen beide auf die Eigenschaften, die Relationen in der Regel zugeschrieben werden, dann sehen wir, dass die Relation »unterscheiden« ein weiteres Anwendungsgebiet hat und Fälle vorstellbar sind, in denen diese Relation sowohl symmetrisch als auch asymmetrisch, reflexiv wie irreflexiv, transitiv wie intransitiv sein kann. Auch hier soll wieder eine Mehrdeutigkeit geschaffen werden, eine Möglichkeit, nicht entscheiden zu müssen, ob es sich um das eine oder das andere handelt. Damit sind weitere Strukturmerkmale gewonnen und beide Relationen »unterschieden-sein« und »unterscheiden« weisen Verschiedenheiten auf. Die Relation »unterscheiden« kann sowohl symmetrisch als auch asymmetrisch, reflexiv wie irreflexiv, transitiv wie intransitiv sein, die Relation »unterschieden-sein« dagegen nur symmetrisch, irreflexiv und transitiv. Auch diese Verschiedenheiten sollen zurückgenommen werden. Unterscheidungen-Unterschiede können alle Eigenschaften aufweisen (allerdings nicht gleichzeitig), auch dies kann unbestimmt bleiben. Die unbestimmte Relation »unterschieden-sein/unterscheiden« ist mindestens zweistellig, symmetrisch oder asymmetrisch, reflexiv oder irreflexiv, transitiv oder intransitiv. Der bisher gewählte Rahmen der Analyse legt zweierlei nahe, nämlich die Bestimmtheit der Relata und die Äußerlichkeit zwischen Re-
Unter Einbezug von Freges Unterscheidung zwischen Sinn und Bedeutung stellen sich die Dinge allerdings komplizierter dar. Wenn grüner Tee vom Morgenstern unterschieden ist und grüner Tee auch vom Abendstern unterschieden ist, dann sind Abendstern und Morgenstern unterschieden hinsichtlich ihrer Art des Gegebenseins und nicht unterschieden hinsichtlich ihrer Referenz.
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470 https://doi.org/10.5771/9783495817360 .
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lation und Relata. Es ist hier auch wieder nötig, den Rahmen der Betrachtung zu erweitern, denn es ist für einige Verwendungen beider Relationsausdrücke wichtig, dass von den unterschiedenen Relata nur ein Relatum bestimmt ist und das andere unbestimmt. Solche Verwendungen, wie: »Jennifer ist durch ihre grünen Augen von allen anderen unterschieden«, oder auch: »Jennifer unterscheidet sich durch ihre Frechheit von allen anderen«, haben die Form einer Abhebung eines konturierten Relatums von einem unkonturierten Hintergrund. Einige philosophische Unterscheidungen haben diese Form, wie zum Beispiel Heideggers Unterscheidung zwischen Sein und Seiendem, bei dem der Charakter der Bestimmtheit der einen Seite und der Unbestimmtheit der anderen Seite entscheidend ist. Es gilt für beide Relationen »unterschieden-sein« und »unterscheiden«, dass beide Relata bestimmt sein können oder dass ein Relatum bestimmt und das andere unbestimmt ist oder möglicherweise beide Relata unbestimmt sind. Mit der Äußerlichkeit zwischen Relation und Relata ist Folgendes gemeint. Es gibt Relationen, die eine Verknüpfung zwischen solchen Relata herstellen, die auch außerhalb dieser Verbindung bestehen. Die gewählten Beispiele sind vornehmlich von dieser Art, wie grüner und schwarzer Tee. Es gibt aber auch Relationen (und da kommt die Ausdrucksweise an ihre Grenze), durch die die Relata erzeugt werden. Relationen können einen erzeugenden Charakter haben, der verschiedene Grade aufweisen kann (von der creatio ex nihilo bis zum Töpfern). Dies gilt nicht für die Relation »unterschieden-sein«. Es gibt aber Beispiele, in denen die Relation »unterscheiden« die Relata erzeugt. Ich bemühe wieder den christlichen Schöpfergott und seine Unterscheidung zwischen Himmel und Erde. Damit sind neue Strukturmerkmale gewonnen und beide Relationen »unterschieden-sein« und »unterscheiden« weisen Verschiedenheiten auf. Die unbestimmte Relation »unterschieden-sein/unterscheiden« ist mindestens zweistellig, symmetrisch oder asymmetrisch, reflexiv oder irreflexiv, transitiv oder intransitiv, die Relata können beide bestimmt sein, oder eines kann bestimmt und ein anderes unbestimmt sein, die Relation kann die Relata erzeugen oder verknüpfen. Im letzten Schritt frage ich nach der Funktion und dem Charakter der beiden Relationen »unterschieden-sein« und »unterscheiden«. »Relation« ist der üblich gewordene Terminus für Beziehung. Die beiden Relationen »unterschieden sein« und »unterscheiden« sind 471 https://doi.org/10.5771/9783495817360 .
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»Beziehungen der Abgrenzung« zwischen Relata. Diese »Beziehung der Abgrenzung« kann verknüpfend oder erzeugend sein. Es kann unbestimmt und unscharf bleiben, ob das eine oder das andere der Fall ist. Der letzte Schritt des Vorgehens, Unterscheidungen zurückzunehmen, besteht hier darin, die Strukturmerkmale zusammenzutragen und daraus offene Hinsichten für die Analyse von Unterscheidungen-Unterschieden zu gewinnen. Die unbestimmte Relation »unterschieden-sein/unterscheiden« ist mindestens zweistellig, symmetrisch oder asymmetrisch, reflexiv oder irreflexiv, transitiv oder intransitiv, die Relata können beide bestimmt sein, oder eines kann bestimmt und ein anderes unbestimmt sein. Die Relation ist eine »Beziehung der Abgrenzung« und kann die Relata verknüpfen oder erzeugen. Sie kann mit einem Situationsindex versehen sein und es kann die Art der Unterschiedenheit der Relata oder die Unterscheidungshinsicht angegeben werden. Einige der Strukturmerkmale beziehen sich auf das Verhältnis der Relata: Stelligkeit, Symmetrie/Asymmetrie, reflexiv/irreflexiv. Einige der Strukturmerkmale beziehen sich auf die Art der Relata: bestimmt/unbestimmt, Art der Unterschiedenheit, Unterscheidungshinsicht. Einige der Strukturmerkmale beziehen sich auf die Qualität der Relation: Beziehung der Abgrenzung, verknüpfend, erzeugend. Einige der Strukturmerkmale beziehen sich auf den Kontext: Situationsindex auf Personen, Kultur, Anlass. Durch das Vorgehen des Zurücknehmens ist ein Punkt erreicht, an dem es nicht mehr um Unterscheidungen und Unterschiede geht, sondern um allgemeine Hinsichten, Unterscheidungen und Unterschiede zu betrachten. Es ist keine Art von abstrakter Gegenständlichkeit gewonnen und kein Modell für den richtigen Umgang mit Unterscheidungen und Unterschieden und unser Sprechen darüber. Genauso kann aus den offenen Hinsichten für mögliche Strukturmerkmale keine Grundform von Unterscheidungen extrahiert werden. 66 Die offenen Hinsichten verweisen auf die Vielfalt möglicher Für diesen Vorschlag sind die Überlegungen und Deutungen zu den Aspekten der Unterscheidung nach Spencer Brown sehr wichtig, die ich an anderer Stelle ausgeführt habe, vgl. Wille (zusammen mit Schönwälder-Kuntze/Hölscher), George Spencer Brown. Eine Einführung in die »Laws of Form«, a. a. O. Allerdings überzeugt mich die Behauptung, dass der Begriff des Unterscheidens als solcher durch vier Aspekte des Unterscheidens gekennzeichnet sei, nämlich Grenze, zwei Seiten und Kon-
66
472 https://doi.org/10.5771/9783495817360 .
Strukturen von Unterscheidungen
Realisierungen. Unterscheidungen und Unterschiede können auf diese möglichen Strukturmerkmale hin betrachtet und je nach Fragestellung variiert werden. Das bedeutet, Unterscheidungen und Unterschiede auf ihre Struktur 67 hin zu analysieren. Im nächsten Abschnitt soll die Möglichkeit, Strukturen von Unterscheidungen zu analysieren, mit Rückbezug auf den ersten Teil etwas deutlicher gemacht werden.
2.2.3 Strukturen von Unterscheidungen analysieren Jede Verwendung von Unterscheidungen und jeder sprachliche Bezug auf Unterschiede kann auf die in Anspruch genommenen Strukturmerkmale der Unterscheidung oder des Unterschieds hin betrachtet werden. Da es mir nun wieder auf Unterscheidungen ankommt, werde ich mich im Folgenden darauf beschränken. Es ist nicht immer wichtig, diese Betrachtung durchzuführen. Unsere Verwendung von Unterscheidungen funktioniert in der Regel auch ohne diese Explikationen. Aber es gibt Situationen, in denen Hinweise darauf gemacht werden. Dies geschieht meist durch Qualifizierungen der verwendeten Unterscheidung. Einige der vielfältigen Qualifizierungen sind in der allgemeinen Einleitung genannt. Ich erinnere einige Beispiele: Es wird von »trennscharfen«, »kategorialen«, »strikten«, »graduellen«, »analytischen«, »begrifflichen« Unterscheidungen oder Unterscheidungen »in der Sache« gesprochen. 68 Ich meine, dass damit der Versuch gemacht wird, auf Strukturmerkmale der jeweiligen Unterscheidung hinzuweisen, die in dem Kontext wichtig sind und nicht im Hintergrund bleiben können, da sonst möglicherweise eine bestimmtext der Unterscheidung, nicht mehr. Wie gewinnt man denn den Begriff des Unterscheidens selbst? Mittlerweile betone ich deshalb das Verfahren des Zurückgehens hinter Unterscheidungen. Das Produkt ist nicht der Begriff des Unterscheidens und auch nicht eine »Form des Unterscheidens«, die direkt zur Deutung von inhaltlichen Unterscheidungen herangezogen werden kann. Vielmehr werden Hinsichten zur Gestaltung und Betrachtung von Unterscheidungen gewonnen. 67 Ich nehme den Ausdruck »Struktur« von Matthias Varga von Kibéd auf, der damit den Unterschied zwischen Spencer Browns allgemeiner »Form der Unterscheidung« und der konkreteren Aussagen- und Prädikatenlogik, die nicht mit Formen, sondern mit Strukturen arbeitet, betont. Vgl. Matthias Varga von Kibéd/Rudolf Matzka, »Motive und Grundgedanken der ›Gesetze der Form‹«, in: D. Baecker (Hg.), Kalkül der Form, Frankfurt a. M. 1993, S. 58–85, S. 80 f. 68 Vgl. allgemeine Einleitung, Abschnitt vi.
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te Frage nicht geklärt werden könnte. Für bestimmte Fragen hat es hohe Relevanz, verschiedene Strukturen von Unterscheidungen im Blick zu haben. Wann dies der Fall ist, kann nur in Abhängigkeit vom Problem entschieden werden. Sicher gibt es über derartige Einschätzungen keinen Konsens. Für viele ist es hochrelevant, über mögliche Strukturen der Geschlechterunterscheidung nachzudenken. Für andere gibt es mit Verweis auf bestehende Unterschiede keinen Grund dazu. In einem solchen Falle kann es nützlich sein, über die in Anspruch genommenen Strukturmerkmale nachzudenken. Durch die gewonnenen Hinsichten kann auch keine vollständige Systematik aller möglichen Strukturen von Unterscheidungen erstellt werden. Denn die Möglichkeit der Verfeinerung ist immer gegeben und außerdem gibt es Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen Aspekten, z. B. zwischen der Qualität der Relation und der Art der Relata. Sich mit dieser Perspektive auf die Strukturen von Unterscheidungen vertraut zu machen, kann davor schützen, Diskussionen über Unterscheidungen wie die Geschlechterunterscheidung mit dem Hinweis zu beenden: Aber so unterscheiden wir doch! Ich will anhand der gewonnenen Hinsichten einige Möglichkeiten von Strukturen von Unterscheidungen besprechen. Werden die Hinsichten »Art der Relata«, »Verhältnis der Relata«, »Qualität der Relation« und evtl. der »Kontext« näher bestimmt, werde ich von »Aspekten« sprechen, um auf einzelne Strukturmerkmale Bezug nehmen zu können. Um die möglichen Wechselwirkungen erfassen zu können, scheint mir der offene Ausdruck »Aspekte« gut geeignet. Ich werde auf mögliche Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen Aspekten hinweisen. Qualität der Relation: Die Qualität der Relation wurde etwas paradox als »Beziehung der Abgrenzung« bezeichnet. Ich schlage vor, diesen Aspekt allgemeiner »Grenze« oder »Grenzziehung« zu nennen. Der Vorgang der Zurücknahme von Strukturmerkmalen im vorherigen Abschnitt hat gezeigt, dass entweder eine bestehende Grenze die bestimmt und selbstständig gedachten Relata verknüpft oder die Relata durch die Grenzziehung erzeugt werden. In manchen Unterscheidungen ist mehr die (Wechsel-)Beziehung der Relata durch die Grenze oder Grenzziehung betont und in manchen Unterscheidungen mehr die Selbstständigkeit und Unabhängigkeit der Relata. Für die Art dieser Verknüpfung durch bestehende Grenzen oder die Grenzziehung gibt es viele mögliche feinere Bestimmungen. 474 https://doi.org/10.5771/9783495817360 .
Strukturen von Unterscheidungen
Grenzen und Grenzziehungen können scharf oder durchlässig sein, können Überschneidungen ausschließen oder Überlappungen ermöglichen, können Überschreitungen erlauben oder nicht. Viele unserer Qualifikationen von Unterscheidungen beziehen sich auf die feinere Bestimmung von Grenzen (z. B. »trennscharfe« oder »strikte« Unterscheidungen). Die Frage nach der Überschreitbarkeit von Grenzen hat Anlass zur Bildung verschiedener Begriffe, nämlich »Grenze« und »Schranke«, gegeben. Grenzen finden in einem erfüllten Raum statt und können überschritten werden. Im Falle von Schranken ist jenseits der Schranke nichts, gewissermaßen leerer Raum. Wir wissen von der Schranke sozusagen nur von einer Seite her, die Schranke kann nicht überschritten werden, die Perspektive der anderen Seite kann nicht eingenommen werden. 69 Mit der Grenze oder Grenzziehung kann die Art der Unterschiedenheit oder Unterscheidungshinsicht näher bestimmt werden. Grenzen können im räumlichen Modell als Umgrenzung eines Gebiets (z. B. als geographische Grenzen) oder wie eine Färbung gedacht werden. Die Relata unterscheiden sich dann über ihre Art der Färbung. Grenzen können in Form einer Liste aller zugehörigen Gegenstände zur einen oder anderen Seite gezogen werden. Grenzen können durch Habitusformen gezogen werden, durch Regeln und
Vgl. Herbert Schnädelbach über Grenze und Schranke bei Kant: »Die Metapher der Schranke bedeutet dann nichts weiter als die Tatsache einer Asymmetrie: Nur in der Perspektive des Vernünftigen und Verständlichen wissen wir vom Vernunftlosen und Nichtverständlichen, aber die Perspektive des Vernunftlosen und Nichtverständlichen können wir nicht einnehmen, ohne den Kopf oder den Verstand zu verlieren.« (Herbert Schnädelbach, »Grenzen der Vernunft? Über einen Topos kritischer Philosophie«, in: W. Hogrebe/J. Bromand (Hg.), Grenzen und Grenzüberschreitungen. XIX. Deutscher Kongress für Philosophie. Vorträge und Kolloquien, Berlin 2004, S. 283–295, S. 291). Hegel verändert den kantischen Sprachgebrauch kritisch und unterscheidet terminologisch zwischen Grenze und Schranke. Ich zitiere die sehr klare Darstellung von Simon: »Etwas hat seine Grenze gegen etwas anderes, insofern dieses andere selbst etwas Bestimmtes ist, d. h. es hat sie nur in einem System von Bestimmungen. Die ›Schranke‹ ist dagegen eine Grenze, über die etwas gemäß seinem eigenen ›Wesen‹ hinausgehen soll. Die Rationalität soll, so wie sie sich selbst versteht, innerhalb ihrer Grenzen bleiben, so dass sie ihre Beschränkung nicht in dem Blick nehmen kann.« (Simon, »Einleitung. Kolloquium Rationalitätsschranken und Grenzen der Erkenntnis«, in: W. Hogrebe/J. Bromand (Hg.), Grenzen und Grenzüberschreitungen. XIX. Deutscher Kongress für Philosophie. Vorträge und Kolloquien, Berlin 2004, S. 280–282, S. 280–281).
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Gesetze (z. B. politische Grenzen), durch natürliche Bedingungen (z. B. atmosphärische Grenzen, die Leben ermöglichen oder nicht). 70 Art der Relata: Die Relata können als Seiten, Momente, Teile, Komponenten, u. ä. bezeichnet werden. Mit jeder der gewählten Bezeichnungen wird auch etwas über den Aspekt »Verhältnis der Relata« gesagt. Die Ausdrücke »Teile« oder »Komponenten« betonen die Unabhängigkeit und Selbstständigkeit der Relata. »Moment« betont sehr die Bezogenheit der Relata aufeinander. Ich habe in der bisherigen Darstellung meist den Ausdruck »Seiten« verwendet, der für beide Möglichkeiten offen ist. Seiten haben eine Eigenständigkeit, verweisen aber auch aufeinander. Die Relata können beide bestimmt sein. Dies ist dann nötig, wenn das Verhältnis der Relata symmetrisch ist. Das heißt allerdings nicht, dass jede Unterscheidung mit bestimmten Relata symmetrisch ist. In einigen Unterscheidungen ist das eine Relatum bestimmt, das andere unbestimmt. In diesem Fall ist das Verhältnis der Relata asymmetrisch. In welchem Sinne das eine »Relatum« (da der Ausdruck »Relatum« Bestimmtheit suggeriert, kann er hier nur im uneigentlichen Sinne verwendet werden) unbestimmt ist, hängt oft auch wieder von den Aspekten »Verhältnis der Relata« und »Qualität der Relation« ab. Das unbestimmte »Relatum« kann als Hintergrund oder Umgebung verstanden werden. Die Unbestimmtheit eines Relatums kann absolut sein. Wenn die Relation als Schranke gedacht wird, ist keine Überschreitung und keinerlei Qualifikation möglich. Es ist aber auch denkbar, dass beide Relata unbestimmt sind. Wenn nämlich das Verhältnis der Relata eine Oszillation darstellt, entsteht bei beiden Relata ein hohes Maß an Unbestimmtheit. Manche unserer Qualifikationen von Unterscheidungen betonen die Art der Relata. Die Relata begrifflicher Unterscheidungen sind Begriffe, die Relata kategorialer Unterscheidungen Kategorien, also Begriffe von verschiedenem logischem Typ. Mit der Qualifikation »kategoriale Unterscheidung« kann deshalb auch der Hinweis auf ein asymmetrisches Verhältnis der Relata verbunden sein. Die Relata gradueller Unterscheidungen sind Grade. Grade verweisen immer auf eine Mehrgliedrigkeit, die unbeschränkt verfeinerbar ist. Graduelle Unter-
Vgl. Schnädelbach, »Grenzen der Vernunft? Über einen Topos kritischer Philosophie«, a. a. O., S. 284.
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Strukturen von Unterscheidungen
scheidungen überschreiten also die vielfach zur Gewohnheit gewordene Zweigliedrigkeit von Unterscheidungen. Durch Qualifikationen kann die Referenz der Relata hervorgehoben werden. Im Falle von »Unterscheidungen in der Sache« sind die Relata Sachverhalte, im Falle von »analytischen Unterscheidungen« sind die Relata Werkzeuge zur Klärung. Verhältnis der Relata: Das Verhältnis der Relata ist in hohem Maße abhängig von der Art der Relata und der Qualität der Relation. Ob die Relata unabhängig voneinander sind oder aufeinander bezogen sind, wird schon in der Art der Relata als Teile, Komponenten oder Momente mitthematisiert. Das Verhältnis der Relata kann verschieden stellig oder gliedrig sein. Es können also zwei oder mehr Relata ins Verhältnis zueinander gesetzt werden. Das Verhältnis kann symmetrisch oder asymmetrisch sein. Symmetrische Verhältnisse sind oft umkehrbar und reziprok, asymmetrische Verhältnisse nicht umkehrbar und nicht reziprok. In einem asymmetrischen Verhältnis können zum Beispiel sehr verschiedene Arten von Relata aufeinander bezogen werden, etwa eine Tätigkeit und ein Zustand. Zudem kann es sich um ein Verhältnis zwischen verschiedenen Relata handeln oder um ein Verhältnis eines Relatums zu sich selbst. Kontext: Für einige Konstellationen von Unterscheidungen ist es wichtig, den Situationsindex zu berücksichtigen, der oft durch den Verwender oder den Verwendungskontext angezeigt wird, mit dem aber die Komplexität einer Situation gemeint ist. Wird der Kontext mit einbezogen, stellen sich Fragen nach dem Anlass für die Unterscheidung, dem Zweck, den Konsequenzen. Es werden die Verflechtungen mit anderen Unterscheidungen sichtbar. In der Thematisierung von Unterschieden ist dieser Kontext meist abgeblendet. Die Analyse von Strukturen von Unterscheidungen kann nützlich sein, um in Diskussionszusammenhängen und Debatten Positionsbildungen nachvollziehen zu können. Für einige Diskussionszusammenhänge und Debatten liegt das nahe, sie entzünden sich an Unterscheidungen, wie zum Beispiel die Diskussion um die Geschlechterunterscheidung oder die Diskussion um die Unterscheidung zwischen Leib und Körper. Aber auch in anderen Diskussionen und Debatten können leicht die wichtigsten Unterscheidungen sichtbar gemacht werden, für die verschiedene Strukturen und deren Kon477 https://doi.org/10.5771/9783495817360 .
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sequenzen erwogen werden. Im dritten Kapitel des ersten Teils habe ich diese Herangehensweise an die Debatte über Willensschwäche gewählt. 71 Die moderne Debatte hat sich entzündet an dem Verhältnis der beiden Unterscheidungen Praktisches Urteil und Handlung sowie Bewertung und Motivation und man kann sehen, wie sich die Diskussion um die Art der Relata und die Qualität der Relation dreht: Sind die jeweiligen Seiten der Unterscheidung differenzierbare, aber untrennbare Momente? Oder handelt es sich um trennbare, aber aufeinander verweisende Komponenten? Oder trifft es unsere Erfahrungen besser, die unterschiedenen Seiten in eine Fülle anderer Ereignisse zu kontextualisieren, da sie in keinem besonderen Verhältnis zueinander stehen? Für Diskussionen und Debatten, die sehr stark zu Positionalisierungen neigen, wie es für die Debatte über Willensschwäche oder auch die über Willensfreiheit der Fall ist, schlage ich vor, die Linien der Diskussion mehr über die Erkundungen der Strukturen von Unterscheidungen und deren Konsequenzen zu ziehen und die lagerbildenden Etikettierungen wie »Internalisten« und »Externalisten« oder »Kompatibilisten« und »Libertarier« dadurch zu ersetzen. Ganz ähnlich habe ich den Übergang von der Beschäftigung mit der Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille (und der kritischen Abgrenzung zur Willensschwäche) zur allgemeineren Frage nach dem Begriff der Handlung über eine Reflexion auf die Strukturen von Unterscheidungen gemacht. 72 Ich habe mich Taylors Vorschlag angeschlossen, zwei grundlegend verschiedene Strukturen von handlungstheoretischen Unterscheidungen zu kontrastieren. Die eine ist dadurch gekennzeichnet, dass die beiden unterschiedenen Seiten als getrennte, miteinander verknüpfbare Ereignisse verstanden werden. Die andere wird als Zusammenspiel von zwei untrennbaren Momenten verstanden. Von diesen sehr grundlegenden Strukturentscheidungen her legen sich dann auch verschiedene Bezeichnungen beider Seiten nahe, die die Art der Relata zum Ausdruck bringen können. Mit dem Kontrast von Strukturen ist natürlich erst ein Anfang gemacht, der aber entscheidend für die Lenkung der Aufmerksamkeit und die Wahl der Terminologie ist. Jede Struktur, in der die Relata als Momente und nicht als Teile oder Komponenten verstanden werden, ist zu entfalten. Denn sonst wird die Dynamik, die zwischen den Mo71 72
Teil I, Kapitel 3.1.2. Teil I, Kapitel 3.3.1.
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menten besteht, nur behauptet und nicht gezeigt. Deshalb ist die Arbeit an Strukturen von Unterscheidungen eine wichtige, aber ergänzungsbedürftige Art, die doppelte Aufmerksamkeit zu lenken, die für sich allein zu statisch ist. Mir scheint es auch dann hilfreich, die doppelte Aufmerksamkeit auf die Strukturen von Unterscheidungen zu richten, wenn sehr komplizierte philosophische Begriffsverhältnisse entwickelt werden. Kant scheint mir in der Einleitung zur Metaphysik der Sitten damit zu ringen, ob die dreistellige Unterscheidung zwischen Willkür, Wunsch und Wille symmetrisch oder asymmetrisch ist. Der Text hat den Charakter einer Einteilung und es gehört zu den Regeln von Einteilungen, auf einer Ordnungsebene symmetrische Unterscheidungen zu verwenden. Nun kommt dem Willen aber gegenüber dem Wunsch und der Willkür ein doppelter Charakter zu. Wird der Wille als Erscheinung betrachtet, ist er eine Seite einer dreigliedrigen symmetrischen Unterscheidung. Wird der Wille aber als Voraussetzung für Handeln überhaupt und als »Bestimmungsgrund« betrachtet, muss die Unterscheidung asymmetrisch gedacht werden und die Praktik des Einteilens würde sich als untauglich erweisen, dieser Struktur Rechnung tragen zu können. Hier müsste ein Wechsel zur Praktik des Differenzierens stattfinden. Wittgenstein scheint mir dies Problem in aller Schärfe zu sehen. Er hat versucht zu zeigen, dass die Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille asymmetrisch und der Wille als Form der Tätigkeit unbestimmt ist und sich der Vergegenständlichung entzieht. 73
2.3 Unüberblickbarkeit und Vorgängigkeit Die Zurücknahme der Unterscheidung zwischen Unterscheidungen und Unterschieden macht noch ganz andere Erkundungen der Mehrdeutigkeiten und Unbestimmtheiten möglich, als die, die im letzten Abschnitt unternommen wurde. Die analytische Betrachtung der Strukturen von Unterscheidungen ist nur eine von vielen Möglichkeiten. Wenn die Korrelation Unterscheidungen – Unterschiede zurückgenommen wird, kann das Feld der unscharfen, feinen Grenzwerte von Unterschieden erkundet werden, die sich der begrifflichen Zuwendung entziehen und die dennoch hoch wirksam sind. Es stellt 73
Vgl. dazu Teil I, Kapitel 2.3.
