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German Pages 402 Year 2015
Thomas Kirchhoff (Hg.) Konkurrenz
Edition Kulturwissenschaft | Band 35
Thomas Kirchhoff (Hg.)
Konkurrenz Historische, strukturelle und normative Perspektiven
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2015 transcript Verlag, Bielefeld
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Inhalt
Einleitung: Konkurrenz als Epochenparadigma
THOMAS KIRCHHOFF | 7 Vom Recht zur Ökonomie ›Konkurrenz‹ im römischen Recht, in der Schule von Salamanca und bei den französischen Physiokraten
HANS-MICHAEL EMPELL | 37 Konkurrenz – wie viel darf’s denn sein? Zum theoretischen Fundament und der Frage nach dem richtigen Maß in Ökonomie und Politik
HANS DIEFENBACHER, DOROTHEE RODENHÄUSER | 63 Kapitalismus und Staatenkonkurrenz
TOBIAS TEN BRINK | 93 Die Rote Königin jagt den Hofnarren Konkurrenz auf der Bühne der Ökologie und im Spiel der Evolution
GEORG TOEPFER | 117 Konkurrenz in der Natur Interspezifische Konkurrenz als Organisations- und Entwicklungsprinzip von Ökosystemen?
THOMAS KIRCHHOFF | 139 Konkurrenz als Beharrungsprinzip Soziologische Theorie im Anschluss an Lewis Carroll
TILMAN REITZ | 165
Konkurrenz und Solidarität Alternative oder verwobene Formen sozialer Interaktion?
MARKUS VOGT | 191 Konkurrenz – Ordnungsprinzip zwischen Integration und Desintegration
PETER IMBUSCH | 215 Individualisierung durch Konkurrenz Grundlagen und Entwicklungsdynamik antagonistischer Kooperation
MAGNUS SCHLETTE | 241 Konkurrenz der Religionen?
ROLF SCHIEDER | 265 Konkurrenz und Kompetenz
REINHARD SCHULZ | 289 Konkurrenz im Gesundheitssystem
A. KATARINA WEILERT, JULIA PFITZNER | 313 Die Inszenierung von Alternativen Zur Konkurrenz bio- und alternativmedizinischer Heilverfahren im Gesundheitswesen
THORSTEN MOOS | 341 Von Deutungsmacht und Bücherschlacht Vermerke zu literarischen Konkurrenzen
JÖRG THOMAS RICHTER | 371 Autorinnen und Autoren | 395
Einleitung: Konkurrenz als Epochenparadigma T HOMAS K IRCHHOFF
KONKURRENZ ALS UBIQUITÄRES O RGANISATIONSPRINZIP 1 Charakterisierungen moderner Gesellschaften fallen durchaus unterschiedlich aus. Weitgehend einig ist man sich jedoch, dass Konkurrenz in modernen Gesellschaften einen grundlegenden, wenn nicht sogar dominanten Modus gesellschaftlicher Interaktion darstellt. Seitdem das Leistungsprinzip gegen das Prinzip autoritativer Zuschreibung forciert worden ist, um eine liberalistisch-bürgerliche Gesellschaft anstelle einer auf Privilegien beruhenden feudalen Gesellschaft zu realisieren, hat Konkurrenz bzw. das Konkurrenzprinzip in modernen2 Gesellschaften immer weitere, seit einigen Jahrzehnten beinahe ubiquitäre Verbreitung gefunden.3 Man kann moderne Gesellschaften mittlerweile als Konkurrenzgesellschaften4 bzw.
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Mein besonderer Dank gilt den Autorinnen und Autoren dieses Bandes. Ihre Aufsätze bilden auch eine wesentliche Grundlage für diese Einleitung. Meinen Kolleginnen und Kollegen an der FEST e.V., Institut für interdisziplinäre Forschung, Heidelberg, danke ich für die zahlreichen Diskussionen zur Konkurrenzthematik. Für konkrete Verbesserungsvorschläge zum Manuskript dieser Einleitung danke ich Gisela Kirchhoff und Magnus Schlette. Der FEST e.V. gilt mein Dank für die Finanzierung dieser Publikation.
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Mit modernen Gesellschaften meine ich hier alle nach-traditionellen, durch die Aufklärung geprägten Gesellschaften, ohne zwischen modernen, spätmodernen, postmodernen usw. Gesellschaften zu differenzieren.
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Siehe z.B. Polanyi 1944; Sonntag 1999; Veith 2001; Rosa 2006; 2012: Kapitel 8. Siehe Diefenbacher/Rodenhäuser in diesem Band.
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Schon Horkheimer/Adorno (1947/1993: 164) beklagen »die Härte der Konkurrenzgesellschaft«.
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als Wettbewerbsgesellschaften bezeichnen, weil in ihnen fast alle zentralen gesellschaftlichen Funktionssphären und Institutionen bzw. Handlungsbereiche – Politik, Wirtschaft, Recht, Wissenschaft, Kunst, Massenmedien, Erziehung, Bildung, Gesundheitswesen, Religion, Sport, Familie, Intimbeziehungen usw. – mehr oder weniger wettbewerbsförmig organisiert sind, während die zuvor dort gültigen Prinzipien sukzessive erodieren, und weil Konkurrenz- bzw. Wettbewerbsfähigkeit zu einem zentralen, oft zum dominanten Handlungsziel individueller wie kollektiver Akteure geworden ist.5 Und moderne Gesellschaften sind nicht nur faktisch Konkurrenzgesellschaften, sondern sie sind es auch in normativem Sinn: Konkurrenz wird weithin als gesellschaftliches Organisationsprinzip und als Basis sozialer Ungleichheit und Hierarchie akzeptiert, ja affirmiert,6 und im neoliberalen Mainstream sogar als uneingeschränkt notwendig angesehen. Mit dieser Charakterisierung moderner Gesellschaften soll nicht gesagt sein, es habe in traditionalen, vormodernen Gesellschaften keine Konkurrenz gegeben.7 Gemeint ist vielmehr, dass Konkurrenz in modernen Gesellschaften – und erst in diesen – zu einem tendenziell ubiquitären Interaktions-, Koordinations- und Allokationsmodus geworden ist, dessen Resultate maßgeblich sind für die (Legitimierung der) Verteilung von Ressourcen, Gütern, Positionen, Macht etc.8 In Konkurrenzgesellschaften kann man nicht nur im genuin ökonomischen Feld, sondern in praktisch allen gesellschaftlichen Feldern eine »Verwettbewerblichung«9 beobachten, die – mit Blick darauf, dass die Ökonomie das klassische Wettbewerbsfeld moderner Gesellschaften ist – auch als »Ökonomisierung«10
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Vgl. Simmel 1903/1995: insb. 221 f.; Mannheim 1929: insb. 38, 43; Rosa 2006: 82–85; 2012: 324–326; Duret 2009: insb. 7–10; Jessen 2014a: 7. Ein Blick auf die Geschichte des Kapitalismus (Kocka 2014) zeigt, dass das Konkurrenzprinzip historisch zumeist im Bereich der Wirtschaft als das zentrale Prinzip angesehen wurde, andere Gesellschaftsbereiche aber bis vor relativ kurzer Zeit nach anderen Prinzipien organisiert waren. Siehe insb. Diefenbacher/Rodenhäuser, Empell, Schieder, Schlette und Schulz in diesem Band.
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Duret 2009: Introduction.
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Siehe hierzu die Studien in Jessen 2014b, die belegen: »In allen historischen Gesellschaften hat es kompetitives Handeln gegeben, das sich in spezifischen Konstellationen von Werthaltungen und Regeln, Praktiken und Verhaltenserwartungen abspielte.« (Jessen 2014a: 18) Siehe insb. Imbusch und Reitz in diesem Band.
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Rosa 2012: 328 f. Entsprechendes gilt für das Leistungsprinzip (Hartfiel 1977b: 11–17).
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So z.B. Wetzel 2013b: 66.
10 Siehe z.B. Harms/Reichard (2003: 13), die »Ökonomisierung« definieren als zunehmende Orientierung der Werthaltung von Akteuren an ökonomischer Rationalität.
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bezeichnet wird. Die Rede von einer »Marktgesellschaft« hebt hervor, dass die Umsetzung des Leistungs- und Konkurrenzprinzips durch die Institution des Marktes erfolgt.11 Die Rede von »Wettbewerbskulturen«12 zeigt an, dass Wettbewerb zu einem alltäglichen, von den Subjekten verinnerlichten kollektiven Handlungsmodus geworden ist, der in den unterschiedlichen gesellschaftlichen Funktionssphären bzw. Institutionen – darum der Plural »Kulturen« – auf ganz unterschiedliche Weise organisiert ist13 und nicht, wie die Rede von einer Ökonomisierung es nahelegt, nur in Kategorien von ökonomischem Wettbewerb gedeutet werden darf.14 Im Zuge wirtschaftlicher Globalisierung ist das Konkurrenzprinzip auch in den Beziehungen zwischen Gesellschaften bzw. Staaten immer einflussreicher geworden:15 Die Förderung der Wettbewerbsfähigkeit gilt vielfach als die vordringliche Aufgabe staatlichen Handelns und drängt klassische national- und sozialstaatliche Ziele in den Hintergrund. Dabei ging es zunächst vor allem um die internationale Wettbewerbsfähigkeit der Firmen des eigenen Landes, seit den 1990er Jahren geht es immer mehr um die Steigerung der Konkurrenzfähigkeit des Staates selbst als Standort für transnational agierende Unternehmen (Staatenkonkurrenz): »As the world economy is characterized by increasing interpenetration and the crystallization of transnational markets and structures, the state itself is having to act more and more like a market player, that shapes its policies to promote, control, and maximize returns from market forces in an international setting.«16 Konkret bedeutet das zumeist: Der competition state17 treibt, in neoliberalistischer Manier, die Einführung wettbewerblicher Verfahren in möglichst allen Gesellschaftsbereichen voran und beseitigt wohlfahrtsstaatliche Dekom-
11 Siehe z.B. Neckel 2001; Rosa 2006: 83. In geschichtlicher Perspektive zum Markt siehe jüngst Herzog/Honneth 2014. Siehe Reitz in diesem Band. 12 Nullmeier 2000: 215, 236; 2002: Titel; Tauschek 2013a; Wetzel 2013a: insb. 29. 13 Nullmeier 2000: insb. 236; 2002: insb. 162; Duret 2009: Kapitel 1.1; Tauschek 2013b: insb. 12–17; Wetzel 2013b: insb. 59. Vgl. Tauschek 2013a; Wetzel 2013a. 14 Mit als erste haben Simmel (1903/1995) und Mannheim (1929) gefordert, »Konkurrenz nicht nur als Phänomen der ökonomischen Sphäre […], sondern als Phänomen des gesamten gesellschaftlichen Lebens« (ebd.: 38), als »eine allgemeine soziale Beziehung« (ebd.: 43) zu analysieren. Siehe insb. Imbusch, Reitz, Richter, Schieder, Schlette, Schulz und Vogt in diesem Band. 15 Siehe Diefenbacher/Rodenhäuser und insb. ten Brink in diesem Band. 16 Cerny 1990: 230; vgl. Rosa et al. 2007: 264–269. Siehe ten Brink in diesem Band. 17 Cerny 1990: Kapitel 8.
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modifizierungen. Das heißt, der Staat zieht sich aus der Regelung ökonomischer und sozialpolitischer Probleme zurück und weist die Verantwortung für individuelle Lebensrisiken dem Einzelnen zu.18 So sind Märkte auch für klassische öffentliche und meritorische Güter wie Gesundheitswesen, öffentliche Sicherheit, schulische und universitäre Bildung usw. geschaffen worden – oder man hat, wo dies nicht möglich war, künstliche Wettbewerbe in Form von Evaluierungen, Exzellenzinitiativen usw. inszeniert.19 Entsprechend der Formierung der modernen Gesellschaften zu Konkurrenzgesellschaften hat sich auf Seiten der einzelnen Menschen, der individuellen Subjekte, ein neues Selbstverständnis herausgebildet. Zu dessen zentralen Bestimmungen gehört ein Imperativ der Selbstoptimierung der eigenen, individuellen Konkurrenzfähigkeit, der im Imperativ bzw. im Leitbild vom »unternehmerischen Selbst«20 gipfelt, das für viele ein Schreckbild ist.21 Der Imperativ der Selbstoptimierung hat sich herausgebildet einerseits auf der Basis der Idee der Individualität bzw. auf der Basis der Realität der Freisetzung aus kollektiven traditionellen Bindungen (Individualisierungsthese/-narrativ) – ohne, dass allerdings diese Idee in jenem Imperativ aufginge22 – und andererseits auf der Basis der Idee der Rationalität bzw. der Realität von Disziplinierungen durch Affektkontrolle,23 Normen usw. (Disziplinierungsthese/-narrativ).24
18 Siehe Diefenbacher/Rodenhäuser und Schieder in diesem Band. 19 Binswanger 2010. Siehe insb. Diefenbacher/Rodenhäuser, Imbusch, Moos, Reitz, Richter, Schieder, Schulz und Weilert/Pfitzner in diesem Band. 20 Bröckling 2007: 46; vgl. Rosa 2006: 82. 21 Siehe insb. Schieder und Schulz in diesem Band. 22 Siehe Schlette in diesem Band. 23 Die Etablierung des Konkurrenzprinzips korrespondiert auffällig mit der ebenfalls im 18. Jahrhundert erfolgenden Etablierung des Begriffs des Interesses, genauer: Sie korreliert damit, dass nun in interessengeleiteten, rationalen, vorhersehbaren und konstanten Handlungen ein Gegenspieler zu den unvorhersehbaren, irrationalen Leidenschaften gesehen wurde (Hirschman 1977), sodass sich die Affektkontrolle der Individuen zunehmend durch Selbstzwang statt durch Fremdzwang realisierte. Siehe Schieder in diesem Band. 24 Reckwitz 2010: 9–14, dem ich in der Ansicht folge, dass Individualisierung und Disziplinierung bzw. soziale Formung nicht als widerstreitende Alternativen zu begreifen sind. Zur Entstehung und Charakterisierung dieser modernen Individualitätskonzeption siehe auch Sonntag 1999; Veith 2001. Siehe Diefenbacher/Rodenhäuser in diesem Band.
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Dieses Selbstverständnis führt dazu, dass individuelle Zielsetzungen und Zuschreibungen gegenüber kollektiven in den Vordergrund rücken, womit Konkurrenz eine andere gesellschafts- und sozialpolitische Bedeutung erhält:25 In einer Klassengesellschaft konkurrieren Gruppen miteinander, deren Mitglieder durch das Bewusstsein kollektiver Interessen sowie Werte verbunden sind und denen es vornehmlich um eine Verbesserung der gemeinschaftlichen Situation geht; in einer Gesellschaft von Individuen26 hingegen steht der persönlichen Erfolg im Vordergrund, durch den die Individuen für sich einen verbesserten sozialen Status erreichen wollen, wobei die Gründe für Erfolg und Misserfolg weniger in Gruppenzugehörigkeiten als in der individuellen Verantwortung liegend angesehen werden. So ist es zu einer Verschiebung von Grundwerten gekommen: Kollektive und solidarische Prinzipien treten in den Hintergrund, egoistische wie Leistung, Konkurrenz und individuelle Selbstverantwortung in Vordergrund.27 Auch wenn wir über Natur nachdenken ist Konkurrenz zu einem wesentlichen Erklärungsprinzip geworden.28 Den Anfang biologischen Konkurrenzdenkens bilden wohl die biogeographischen Überlegungen de Candolles29 aus dem Jahr 1820, der – beeinflusst durch Thomas Malthus’ Bevölkerungstheorie – die begrenzte geografische Verbreitung von Pflanzenarten als Folge ihres Ausschlusses durch interspezifische Konkurrenz erklärte. Mit der Etablierung von Charles Darwins30 Theorie natürlicher Selektion hat sich in der Biologie die Überzeugung verbreitet, dass Konkurrenz das zentrale Entwicklungs-, Differenzierungs- und Optimierungsprinzip in der belebten Natur ist – mit auffallenden Analogien zu ökonomischen Theorien der Steigerung der Effizienz bzw. Konkurrenzfähigkeit durch Arbeitsteilung bzw. Spezialisierung. Daraus entwickelten sich seit den 1950er Jahren Theorien über die Organisationsweise ökologischer Gesellschaften, sogenannte nischentheoretische Konkurrenztheorien, die mit der Annahme eines ökologischen End- und Gleichgewichtszustandes, in dem die
25 Es folgt eine sinngemäße Übersetzung des Anfangs von Kapitel 1 in Duret 2009. Siehe zu dieser Thematik insb. Schlette in diesem Band. 26 Vgl. Elias 1991. 27 Siehe insb. Imbusch, Schlette und Vogt in diesem Band, die diese einfache Gegenüberstellung zu einem differenzierteren, wechselseitige Bestimmungen berücksichtigenden Bild weiterentwickeln. 28 Siehe Kirchhoff und Toepfer in diesem Band. 29 Candolle 1820. 30 Darwin 1859.
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verfügbaren Ressourcen eines Standortes vollständig und optimal genutzt werden, überdeutliche strukturelle Parallelen zu den ökonomischen Gleichgewichtstheorien der Neoklassik mit ihrer Annahme eines marktwirtschaftlichen ParetoOptimums aufweisen. Seit den 1980er Jahren sind diese nischentheoretischen Konkurrenztheorien zwar – wie zuvor die ökonomische Neoklassik – in die Kritik geraten, insbesondere ihre Gleichgewichts- und Optimalitätsannahme; Konkurrenz ist in der Ökologie aber ein zentrales Erklärungsprinzip geblieben – mit neuartigen Parallelen zu neuartigen ökonomischen Theorien.31 Und wo die Relevanz anderer Interaktionsformen betont wird, zum Beispiel die mutualistischer Beziehungen,32 bilden Konkurrenztheorien zumeist den Hintergrund der Überlegungen. Mit diesen Ausführungen soll nicht gesagt sein, die Theoriebildung in der Biologie und speziell der Ökologie sei nichts anderes als eine Reformulierung ökonomischer Theorien für den Gegenstandsbereich der belebten Natur.33 Deutlich werden sollte vielmehr: (a) Es lassen sich Parallelen zwischen Konkurrenztheorien über Gesellschaft und über Natur aufzeigen – und Entsprechendes gilt für Konkurrenztheorien, die in den verschiedenen mit Gesellschaft befassten Disziplinen formuliert worden sind –, sodass die Rede die von travelling theories bzw. travelling concepts34 angemessen erscheint. Der Sozialdarwinismus exemplifiziert, dass dabei nicht nur Konkurrenztheorien über Gesellschaft auf Natur übertragen wurden, sondern auch umgekehrt Konkurrenztheorien über Natur auf Gesellschaft. (b) Konkurrenz gilt mittlerweile als wesentliches Organisationsund Entwicklungsprinzip in Gesellschaft und Natur, insbesondere in evolutionären Erklärungsmodellen von Ordnungsbildung, Differenzierung und Optimierung.35 Insofern kann man Konkurrenz als Epochenparadigma bezeichnen: Konkurrenztheorien liefern Natur und Gesellschaft übergreifende Erklärungsmuster.
31 Siehe Kirchhoff und Toepfer in diesem Band. 32 Siehe z.B. Boucher et al. 1982. 33 Inwiefern Theorien über menschliche Vergesellschaftung bzw. Individualität bzw. Ökonomie allerdings tatsächlich erheblichen Einfluss auf Naturauffassungen, insbesondere auf die Theoriebildung in der Ökologie, hatten und haben siehe Schweber 1977; Großklaus 1983; Williams 1980; Trepl 1987; 1994; Eisel 2004; Köchy 2006; Kirchhoff 2007; 2011; 2014; 2015. 34 Siehe z.B. Said 1983 bzw. Bal 2002. Aufmerksam geworden auf diese Forschungen bin ich durch Hartmut Behr (Newcastle University) und Vera Vicenzotti (SLU/Swedish University of Agricultural Sciences). 35 Siehe Kirchhoff, Toepfer und Vogt in diesem Band.
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BEGRIFFLICH - STRUKTURELLER
Versucht man zu klären, was begrifflich genau mit »Konkurrenz« gemeint ist, so wird man mit der Tatsache konfrontiert, dass der Begriff auch in wissenschaftlichen Texten zu Konkurrenz nur selten definiert wird. Zudem fällt auf, dass »Konkurrenz« und »Wettbewerb« in der ökonomischen, soziologischen, politikwissenschaftlichen usw. Literatur zumeist so verwendet werden, als seien es synonyme Begriffe.36 Außerdem zeigt sich, dass die vorliegenden Definitionen von »Konkurrenz« bzw. von »Wettbewerb« keineswegs übereinstimmen, sondern sich zum Teil wesentlich voneinander unterscheiden. Das gilt nicht nur für Definitionen, die aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen stammen, sondern auch für solche aus ein und derselben Disziplin. Trotz und vor allem wegen dieses ernüchternden Befundes soll hier eine allgemeine Definition von »Konkurrenz« und »Wettbewerb« vorgeschlagen werden, weil eine unklare Terminologie bzw. diffuse Begriffsverwendung zu erheblichen Missverständnissen und Fehleinschätzungen führen kann:37 (1) Interaktion: Das erste Definiens von »Konkurrenz« ist, dass es sich um eine Interaktion von mindestens zwei Akteuren38 handelt, das heißt um eine Beziehung, in der alle Beteiligten aktiv sind und sich dabei aufeinander beziehen.39 (2) Triadische Struktur: Das zweite Definiens von »Konkurrenz« lässt sich ausgehend von der lateinischen Wurzel des Wortes, concurrere, bestimmen, das
36 Dabei ist der Konkurrenzbegriff wesentlich älter als der Wettbewerbsbegriff, der erst im 19. Jahrhundert geprägt wurde, aber seitdem in der Ökonomie gebräuchlicher ist als der Konkurrenzbegriff (Prochno 2006: 5). 37 Vgl. zum Folgenden die klassischen Überlegungen in Simmel 1903/1995 sowie die aktuellen Charakterisierungen in Rosa 2006: 87–89; Benz 2007: 54–56; Werron 2010. Siehe Kirchhoff und Toepfer in diesem Band. Unberücksichtigt bleibt im Folgenden, dass der Konkurrenzbegriff auch verwendet wird, um eine Gesamtheit von Konkurrenten zu bezeichnen: ›Die Konkurrenz schläft nicht‹ etc. 38 Der Begriff Akteur wird hier so verwendete, dass er auch nicht-menschliche Lebewesen umfasst, um eine auch die Biologie umfassende allgemeine Definition entwickeln zu können. Das heißt nicht, dass ich die Akteur-Netzwerk-Theorie von Latour affirmiere und wie dieser auch nicht lebende Dinge als Akteure bestimmen möchte. 39 Darin liegt eine Differenz zu Konflikten: Diese können auch darin bestehen, dass ein und dieselbe Person unterschiedliche Ziele verfolgt, die sich nicht uneingeschränkt zugleich verwirklichen lassen.
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soviel bedeutet wie »zusammenlaufen« und »von zwei oder mehreren Seiten zusammentreffen«, aber auch »aufeinanderrennen« und »zusammenstoßen«.40 Entsprechendes gilt für das englische competition: Dessen lateinische Wurzel, competere, hatte Bedeutungen wie »zu etwas fähig sein«, »zugleich anstreben«, »gemeinsam anstreben« und »wetteifern«. Das heißt, die Interaktion wird dadurch konstituiert, dass die Akteure dasselbe Ziel verfolgen. Konkurrenz besteht, so Simmel, »in den parallelen Bemühungen beider Parteien um einen und denselben Kampfpreis«41. Das bedeutet, wie Simmel klar herausgearbeitet hat, dass Konkurrenz formal eine triadische Struktur hat: Um unter den Begriff der Konkurrenz zu fallen, muss die Interaktion durch ein Drittes konstituiert sein, das von den Akteuren geschieden ist, das, so Simmel, »sich nicht in der Hand eines der Gegner befindet.«42 Darin liegt eine Differenz zum Kampf und zu anderen Konflikten, die auch ohne Bezug auf ein solches Drittes stattfinden können als dyadische Interaktion. (3) Indirekte Beziehung: Das dritte Definiens von »Konkurrenz« – wodurch sie sich außerdem wesentlich von Kämpfen und anderen Konflikten unterscheidet – ist, dass die Konkurrenzbeziehung nicht nur durch ein Drittes konstituiert wird, sondern zur Gänze durch das Dritte vermittelt wird, also eine indirekte Beziehung ist. »Für das soziologische Wesen der Konkurrenz ist es zunächst bestimmend, daß der Kampf ein indirekter ist. Wer den Gegner unmittelbar beschädigt oder aus dem Wege räumt, konkurriert insofern nicht mehr mit ihm«43, sondern er kämpft gegen ihn. Konkurrenten gehen nicht direkt gegeneinander vor; die direkte Schädigung des Konkurrenten ist weder das Ziel noch das Mittel von Konkurrenz. In der Konkurrenz führt nicht die Schädigung des Gegners zum Erfolg, sondern der Erfolg führt zu dessen Schädigung.
40 Georges 1972; Kluge 2002. Ein ursprünglicher Kontext dieser Bedeutungen waren wohl die antiken sportlichen und musische Agone (Prochno 2006: 5). Siehe Empell und Richter in diesem Band. 41 Simmel 1903/1995: 222. Anzumerken ist, dass Simmel, wie später noch Weber (1922: 1. Teil, Kapitel I., § 8), Konkurrenz als Unterform von Kampf begreift, aber gleichzeitig so bestimmt, dass ihr fehlt, was üblicherweise (siehe Binhack 1998: 16, 24 f.) als dessen Charakteristikum angesehenen wird: Kampfgegner agieren aktiv direkt gegeneinander, versuchen, ihr Ziel gegen den Widerstand der gegnerischen Kraft durchzusetzen. 42 Simmel 1903/1995: 222. 43 Ebd. Ähnlich definiert Weber (1922: 1. Teil, Kapitel I., § 8): »Der ›friedliche‹ Kampf soll ›Konkurrenz‹ heißen, wenn er als formal friedliche Bewerbung um eigne Verfügungsgewalt über Chancen geführt wird, die auch andre begehren.«
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(4) Wechselseitige Beeinträchtigung: Das letzte Definiens ist, dass die Interaktion für beide Interaktionspartner mit einer Beeinträchtigung verbunden ist. Der unterlegene Konkurrent wird beeinträchtigt, weil die Zielerreichung des überlegenen Konkurrenten dazu führt, dass er selbst sein Ziel ganz oder teilweise nicht erreichten kann. Der überlegene Konkurrent ist beeinträchtigt, weil er sein Ziel nur mit einem vergrößerten Aufwand und/oder nur mit Einschränkungen erreichen kann.44 Wird der Akteur, der sein Ziel erreicht, nicht dadurch beeinträchtigt, dass auch ein anderer Akteur dasselbe Ziel zu erreichen sucht, so steht zwar dieser Akteur mit jenem Akteur, nicht aber jener mit diesem in einer Interaktionsbeziehung – und es liegt keine Konkurrenz vor, sondern, so zumindest nennt man diese Beziehung in der Biologie im Unterschied zu Konkurrenz, ein Amensalismus.45 Entsprechend diesen Überlegungen schlage ich folgende allgemeine Definition von Konkurrenz vor: Konkurrenz ist eine indirekte, triadische Interaktion zwischen mindestens zwei Akteuren, die durch ein gemeinsames Ziel konstituiert wird, bei bzw. durch dessen Realisierung sich die Akteure wechselseitig beeinträchtigen. Neben diesen definierenden Merkmalen zeichnet sich Konkurrenz durch Charakteristika aus, die häufig mit ihr verbunden und für das Verständnis ihrer Dynamik und sozialen Wirkungen von erheblicher Bedeutung sind: (5) Dyadische Dynamik: In vielen Fällen wissen die Konkurrenten voneinander und reagieren wechselseitig aufeinander mit Verhaltensänderungen,46 die vielfach zu erhöhten Anstrengungen führen. Dabei hat jeder Konkurrent seine Gegner im Blick, sucht aber sein Ziel zu verwirklichen, »ohne eine Kraft auf den Gegner zu verwenden«47, das heißt, ohne zu versuchen, diesen zu behindern etc.48
44 Beispiele sind Athleten, die ohne Konkurrenten für die Anerkennung ihrer Leistung weniger hätten trainieren müssen, und Produzenten, die ohne Konkurrenten Produkte verkaufen könnten, die weniger Investitionen in Qualitätsverbesserungen erfordert hätten. 45 Abrams 1987: 272–274; Begon et al. 1996: 200 f. Siehe Kirchhoff in diesem Band. 46 Siehe Schlette in diesem Band. 47 Simmel 1903/1995: 223. 48 Simmel (ebd.: 223 f.) erläutert diese dyadische Dynamik so: »Der Wettläufer, der nur durch seine Schnelligkeit, der Kaufmann, der nur durch den Preis seiner Ware […] wirken will, exemplifizieren diese merkwürdige Art des Kampfes, die an Heftigkeit und leidenschaftlichem Aufgebot aller Kräfte jeder anderen gleichkommt, zu dieser äußersten Leistung auch nur durch das wechselwirkende Bewußtsein von der Leistung des Gegners gesteigert wird, und doch, äußerlich angesehen, so verfährt, als ob kein Gegner, sondern nur das Ziel auf der Welt wäre.«
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Zwischen Pflanzen und zumeist auch zwischen Tieren fehlt dieses wechselseitige Bewusstsein. Natürliche Selektion kann hier aber in koevolutionären Prozessen zu ähnlichen Effekten führen.49 (6) Triadische Dynamik: Die dyadische Konkurrenzdynamik erweitert sich zu einer komplexen triadischen, wenn die Konkurrenten nicht nur aufeinander reagieren, sondern auch in Interaktionen mit dem umworbenen Dritten eintreten. Die Konkurrenz »zwingt den Bewerber, […] dem Umworbenen entgegen- und nahezukommen, sich ihm zu verbinden, seine Schwächen und Stärken zu erkunden und sich ihnen anzupassen, alle Brücken aufzusuchen oder zu schlagen, die sein Sein und seine Leistungen mit jenem verbinden könnten. […] Die moderne Konkurrenz, die man als den Kampf aller gegen alle kennzeichnet, ist doch zugleich der Kampf aller um alle.«50 Darin besteht, so Simmel, ihre »ungeheure vergesellschaftende Wirkung«51. Und dieses umworbene Dritte, das Simmel auch das »Publikum«52 nennt, reagiert seinerseits auf das Verhalten und die Angebote der Konkurrenten.53 Das ermöglicht den Konkurrenten, indirekt, vermittelt über das »Publikum«, gegeneinander vorzugehen, beispielsweise indem sie versuchen, sich selbst beim »Publikum« in ein besseres und die Gegner in ein schlechteres Licht zu setzen – man denke an einen »Kaufmann, der seinen Konkurrenten erfolgreich beim Publikum der Unsolidität verdächtigt hat«54. So kann sich eine triadische Dynamik ergeben, in der die Ziele und die Erfolgskriterien der Konkurrenzsituation nicht vorgegeben sind, sondern sich erst in ihr und durch sie ausbilden.55 (7) »Konkurrenz« und »Wettbewerb«: Diese beiden Begriffe werden häufig synonym verwendet. Demgegenüber möchte ich eine systematische Unterscheidung vorschlagen, die Wettbewerb als eine bestimmte Form von Konkurrenz definiert: »Wettbewerb« ist Konkurrenz, die ausgerichtet ist auf ein den Konkurrenten vorgegebenes Ziel und dabei geleitet wird durch den Konkurrenten vorgegebene Regeln.56 Wettbewerb ist Konkurrenz, die darauf ausgerichtet ist, im
49 Siehe Kirchhoff und Toepfer in diesem Band. 50 Simmel 1903/1995: 226 f.; vgl. Benz 2007: 55; Hölkeskamp 2014: 35. 51 Simmel 1903/1995: 226. Siehe Imbusch und Vogt in diesem Band. 52 Ebd.: 223. 53 Vgl. Werron (2009: insb. 17, 20 f.; 2010: insb. 307–310; 2011), der von »Konkurrenz im Horizont des Publikums« spricht. Siehe insb. Reitz und Schlette in diesem Band. 54 Simmel 1903/1995: 223. 55 Siehe Moos sowie insb. Richter und Schlette in diesem Band. 56 Wettbewerb ist demnach das, was Weber (1922: 1. Teil, Kapitel I., § 8) als geregelte
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Rahmen ritualisierter oder institutionalisierter Regeln eine optimale oder zumindest bessere Lösung für eine Aufgabe zu realisieren; Wettbewerb wird ermöglicht, gefördert etc., um ein bestimmtes Ziel zu erreichen, zum Beispiel eine möglichst gute Allokation von Ressourcen in einer Gesellschaft. »Wettbewerb« ist demnach ein normativer Begriff, weil er auf eine soziale Zielsetzung verweist. »Konkurrenz« hingegen ist ein deskriptiver Begriff: Konkurrenz findet einfach statt und bewirkt Veränderungen, die, selbst dann, wenn sie gerichtet sind, niemals ein Ziel realisieren.57 Zudem unterscheidet Wettbewerb sich dadurch von Konkurrenz, dass die Konkurrenten eines Wettbewerbs voneinander wissen (vgl. Charakteristikum 5). Gemäß dieser Definition gibt es »Wettbewerb« nur in Gesellschaften, nur zwischen Menschen und deren Institutionen, nicht aber in der Natur, nicht zwischen Lebewesen.58
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Konkurrenz als Prinzip der Emanzipation Der fundamentale Umbruch von den traditionalen, vormodernen zu den modernen Gesellschaften ist unter verschiedenen Gesichtspunkten rekonstruiert worden. Säkularisierung, Individualisierung, Selbstverwirklichung, Differenzierung, Rationalisierung und Verrechtlichung sind einschlägige modernisierungstheoretische Stichworte.59 Mit Blick auf die Genealogie des Konkurrenzprinzips und der Konkurrenzgesellschaft ist entscheidend, dass sukzessive ein fundamentaler
Konkurrenz bezeichnet: » ›Geregelte Konkurrenz‹ soll eine Konkurrenz insoweit heißen, als sie in Zielen und Mitteln sich an einer Ordnung orientiert.« Vgl. Winter/Würmann 2012: 7. Zum Versuch einer Typologie von Wettbewerbsformen siehe Nullmeier 2000: insb. 228–237; Wetzel 2013a: insb. 30; 2013b: insb. 59. 57 Wetzel (2013a: 57) konstatiert als Differenz zwischen »Wettbewerb« und »Konkurrenz«, »Wettbewerb« werde häufig verwendet, um ein Organisationsprinzip, »Konkurrenz« dagegen meist, um eine akteurszentrierte Handlungsorientierung zu bezeichnen. Zwar mag damit die Differenz in der Verwendung der beiden Begriffe richtig wiedergegeben sein; die systematische Bedeutungsdifferenz der beiden Begriffe scheint mir damit jedoch nicht erfasst. 58 Mit dieser Definition im Einklang ist die Tatsache, dass der Begriff des Wettbewerbs in der Biologie praktisch nicht verwendet wird. 59 Vgl. Degele/Dries 2005; Reckwitz 2010: 9–14; Rosa 2012: 324; Schlette 2013. Siehe insb. Reitz, Schieder und Schlette in diesem Band.