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sich die Frage, wie über diese feinen, kaum entwirrbaren »Unterschiede« überhaupt nachzudenken und zu reden ist, wenn sich diese doch unseres begrifflichen Zugriffs entziehen. Deleuze hat einen Versuch gemacht, sich diesem Problem zu stellen und ich will seine Überlegungen dazu in diesem Abschnitt vorstellen. Unterscheidungen werden meist als distinkte, scharf konturierte »Gebilde« verstanden und Tätigkeiten wie die des Trennens, des Abgrenzens, des Polarisierens, des Entgegensetzens stehen besonders in der Aufmerksamkeit. Damit wird ein großer Wirklichkeitsbereich des Noch-Nicht-Unterschiedenen oder Nicht-Unterscheidbaren aus der Betrachtung ausgeschlossen. Dadurch geraten die genetische Perspektive des Entstehens von distinkten Gebilden sowie die vielfältigen Zusammenhänge und Zwischenformen von Distinktem und (noch) nicht oder nicht mehr Distinktem aus dem Blick. Ein wichtiges Anliegen vieler Beiträge, die ich in der allgemeinen Einleitung als »Differenztheorien des 20. Jahrhunderts« zusammengefasst habe, besteht darin, diesen Ausschluss und die einseitige Konzentration auf das Distinkte zu kritisieren. In einem der Schlüsseltexte für dieses neue traditionskritische Nachdenken über Differenz, nämlich Heideggers Band Identität und Differenz findet sich eine griffige Formel für dieses Anliegen. Es gilt, »Differenz als Differenz« zu denken im Unterschied zum Differenten. Mit Rückgriff auf ganz andere philosophische Quellen als auf die Philosophie Heideggers, hat Deleuze es sich zur Aufgabe gemacht, Differenz als produktiven Grund für die Genesis von Differentem zu entfalten. Ich will die Differenzphilosophie von Deleuze deshalb daraufhin befragen, welche begrifflichen Angebote sie macht, um die Reduktion auf das Distinkte zu vermeiden (2.3.1 Im Gewimmel der Differenzen). Deleuze versucht mit seinem Differenzdenken genau das zu leisten und greift dabei auf die Metaphysik von Spinoza zurück. Die Begrifflichkeit, die er selbst wählt und vorschlägt, macht von reflexiven grammatischen Formen Gebrauch, wie »Sich-Differenzieren« (se différer) oder »Differenz in sich« (différance en soi). Im zweiten Schritt will ich Deleuzes Differenzdenken daraufhin befragen, welche begrifflichen Vorschläge gemacht werden, um die Vorgängigkeit der Differenz vor der Verwendung von Differenzen wie deren Produktivität zu denken (2.3.2 Sich Differenzieren).
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2.3.1 Im Gewimmel der Differenzen Das Nachdenken über Differenzen in Frankreich, für das der Band Identität und Differenz von Heidegger ein wichtiger Schlüsseltext war 74, kann verstanden werden als Aufmerksamkeit auf Gefahren und blinde Flecke in der traditionellen Weise, mit Differenzen umzugehen. Eine Formel, die dafür immer wieder bemüht wird, ist die, dass die Differenz traditionell der Identität untergeordnet wurde. Dieser Vorrang der Identität bedeutet, dass der Differenz nur eine Funktion in der Erzeugung von Identitäten zukommt, die abgegrenzt von anderem, identifizierbar und repräsentierbar sind. Differenz ist hier verstanden als Begrenzung, Abgrenzung, Grenzziehung, Entgegensetzung zu anderem. Eine andere Möglichkeit würde darin bestehen, Identität und Differenz als Relationsbegriffe zu verstehen, die aufeinander verweisen und nicht ohne einander gedacht werden können. Das würde ein symmetrisches Verhältnis von Identität und Differenz bedeuten und in der begrifflichen Entfaltung läge der Akzent auf dem Nachweis der gegenseitigen Abhängigkeit der Identität von der Differenz und der Differenz von der Identität. In der Beschäftigung mit dem Begriffsfeld stehen nun aber noch weitere Möglichkeiten offen. Es kann nämlich auch gefragt werden, ob sich Differenz als vorrangig vor Identität denken lässt. Dann würde Differenzen eine Priorität zukommen, die ontologisch, logisch oder epistemisch verstanden werden könnte und Identitäten würden als Resultate verstanden werden, die durch Synthesen von Differenzen entstehen. Eine weitere Möglichkeit könnte darin bestehen, Differenz aus dem klassischen Gegensatzpaar Identität und Differenz zu lösen und einen anderen Gegensatz zu bilden, wie z. B. Differenz und Indifferenz oder durch qualifizierende Adjektive einen Gegensatz wie: sichtbare und unsichtbare Differenz. Der übliche Gegensatz zwischen Differenz und Identität ist vielfach wiederholt und so oft verwendet worden, dass die Variabilitäten, die zu jedem Gegensatzpaar gehören, leicht aus dem Blick geraten. Es gibt immer mehrere Möglichkeiten für die Bildung von Gegensätzen, dies gilt in logischer Hinsicht und noch mehr für die offenen begrifflichen Konstellierungen der natürlichen In dem 1957 erschienenen Band Identität und Differenz hat Heidegger zwei Aufsätze zusammengestellt: »Der Satz der Identität« und »Die onto-theo-logische Verfassung der Metaphysik«. Vgl. zur Wirkung dieses Textes Kimmerle, Philosophien der Differenz, a. a. O., S. 66 ff.
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Sprache. 75 Und schließlich gibt es die Möglichkeit, »Differenz« unabhängig von »Identität« zu denken, als »Differenz selbst« oder »Differenz an sich selbst«. Es ist ein Anliegen der »Differenztheorien des 20. Jahrhunderts«, die angedeuteten begrifflichen Spielräume zurückzugewinnen und das Denken der Differenz, das Sprechen von Differenz und die damit zusammenhängenden Phänomene zu vervielfältigen und dadurch zu intensivieren. Deleuze scheint mir den Schwerpunkt auf die letztgenannte Möglichkeit zu legen und den Versuch zu machen, Differenz ganz aus dem Gegensatz zu lösen und »an sich selbst« zu denken. Unterscheidungen zu treffen und Grenzen zu ziehen sind zwei eng verwobene Tätigkeiten. In den Überlegungen zu den Aspekten von Unterscheidungen wurde der Aspekt der Grenze eigens herausdestilliert. Obwohl es eine Fülle möglicher Realisierungen von Grenzziehungen gibt sowie verschiedene Arten und Weisen, sich dazu zu verhalten, erzeugen Grenzen doch (zunächst) distinkte Einheiten, die abgegrenzt von einer offenen Umgebung oder von anderen distinkten Einheiten sind. Die Konzentration der Aufmerksamkeit auf Unterscheidungen würde dann bedeuten, die Welt als Gebilde von distinkten Einheiten und deren Bezügen untereinander zu sehen. Das ist eine problematische Sicht, die sogar einige der bisherigen Überlegungen zur Pragmatik des Unterscheidens wieder verschütten würde. Unterscheidungsgewohnheiten haben nämlich gerade nicht den Charakter von distinkten Einheiten, sondern sind unübersichtliche Habitualisierungen. Der sehr wichtige Beitrag von Sokolowski zum Nachdenken über Unterscheidungen zeigt, dass es Anlässe dazu geben muss (urge to distinguish), explizite Unterscheidungen in eine Situation der Diffusität (obscurity) einzuführen. Diese Diffusität ist keine vollständige Indifferenz, sondern ein Zustand, der für die genetische Frage nach der Entstehung und dem Auftauchen von Unterscheidungen von großer Bedeutung ist. Ein Blick zurück in den ersten Teil, die Arbeit mit der inhaltlichen Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille, zeigt, dass diese genetische Frage keine spezielle Betrachtung ist, die der Geltungsfrage gegenüberzustellen wäre und die eigentlich die disziplinäre Zuständigkeit der Philosophie überschreiten würde. Die genetische Frage nach der Entstehung bewahrt uns vor der simVgl. dazu die Überlegungen zu der Praktik des Kontrastierens, Teil II, Kapitel 2.1.2.2.
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plifizierenden Auffassung, als handele es sich zum Beispiel bei Intentionen, Absichten oder Vorhaben, etwas zu tun, um Einheiten, die dann einfach nur noch in ein anderes Medium übersetzt werden müssten. Die Unbestimmtheit der antizipativen Entwürfe und ihre Veränderung im Vollzug des Handelns ist eine der Pointen, die aus der Beschäftigung mit der Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille folgt. Deleuze hat sich mit seiner Differenzphilosophie zur Aufgabe gesetzt, diese genetische Frage nach dem Entstehen oder Werden von Unterscheidungen zu stellen und eine philosophische Sprache zu entwickeln, die es erlaubt, dieses Woher des Distinkten auszudrücken. Seine Variante des Vorwurfs, mit dem traditionellen Begriffspaar »Identität und Differenz« die Identität der Differenz vorzuordnen 76 besteht genau darin, dass Differenz mit Distinktheit gleichgesetzt und damit auf die identitätsbildende Funktion reduziert würde. Ich will mich den Überlegungen von Deleuze dazu über einen Umweg nähern, nämlich über den programmatischen Text von Heidegger Identität und Differenz, in dem das Problem der Reduktion auf Distinktheit sehr klar formuliert ist. Heidegger formuliert es als »Sache des Denkens«, die Differenz als Differenz zu denken. 77 Damit soll der Verwechslungsgefahr des »Denn nur in dem Maße, wie man die Differenz weiterhin dem Identischen unterordnet, impliziert sie das Negative und lässt sich bis zum Widerspruch treiben.« (Deleuze, Differenz und Wiederholung, a. a. O., S. 11). 77 Derrida nimmt diese Spur auf, radikalisiert die heideggersche ontologische Differenz und prägt einen eigenen Terminus für die Verschiebung der Aufmerksamkeit von den Unterschiedenen auf die Unterscheidung als Unterscheidung: »différance«. Différance als Bewegung des Rückgangs von Unterschiedenen auf die Unterscheidung selbst ist bei Derrida auch nur beschreibbar, indem hinter übliche Unterscheidungen zurückgegangen wird. Betont wird der Rückgang hinter die Unterscheidung zwischen aktiv und passiv. Dieser Rückgang ist medial. Es ist nicht nur gefordert, bei der Beschreibung der différance hinter übliche Unterscheidungen zurückzugehen, sondern die différance hat auch methodischen Charakter, indem sie selber für die Bewegung des Zurückgehens hinter gewohnte Unterscheidungen steht. Zurückgegangen werden soll hinter die Unterscheidung zwischen Sinnlichkeit und Denken, dies zeigt die »dekonstruktive« Arbeit an der Unterscheidung zwischen gesprochener Sprache und Schrift. Die différance ist in sich vielfältig, in sich differenziert und polysemisch. Rückgang bedeutet Verschiebung und Aufschub der üblichen Unterscheidungen. Hiermit legt Derrida eine Transformation von Husserls Epoché vor, die temporalen Charakter hat. Denn die Verschiebung oder Aufschiebung geschieht in der Zeit auch im Sinne eines Verschiebens auf später. Dies findet Ausdruck in einem Unterschied, der nur graphisch, aber nicht lautlich ist. Der Unterschied ist also graphisch anwesend 76
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distinkten Seienden mit dem nicht-distinkten Sein im Anschluss an das Stichwort der ontologischen Differenz entgegengewirkt werden, die damit noch grundsätzlicher betrachtet wird. 78 Das, was nicht als ein konturiertes Etwas, als Seiendes gefasst werden kann, weil es dessen Horizont bildet, der nur in der Differenz zu dem Konturierten seienden Etwas in den theoretischen Blick genommen werden kann, wird »Sein« genannt. Die ontologische Differenz ist so gebaut, dass beide Seiten nicht unabhängig voneinander gedacht werden können und zueinandergehören. Beide Seiten haben aber einen vollständig anderen Charakter. Das Seiende ist ein variabler Ausdruck für all das, was als »Etwas« verstanden werden kann. Voraussetzung dafür ist ein gewisser Grad an Bestimmtheit, an »Distinktheit«, an Unterschiedenheit von anderen »Etwassen«. Die andere Seite, das Sein, ist dagegen gerade nicht konturiert und begrenz- und bestimmbar, sondern ist der sich der Bestimmung systematisch entziehende Hintergrund. In dem Band Identität und Differenz wird nun subtil und schillernd noch hinter diese Differenz zurückgegangen. Differenz als Differenz soll gedacht werden, um die Fixierung auf das Seiende zu lösen. Die Versuchung ist nämlich zu groß, das Sein im Modus eines Etwas zu denken und so die Differenz zwischen gänzlich Verschiedenem in eine Differenz zwischen Ähnlichem zu verwandeln, wie wir es bei den meisten Differenzen auch gewohnt sind. 79 Um die ontologiund lautlich abwesend zugleich. Die Funktion von solchen Prozessen des Rückgangs ist nicht nur negativ-kritisch in der Auflösung von üblichen Unterscheidungen. Der konstruktive Charakter liegt darin, durch die Bewegung des Rückgangs neue Unterscheidungen durch neue Beziehungsarten zwischen den neu zu Unterscheidenden denken zu können. Dies zeigt, wie das Zurückgehen eng verbunden ist damit, Strukturen von Unterscheidungen zu kritisieren und neu zu entwerfen und wie diese Bewegung des Rückgangs der Strukturkritik neue Möglichkeiten verschaffen kann. Dieser Rückgang ist nicht der Rückgang zu einem Ursprung, sondern vielmehr gerade ein Gegenmodell dazu, nämlich eine Art differentielle Analyse. Vgl. Jacques Derrida, »Die différance« (1972), in: ders., Randgänge der Philosophie, Wien 1988, S. 29–52 (Übersetzung Gerhard Ahrens). 78 Vgl. dazu Heidegger in den »Grundproblemen der Phänomenologie«: »Diese Unterscheidung ist keine beliebige, sondern diejenige, durch die allererst das Thema der Ontologie und damit der Philosophie selbst gewonnen wird. […] Wir bezeichnen sie als die ontologische Differenz, d. h. als die Scheidung zwischen Sein und Seiendem.« (Martin Heidegger, Die Grundprobleme der Phänomenologie (1927), in: Martin Heidegger Gesamtausgabe (GA), Bd. 24, hrsg. v. F.-W. von Herrmann, Frankfurt a. M. 1975, S. 22). 79 Möglicherweise greift Heidegger hier auf Überlegungen aus einem unveröffentlichten Manuskript aus dem Jahr 1941 mit dem Titel »Über den Anfang« zurück.
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sche Differenz angemessen zu verstehen, macht Heidegger nun in Identität und Differenz den Schritt, Differenz als Differenz zu denken und von den unterschiedenen Seiten gänzlich abzusehen. Aus diesem Denken kann die Beziehungsart zwischen Sein und Seiendem aufscheinen, die nicht der Fixierung auf das Seiende verfällt. Was kennzeichnet die Differenz als Differenz? Durch die Andeutung dieses Projektes und die Forderung nach dem Denken der Differenz als Differenz kritisiert Heidegger die bisherige Verwendung des Erkenntniskriteriums des clare et distincte und seine modernen Reformulierungen zum Beispiel in Form von Rationalitätskriterien, die allein auf der Ebene des Seienden verbleiben. Bisher wurde Differenz ausschließlich als Differenzierung des Differenten, als auf das differente Seiende bezogen gedacht. Wie nun aber ist dieses »Sein« zu besprechen? Wie ist seiner konstitutiven Unbestimmtheit sprachlich Rechnung zu tragen? Der Ausdruck »Sein« suggeriert eine zu große Unbestimmheit oder Indifferenz, die irreführend ist, denn damit soll das genetische Feld angezeigt werden. Kann es weiterführen, den Ausdruck »Sein« durch den der »Differenz« zu ersetzen? Wie müsste »Differenz« dann qualifiziert werden? Nähern wir uns der Philosophie von Deleuze über diesen Umweg, dann lässt sich sagen, dass Deleuze sich die Antwort auf diese Frage zur Aufgabe macht. Heideggers sehr eigenwillige sprachliche Vorschläge nimmt Deleuze nicht auf. 80 In Identität und Differenz macht Heidegger den Vorschlag, mit Hilfe der Ausdrücke »Überkommnis« und »Ankunft« eine Beschreibung von Differenz als Differenz möglich zu machen, bei der das voneinander Differente sprachlich gar nicht mehr auftaucht. Deleuze sucht andere begriffliche und sprachliche Möglichkeiten, denen ich mich hiermit zuwenden will.
Das Kapitel »Die Unterscheidung und der Unterschied« beginnt mit der Überlegung, dass die Rede von »der« Unterscheidung die Unterscheidung zwischen Sein und Seiendem meint, da sie als Unterscheidung vom ersten Range zu bezeichnen sei, die verlassen werden müsse, um das Unbegriffene und Ungedachte in ihr offenbar werden zu lassen. Vgl. Heidegger, Über den Anfang (1941), in: GA, Bd. 70, hrsg. v. P.-L. Coriando, Frankfurt a. M. 2005, S. 68–83. 80 Vgl. die »Anmerkung zu Heideggers Philosophie der Differenz«, die Deleuze im ersten Kapitel von Differenz und Wiederholung typographisch vom restlichen Text absetzt. Vgl. Differenz und Wiederholung, a. a. O., S. 93–94.
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Ich will im Folgenden versuchen, dieses Verständnis von nicht-distinkter Differenz etwas näher vorzustellen, weil es mir als Korrektiv für die übliche Konzentration auf das Distinkte ausgesprochen wichtig erscheint. Ich beziehe mich also auf die Philosophie von Deleuze als eine, die sich diesem Problem besonders zugewandt hat. Dabei ist es nicht möglich, dem Ansatz von Deleuze in allen Punkten gerecht zu werden. Im Gegenteil, ich halte seine philosophische Sprache und seinen Stil streckenweise für derart eigenwillig und dunkel, dass die Bezüge auf bestimmte Probleme durch eigene Aneignungen und sprachliche Entfernungen deutlich gemacht werden müssen. Warum ist Differenz und Wiederholung so schwer zugänglich? Der eigenwillige Umgang mit Sprache und der bewusste Abstand von unseren alltäglichen Redeweisen und Selbstbeschreibungen machen den Text nicht leicht verständlich. Diesen Abstand will ich in Bezug auf zwei Punkte deutlich machen. Zum einen bleiben in unserer Alltagssprache die Differenzierungen im Unterscheidungsgebrauch operativ und in der Philosophie von Deleuze (und das teilt er mit Derrida und Lyotard) werden sie thematisch. Weil nicht immer deutlich gemacht wird, welche Erfahrungen zu diesen Differenzierungen Anlass geben, ist es schwer, an die Redeweisen anzuschließen. Damit hängt der zweite Punkt zusammen. Unter Differenzen sind nicht nur solche zu verstehen, die wir als Akteure verwenden oder nicht verwenden, sondern Differenzen liegen uns als Akteuren in gewisser Hinsicht voraus. Wie kann man darauf einen Blick bekommen und wie lässt sich darüber sprechen? Deleuze macht den Versuch, Differenzen in dieser Hinsicht zu thematisieren und wählt dafür eine Sprache, die nicht »akteurszentriert« ist. Das ist immer noch unüblich, wenn auch in der Philosophie verschiedentlich durchgeführt. Die Philosophien, die das versuchen, teilen eine Hermetik und Unzugänglichkeit des Ausdrucks (wie Spinoza, Heidegger, teilweise auch Hegel, ganz anders als ein Locke oder Hume). Dies ist einerseits verständlich, denn es geht darum, die Akteurszentrierung des common sense zu übersteigen. Andererseits scheint mir der Preis der Unverständlichkeit zu hoch zu sein und ich unternehme deshalb im Folgenden den Versuch, die begrifflichen Entscheidungen von Deleuze mit weithin geteilten sprachlichen Unterscheidungsgewohnheiten zu kontrastieren, indem ich verschiedene Züge der Differenz an sich selbst hervorhebe. Dies ist auch deshalb wichtig, um den Beitrag deutlich zu machen, den das Differenz-
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denken von Deleuze für das hier entwickelte Verständnis von Unterscheidungsforschung leisten kann. Differenz an sich selbst: Von der »Differenz an sich selbst« 81 zu sprechen und damit an Heideggers programmatische Aufforderung anzuknüpfen, die Differenz als Differenz zu denken, um nicht bei dem Vergleich von Ähnlichem stehen zu bleiben, ist zunächst kontraintuitiv. Wenn wir von Differenzen sprechen, dann meinen wir damit die differenten Seiten, die Differenz zwischen Etwas und Etwas. Dieser Sprachgebrauch und diese Gewohnheit, die Aufmerksamkeit auf die differenten Seiten zu richten, wurden in den Überlegungen zu den Strukturen von Unterscheidungen im vorherigen Abschnitt zum Ausgangspunkt genommen. Die Aufforderung, Differenz als Differenz oder Differenz an sich selbst zu denken, scheint dem nun gerade entgegenzustehen. Wir sollen nicht auf das Gute im Unterschied zum Bösen schauen, nicht auf Kinder im Unterschied zu Eltern, sondern auf das Differentsein, nicht auf das Etwas-Sein durch das Differentsein, sondern auf das Moment des Differentseins selbst. Ich meine, dass Deleuze versucht, dies zu denken und zu beschreiben und es wird schon hier verständlich, warum die Sprache hierfür anders und zu einem guten Stück auch merkwürdig und widerstrebig sein muss gegenüber der üblichen und tradierten Weise, über etwas Differentes im Unterschied zu anderem Differenten zu reden. Werden, beständige Veränderung: Differentsein oder Differenz und nicht differentes Etwas im Unterschied zu anderem differenten Etwas kann keine Identitätskriterien haben. Wir können nicht wissen und sagen, was das ist, wir können es nicht festhalten und nicht vergegenständlichen, sonst wäre es zu einem differenten Etwas geworden. Darüber etwas sagen zu wollen, ist schon selbst ein paradoxales Unternehmen, wenn wir Sprechen vor allem als identifizierende Tätigkeit verstehen. Wörter stehen für etwas, sie referieren auf etwas außerhalb ihrer und erzeugen damit eine Art Gegenständlichkeit. Das Nachdenken und Sprechen von Differentsein kommt also schon wieder in einen Konflikt mit Denk- und Sprachgewohnheiten, nämlich solchen, die Denken ausschließlich als Denken über und Sprechen ausschließlich oder vor allem als Sprechen über verstehen. Diese referierende und repräsentative Funktion ist sicher wichtig und eine 81
Vgl. zu dieser Wendung z. B. ebd., S. 11.
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nichtreduzierbare Grundfunktion des Denkens und Sprechens. Aber damit sind nicht alle Möglichkeiten des Denkens und Sprechens erschöpft und zum Beispiel das evozierende Sprechen, das performative Sprechen oder das produktive Sprechen sind damit nicht im Blick. Seit den sprachphilosophischen Beiträgen von John Austin haben solche Formen des Sprechens eine breitere Anerkennung erhalten und es ist deshalb an solche nicht referierenden Sprachformen anzuknüpfen, wenn das Sprechen von Differentsein oder Differenz in dem skizzierten Sinne in Frage steht. Für Deleuze ist der in gewisser Weise klassische Ausdruck des Werdens zentral, der ausdrückt, dass Differentsein oder Differenz an sich selbst weder Sein noch Nichts ist, sondern nicht identifizierbares Sein, aber auch nicht totale Leere oder Nichts, sondern Werden in beständiger Veränderung. Intensitäten: Dies Werden in beständiger Veränderung ist keine Indifferenz, kein dunkler Grund, aus dem alles hervorgeht. Es ist als Mannigfaltigkeit zu fassen, aber als eine Mannigfaltigkeit, die nicht Vielzahl von bestimmten Seienden ist. Was zu dieser Mannigfaltigkeit gehört, kann nicht gezählt werden. Es ist also keine bestimmte Anzahl. Es kann auch nicht in Raum und Zeit eindeutig lokalisiert werden. Und es hat keine Grenzen, die Zählbarkeit oder Lokalisation ermöglichen würden. Diese Mannigfaltigkeit ist als radikaler Plural zu verstehen, als Mannigfaltigkeiten, die sich aber nicht aus einzelnen Teilen, Stücken oder Elementen zusammensetzen. Der Versuch, Differenz an sich zu denken, führt Deleuze auf die Verwendung des Plurals »Differenzen«. Die Differenz an sich ist nichts anderes als Differenzen im Sinne von nicht identifizierbaren Mannigfaltigkeiten. Deleuze führt uns hier in ein äußerst ungewohntes Gebiet. Die negativen Bestimmungen, wie die, dass diese Mannigfaltigkeiten keine Teile, nicht zählbar und nicht identifizierbar sind, vermögen doch vom Standpunkt unserer Erfahrungswelt her zwei Fragen nicht zu befriedigen, nämlich: Welche Relevanz haben diese Mannigfaltigkeiten für unsere Erfahrung? Und: Gibt es Beispiele für solche Mannigfaltigkeiten? Ich will diese beiden Fragen noch etwas zurückstellen und die weitere Entfaltung dieses Gedankens bei Deleuze skizzieren, der zum Zentrum seiner Differenzphilosophie gehört. Deleuze, der seine Philosophie der Differenz durch intensive philosophiegeschichtliche Studien entwickelt hat, knüpft für diesen Gedanken der Differenzen als Werden an Baruch de Spinoza, Leibniz und Salomon Maimon an. Von Maimon nimmt Deleuze den Begriff 488 https://doi.org/10.5771/9783495817360 .