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Wandel im sozialen Allokationsmuster erfolgte: An die Stelle des Prinzips der autoritativen Zuschreibung (ascription pattern) trat das Prinzip der leistungsabhängigen Zuschreibung (achievement pattern).60 Nicht mehr ererbte Privilegien, nicht mehr gesellschaftlicher Stand, Zunftordnungen, Traditionen und Autorität, sollten über die verfügbaren Güter, die sozialen Beziehungen, die gesellschaftliche Stellung usw. entscheiden (Feudalordnung), sondern die individuelle Arbeitsleistung (Leistungsprinzip).61 Bürgerliche emanzipatorische Forderungen nach Freiheit und Chancengleichheit, aber auch die wirtschaftlichen Interessen des aufstrebenden Industrie- und Handelsbürgertums standen hinter der Etablierung von Leistung als Prinzip gesellschaftlicher Ordnung.62 Dabei ging es dem Bürgertum nicht darum, Ungleichheit als solche zu beseitigen, sondern es wollte die feudale ›Privilegienstruktur‹ abschaffen, durch die von vornherein, qua Geburt, eine Positionierung auf einer Skala vertikaler Ungleichheit fixiert wurde.63 Mit der Etablierung des Leistungsprinzips ging die Etablierung des Konkurrenzprinzips einher:64 Konkurrenz wurde zum zentralen Prinzip gesellschaftlicher Organisation, weil mit der Aufhebung von Restriktionen wie dem Zunftzwang freie Konkurrenz möglich wurde, weil die leistungsabhängige Anerkennung und Zuteilung von Positionen, Ressourcen usw. relativ zur Leistung anderer erfolgte, weil Vorzüge versprechende Leistungen von umso mehr Menschen erbracht wurden usw. Konkurrenz als Prinzip der Optimierung Konkurrenz ist damit in gewissem Sinne, wie Marx bemerkt hat, »negativ verstanden worden […] als Negation von Monopolen, Korporation, gesetzlichen Regulationen etc. Als Negation der feudalen Produktion.«65 Konkurrenz wurde aber bald auch positiv begriffen als ein gesamtgesellschaftliches Optimierungsprinzip.66 Insbesondere ökonomischem Wettbewerb, also einer geregelten Konkurrenz,
60 Rosa 2006: 84; 2012: 326, jeweils mit Verweis auf Parsons 1951. Die Seitenangaben und englischen Zitate (Parsons 1951: 182, 191) wurden von mir ergänzt. 61 Differenziert zur Genese des Leistungsprinzips siehe Hartfiel 1977a; Verheyen 2012. 62 Rammstedt 1976: 973; Hartfiel 1977b: 16. Siehe Schulz in diesem Band. 63 Giegel 2008: 118. 64 Hartfiel 1977b: 16 f., 22; Rosa 2006: 85–88, 93. Siehe Empell in diesem Band. 65 Marx 1857–1858/1953: 317; vgl. ebd.: 542 f. 66 Darauf wird in praktischen allen Beiträgen dieses Bandes eingegangen.
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werden seitdem weithin drei zentrale Funktionen zugeschrieben:67 Die Allokationsfunktion gründet darin, dass – so bekanntermaßen Adam Smith68 – der individuelle Egoismus, das individuelle Leistungsstreben zum gesellschaftlichen Wohlstand aller führt, wenn es einen freien Markt gibt, der die konkurrierenden Einzelinteressen koordiniert. Dabei bewirkt Wettbewerb eine optimale Allokation knapper Ressourcen, eine Steuerung der quantitativen und qualitativen Zusammensetzung des Warenangebots gemäß den Käuferpräferenzen sowie eine Produktdiversifizierung. Ein grundsätzliches Monopolproblem wird nicht gesehen, sofern die Marktzutritts- und Marktaustrittsschranken niedrig sind, weil Monopolgewinne dann Signalwirkung auf potenzielle Anbieter haben. Die Fortschritts-/Innovationsfunktion gründet darin, dass Wettbewerb eine endogene Dynamik besitzt: Er generiert Anreize für Innovationen, für die ständige Erneuerung und Verbesserung von Produktionsverfahren und Erzeugnisse, sei es als »Creative Destruction«69, sei es als »›step-by-step‹ innovation«70; denn Innovationen generieren vorübergehende Monopolrenten, bis Imitationen durch Konkurrenten diese zunichte machen – worauf erneute Innovationen folgen, usw. Vielfach sieht man dabei im Wettbewerb, auf geistigem wie materiellem Gebiet, den »leistungsfähigste[n] Prozeß, um bessere Wege zur Erreichung menschlicher Ziele zu entdecken.«71 Die Verteilungsfunktion schließlich soll darin bestehen, dass Wettbewerb zu einer ökonomisch leistungsgerechten Verteilung von Einkommen usw. führt und einer Konzentration von wirtschaftlicher, politischer usw. Macht entgegenwirkt. Konkurrenz als prekäres Prinzip Das Konkurrenzprinzip wird aber nicht nur als Emanzipations- und Optimierungsprinzip begrüßt, sondern auch als problematisch angesehen – und dies nicht erst seit seiner durch den Neoliberalismus forcierten Ausbreitung in alle gesellschaftlichen Felder auch jenseits des ökonomischen Feldes.72 Die Kritik an Konkurrenz als gesellschaftlichem Ordnungsprinzip lässt sich bis ins 18. Jahrhundert zurückverfolgen.73 »Auch zur Blütezeit des Liberalismus waren nur die führenden
67 Olten 1995: 16 ff.; Herdzina 1999: 32; Nullmeier 2005: 108; Rosa 2006: 90–93; 2012: 334–336. Siehe insb. Diefenbacher/Rodenhäuser, Kirchhoff und Vogt in diesem Band. 68 Smith 1776. 69 Schumpeter 1942: 83. 70 Philippe et al. 2001: 468. 71 Hayek 1973/2002: 115 f. 72 Dies ist ein Hauptthema vieler Beiträge dieses Bandes. 73 Rammstedt 1976: 971.
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Schichten, die im Besitze überlegener Konkurrenzmittel standen, sowie die aufsteigenden Völker die eigentlichen Träger der Konkurrenzidee. Die Arbeiterschaft war von jeher ausgesprochen konkurrenzfeindlich, weil sie der Konkurrenz den Lohndruck und die Arbeitslosigkeit zuschrieb«74. Die Kritik am Konkurrenzprinzip ist äußerst vielfältig und liegt auf ganz verschiedenen Ebenen. Hier sollen drei Kritikebenen herausgestellt werden. Es geht erstens um die problematischen Folgen ›gelingenden‹ Wettbewerbs, zweitens um die Unangemessenheit des Konkurrenzprinzips für bestimmte Gesellschaftsbereiche und drittens um den Hinweis, dass Wettbewerb nicht seine eigenen Voraussetzungen schaffen und erhalten kann: Wettbewerb kann statt zu optimaler Allokation auch zu gesamtgesellschaftlich unsinnigen oder unwirtschaftlichen Resultaten, zu Marktversagen, führen;75 statt zu Differenzierungen auch zu Angleichungen (competitive isomorphism);76 statt zu wünschenswerter Innovation, auch zum Zwang der permanenten Verbesserung der Konkurrenzfähigkeit, wodurch das Leistungs- und Konkurrenzprinzip nicht Emanzipation, sondern Disziplinierung und Entfremdung bewirkt.77 Und Wettbewerb führt nicht nur zur Vergesellschaftung von Einzelinteressen, sondern fördert auch einen Individualismus, der viele Menschen ausschließt und die gesellschaftliche Integration gefährdet.78 Eine ganze Reihe von Gütern ist im Interaktionsmodus des Wettbewerbs nur schwer oder gar nicht realisierbar; das gilt insbesondere für kollektive Güter.79
74 Böhler 1950: 388. 75 Bator 1958; Fritsch 2014. 76 Kerr 1983; Unger/van Waarden 1995. Siehe in diesem Band Kirchhoff für evolutionäre Entwicklung in der Natur und Schulz für das Ideal der Kompetenzen. 77 Vgl. die frühe Kritik von Horkheimer und Adorno (1947/1993: 164). Für die aktuelle Kritik siehe z.B. Rosa (2006: 94–101; 2012: Kapitel 8) und Honneth (2009: 44), der konstatiert: »Die Idee der individuellen Verantwortung, die einen durchaus sinnvollen, emanzipierenden Kern enthält, schlägt […] unter dem Druck eines neoliberal operierenden Kapitalismus in ein neues Mittel der Disziplinierung von Subjekten um. Das Ideal der individuellen Selbstverwirklichung […] gerät in der jüngsten Zeit zu einer Legitimationsinstanz für weitgehende Flexibilisierungen des Arbeitsmarktes. Was zunächst als ein normativer Fortschrittsprozess begann, schlägt unter den Zwängen einer Expansion kapitalistischer Marktrationalität in eine neue Stufe von Abhängigkeit um«. Siehe insb. Imbusch, Schieder und Schulz in diesem Band. 78 Rammstedt 1976: 971 f.; Imbusch/Heitmeyer 2008. Siehe insb. Imbusch in diesem Band. 79 Rosa 2006: 94; 2012: 338 f. Siehe Diefenbacher/Rodenhäuser und Vogt in diesem Band.
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Eine Verteilung nach dem Leistungsprinzip ist in vielen Bereichen ungerecht, insbesondere dort, wo, wie im Gesundheitsbereich, nach Bedürftigkeit oder, wie im Bereich der Bildungschancen und politischen Rechte, nach dem Gleichheitsprinzip verteilt werden sollte.80 Zudem gibt es zahlreiche Lebensinhalte, die sich nicht angemessen utilitaristisch als Güter, um die konkurriert wird, thematisieren lassen – man denke nur an die Vielfalt kultureller sinnstiftender Gegenstände und Praktiken.81 Wettbewerbsysteme können sich nicht selbst regulieren, sie können die für sie notwendigen Bestands- und Geltungsbedingungen weder schaffen noch erhalten; vielmehr sind sie angewiesen auf einen vorgegebenen politisch-sozialen Rahmen, der sich auf der Grundlage von anderen Prinzipien als dem Konkurrenzprinzip konstituiert und reproduziert, zum Beispiel auf der Grundlage von tradierten Werten und Normen.82 Ohne solche Rahmenbedingungen drohen ruinöse Wettbewerbe zwischen Unternehmen und ein »race to the bottom« staatlicher bzw. gebietskörperschaftlicher Sozial-, Arbeits-, Umwelt- und Steuer-Standards;83 ferner drohen Monopole, die sich wegen Marktzutrittsschranken nicht durch Konkurrenz wieder auflösen.84 Zudem kann Wettbewerb die für ihn erforderliche Chancengleichheit nicht gewährleisten; vielmehr verstärkt er häufig, weil sich Wettbewerbsvorteile akkumulieren, schon bestehende Chancenungleichheiten – sei es die zwischen Menschen einer Gesellschaft durch Bildungs-, Konditionsoder Vermögensunterschiede,85 sei es die zwischen Staaten aufgrund des unterschiedlichen Entwicklungsstandes ihrer Industrien (infant industries versus developed industries).86 Schließlich kann ökonomischer Wettbewerb nicht selbst die Voraussetzungen für Kooperation schaffen und erhalten; diese ist aber seine notwendige Voraussetzung, weil ökonomischer Wettbewerb nicht möglich ist ohne den Tausch und die arbeitsteilige Produktion von Waren – beides Formen von gesellschaftlicher Interdependenz und Kooperation.87
80 Rosa 2012: 337. Siehe Weilert/Pfitzner bzw. Schulz in diesem Band. 81 Siehe insb. Imbusch, Reitz, Schieder und Vogt in diesem Band. 82 Vgl. Rosa 2012: 337; Hölkeskamp 2014: 36, 45. Siehe insb. Diefenbacher/Rodenhäuser in diesem Band. 83 Brecher/Costello 1999: xvii–xix, 13–34. Siehe Diefenbacher/Rodenhäuser in diesem Band. 84 Heimann 1929: 38. Siehe Diefenbacher/Rodenhäuser in diesem Band. 85 Siehe z.B. Boudon 1974; Bourdieu 1982: insb. 272 f; Rosa 2006: 93; 2012: insb. 338. Siehe Diefenbacher/Rodenhäuser und insb. Reitz in diesem Band. 86 Grubel 1966. Siehe Diefenbacher/Rodenhäuser in diesem Band. 87 Vgl. Elias 1939/1992; Rosa et al. 2007: 209. Siehe insb. Imbusch und Vogt in diesem Band.
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K ONKURRENZ INTERDISZIPLINÄR BETRACHTET : Z UM I NHALT DER AUFSÄTZE DIESES B ANDES Festhalten kann man: So eindeutig es ist, dass Konkurrenz bzw. das Konkurrenzprinzip in modernen Gesellschaften und in deren Beziehungen zueinander nahezu ubiquitäre Verbreitung erlangt hat, sodass man inhaltlich von Konkurrenzgesellschaften, von Konkurrenzstaaten usw. und strukturell von einem Konkurrenzparadigma sprechen kann, so uneindeutig fällt die Beurteilung dieser Tatsache aus. Das Spektrum reicht von der Preisung des Konkurrenzprinzips bis hin zur Fundamentalkritik am Konkurrenzprinzip: Gepriesen wird es, weil es die notwendige Voraussetzung für die Realisierung von individueller Freiheit, Chancengleichheit, gerechter gesellschaftlicher Ordnung, optimaler Ressourcenallokation, einer Pluralität von Möglichkeiten usw. sei. Bemängelt werden fehlende Chancengleichheit im Konkurrenzgeschehen und das Fehlen der Voraussetzungen dafür, dass Konkurrenz ihre potenziellen positiven Wirkungen entfalten kann. Fundamental kritisiert wird das Konkurrenzprinzip mit der Einschätzung, es sei eine Ideologie, die der Legitimation von Ausbeutung, Ungleichheit und Ungerechtigkeit diene. Einerseits ist der Glaube an Konkurrenz als ein Leistung, Effizienz, Differenzierung und Integration steigerndes Prinzip gesellschaftlicher Selbstorganisation kulturell tief verwurzelt. Andererseits haben sich die Wohlstandsversprechungen eines dem freien Wettbewerb überlassenen globalen Geld- und Gütermarktes in vielen Fällen nicht erfüllt; die problematischen Folgen und Nebenfolgen von Konkurrenz sorgen zunehmend für Unbehagen und Protest. In dieser Situation bedarf es mehr denn je einer kritischen Reflexion über Konkurrenz und über des Konkurrenzprinzip. Es bedarf einer umfassenden Diskussion über die Struktur und Dynamik von Konkurrenzbeziehungen und einer konkreten inhaltlichen Diskussion darüber, in welchen Gesellschaftsbereichen Konkurrenz dem Allgemeinwohl dienen kann und welche Rahmenbedingungen dafür erforderlich sind – und auch darüber, unter welchen Umständen Konkurrenz dem Allgemeinwohl schadet. Differenziert zu diskutieren ist: Wo soll es wie viel Konkurrenz unter welchen Rahmenbedingungen geben? Zu dieser Diskussion will der vorliegende Band beitragen. Er bietet eine fundierte interdisziplinäre Analyse von Konkurrenzphänomenen und Konkurrenztheorien, die historische, strukturelle und normative Perspektiven integriert. Er vereint historische, juristische, wirtschafts- und politikwissenschaftliche, soziologische, biologietheoretische, religionswissenschaftliche und literaturwissenschaftliche Studien. Diese liefern Ausgangspunkte für differenzierte Diskussionen über Konkurrenz als Prinzip individueller Entwicklung und gesellschaftlicher Organisation.
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Im ersten Aufsatz des Bandes behandelt HANS-MICHAEL EMPELL drei wesentliche Etappen aus der Geschichte des Konkurrenzbegriffs und des Aufstiegs von Konkurrenz zu einem Epochenparadigma. Unter dem Titel Vom Recht zur Ökonomie. ›Konkurrenz‹ im römischen Recht, in der Schule von Salamanca und bei den französischen Physiokraten rekonstruiert er zunächst die Bedeutung von concurrere und concursus im antiken römischen Recht, das die Grundlage des mittelalterlichen und neuzeitlichen europäischen Rechts bildet. Sodann legt der Autor dar, wie Theologen und Juristen der spanischen Spätscholastik aus der Schule von Salamanca, die zu den Gründervätern der modernen Ökonomie gehören, im 16. Jahrhundert beginnen, den Begriff der concurrentia zum ersten Mal explizit in ökonomischem Sinn verwenden. Schließlich zeichnet er nach, wie der Konkurrenzbegriff in der Physiokratie, einer ökonomischen Theorie der französischen Aufklärung, grundlegende Bedeutung für das Verständnis von Wirtschaftssystemen erlangt. Der zweite Beitrag: Konkurrenz – wie viel darf’s denn sein? Zum theoretischen Fundament und der Frage nach dem richtigen Maß in Ökonomie und Politik von HANS DIEFENBACHER und DOROTHEE RODENHÄUSER verfolgt die ökonomische Perspektive auf Konkurrenz weiter, differenziert sie und verbindet sie systematisch mit politikwissenschaftlichen Perspektiven: Einerseits müsse ökonomische Konkurrenz immer mit dem politisch dafür gesetzten Rahmen zusammengedacht werden, andererseits hätten ökonomische Theorieelemente Eingang in politische Theorien gefunden. Die Ausgangshypothese des Beitrags lautet, dass es von Konkurrenz sowohl ein Zuwenig als auch ein Zuviel geben kann, wobei die Antwort jeweils kontextabhängig ist. Ausgehend von einer historisch fundierten Darstellung ökonomischer und politikwissenschaftlicher Definitionen von Konkurrenz, von Theorien über ihre Wirkungen sowie von Hypothesen über notwendige Rahmenbedingungen für Konkurrenz werden – für Ökonomie und Politikwissenschaft – unterschiedliche Positionen einer kritischen Analyse unterzogen: Positionen, die für ein Maximum (Neoliberalismus/Neoklassik bzw. Schumpeters Theorie der Konkurrenzdemokratie) oder aber ein Minimum (Konzeptionen solidarischen, gemeinwesenorientierten Wirtschaftens bzw. Theorien einer Konkordanz-/Konsensdemokratie) oder aber ein dazwischen liegendes Optimum (Euckens ordoliberale Vorstellungen bzw. Demokratietheorien identitärer oder partizipatorischer Prägung) an Konkurrenz argumentieren. Der Beitrag mündet in Thesen zum richtigen Maß von Konkurrenz in Wirtschaft und Politik, darunter die These, dass es gerade in heterogenen Gesellschaften eines Austarierens zwischen konkurrenz- und kooperationsorientierten Elementen bedarf.
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In seinem Aufsatz Kapitalismus und Staatenkonkurrenz entwickelt TOBIAS BRINK die These, dass die zunehmend transnationale Weltwirtschaft einerseits und das fortbestehende Staatensystem andererseits ein konfliktbeladenes Spannungsfeld bilden, das in Visionen einer harmonischen, postnationalen Weltgesellschaft nicht hinreichend berücksichtigt wird. Er fundiert diese These in einer systematischen, auch historische Wandlungen nachzeichnenden Analyse der vielfältigen Wechselverhältnisse zwischen einerseits sozio-ökonomischen Unternehmenskonkurrenzen und andererseits geopolitischen Staatenkonkurrenzen, in denen die modernen Staaten auch und gerade durch ›weiche‹ Geopolitik unterhalb der Schwelle offener Gewaltanwendung ihren Einfluss in externen Räumen zu verteidigen und steigern suchen. Da diese beiden Konkurrenzformen – wenngleich sie nicht aufeinander reduzierbar und an verschiedenartigen Reproduktionskriterien orientiert sind – durch wechselseitige Abhängigkeiten verbunden sind, münden Unternehmenswettbewerbe nicht selten in politisch vermittelte Standortkonkurrenzen und außenwirtschaftspolitische Konkurrenzdynamiken, die der Autor unter Stichworten wie Multipolarität, Wettbewerbsstaatlichkeit, Funktionsstörungen in internationalen Institutionen und Währungskonkurrenz beschreibt. Es folgen zwei Aufsätze, die sich mit biologischen Theorien über Konkurrenz befassen, wobei sie in historischer und wissenschaftstheoretischer Perspektive auch auf unterschiedliche Definitionen von Konkurrenz und auf Etablierung von Konkurrenz als Naturprinzip eingehen. Der erste Aufsatz fokussiert auf populationsökologische und evolutionsbiologische, der zweite auf synökologische und evolutionsbiologische Fragen. GEORG TOEPFER fragt unter dem Titel Die Rote Königin jagt den Hofnarren. Konkurrenz auf der Bühne der Ökologie und im Spiel der Evolution zunächst: Ist Konkurrenz auf der lokalen Ebene der Populationen eine entscheidende Ursache für natürliche Selektion? Er diskutiert die traditionellen Ansichten, dass Konkurrenz entscheidend beiträgt zur Erhöhung der Vielfalt von Organismen, zur Entstehung ökologischer Gleichgewichte sowie zur gerichteten Veränderung in Abstammungslinien. Sodann thematisiert Toepfer die Rolle von Konkurrenz auf der globalen genealogischen Ebene langfristiger Makroevolution, also für das Entstehen und Vergehen neuer Arten und höherer taxonomischer Gruppen. Dabei analysiert er insbesondere die sogenannte Rote Königin-Hypothese, der zufolge biotische Interaktionen wie Konkurrenz die entscheidenden Faktoren evolutionärer Veränderung sind, und die entgegengesetzte sogenannte HofnarrHypothese, der zufolge vor allem gravierende Veränderungen abiotischer Umweltbedingungen entscheidend sind. Im Ergebnis konstatiert Toepfer, dass sich TEN
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kein einheitliches Bild der Rolle von Konkurrenz ergibt. Zwar sei Konkurrenz als ökologischer Faktor gut belegt, der dominante Motor der Diversifizierung des Lebens im Laufe der Erdgeschichte sei aber wohl eher die Eroberung neu(artig)er Lebensräume bzw. ökologischer Nischen infolge der evolutionären Entwicklung neu(artig)er Lebensweisen. THOMAS KIRCHHOFF geht in seinem Beitrag Konkurrenz in der Natur. Interspezifische Konkurrenz als Organisations- und Entwicklungsprinzip von Ökosystemen? von der Feststellung aus, dass in der Naturwissenschaft Ökologie seit ihrer Entstehung vor gut einem Jahrhundert grundlegende Kontroversen darüber geführt werden, nach welchen Prinzipien ökologische Gesellschaften/Biozönosen bzw. Ökosysteme sich organisieren und entwickeln. Ein wesentlicher Streitpunkt sei dabei, welchen Einfluss interspezifische Konkurrenz hat: Wie häufig und wie stark tritt sie auf, welche Wirkungen hat sie und wie einflussreich ist sie im Vergleich zu anderen ökologischen Interaktionen, zu abiotischen Umweltfaktoren und zu stochastischen Prozessen? Der Autor rekonstruiert vier Konfliktachsen, die sich in dieser Kontroverse überschneiden: (1) Welchen Stellenwert hat sie als Organisationsprinzip von Biozönosen? (2) Sind Konkurrenzsysteme Gleichgewichts- oder Ungleichgewichtssysteme? (3) Entsteht Artendiversität in Biozönosen durch konkurrenzinduzierte koevolutionäre Divergenz oder durch unabhängige Evolution? (4) Führt Konkurrenz zu koevolutionärer Divergenz oder zu koevolutionärer Konvergenz? Abschließend entwickelt der Autor die These, dass die Existenz konkurrierender Theorien über die Bedeutung von interspezifischer Konkurrenz in der Ökologie vor einem außerhalb der Naturwissenschaft Ökologie liegenden Hintergrund zu deuten ist: nämlich der Existenz konkurrierender Auffassungen über menschliche Vergesellschaftung und Modi der Sozialintegration. In der soziologischen Theoriediskussion führte der Konkurrenzbegriff, nach einigen frühen Analysen etwa durch Georg Simmel und Karl Mannheim, lange Zeit ein Schattendasein. In seinem Beitrag Konkurrenz als Beharrungsprinzip. Soziologische Theorie im Anschluss an Lewis Carroll nimmt TILMAN REITZ eine explizit soziologische Perspektive ein, die sich bewusst von ökonomischen Perspektiven löst, und sucht nach Antworten auf zwei ungeklärte, aber zentrale soziologische Fragen zur Rolle von Konkurrenz in modernen Gesellschaften: Prägt Konkurrenz auch dort unser Zusammenleben, wo der kapitalistische Markt (noch) nicht hinreicht? Sorgt Konkurrenz vorwiegend für gesellschaftliche Dynamik oder bringt sie im Gegenteil Ordnung und Beharrung hervor? Um zu einer Antwort zu gelangen, zieht der Autor zum einen die klassischen soziologischen Analysen von Georg Simmel und Karl Mannheim zu Konkurrenz
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heran und rekonstruiert – ausgehend von Luhmanns und Parsons’ Theorie funktional differenzierter Teilsysteme – Konkurrenzbeziehungen jenseits monetärer Märkte. Zum anderen thematisiert er – ausgehend von Habermas’ kritischem Verständnis systemischer Vergesellschaftung und Bourdieus Kategorien nichtökonomischen Kapitals – strukturerhaltende und soziale Unterordnungen reproduzierende Effekte von Konkurrenz. Unter dem Titel Konkurrenz und Solidarität. Alternative oder verwobene Formen sozialer Interaktion? thematisiert MARKUS VOGT das Verhältnis von Konkurrenz, Kooperation und Solidarität. Er macht deutlich: Diese kulturellen Handlungsmuster schließen sich nicht etwa aus, sondern sind mannigfaltig verwoben – wobei Vogt insbesondere eingeht auf Kooperation als Mittel zur Erhöhung der Konkurrenzfähigkeit und auf das Ordnungsmodell der Sozialen Marktwirtschaft, dem zufolge Markt und Sozialstaat als Institutionalisierungsformen von Konkurrenz und Solidarität sich wechselseitig nicht nur begrenzen, sondern auch ermöglichen und stärken. Vogt mach aber auch deutlich: Konkurrenz und Solidarität stellen trotz aller Verwobenheiten doch Gegenpole im Möglichkeitsraum menschlicher Beziehungs- und Lebensideale dar, die nicht vollständig harmonisierbar sind; denn Solidarität transzendiert in fundamentaler Weise jedes Konkurrenzdenken. Die entscheidende sozialethische Frage sei deshalb, wie die Interaktionsformen des Konkurrierens und der Solidarität auf die richtige Weise miteinander verwoben werden können, wobei es nicht darum gehe, irgendwo in der Mitte zwischen den beiden Extremen einen Kompromiss zu suchen; vielmehr müssten beide Verhaltensweisen auf ihre jeweiligen Voraussetzungen, Grenzen und Bedingungen hin analysiert werden, um Zuordnungen zu finden, in denen sie sich wechselseitig so durchdringen und begrenzen, dass eine konstruktive soziale Dynamik entsteht. Konkret heiße das zum Beispiel: Konkurrenz ist so zu lenken, dass sie dem Wohl der Schwächsten und einer umfassenden menschlichen Entwicklung dient; Solidarität ist nicht (nur) paternalistisch-fürsorglich und mildtätig-helfend, sondern reziprok-egalitär als Ermöglichung von Leistung, als Hilfe zur Selbsthilfe zu gestalten. In seinem Aufsatz Konkurrenz – Ordnungsprinzip zwischen Integration und Desintegration analysiert PETER IMBUSCH die Bedeutung von Konkurrenz für die Integrations- und Desintegrationsproblematik moderner Gesellschaften. Dazu beleuchtet er, auf der Basis einer Reflexion auf soziologische Einsichten zu Wesen und Gehalt von Konkurrenz, unterschiedliche Arten und Formen von Konkurrenz bezüglich ihrer Konsequenzen für ökonomische, politische, soziale und kulturelle Integration oder aber Desintegration. Dabei unterscheidet er analytisch die sozialstrukturelle Ebene der Teilhabe an materiellen und kulturellen
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Gütern (positionale Anerkennung), die institutionelle Ebene der Sicherstellung des Ausgleichs konfligierender Interessen (moralische Anerkennung) und die personale Ebene der Herstellung emotionaler bzw. expressiver Beziehungen zwischen Personen zum Zwecke von Sinnstiftung und Selbstverwirklichung (emotionale Anerkennung). So kann der Autor nicht nur soziale und systemische Integrations- und Desintegrationsaspekte differenzieren, sondern, jenseits vereinfachender Gleichsetzungen von Stabilität und Integration bzw. Integration und Konfliktfreiheit, auch unterscheiden zwischen positiver und negativer Integration (Stabilität/Sicherheit versus Zwang/Kontrolle) bzw. zwischen positiver und negativer Desintegration (sozialer Wandel/innovative Abweichungen versus Ausgrenzung/Gewalt). Das Ergebnis ist eine differenzierte Analyse der Möglichkeiten und Grenzen konkurrenzbasierter Integration in modernen Gesellschaften. Diese führen den Autor zu dem Schluss, dass die Integrationsmechanismen moderner Gesellschaften mit der Ausbreitung des Konkurrenzprinzips immer stärker unter Druck geraten werden. Nur durch ein geordnetes Verhältnis von Konkurrenz und Kooperation sowie eine effektive Einhegung des Konkurrenzprinzips könne gesellschaftliche Integration befördert und soziale Desintegration vermieden werden. Der Beitrag Individualisierung durch Konkurrenz. Grundlagen und Entwicklungsdynamik antagonistischer Kooperation von MAGNUS SCHLETTE fundiert Konkurrenz in den grundlegenden Reziprozitätsverhältnissen sozialer Kooperation und fragt nach ihrer strukturellen Bedeutung für die Individuierung von Lebenspraxis. Konkurrenzverhältnisse werden in der Wechselbeziehung von sozialen Bewährungserwartungen und individuellen Anerkennungsforderungen verortet; im Rahmen dieser Wechselbeziehung fokussiert Schlette spezifisch solche Konkurrenzverhältnisse, die durch die gemeinsame Orientierung der sozialen Akteure an Maßstäben des adverbiell Guten (im Unterschied zum prudentiell Guten und zum moralisch Guten) orientiert sind. Schlettes These lautet, dass Konkurrenzverhältnisse durch die Wechselbeziehung von Bewährungserwartung und Anerkennungsforderung begünstigt werden und ihrerseits zur fortschreitenden Individualisierung dieser Wechselbeziehung führen. Darin sieht er zugleich Chancen und Gefahren für die Individuierung von Lebenspraxis. Der Aufsatz Konkurrenz der Religionen? von ROLF SCHIEDER setzt sich kritisch mit der Anwendung der rational choice-Theorie auf Religionen auseinander, speziell mit dem Modell eines ›Marktes der Religionen‹. Zunächst charakterisiert der Autor dieses Modell, das einen Paradigmenwechsel in der Religionsforschung bewirkt hat, und würdigt, dass es maßgeblich zur Infragestellung des Säkularisierungsnarrativs beigetragen und die Reformbedürftigkeit
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kirchlicher Angebote in den Blick gerückt hat. Sodann fragt er nach den Grenzen des religionsökonomischen Marktmodells: Ist das für die USA entwickelte Modell auf andere Regionen übertragbar? Sind Religionskulturen überhaupt hinreichend mit Begriffen wie ›Produkt‹, ›Konsument‹, ›Konkurrent‹ und ›Markt‹ erfassbar? Seine Antworten entwickelt der Autor ausgehend von Luhmanns Bestimmung, dass die Funktion von Religion darin liege, das Problem der Kontingenz erträglich zu machen. Dabei thematisiert er zugleich, inwiefern der Glaube an das Funktionieren der Märkte selbst Züge von Religiosität trägt, inwiefern christliche Techniken der Selbstregierung instrumentalisierbar sind für das neoliberalistische Ideal unternehmerischer Individualität, inwiefern den Religionsgemeinschaften durch religiöse Aufladungen politischer oder sozialer Phänomene neue Konkurrenzen entstehen und inwiefern nicht etwa Geltungssucht, sondern der Wunsch nach Anerkennung viele Menschen in das Konkurrenzparadigma einwilligen lässt. Deutlich wird, dass das Marktmodell den Religionen in einem doppelten Sinne nicht gerecht wird: weil Religionen keine Marktgüter für rationale Konsumenten sind; und weil das Interesse an ihnen in Identifikationsangeboten gründet, die jenseits leistungsbewertender Konkurrenzbeziehungen liegen und zu einer Kultur der Anerkennung gehören, ohne die Konkurrenz gnadenlos ist. Unter dem Titel Konkurrenz und Kompetenz entwickelt REINHARD SCHULZ eine Kritik der Strategie, auf den forcierten Leistungsanspruch und Konkurrenzdruck in nahezu allen Lebensbereichen zu reagieren, indem man vielfältige Kompetenzen auszubilden versucht. Er geht davon aus, dass Kompetenz mittlerweile zum erklärten Ziel unserer Bildungsinstitutionen geworden ist und deren altes Bildungsideal abgelöst hat. Dieser Umbruch sei jedoch mit einem Unbehagen gepaart, das sich für den Einzelnen in einer ganzen Fülle negativer Begleitsymptome wie Unrast, Stress, Depression und Gefühlen von Lust- und Sinnlosigkeit offenbaren kann. Deshalb und weil die Erfolgsversprechen der Kompetenzerweiterung allzu häufig unerfüllt blieben, sei jene Strategie jedoch auch in Misskredit geraten. Diese Konstellation mache es notwendig, über das Verhältnis von Konkurrenz und Kompetenz neu philosophisch nachzudenken. Dazu geht Schulz vier Fragen nach: 1. Besteht zwischen Konkurrenz und Kompetenz eine kausale Beziehung oder kann Kompetenzentwicklung auch bisher nicht gekannte Konkurrenzen hervorbringen? 2. Handelt es sich bei Konkurrenz um eine natürliche Tatsache oder eher um die Folge einer bestimmten kapitalistischen Produktionsweise? 3. Kann sich der Kompetenzbegriff im Vergleich etwa mit dem Bildungs-, Emanzipations- oder Aufklärungsbegriff bewähren oder soll er diese Begriffe auf eine fragwürdige Weise ›überwinden‹ helfen? 4. Besitzen Begriffe
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wie Konkurrenz und Kompetenz überhaupt genügend historische Trennschärfe, um die moderne Gesellschaft angemessen beschreiben zu können; oder besteht nicht vielmehr die Gefahr, dass vor allem der Glaube an die Kompetenz der Anderen Konkurrenzgefühle negativer Art in uns wachrufen kann? Der Autor gelangt unter anderem zu dem Schluss: Im Hinblick auf den Zusammenhang von Konkurrenz und Kompetenz muss dem Lernen gepaart mit sich selbst bewusst werdender Erfahrung im Unterschied zum Lernen gepaart mit standardisierbarer Kompetenz größere Aufmerksamkeit geschenkt werden. Erforderlich sei ein Kompetenz und Bildung vermittelnder Lernbegriff. Der Beitrag Konkurrenz im Gesundheitssystem von A. KATARINA WEILERT und JULIA PFITZNER differenziert zunächst drei Ebenen von Konkurrenz, die für das Gesundheitssystem relevant sind: die Makroebene, auf der es mit anderen Gesellschaftssystemen bzw. Politikbereichen um Ressourcen konkurriert, die Mesoebene, auf der die unterschiedlichen Bereiche innerhalb des Gesundheitssystems miteinander um dessen Budget konkurrieren, und die Mikroebene individueller Konkurrenzen der Patienten um Anteile an Gesundheitsdienstleistungen. Im Hauptteil wird – mit einem Fokus auf die juristische und die ethische Perspektive – differenziert analysiert zum einen die Konkurrenz zwischen Gesetzlicher Krankenversicherung und Privater Krankenversicherung, also zwischen einem solidarischen und einem marktwirtschaftlich organisierten Ansatz, zum anderen der Umgang mit Konkurrenz um Gesundheitsleistungen innerhalb der Gesetzlichen Krankenversicherung, womit auch thematisiert ist, inwiefern innerhalb eines solidarisch konzipierten Systems Optimierungen mittels des Konkurrenzprinzips möglich und ethisch vertretbar sind. So widmet sich der Beitrag dem drängenden gesellschaftlichen Problem der Verteilungsgerechtigkeit, Kostenbegrenzung und Effektivität im Gesundheitswesen. Der Gesundheitsmarkt ist hoch reguliert und gleichwohl stark umkämpft. In seinem Beitrag Die Inszenierung von Alternativen. Zur Konkurrenz bio- und alternativmedizinischer Heilverfahren im Gesundheitswesen untersucht THORSTEN MOOS die Inszenierung dieser Konkurrenz, die auf ganz unterschiedlichen Bühnen ausgetragen wird: von Krankenkassen, die mit Zusatzangeboten um gut ausgebildete und solvente Kunden werben, über Arztpraxen, die Individuelle Gesundheitsleistungen anbieten, sowie Angebote von Heilpraktikern bis zur Selbstmedikation. Der Autor macht deutlich, dass diese Inszenierung nicht nur den Markt strukturiert, sondern auch die gesellschaftliche Kommunikation über Krankheit und Gesundheit sowie über Chancen, Grenzen und Aporien der Medizin prägt bzw., anders betrachtet, Grundprobleme des Krankseins und des Therapierens unter den Bedingungen eines modernen, hoch ausdifferenzierten
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Medizin- bzw. Gesundheitssystems reflektiert. Dabei zeigt sich, dass die Alternativmedizin nicht nur auf der Ebene hybrider Praktiken, sondern auch auf der Ebene der deutenden Reflexion von Kranksein und Heilen integraler Bestandteil moderner Medizinkultur ist. Die Inszenierung der Konkurrenz von Bio- und Alternativmedizin untersucht der Autor exemplarisch in drei Zugängen: Zunächst analysiert er die Homöopathie als Antipoden biomedizinischer Professionalisierung im 19. Jahrhundert. Dann untersucht er den gegenwärtigen Gesundheitsmarkt anhand alternativmedizinischer Populärzeitschriften. Schließlich nimmt er die Terlusollogie als Heilverfahren jüngeren Datums in den Blick. Dabei fragt er jeweils, auf welchen Feldern Konkurrenz inszeniert wird, in welchen Formen dies geschieht, welche Struktur von Konkurrenz im Blick ist und wie diese Konkurrenz handhabbar gemacht wird. Den Abschluss des Bandes bildet der Beitrag von JÖRG THOMAS RICHTER: Von Deutungsmacht und Bücherschlacht. Vermerke zu literarischen Konkurrenzen. Der Autor analysiert, in zwei Perspektiven, inwiefern Konkurrenz bzw. Wettstreit die Literatur prägt: extrapoietisch als Sujet der Literatur und intrapoietisch als Verfahren der Literatur. Mit Blick auf das Sujet belegt Richter anhand zahlreicher literarischer Texte, dass die Thematisierung von Konkurrenz in der Literatur sich – ganz im Sinne von Karl Mannheims Bestimmung der Konkurrenz als eine allgemeine soziale Beziehung – keineswegs auf ökonomische Konkurrenz beschränkt, auch wenn der New Economic Criticism eine ihrer prominenten Richtungen ist. Richter zeigt, dass Literatur darüber hinaus Thematisierungen, ja produktive Entfaltungen einer großen Vielfalt extraökonomischer Konkurrenzsemantiken bzw. agonistischer Auseinandersetzungen beinhaltet, wobei ihre Reflexionen sich eher aus der Spannung zur Episteme der Wissenschaften über Konkurrenz entfalten als in Komplementarität mit dieser Episteme. Mit Blick auf das Verfahren der Literatur macht Richter anschaulich, wie Wettbewerb auf poetologischer Ebene als grundlegende Produktionsverfahren fungiert. Er fokussiert dabei auf zwei Topoi der produktiven Auseinandersetzung mit Traditionen und mit zeitgenössischen Widerparten: zum einen auf den literarischen Agon, einen Wettstreit zwischen Kontrahenten innerhalb eines Metiers vor Publikum um dessen Anerkennung bzw. um Meisterschaft und Ruhm, wobei der Autor sich auf die Analysen von Jacob Burckhardt und Friedrich Nietzsche stützt; zum anderen fokussiert er auf die poetische Konkurrenz der Bücherschlacht am Anfang des 18. Jahrhunderts, deren Hintergrund die lodernde Querelle des Anciens et des Modernes bildet.