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»Intensität« auf, um die spezifische Qualität der Mannigfaltigkeiten oder Differenzen auszudrücken. Maimon bezieht sich in seiner kritischen Weiterentwicklung der kantischen Philosophie vor allem auf Leibniz. In der Philosophie von Leibniz lassen sich zwei Ansatzpunkte für solche Intensitäten finden. Zum einen denkt Leibniz »Veränderungen in der Seele«, die zu schwach und zu zahlreich sind und die deshalb keine Unterscheidungsmerkmale aufweisen. Er nennt diese »petites perceptions«. Diese kleinen Perzeptionen sind hochgradig wirksam, liegen aber unterhalb der Bewusstseinsschwelle und sind deshalb aus der Perspektive des Bewusstseins »fast nichts«. Leibniz hat diese Eigentümlichkeit der Wirksamkeit und mangelnden Unterscheidbarkeit sehr deutlich pointiert: Übrigens gibt es gar viele Anzeichen, aus denen wir schließen müssen, daß es in jedem Augenblick in unserem Innern eine unendliche Menge von Perceptionen gibt, die aber nicht von Apperzeption und Reflexion begleitet sind, sondern lediglich Veränderungen in der Seele selbst darstellen, deren wir uns nicht bewusst werden, weil diese Eindrücke entweder zu schwach und zu zahlreich oder zu gleichförmig sind, so daß sie im einzelnen keine hinreichenden Unterscheidungsmerkmale aufweisen. […] Solche kleinen Perzeptionen [petites perceptions] sind also von größerer Wirksamkeit, als man denken mag. Auf ihnen beruhen unsere unbestimmten Eindrücke, unser Geschmack, unsere Wahrnehmungsbilder der sinnlichen Qualitäten, welche alle in ihrem Zusammensein klar, jedoch ihren einzelnen Teilen nach verworren sind; auf ihnen beruhen die ins Unendliche gehenden Eindrücke, die die uns umgebenden Körper auf uns machen und somit die Verknüpfung, in der jedes Wesen mit dem ganzen übrigen Universum steht. 82
Gottfried Wilhelm Leibniz, Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand (1704), Hamburg 1971, S. 10 ff. (Übersetzung Ernst Cassirer). Die Stelle stammt aus dem Vorwort und lautet im französischen Original: »D’ailleurs il y a mille marques qui font juger qu’il y a à tout moment une infinité de perceptions en nous, mais sans apperception et sans réflexion, c’est-à-dire des changements dans l’âme même dont nous ne nous appercevons pas, parce que ces impressions sont ou trop petites et en trop grand nombre ou trop unies, en sorte qu’elles n’ont rien d’assez distinguant à part […]. Ces petites perceptions sont donc de plus grande efficace qu’on ne pense. Ce sont elles qui forment ce je ne sais quoi, ces goûts, ces images des qualités des sens, claires dans l’assemblage, mais confuses dans les parties, ces impressions que des corps environnans font sur nous, qui enveloppent l’infini, cette liaison que chaque être a avec tout le reste de l’univers.« (Leibniz, Nouveaux Essais sur L’entendement humain (1704), in: Die philosophischen Schriften von Gottfried Wilhelm Leibniz, 2. Nachdr. der Ausgabe Berlin 1882, hrsg. v. C. J. Gerhardt, 7 Bde., Bd. 5, Hildesheim/New York 1996, S. 46–48).
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In dieser Passage werden auch die methodischen Schwierigkeiten deutlich, wie über diese kleinen Wahrnehmungen überhaupt etwas gesagt werden kann und welche Rolle sie für unsere Erfahrung spielen. »Aufgrund von vielen Anzeichen müssen wir darauf schließen«, meint Leibniz. Was sind diese Anzeichen? »Anzeichen« verweisen uns auf die Erfahrung und die vielen Situationen, in denen wir in einem Gemisch von Eindrücken stehen. Ein Beispiel für eine solche Situation ist die im dritten Kapitel des ersten Teils entworfene Szene, in der jemand eine Begegnung beobachtet und dieses Gemisch aus unbestimmten Eindrücken sich zu einem Gesamteindruck zusammenschließen kann. Es ist genau dieser Übergang von den kontinuierlichen Eindrücken von einer beobachteten Begegnung, den damit einhergehenden Veränderungen einer körperlichen Haltung und Bewegung und den Erinnerungen an frühere Eindrücke zu einer bewussten Wahrnehmung eines Problems, der in der Szene thematisiert wird. Die einzelnen Eindrücke sind, wie Leibniz sagt, zu schwach, zu zahlreich oder zu gleichförmig und weisen keine hinreichenden Unterscheidungsmerkmale auf. Dennoch, das sollte auch die entworfene Situation zeigen, ist dieses Gemisch aus Eindrücken und kleinen Wahrnehmungen äußerst wirksam und wichtig für das Verständnis von dem, was Erfahrung ausmacht. Es ist sicher nicht zufällig, dass Deleuze in seinem Interesse an dieser Dimension der Erfahrung eine Nähe zu den Arbeiten von James empfunden hat, der in seinen Überlegungen zum radikalen Empirismus gerade von diesem kontinuierlichen Strom ununterschiedener Kontinua ausging. 83 Was können wir nun positiv über diese kleinen Perzeptionen erschließen, die unterhalb der Bewusstseinsschwelle bleiben, weil sie nicht von Apperzeption und Reflexion begleitet sind? Sie sind nach Leibniz Veränderungen in der Seele, die geschehen. Diese Veränderungen können mit anderen Veränderungen zusammentreten und einen Zusammenhang bilden und eine Grundlage abgeben für die Fülle sinnlicher Wahrnehmungen. Leibniz führt auf, was für komplexere Gestalten darauf beruhen und nennt hier auch die Verknüpfung mit dem ganzen übrigen Universum, die über die petites perceptions gestiftet zu werden scheint. Vgl. zur Rezeption des Pragmatismus in Frankreich: Marc Rölli, »Pragmatismus in Frankreich. Zur Aktualität einer anderen Rezeptionslinie«, in: A. Hetzel/J. Kertscher/ M. Rölli (Hg.), Pragmatismus – Philosophie der Zukunft?, Weilerswist 2008, S. 86– 118.
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In einem ganz anderen Zusammenhang, nämlich in seinem mathematischen Denken, entwickelt Leibniz eine gedankliche Figur, mit der er die Schwelle der diskreten Quantifizierbarkeit unterschreitet, nämlich die des Differentials. Darin liegt der zweite und für Maimon wesentlich wichtigere Ansatzpunkt für den Gedanken der Intensitäten. Mit einem Differential ist ein Grenzbegriff des unendlich Kleinen entworfen, dem man sich immer nähern, den man aber nie erreichen kann. Die eigentümliche Freiheit der Mathematik von Denkgewohnheiten und von den Grenzen des allgemein akzeptierten Erfahrungswissens erlaubt es somit sogar, den Begriff der Quantität neu zu denken. Es ist eine unzulässige Einschränkung, Quantitäten nur als quanta discreta zu nehmen, die gezählt, gemessen und gewogen werden können. Die Figur des Differentials zeigt die Möglichkeit und sogar die mathematische Notwendigkeit, quanta continua zu denken. Maimon greift den Begriff des Differentials von Leibniz auf und wendet ihn philosophisch. Maimon hat in seiner Kritik an Kant gezeigt, dass die kantische Synthesis des Gegebenen einen zentralen Gedanken zur Voraussetzung hat. Es muss ein objektiver Grund für die Akte der Synthesis gedacht werden, der in einer vorbewussten differentiellen Mannigfaltigkeit liegt. 84 Hier setzt Maimons Variante einer Transzendentalphilosophie ein, denn die quanta discreta, die Einheiten, die hinreichende Unterscheidungsmerkmale aufweisen, haben die quanta continua, die kontinuierlichen Intensitäten, die nicht klar unterscheidbar sind, zur Voraussetzung. 85 Ja mehr noch: Durch die quanta continua wird die transzendentale Konstruktion Vgl. zur philosophischen Deutung des mathematischen Begriffs »Differential« durch Maimon und die Weiterführung bei Deleuze, Daniela Voss, »Maimon and Deleuze: The viewpoint of internal genesis and the concept of differentials«, in: Parrhesia 11 (2011), S. 62–74, sowie dies., »Maimon, Kant, Deleuze: The Concepts of Difference and Intensive Magnitude«, in: C. Lundy/D. Voss (Hg.), At the Edges of Thought. Deleuze and Post-Kantian Philosophy, Edinburgh 2015, S. 60–84. Maimons Auffassung wird im Aufsatz von 2015 so dargestellt: »We can only conceive but never perceive the inner plurality of intensive magnitudes directly. […] These questions imply that we have to leave epistemology behind and turn to metaphysical or ontological problems. To Maimon, it seems obvious that the faculty of thought is not bound to the touchstone of experience and naturally strives to reach a ›maximum in thinking‹.« (ebd., S. 71–72). 85 Vgl. zu Deleuzes Verwandlung der Transzendentalphilosophie die Studie von Marc Rölli, Gilles Deleuze. Philosophie des Transzendentalen Empirismus, 2. verän. Aufl., Wien/Berlin 2012, S. 19–23. 84
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2 · Warum Unterscheidungsforschung inhaltsgesättigt ist
der »Entstehungsart von Objekten« möglich. 86 Deleuze macht den Begriff der Intensität zu einem Grundbegriff seiner Differenzphilosophie. Intensitäten bestimmt er als »Ideen«, die in einen virtuellen Raum gehören, der der empirischen Welt immanent ist. Jeder Gegenstand unserer Wahrnehmung und Erfahrung hat zwei Hälften, eine virtuelle oder ideelle Hälfte und eine empirische. 87 Differentieller Raum: Deleuze führt diese verschiedenen Quellen zusammen und gewinnt daraus weitere sprachliche Möglichkeiten, um den Kernbegriff der Differenz in seiner radikalen und spezifischen Pluralität zu entfalten. In Differenz und Wiederholung steht dazu: Die Differenz kennt ihre kritische Erfahrung: Immer wenn wir uns vor oder in einer Beschränkung, vor oder in einem Gegensatz befinden, müssen wir danach fragen, was eine derartige Situation voraussetzt. Sie setzt ein Gewimmel von Differenzen voraus, einen Pluralismus von freien, wilden und ungezähmten Differenzen, einen im eigentlichen Sinn differentiellen, ursprünglichen Raum und eine differentielle, ursprüngliche Zeit, die über die Vereinfachungen der Grenze oder des Gegensatzes hinweg fortbestehen. Damit Kräftegegensätze oder Formbegrenzungen Gestalt annehmen, ist zunächst ein tieferes reales Element notwendig, das sich als eine formlose und potentielle Mannigfaltigkeit definiert und bestimmt. Die Gegensätze sind mit groben Umrissen aus einer feingesponnenen Umgebung von einander überlappenden Perspektiven ausgeschnitten, von kommunizierenden Entfernungen, Divergenzen und Disparitäten, von heterogenen Potentialen und Intensitäten; und es handelt sich zunächst nicht darum, Spannungen im Identischen aufzulösen, sondern darum, Disparata in einer Mannigfaltigkeit zu verteilen. 88 Vgl. ebd., S. 21–23. Vgl. Voss, »Maimon, Kant, Deleuze: The Concepts of Difference and Intensive Magnitude«, a. a. O., S. 82, mit Bezug auf Deleuze, Differenz und Wiederholung, a. a. O. Kapitel 4: »Ideelle Synthese der Differenz«, S. 265 f. 88 Deleuze, ebd., S. 76. Im französischen Original lautet die zitierte Passage: »La différence a son expérience cruciale: chaque fois que nous nous trouvons devant ou dans une limitation, devant ou dans une opposition, nous devons demander ce qu’une telle situation suppose. Elle suppose un fourmillement de différences, un pluralisme des différences libres, sauvages ou non domptées, un espace et un temps proprement différentiels, originels, qui persistent à travers les simplifications de la limite ou de l’opposition. Pour que des oppositions de forces ou des limitations de formes se dessinent, il faut d’abord un élément réel plus profond qui se définit et se détermine comme une multiplicité informelle et potentielle. Les oppositions sont grossièrement taillées dans un milieu fin de perspectives chevauchantes, de distances, de divergences et de disparités communicantes, de potentiels et d’intensités hétérogènes; et il ne s’agit pas 86 87
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Strukturen von Unterscheidungen
Hier wird eine quasitranszendentale Figur in Form einer allgemeinen Empfehlung präsentiert, die als »kritische Erfahrung« bezeichnet wird. (»immer, wenn …, dann …«) Welcher Wechsel der Perspektive wird hier empfohlen? Beschränkungen oder Gegensätze werden als solche Situationen bezeichnet, die oft problematisch sind. Denn hierbei werden Entfaltungsspielräume geschlossen, indem Gegensätze oft nur zwei Möglichkeiten gelten lassen, die sich ausschließen und die meist beide Vereinseitigungen darstellen. In einer solchen Situation soll nun gefragt werden, was vorausgesetzt ist. Vorausgesetzt ist eine Menge an feinen, kaum wahrnehmbaren Differenzen, die als Divergenzen, Disparitäten, als heterogene Potenziale und Intensitäten bestimmt werden. Differenz als Differenz oder Differenz an sich ist also am besten zu bezeichnen als »Divergenz« oder »Disparität«. Aus dem Wortfeld des Unterscheidens werden diese Ausdrücke herangezogen und reserviert. Sie erweisen sich für diese nicht distinkte Differenz als am besten geeignet. Wenn diese hochwirksamen Disparitäten und Divergenzen unterhalb der Bewusstseinsschwelle bleiben und nur durch synthetisierende Akte Einheitsbildungen vollzogen werden, die dann Gegenstände der sinnlichen Wahrnehmung sein können, stellt sich die Frage nach der Zugänglichkeit. Woher wissen wir davon, wenn unser »Gegenstand« kein Gegenstand unseres Bewusstseins sein kann? Die zitierte Stelle von Leibniz zeigt zwei mögliche Wege für eine Antwort auf: »Es gibt Anzeichen, aus denen wir schließen müssen […]« [Hervorhebung K. W.]. Wenn es Anzeichen gibt, dann deutet das auf Anhaltspunkte in unserer Erfahrung hin, die möglicherweise in einer bestimmten Einstellung mit bestimmten Mitteln intensiver erfahren werden können. Wenn wir aber auf diese Disparitäten schließen müssen, dann ist damit ein denkerischer Akt gemeint, wir müssen diese Disparitäten denken, so wie Leibniz die mathematischen Differentiale denken musste. Dann sind die Disparitäten als philosophische Differentiale Gegenstand und Produkt einer Art Transzendentalphilosophie oder möglicherweise auch einer Art Ontologie. In beiden Fällen sind wir dazu aufgefordert, Abstand zu unseren Unterscheidungsgewohnheiten und das heißt den gewohnten Grenzziehungen und den gewohnten Gegensätzen zu bekommen und uns dem Feld der Intensitäten auszusetzen. Dies mag auf den Spuren der Kunst ged’abord de résoudre des tensions dans l’identique, mais de distribuer des disparates dans une multiplicité.« (Deleuze, Différence et Répétition, Paris 1968, S. 71).
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2 · Warum Unterscheidungsforschung inhaltsgesättigt ist
lingen, für Deleuze hat die Literatur Prousts, die bildende Kunst Francis Bacons oder der Kunstfilm des 20. Jahrhunderts eine besondere Bedeutung.
2.3.2 Sich Differenzieren Aus diesen Überlegungen zur Differenz folgt eine ganze Reihe von Punkten für unseren Unterscheidungsgebrauch. Unser Unterscheidungsgebrauch ist abhängig von unübersehbaren Disparitäten, die sich auf die Bildung von Unterscheidungen auswirken, auf die Situationen der Verwendung, wie auf deren Konsequenzen. Diese Wirkzusammenhänge sind für uns unübersehbar und relativieren uns als klares Aktionszentrum. Unterscheidungen sind nicht allein denen, die sie verwenden, zurechenbar. Es ist weitgehend dunkel, wer sie getroffen hat, woher sie kommen, welche Interessen damit verfolgt werden. Unterscheidungen sind, auch gerade wegen ihres unlöslichen Zusammenhangs mit dem Feld der Differenzen, keine Instrumente, die von ihren Verwendern zu diesen oder jenen Zwecken eingesetzt werden können. Wir als Verwender_innen von Unterscheidungen stehen mitten in diesem Zusammenhang und haben keine Möglichkeit, darüber eine Übersicht zu gewinnen und ihn zum Gegenstand zu machen. Im Gegenteil, wir erfahren uns als Produkte dieses Geflechts wie auch als Akteure. Die rein aktivischen Wendungen, wie: »Wir treffen Unterscheidungen«, »Wir verwenden Unterscheidungen« kommen damit an eine Grenze, wie auch die rein passivischen, wie: »Wir sind Produkte von Unterscheidungen.« Welche Formen des Sprechens sind dann angemessen? Wie soll man über das sprechen, was für das Handeln von Akteuren relevant und hochwirksam ist, was aber deren Bewusstseinshorizont entzogen ist, weil es entweder zu klein ist oder auch zu groß, zu umfassend? Es ist eine Sprache nötig, die die Einheiten, mit denen wir als Akteure umgehen und die Disparitäten, die sich dem entziehen, umfassen kann. Deleuze schlägt eine impersonale Redeweise vor und bedient sich dabei öfter reflexiver grammatischer Formen, wie »sich differenzieren« (se distinguer) 89 oder »Differenz in sich« (différence Vgl. z. B. an prominenter Stelle zu Beginn des ersten Kapitels (»Die Differenz an sich selbst«) von Deleuze, Differenz und Wiederholung heißt es: »Die Differenz ›zwischen‹ zwei Dingen ist bloß empirisch, und die entsprechenden Bestimmungen sind
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Strukturen von Unterscheidungen
en soi). Damit ist eine impersonale Genesis genauso umfasst wie ein Akteur, der sich von etwas abgrenzt oder sich etwas entgegensetzt. Wie ist nun aber dieses Verhältnis genau zu denken und wie können diese sprachlichen Figuren entfaltet werden? Deleuze unternimmt dies in einer Art Differenz-Ontologie in Rückgriff auf Bergson, Nietzsche und vor allem Spinoza und reaktiviert dabei Teile der scholastischen Distinktionstypologie, um diese Differenz-Ontologie auszudrücken. Die metaphysischen Unterscheidungsfiguren, die Deleuze in seiner Spinoza-Interpretation herausarbeitet, entstehen bei Spinoza aus dem Problem, Unterscheidungen im Unendlichen zu denken, die die Unendlichkeit nicht auflösen. Wie kann ein endliches Wesen wie der Mensch Unendlichkeit denken? Kann der Mensch in gewisser Weise seine eigenen Grenzen übersteigen? In seiner Studie zu Spinoza zeigt Deleuze auf, wie Spinoza die Unterscheidungstypen, die aus der Scholastik tradiert wurden, die reale, formale und modale Unterscheidung, neu deutet, um die Möglichkeit zu eröffnen, Immanenz zu denken und innerhalb derer zu differenzieren. Das mag als Spinoza-Interpretation interessant sein, aber was ist das Problem, an das außerhalb eines Interesses an Spinoza angeschlossen werden kann? Deleuze macht in seinen aufeinander bezogenen Büchern Spinoza und das Problem des Ausdrucks in der Philosophie und Differenz und Wiederholung deutlich, wie aus Spinozas philosophischen Rahmensetzungen ein differenztheoretischer Ansatz entwickelt werden kann, der für gegenwärtige Anliegen ausgesprochen fruchtbar ist und der einen radikalen Pluralismus zu denken erlaubt. Immanenz bedeutet die Abwesenheit von prinzipiell übergeordneten Perspektiven.
nur äußerlich. Stellen wir uns aber anstatt eines Dinges, das sich von einem anderen unterscheidet, etwas vor, das sich unterscheidet – und doch unterscheidet sich das, wovon es sich unterscheidet, nicht von ihm. Der Blitz zum Beispiel unterscheidet sich vom schwarzen Himmel, kann ihn aber nicht loswerden, als ob er sich von dem unterschiede, was sich selbst nicht unterscheidet.« (Deleuze, Differenz und Wiederholung, a. a. O., S. 49) Im französischen Original lautet die Stelle: »La différence ›entre‹ deux choses est seulement empirique, et les déterminations correspondantes, extrinsèques. Mais au lieu d’une chose qui se distingue d’autre chose, imaginons quelque chose qui se distingue – et pourtant ce dont il se distingue ne se distingue pas de lui. L’éclair par exemple se distingue du ciel noir, mais doit se traîner avec lui, comme s’il se distinguait de ce qui ne se distingue pas.« (Deleuze, Différence et Répétition, a. a. O., S. 43).
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2 · Warum Unterscheidungsforschung inhaltsgesättigt ist
Immanenz – reale Unterscheidung: Differenzen oder das differentielle Feld sind einerseits als Resultat von Prozessen des Sich-Differenzierens zu verstehen und andererseits selber als ständiges Sich-Differenzieren. Der erste Schritt in dieser Entfaltung einer DifferenzOntologie wird verbunden mit der »realen Unterscheidung«. Das ist der Prozess des Sich-Differenzierens selbst, der kein Außerhalb hat und auf den keine externe Perspektive, die sich dem entziehen könnte, möglich ist. Es gibt nur ein Sich-in-sich-Differenzieren, das kein Jenseits und kein Außerhalb hat. Dies Sich-in-sich-Differenzieren produziert keine Trennungen und Brüche. Es kann also nicht von quantitativen Einheiten die Rede sein, die getrennt nebeneinander stehen können. Die reale Unterscheidung ist keine numerische Unterscheidung, es gibt nicht eine, zwei oder drei Substanzen, sondern nur den Prozess des Sich-Differenzierens. 90 Damit ist eine Absage an jede Form von externer Perspektive erteilt und eine Absage an jede Form von Dualismus. Die reale Unterscheidung der Substanz fordert dazu auf, Differenzen als Selbstdifferenzierungen zu verstehen, die kein Außerhalb ihrer haben, kein anderes, von dem sie sich differenzieren oder durch das sie differenziert werden oder woraufhin sie sich differenzieren oder wodurch sie sich differenzieren. Es wird eine radikal interne Differenzierung in sich gedacht und nicht von anderem oder gegen anderes. Die übliche Struktur des Unterscheidens von Bestimmtem, wie: »Etwas ist unterschieden von anderem durch anderes« wird kritisiert, zurückgewiesen und ersetzt durch eine andere Sprache der Differenz. Differenzen sind also nicht als Gegenüberstehen von Verschiedenen gedacht, die sich in etwas unterscheiden, sondern als interne Differenzierung. Dabei ist eine genetische Perspektive, die des Sich-Differenzierens, einzunehmen und kein externer Beobachterstandpunkt, der zwei Einheiten nebeneinander hält und sie als in dem und dem unterschieden erkennt. Dieses reale Sich-Differenzieren ist produktiv und generativ. Dem ursprünglichen differentiellen Raum kommt eine hohe Produktivität zu und diese ist keine, die man einem Akteur oder einer Institution zuschreiben kann (die Produktivität eines Handwerkers oder die Produktivität einer Firma), sondern eine impersonale Produktivität. Vgl. die sehr erhellenden Ausführungen zu dem, was Deleuze aus der »realen Unterscheidung« in seiner Deutung von Spinoza macht. Michael Hardt, Gilles Deleuze. An Apprenticeship in Philosophy, London 2003, S. 59–63.
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Strukturen von Unterscheidungen
Pluralismus – Formale Unterscheidung: Alle weiteren Unterscheidungen müssen innerhalb dieser Differenz in sich selbst gedacht werden. Es gibt nun unübersehbar viele Möglichkeiten, wie sich diese impersonale Produktivität ausdrückt. Diese Ausdrucksformen der impersonalen Produktivität bilden eine Pluralität, die radikal unhierarchisch zu denken ist. Es gibt kein Mehr oder Weniger, Besser oder Schlechter. In der Differenz-Ontologie steht hierfür die formale Differenz zwischen den Attributen, den Ausdrucksformen des Sich-Differenzierens, die keinen strikten Unterschied einzieht. Diese auf Duns Scotus zurückgehende Unterscheidungsform ist etwas technisch gesprochen dann geboten, wenn es eine Reihe von Gründen dagegen gibt, dass x und y verschiedene Entitäten ohne gemeinsamen Bezug sind, aber gleichzeitig ein Prädikat F auf x und nicht auf y zutrifft. Wegen des Prinzips der Ununterscheidbarkeit von Identischen können x und y also nicht identisch sein, gleichzeitig sind sie aber auch nicht numerisch, sondern formal verschieden. Die »distinctio formalis« findet im Rahmen der Scholastik zum Beispiel in der Universalienfrage Anwendung, der Frage nach dem Zusammenhang zwischen den allgemeinen Naturen (Universalien) und den sogenannten Individuationsprinzipien. Die Natur des Menschen ist in den verschiedenen Einzelmenschen die gleiche, diese Einzelmenschen sind aber untereinander numerisch voneinander unterschieden. Zerfällt nicht nun auch die Natur des Menschen in unendlich viele individuierte Einzelnaturen? Die allgemeine Natur des Menschen und die individuierten Einzelnaturen sind nicht numerisch voneinander unterschieden und auch nicht nur rational, unserem Begriff nach, sondern formal. Es gibt also einen in der Sache begründeten Unterschied, der aber nicht zu einer numerischen Trennung führt. Diese pluralen Ausdrucksformen versteht Deleuze als Affirmationen, als Bejahungen des produktiven Sich-in-Sich-Differenzierens. Sie sind nicht als Begrenzungen gegeneinander aufzufassen, als Verneinungen oder Gegensätze, sondern sind autonom und gleichberechtigt und drücken das Gleiche auf je verschiedene Weise aus. Wir – Modale Differenz: Wie sind nun wir als Akteure, als Verwender von Unterscheidungen zu verstehen? Akteure differenzieren sich in modaler Weise. Damit wird unsere übliche Rede, sich von anderem zu unterscheiden, eingeholt und in einer bestimmten Weise gedeutet. Denn das modale Sich-Differenzieren ist kein reziproker Akt. Das, wovon sich das unterscheidet, was sich differenziert, unterscheidet 497 https://doi.org/10.5771/9783495817360 .
2 · Warum Unterscheidungsforschung inhaltsgesättigt ist
sich nicht von ihm. Deleuze gibt ein Beispiel aus der Natur. Auch wenn sich der Blitz vom Himmel unterscheidet, unterscheidet sich der Himmel doch nicht vom Blitz. Dadurch kann das, was sich unterscheidet (im Beispiel der Blitz) das, wovon es sich unterscheidet (im Beispiel der Himmel) nicht »loswerden« (il doit le trainer avec lui). Die Differenz ist also einseitig, asymmetrisch. Die beiden Seiten sind von verschiedener Qualität, die eine Seite differenziert sich, die andere nicht. »Die Differenz ist diese Fassung der Bestimmung als einseitiger Unterscheidung« (distinction unilatérale). Die Aktivität des Sich-Differenzierens von etwas, was sich seinerseits nicht unterscheidet, ist eine Absetzung, die nicht gelingen kann, die eine immer weitere Vereinigung mit dem, was sich nicht absetzt, erzeugt. Dies Verhältnis ließe sich auf handelnde Akteure und das Gewimmel der Differenzen übertragen. Wie sich der Blitz vom Himmel unterscheidet, aber nicht umgekehrt, unterscheiden sich Akteure vom Gewimmel der Differenzen, aber nicht umgekehrt. Modales Sich-Differenzieren erzeugt ein Kontinuum von verschiedenen Graden des SichDifferenzierens. Es gibt also keinen prinzipiellen Schnitt, keinen Bruch und somit auch keine kategorialen Unterschiede zwischen diesen Graden. Was sich modal differenziert, drückt das, wovon des sich differenziert, aus, und nicht mehr oder weniger, sondern auf je andere Weise. Damit ist eine Möglichkeit skizziert, die zusammenhängenden Reduktionen auf Distinktheit und die Akteursperspektive in der Verwendung von Unterscheidungen einerseits zu artikulieren und andererseits Denk- und Sprechweisen vorzuschlagen, die der konstitutiven Abhängigkeit der Akteursperspektive vom »Gewimmel der Differenzen« Rechnung tragen.
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3. Kapitel: Warum Unterscheidungsforschung systematisch ist
Einleitung zum dritten Kapitel Ich will mit einem Rückblick auf das zweite Kapitel beginnen: Im vorherigen Kapitel wurden drei Fragestellungen entfaltet, die Anlass dazu geben können, sich in doppelter Aufmerksamkeit mit Unterscheidungen zu beschäftigen. Es kann erstens von existentieller Dringlichkeit und gleichzeitig ausgesprochen schwierig sein, Unterscheidungen zu treffen. Die Beschäftigung mit dem Sophistes hat gezeigt, dass genau solche Situationen Anlässe dafür sind, die doppelte Aufmerksamkeit auf die Sache und die Weise des Unterscheidens einzunehmen. In dieser doppelten Aufmerksamkeit können sehr grundlegende Verfahren bzw. Praktiken sichtbar werden, wie Unterscheidungen häufig gebraucht werden und was ihre Möglichkeiten und Grenzen sind. Unterscheidungen können zweitens blockieren und als Einschränkung erfahren werden. Dies kann Anlass dazu geben, Festlegungen zurückzunehmen. Dabei tritt die Strukturiertheit von Unterscheidungen in den Blick. Zu den Strukturmerkmalen von Unterscheidungen gehört die Verhältnisbestimmung der unterschiedenen Seiten. Ist die Unterscheidung symmetrisch oder asymmetrisch? Ein weiteres wichtiges Strukturmerkmal ist die »Stelligkeit« oder »Gliedrigkeit« der Unterscheidung. Werden zwei oder mehr Seiten unterschieden? Zur Aufhebung bestimmter Einschränkungen kann es schon reichen, einige solcher Strukturentscheidungen zurückzunehmen und die Konsequenzen von anderen Strukturen durchzuspielen. Für andere Unterscheidungen und andere Fragen kann es hilfreich sein, eine solche Betrachtung bis zu dem Punkt fortzusetzen, an dem sehr grundlegende Hinsichten für Strukturbildungen sichtbar werden. Die Einsicht, dass wir unseren Unterscheidungsgebrauch niemals überblicken können, sondern immer in Unterscheidungen verstrickt sind, kann zu einer dritten Verschiebung der Perspektive auf 499 https://doi.org/10.5771/9783495817360 .
3 · Warum Unterscheidungsforschung systematisch ist
Unterscheidungen Anlass geben. Einerseits gebrauchen wir Unterscheidungen und bei einigen Unterscheidungen können wir uns fragen, ob wir sie und wie wir sie verwenden wollen. Andererseits sind wir selber Produkte von Unterscheidungen, über die wir nicht verfügen können. Die Grenze der Verfügbarkeit wird auch markiert durch die zu feinen, zu vielen, zu unübersichtlichen kleinen Unterschiede, die fast nicht als Unterschiede zu bezeichnen sind, sondern sich als Grenzwerte von Unterschieden dem unterscheidenden Zugriff entziehen. Damit sind im vorherigen Kapitel drei verschiedene und je für sich sehr wichtige und weitreichende Perspektiven auf Unterscheidungen eingenommen worden. Die drei Perspektiven können fruchtbar aufeinander bezogen werden. Zum Beispiel liegt es nahe, die Grundbegriffe, die sich in der selbstreflexiven Betrachtung des Differenzierens selbst ergeben haben, auf die Strukturmerkmale von Unterscheidungen zu beziehen. Der Kritik am Gebrauch von Werkzeugen zur Analyse von Unterscheidungen ist zudem stets Rechnung zu tragen, denn der Gebrauch von Werkzeugen (wie die Praktiken des Unterscheidens oder die Strukturen von Unterscheidungen) bringt es leicht mit sich, den Eindruck einer Verfügungsgewalt über Unterscheidungen zu haben. Das wäre eine reduktive Sicht auf Unterscheidungen und demgegenüber ist die Widerständigkeit der zu kleinen Unterscheidungen zu betonen wie auch die Uneinholbarkeit der zu großen Unterscheidungen, von denen wir selbst abhängen. Diese drei Perspektiven sind allesamt wichtig und ihre Bezugsmöglichkeiten und Spannungen zueinander stellen ein fruchtbares Feld dar, um in doppelter Aufmerksamkeit an Unterscheidungen zu arbeiten. Dennoch will ich in diesem Kapitel die Perspektive noch einmal verschieben und einen Vorschlag machen, Unterscheidungen systematisch zu entwickeln. Damit soll keine große Synthese vorgelegt werden, die alles integriert und aufhebt und alle Ecken und Kanten abschleift. Das übliche Bild von Dialektik, dass dialektische Betrachtungen alles umgreifen, auf alles angewandt werden können und alles in ihre Verarbeitungsmodi zwingen, zeigt eine Gefahr der Vereinnahmung durch dialektisches Denken an. Obwohl es Bezüge und Anschlussmöglichkeiten gibt, sollen die drei Perspektiven Eigenständigkeit behalten und nicht aufgehoben werden. Vielmehr vollziehe ich einen Wechsel der Aufmerksamkeit.
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Einleitung zum dritten Kapitel
Im Zentrum steht der dynamische Charakter von Unterscheidungen. Zu unterscheiden oder Unterscheidungen zu gebrauchen, bedeutet, zu trennen und zu beziehen. Mit jeder Unterscheidung werden Seiten getrennt und aufeinander bezogen. Damit erweist sich die Tätigkeit des Unterscheidens als komplex. Sind Trennen und Beziehen als Wirkungen der einen Tätigkeit des Unterscheidens aufzufassen? Oder sind Trennen und Beziehen zwei Funktionen der einen Tätigkeit des Unterscheidens? Oder sind Trennen und Beziehen zwei Momente der einen Tätigkeit des Unterscheidens? Oder ist die Tätigkeit des Unterscheidens nur vermeintlich eine und eigentlich als dynamischer Zusammenhang von zwei Tätigkeiten zu verstehen? Ich will in diesem Kapitel dafür plädieren, Unterscheidung als komplexe Tätigkeit aus zwei gegenstrebigen und voneinander abhängigen Tätigkeiten, Trennen und Beziehen, zu denken. Die anderen Ausdrücke »Wirkungen«, »Momente«, »Funktionen« halte ich nicht für falsch, sondern für vorläufige und vorsichtige Hinweise auf die innere Komplexität des Unterscheidens. 1 Die Dynamik von Unterscheidungen liegt darin, dass die beiden Tätigkeiten sich gegenseitig korrigieren und verändern und Unterscheidungen deshalb keine Formen oder Strukturen darstellen, sondern dynamische Verläufe. Es ist möglich auf die Strukturen von Unterscheidungen zu reflektieren. Das kann für analytische Zwecke ausgesprochen nützlich sein. Aber Unterscheidungen sind keine Strukturen und erschöpfen sich nicht in Strukturen. Sprechen wir von »der Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille« oder »der Unterscheidung zwischen Intention und Verwirklichung«, dann sind das Abkürzungen für Erfahrungen, die sich aus den gegenseitigen Korrekturen und Veränderungen von Trennen und Beziehen ergeben. Diese gegenseitigen Korrekturen und Veränderungen lassen sich genauer bestimmen, allerdings kann es kein Verlaufsschema geben. Es können vielmehr Erfahrungsgestalten skizziert werden, in denen sich gegenseitige Korrekturen und Veränderungen von Trennen und Beziehen darstellen. Ich habe im vierten Kapitel des zweiten Teils solche Erfahrungsgestalten entwickelt und die dynamischen Verläufe der beiden handlungstheoretischen Grundunterscheidungen, Entwurf und Gestaltung wie Tat und Handlung dargestellt. Darin zeigen In diesem Sinne habe ich selber in meiner vorläufigen Bestimmung des Ausdrucks »dialektisch« von »gegenstrebigen Wirkungen« gesprochen. Vgl. Einleitung zum vierten Kapitel, Abschnitt b).
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3 · Warum Unterscheidungsforschung systematisch ist
sich die systematischen Möglichkeiten der Unterscheidungsforschung, die in der dialektischen Entfaltung von Unterscheidungen liegt. Das folgende Kapitel hat die Aufgabe, die theoretischen Hintergründe für das dialektische Verständnis von Unterscheidungen zu liefern. Wie bei allen bisherigen Überlegungen auch, gehen meine Vorschläge zur doppelten Aufmerksamkeit auf Texte und Autoren zurück. Die Angabe der theoretischen Hintergründe vollzieht sich deshalb in Form von intensiven Bezügen auf Texte, hier von Hegel und Dewey. Ich will im ersten Abschnitt dieses Kapitels zunächst die Quellen und Bezüge für die Darstellung des dialektischen Unterscheidens vorstellen und motivieren (3.1 Dialektisches Unterscheiden: Quellen und Bezüge). Mit dem zweiten Abschnitt beginnt die Entwicklung des dynamischen Charakters von Unterscheidungen, zunächst mit der Darstellung der beiden Tätigkeiten des Unterscheidens (3.2 Die Tätigkeiten des Unterscheidens: Trennen und Beziehen). Auf dieser Grundlage können wichtige Erfahrungsgestalten erläutert werden (3.3 Verschiedenheitserfahrungen, Differenzerfahrungen, Gegensatzerfahrungen und 3.4 Rückwirkungen erfahren).
3.1 Dialektisches Unterscheiden: Quellen und Bezüge Dialektische Untersuchungen konzentrieren sich auf drei Formen begrifflicher Beziehungen: erstens auf die begriffliche Abhängigkeit von gegenläufigen Tätigkeiten, zweitens auf die begriffliche Instabilität einfacher Entgegensetzungen und drittens auf begriffliche Verdopplungen, die darin bestehen, dass ein umfassender Zusammenhang sich in sich differenziert. Alle drei Formen begrifflicher Beziehungen sind nötig, um die komplexe Tätigkeit des Unterscheidens zu entwickeln. Dies soll in diesem Kapitel vor allem mit Bezug auf Hegels Phänomenologie des Geistes geschehen. Die Methodenabschnitte der Einleitung spielen dafür eine besondere Rolle. Ich will die Gründe für diesen textlichen Bezug in diesem ersten Abschnitt erläutern. Um diese begrifflichen Beziehungen auszudrücken, wählt Hegel teilweise irritierende Mittel. Ein wichtiges Mittel ist der absichtliche Einsatz sprachlicher Mehrdeutigkeiten. Die Arbeit mit solchen Mehrdeutigkeiten ist bei Hegel geradezu ein stilistisches Prinzip und hat 502 https://doi.org/10.5771/9783495817360 .
Dialektisches Unterscheiden: Quellen und Bezüge
sachliche Gründe. Sprachliche Mehrdeutigkeiten verweisen bei Hegel auf die erwähnten begrifflichen Abhängigkeiten. Erstens sind sprachliche Mehrdeutigkeiten sachlich adäquat, um auszudrücken, dass gegenläufige Tätigkeiten zusammengehören. Ein zu einem Topos gewordenes Beispiel aus dem hegelschen Sprachgebrauch ist das Wort »aufheben«, in dem die Bedeutungen von tollere und conservare wie auch von elevare systematisch verbunden gedacht werden. Zweitens soll durch den beabsichtigten Einsatz sprachlicher Mehrdeutigkeiten die Unhaltbarkeit einfacher Entgegensetzungen, wie die zwischen subjektiven Tätigkeiten auf der einen Seite und objektiven Tatsachen auf der anderen Seite, gezeigt werden. In der Phänomenologie des Geistes wird dies z. B. an verschiedenen Stellen für den Ausdruck »Begriff« vorgeführt. »Begriff« bedeutet genauso die subjektive Tätigkeit des Begreifens wie den Kern, das Wesen einer Sache. Drittens werden oft gleiche Ausdrücke für einen umfassenden Zusammenhang und einen Teilaspekt desselben verwendet. Diese begriffliche Abhängigkeit liegt vor zwischen der Tätigkeit des Unterscheidens als ganzer (unterscheiden) und einer ihrer Momente bzw. Tätigkeiten (unterscheiden im Sinne von trennen und beziehen). 2 Hegel betont mit seiner stilistischen Entscheidung, bei Bedeutungsverschiebungen, die die Komplexität eines Zusammenhangs zeigen, den gleichen Ausdruck zu verwenden, die begriffliche Abhängigkeit in Form einer Art Selbstverdopplung. Der Einsatz solcher sprachlichen Mehrdeutigkeiten als Ausdruck von begrifflichen Abhängigkeiten führt zu dem Eindruck, dass die voneinander begrifflich abhängigen Seiten mal als miteinander identisch und mal als voneinander verschieden erscheinen. Die dadurch entstehenden Oszillationen sind ein weiteres irritierendes Darstellungsmittel. Dazu kommt der Einsatz spekulativer Identitätssätze, wie zum Beispiel in dem »spekulativen Satz« der Vorrede von der Identität von Substanz und Subjekt. Diese Darstellungsmittel liefern wesentliche Gründe für die berechtigte Skepsis gegenüber der hegelschen Philosophie, sei es unter dem Stichwort des »Aufhebens« nicht nachvollziehbaren Begriffszauber zu veranstalten oder sei es durch die Identifizierungen einen Kategorienfehler nach dem anderen zu Diese Figur findet sich vielfach in der hegelschen Philosophie, aber auch in der Abhandlung über die Reflexionsbestimmungen in der Wissenschaft der Logik, z. B.: »Der Unterschied ist das Ganze und sein eigenes Moment.« (Hegel, WL I, GW 11, 266).
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3 · Warum Unterscheidungsforschung systematisch ist
begehen. Diese typischen Vorwürfe führe ich hier deshalb auf, weil sie meines Erachtens zeigen, dass Hegel bei der begrifflichen Differenzierung teilweise zu schnell, zu metaphorisch und zu holzschnittartig vorgegangen ist. Ich will deshalb das Vokabular des Aufhebens und spekulativen Identifizierens nicht weiter entfalten (obwohl ich meine, dass das möglich ist). Gerade die sprachlichen Oszillationen und die spekulativen Identifizierungen sollen den immer feiner werdenden Beziehungen und den Verflechtungen zwischen den voneinander abhängigen Seiten Ausdruck verleihen. Um diesen Prozess gegenseitiger Verflechtung auszudrücken, will ich auf einen anderen Denker Bezug nehmen, der genau hier ein Angebot machen kann. Gemeint ist Dewey, von dem ich den Ausdruck »Rückwirkung« (return) aufnehmen will, welcher für sein Verständnis von Erfahrungen sehr wichtig ist. Man kann den philosophischen Bezug von Dewey auf die hegelsche Philosophie verschieden beurteilen. Über seine hegelianisierende Frühphase und seine zunehmende Kritik an Hegel ist schon viel geschrieben worden. 3 Ich will dazu hier nicht eigens Stellung nehmen. Es reicht für mein Anliegen, die Verwandtschaft in der Kritik an Dualismen zu betonen, aber auch das Stilmittel, erst einmal Gegensätze aufzubauen, um dann die gegenseitigen Verflechtungen der entgegengesetzten Seiten aufzuzeigen. 4 Die Gewissheit, dass sich diese gegenseitigen Verflechtungen überall zeigen, gewinnt Dewey aus seinen grundlegenden Überlegungen zum Erfahrungsbegriff. Erfahrung ist der Grundbegriff der Philosophie Deweys und in seiner Entfaltung spielen Rückwirkungen eine entscheidende Rolle. Er versteht Erfahrungen selbst geradezu als Rückwirkungen. Dem Begriff »Erfahrung« kommt eine systematische Mehrdeutigkeit zu. Er hilft gleichermaßen, Erfahrungen zu beschreiben, zu verstehen wie auch, wertvollere von weniger wertvollen Formen zu unterscheiden. Im Hintergrund stehen die entschiedene und grundsätzliche Kritik an Dualismen bei Dewey und sein Votum dafür, Unterscheidungen zu verwenden und dabei die Rückwirkungen zwischen den unterschiedenen Seiten zu betrachten. Es macht den Begriff der Erfahrung aus, dies vor allem an zwei Unterscheidungen zu zeigen, nämlich an der Unterscheidung zwischen früher und später oder VerVgl. z. B. Raters, »Von Hegel zu Darwin. Die Wurzeln von Deweys Pragmatismus im angelsächsischen Idealismus am Beispiel der Ästhetik«, a. a. O. 4 Es ist geradezu ein Stilmerkmal z. B. von Democracy and Education, (historische) Gegensätze aufzubauen, und diese dann kritisch zurückzuweisen. 3
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Dialektisches Unterscheiden: Quellen und Bezüge
gangenheit und Zukunft wie an der Unterscheidung zwischen aktiv und passiv. Diese Überlegungen Deweys werde ich im vierten Abschnitt (3.4 Rückwirkungen erfahren) heranziehen. Die drei genannten begrifflichen Abhängigkeiten sind keine Figuren, Strukturen oder Formen, sondern Dynamiken. Es ist wichtig, eine Form der Darstellung zu finden, die einen solchen Nach- und Mitvollzug ermöglicht, in der also nicht nur mit einer Perspektive von außen über diese Dynamiken gesprochen wird. Die Darstellungsform, die Hegel in der Phänomenologie des Geistes dafür wählt, um den dynamischen Charakter von Unterscheidungen zu zeigen, hat zum Ziel, Erfahrungen dieses dynamischen Charakters zu induzieren und zu reflektieren. Der Text will also genauso dazu anleiten, Erfahrungen zu machen, wie Erfahrungen zu reflektieren. Denn um etwas über die Tätigkeiten des Unterscheidens zu verstehen, ist es nötig, diese Tätigkeiten mit- oder nachzuvollziehen und das erfordert eine Perspektive der Beteiligung. Es gibt in der Philosophiegeschichte verschiedene Versuche, literarische Formen zu finden, die Beteiligung und Reflexion gleichermaßen ermöglichen. Der Entwurf von dialogischen Situationen zu Beginn der Dialoge Platons kann als Versuch dieser Art verstanden werden, die eine Tradition des Philosophierens in Dialogen etabliert hat. Mit der Phänomenologie des Geistes macht Hegel den Versuch, Erfahrungsgestalten von Unterscheidungen zu entwerfen. Eine adäquate Lektüre erfordert es, diese Erfahrungsgestalten zu durchlaufen und zu reflektieren. Es scheint mir eine wichtige Aufgabe der Hegelforschung zu sein, das eigene Recht des Mitvollzugs von Erfahrungsgestalten zu betonen und den hegelschen Text unter dieser Perspektive neu zu lesen, ja mehr noch, neu zu inszenieren. Denn das eigene Recht von Erfahrungen kommt durch beständige Kommentierungen aus der Sicht des »zuschauenden« Philosophen nicht voll zur Geltung und genau dies gilt es in der Neuaneignung hervorzuheben. Möglicherweise will Hegel damit die Möglichkeit andeuten, wie die Erfahrung in ihre eigene Kommentierung, in ihre eigene Reflexion und ihr eigenes Verstehen übergehen kann. 5 Im vierten Kapitel des ersten Erst mit dem Abschnitt C des Vernunftkapitels, mit dem Übergang zu den Gestalten des Geistes, ist die externe Reflexion des beobachtenden Philosophen nicht mehr nötig. Gestalten des Geistes sind gegenüber den Gestalten des Bewusstseins und des Selbstbewusstseins gerade dadurch charakterisiert, dass Erfahrung und deren refle-
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Teils habe ich den Versuch gemacht, für die Skizze einer dialektischen Handlungstheorie eine Darstellung zu wählen, die dieser Aufgabe verpflichtet ist. Ich will hier nun auf den dynamischen Charakter von Unterscheidungen selbst reflektieren, der den Leitfaden für die Darstellung im ersten Teil liefert. In der Einleitung zur Phänomenologie des Geistes stellt Hegel sowohl zur Wichtigkeit von Erfahrungen, wie auch zum dynamischen Charakter von Unterscheidungen Überlegungen an. Deshalb nehmen die folgenden Ausführungen bestimmte Passagen der Einleitung zum Ausgangspunkt. Dies mag überraschen, denn der locus classicus für Hegels Nachdenken über Unterschiede ist sicher der vielfach ausgelegte Beginn der sogenannten »Wesenslogik«. Dort bespricht Hegel im zweiten Kapitel des ersten Abschnitts als zweite Reflexionsbestimmung den Unterschied. Es liegt nahe, Überlegungen zum dialektischen Unterscheiden daran anzuschließen. Aus zwei Gründen schlage ich diesen Weg aber nicht ein. Zum einen sind der Gegenstand der Wissenschaft der Logik Denkbestimmungen an und für sich, die nicht wie die Denkgesetze der traditionellen (und gegenwärtigen) Logik von allen Inhalten abstrahierte Formen darstellen, sondern auf allgemeine Inhalte rückbezogen sind. Die Wissenschaft der Logik stellt also eine Form von Logik dar, die nicht formal ist, sondern die vielmehr die traditionellen Formen der Logik, die höchsten Gattungen des Seienden der traditionellen Metaphysik wie die transzendentalphilosophisch gewonnenen Verstandesbegriffe möglicher Gegenstandserkenntnis in einen systematischen Zusammenhang bringt. Dennoch scheint mir das spezifische Programm der Phänomenologie des Geistes auf konkretere Inhalte Bezug zu nehmen, deren exemplarische Behandlung es erlaubt, verbreitete Gewohnheiten, geteilte Praxisformen und paradigmatische Erfahrungen anzuschließen. In diesem Sinne trägt die methodische Anlage der Phänomenologie des Geistes dem Anspruch der Inhaltssättigung der Unterscheidungsforschung in höherem Maße Rechnung. Zum anderen orientiert sich der xive Durchdringung nicht mehr auf verschiedene »Personen« verteilt werden müssen. So deutet z. B. Eckart Förster Hegels Erweiterung des Projekts von der Wissenschaft der Erfahrung des Bewusstseins zur Phänomenologie des Geistes. Ich werde im Folgenden auf diese Kompositionsfragen zurückkommen. Vgl. Eckart Förster, »Hegels ›Entdeckungsreisen‹. Entstehung und Aufbau der Phänomenologie des Geistes«, in: K. Vieweg/W. Welsch (Hg.), Hegels Phänomenologie des Geistes. Ein kooperativer Kommentar zu einem Schlüsselwerk der Moderne, Frankfurt a. M. 2008, S. 37–57.
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Die Tätigkeiten des Unterscheidens: Trennen und Beziehen
Aufbau des Kapitels über die Reflexionsbestimmungen an der Entfaltung des Reflexionsbegriffs in setzende, äußere und bestimmende Reflexion und wird nicht von den spezifischen Tätigkeiten des Unterscheidens her aufgebaut. Die Tätigkeitsformen, die bei der Einteilung des Unterschieds in »absoluten Unterschied«, »Verschiedenheit« und »Gegensatz« im Hintergrund zu stehen scheinen, sind »voraussetzen«, »vergleichen« und »ein- und ausschließen«. Unterschiede werden in diesem Sinne als Voraussetzungen verstanden, Verschiedenheiten als Ergebnisse von äußerlichen, der Eigendynamik der Sache gegenüber gleichgültigen Vergleichen und Gegensätze als Zusammenhang von Ein- und Ausschließen. Diese Tätigkeitsformen sind spezifischer und deutlich mehr von einem bestimmten Einteilungsschema abhängig, als die basalen Tätigkeiten des Unterscheidens Trennen und Beziehen.