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Vom Recht zur Ökonomie ›Konkurrenz‹ im römischen Recht, in der Schule von Salamanca und bei den französischen Physiokraten H ANS -M ICHAEL E MPELL
E INFÜHRUNG Dieser Beitrag ist der Geschichte des Begriffs der Konkurrenz gewidmet. Da das Wort ›Konkurrenz‹ auf das lateinische Verb concurrere (zusammenlaufen) zurückgeht und der Begriff der Konkurrenz häufig im geltenden Recht verwendet wird, liegt es nahe, den Ursprung des modernen Konkurrenzbegriffs im Recht, und das heißt: im römischen Recht, zu suchen. Im ersten Abschnitt wird deshalb der Frage nachgegangen, welche Bedeutung der Terminus concurrere im klassischen römischen Recht hatte. Seit dem 11. Jahrhundert wurde dieses Recht in Westeuropa rezipiert; das gesamte moderne Recht ist davon geprägt. Im zweiten Abschnitt wird der Begriff der Konkurrenz behandelt, wie ihn Theologen und Juristen der spanischen Spätscholastik, genauer: der Schule von Salamanca (16./ 17. Jahrhundert), verwendet haben, und zwar erstmals expressis verbis in einem ökonomischen Kontext. Im dritten Abschnitt wird auf die Bedeutung des Konkurrenzbegriffs in der französischen Sprache des 16. bis 18. Jahrhunderts, insbesondere bei den Physiokraten, den Vertretern einer ökonomischen Lehre der französischen Aufklärung (18. Jahrhundert), eingegangen.
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UND
IM IUS COMMUNE Wortbedeutungen Das Verb concurrere (Substantiv: concursus) bedeutet zum einen: »zusammenlaufen, eilig zusammenkommen, von allen Seiten herbeieilen«.1 Es wird also eine zielgerichtete Tätigkeit mehrerer Personen bezeichnet: das Laufen, das zum gleichen Ort führen soll. Zum anderen hat concurrere die Bedeutung: »von zwei oder mehreren Seiten zusammentreffen, sich zugleich einfinden«. Gemeint ist, dass die Laufenden ihr Ziel erreicht haben und nun am gleichen Ort zusammenkommen. Eine Variante dieser zweiten Bedeutung ist: »hart zusammentreffen, zusammenstoßen, miteinander kollidieren«. Das Wort wird auch metaphorisch verwendet, zum Beispiel: multa concurrunt simul – »viele Ereignisse treten gleichzeitig auf«. Klassisches römisches Recht Die Worte concurrere/concursus kommen nicht nur im allgemeinen Sprachgebrauch vor, sondern auch im klassischen römischen Recht.2 Mit diesem Begriff werden hier nicht Gesetze, Senatsbeschlüsse und andere offizielle Regelungen und Entscheidungen bezeichnet, sondern die rechtswissenschaftliche Literatur, wie sie in der Zeit vom 1. Jahrhundert nach Christus bis zur ersten Hälfte des dritten Jahrhunderts nach Christus publiziert wurde. Diese überwiegend auf das Zivilrecht bezogenen Schriften (Lehrbücher, Kommentare, Sammlungen von Gutachten, Monographien zu spezifischen Rechtsfragen) hatten nicht, wie in der rechtswissenschaftlichen Literatur heute üblich, Analysen von Gesetzen oder anderen amtlichen Regelungen zum Inhalt, sondern überwiegend Entscheidungen wirklicher oder hypothetischer Einzelfälle und der damit verbundenen rechtlichen Fragen. Die Juristen, die als Verfasser solcher Schriften auftraten, waren die ersten, die eine rechtswissenschaftliche Literatur geschaffen haben. Diese Literatur hatte ein so hohes Niveau, dass auch heute noch vom »klassischen« römischen Recht gesprochen wird. Wenn im Hinblick auf die Entscheidung eines Falles oder eines juristischen Problems zwischen den Juristen Einigkeit bestand, 1 2
Georges 1972: 1413 ff. Im Vocabularium Iurisprudentiae Romanae 1903: 867 f. findet sich concurrere 50 Mal, concursus 14 Mal. Bedenkt man den großen Umfang der überlieferten Quellen zum römischen Recht, sind dies recht geringe Zahlen.
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wurde dieser Konsens offiziell als geltendes Recht anerkannt. Der Jurist Gaius3 stellte dazu in seinen Institutiones, einem Studienlehrbuch für Anfänger, fest: »Wenn die Meinungen aller dieser Gelehrten [das heißt: der Juristen] übereinstimmen (concurrant), so steht das, was sie derart als Meinung äußern, einem Gesetz gleich.«4 Concurrant bezieht sich auf das inhaltliche »Zusammenkommen«, das heißt: die Übereinstimmung von rechtlichen Positionen.5 Ein weiteres Beispiel für den Gebrauch von concurrere bildet eine Äußerung des Juristen Papinian,6 der im 17. Buch seiner Quästionen schrieb: »Wenn zweien ein Nießbrauch jahrweise abwechselnd vermacht worden ist und sie sich jeweils auf ein und dasselbe Jahr einigen, steht dem im Wege, dass der Erblasser offenbar nicht gewollt hat, dass sie in der Nutzung zusammentreffen (concurrerent) […]. Denn wenn sie in der Nutzung zusammentreffen (concurrere) wollen, steht einer dem anderen wegen des Willens [des Erblassers] im Wege oder, falls dieser kein Hindernis ist, bleibt der Nießbrauch jedes zweite Jahr ungenutzt.«7
Papinian behandelt den Fall, dass ein Erblasser in seinem Testament zwei Personen durch ein Vermächtnis begünstigt hat: Sie haben ein Nutzungsrecht an einem Gegenstand (vielleicht einem Grundstück), dürfen die Sache aber nur im Jahresrhythmus abwechselnd nutzen. Papinian fragt, ob es gleichwohl erlaubt sei, dass 3
Gaius lebte im zweiten Jahrhundert nach Christus; er muss sich längere Zeit in der Provinz aufgehalten haben; gestorben ist er nach 178; vgl. Gaius 2010: 11 ff.
4
»Quorum omnium si in unum sententiae concurrant, id, quod ita sentiunt, legis vicem optinet.« (Gaius: Inst 1,7; zitiert nach Gaius 2010: 38) Diese Stelle und die folgenden Zitate aus den Schriften der klassischen römischen Juristen werden mit den Siglen gekennzeichnet, die in der Wissenschaft vom römischen Recht üblich sind.
5 6
Heumann/Seckel 1914: 87 sub verbo: concurrere 5. Aemilius Papinianus, einer der angesehensten römischen Juristen, lebte um die Wende vom zweiten zum dritten Jahrhundert nach Christus. Im Jahre 212 wurde er auf Befehl Caracallas hingerichtet, weil er nicht bereit war, den Mord des Kaisers an seinem Bruder und Mitregenten Geta zu rechtfertigen. (Waldstein/Rainer 2005: 208)
7
»Cum singulis fructus alternis annis legatur, si consentiant in eundem annum, impediuntur, quod non id actum videtur, ut concurrerent: […] nam si concurrere volent, aut impedient invicem propter voluntatem aut, si ea non refragabitur, singulorum annorum fructus vacabit.« (D. 7,4,2,2; Hervorhebungen H.-M. E.) Dieses Fragment und die folgenden römisch-rechtlichen Texte sind, anders als die in Fußnote 4 wiedergegebene Gaius-Stelle, im Corpus Iuris Civilis überliefert; sie werden nach der Ausgabe von Theodor Mommsen zitiert; vgl. Mommsen: 1973.
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die Begünstigten sich auf eine gleichzeitige Nutzung einigen; er verneint die Frage. Die gleichzeitige Nutzung wird hier mit concurrere bezeichnet. Dies ist eines von mehreren Beispielen dafür, dass die klassischen Juristen concurrere gebrauchten, wenn zwei oder mehr Personen gleiches Recht oder gleichen Anteil an etwas hatten (wobei Papinian in dem dargestellten Fall entschied, dass ein solches Recht nicht bestand).8 Ein besonders wichtiges, für den Sprachgebrauch folgenreiches Beispiel der Verwendung von concurrere stammt von dem Juristen Paulus,9 der im 33. Buch seines Kommentars zum Edikt des Prätors10 schrieb: »Der Ursprung des Kaufens und Verkaufens begann mit dem Tausch; vor alters nämlich gab es noch keine Münze und man hatte noch nicht für das eine den Namen ›Ware‹ und für das andere ›Kaufpreis‹, sondern ein jeder vertauschte nach dem Bedürfnis der Zeiten und Umstände ihm unbrauchbare Dinge gegen brauchbare, da es normalerweise der Fall ist, dass dem einen das mangelt, was der andere übrig hat. Weil es sich aber nicht immer und leicht traf (concurrebat), dass, wenn du hattest, was ich wünschte, auch ich dagegen hatte, was du erhalten wolltest, wurde ein Stoff ausgewählt, dessen allgemeiner und unwandelbarer Wert den Schwierigkeiten des Tauschhandels durch Gleichheit des durch das öffentliche Ansehen beigelegten Wertes abhelfen sollte«11.
Paulus erklärt, warum das Geld und der Kauf als eine Vertragsart eingeführt wurden. Der Kauf hat sich danach aus dem Tausch entwickelt, und zwar aufgrund einer Notlage, in der passende Tauschpartner nicht oder nicht leicht »zusammengekommen« sind. Damit widerspricht Paulus einer älteren, von römischen Juristen vertretenen Auffassung, wonach der Kauf als die ursprüngliche Vertragsart an-
8 9
Heumann/Seckel 1914: 87; hier auch weitere Beispiele sub verbo: concurrere 3a. Iulius Paulus lebte um die Wende vom zweiten zum dritten Jahrhundert nach Christus (Waldstein/Rainer 2005: 208 f.).
10 Im Edikt des Prätors, des obersten römischen Gerichtsbeamten, waren sämtliche rechtlich anerkannten Ansprüche zusammengestellt, die im Wege der Klage durchgesetzt werden konnten (Kaser/Knütel 2014: 26 f.). 11 »Origo emendi vendendique a permutationibus coepit. olim enim non ita erat nummus neque aliud merx, aliud pretium vocabatur, sed unusquisque secundum necessitatem temporum ac rerum utilibus inutilia permutabat, quando plerumque evenit, ut quod alteri superest alteri desit. sed quia non semper nec facile concurrebat, ut, cum tu haberes quod ego desiderarem, invicem haberem quod tu accipere velles, electa materia est, cuius publica ac perpetua aestimatio difficultatibus permutationum aequalitate quantitatis subveniret« (D. 18,1,1pr; Hervorhebung H.-M. E.).
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zusehen ist.12 Von weitreichender Bedeutung ist es, dass Paulus einen ökonomischen Kontext voraussetzt: Er bezieht sich implizit auf den Markt als den Ort, an dem Tausch- oder Kaufverträge typischerweise geschlossen werden. Paulus spricht jedoch nicht bloß das Zusammenkommen von Menschen auf einem Markt an; er setzt vielmehr voraus, dass Menschen mit korrespondierenden Bedürfnissen zusammentreffen, sodass Tausch- oder Kaufverträge geschlossen werden können. Die bisher angeführten Beispiele für concurrere stimmen darin überein, dass dieses Wort nicht nur in seiner ursprünglichen Bedeutung (zusammenlaufen), sondern auch metaphorisch gebraucht wird: Es bezeichnet ein harmonisches Zusammenkommen von Menschen, Interessen oder inhaltlichen Positionen. Damit ist die Verwendung von concurrere im römischen Recht jedoch noch nicht erschöpfend beschrieben. Eine wesentliche Aufgabe des Zivilrechts besteht darin, widerstreitende Interessen von Einzelpersonen auszugleichen, um einen gewaltsam ausgetragenen Konflikt zu vermeiden. Deshalb liegt es nahe, dass concurrere auch mit einer Konnotation verbunden wird, die sich auf problematische, regelungsbedürftige Fälle bezieht. Ein charakteristisches Beispiel stammt von dem Juristen Ulpian13 aus dem 28. Buch seines Kommentars zum Edikt des Prätors: »Wenn mehrere Klagen wegen derselben Sache zusammentreffen (concurrunt), kann man nur eine einzige erheben.«14 Ulpian behandelt den Fall, dass einer Person im Hinblick auf den gleichen Streitfall zwei oder mehr Ansprüche (Klagearten) gegen eine andere Person gleichzeitig zur Verfügung stehen. So hat zum Beispiel ein Bestohlener mehrere Klagen gegen den Dieb: eine Klage als Eigentümer auf Herausgabe der Sache, eine Klage auf Wertersatz wegen »ungerechtfertiger Bereicherung« und noch eine Reihe weiterer Klagen. Ulpian stellt fest, dass der Kläger immer nur eine einzige Klage geltend machen darf. Das Zusammentreffen von zwei oder mehr Klagearten in einer Person und in der gleichen Sache bezeichnet er mit concurrere. Weitere Beispiele aus den Texten der klassischen Juristen für eine solche Konstellation ließen sich anführen.15 Die Klagearten sind nicht unabhängig von einander, son12 Meder 1996: 33/Anmerkung 18. 13 Domitius Ulpianus, in Phönikien geboren, lebte um die Wende vom zweiten zum dritten Jahrhundert nach Christus. Er war Leiter der kaiserlichen Kanzlei. Bei einem Aufstand der Prätorianergarde wurde er im Jahre 223 nach Christus ermordet (Waldstein/Rainer 2005: 209). 14 »Quotiens concurrunt plures actiones eiusdem rei nomine, una quis experiri debet.« (D. 50,17,43,1) 15 Liebs 1972: 77 ff.
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dern stehen in einem problematischen Verhältnis, das eine rechtliche Regelung erforderlich macht. Den Fall, dass eine Person zwei oder mehr Straftaten begeht, behandelte Ulpian im 43. Buch seines Kommentars zu Sabinus: »Begeht eine Person zwei oder mehr Verbrechen, hat dies nicht zur Konsequenz, dass ein Verbrechen ungestraft bleibt; alle Verbrechen werden bestraft.«16 Ein solcher Fall bildet das logische Gegenstück zu einer Konkurrenz von Klagen. Der Jurist Paulus veröffentlichte eine Schrift mit dem Titel De concurrentibus actionibus.17 Justinianisches Recht Der oströmische (byzantinische) Kaiser Justinian gab 530 nach Christus mehreren Rechtsprofessoren und Anwälten den Auftrag, die damals noch weitgehend vollständig überlieferte klassische Rechtsliteratur in Auszügen zu kompilieren. So entstanden die Digesten, auch Pandekten genannt.18 Sie bildeten den umfangreichsten Teil eines neuen Gesetzbuchs für das gesamte oströmische Reich. Vorangestellt wurden die »Institutionen«, eine Einführung in das Recht, die nicht nur den ersten Teil des Gesetzbuchs ausmachte, sondern auch als Lehrbuch für die Studienanfänger an den oströmischen Rechtsschulen gedacht war. Den Abschluss bildeten zwei Sammlungen von Kaisergesetzen, der Codex und die Novellen. Seit dem Mittelalter wird dieses Gesetzbuch als Corpus Iuris Civilis bezeichnet. In den Institutionen findet sich ein weiteres Beispiel für concurrere, und zwar im Zusammenhang mit einer Problematik, die sich auf die Übereignung von Sachen bezieht. Eine wirksame Übereignung verlangt nach römischem Recht nicht nur die Übergabe der Sache (traditio), sondern auch einen rechtlichen Grund für die Übereignung, zum Beispiel: Kauf, Schenkung, Darlehen, Vermächtnis, Stipulation, das heißt: einen an den Austausch bestimmter, vorgeschriebener Worte gebundenen Vertrag, durch den Leistungen aller Art, auch Übereignungen, versprochen werden können.19 Ein solcher rechtlicher Grund 16 »Numquam plura delicta concurrentia faciunt, ut ullius impunitas detur: neque enim delictum ob aliud delictum minuit poenam.« (D. 47,1,2pr) Zu dieser Stelle: Geerds 1961: 6. 17 Waldstein/Rainer 2005: 208. 18 Die klassischen Juristenschriften sind, von wenigen Ausnahmen abgesehen, allein in den Digesten Justinians überliefert, und zwar nur in Auszügen. Den Anfang eines jeden Fragments bildet die sog. Inskription; darin werden der Autor, der Titel der Schrift und das Kapitel (liber) genannt, dem die jeweilige Stelle entnommen ist. Auf dieser Grundlage ist es möglich, den Inhalt der Schriften der klassischen Juristen teilweise zu rekonstruieren. 19 Kaser/Knütel 2014: 235 ff.