3.2 Die Tätigkeiten des Unterscheidens: Trennen und Beziehen Die dialektische Bewegung der Gestalten des Bewusstseins, die in der Phänomenologie des Geistes entfaltet wird, kann als Darstellung der Dialektik von Unterscheidungen als Unterscheidungen am Leitfaden konkreter Unterscheidungen gedeutet werden. Die grundlegende Dynamik, die auch die Erweiterung von Fragen der Erkenntnistheorie auf Fragen der Sozial- und Kulturphilosophie erlaubt, ist die, die im Gebrauch von Unterscheidungen selbst liegt. Hegel beginnt seine Einleitung in die Phänomenologie des Geistes mit einer Kritik an der Erkenntniskritik. Der Fokus seiner Kritik liegt darauf, dass erkenntniskritische Untersuchungen mit Gegenüberstellungen arbeiten, die verschieden ausgestaltet sein können. Gegenübergestellt werden zum Beispiel das Subjekt mit seinen Erkenntniswerkzeugen und die an sich seiende Wirklichkeit, die sich als unbestimmtes An Sich oder jenseitiges Absolutes dem Zugriff entzieht. Demgegenüber verschiebt Hegel den Ansatzpunkt auf die Unterscheidungen, die ein Bewusstsein selbst trifft. Damit gehen zwei sehr weitreichende Änderungen gegenüber üblichen Herangehensweisen einher. Zum einen setzt Hegel bei dem Prozess des Treffens von Unterscheidungen an und zum anderen fordert er dazu auf, die Perspektive des neutralen Räsonnierens über Unterscheidungen zu verlassen und die Perspektive des Vollzugs einzunehmen. Dies drückt sich in dem folgenden, 507 https://doi.org/10.5771/9783495817360 .
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besonders markanten und programmatischen Satz in den Methodenabschnitten der Einleitung aus, den ich den »Satz des Unterscheidens« nennen will. Diese Bezeichnung als »Satz des Unterscheidens« scheint mir deshalb angemessen, weil hier nach meiner Lesart auch das Unterscheiden selbst also das Unterscheiden als Unterscheiden thematisch wird: Dieses [das Bewusstsein] unterscheidet nämlich etwas von sich, worauf es sich zugleich bezieht. 6
Im Text der Einleitung folgt auf den »Satz des Unterscheidens« erst die explizite erkenntnistheoretische Interpretation, indem durch den Akt des Beziehens das unterschiedene Etwas auf das Bewusstsein bezogen wird, dies ist das »Wissen«, und indem durch den Akt des Unterscheidens der Gegenstand des Wissens auch als außerhalb der Wissensbeziehung an sich gesetzt wird, dies ist die »Wahrheit«. Die beiden Bestimmungen des Bewusstseins, die von Hegel mit verschiedenen Ausdrücken belegt werden – die Seite des Wissens wird auch »Für-Es« genannt, die Seite der Wahrheit auch »An-sich« oder »Wesen« – sind also durch die Interpretation des »Satzes des Unterscheidens« als epistemologische Grundunterscheidung gewonnen worden. Dies zeigt, dass auch die Einleitung zur Phänomenologie des Geistes nicht nur ein erkenntnistheoretischer Text ist, sondern dass gleichzeitig eine Ebene begrifflicher Reflexion auf die erkenntnistheoretischen Grundunterscheidungen geschaffen wird. Die Unterscheidung zwischen Wissen und Wahrheit durchzieht sowohl das natürliche Bewusstsein wie auch verschiedenste philosophische Theoriebildungen. In diesen Formen des »erscheinenden Wissens« werden verschiedene Verhältnisbestimmungen der Unterscheidung zwischen Wissen und Hegel, PhG, GW 9, 58. An anderer Stelle habe ich diese Deutung des Satzes als »Satz des Unterscheidens« erstmalig entwickelt und als Leitfaden für die Deutung der Phänomenologie des Geistes verwendet. Vgl. Katrin Wille, »Hegel über Unterscheidungen als Unterscheidungen. Eine unterscheidungstheoretische Lektüre der Phänomenologie des Geistes«, in: W. Neuser/S. Roterberg (Hg.), Systemtheorie, Selbstorganisation und Dialektik. Zur Methodik der hegelschen Naturphilosophie, Würzburg 2012, S. 47–70. Dieser Satz hat wegen seines Implikationsreichtums schon mehrere Interpretationen angeregt. Konrad Cramer z. B. nennt dies den »Satz des Bewusstseins«, in dem die abstrakten Bestimmungen des Wissens und der Wahrheit als Bestimmungen des Sachverhaltes Bewusstsein ausgewiesen würden. Vgl. Konrad Cramer, »Bemerkungen zu Hegels Begriff vom Bewusstsein in der Einleitung zur ›Phänomenologie des Geistes‹«, in: R.-P. Horstmann (Hg.), Seminar: Dialektik in der Philosophie Hegels, Frankfurt a. M. 1978, S. 360–393.
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Die Tätigkeiten des Unterscheidens: Trennen und Beziehen
Wahrheit entworfen und zu Weisen der Wirklichkeitsauslegung weiterentwickelt, die als Gestalten des Bewusstseins, später des Geistes, auftreten. Die Ansprüche jeder dieser Gestalten des Bewusstseins und des Geistes an die Geltung der jeweiligen Verhältnisbestimmung und Wirklichkeitsauslegung sollen sich in einer immanenten Kritik als nicht haltbar erweisen. Dies ist möglich, weil erst die Betrachtung der erkenntnistheoretischen Grundunterscheidung zwischen Wissen und Wahrheit als eine Unterscheidung deren Konsequenzen zeigt, die zu weiteren Erfahrungen Anlass geben. 7 Ich will im Folgenden zwei wichtige Implikationen des »Satzes des Unterscheidens« entwickeln, nämlich die gegenseitige Abhängigkeit von Trennen und Beziehen und die Selbstreflexivität von Unterscheidungen. Die Frage nach der Reichweite des programmatischen Anspruchs der Einleitung für den Gesamttext der Phänomenologie des Geistes ist in der Forschung umstritten. Otto Pöggeler versucht zu zeigen, wie Hegel im Vernunftkapitel aufgrund der Fülle des Materials die Kontrolle über seinen Text verloren habe, vgl. Otto Pöggeler, »Die Komposition der Phänomenologie des Geistes«, in: H. D. Fulda/D. Henrich (Hg.), Materialien zu Hegels Phänomenologie des Geistes, Frankfurt a. M. 1973, S. 329– 390. Eckart Förster dagegen arbeitet ein Kompositionsprinzip heraus, das die Einheitlichkeit des Textes bis zum Abschnitt B des Vernunftkapitels als filigrane Spiralbewegung plausibilisiert. Nach dem Durchlaufen der Erfahrungen der beobachtenden und tätigen Vernunft, die immer noch von einem reflektierenden philosophischen Zuschauer begleitet und kommentiert werden, sei Hegel nun zu der Einsicht gekommen, dass die Unterscheidung zwischen der Erfahrung der Gestalten des Bewusstseins und des Selbstbewusstseins und dem reflektierenden Zuschauer nicht einfach abstrakt aufgehoben werden könne. Vielmehr müssten Erfahrungen folgen, die als Gestalten des Geistes oder Gestalten der Welt auftreten und die die philosophierende Reflexion einbegreifen. Diese Einsicht werde im Abschnitt V. C. erarbeitet und in den Gestalten des sittlichen und religiösen Geistes entfaltet, vgl. Förster, »Hegels ›Entdeckungsreisen‹. Entstehung und Aufbau der Phänomenologie des Geistes«, a. a. O. Meine Deutung des »Satzes des Unterscheidens« als Perspektivierung von Unterscheidungen als Unterscheidungen kann diese programmatische Veränderung integrieren. Im Abschnitt V. C., der der im Hintergrund stehende Zentraltext für die Skizze einer dialektischen Handlungstheorie ist, wird Erfahrung selber reflexiv. »Geist« meint Praxisformen des Unterscheidens, in denen das Zugleich von Trennen und Beziehen und die Selbstreflexivität von Unterscheidungen erfahren und reflektiert werden können. Philosophieren bedeutet, sich als Teil dieser Praxisform zu verstehen, der man sich nicht gegenüberstellen kann. So verstanden führt der Text in die Erfahrung der unüberschaubaren Verzweigung von Unterscheidungen hinein, die es immer wieder neu mit Trennungen und Beziehungen, Hervorbringungen und Hervorgebrachtem und deren gegenseitiger Korrektur zu tun haben. Es gibt keine Lösung dafür oder Erlösung daraus, sondern nur eine Vertiefung und eine aktive Gestaltung, die sich immer mehr für die Möglichkeiten der Erfahrungsfülle öffnet und immer weniger den Verführungen von reduktiven Positionen verfällt. 7
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3.2.1 Gegenseitige Abhängigkeit von Trennen und Beziehen Eine wichtige Implikation des »Satzes vom Unterscheiden« liegt darin, dass die Tätigkeit des Unterscheidens und die Tätigkeit des Beziehens zugleich vollzogen werden. Das Bewusstsein vollzieht beides: die Tätigkeit des Unterscheidens von zwei Seiten und die Tätigkeit des Beziehens der einen Seite (die es selbst ist) auf die andere Seite. Hier werden Tätigkeiten betrachtet, Tätigkeiten des Trennens und Beziehens, die zunächst einem Bewusstsein zugeschrieben werden, aber im Verlaufe der Phänomenologie des Geistes immer mehr soziale und überindividuelle Tätigkeiten darstellen. Die Tätigkeit des Unterscheidens hat einen doppelten Sinn. Wird sie der Tätigkeit des Beziehens gegenübergestellt, bedeutet »unterscheiden« so viel wie »scheiden« oder »trennen«. Die Tätigkeit des Unterscheidens hat aber auch den umfassenden Sinn, der die beiden Tätigkeiten Trennen und Beziehen in ihrem (notwendigen) Zusammenspiel umgreift. Diese begriffliche Abhängigkeit zwischen der Tätigkeit des Unterscheidens als ganzer und einer ihrer Momente bzw. »Teiltätigkeiten« ist in dem »Satz des Unterscheidens« zum Ausdruck gebracht. Das Verhältnis der beiden Tätigkeiten wird durch den Ausdruck »zugleich« näher bestimmt. Dieser hat eine zeitliche und eine logische Bedeutung und beide Ebenen scheinen hier im Blick zu sein. Wenn das Bewusstsein etwas von sich unterscheidet, dann bezieht es sich zeitgleich auf das von ihm Unterschiedene und muss sich notwendigerweise auf das von ihm Unterschiedene beziehen. Zur logischen Struktur des Unterscheidens gehören die beiden Tätigkeiten des Unterscheidens, das Trennen und Beziehen, denn im Trennen von etwas wird eine Beziehung erzeugt. Indem das Bewusstsein z. B. zwischen sich als einem wissenden Subjekt und einem gewussten Gegenstand unterscheidet, ist das eine Moment, die beiden Seiten voneinander zu trennen, um sie als voneinander Unterschiedene zu erzeugen. Und das andere Moment liegt darin, die beiden Seiten in die Beziehung des Voneinander-Unterschiedenseins zu setzen. Die nähere Betrachtung dieser beiden Momente zeigt, dass die beiden Tätigkeiten des Unterscheidens als Trennen und Beziehen sich gegenseitig erzeugen und nicht ohne einander vollzogen werden können. Diese Erzeugung von Trennung und Beziehung in gegenseitiger Abhängigkeit eröffnet ein spannungsvolles Feld, da sich die Tätigkeit der Trennung in die Entwicklung von Verschiedenheiten, Gegensätzen und Widersprüchen auffächert, während die Tätigkeit der Bezie510 https://doi.org/10.5771/9783495817360 .
Die Tätigkeiten des Unterscheidens: Trennen und Beziehen
hung sich in Vermittlungen und Rückwirkungen aufeinander darstellt. 8 Mit der Behauptung der gegenseitigen Abhängigkeit wird theoretischen Klassifikationsversuchen eine Absage erteilt, in denen das menschliche Vermögen zu trennen/unterscheiden und das menschliche Vermögen zu verbinden/beziehen auseinandergenommen werden. Baumgarten z. B. unterscheidet zwischen Scharfsinn (acumen) als Vermögen, das Verschiedenheiten und Unterschiede im Ähnlichen erkennt und Witz (ingenium) als Vermögen, das umgekehrt Ähnlichkeiten und Verbindungen im Verschiedenen entdeckt. 9 Demgegenüber ist zu zeigen, dass die gegenseitige Abhängigkeit und die Gegenläufigkeit der beiden Tätigkeiten (nicht Vermögen) in eine Bewegung hineinzwingen, in der Unterscheidungen getroffen und wieder aufgehoben werden. In fast jedem Kapitel der Phänomenologie des Geistes finden sich Wendungen, wie: »Unterschiede, die zugleich oder eigentlich keine sind« 10. In der immanenten Kritik an den Unterscheidungen der verschiedenen Gestalten des Bewusstseins und des Geistes haben Bemerkungen dieser Art zum einen eine kritische Absicht als Hinweis auf die Defizienz der verwendeten Unterscheidungen. Zum anderen wächst im Laufe der Erfahrungen mit den Dynamiken des Unterscheidens aber die Einsicht in die spekulative Bewegung von Setzung und Auflösung von Unterscheidungen. 11
Vgl. z. B. Hegel, PhG, GW 9, 200: »Einheit, Unterschied und Beziehung sind Kategorien, deren jede nichts an und für sich, nur in Beziehung auf ihr Gegenteil ist, und die daher nicht auseinander kommen können.« 9 Baumgarten, Metaphysica (1757), §§ 572 f. 10 Vgl. z. B. zwei Passagen aus dem Selbstbewusstseinskapitel: »Unterscheiden wir die hierin enthaltenen Momente näher, so sehen wir, dass wir zum ersten Momente das Bestehen der selbständigen Gestalten; oder die Unterdrückung dessen haben, was das Unterscheiden an sich ist, nämlich nicht an sich zu sein und kein Bestehen zu haben.« (Hegel, PhG, GW 9, 106); »Er hat nichts Bleibendes an ihm, und muss dem Denkenden verschwinden, weil das Unterschiedne eben dies ist, nicht an ihm selbst zu sein, sondern seine Wesenheit nur in einem Andern zu haben; das Denken aber ist die Einsicht in diese Natur des Unterschiednen, es ist das negative Wesen als einfaches.« (Hegel, PhG, GW 9, 120). 11 Vgl. z. B. die im Abschnitt »Offenbare Religion« formulierte Einsicht: »Die Schwierigkeit, die in diesen Begriffen statt findet, ist allein das Festhalten am: ist, und das Vergessen des Denkens, worin die Momente ebenso sind als nicht sind, – nur die Bewegung sind, die der Geist ist. – Diese geistige Einheit oder die Einheit, worin die Unterschiede nur als Momente oder als aufgehobne sind, ist es, die für das vorstellende Bewusstsein in jener Versöhnung geworden […].« (Hegel, PhG, GW 9, 416–417). 8
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Welche Möglichkeiten gibt es, diesen Ausgangspunkt bei dem Zugleich von Trennen und Beziehen zu rechtfertigen oder wenigstens zu plausibilisieren? Im Aufbau der Phänomenologie des Geistes kommt dem ersten Kapitel, der Sinnlichen Gewissheit, die Funktion zu, die unhintergehbare Zusammengehörigkeit von Trennen und Beziehen zu zeigen. Dabei scheint mir dieser Text beide Extremformen durchzuspielen, die einseitige Beziehung, wie die einseitige Trennung. Der Text beginnt mit dem Versuch, die Erfahrung unmittelbarer Beziehung zu machen, totaler Kontinuität, in der kein Unterschied zwischen einem Erfahrenden und einem Erfahrungsgegenstand auftritt. Hegel beschreibt dies als sinnliche Fülle, die aber nicht durch die Angabe differenzierter Qualitäten gefasst werden kann. So eine Kontinuitätserfahrung ist eine Erfahrung der Fülle und eine Erfahrung beständiger Veränderung. Es wird die Erfahrung beschrieben, keinen Gegenstandsbezug herstellen zu können, ohne diese Kontinuität zu unterbrechen und einen räumlichen und zeitlichen Punkt herauszulösen. Und es wird die Erfahrung beschrieben, keinen Selbstbezug und keinen sozialen Bezug herstellen zu können, ohne diese Kontinuität zu unterbrechen und eine Perspektive auf die sinnliche Fülle und die beständigen Veränderungen einzunehmen. Zudem wird die sprachliche Erfahrung beschrieben, die Erfahrungsfülle nicht ausdrücken zu können, ohne bestimmte Aspekte dieser Fülle herauszulösen. Deshalb unterlaufen die sprachlichen Angebote auch das Prädikationsschema, es werden Ausdrücke gesucht, die möglichst keine Qualifikationen vornehmen. Dies scheinen indexikalische Ausdrücke zu sein, von denen sich aber zeigt, dass sie ohne das Mitverstehen eines räumlichen und zeitlichen Standpunktes nicht gebraucht und verstanden werden können. Die Erfahrung der sinnlichen Gewissheit zeigt: Herauslösungen, Trennungen sind unhintergehbar. 12 In der Sinnlichen Gewissheit findet sich aber auch die gegenläufige Erfahrung: Es sind keine Trennungen ohne Beziehungen möglich. Der zweite Anspruch dieser Erfahrungsgestalt ist nämlich auch, höchste Konkretheit und Individualität zu erfahren, den reinen Augenblick und den reinen Ort, die reine Qualität. Dies erfordert die Hier setzt Deleuzes Kritik an Hegel an und hält dem dialektischen Denken Hegels das »Gewimmel der Differenzen« als Unterscheidungen ohne Negation entgegen. Dies scheint ein berechtigter Einwand gegen Hegel. Deweys hohe Gewichtung von Empfindungen für Erkenntnisprozesse scheint mir auf Einwände wie diesen zu reagieren. Deshalb erscheint mir die Philosophie Deweys eine wichtige dialektische Weiterentwicklung der hegelschen Philosophie in dieser Hinsicht zu sein.
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Die Tätigkeiten des Unterscheidens: Trennen und Beziehen
Fokussierung der Aufmerksamkeit auf nur dies, nur hier, nur jetzt. Hegel versucht zu zeigen, wie absolute Kontinuität und absolute Punktualität eigentümlich konvergieren. Letzteres bedeutet den Ausschaltungsversuch aller Bezüge und damit von Beziehungen auf andere Zeitpunkte und Raumstellen und mögliche Perspektiven. Und deshalb ist die Sinnliche Gewissheit auch die Erfahrung, dass die Verschmelzung mit dem Augenblick oder mit einem absoluten Raumpunkt oder der eigenen Perspektive nicht möglich ist, ohne Bezüge auf andere Augenblicke und Raumpunkte und Perspektiven in Anspruch zu nehmen.
3.2.2 Selbstreflexivität von Unterscheidungen Die zweite Implikation des »Satzes des Unterscheidens« setzt bei dem an, was durch die Tätigkeiten des Trennens und Beziehens erzeugt wird, nämlich bei dem Unterschied zwischen zwei Seiten. Das, was unterscheidet (im Kontext der Einleitung das Bewusstsein), platziert sich selbst in der Unterscheidung, nämlich auf der einen Seite der Unterscheidung – und bezieht sich (als das, welches die Unterscheidung trifft und als eine Seite der Unterscheidung) auf das, was es von sich unterschieden hat (»etwas«). Wird eine Unterscheidung, wie die zwischen Wissen und Gegenstand (des Wissens) darauf hin durchsichtig gemacht, dass diese Unterscheidungen solche sind, die getroffen werden, dass der, der die Unterscheidung trifft, sich auf eine Seite der Unterscheidung platziert und sich als Treffender und Platzierter auf die andere Seite bezieht, dann zeigt sich die Selbstreflexivität der Unterscheidung. Auch Unterscheidungen wie die zwischen groß und klein oder die zwischen Ding und Eigenschaften sind Unterscheidungen, die verwendet werden und bei denen vorausgesetzt ist, dass sich jemand von einem Gegenstand unterschieden hat und diesen Gegenstand mit Unterscheidungen weiter qualifiziert. Selbstreflexive Unterscheidungen kondensieren die Generativität des Unterscheidungsaktes sowie das Resultat der unterschiedenen Seiten. Schon im Ausdruck »etwas ist von etwas unterschieden« liegt genau diese »Zweideutigkeit«: Zum einen ist das Unterschieden-Sein (zweistellige Relation), zum anderen das Unterschieden-Worden-Sein (von jemandem, also dreistellige Relation) gemeint. Dieses »Sich-von-etwas-unterscheiden« ist eine Tätigkeit, die nicht von einem einzelnen Akteur ausgeübt werden muss. Umge513 https://doi.org/10.5771/9783495817360 .
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kehrt ist hier eine Tätigkeit im Blick, durch die sich Akteure bilden können. Dies müssen keine Subjekte sein, es können auch Kollektive sein, Gruppen, Institutionen oder auch nicht ohne Weiteres zurechenbare Prozesse. Mit dem Blick auf die Dynamik von Unterscheidungen ist es wichtig, die traditionelle Rede von Selbstreflexivität zu erweitern, sie abzulösen vom Bewusstsein und zu erweitern auf lebendige Prozesse überhaupt, also biologische wie gesellschaftliche Bereiche. In dieser Erweiterung scheiden sich dann sehr grundlegend philosophische Wege, denn mehrheitlich wird Selbstreferentialität an Bewusstsein gekoppelt, an personale Eigenschaften wie Selbstbewusstsein und Rationalität. Blicken wir auf die Dynamik von Unterscheidungen als solchen und nicht nur auf die epistemische Unterscheidung zwischen Wissen und Wahrheit, dann ist die Tätigkeit des »Sich-von-etwas-Unterscheidens« nicht auf Bewusstsein festzulegen. Sich von etwas zu unterscheiden, ist also keine Tätigkeit, auf die Menschen ein Privileg hätten. Wieso soll nun dem selbstreflexiven Unterscheiden (bei der betonten Offenheit des »Selbst«) eine besondere Rolle zukommen und wie verhalten sich nicht-selbstreflexive Formen des Unterscheidens, in denen zwischen etwas von anderem oder dieses von jenem unterschieden wird, dazu? Ich meine, dass Hegel auch hier wieder in der Sinnlichen Gewissheit eine Antwort andeutet. In der Tätigkeit des Sich-Unterscheidens bildet sich erst dieses Sich, das sich unterscheidet und sich etwas gegenübersetzt. Der Ausdruck »etwas« in dem »Satz des Unterscheidens« ist ein offener Platzhalter für bestimmtes anderes oder andere oder auch für eine unbestimmte Umgebung. Sich von anderem oder allem anderen zu unterscheiden, bedeutet eine Gestalt zu produzieren und sich dabei von dieser Gestalt zu unterscheiden. Dieser kontinuierliche Prozess des Sich-Differenzierens wirkt hervorbringend und es werden räumliche, zeitliche und soziale Konkretisierungen nötig. Was durch die Tätigkeiten des Trennens und Beziehens hervorgebracht wird, muss ausgestaltet werden als Lokalisierung im Raum und Gestaltung in der Zeit, als Realisierung einer möglichen Perspektive, als sprachliche Artikulation. Erst wenn von der Hervorbringung, dem Sich-Differenzieren, abstrahiert wird oder die gegenständliche Seite des »Etwas« unter Einklammerung der Bedingungen der Hervorbringung weiter entfaltet wird, werden Unterscheidungen möglich, die darin bestehen, eine Grenze zwischen zwei »Etwassen« zu ziehen, zwischen etwas und anderem zu unterschei514 https://doi.org/10.5771/9783495817360 .
Verschiedenheitserfahrungen, Differenzerfahrungen, Gegensatzerfahrungen
den. Bei diesem vergegenständlichenden Gebrauch von Unterscheidungen zwischen diesem und jenem kann die Dimension des SichHervorbringens durch die Frage, wer wann warum eine Grenze zieht, wieder eingeholt werden. Auf die Seite des »Sich« gehört immer die Verwendung von Unterscheidungen und das, was die Verwendungskontexte und Verwendungsbedingungen noch weiter ausmacht. Und auf die Seite des »Etwas« gehört das, was durch die verwendeten Unterscheidungen zu charakterisieren, zu erfassen oder zu gestalten ist. In der Gestalt der Wahrnehmung im weiteren Verlauf der Phänomenologie des Geistes wird dieses unterschiedene »Etwas« mittels der Unterscheidung »Ding und Eigenschaften« zu erfassen versucht. Es ist wichtig, dass dieser Seite des »Etwas« eine Widerständigkeit und Eigenständigkeit zukommt und sie nicht als bloßes Produkt von einem Produzenten beherrscht werden kann. Das wäre eine große Reduktion und es zeigt sich, dass und inwiefern solche Kontrollphantasien scheitern müssen und unangemessen sind. Die dialektischen Potenziale liegen also darin, dass der Gebrauch und das Gebrauchte, der Prozess und das Resultat voneinander abhängig sind und dennoch dem Resultat eine Unabhängigkeit zukommen muss. Das »Etwas« ist also sowohl in Abhängigkeit wie auch in Unabhängigkeit vom »Sich« zu denken. Ein solcher Unterscheidungsgebrauch trägt der zweiten Implikation, der Selbstreflexivität von Unterscheidungen, Rechnung.
3.3 Verschiedenheitserfahrungen, Differenzerfahrungen, Gegensatzerfahrungen Die beiden Implikationen der Tätigkeit des Unterscheidens, das Zugleich von Trennen und Beziehen und die Selbstreflexivität von Unterscheidungen machen es nötig, den jeweils eigenen und spezifischen Charakter der unterschiedenen Seiten wie der verwobenen Tätigkeiten in möglichen Erfahrungen zum Ausdruck zu bringen. Das Zusammenspiel der beiden Tätigkeiten des Trennens und Beziehens ist immer ein bestimmtes von möglichen anderen und die Fülle der Möglichkeiten kann nie voll ausgeschöpft werden. Die unterschiedenen Seiten weisen eine Eigenständigkeit und Überschüssigkeit auf, die sich mehr oder weniger auffällig in Erfahrungen manifestieren. Diese Erfahrungen nenne ich »Verschiedenheitserfahrungen« und ich halte es für wichtig, bei der Arbeit mit inhaltlichen Unter515 https://doi.org/10.5771/9783495817360 .
3 · Warum Unterscheidungsforschung systematisch ist
scheidungen nach Erscheinungsformen von Verschiedenheitserfahrungen zu suchen. Erfahrungen, in denen die Gegenläufigkeit der beiden Tätigkeiten Trennen und Beziehen sehr stark im Vordergrund steht und sich die Eigenständigkeit und Überschüssigkeit der Seiten als eine Art Bruch oder unüberwindlicher Abstand manifestiert, nenne ich »Differenzerfahrungen«. Werden die beiden Tätigkeiten wie auch die Seiten zueinander in Opposition gebracht, um mögliche Beziehungen aufeinander auszuschließen, spreche ich von »Gegensatzerfahrungen«. Ich will diese drei Arten von Erfahrungen, die sich aus den Tätigkeiten des Trennens und Beziehens wie auch der Eigenständigkeit der unterschiedenen Seiten ergeben können, im Folgenden mit Rückbezug auf den ersten Teil weiter entfalten. Verschiedenheitserfahrungen: Die Verschiedenheit der Seiten einer Unterscheidung zeigt sich an deren Eigenständigkeit. In den vielfältigen Variationen der Situation in einem Team im vierten Kapitel des ersten Teils 13 wurden mögliche Erfahrungen der Eigenständigkeit skizziert. Es wurde beschrieben, wie Frau Wollen die Situation im Team daraufhin abklopft, wann die Zeit geeignet ist, um ihren Redebeitrag zu platzieren. Frau Wollen erfährt die Verschiedenheit zwischen ihrer Absicht, Herrn Not zu unterstützen, und den Feinheiten der konkreten Gestaltung. Absichten oder orientierende Entwürfe haben ein Überschüssigkeitsmoment. Sie gehen nie ganz auf in der jeweiligen Gestaltung, es hätte immer auch noch andere Möglichkeiten gegeben. Dies gilt genauso für die Gestaltung. Jede konkrete Gestaltung ist immer auch noch mehr als »nur« Ausdruck einer Absicht. Die besonderen Bedingungen der Verkörperung, wie die ausgeführten Bewegungen oder das verwendete Material können z. B. für sich betrachtet werden. Und die Eigenständigkeit beider Seiten zeigt sich im Falle der orientierenden Entwürfe an der Eigentümlichkeit von Entwürfen. Entwürfe zu machen, heißt, von den Bedingungen der Gestaltung mehr oder weniger großen Abstand nehmen und kontrafaktische Vorstellungen entwickeln zu können. Und die Eigenständigkeit der Gestaltung zeigt sich besonders deutlich an den unvorhergesehenen Wirkungen von Bewegungen und anderen körperlichen Vollzügen, die Empfindungen oder Erinnerungen evozieren können, die teilweise kaum ins Bewusstsein treten. Oft sind Verschiedenheitserfahrungen recht unscheinbar und müssen durch verlangsamende 13
Vgl. Teil I, 4. Kapitel.
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Verschiedenheitserfahrungen, Differenzerfahrungen, Gegensatzerfahrungen
und vergrößernde Beschreibungen in die Aufmerksamkeit gehoben werden. Die Tätigkeit des Beziehens der beiden unterschiedenen Seiten realisiert die Art und den Grad der Verwiesenheit der beiden Seiten aufeinander. Im Falle der Verschiedenheitserfahrung von Frau Wollen hat diese Verwiesenheit den Charakter eines Anspruchs auf Gestaltung des Entwurfs. Die Tätigkeit des Trennens kann umschrieben werden als mehr oder weniger stark ausgeprägter Versuch, die Eigenständigkeit und Überschüssigkeit der beiden Seiten zur Geltung zu bringen. Der terminologische Vorschlag, Verschiedenheit, Differenz und Gegensatz in dieser Weise an Erfahrungen mit Aspekten von Unterscheidungen zu binden, steht in Konkurrenz zu anderen terminologischen Vorschlägen. 14 Einige davon sollen an dieser Stelle zur Kontrastierung angeführt werden. Die wichtigste Funktion des Terminus’ »Verschiedenheit« hier liegt darin, die Nicht-Reduzierbarkeit von Aspekten aufeinander zu betonen. In der Alltagssprache wie in der Theoriesprache sind durchaus andere Bedeutungen vorgebildet. »Verschiedenheit« kann auch heißen – und dann wird oft zur Klärung ein »völlig« davorgesetzt – dass das, was verschieden ist, sich in keiner Weise berührt, überschneidet, irgendeinen Bezug oder eine Ähnlichkeit aufweist. Diese Relation der Inkommensurabilität schlägt auch Aristoteles für den griechischen Begriff »heterotēs« vor. 15 Es gibt keinen benennbaren Differenzpunkt, weil alles verschieden ist, also keine relevanten Gemeinsamkeiten bestehen. Demgegenüber soll hier mit dem Ausdruck »verschieden« betont werden, dass verschiedene Aspekte nicht in einer größeren Gemeinsamkeit zusammenfallen können, sondern dass ihre Andersartigkeit bestehen bleibt. In den Erfahrungen der Verschiedenheit kann ein Motor für neue Konstellierungen der jeweiligen Seiten liegen. Vgl. zum Sprachgebrauch Abschnitt vi der allgemeinen Einleitung. Einige der Beobachtungen zum uneinheitlichen Sprachgebrauch werden hier wieder aufgenommen. Andere, die hier besprochen werden, kamen dort nicht vor, weil es in diesem Abschnitt vor allem darauf ankam, die Vielfalt, Uneinheitlichkeit und Theorieabhängigkeit der Vorschläge zu zeigen. 15 »Denn das, was verschieden ist, braucht nicht gegen das, gegen welches es ein Verschiedenes ist, durch etwas verschieden sein; denn jedes Seiende überhaupt ist entweder dasselbe oder verschieden; was aber von etwas unterschieden ist, muss durch etwas unterschieden sein; es muss also für beide etwas Identisches geben, wodurch sie sich unterscheiden.« (leicht veränderte Übersetzung von Hermann Bonitz/Horst Seidl, Aristoteles, Met. X 3, 1054b23–28). 14
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Differenzerfahrungen: Die Überschüssigkeit und Eigenständigkeit beider Seiten wie die Gegenläufigkeit der beiden Tätigkeiten Trennen und Beziehen können zu Differenzerfahrungen führen, zu einem erlebten Bruch oder Abstand zwischen den beiden Seiten. Für die Ausführungen im ersten Teil sind solche Differenzerfahrungen von großer Bedeutung, denn die Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille wurde als eine wichtige Differenzerfahrung gedeutet. Das Charakteristische von Differenzerfahrungen im Handeln (wie im Falle des selbstreflexiven Wünschens) scheint mir darin zu liegen, dass die Tätigkeit des Beziehens sich als Anspruch auf die Integration der beiden unterschiedenen Seiten explizit manifestiert, zum Beispiel als konventioneller Anspruch, den eine Gemeinschaft teilt, als individueller Anspruch von jemandem selbst an sich oder von jemand anderem an einen anderen. Die Tätigkeit des Trennens zeigt sich gegenläufig dazu als Nicht-Erfüllung dieses Anspruchs, die als Abstand, Bruch, Riss oder Widerstreit der Kräfte erfahren wird. Die Tätigkeit des Trennens hat also im Falle von Differenzerfahrungen sehr verschiedene Intensitäten. Wir sehen, dass sich in Abhängigkeit von der Qualität der Differenz zwischen den Absichten auf der einen Seite und der Gestaltung auf der anderen Seite auch die Qualität dieser Absichten und Gestaltungen verändert. Große Variationsspielräume eröffnen sich in Abhängigkeit voneinander sowohl auf der Seite dessen, was bewusst offen mit den Ausdrücken »Absichten, Vorhaben und Pläne« belegt worden ist, wie auf der Seite des Handelns als auch, wie angedeutet, bei der Qualität der Differenz selber. Das Spektrum der Qualitäten für die Seite der Absichten, Vorhaben, Pläne reicht von den guten Vorsätzen für das neue Jahr, von denen ziemlich wahrscheinlich ist, dass sie spätestens im Februar im Alltag untergegangen sind, bis zu festen Absichten, etwas zu tun, deren Nicht-Verwirklichung uns selber überrascht. Im Alltag sprechen wir dann von »guten Vorsätzen«, wenn das Vorhaben als erstrebenswert, z. T. geradezu als hehr bewertet wird und die Umsetzung ziemlich wahrscheinlich weit dahinter zurückbleibt. Die Äußerlichkeit des Vorhabens wie z. B. ab morgen mit dem Rauchen aufzuhören, ab morgen jeden Tag zu joggen, ist häufig geradezu spürbar und man »fällt« in die Lücke zwischen Absicht bzw. Vorhaben und Handlung mitten hinein. Von festen Absichten spricht man dann, wenn die Ausrichtung auf das Beabsichtigte sehr entschieden ist und dadurch die Bereitschaft der Festlegung auf die Umsetzung des Beabsichtigten gegenüber sich selbst oder gegen518 https://doi.org/10.5771/9783495817360 .
Verschiedenheitserfahrungen, Differenzerfahrungen, Gegensatzerfahrungen
über anderen sehr hoch ist. Unsere Rede über feste Absichten, wie: »Ich habe die feste Absicht, das und das zu tun«, oder »Sie hat die feste Absicht, das und das zu tun«, hält das Gelingen des Handlungsbezuges offen. Ein sprachlicher Anschluss, in dem der Zusammenhang zwischen fester Absicht und Handlung ausgedrückt ist, wie: »Warum wunderst Du Dich, dass sie das und das getan hat? Sie hatte doch die feste Absicht geäußert«, ist genauso denkbar, wie einer, in dem dessen Fehlen thematisiert wird, wie z. B. folgender: »Ich bin enttäuscht und wütend. Er hatte doch die feste Absicht, mich in der Sache zu unterstützen. Warum hat er es dann nicht getan?« Die Variationsbreite der Qualitäten des Vorhabens ist aber erst dann vollständig beschrieben, wenn zum einen die je andere Qualität der erfahrenen Differenz zwischen Vorhaben und Handlung wie auch zum anderen die je andere Qualität des abweichenden Handelns thematisiert wird. Die in Frage stehende Differenz zeigt sich im Falle der guten Vorsätze als ein vorhandener spürbarer Abstand, eine Lücke und im Falle der festen Absichten als ein Riss, der sich plötzlich auftut. Wird nun die Konzentration auf die Qualitätsänderungen des abweichenden Handelns gelenkt, so zeigt sich, dass im Falle der guten Vorsätze und des empfundenen Abstandes das abweichende Handeln wie ein Handeln unter veränderten Bedingungen erfahren werden kann, was eine Ausnahme oder eine Aufschiebung oder gar Verflüchtigung des Vorhabens rechtfertigt. Im Falle der festen Absicht und dem erfahrenen Riss kann das Handeln so erfahren werden, als drücke sich darin eine andere, vielleicht gegenteilige Absicht aus. 16 Mit diesen beiden Konkretisierungen der Differenzerfahrung ist ein Spektrum aufgespannt, mit den »guten Vorsätzen« ist der eine Pol des Spektrums markiert und mit den »festen Absichten« der andere. Diese beiden Pole können auch als gegenläufige Kräfte bestimmt werden, wie dies Kant mit seinem Modell der Realrepugnanz vorschlägt. Die beiden Pole unterscheiden sich durch die Relation zwischen Vorhaben und Handeln. Die Verbindung zwischen Vorhaben und Handeln ist im Falle der guten Vorsätze ausgesprochen locker und instabil und im Falle der festen Absicht ist der Bogen zwi-
Diese drei Qualitätsänderungen von Vorhaben, Differenz und abweichendem Tun sind abhängig voneinander und stehen in einem reziproken und nicht in einem linearen Verhältnis. Die Beschreibung könnte bei jedem der drei Aspekte ansetzen, also zum Beispiel bei der Erfahrung des spürbaren Abstandes oder Risses und von dort den Fokus der Aufmerksamkeit auf die anderen Aspekte verschieben.
16
519 https://doi.org/10.5771/9783495817360 .
3 · Warum Unterscheidungsforschung systematisch ist
schen Vorhaben und Handeln scheinbar zusammenhängend. Dazwischen gibt es natürlich noch eine Fülle von möglichen anderen Erfahrungen von Differenzen zwischen Vorhaben und Handeln. Die Erfahrung der Differenz ist das, was die Fülle der Erfahrungen zusammenhält, der Aufriss des Spektrums mit den beiden Polen liefert eine Ordnungsidee für die Fülle der konkreten Erscheinungsweisen. Allgemeiner kann gesagt werden, dass Differenzerfahrungen solche sind, in denen die Verschiedenheit von Aspekten, die aufeinander bezogen sind bzw. die in einem Funktionszusammenhang stehen, erfahren wird (im Falle der guten Vorsätze), oder sie treten da auf, wo Zusammenhang und Kontinuität erwartet wird, eben diese aber unterbrochen und dadurch »Andersheit« erlebt wird (im Falle der festen Absicht). Der Abstand, die Andersheit, die erlebt wird, kann, wie im Falle der guten Vorsätze, erwartet sein und geradezu bestätigend wirken, oder auch wie im Falle mancher festen Absichten irritierend sein, störend, Fremdheit erzeugend. Der Ausdruck »Differenzerfahrung« ist sehr vielfältig gebraucht und teilweise theoretisch sehr aufgeladen. Er ist aber kein Terminus, der in allen Verwendungen eine gemeinsame Kernbedeutung hätte. Man findet ihn naheliegender Weise häufig bei der Beschreibung interkultureller Erfahrungen. 17 Es ist leicht nachzuvollziehen, weshalb in der Reflexion auf die kulturelle Vielfalt der modernen Welt die Begriffe »Differenzerfahrung« und »Differenz« zentrale Bedeutung haben und weshalb in diesen Diskussionen aktiv Anschlüsse an verschiedenste Beiträge zur »Differenztheorie« gesucht werden. In der Systemtheorie Luhmanns sind Differenzerfahrungen Voraussetzungen für Informationsgewinn und Informationsverarbeitung und geben Anlass für Lernmöglichkeiten und die Entwicklung von Neuem. 18 Ich schließe mich diesen Festlegungen auf ein thematisches Gebiet oder auf eine Methode nicht an, sondern verstehe DifferenzerfahrunVgl. z. B.: »Unter Differenzerfahrung kann eine irritierende Erfahrung im Kontakt mit Anderen verstanden werden, eine Auffassung, die von den Autorinnen und Autoren im vorliegenden Band überwiegend auf den Kontakt mit dem kulturell Fremden bezogen wird.« (Sylke Bartmann, Oliver Immel (Hg.), Das Vertraute und das Fremde. Differenzerfahrung und Fremdverstehen im Interkulturalitätsdiskurs, Bielefeld 2011, S. 7), oder auch Peter Nick, Ohne Angst verschieden sein. Differenzerfahrungen und Identitätskonstruktionen in der multikulturellen Gesellschaft, Frankfurt 2003. 18 Max Miller, »Selbstreferenz und Differenzerfahrung. Einige Überlegungen zu Luhmanns Theorie sozialer Systeme«, in: H. Haferkamp/M. Schmid (Hg.), Sinn, Kommunikation und Differenz – zur Sozialtheorie Niklas Luhmanns, Frankfurt a. M. 1987, S. 187–211. 17
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Verschiedenheitserfahrungen, Differenzerfahrungen, Gegensatzerfahrungen
gen allgemeiner als solche Erfahrungen, in denen die Tätigkeit des Trennens gegen die Tätigkeit des Verbindens gerichtet ist. Dies wird sehr häufig als nicht erfüllter Anspruch erlebt. Differenzerfahrungen legen meist Spannungen offen, die mit einem Phänomen verbunden sind. 19 Deshalb gehört es zur Methode der Unterscheidungsforschung, Differenzerfahrungen aufzusuchen und zu beschreiben und zum Ausgangs- und Referenzpunkt von Analysen zu machen. Gegensatzerfahrungen: Bei Gegensatzerfahrungen besteht die Tätigkeit des Trennens in dem Versuch, die Eigenständigkeit und Unabhängigkeit der unterschiedenen Seiten einander gegenüber stark zu betonen. Die unterschiedenen Seiten werden einander in einer Weise gegenübergestellt, die eine gegenseitige Rückwirkung, Austausch und Veränderung ausschließen soll. Verschiedene Möglichkeiten für solche Gegenüberstellungen wurden im Zusammenhang mit der Praktik des Kontrastierens besprochen. 20 Für das sophistische antilegein ist in der Darstellung Platons vor allem der Einsatz der kontradiktorischen Gegenüberstellung kennzeichnend. Durch diese aktive Zurückweisung wird die Wirkung der Tätigkeit des Beziehens in Gegensatzerfahrungen oft als überraschend und unverständlich erlebt. Die Tätigkeit des Beziehens wird gewissermaßen verdeckt und scheint im Verborgenen oder hinter dem Rücken der Akteure zu wirken. Die Darstellung der Gegensatzerfahrungen anhand von Variationen im ersten Teil sollte zeigen, inwiefern genau dies als Wirkung der vielfältigen Tätigkeiten, Gegensätze aufzubauen, zu verstehen ist. 21 Als mögliche Wirkungen der verdeckten Tätigkeit des Beziehens wurden die Reproduktion dessen, was ausgeschlossen und abgewertet wurde oder der »Umschlag« ins Gegenteil oder das willkürliche Hin- und Herspringen zwischen den Gegensätzen erwähnt und als Erfahrungsgestalten vorgeführt. Ein wichtiges Anliegen der Philosophie Hegels besteht darin, diese Wirkzusammenhänge bei Gegensatzerfahrungen verständlich zu machen. Gegensatzerfahrungen entstehen immer dann, wenn Ganz in diesem Sinne beschreibt Natalie Depraz das philosophische Selbstverständnis von Peirce: »Es geht ihm vielmehr darum, die immanente Spannung des Phänomens als das herauszustellen, was seine Einheit ausmacht.« (Natalie Depraz, Phänomenologie in der Praxis. Eine Einführung, Freiburg/München 2012, S. 59 (Übersetzung Sebastian Knöpker). 20 Vgl. Teil II, Kapitel 2.1.2.2. 21 Vgl. Teil I, Kapitel 4.2. 19
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3 · Warum Unterscheidungsforschung systematisch ist
Rückwirkungen und Veränderungen zwischen unterschiedenen Seiten ausgeschlossen werden sollen. Hegel zeigt, dass wir aber genau dies ständig tun und Gegensatzerfahrungen deshalb in vielfältigster Gestalt die Folge sind. Dies gilt nicht nur für soziale Interaktionen. Hegel reflektiert auch unsere Praktiken des Schließens und Erklärens unter dieser Perspektive. Er deckt darin die Tendenz auf, die gezogenen Schlüsse und die gewonnenen Erklärungen nicht noch einmal der Veränderung durch die Vielfalt der Erscheinungen auszusetzen. Die dadurch entstehenden Verkehrungen von Modellen gegen sich selbst zeigt Hegel eindrucksvoll im Kapitel »Kraft und Verstand« der Phänomenologie des Geistes unter dem Stichwort der »verkehrten Welt«. Verschiedenheits-, Differenz- und Gegensatzerfahrungen stellen Möglichkeiten dar, wie sich die gegenseitige Abhängigkeit der beiden Tätigkeiten des Unterscheidens, Trennen und Beziehen, und die Selbstreflexivität des Unterscheidens zeigen kann. Differenz- und Gegensatzerfahrungen ergeben sich aus dem Gegeneinanderwirken der beiden Tätigkeiten des Unterscheidens, Trennen und Beziehen. Die gegenseitige Abhängigkeit der beiden Tätigkeiten des Unterscheidens und die Dynamiken der Selbstreflexivität des Unterscheidens bedeuten aber genauso Rückwirkungen und gegenseitige Veränderungen. Rückwirkungen werden durch die Integration von Konsequenzen nötig, die sich aus den Tätigkeiten des Unterscheidens ergeben. Dadurch können sich Unterscheidungen als ganze verändern und teilweise sogar auflösen. Hegel bezeichnet solche Veränderungen oder Auflösungen als »Unterscheidungen, die keine sind« oder als »Aufhebungen«, die durch die Behauptung »spekulativer Identitäten« abgekürzt werden. Hegel kommt es auf die Erzeugung der Einsicht in diese Zusammenhänge an und nicht so sehr auf die detaillierte Beschäftigung mit den alltäglichen Rückwirkungen zwischen unterschiedenen Seiten in konkreten Situationen. Dies scheint ihm theoretisch unergiebig, denn Alltagssituationen sind ihm zufolge entweder Wiederholungen eingefahrener Routinen oder bloße Zufälligkeiten, in denen es nichts zu erkennen gibt. Hierin kann man eine Selbstbeschränkung dialektischen Philosophierens sehen und Denker wie Dewey sind darüber hinausgegangen. Dadurch werden die Beobachtungen und Beschreibungen feiner, aber auch unspektakulärer. Es sind nicht mehr nur Figuren wie Faust oder Antigone, durch die menschliches Handeln verstanden werden kann. Vielmehr 522 https://doi.org/10.5771/9783495817360 .
Rückwirkungen erfahren
rückt der alltägliche Unterscheidungsgebrauch mit seinen Routinen und Zufälligkeiten ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Dewey räumt der kontinuierlichen Veränderung, die begrifflich nicht zu durchdringen ist und die für unser Erkennen und Handeln ein unabsehbares Irritationspotenzial bereithält, ein großes Gewicht ein. Diese Dimension muss in den Begriff der Erfahrung, den Grundbegriff seiner Philosophie, mit aufgenommen werden. Damit setzt Dewey ähnlich wie Deleuze bei der Kontinuität und beständigen Veränderung an, die unterhalb der Bewusstseinsschwelle liegen, der irritierenden und widerständigen Kraft der »Disparitäten« und des »Gewimmels der Differenzen«. 22 Deleuze versucht dieses »Gewimmel der Differenzen« ohne Rückbindung an gewöhnliche Erfahrung zu denken und ihn interessieren Erfahrungsformen, die die gewöhnliche Erfahrung sprengen, wie Formen künstlerischer Erfahrung. Für Dewey dagegen bilden Alltagserfahrung, künstlerische Erfahrung und auch wissenschaftliche Tätigkeiten eine Kontinuität. Das »Gewimmel der Differenzen« zeigt sich in allen Bereichen in Form von unabsehbaren Wirkungen und Konsequenzen. Aus der Kontinuität des nicht Unterscheidbaren, nicht Distinkten ergeben sich durch Irritationen unserer Unterscheidungsgewohnheiten oft Anlässe für Unterscheidungen. Deweys Beitrag zum Nachdenken über Unterscheidungen kann darin gesehen werden, unseren Unterscheidungsgebrauch von diesen Anlässen her zu verstehen. Die Rückwirkungen zwischen Unterscheidungsgewohnheiten und Irritationen sind besonders wichtig. Deweys Beitrag, der für die Darstellung der dialektischen Handlungstheorie im vierten Kapitel des ersten Teils eine große Rolle gespielt hat 23, soll in dieser allgemeineren Perspektive reflektiert werden.
3.4 Rückwirkungen erfahren Deweys besonderer Beitrag zum Umgang mit Unterscheidungen findet sich also inmitten seines Erfahrungsbegriffs, den er über die Rückwirkung zwischen Unterschiedenem aufbaut. Dabei spielen einige konkrete inhaltliche Unterscheidungen eine besondere Rolle, nämlich die Unterscheidungen zwischen Ich und Welt, damit zusam22 23
Vgl. Teil II, Kapitel 2.3. Vgl. vor allem Teil I, Kapitel 4.3–4.6.
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menhängend zwischen aktiv und passiv und zwischen Vergangenem und Zukünftigen. Bei Dewey gibt es also noch konsequenter als bei Hegel keine von der Arbeit an Inhalten abgehobene abstrakte Unterscheidungsreflexion. Die Anforderung der Inhaltssättigung ist eine, die im Rahmen der Philosophie Deweys geradezu eine pragmatistische Begründung erfahren könnte. Dewey teilt die Weiterentwicklung der pragmatischen Maxime durch James, den Sinn von Aussagen und Begriffen durch Rückbezug auf reale und partikulare Erfahrung zu deuten und setzt bei Situationen an, die er als Rückwirkung zwischen koordinierten Akteuren und den objektiven Bedingungen, unter denen sie handeln, versteht.