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wird iusta causa traditionis, kurz: causa, genannt. In aller Regel wird eine Sache aufgrund einer einzigen causa übergeben. Rechtliche Probleme entstehen, wenn zwei causae gleichzeitig vorliegen. Dies ist zum Beispiel der Fall, wenn jemand in seinem Testament den Erben verpflichtet, einer bestimmten Person eine Sache zu übereignen (Vermächtnis), nach dem Tod des Erblassers der Erbe diese Sache aber an die gleiche Person verkauft. Es bestehen dann zwei Pflichten, die sich auf die gleiche Sache beziehen und der gleichen Person gegenüber zu erfüllen sind. Auf derartige Fälle gingen die Institutionen mit den folgenden Worten ein: »Denn es ist eine alte Regel, dass zwei unentgeltliche Erwerbsgründe in derselben Person und für dieselbe Sache nicht zusammentreffen (concurrere) können.«20 Die mit dem Vorliegen von zwei causae verbundene Problematik braucht an dieser Stelle nicht im Einzelnen dargelegt zu werden.21 In dem hier behandelten Zusammenhang ist allein von Bedeutung, dass concurrere verwendet wurde. Obwohl schon die klassischen Juristen in zahlreichen, in den Digesten überlieferten Stellen auf dieses Problem eingegangen waren, wurde erst in den Institutionen Justinians concurrere gebraucht, um ein Zusammentreffen von Erwerbsgründen zu bezeichnen. Dieses Wort bezieht sich hier auf ein juristisch problematisches Zusammentreffen, das durch rechtliche Regelungen geordnet werden muss. Ius commune Nachdem eine im 6. Jahrhundert in Byzanz entstandene Handschrift der Digesten im 11. Jahrhundert in Oberitalien (Pisa) entdeckt wurde, kam es zu einer Renaissance des römischen Rechts in Westeuropa. Das Corpus Iuris Civilis wurde als ratio scripta und damit als die Quelle juristischer Wahrheit anerkannt. Das justinianische Recht wurde zunächst an der Universität von Bologna, bald darauf an allen europäischen Universitäten erforscht und gelehrt. Anfangs beschränkten sich die Gelehrten auf Glossen (Randbemerkungen) zum Text des Corpus Iuris, später verfassten sie zahllose Kommentare, Abhandlungen und Lehrbücher, in denen sie das im Corpus Iuris kodifizierte Recht darstellten, erläuterten und (auch im Sinne aktueller praktischer Bedürfnisse) interpretierten. So bildete sich ein Recht heraus, das für ganz Europa Geltung beanspruchte, das gemeine (das heißt: allgemeine) Recht, auch ius commune genannt. Dieses Recht wurde in zahlreichen Staaten Europas rezipiert. Die Rezeption hat nicht allein das europäische Zivilrecht geprägt. Die im gemeinen Recht entwickelten, juristischen Methoden 20 »nam traditum est duas lucrativas causas in eundem hominem et in eandem rem concurrere non posse«. (Inst 2,20,6) 21 Zu den Einzelheiten: Pfeil 1998.
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und Grundbegriffe sind die Basis des gesamten modernen Rechts geworden. Erst durch die nationalen, zivilrechtlichen Kodifikationen des 18. und 19. Jahrhunderts, die vom gemeinen Recht stark beeinflusst sind, hat es seine rechtliche Geltung verloren, in Deutschland durch In-Kraft-Treten des Bürgerlichen Gesetzbuchs (01.01.1900).22 Die an den Universitäten tätigen Juristen haben das Corpus Iuris geistig erschlossen, indem sie vor allem die in den Digesten zusammengestellten Fallentscheidungen auf allgemeine Prinzipien, Regeln und Begriffe zurückgeführt haben, die im Gesetzbuch selbst zum größten Teil nicht, zumindest nicht explizit, enthalten waren. Wurde zum Beispiel das Zusammentreffen von zwei Erwerbsgründen (causae) in den Institutionen Justinians noch mit dem Verb concurrere beschrieben, so entstand nun ein fester Begriff: concursus duarum causarum. Sprachlich wird der Übergang von der Metapher zum Begriff deutlich am Wechsel vom Verb zum Substantiv. Dies zeigt sich auch in den Fällen, in denen mehrere Klagearten erlaubt sind und mehrere Verbrechen vorliegen. So entstand der Begriff concursus actionum, der noch heute in der »Anspruchskonkurrenz« des geltenden Zivilrechts weiterlebt.23 Der concursus delictorum hat seine Fortsetzung im geltenden Strafrecht gefunden, in dem noch zwischen Ideal-, Realund Gesetzeskonkurrenz unterschieden wird. Die Begriffe concursus duarum causarum, concursus actionum und concursus delictorum waren oft gebrauchte, juristische Fachbegriffe.24 Jeder Jurist war damit vertraut. Ein weiterer, hier einschlägiger Begriff wurde im gemeinen Recht entwickelt, der im römischen Recht noch nicht enthalten war. Wenn ein Schuldner zahlungsunfähig ist, »kommen« die Gläubiger »zusammen« (concurrere), um möglichst viel aus dem noch vorhandenen Vermögen des Schuldners zu erlangen. Im gemeinen Recht wurde dafür ein eigenes Verfahren entwickelt. Darin war festgelegt, in welcher Rangfolge und mit welcher Quote die Gläubiger aus dem Vermögen des Schuldners befriedigt werden müssen. Ein frühes, für die Verbreitung des Wortes ›Konkurs‹ folgenreiches Zeugnis stammt von dem spanischen Juristen Francisco 22 Zuvor war das gemeine Recht noch für etwa ein Drittel der Bevölkerung des Deutschen Reiches (circa 16,5 Millionen Einwohner) maßgeblich (Kaser/Knütel 2014: 12). 23 Bachmann 2010: 35 ff. In einem engen Zusammenhang mit der Anspruchskonkurrenz steht die »Konkurrenz« von Ämtern, Behörden und Kompetenzen, die seit dem 18. Jahrhundert nachweisbar ist; vgl. Deutsches Rechtswörterbuch 2004. 24 Liebs 1972: 27 führt Literatur zum concursus actionum aus dem 17. bis 19. Jahrhundert an; Literaturangaben zum concursus delictorum aus etwa der gleichen Zeit bei Köstlin 1855: 537/Anmerkung 1; vgl. auch die Literaturangaben bei Lang 2008: 38/Anmerkung 84, 39/Anmerkung 87, 43/Anmerkung 109.
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Salgado de Somoza (1591–1665), der im Jahre 1651 eine Abhandlung mit dem Titel Labyrinthus Creditorum Concurrentium publizierte.25 Wolfram Henckel ist der Auffassung, der Ausdruck concursus creditorum entspreche der im klassischen römischen Recht verwendeten Bedeutung von concurrere: »Zusammenlaufen mehrerer in Bezug auf ein Recht«; diese Bedeutung dürfte geeignet erschienen sein, um das Verfahren zur Befriedigung der Gläubiger auf einen Begriff zu bringen.26 Die Termini concursus duarum causarum, concursus actionum und concursus delictorum haben wohl auch als sprachliche Muster gedient. In all diesen Fallkonstellationen geht es darum, ein problematisches Zusammentreffen mehrerer Personen oder Rechtsinstitute zu regeln; ähnlich ist die Situation der Gläubiger, wenn ein Schuldner zahlungsunfähig ist. Salgado de Somozas Werk war in ganz Europa, auch in Deutschland, von großem Einfluss.27 Der Terminus concurs war zwar schon von dem Arzt und Philosophen Theophrast von Hohenheim, genannt Paracelsus (vermutlich 1493–1541), wie viele andere Fremdworte auch, in die deutsche Sprache eingeführt worden.28 Erst seit dem 18. Jahrhundert ist concurs/Konkurs aber in der deutschen Rechtssprache nachweisbar.29 Das Wort ›Konkurs‹ wurde seit dem 19. Jahrhundert auch in Gesetzen verwendet30 und hat schließlich in die deutsche Umgangssprache Eingang gefunden. Zum ius commune gehörte nicht nur das auf der Basis des römischen Rechts entwickelte, weltliche Zivilrecht, sondern auch das kanonische Recht, das im Corpus Iuris Canonici kodifiziert war. Erst im Jahre 1917 wurde es durch den Codex Iuris Canonici abgelöst. Das Wort concurrere wird im Corpus Iuris Canonici manchmal verwendet, zum Beispiel im Decretum Gratiani, einer um 1140 von dem Mönch Gratian kompilierten Sammlung kirchenrechtlicher Do25 Becker 2013: 99 ff. 26 Henckel 1999: 344 f. 27 Forster 2009: 1 f., 295 ff. 28 Weimann 1963: 395. Paracelsus hat das Wort concurs 1537/1538 in seiner ursprünglichen Bedeutung als »Zusammentreffen, Auflauf« in die deutsche Sprache eingeführt (Hohenheim 1925: 125). Paracelsus schreibt in seinem Werk »Die verantwortung uber ezlich verunglimpfung seiner misgünner« (1538): »der zulauf und concurs möcht manchen erschrecken, das er abstünde dem klapperer sein maul zuverstopfen.« (Hohenheim 1965: 498). 29 Deutsches Rechtswörterbuch 1974–1983: 1244 f.; die früheste Quelle stammt von 1727. Im »Lexicon Juridicum Romano-Teutonicum« von Oberländer (1753/2000: 167) wird das Stichwort concursus creditorum genannt. 30 In der Sprache der Gesetze wurde »Konkurs« erstmals im 19. Jahrhundert gebraucht, z.B. in der Preußischen Konkursordnung vom 08.05.1855; vgl. Henckel 1999: 344.
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kumente. Dort heißt es zum Beispiel: »Wenn ein Kleriker mit einem anderen Kleriker im Streit steht, darf er seinen Bischof nicht übergehen und zu einem weltlichen Gericht eilen (concurrat).«31 Das Wort concurrat wird hier verwendet, um eine körperliche Bewegung zu bezeichnen. Überhaupt wird concurrere im Corpus Iuris Canonici nicht in einem spezifisch rechtlichen Sinn gebraucht, sondern umgangssprachlich.32 Zusammenfassend lässt sich feststellen: Das Wort concurrere wurde im römischen und gemeinen Recht vor allem metaphorisch verwendet. Zum Teil wurde concurrere gebraucht, um ein harmonisches Nebeneinander von Menschen oder rechtlichen Institutionen zu bezeichnen; zum Teil aber auch, wenn das Zusammentreffen zweier Personen oder Rechtsinstitute die Gefahr eines Konfliktes barg und das Recht eine Regelung traf, durch die ein Konflikt vermieden werden sollte. Im gemeinen Recht hat sich concurrere von einer Metapher zum Bestandteil juristischer Fachbegriffe weiterentwickelt: concursus actionum, causarum, delictorum und creditorum.
›K ONKURRENZ ‹ IN
DER
S CHULE
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S ALAMANCA
Die Schule von Salamanca Im Zentrum der mittelalterlichen Wissenschaft, das heißt: bei den Kirchenvätern und in der Scholastik, stand die Theologie.33 Das Wirtschaftsleben wurde mit dem Ziel erforscht, theologisch-ethische Probleme zu klären, die im Zusammenhang mit ökonomischen Vorgängen auftraten. Eine umfassende Volkswirtschaftslehre wurde nicht entwickelt. Es wurden vielmehr einzelne ökonomische Fragen behandelt, die unter theologisch-moralischen Gesichtspunkten als fragwürdig erschienen: Wucher, Zins, Gewinn und gerechter Preis. Auch die sogenannte spanische Spätscholastik des 16. und 17. Jahrhunderts, die als »Schule von Salamanca« bezeichnet wird, ist insofern noch vom mittelalterlichen Denken geprägt. Im 15. und 16. Jahrhundert waren Teile des südlichen Amerika im Auftrag der spanischen Krone erobert und kolonisiert worden. Das inhumane Vorgehen der conquistadores gegen die einheimische Bevölkerung hatte zur Folge, dass theolo31 »Si clericus aduersus clericum habet negotium, non relinquat suum episcopum et ad secularia iudicia concurrat.« (Decretum Gratiani, Pars 2, causa XI, questio 1, c. XLVI/ Corpus Iuris Canonici 1 1959: 640) 32 Reuter/Silagi 1990: 791 f. 33 Diefenbacher 2001: 43 ff.
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gisch-ethische und juristische Kontroversen ausbrachen, die sich zum Beispiel auf die Frage bezogen, ob die Eroberung fremder Territorien zum Zweck der Mission rechtlich erlaubt sei, oder welcher Status der einheimischen Bevölkerung von Rechts wegen zukomme.34 Die Theologen und Juristen der Schule von Salamanca waren an solchen Diskussionen maßgeblich beteiligt. Da die Kolonisierung zu einem ökonomischen Aufschwung in Spanien geführt hatte, war es für die Gelehrten dieser Schule nahe liegend, sich auch ökonomischen Fragen zuzuwenden. So haben sie Grundlagen der modernen Volkswirtschaftslehre geschaffen.35 Charakteristisch für die Schule von Salamanca ist, dass die Jurisprudenz eine herausragende Stellung einnahm. Der Einfluss der Rechtswissenschaft ging so weit, dass juristische Begriffe in die Theologie übertragen wurden. Es besteht auch ein enger sachlicher Zusammenhang zwischen der Jurisprudenz und der Ökonomie, da zivilrechtliche Fragen oft ökonomische Sachverhalte betreffen. So war es nahe liegend, dass bei der Untersuchung ökonomischer Fragen ebenfalls juristische Begriffe verwendet wurden. Tatsächlich haben die Gelehrten der Schule von Salamanca concurrere/concursus, meistens in den spanischen Formen, in einem ökonomischen Kontext gebraucht. Beispiele für Konkurrenz Ein erstes Beispiel findet sich im Werk des Juristen Juan de Matienzo (1520– 1579), der das Wort ›Konkurrenz‹ häufig in einem ökonomischen Kontext verwendete.36 In seinem 1567 erschienenen Buch Gobierno del Peru ging er zum Beispiel auf die Königlichen Straßen des untergegangenen Inka-Reiches ein. Er stellte fest, einige von ihnen seien noch in Gebrauch, und erläuterte dies mit den Worten: Die Straßen wurden also benutzt »für ein großes (zahlreiches) Zusammenkommen von Leuten […] zum Zweck von Verhandlungen und Vertragsschlüssen in Potosí.«37 In seinen 1580 erschienenen Commentaria in librum quintum recollectionis legum Hispaniae erläuterte Matienzo ein im Jahre 1528 von König Karl und Königin Johanna erlassenes Gesetz, das sich auf den Verkauf von Brot bezieht. In diesem Gesetz heißt es, »dass die öffentlichen Kornkammern der Städte […] unter diesen Herrschern […] beim Kauf von Brot zum Zweck der Vorratshaltung gegenüber allen kirchlichen und weltlichen Personen 34 Fisch 1984: 153 ff., 209 ff.; Cantens 2010: 23 ff. 35 Chafuen 2003: 2; Alonso-Lasheras 2011: 2. 36 Popescu 1997: 27. 37 »por el gran concurso de gente que viene […] a la negociación o contratatión de Potosí.« (Zitiert nach Popescu 1986: 146)
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Vorrang genießen sollen, die zusammenkommen (concurren), um Brot zu kaufen, das nicht gekauft werden soll.«38 Das Gesetz regelte den Kauf von Brot, »das nicht gekauft werden soll«; gemeint war Brot, das nicht dazu bestimmt war, an Kunden weiterverkauft zu werden, die es gleich verzehren wollten, sondern es zum Zweck der Vorratshaltung erwarben.39 Im Gesetz wurde also festgelegt, dass staatliche Kornkammern gegenüber anderen potentiellen Käufern, die einen Vorrat anlegen wollten, bevorzugt werden mussten. Sichergestellt werden sollte dadurch, dass die öffentlichen Kornkammern Vorräte anlegen konnten, sodass im Fall einer Notlage ausreichend Brot für die Bevölkerung zur Verfügung stand. Das Wort concurren bezeichnete hier das Zusammenkommen von verschiedenen Käufergruppen auf einem Markt. Darüber hinaus wurde eine Rivalität zwischen den potentiellen Käufern ins Auge gefasst: Es wurde eine Situation angesprochen, in der das Brot nicht für alle potentiellen Käufer reichen könnte. Diese »Konkurrenz« wurde gesetzlich geregelt, und zwar zugunsten der staatlichen Kornkammern. Matienzo hat das Gesetz in seinen Commentaria zitiert und mit einer Glosse versehen, die den Titel trägt: »Sie kommen zusammen, um Brot zu kaufen, das nicht gekauft werden soll«.40 Ein weiteres Beispiel findet sich im Werk des Juristen Jeronimo Castillo de Bobadilla (1547–1605), das im Jahre 1585 unter dem Titel: Política para corregidores veröffentlicht wurde.41 »Corregidor« war die Amtsbezeichnung einer lokalen Verwaltungs- und Justizperson in Spanien und seinen Kolonien. Bobadilla verwendete das Wort »Konkurrenz« im Rahmen von Erörterungen, die sich auf die Lehre vom gerechten Preis bezogen. Der Ursprung dieser Lehre ist in der antiken Philosophie, bei Platon, Aristoteles und den stoischen Philosophen, zu finden. Wie alle Scholastiker auch, rezipierten die Gelehrten der Schule von Salamanca die antiken Positionen. Darüber hinaus werteten sie das klassische römische Recht aus. Der römische Jurist Julian vertrat die Auffassung, »gerecht« sei jeder Preis, der durch einen Konsens zwischen Verkäufer 38 »las casas y alhondigas conmunes de las ciudades, […] de estos reynos […] sean preferidas en la compra del dicho pan adelantado, a todas las personas ecclesiásticas y seglares, con quien concurren a comprar pan, que no estuviere comprado.« (Zitiert nach Popescu 1986: 146/Anmerkung 78; Hervorhebung H.-M. E.) 39 Für Unterstützung beim Verständnis des Zitats danke ich Frau Diplom-Übersetzerin Barbara Sperling (Karlsruhe). 40 »Concurren a comprar pan, que no estuciere comprado« (Zitiert nach Popescu 1986: 146/Anmerkung 78). 41 Zu Leben und Werk Bobadillas vgl. Labrada 1999.
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und Käufer zustande komme, gemäß der (später formulierten) Maxime »res tantum valet quantum vendi potest«42 – »Eine Sache ist so viel wert, wie sie verkauft werden kann«. Der römische Jurist Paulus vertrat dagegen die folgende Position: »Die Preise von Sachen werden nicht nach dem Gefühlswert oder dem Nutzen für einzelne Personen bestimmt, sondern in allgemeiner Weise.«43 Damit stellte Paulus einen Gegensatz zwischen einer rein individuellen Auffassung vom Nutzen einer Sache und der Auffassung eines normalen Durchschnittsmenschen her. Maßgeblich war nach seiner Ansicht, wie hoch der Nutzen normalerweise eingeschätzt wird.44 Ein Preis war somit nicht schon deshalb gerecht, weil er durch Konsens zustande kam, wie Julian meinte; er musste auch dem Nutzen entsprechen, wie er von einem Durchschnittsmenschen bewertet wurde. Paulus ließ offen, wie eine solche Bewertung festgestellt werden konnte. Die Kirchenväter und die Scholastiker, zum Beispiel Thomas von Aquin,45 aber auch Gelehrte der Schule von Salamanca, haben sich auf Paulus bezogen. Allgemein wurde die Auffassung vertreten, ein Preis sei gerecht, wenn er der communis aestimatio entspreche. Juan de Matienzo, der bereits erwähnte spanische Jurist, stellte fest, eine Sache sei so viel wert, wie sie sich, ohne Betrug und Unrecht, üblicherweise verkaufen lasse. Dass der Wert einer Sache sich danach richtete, zu welchem Preis sie verkauft werden konnte, entsprach der Auffassung Julians. Matienzo fügte jedoch hinzu: »wie sie sich üblicherweise (communiter) verkaufen lässt.« Das Wort communiter wurde von Paulus übernommen,46 hatte hier jedoch eine genauere Bedeutung als bei dem römischen Juristen: Es bezeichnete den auf einem Markt üblichen Preis. Dies ist der Zusammenhang, in dem die Darlegungen Bobadillas in Política para corregidores zu verstehen sind. Bobadilla untersuchte, wie der Marktpreis zustande kommt, und stellte fest: »Die Preise der Waren sinken durch ein Überangebot (von Waren), durch den
42 Zitiert nach Popescu 1997: 38. 43 »Pretia rerum non ex affectu nec utilitate singulorum, sed communiter funguntur.« (D. 35,2,63) Ähnlich im Hinblick auf den Wert einer Sache im Zusammenhang mit der Höhe von Schadenersatz: »Pedius ait pretia rerum non ex affectione nec utilitate singulorum, sed communiter fungi.« – »Pedius sagt, dass der Wert von Sachen nicht nach Gefühlswerten oder dem Nutzen, den sie gerade für einzelne Personen haben, zu berechnen sei, sondern in allgemeiner Weise.« (D. 9,2,33) 44 Schachtschabel 1939: 51, wenn auch nicht ausdrücklich in Bezug auf die zitierte PaulusStelle. 45 Popescu 1997: 38. 46 »communiter vendi potest.« (Zitiert nach Popescu 1997: 39)
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Wetteifer und eine große Zahl von Verkäufern.«47 Das Wort concurrencia bezeichnet hier das Zusammenkommen von Verkäufern auf einem Markt, das heißt: dass eine große Zahl von Verkäufern sich einfindet. Bobadilla gebrauchte nicht ein Verb, sondern ein Substantiv. Er setzte concurrencia damit als einen ökonomischen Begriff ein, der einen für die Preisbildung maßgeblichen Faktor bezeichnen sollte. Es liegt zwar nahe, concurrencia im modernen Sinne zu verstehen: als Rivalität, wie Oreste Popescu meint.48 Diese Bedeutung kann hier aber wohl nicht unterstellt werden. Erst das Zusammenwirken eines Überangebots von Waren (abundancia), des Eifers der Verkäufer (emulacíon) und einer großen Zahl (concurrencia) von Verkäufern führt zur Rivalität zwischen diesen.49 Bobadilla war nicht der Erste, der Angebot und Nachfrage als Preisfaktoren erkannte. Schon Thomas von Aquin hatte als Faktoren für einen gerechten Preis nicht nur die aufgewendete Arbeit und die Herstellungskosten genannt, sondern auch die Zahl der potentiellen Käufer und Verkäufer, die Menge der Waren und das Gewinnstreben.50 Joseph Höffner stellt fest: »Als wichtigsten Preisfaktor nennen die Scholastiker den Wettbewerb zwischen Angebot und Nachfrage.«51 Bobadilla war aber wohl der Erste, der in diesem Zusammenhang das Wort ›Konkurrenz‹ verwendete. In der Literatur zur Geschichte der ökonomischen Doktrinen hat ein weiteres Beispiel für den Begriff der Konkurrenz besondere Aufmerksamkeit gefunden. Es ist einem Werk Luis de Molinas (1535–1600) entnommen, der an verschiedenen spanischen Universitäten lehrte und als der führende Theologe seiner Zeit galt; er hatte auch Jura studiert.52 Das Werk trägt den Titel: De iustitia et iure; in den Jahren von 1593 bis 1609 ist es (zum Teil erst nach seinem Tod) in sechs 47 »Los precios de los productos bajarán con la abundancia, emulación y concurrencia de los vendedores.« (Zitiert nach Popescu 1986: 149/Anmerkung 84) 48 Popescu 1997: 28. 49 Bobadilla sprach sich deshalb dafür aus, dass sich die Kaufleute organisieren, um einem Preisverfall entgegenzuwirken (ebd.). 50 Höffner 1953: 186. 51 Ebd.: 194, ähnlich ebd.: 195 f. Vgl. die Nachweise bei Schreiber 1913: 57 f. und öfter. 52 Zu Leben und Werk Molinas siehe Alonso-Lasheras 2011: 12 ff. Im Zusammenhang mit Molina ist auf eine weitere Bedeutung von concursus hinzuweisen, den concursus divinus. Darunter wird das Hineinwirken Gottes in die Schöpfung verstanden (im Unterschied zu der Annahme der Deisten, mit der Schöpfung sei die Tätigkeit Gottes in Bezug auf die Welt abgeschlossen). Schon Thomas von Aquin hatte diese Frage behandelt; Molina ging in seiner 1572 erschienenen Schrift De concursu generali darauf ein; Plathow 1976: 18 ff., 45 ff.
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Bänden erschienen.53 Ebenso wie Matienzo behandelte auch Molina die Frage des gerechten Preises;54 zu den Preisbildungsfaktoren stellte er fest: »Wenn eine große Zahl von Käufern zusammenkommt, zu einer bestimmten Zeit mehr als zu einer anderen, und dies bei gesteigerter Kauflust (Nachfrage), führt dies dazu, dass der Preis steigt; eine geringe Zahl von Käufern hat dagegen zur Folge, dass der Preis sinkt.«55 Der Preis richtet sich also nach Angebot und Nachfrage. Höffner schrieb dazu in seiner 1941 erschienenen Dissertation: »Soviel ich sehe, wird hier zum erstenmal das Wort Konkurrenz verwendet.«56 Einige Autoren schlossen sich dieser These an.57 Popescu konnte jedoch nachweisen, dass der Jurist Bobadilla den Terminus ›Konkurrenz‹ in einer ähnlichen Bedeutung schon früher gebraucht hatte.58 Bobadilla hatte sogar die substantivische Form (concurrentia) verwendet und damit die Konkurrenz als einen ökonomischen Begriff eingeführt, mit dem er eine große Zahl von Verkäufern als Preisbildungsfaktor bezeichnete. Molina sprach dagegen von einer multitudo emptorum concurrentium, verwendete concurrentium also in seinem ursprünglichen Sinn (zusammenlaufen), bezogen auf eine große Zahl von Käufern (multitudo emptorum). Eine große Zahl von Käufern allein schafft Molina zufolge jedoch noch keine Rivalität zwischen ihnen. Erst in Verbindung mit der gesteigerten Kauflust (maiore aviditate) kommt Rivalität und damit Konkurrenz im modernen Sinne zustande. Die Worte concurrentia/concurrentium wurden von Bobadilla und Molina also zwar im Hinblick auf den Markt gebraucht. Die Worte bezeichneten aber nicht die Konkurrenz im Sinne der Rivalität, sondern einen Faktor, der zu einer Rivalität führen kann, nämlich eine große Zahl von Verkäufern bzw. Käufern auf einem Markt. Der Gebrauch der Worte concurrentia/concurrentium bei Bobadilla und Molina könnte auf die bereits zitierte Stelle des römischen Juristen Paulus zurückgehen,59 die sich auf die Entstehung des Geldes und des Kaufes als einer neuen Vertragsart bezieht.60 Die Stelle war im Mittelalter und der frühen Neuzeit 53 Zu diesem Werk vgl. ausführlich Alonso-Lasheras 2011: 53 ff. 54 Ebd.: 148 ff. 55 »Multitudo emptorum concurrentium, plus uno tempore quam alio, et maiore aviditate facit pretium accrescere; emptorum vero raritas facit illud decrescere.« (Zitiert nach Roover 1955: 169; Hervorhebung H.-M. E.) Zu dieser Stelle: Weber 1959: 102 f. 56 Höffner 1941: 117. 57 Roover 1955: 169; Willeke 1961: 19; vgl. auch Rammstedt 1976: 971. 58 Popescu 1997: 26 ff. 59 Ebd.: 4 f. 60 Ebd.: 28, in Bezug auf die Verwendung bei Bobadilla.
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berühmt, wurde häufig zitiert und kommentiert; jedem Juristen war sie vertraut.61 Die Gelehrten der Schule von Salamanca gelten zudem als ausgezeichnete Kenner des römischen Rechts.62 Bezeichnend ist schon der Titel von Molinas Werk, dem der zitierte Satz entnommen ist: De iustitia et iure. Dies ist zugleich die Überschrift eines berühmten Digestentitels,63 in dem Grundsätze des römischen Rechts zusammengestellt sind. Der sachliche Kontext bei Bobadilla und Molina, die Lehre vom gerechten Preis, ist ebenfalls aufschlussreich: Die Gelehrten haben bei ihren Überlegungen zum gerechten Preis das römische Recht berücksichtigt. All dies spricht dafür, dass concurrentia/concurrentium bei Bobadilla und Molina möglicherweise auf das römische Recht, insbesondere auf Paulus,64 zurückgeht. Die Gelehrten der Schule von Salamanca haben concurrere/concursus und die entsprechenden spanischen Formen in einem ökonomischen Kontext gebraucht, das heißt: im Hinblick auf den Markt. Darunter verstanden sie nicht einen abstrakten Markt, sondern einen realen Ort, einen Marktplatz. Der Bezugsrahmen der Konkurrenz war ein freier Markt, das heißt: ein Markt, der Verkäufern und Käufern freien Zugang bot, frei von staatlichen Eingriffen war (zum Beispiel von staatlichen Preisfestlegungen), auf dem Verkäufer und Käufer ohne Gewalt und Täuschung miteinander verkehrten und durch Verhandlung und Einigung einen gerechten Preis erzielten.65 Ein solcher Markt war AlonsoLasheras zufolge wesentlich durch Kooperation, nicht durch Wettbewerb gekennzeichnet.66 Gleichwohl ist Bobadilla und Molina nicht entgangen, dass auf einem solchen Markt auch eine gewisse »Konkurrenz« (Rivalität) zwischen Verkäufern und zwischen Käufern bestehen konnte.
61 Ebd.: 279/Anmerkung 28. 62 Ebd.: 65; Duve 2009: 390: »Von niemandem wurden im 16. Jahrhundert Rechtsfragen in vergleichbarer Intensität bis in die kleinste Kasuistik hinein verfolgt und zugleich auf grundlegende Gerechtigkeitserwägungen bezogen wie von den die Freiheit der Philosophie und die Verantwortung des Menschen vor Gott reklamierenden iberoamerikanischen Denkern.« 63 D. 1,1. 64 D. 18,1,1pr. 65 Im Hinblick auf Molina: Alonso-Lasheras 2011: 166 ff. 66 Ebd.: 168, in Bezug auf Molinas Lehre vom gerechten Preis.
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D AS FRANZÖSISCHE ›C ONCURRENCE ‹ IM 16.–18. J AHRHUNDERT UND ALS F REMDWORT IN ANDEREN S PRACHEN ›Concurrence‹ im 16.–18. Jahrhundert Im Französischen wurde das Wort concurrence seit dem 16. Jahrhundert gebraucht. Es bedeutete sowohl das Zusammenkommen am gleichen Ort als auch den Anspruch mehrerer auf das gleiche Objekt, also die Rivalität.67 Die beiden Konnotationen sind zum Beispiel im 1734 erschienenen Dictionnaire universel françois et latin verzeichnet.68 Auffallend ist, dass eine spezifisch ökonomische Bedeutung in diesem Wörterbuch nicht erwähnt wird. Gleichwohl verwendete Montesquieu in seinem 1748 publizierten Werk De l’esprit des lois den Terminus im Zusammenhang mit der Frage des gerechten Preises. Montesquieu nannte Japan als Beispiel eines Landes, das durch ungerechte Preise übervorteilt werde. Japan treibe Handel nämlich nur mit China und Holland, die einen übergroßen Gewinn aus diesem Handel zögen. Jede Nation, die sich nach dem japanischen Muster verhalte, werde notwendigerweise getäuscht. Es folgt der Satz: »Die Konkurrenz ist demnach der entscheidende Faktor, der für gerechte Preise sorgt.«69 Physiokratie und Konkurrenz Die in Europa vorherrschende Praxis im Zeitalter des Absolutismus (16.–18. Jahrhundert) war der Merkantilismus. Um ihre stehenden Heere, die wachsende Zahl von Beamten und die höfische Repräsentation zu finanzieren, versuchten die Herrscher, das Wirtschaftsleben durch massive Eingriffe zu beeinflussen mit dem Ziel, die Wirtschaftskraft ihrer Länder zu stärken und die Staatseinkünfte zu erhöhen. Der Staat trat wie ein Unternehmer auf.70 So wurde insbesondere die Manufaktur gefördert. Dagegen war der Begründer der Physiokratie, François Quesnay (1694–1774),71 der Auffassung, das Wirtschaftsleben eines Landes solle 67 Wartburg 1946: 1015; Littré 1877: 718; Imbs 1977: 1265 f. 68 Dictionnaire 1734: 93 f. Dieses im 18. Jahrhundert berühmte Wörterbuch wurde von Jesuiten, und zwar erstmals in der Stadt Trévoux, herausgegeben; deshalb wird es auch als »Dictionnaire de Treyvoux« bezeichnet. Die erste Ausgabe erschien 1704. 69 »C’est la concurrence qui met un juste prix aux marchandises.« Montesquieu 1748/1961: 14. 70 Das lateinische mercari heißt: Handel treiben; daher der Ausdruck ›Merkantilismus‹. 71 Zu Leben und Werk Quesnays siehe Gömmel/Klump 1994: 65 ff.; Holub 2006: 24 ff.
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nicht staatlich reglementiert werden, sondern vorgegebenen, »natürlichen« Gesetzen folgen.72 Quesnay teilte die Gesellschaft in drei Klassen ein, die classe productive (Pächter und Landwirte), die classe stérile (Handwerker und Kaufleute) und die classe propriétaire (alle Grundeigentümer, insbesondere Adel und Kirche). In seinem erstmals 1758 und später in weiteren Versionen publizierten Tableau économique stellte Quesnay den Wirtschaftskreislauf in einem Schema dar. Die Landwirtschaft war seiner Auffassung nach die einzige Quelle des Reichtums;73 deshalb entwickelte er ein Konzept rationeller Landwirtschaft. Quesnay setzte sich zudem für die Freiheit des Handels ein. In seinen Maximes générales du gouvernement économique d’un royaume agricole (1767) empfahl er: »Man halte die vollständige Freiheit des Handels aufrecht; denn die sicherste, strengste und für die Nation und den Staat günstigste Politik des Innen- und Außenhandels besteht in der vollkommenen Freiheit der Konkurrenz.«74 Quesnay verwendete den Begriff der Konkurrenz demnach nicht mehr, wie noch die Gelehrten der Schule von Salamanca, im Zusammenhang mit der Preisbildung, sondern in einem umfassenderen Sinn. Die Freiheit des Handels führt seiner Auffassung nach zur Beständigkeit der Preise und zur Mehrung des Wohlstands.75 Im gleichen Sinne äußerte sich ein Anhänger Quesnays, Guillaume François Le Trosne (1728–1780).76 In seinem 1777 veröffentlichten Werk De l’ordre social gebrauchte er den Konkurrenzbegriff im Zusammenhang mit den droits primitifs, den grundlegenden Rechten des Menschen: »Aus diesen grundlegenden Rechten ergibt sich mit Notwendigkeit das Recht, von seinen geistigen und körperlichen Fähigkeiten Gebrauch zu machen; die private Beschäftigung auszuwählen, die einem zusagt; von seinen Talenten und Reichtümern den gewünschten Gebrauch zu machen; mit legitimen Mitteln etwas zu erwerben; sich anderen gegenüber zu verpflichten; andere durch Abmachungen einem selbst gegenüber zu verpflichten; zu kaufen und zu verkaufen unter Bedingungen vollständiger Konkurrenz; zu seinen Lebzeiten 72 Priddat 2001: 16 ff. 73 Ebd.: 16. 74 »Qu’on maintienne l’entière liberté de commerce; car la police du commerce intérieur et extérieur la plus sûre, la plus exacte, la plus profitable à la nation et à l’État, consiste dans la pleine liberté de la concurrence.« (Quesnay 1767/1992: 263) Die im Text wiedergegebene, deutsche Übersetzung findet sich bei Quesnay 1921: 62. 75 In seinem Artikel »Hommes«, den Quesnay für die Encyclopédie verfasste, der jedoch erst 1908 veröffentlicht wurde, sprach er von concurrence zwischen Handelsnationen; Quesnay 1958: 555. 76 Zu Leben und Werk Le Trosnes: Gömmel/Klump 1994: 68.