3.4.1 Trennen und Beziehen als Duplizität der Erfahrung Dewey spricht von der »Duplizität der Erfahrung« (duplicity of experience) 24 und auch von der »Doppelläufigkeit« (double-barrelled) 25 von Erfahrung. Als »Duplizität der Erfahrung« wird die Gleichzeitigkeit von Tun und Leiden bezeichnet, und »Doppelläufigkeit der Erfahrung« meint die Untrennbarkeit zwischen dem Was bzw. dem Material und dem Wie bzw. dem Akt der Erfahrung. Kern seines Erfahrungsbegriffes ist diese Figur der Dopplung, der Zusammengehörigkeit von Gegenläufigem oder der Untrennbarkeit von Unterschiedenem. Dewey vermeidet es, diese Figur auf einer derart abstrakten Ebene zu entfalten und quasi spekulativ zu rechtfertigen. Vielmehr zeigt er die Wirksamkeit dieser Figur in immer neuen Anläufen in verschiedenen Erscheinungsweisen. Von großer Wichtigkeit sind die zeitliche Dimension von Erfahrungen und das Zusammenspiel von Erinnerung und Erwartung. Dewey reflektiert die zeitlichen Verläufe und die spannungsvolle Verwobenheit von in der Vergangenheit erworbenen Gewohnheiten, Konventionen und geschichtlichen Konstellationen auf der einen und dem Zukunftsbezug, der auf Wiederholung und Erneuerung gerichtet ist, auf der anderen Seite. Erfahrungen sind, im Längsschnitt,
Dewey, Recovery of Philosophy, MW.10.9. Dewey, Experience and Nature, LW.1.18. Dewey nimmt den Ausdruck »doppelläufig« von James auf und schreibt in Anwendung auf Erfahrung: »It is ›double-barrelled‹ in that it recognizes in its primary integrity no division between act and material, subject and object, but contains them both in an unanalyzed totality.« (ebd.) 24 25
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Rückwirkungen erfahren
kontinuierende Veränderungen. Sie sind Reaktionen auf Veränderungen in der Umgebung zu dem Zweck, die zukünftigen Reaktionen der Umgebung zu beeinflussen. Dadurch verändern sich die Bedingungen für die Qualität der folgenden Erfahrungen, also für die sich anschließenden Reaktionen auf erwartete und unerwartete, auf als günstig eingestufte wie auf weniger günstig eingestufte Reaktionen der Umgebung, durch die wiederum die zukünftigen Reaktionen der Umgebung beeinflusst werden sollen. In diesem Prozess der Reaktion auf Veränderungen und der Erzeugung von Veränderungen kontinuieren sich Veränderungen, sie greifen ineinander, schließen aneinander an und folgen nicht einfach aufeinander, wie in einem sehr äußerlichen Modell der Zeit Zeitpunkte auf einer Zeitachse als aufeinander folgend angesehen werden. Charakteristisch für Reaktionen ist ihr Zukunftsbezug, der aber nur durch Vorprägungen aus vergangenen Reaktionen möglich ist. Erfahrungen sind zu verstehen als genau dieses Wechselspiel zwischen den Reaktionen auf die Umgebung (auf deren Widerständigkeiten genauso wie auf die sich bietenden Chancen) auf der einen und den Aktivitäten, die Veränderungen in der Umgebung in Gang zu setzen, auf der anderen Seite. Zur »Umgebung« gehören sowohl Dinge, Straßen, schnelle Verkehrsmittel, Werkzeuge, Geräte, Möbel, aber auch konkrete andere, das soziale Umfeld, soziale Verhältnisse, Positionen, Hierarchien, Institutionen. Es ist Dewey ein Anliegen, die verschiedene Qualität von Reaktion und Aktivität deutlich zu machen. Es finden sich Passagen in seinem Werk, in denen er dies eindrucksvoll vorführt. Über Erfahrung als Reaktion können wir zum Beispiel lesen: Experience is primarily a process of undergoing: a process of standing something; of suffering and passion, of affection, in the literal sense of these words. The organism has to endure, to undergo, the consequences of its own actions. Experience is no slipping along in a path fixed by inner consciousness. Private consciousness is an incidental outcome of experience of a vital objective sort; it is not its source. 26 Dewey, Recovery of Philosophy, MW.10.8. Die deutsche Übersetzung lautet: »Erfahrung ist primär ein Prozess, etwas durchzumachen: ein Prozess, etwas auszuhalten; ein Prozess des Erleidens, der Passion, der Affektion, im wörtlichen Sinne dieser Ausdrücke. Der Organismus hat die Konsequenzen seiner eigenen Handlungen zu ertragen, zu erleiden. Erfahrung besteht nicht darin, dass man einen Weg entlanggleitet, den das innere Bewusstsein festgelegt hat. Das private Bewusstsein ist das Nebenpro-
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Über Erfahrung als Aktivität lesen wir: It [the human being] is obliged to struggle – that is to say, to employ the direct support given by the environment in order indirectly to effect changes that would not otherwise occur. In this sense, life goes on by means of controlling the environment. Its activities must change the changes going on around it […]. 27
Beides trifft gleichermaßen zu und beides ist für Dewey ein legitimer Ausgangspunkt für das, was Erfahrung ausmacht. Interaktion zielt auf die Zusammengehörigkeit von beidem, auf die Gleichzeitigkeit von Tun und Leiden oder die »Duplizität« von Reaktion und Aktion. 28 Dieses Wechselspiel konstituiert eine Situation. Erfahrungen spielen sich nicht im Inneren von Personen ab, sondern in so verstandenen Situationen. Um der Doppelfigur Rechnung zu tragen, muss sowohl die Verschiedenheit der beiden Seiten eingesehen werden, wie deren Zusammengehörigkeit. Der Modus der Zusammengehörigkeit sind die Rückwirkungen der beiden Seiten aufeinander.
dukt einer Erfahrung von einer vitalen, objektiven Art; es ist nicht ihre Quelle.« (Dewey, »Die Notwendigkeit einer Selbsterneuerung der Philosophie«, in: ders: Erfahrung, Erkenntnis und Wert, Frankfurt a. M. 2004 (Übersetzung Martin Suhr), S. 145–195, S. 151) Da der Begriff der Erfahrung zu den Grundbegriffen der Philosophie von Dewey gehört und er ihn deshalb in jedem Werk verwendet, bespricht und den Fokus dabei immer wieder verschiebt, gibt es verschiedene Möglichkeiten der Präzisierung. Richard Bernstein wählt in dem Peirce und Dewey gewidmeten Kapitel seiner klassisch gewordenen Studie Praxis und Handeln den Weg, Deweys Gegenüberstellung zwischen der »traditionalen« und seiner eigenen Auffassung von Erfahrung in dem Aufsatz The Need for a Recovery of Philosophy von 1917 zu kommentieren. Vgl. Richard Bernstein, Praxis und Handeln, Frankfurt 1971, S. 77–88. Ulrich Engler bezieht sich in Kritik der Erfahrung vor allem auf das erste Kapitel in der dritten Auflage von Experience and Nature von 1929. Die Schwierigkeiten, die Konturen des Begriffs Erfahrung zu bestimmen, liegen sicher auch darin, dass Erfahrung bei Dewey ein Methodenbegriff wie auch Gegenstand der Untersuchungen ist. Vgl. dazu Ulrich Engler, Kritik der Erfahrung. Die Bedeutung der ästhetischen Erfahrung in der Philosophie John Deweys, Würzburg 1992, S. 115–141. 27 Dewey, Recovery of Philosophy, MW.10.7. Die deutsche Übersetzung lautet: »Er [der Mensch] ist gezwungen zu kämpfen – das heißt, die direkte Unterstützung, die die Umwelt ihm gewährt, zu nutzen, um indirekt Veränderungen zu bewirken, die andernfalls nicht eintreten würden. In diesem Sinne verläuft das Leben mittels der Beherrschung der Umwelt. Seine Aktivitäten müssen die Veränderungen um es herum verändern […].« (Dewey, »Die Notwendigkeit einer Selbsterneuerung der Philosophie«, S. 150). 28 Dewey, Recovery of Philosophy, MW.10.9.
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Rückwirkungen erfahren
Erfahrung wird damit als Vermittlung bestimmt, als Vermittlung zwischen Dimensionen der gelebten Zeit einerseits und als Vermittlung zwischen Aktivität und Passivität andererseits. Der Wert von Erfahrungen liegt im Grad der Verflechtung dieser beiden Seiten. Für die Vermittlung zwischen Aktivität und Passivität schreibt Dewey in Democracy and Education: The nature of experience can be understood only by noting that it includes an active and a passive element peculiarly combined. On the active hand, experience is trying – a meaning which is made explicit in the connected term experiment. On the passive, it is undergoing. When we experience something we act upon it, we do something with it; then we suffer or undergo the consequences. We do something to the thing and then it does something to us in return: such is the peculiar combination. The connection of these two phases of experience measures the fruitfulness or value of the experience. Mere activity does not constitute experience. It is dispersive, centrifugal, dissipating. Experience as trying involves change, but change is meaningless transition unless it is consciously connected with the return wave of consequences which flow from it. When an activity is continued into the undergoing of consequences, when the change made by action is reflected back into a change made in us, the mere flux is loaded with significance. We learn something. 29
Die Veränderungen, die Erfahrungen ausmachen, sind als Rückwirkungen (return) zu verstehen. Handlungen sind also nicht monodirektionale Einwirkungen auf unsere soziale, natürliche oder kulturelle Umgebung, sondern ein Zusammenhang von Wirkung und Dewey, Democracy and Education, MW.9.146. Ich führe auch die deutsche Übersetzung an: »Das Wesen der Erfahrung kann nur verstanden werden, wenn man beachtet, dass dieser Begriff ein passives und ein aktives Element umschließt, die in besonderer Weise miteinander verbunden sind. Die aktive Seite der Erfahrung ist Ausprobieren, Versuch – man macht Erfahrungen. Die passive Seite ist ein Erleiden, ein Hinnehmen. Wenn wir etwas erfahren, so wirken wir auf dieses Etwas zugleich ein, so tun wir etwas damit, um dann die Folgen unseres Tuns zu erleiden. Wir wirken auf den Gegenstand ein, und der Gegenstand wirkt auf uns zurück; darin eben liegt die besondere Verbindung der beiden Elemente. Je enger diese beiden Seiten der Erfahrung miteinander verflochten sind, um so größer ist ihr Wert. Bloße Betätigung stellt noch keine Erfahrung dar. Sie wirkt zerstreuend, zentrifugal. Erfahrung als Probieren umfasst zugleich Veränderung – Veränderung aber ist bedeutungsloser Übergang, wenn sie nicht bewusst in Beziehung gebracht wird mit der Welle von Rückwirkungen, die von ihr ausgehen. Wenn eine Betätigung hineinverfolgt wird in ihre Folgen, wenn die durch unser Handeln hervorgebrachte Veränderung zurückwirkt auf uns selbst und in uns eine Veränderung bewirkt, dann gewinnt die bloße Abänderung Sinn und Bedeutung; dann lernen wir etwas.« (Übersetzung Erich Hylla, S. 186).
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Rückwirkung. Was ist mit diesen Rückwirkungen des »Gegenstands« und mit der »Welle von Rückwirkungen« (the return wave of consequences), die von Veränderungen ausgehen, gemeint? Rückwirkungen sind grundsätzlicher zu verstehen denn als Reaktionen von einem Gegenüber, die geschehen oder ausbleiben können. Dewey scheint zu meinen, dass es »Wellen von Rückwirkungen« immer gibt und dass es darauf ankomme, uns dadurch verändern zu lassen. Wenn wir etwas in unserer Umgebung verändern, dann sollen wir uns durch die Vielzahl der Rückwirkungen, die von unserer Umgebung ausgehen, verändern lassen. Der Wert von Erfahrungen wird daran bemessen, wie intensiv die Verbindung der beiden Seiten ist, wie vollständig die Gesamtgestalt des Veränderns und Verändertwerdens ausgeführt ist.
3.4.2 Die Selbstreflexivität von Unterscheidungen als Zurückgehen ins noch nicht Bestimmte Unterscheidungen sind keine substantiellen Formen, sondern dynamische Gebilde. Unterscheidungen werden getroffen und entstehen und verändern sich. Die Perspektive der Hervorbringung von Unterscheidungen, wodurch ein unterscheidendes »Sich« gegenüber einem »Etwas« erzeugt wird, wurde oben die »Selbstreflexivität des Unterscheidens« genannt. Um diesen Hervorbringungscharakter von Unterscheidungen verstehen zu können, ist es aus der Sicht von Dewey ausgesprochen produktiv, bei einem Zusammenhang anzusetzen, in dem die Unterschiedenen noch nicht klar konturiert vorliegen. Es sind also Räume aufzusuchen, in denen Vieles noch vage, diffus, ununterschieden vorliegt. Dewey nennt einen solchen Gesamtzusammenhang »primäre Erfahrung« (primary experience). 30 Damit ist unmittelbares Erleben in Form von Qualitätsempfindungen von Situationen, in Form eines Vertrautseins mit oder einer Teilhabe an Situationen gemeint. 31 Unsere Alltagserfahrung ist primäre Erfahrung in diesem Sinne. Damit wird für eine genetische Perspektive plädiert, die für die Frage nach bestimmten Unterscheidungen im
Vgl. Dewey, Experience and Nature, LW.1.21 ff. Vgl. dazu Englers sehr aufschlussreiche Besprechung der Unterscheidung zwischen primärer und sekundärer Erfahrung in Deweys Erfahrung und Natur. Vgl. Engler, Kritik der Erfahrung. Die Bedeutung der ästhetischen Erfahrung in der Philosophie John Deweys, a. a. O., S. 118–130.
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Raum des noch nicht Unterschiedenen ansetzt und darin nach Anlässen für Unterscheidungen sucht. Es ist keine These über die Möglichkeit und Wirklichkeit reiner vorbegrifflicher Erfahrung aufgestellt, die dann erst durch Unterscheidungen begrifflich verarbeitet wird. Das ist nicht der Fall, denn dieser primär genannte Erfahrungsraum ist durchzogen von Unterscheidungsgewohnheiten, die die Empfindungsmöglichkeiten selber wieder sehr stark prägen. Aber charakteristisch für diesen Raum ist doch ein hohes Maß an Flexibilität und Unbestimmtheit. 32 Hier anzusetzen, bedeutet vor allem dreierlei. Unterscheidungen werden gebildet aus einem Zusammenspiel von Unterscheidungsgewohnheiten und Qualitätsempfindungen und haben dieses gewissermaßen immer »im Rücken«. Zweitens sind Unterscheidungen immer einem Irritationspotenzial ausgesetzt, denn sie bewegen sich ständig im Interaktionsraum mit anderen Unterscheidungsgewohnheiten und Empfindungsqualitäten. Darin liegen die Konsequenzen von Unterscheidungen, die teilweise antizipierbar und teilweise nicht vorhersehbar sind. In den Konsequenzen von Unterscheidungen liegt ihre beständige Verwandlung. Daran zeigt sich drittens, dass Unterscheidungen zurückgenommen werden können und manchmal zurückgenommen werden müssen. Darin liegt ihre grundsätzliche Reversibilität. Damit ist nicht gemeint, dass bestimmte Konsequenzen einfach rückgängig im Sinne von ungeschehen gemacht werden können. Sondern damit ist gemeint, dass Unterscheidungen nicht feststehen und – einmal getroffen – Verbindlichkeit beanspruchen können. Wer behaupten würde, das man dies und jenes doch so und so unterscheiden müsse, dass man hinter diese und jene Unterscheidungsstandards doch nicht zurückfallen dürfe, der würde aus pragmatistischer Sicht nur betonen, dass er seine Unterscheidungsgewohnheiten für besonders wertvoll hält und dies dogmatisch behauptet mit dem Versuch, Vorschläge der Zurücknahme von Unterscheidungen anzugreifen. Dies wäre eine Umgangsweise mit Unterscheidungen, die in der Philosophie und Wissenschaft keine Seltenheit ist, die der pragmatistischen Maxime »Do not block the way
Hierin liegt die oben bemerkte gedankliche Nähe zwischen dem qualitativen Denken von Dewey und Deleuzes Denken von Disparitäten. Vgl. zum komplexen Verhältnis zwischen der Philosophie des Pragmatismus und der Philosophie von Deleuze: Sean Bowden/Simone Bignall/Paul Patton (Hg.), Deleuze and Pragmatism, New York/London 2015.
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of inquiry« 33 aber entgegensteht. Diese Maxime, sei es in diesem oder in einem anderen Wortlaut, formuliert gewissermaßen die Aufgabe, die Veränderungs- und Zurücknahmemöglichkeit von Unterscheidungen zu schützen. Aus all dem folgt, dass es für unseren Umgang mit Unterscheidungen zentral ist, die Rückwirkungen zwischen Unterscheidungen und nicht Unterschiedenem in die Aufmerksamkeit zu heben. Die Unbestimmtheit, die den nicht reflektierten Unterscheidungsgewohnheiten und den qualitativen Empfindungen zukommt, ist also durch das Treffen von Unterscheidungen nicht behoben, sondern es ist ein fortwährender Bestimmungsprozess nötig, durch den die unterschiedenen Seiten beständig anders werden. Dies ist im vierten Kapitel des ersten Teils anhand der handlungstheoretischen Unterscheidung zwischen Intention und Verwirklichung in vier Hinsichten konkret aufgewiesen worden. Dabei scheint mir ein Zusammenhang besonders wichtig zu sein. Eine Unterscheidung zu treffen, impliziert eine Beschränkung auf eine von verschiedenen Unterscheidungsmöglichkeiten. Diese Beschränkung setzt sich in jedem weiteren Bestimmungsschritt fort, wir haben das im ersten Teil ebenfalls ausführlich gesehen. Diese Beschränkung ist notwendig zur Gestaltung und dennoch bedeutet sie einen Ausschluss anderer Möglichkeiten, die naheliegen würden. Dies ist geradezu ein logischer Zusammenhang, der aber für Dialektiker alles andere als trivial ist und sich in alle Erfahrungszusammenhänge hinein fortsetzt. Hinter den ausgeschlossenen Möglichkeiten stehen andere Handlungsweisen, Empfindungsformen, Einsichten, aber auch die Verwirklichungsmöglichkeiten anderer Menschen mit anderen Unterscheidungsgewohnheiten und anderen Ausdrucksmöglichkeiten.
3.4.3 Rückwirkungen als spekulative Zurücknahme Mit der Selbstreflexivität des Unterscheidens ist die dritte Form der oben genannten begrifflichen Abhängigkeiten im Blick, nämlich die der Verdopplungen, die darin bestehen, dass ein umfassender Zusammenhang sich in sich differenziert. Um der Selbstreflexivität des Unterscheidens Rechnung zu tragen, ist es deshalb wichtig, die Perspektive des Hervorbringens von Unterscheidungen einzunehmen. Hegel 33
Vgl. Peirce, CP 1.135.
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Rückwirkungen erfahren
tut dies in der Phänomenologie des Geistes und in ganz anderer Weise sucht Dewey nach Möglichkeiten, Übergänge von Unbestimmtheit zu Bestimmtheit, von Nicht-Unterschiedenem zu Unterscheidungen zu erzeugen. Es liegt aber noch eine andere, ausgesprochen wichtige Dynamik in dieser begrifflichen Abhängigkeit, die darin liegt, sich als Moment eines umfassenderen Zusammenhangs zu verstehen. Es ist wichtig, das Reflexivpronomen »sich« nicht nur auf selbstbewusste Akteure zu beschränken, das wurde oben bei der Darstellung der Selbstreflexivität des Unterscheidens schon betont. Zudem ist es wichtig, dass mit dem Schritt, sich als Moment eines umfassenderen Zusammenhangs zu sehen, keine Auflösung der komplexen Figur gemeint ist und auch keine Schwächung der Eigenständigkeit und Widerständigkeit der von sich unterschiedenen anderen Seite (»etwas von sich unterscheiden«). Die Unterscheidung zwischen Tat und Handlung, die im Rahmen der dialektischen Handlungstheorie an mehreren Stellen vorkam und die ich wegen ihres Gewichts als zweite grundlegende handlungstheoretische Unterscheidung einschätze, realisiert genau diese Dimension der Selbstreflexivität des Unterscheidens. Mit der Unterscheidung zwischen Tat und Handlung ist nämlich zweierlei gefordert. Es ist genauso richtig und wichtig, dass Handelnde den Verantwortungsbereich für ihr Handeln beschränken und unvorhersehbare Konsequenzen (wie im Falle der Variation im ersten Teil die Reaktion von Herrn Bloß) ausschließen. Dies bedeutet, die Unterscheidung zwischen der eigenen Handlung auf der einen Seite und der Tat (mit den unvorhergesehenen Konsequenzen und den Anschlüssen anderer) auf der anderen Seite zu treffen. Diese Unterscheidung ist wieder zurückzunehmen und die Taten als Ausdruck eines übergreifenden Zusammenhangs zu verstehen, von dem die eigene Handlung ein zugehöriges Moment ist. Die selbstreflexive Dynamik der Unterscheidung zwischen Tat und Handlung macht es nötig, eine Unterscheidung zu treffen und diese zugleich in erweiterter Perspektive wieder zurückzunehmen. Für die Einsicht in die Zusammengehörigkeit des Treffens und Zurücknehmens von Unterscheidungen prägt Hegel den Ausdruck »spekulativ«. Verstehen wir den Terminus »spekulativ« zum Beispiel vor dem Hintergrund der Ausführungen in der Enzyklopädie 34 zur Dreiteilung der Formen des Logischen als verständig, dialektisch und
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Hegel, Enzyklopädie I, TWA 8, §§ 79–82.
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3 · Warum Unterscheidungsforschung systematisch ist
spekulativ, dann sind darin die verständige Trennung, die dialektische Auflösung der Trennung durch die Betonung der Beziehung und die Betonung der gegenseitigen Abhängigkeit von Gegensätzen integriert. Trennen und Beziehen scheinen sich zu widersprechen und die Bestimmungen, hier die Möglichkeit des Unterscheidens, scheinen sich aufzulösen. Dieser Schein der Auflösung durch die Unmöglichkeit, eine der beiden widersprechenden Seiten, entweder Trennung oder Beziehung, entweder Abhängigkeit oder Unabhängigkeit loszuwerden oder zu marginalisieren, wird in der Spekulation in einer zusammengehörigen Bewegung begriffen. Hegel spricht im Paragraphen 82 der Enzyklopädie von der konkreten Einheit, die Entgegengesetztes als »ideelle Momente« in sich enthält. Ein solcher spekulativer Inhalt kann deshalb auch nicht in einem einzigen Satz ausgesprochen werden, allerhöchstens in »paradoxen« Formulierungen, wie denen vom »Zugleich« von Entgegengesetztem, die zu einer Entfaltungsbewegung drängen, in der die einzelnen Momente und ihre Zusammengehörigkeit erfahren werden können. Aber auch die zweite Konsequenz, die Selbstreflexivität von Unterscheidungen, drängt dazu, die Perspektive des Unterscheidungsgebrauchs einzunehmen und in Erfahrungen zu durchlaufen. In der Konsequenz heißt dies, keine Entscheidung für eine bestimmte Unterscheidungsstruktur zu treffen. Gehirn und Geist z. B. spekulativ zu unterscheiden, heißt, nicht für eine dualistische oder monistische oder andere Version der Unterscheidung zu plädieren und zu argumentieren. Vielmehr gehört es zum spekulativen Unterscheiden, verschiedene Strukturen von Unterscheidungen zu durchlaufen. Dabei ist keine Abfolge festgelegt und auch die zu durchlaufenden Strukturen variieren je nach betrachteter Unterscheidung. Es müssen allerdings die beiden Bewegungen deutlich werden, nämlich die Bewegung der Verselbstständigung der beiden Seiten einander gegenüber und die Bewegung der gegenseitigen Durchdringung, die bis zur Auflösung der Unterscheidung führt. Das kritische Potenzial des spekulativen Unterscheidens liegt dabei darin, in Debatten, die in Positionalitäten verfestigt sind, die Perspektive der Vervielfältigung von Strukturen von Unterscheidungen einzubringen. Gegenüber all den Weisen des Unterscheidens, mithilfe von denen der Versuch gemacht wird, Unterschiede zu befestigen und an zwei substantielle Elemente oder sogar an zwei Welten zu verteilen, ist die Beziehung der beiden Seiten einzufordern. Gegenüber all den Weisen des Unterscheidens, durch die gewonnene Differenzierungen eingeebnet werden, ist die 532 https://doi.org/10.5771/9783495817360 .
Rückwirkungen erfahren
Trennung und Entgegensetzung der Seiten einzufordern. Spekulatives Unterscheiden hat mit den beiden Dynamiken und den sie entfaltenden, sie durchlaufenden Erfahrungen ein Korrektiv im Prozess.
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Schluss des zweiten Teils: Zum Sprachgebrauch
Eine der Schwierigkeiten bei dem Vorhaben, die doppelte Aufmerksamkeit auf Unterscheidungen und Unterscheidungsweisen zu beschreiben, zu analysieren und konstruktiv zu erweitern, besteht darin, einen angemessenen Sprachgebrauch zu entwickeln. Diese Frage wurde schon in der allgemeinen Einleitung zu Beginn der Arbeit bedacht, ich will sie abschließend wieder aufgreifen. Die vielfach betonte Uneinheitlichkeit des begrifflichen Feldes zum Unterscheiden hat zur Folge, dass ich mich keinem Vorschlag einfach anschließen kann. Dies ist auch deswegen nicht möglich, weil die vorliegenden Vorschläge zur begrifflichen Ordnung und Terminologie immer von sehr grundsätzlichen philosophischen Entscheidungen abhängen. Viele der herangezogenen Texte sind aber wichtige Bezugspunkte und Quellen für das hier verfolgte philosophische Vorhaben. In welcher Sprache sollen die Texte befragt, ausgewertet und einbezogen werden? Wenn durch die Textlektüren deutlicher werden soll, was die doppelte Aufmerksamkeit eigentlich ausmacht, wenn also mit den Textlektüren doppelte Aufmerksamkeit allererst geübt werden soll, können die Texte nicht einfach in eine elaborierte, scharf konturierte Terminologie der Unterscheidungsforschung übersetzt werden. Es muss also eine Sprache verwendet werden, die einen Abstand zu der in den Texten verwendeten Terminologie hält und die gleichzeitig offen dafür ist, die dort gewonnenen Einsichten ausdrücken und aufnehmen zu können. Ich habe deshalb einen Sprachgebrauch vorgeschlagen, der dieser nötigen Offenheit Rechnung trägt. Der unbestimmte Ausdruck »Unterscheidungsweisen« umfasst alles, was das »Wie« des Unterscheidens betrifft und legt auf keine Begrifflichkeit und keine Methode fest. Damit ist die Erweiterung der Aufmerksamkeit über die inhaltlichen Unterscheidungen hinaus sprachlich bezeichnet und es kann die Vielfalt der Redeweisen in der Alltagssprache sowie in verschiedenen philosophischen Texten betrachtet werden. Von der Erweiterung der »Aufmerksamkeit« und »doppelter Aufmerksamkeit« spre534 https://doi.org/10.5771/9783495817360 .
Schluss des zweiten Teils: Zum Sprachgebrauch
che ich aus folgendem Grund. Aufmerksamkeit wird in der Regel auf das gerichtet, was auffällig wird und oft ist zunächst noch gar nicht klar, was eigentlich auffällig geworden ist und werden kann. In solchen Fällen muss erst nach und nach deutlicher werden, worauf man eigentlich achtgeben soll und dies entfaltet sich erst, indem man es erkundet. Ich habe deshalb ganz zu Beginn in der allgemeinen Einleitung mit drei Skizzen angefangen, in denen die Weisen des Unterscheidens auffällig geworden sind. Und der ganze Gang der Untersuchung war eine Erkundung dessen, was eigentlich auffällig geworden ist und wie man darauf achtgeben kann. Nach dieser Erkundung kann sich die doppelte Aufmerksamkeit in einer erhöhten Bereitschaft zeigen, bei Schwierigkeiten und Irritationen den Blick auf die Unterscheidungsweisen miteinzubeziehen. Die philosophische Arbeit mit doppelter Aufmerksamkeit bleibt eine Erforschung von Unterscheidungen und Unterscheidungsweisen, die dem nachgeht, was auffällig geworden ist und in der keine Unterscheidungstheorie angewendet wird. Die Spezifizierungen der Unterscheidungsweisen sind zwischen drei Bezugspunkten entstanden. Der erste Bezugspunkt sind philosophische Texte, die das Unterscheiden in allgemeiner Hinsicht expliziter als andere reflektieren. Der zweite Bezugspunkt sind alltägliche Erfahrungen und Sprechweisen, die mit den gewählten inhaltlichen Unterscheidungen (hier der zwischen Wunsch und Wille sowie der zwischen Entwurf und Gestaltung im Handeln) zusammenhängen. Und der dritte Bezugspunkt sind philosophische Texte über die gewählten inhaltlichen Unterscheidungen. Es müssen deshalb sprachliche Bezeichnungen gefunden werden, durch die die spezifische Lenkung der Aufmerksamkeit deutlich wird und die offen genug sind, um auf die drei Bezugspunkte angewendet werden zu können. Der Ausdruck »Praktiken des Unterscheidens« steht für die spezifische Lenkung der Aufmerksamkeit auf die Verfahren und Regeln, wie Unterscheidungen gebildet und gebraucht werden. Der Ausdruck kann die Problematisierung pointieren, die Platon im Sophistes vorgeführt hat. Er kann aber über den Kontext der platonischen Philosophie hinaus auch etwas über Verfahren deutlich machen, die in philosophischen Texten für die Arbeit an anderen Unterscheidungen verwendet werden (zum Beispiel bei Sigwart, Kant und Wittgenstein in Bezug auf die Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille). Der Ausdruck ist zudem geeignet, zu zeigen, dass diese Verfahrensweisen weite Verbreitung in unserem alltäglichen Unterscheidungsgebrauch haben. 535 https://doi.org/10.5771/9783495817360 .
Schluss des zweiten Teils: Zum Sprachgebrauch
Sie können in konkreten Situationen zum Beispiel auch auf ihre Wirkungen in Interaktionen hin betrachtet werden. Wird eine Unterscheidung wie die zwischen Wunsch und Wille gemäß der Praktik des Bestimmens verwendet, dann ist die Wirkung eine diagnostische. Wird die Unterscheidung gemäß der Praktik des Differenzierens verwendet, ist die Wirkung eine reflexive. Die Wendung »Strukturen von Unterscheidungen« habe ich gewählt, um den Akzent auf den Aufbau und die Konstellierung des Relationsgefüges zu legen, welches Unterscheidungen darstellen. Es werden Unterscheidungen gewissermaßen im Querschnitt betrachtet, während sie bei den Praktiken des Unterscheidens im Längsschnitt genommen werden, um eine Metapher von Dewey aufzunehmen. 1 Dieser Sprachgebrauch ist ungewöhnlich und irritierend und schließt weniger gut an den alltäglichen Sprachgebrauch an. Den Anknüpfungspunkt an den alltäglichen Sprachgebrauch bilden die Qualifizierungen von Unterscheidungen, die natürlich nicht nur in philosophischen Texten vorkommen, sondern die weit verbreitet und üblich sind und immer dann verwendet werden, wenn es wichtig ist, auf eine Besonderheit in der Konstellierung des Relationsgefüges hinzuweisen. Den Ausdruck »Strukturen« habe ich von einem Interpreten Spencer Browns aufgenommen. 2 Ich habe länger nach einem Ausdruck gesucht, durch den diese analysierende Perspektive auf den Aufbau von Unterscheidungen möglicherweise augenfälliger wird, zum Beispiel »Ordnungen des Unterscheidens« oder »Arten des Unterscheidens«. Aber »Ordnungen des Unterscheidens« scheint mir zu stark und »Arten des Unterscheidens« zu schwach zu sein. Die Frage nach den verwendeten Strukturen von Unterscheidungen, oder komplizierter, nach Konstellierungen des Relationsgefüges von Unterscheidungen, kann für philosophische Überlegungen zu inhaltlichen Unterscheidungen an vielen Stellen wichtig werden. Manchmal macht die Veränderung eines Strukturmerkmals einen großen Unterschied. Es ist eine lohnende Aufgabe, Konsequenzen solcher Änderungen an möglichen Situationen aufzuzeigen. Die Ausdrücke »Verschiedenheits-«, »Differenz-« und »Gegensatzerfahrungen« sowie »Rückwirkungen« haben die Funktion, die Dewey untersucht Erfahrungen mittels eines principle of continuity im Längsschnitt und mittels eines principle of interaction im Querschnitt, vgl. Dewey, Experience and Education (1938), in: Dewey, Experience, LW.13.18. 2 Vgl. dazu Teil II, Kapitel 2.2.3. 1
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Schluss des zweiten Teils: Zum Sprachgebrauch
Dynamik des Unterscheidungsgebrauchs reflektieren zu können, die sich dann zeigt, wenn die Aufmerksamkeit auf den Gebrauch, also die Pragmatik von Unterscheidungen gerichtet wird. Diese Begrifflichkeit ist aus der Beschäftigung damit entstanden, wie Hegel und Dewey Erfahrungen philosophisch erschließen. Bei diesen Vorschlägen zum Sprachgebrauch sind die Wechselbezüge zwischen den drei Bezugspunkten besonders eng. Die allgemeinen Ausführungen zu Unterscheidungen und zur Thematik des Handelns hängen bei den gewählten Autoren zusammen. Die Reichweite dieser Perspektive auf Unterscheidungen wie auf die Thematik des Handelns erschließt sich erst, wenn sie an möglichen lebensweltlichen Situationen entfaltet wird. All dies stellt keine starre Terminologie vor. Das wäre bei einem so viel verwendeten Begriffsfeld wie dem des Unterscheidens auch unpraktikabel. Das Wort »Differenz« zum Beispiel ist selbst in dieser Untersuchung in mindestens zwei Bedeutungen verwendet worden. Zum einen sind damit Erfahrungen eines nicht erfüllten Anspruchs gemeint, wie zum Beispiel in der Differenzerfahrung zwischen Wunsch und Wille. Zum anderen wird mit der Bedeutung gearbeitet, die Deleuze Differenzen als Grenzwerte von Unterschieden und Unterscheidungen gibt. In solchen Mehrdeutigkeiten sehe ich kein philosophisches Problem. Das Desiderat scheint mir darin zu liegen, Mehrdeutigkeiten wie diese thematisieren zu können. Die hier vorgelegte Studie zur Praxis des Unterscheidens stellt den Versuch dar, Möglichkeiten der Thematisierung vorzuschlagen. Damit eröffnet sich ein Feld zukünftiger Forschungen.
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Ausblick: Ethik des Unterscheidens
Die Frage nach einer Ethik des Unterscheidens bedeutet nicht, bestimmte Weisen des Unterscheidens abstrakt als ethisch gehaltvoller als andere zu qualifizieren. Das kann unabhängig von der Verwendungssituation nicht entschieden werden. In der Formulierung »Ethik des Unterscheidens« bündeln sich verschiedene Fragen: Ist es ethisch bedeutsam, welche Unterscheidungsweisen für welche Inhalte verwendet werden? Haben ethische Unterscheidungen einen besonderen Charakter? Bedarf die Unterscheidungsforschung selber noch einmal einer ethischen Kritik? Ich will diese drei Fragen zum Abschluss bedenken und will mir vor allem für die dritte Frage Reflexionshilfe von einem der »Differenztheoretiker des 20. Jahrhunderts«, nämlich Jean-François Lyotard, holen. Dass es ethisch bedeutsam ist, welche Unterscheidungsweisen für welche Inhalte verwendet werden, hat Platon im Sophistes gezeigt. Platons Votum scheint mir zu sein, dass für Unterscheidungen, die eine existentielle Dringlichkeit haben, die aber schwer zu treffen sind, zunächst die Praktik des reflexiven Differenzierens zu verwenden ist. Die Praktik des Einteilens wäre deshalb problematisch, weil diese eine Kenntnis des Problemfeldes voraussetzt. Und die Praktik des Kontrastierens wäre problematisch, weil Gegenüberstellungen zu grob verfahren. Aus den Überlegungen im Sophistes lässt sich sogar der ethische Appell gewinnen, keine Praktik des Unterscheidens zur allgemeinen Verfahrensweise zu erklären, mit der alle Inhalte ohne weitere Kenntnis möglicher Besonderheiten bearbeitet werden können. Genau das macht nach Platon die Sophistik aus, die Scheinwissen und das berauschende Gefühl der Überlegenheit produziert. Darin liegt eine beständige Versuchung für die Philosophie und insofern geht es mit der Unterscheidung zwischen Sophist und Philosoph um die ethische Selbstkritik der Philosophie selbst. In einem bestimmten Sinne haben ethische Unterscheidungen keinen besonderen Charakter. Ethische Unterscheidungen werden, wie andere Unterscheidungen auch, aus bestimmten Gründen getrof538 https://doi.org/10.5771/9783495817360 .
Ausblick: Ethik des Unterscheidens
fen. Sie beziehen sich nicht auf einen an der Wirklichkeit ablesbaren Unterschied. Es gibt Anlässe, bei denen es nötig wird, zwischen ethischen Fragen und Faktenfragen zu unterscheiden, die selber wieder einer kritischen Bewertung unterzogen werden können. Was gilt wem wann und warum als Faktum, was als ethischer Wert? Und welche Praktiken werden verwendet, um ethische Unterscheidungen zu entwickeln, welche Strukturen in Anspruch genommen? Die Fragen und Verfahren der Unterscheidungsforschung können auf ethische Unterscheidungen angewandt werden wie auf alle anderen Unterscheidungen auch. In einem anderen Sinne aber haben ethische Unterscheidungen doch einen besonderen Charakter. Sie sind nämlich nicht bereichsspezifisch, sondern können überall auftauchen und wichtig werden. Dies zeigte sich zum Beispiel im ersten Teil bei den handlungstheoretischen Überlegungen. Mit welchen Unterscheidungen und Unterscheidungsweisen menschliches Handeln reflektiert wird, ist zunächst eine Frage, die nichts mit ethischen Überlegungen zu tun hat. In der Arbeit an den Situationen und vor allem an der Einführung der Unterscheidung zwischen Tat und Handlung wurden die ethischen Implikationen der Unterscheidungen deutlich, mit denen wir über Handeln nachdenken. Mit der Unterscheidung zwischen Tat und Handlung ist die Aufforderung zu einem Überstieg über die eigene Perspektive verbunden. Denn die Unterscheidung zwischen Tat und Handlung macht eine gegenläufige Bewegung nötig. Die Grenze, die zuerst zwischen dem eigenen Verantwortungsbereich (Handlung) und dem, was außerhalb des direkt Zurechenbaren (Tat) fällt, gezogen werden soll, ist in einer zweiten Perspektive wieder aufzuheben. Dies bedeutet, dass die notwendige Begrenzung des eigenen Verantwortungsbereichs mit dem Anspruch an die Erweiterung der eigenen Verantwortung konfrontiert wird, nämlich Verantwortung für die Rahmensetzungen der individuellen Handlungen in den jeweiligen Institutionen, in denen wir leben, zu übernehmen, wie auch für die allgemeineren gesellschaftlichen Bedingungen und die Besonderheiten der eigenen Kultur. Das legt zumindest die Hypothese nahe, dass nicht nur handlungstheoretische Unterscheidungen ethisch bedeutsam sind, sondern auch andere, vielleicht alle unsere Unterscheidungen. Bedarf die Unterscheidungsforschung selber noch einmal einer ethischen Kritik? Platon hat im Sophistes auch gezeigt, dass Praktiken des Unterscheidens miteinander konkurrieren und sich gegenseitig ver539 https://doi.org/10.5771/9783495817360 .
Ausblick: Ethik des Unterscheidens
drängen. Das scheint mir ein ethisch hoch bedeutsamer Punkt zu sein, der nicht genug bedacht wurde. Und genau um das Gewicht dieser Problematik einzufordern, bedarf die Unterscheidungsforschung ethischer Kritik. Ich will dafür eine letzte Stimme einbeziehen, die durch eine große Eindringlichkeit gekennzeichnet ist, die den bisher vorgestellten Mitteln und Perspektiven nicht zukommt. Der wichtige Beitrag von Lyotard zur ethischen Kritik am Unterscheidungsgebrauch soll von einem Problem her eingeführt werden, das im Laufe der Untersuchung aufgetaucht ist. Einer der Vorschläge, unseren Unterscheidungsgebrauch zu analysieren, bestand darin, vier Praktiken des Unterscheidens zu differenzieren. Diese Praktiken des Unterscheidens liegen nicht vor als frei wählbare Möglichkeiten, die je nach Gegenstand und Erkenntnisinteresse herangezogen werden können, sondern sie bilden als Praktiken Gewohnheiten, die in einem bestimmten Gebiet oder einem Schulzusammenhang üblich sind und in einem anderen weniger. Ich habe eingangs erwähnt, dass die Praktik des Einteilens nach meiner Einschätzung heute eine ziemliche Prädominanz entfaltet hat. Liest man nun zum Beispiel Abhandlungen, in denen ein Denker, der sich bemüht hat, die Praktik des Differenzierens zu entwickeln, mit Hilfe der Praktik des Einteilens behandelt wird, dann steigt Unbehagen auf. Irgendetwas stimmt hier nicht. Dieser Eindruck tauchte im ersten Teil an der Stelle auf, an der Seebaß’ Modellbildungen des Wollens behandelt worden sind. 1 Seebaß erklärt Wittgensteins Nachdenken über den Willen und die Handlung zum Prototyp für ein bestimmtes Modell (Modell 1a), dem er andere Modelle (2a und 2b) gegenüberstellt. Die Arbeit mit solchen Modellbildungen scheint mir da an eine Grenze zu kommen, wo das Anliegen der jeweiligen Autoren gar nicht darin besteht, eine Position zu vertreten und für diese zu argumentieren, sondern unseren Grenzziehungsgewohnheiten selbst auf die Spur zu kommen und diese mit dem dadurch ausgeblendeten Erfahrungsspektrum zu konfrontieren. Ich glaube, dass Wittgenstein dieses philosophische Anliegen hatte und dass es deshalb an seinen Pointen vorbeigeht, seinen Ansatz einem Modell zuzuordnen. Lyotards Werk Der Widerstreit (Le Différend) gibt die Möglichkeit, diese Arten von Unbehagen zu artikulieren. Ich will einige Züge des Widerstreits herausstellen, die zur Artikulation beitragen können. Die Praktik des Einteilens und die Praktik des Differenzierens 1
Vgl. Teil I, Einleitung zum zweiten Kapitel, Abschnitt a).
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Ausblick: Ethik des Unterscheidens
folgen völlig verschiedenen Regeln und die Anwendung der einen auf die andere setzt die jeweils andere notwendigerweise außer Kraft. Stehen die beiden in einem Konflikt, dann gibt es keine übergeordnete Regel, mit der man die Berechtigung der einen Praktik gegenüber der anderen entscheiden kann. Es kann sicher in vielen Fällen plausibel gemacht werden, warum für einen bestimmten Gegenstandsbereich oder für ein bestimmtes Erkenntnisinteresse die Praktik des Einteilens und für einen anderen die Praktik des Differenzierens angemessen ist. Die Praktiken wurden über die Skizze eines je verschiedenen Erkenntnisinteresses eingeführt. Bei der Praktik des Einteilens geht es um die Suche nach einer Übersicht oder das Interesse an der richtigen Zuordnung von etwas. Und die Praktik des Differenzierens wird verwendet, um eine vermeintliche Einheitlichkeit, eine zu pauschale Verallgemeinerung aufzulösen und die Mannigfaltigkeit eines Themas hervorzukehren. Nun gibt es aber eine ganze Menge von Konfliktfällen, in denen die Interessen aufeinanderstoßen. Ein Konfliktfall scheint zunächst im Sophistes vorzuliegen. Welche Praktik ist angemessen, um zu bestimmen, was den Sophisten vom Philosophen unterscheidet? Ein anderer Konfliktfall ist in dem Kapitel über die kantische Entwicklung der Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille angedeutet. Ist die Unterscheidung Teil einer Einteilung oder geht es um eine Differenzierung? Es fehlt eine Urteilsregel (règle de jugement), 2 um die Frage zu entscheiden und die eine oder andere Antwort zu rechtfertigen oder zu widerlegen. Lyotard betont aber auch den impliziten Konflikt, der besteht, wenn in der Sprache heterogene Regelsysteme von Sätzen (régimes de phrases) oder Diskursarten (genre de discours) Verwendung finden. Regelsysteme haben den Charakter von (Spiel-)Regeln. Beispiele für einzelne Regelsysteme sind Argumentieren, Beschreiben, Erzählen, die jeweils sehr verschiedenen Regeln folgen, ähnlich wie Tennis oder Schach. Diskursarten sind demgegenüber eher als Absichten oder Strategien zu verstehen, die im Spiel zum Einsatz kommen. Beispiele sind Wissen, Rechthaben, Bewerten. 3 2 Vgl. diese Formulierung schon im »Merkzettel (Fiche de lecture)«, einer Art Vorwort, Jean-François Lyotard, Der Widerstreit, 2. korr. Aufl., München 1989, S. 9 (Übersetzung Joseph Vogl) und im französischen Original: ders., Le Différend, Paris 1983, S. 9. Im Folgenden führe ich die Paragraphen an, die im französischen und deutschen Text gleichermaßen zu finden sind. 3 Ebd., Merkzettel/These bzw. Fiche de lecture/Thèse und § 185.
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Ausblick: Ethik des Unterscheidens
Eines von Lyotards Beispielen für einen Widerstreit zwischen Regelsystemen und Diskursarten lässt sich mit Hilfe der Praktiken des Unterscheidens reformulieren: »Eine auf Stalin gewendete Definition tut notwendigerweise den nicht-definitorischen Sätzen bezüglich Stalin unrecht, die von dieser Definition zumindest einmal übersehen oder verraten werden.« 4 Definieren ist eine sprachliche Praktik, die einem gewissen Regelsystem untersteht, anders als Erzählen zum Beispiel. Wird nun allein im Modus des Regelsystems Definieren über einen Gegenstand, wie Stalin, gesprochen, dann zeigen sich andere Formen des Sprechens nur »durch ein Schweigen« (se signale par un silence) 5 an. Diese Nicht-Aktualisierung anderer Regelsysteme scheint zunächst eine logische Notwendigkeit zu sein. Wenn definiert wird, dann werden dadurch (gewissermaßen dem Satz des Widerspruchs folgend) andere Modi von Sätzen ausgeschlossen, wie Erzählen, Assoziieren, Befehlen. Aber genau diesen Sachverhalt qualifiziert Lyotard mit ethischem Vokabular. Durch das Definieren wird dem Erzählen, Assoziieren, Befehlen und vielen anderen Modi von Sätzen Unrecht (tort) getan, indem sie übersehen und sogar verraten werden. Das ist eine ausgesprochen weitgehende Sicht der Dinge, die die logische Notwendigkeit, durch die Aktualisierung von Möglichkeiten andere auszuschließen, prinzipiell zu einem ethischen Problem zu machen scheint. Sprache und Ethik bilden einen unlöslichen Zusammenhang. Für die Dimension von Habitualisierungen erscheint mir dies ausgesprochen plausibel. Wenn jemand in bestimmte Regelzusammenhänge eingeführt wird und sich diese zur Gewohnheit macht, dann wird der Blick auf die Welt so geprägt, dass bestimmte Erfahrungsmöglichkeiten nicht mehr zur Verfügung stehen. Darin liegt in jedem Fall eine erhebliche Verantwortung, in gewisser Weise sogar ein Unrecht oder zumindest immer ein potenzielles Unrecht. Konflikte um Ausdrucksmöglichkeiten scheinen zur Sprache und zu jedem Satz zu gehören, selbst wenn die möglichen Konfliktpartner gar nicht bekannt sind. Unrecht geschieht da, wo ein Konflikt zwischen zwei von verschiedenen inkompatiblen Regeln geleiteten Praktiken nur nach den Regeln der einen Praktik ausgetragen wird. Damit werden den Regeln Ebd., § 92. Im französischen Original lautet die Passage: »L’affectation d’une définition à Staline fait nécessairement tort aux phrases non définitionnelles relatives à Staline, que cette définition, pour un temps au moins, ignore ou trahit.« 5 Ebd., § 93. 4
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Ausblick: Ethik des Unterscheidens
der anderen Praktik Sinn und Berechtigung abgesprochen, es sei denn, sie könnte ihre Legitimität unter Verwendung der Regeln des Konfliktpartners rechtfertigen. Da die Regeln der Praktiken (als Regelsysteme) ineinander unübersetzbar sind, würde genau dies zur Auflösung, zur Überschreibung der einen durch die andere führen. Und Unrecht geschieht da, wo durch eine Praktik einer anderen Praktik die Möglichkeit des Ausdrucks genommen wird und dieser nur das Schweigen bleibt.
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Literaturverzeichnis
I
Primärliteratur
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Es wird wie üblich auf die Seiten- und Zeilenangaben der Bekker-Ausgabe verwiesen. Der Bekker-Zahl werden Sigle, eine römische und eine arabische Ziffer vorangestellt, die das jeweilige Buch und das Kapitel angeben. An. pr. NE
Met.
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John Dewey wird nach der von Jo Ann Boydston herausgegebenen Ausgabe The Collected Works of John Dewey, 1882–1953, Carbondale and Edwardsville 1969–1991 zitiert, die in drei Serien erschienen ist: The Early Works, 1882– 1989, 5 Bde. (EW); The Middle Works, 1899–1924, 15 Bde. (MW); The Later Works, 1925–1953, 17 Bde. (LW). Angegeben werden Titel oder Kurztitel, Serie, Band und Seite. Study of Ethics
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Hegels Werke werden nach den Gesammelten Werken, herausgegeben von der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften, Hamburg 1968 ff., zitiert. Angegeben werden Kurztitel oder Sigle, Band der Gesammelten Werke (GW), Seite. Bei Textstellen aus der Rechtsphilosophie werden außerdem die entsprechenden Paragraphen angegeben. Die Enzyklopädie und die Ästhetik werden nach der Theorie-Werkausgabe (TWA), hrsg. v. K.-M. Michel/E. Moldenhauer, Frankfurt a. M. 1986 ff., zitiert. Ein Z hinter der Nummer des Paragraphen verweist auf die mündlichen Zusätze. PhG
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Kant wird nach der Ausgabe der Preußischen Akademie der Wissenschaften (Akademie-Ausgabe) zitiert. Angegeben werden Kurztitel oder Sigle, Band der Akademie-Ausgabe (AA), Seite. Bei der Kritik der reinen Vernunft werden die Seitenzahlen der ersten (A: 1781) und der zweiten Auflage (B: 1787) nach der Edition des Textes von Jens Timmermann in der Phil. Bibliothek Meiner Verlag (Hamburg) 1998 angegeben. Der Autograph »HAGEN 21« wird nach der Edition des Textes von Werner Stark, die der Ausgabe der Rechtslehre in der Phil. Bibliothek Meiner Verlag (Hamburg) 1998, hrsg. v. Bernd Ludwig beigegeben ist, zitiert. Negative Größen
Versuch, den Begriff der negativen Größen in die Weltweisheit einzuführen (1763) [AA 2] KrV Kritik der reinen Vernunft [zitiert nach der ersten und der zweiten Auflage] GMS Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785) [AA 4] Mutmaßlicher Anfang Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte (1786) [AA 8] KpV Kritik der praktischen Vernunft (1788) [AA 5] KU Kritik der Urteilskraft (1790) [AA 5] Religion Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793) [AA 6] MS RL Die Metaphysik der Sitten. Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre (1797) [AA 6] MS TL Die Metaphysik der Sitten. Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre (1797) [AA 6] Anthropologie Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798) [AA 7] Anhang Anhang erläuternder Bemerkungen zu den metaphysischen Anfangsgründen der Rechtslehre (1798) [AA 6] HAGEN 21 hrsg. v. Werner Stark, in: Bernd Ludwig (Hg.), Immanuel Kant. Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, 2. Aufl., Hamburg 1998, XLII–XLVI
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Wittgenstein wird nach der Werkausgabe (WA) im Suhrkamp-Verlag, 8 Bde., Frankfurt a. M. 1984 oder nach der jeweils angegebenen Ausgabe von Vorlesungen zitiert. Tagebücher TLP Braunes Buch
Gelbes Buch PU
II
Tagebücher 1914–1916, in: Werkausgabe, Frankfurt a. M. 1984, Bd. 1, S. 87–187 Tractatus logico-philosophicus (1921), in: Werkausgabe, Frankfurt a. M. 1984, Bd. 1, S. 7–85 Eine philosophische Betrachtung (Das Braune Buch) (1934/35), in: Werkausgabe, Frankfurt a. M. 1984, Bd. 5, S. 117–282 Das Gelbe Buch. 1933/34, in: Wittgenstein: Vorlesungen 1930–1935, Frankfurt a. M. 1989, S. 199–241 Philosophische Untersuchungen (1953), Werkausgabe, Frankfurt a. M. 1984, Bd. 1, S. 225–580
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