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über sein Vermögen zu verfügen; sein Vermögen auf seine legitimen Erben zu übertragen; sich mit dem Einverständnis seiner Eltern zu verheiraten; seinen Wohnsitz nach Gutdünken zu wählen; die Gesellschaft zu verlassen mit allem, was einem gehört usw. usw.«77
Ebenso wie Quesnay bezog Le Trosne den Konkurrenzbegriff nicht mehr allein auf die Herausbildung eines gerechten Preises; er plädierte vielmehr für Handelsfreiheit verbunden mit vollständiger Konkurrenz: dans l’état de pleine concurrence.78 Verwendung des Konkurrenzbegriffs im Englischen und Deutschen Das Wort concurrence ist im Englischen zwar geläufig, bedeutet hier aber (wie schon bei dem römischen Juristen Gaius79): Übereinstimmung, Einverständnis.80 Englische Ökonomen haben zwar den Inhalt des Begriffs ›Konkurrenz‹ von den Physiokraten übernommen, nicht aber den Terminus. Adam Smith (1723–1790)81 sprach in The wealth of nations (1776) vielmehr von competition.82 Auch David Ricardo (1772–1823)83 gebrauchte in seinen 1817 veröffentlichten Principles of Political Economy and Taxation die Termini competition und competitors.84
77 »De ces droits primitifs dérivent par des conséquences nécessaires, le droit d’user librement de ses facultés intellectuelles & physiques, de choisir le genre d’occupation privée qui lui convient, de faire de ses talens & de ses richesses l’emploi qu’il veut, d’acquérir par des moyens légitimes, de s’obliger envers les autres & de les obliger envers lui par des conventions, d’acheter & de vendre dans l’état de pleine concurrence, de disposer de son vivant, de transmettre ses biens à ses héritiers légitimes, de se marier du consentement de ses parents, d’habiter où il juge à propos, de quitter la société en emportant ce qu’il possède, & &.« (Le Trosne 1777: 41; Hervorhebung H.-M. E.) 78 Van den Berg 2004: 1440 f. 79 Siehe S. 39 der vorliegenden Untersuchung. 80 Wildhagen 1970: 163. 81 Zu Leben und Werk von Adam Smith: Holub 2006: 122 ff. 82 Siehe z.B. Smith 1776/1964: 54: »The price of monopoly is upon every occasion the highest which can be got. The natural price, or the price of free competition, on the contrary, is the lowest which can be taken, not upon every occasion, indeed, but for any considerable time together.« (Hervorhebung H.-M. E.) 83 Zu Leben und Werk von David Ricardo: Holub 2006: 164 ff. 84 Ricardo 1817: 88 und öfter.
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Im Deutschen war der Terminus ›Konkurrenz‹ schon bekannt, bevor die Texte französischer Ökonomen übersetzt wurden. Paracelsus hatte das Wort concurrenz im Jahre 1528 ins Deutsche eingeführt, und zwar in einem medizinischen Kontext.85 In seiner 1528 erschienenen Schrift De ulceribus (»Über Geschwüre«) stellte er fest, ebenso wie es »vilerlei mineralia« gebe, gebe es auch »vilerlei ulcera«; in diesem Zusammenhang schrieb er: »und so die concurrenz in ein centrum fiel«, womit er wohl das »Zusammenkommen, Zusammenfließen« von Mineralien in einem Geschwür bezeichnete. In ökonomischer Bedeutung wurde das Wort »Concurrenz« in Übersetzungen der Schriften französischer Physiokraten verwendet. So heißt es in einer 1787 erschienenen Übersetzung von Quesnays Maximes générales du gouvernement économique d’un royaume agricole: »Man halte vollkommene Handels-Freyheit aufrecht. – Denn es gibt keine sichrere, pünctlichere, für die Nation und den Staat vortheilhaftere Policey des in- und ausländischen Handels, als dass der Concurrenz völlige Freyheit gelassen wird.«86 In der deutschen Übersetzung eines Werkes von Le Trosne wird im Zusammenhang mit der Preisbildung festgestellt: »So ist es die Concurrenz so wohl der Consumierer als der zum Verkauf angebotenen Producte, die unumschränkt über die Geltung entscheidet.«87 Unter der »Geltung« verstand Le Trosne88 den einer Ware beigelegten Wert; der Preis ist danach »ausgedrückter Name der Geltung«. 85 Hohenheim 1922: 245; Weimann 1963: 395. Schulz 1913/1974: 380 nennt als frühesten Beleg eine Quelle von 1557 (»zusammentreffen vnnd concurrieren«, bezogen darauf, dass der »Religionshandel« und »weltliche Händel« zusammentreffen); Weigand (1909: 1110) führt als frühesten Beleg eine Quelle von 1571 in der Bedeutung »zusammen- oder mitlaufen« an. Köbler (1995: 229) stellt dagegen fest, »Konkurrenz« sei seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts nachgewiesen, versieht diese Angabe aber mit einem Fragezeichen; sicher wird das Wort danach seit dem 18. Jahrhundert gebraucht. 86 Quesnay 1787: 70. Die Stelle ist im Original in Fußnote 74 auf Seite 54 der vorliegenden Untersuchung zitiert. 87 Le Trosne 1780: 503; Hervorhebung H.-M. E. 88 Ebd.: 491. Ein weiteres Beispiel für »Konkurrenz« findet sich im gleichen Werk auf Seite 622: Unter der Überschrift »Das wahre Interesse aller Menschen erfordert die Freyheit des Handels« heißt es: »Bloß durch die Concurrenz wird das Interesse eines jeden mit dem Interesse aller Anderen im Uebereinstimmung gebracht. Die Concurrenz ist aber nirgends und niemals anders vollkommen, als unter dem uneingeschränkten Regimente der Freyheit alles Handels und Wandels, welche die allererste Folge vom Eigenthums-Recht, und folglich eines der wesentlichsten Staats-Ordnungs-
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Aber selbst nach der Übersetzung französischer Texte im 18. Jahrhundert ist das Wort »Konkurrenz« im Deutschen noch nicht heimisch geworden.89 In der Kameralistik, der deutschen Variante des Merkantilismus, bildete die Konkurrenz kein zentrales Thema, so dass der Terminus ›Konkurrenz‹ allein schon aus diesem Grunde nicht häufig gebraucht wurde.90 Es gibt nur eine Schrift, die sich explizit dem Thema der Konkurrenz widmet. Joseph von Sonnenfels (1732– 1817) veröffentlichte sie unter dem Titel »Vom Zusammenflusse«.91 Darin wurde der Ausdruck ›Konkurrenz‹ nicht verwendet; statt dessen hieß es, wie schon im Titel: »Zusammenfluss«, aber auch: »wetteifern«92, »Wettstreit«93, »Mitbewerber«94. Sonnenfels ging auf die Konkurrenz als Preisbildungsfaktor ein: »Ist der Zusammenfluß auf Seite der Verkäufer, so besteht die Erschwerung in der Verminderung des Gewinns.«95 Die auffällige Vermeidung des Terminus ›Konkurrenz‹ dürfte in Bestrebungen zur ›Reinigung‹ der deutschen Sprache zu sehen sein, wie sie im 18. Jahrhundert zu verzeichnen sind. So lässt sich erklären, warum Sonnenfels ›Zusammenfluss‹ statt ›Konkurrenz‹ verwendete. In einer 1837 erschienenen, deutschen Übersetzung von Ricardos Principles of Political Economy and Taxation wurden für competition/competitor die Ausdrücke: »Mitbewerbung« und »Mitbewerber« gebraucht.96 Ein 1860 erschienenes Wörterbuch verzeichnete dann jedoch den Terminus »Konkurrenz« und erläuterte ihn als »Mitbewerberschaft«.97 Erst im Laufe des 19. Jahrhunderts hat sich das Wort ›Konkurrenz‹ im Deutschen eingebürgert.
Gesetze ist. Die Concurrenz allein ist vermögend, die Producte dergestalt auf ihren natürlichen Preis zu bringen, daß sie alsdann weiter keine Preis-Veränderungen erleiden, als lediglich solche, die von der physischen Ordnung abhängen, welche schon durch die Concurrenz selbst viel minder empfindlich gemacht werden, als sie ohne dieselbe seyn würden.« 89 In Johann Heinrich Zedlers »Universal-Lexicon« 1731–1754 wird ›Concurrenz‹ nicht verzeichnet. Auch im »Lexicon Juridicum Romano-Teutonicum« von Oberländer 1753/2000: 167 ist ›Concurrenz‹ nicht zu finden. 90 In diesem Sinne auch Geiger 2012: 6/Anmerkung 1. 91 Sonnenfels 1787. 92 Ebd.: 106 f. und öfter. 93 Ebd.: 108 und öfter. 94 Ebd.: 117 und öfter. 95 Ebd.: 129. 96 Ricardo 1837: 424, 428 und öfter. 97 Sanders 1860: 985.
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F AZIT Das Wort ›Konkurrenz‹ ist vieldeutig: Es wird sowohl in seinem ursprünglichen Sinn (zusammenlaufen) als auch metaphorisch gebraucht. Im übertragenen Sinn bezieht es sich nach dem hier untersuchten Sprachgebrauch nicht allein auf Menschen, sondern auch auf Rechtsinstitute. Einerseits kann es Einverständnis bezeichnen, andererseits Rivalität. Gleichwohl lässt sich eine Gemeinsamkeit ausmachen: Es wird häufig eine normative Ordnung vorausgesetzt. Diese Feststellung gilt zunächst für die ›Konkurrenz‹ im römischen und gemeinen Recht, bei der das Recht den Ordnungsrahmen bildet. Aber auch die Konkurrenz im ökonomischen Sinne ist innerhalb einer solchen Ordnung zu verstehen. Im Zusammenhang mit der Lehre vom gerechten Preis besteht diese Ordnung in einem freien Markt, der die Voraussetzung dafür bildet, dass die Konkurrenz einen Faktor bei der Herausbildung eines gerechten Preises bildet. Der Physiokrat Le Trosne stellte fest: »Die Concurrenz ist aber nirgends und niemals anders vollkommen, als unter dem uneingeschränkten Regimente der Freyheit alles Handels und Wandels, welche die allererste Folge vom Eigenthums-Recht, und folglich eines der wesentlichsten Staats-Ordnungs-Gesetze ist.«98 Damit brachte Le Trosne die Forderung der Physiokraten nach einer Gesellschaft von Bürgern zum Ausdruck, die mit grundlegenden Rechten ausgestattet sind. Eine solche Gesellschaft bildete nach ihrer Auffassung den Ordnungsrahmen, in dem freier Handel unter den Bedingungen vollkommener Konkurrenz betrieben werden konnte.
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Konkurrenz – wie viel darf’s denn sein? Zum theoretischen Fundament und der Frage nach dem richtigen Maß in Ökonomie und Politik H ANS D IEFENBACHER , D OROTHEE R ODENHÄUSER
»In der Taborgasse in Prag war auch so ein Fall«, begann Schwejk, »dort war ein gewisser Kaufmann Horschejschi. Ein Stückl weiter von ihm, grad gegenüber, hat der Kaufmann Poschmourny seinen Laden gehabt, und zwischen ihnen beiden war der Höker Hawlasa. Also der Kaufmann Horschejschi hat mal den Einfall gehabt, dass er sich sozusagen mitn Höker Hawlasa gegen den Kaufmann Poschmourny verbinden könnt, und hat angefangen mit ihm zu verhandeln, dass sie die beiden Läden unter einer Firma ›Horschejschi und Hawlasa‹ vereinigen könnten. Aber der Höker Hawlasa is gleich zum Kaufmann Poschmourny gegangen und sagt ihm, dass ihm der Horschejschi zwölfhundert für seinen Hökerladen gibt und will, dass er mit ihm Kompanie geht. Wenn er, der Poschmourny, ihm aber achtzehnhundert gibt, so wird er lieber mit ihm gegen den Horschejschi in Kompanie gehen. So sind sie einig geworden, und der Hawlasa is eine Zeitlang immer um diesen Horschejschi, was er betrogen hat, herumgesprungen und hat gemacht, wie wenn er sein bester Freund wär, und wie die Rede drauf gekommen is, wann sies also abschließn wern, hat der gesagt: ›Ja, das wird schon bald sein. Ich wart nur, bis die Parteien von der Sommerwohnung zurückkommen.‹ Und wie die Parteien gekommen sind, so wars wirklich schon perfekt, wie ers dem Horschejschi immerfort versprochen hat, dass sies perfekt machen wern. Nämlich wie der Horschejschi mal früh den Laden aufmachen gegangen is, hat der eine große Aufschrift über dem Laden von seinem Konkurrenten gesehn, eine riesengroße Firmentafel: ›Poschmourny und Hawlasa‹.«1
1
Hašek 1923/o. J.: 493.
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1. D IE AUSGANGSHYPOTHESE : Z UVIEL K ONKURRENZ UND W ETTBEWERB ?
ODER ZUWENIG
Die voran stehende Episode lässt eine erste Ahnung einer Widersprüchlichkeit aufkommen. Die Begriffe »Konkurrenz« und »Wettbewerb« sind nur auf den ersten Blick positiv besetzt. Wo auf der einen Seite die Europäische Union sich per Grundsatzbeschluss selbst verordnet hat, zum wettbewerbsfähigsten Wirtschaftsraum der Welt zu werden,2 gibt es auf der anderen Seite Beispiele dafür, dass bestimmte Formen der Konkurrenz anrüchig, gar verwerflich sein können. Dieses moralisch begründete Urteil geht bisweilen soweit, dass in manchen Zusammenhängen sogar versucht wird, das Vorhandensein von Konkurrenz an sich zu verdrängen und zu verschweigen; so gibt es eine Variante des Feminismus, die Konkurrenz unter Frauen leugnet, ebenso wie bestimmte Formen der Idealisierung christlicher Gemeinschaften das Phänomen der Konkurrenz in Kirchen nicht anerkennen können.3 Die neoklassisch inspirierte Variante der ökonomischen Theorie wird zum Teil so interpretiert, als setze sie das Konstrukt einer »vollkommenen Konkurrenz« absolut, mit der Folge, dass theoretische Modellannahmen oftmals reichlich unreflektiert in wirtschaftspolitische Schlussfolgerungen übersetzt werden; aber in der Realität können sich dann Konkurrenten ihrer Siege häufig nicht so recht erfreuen, wenn sie sich deren reale Konsequenzen für die Unterlegenen vergegenwärtigen. Aus betriebswirtschaftlichen Erfolgen eines überlegenen Konkurrenten entstehen nicht selten massive volkswirtschaftliche Schäden. Ohne Wahlmöglichkeiten und damit Wettbewerb zwischen politischen Ideen und politischem Personal ist Demokratie nicht denkbar. Wird aber Politik als bloßer Konkurrenzkampf verstanden, in dem (fast) alle Mittel recht sind, untergräbt dieser die Funktionsfähigkeit demokratischer Institutionen. Was aber bedeutet dies für die Funktion und die Akzeptanz der gesellschaftspolitischen Leitbilder der Konkurrenz und des Wettbewerbs? Eine Ausgangshypothese liegt nahe: Bei »Konkurrenz« und »Wettbewerb« kann es offenbar sowohl ein Zuwenig als auch ein Zuviel geben. Dem theoretischen Konstrukt der »vollkommenen Konkurrenz« in der neoklassischen Ökonomik stehen die in der Wirtschaftspolitik beziehungsweise in den Rechtswissenschaften eingeführten Begriffe des »ruinösen« und des »unlauteren« Wett-
2
Im März 2000 hatten die Staats- und Regierungschefs der EU beschlossen, die EU bis zum Jahr 2010 »zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt zu machen«, in dem »ein dauerhaftes Wirtschaftswachstum« erzielt wird (Europäischer Rat 2000: I.5, im Original hervorgehoben).
3
Vgl. dazu Miner 1990; Knieling 2006.
K ONKURRENZ – WIE
VIEL DARF ’ S DENN SEIN ?
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bewerbs gegenüber – die in der ökonomischen Theorie charakteristischerweise zum Teil als Marktversagen klassifiziert werden, also nicht als individuelle Fehlleistung, sondern als strukturelle Misskonstruktion. Der Prozess des Wettbewerbs kann im Zeitverlauf nämlich zu paradoxen Resultaten führen: Wer so wettbewerbsfähig ist, dass er die Konkurrenten aus dem Markt drängen kann, wird am Ende eine Monopolposition innehaben, in der es dann zunächst einmal keinen Wettbewerb mehr gibt, mit anderen Worten: Wer das ›Spiel‹ perfektioniert, weil er den Regeln den Wettbewerbs optimal folgt, wird für den Wettbewerb selbst zur Gefahr. Schon 1929 hat Eduard Heimann ausgeführt, dass das Monopol gleichzeitig die Auslöschung des Wettbewerbs wie auch dessen logische Konsequenz darstellt.4 Daraus folgt unmittelbar die Frage, wie gute von schlechter Konkurrenz unterschieden werden kann. Den genannten Problemen nähern wir uns in den folgenden Abschnitten. Ausgehend von einer Diskussion der Merkmale ökonomischer und politikwissenschaftlicher Definitionen des Begriffs (Abschnitt 2) werden unterschiedliche Zielsetzungen in ihrer jeweils eigenen Rationalität präsentiert (Abschnitt 3). Eine Zusammenfassung in Thesen zur Diskussion schließt den Beitrag ab (Abschnitt 4).
2. K ONKURRENZ : B EGRIFFE
UND
K ONZEPTE
2.1 Definitionen Wettbewerb und Konkurrenz in der Ökonomie Wer sich bemüht, in der wirtschaftswissenschaftlichen Literatur präzise Definitionen für die Begriffe »Wettbewerb« und »Konkurrenz« zu finden, erlebt Überraschungen in mehrfacher Hinsicht: Ganz überwiegend werden die Begriffe synonym verwendet, viele Autoren springen beliebig von Konkurrenz zu Wettbewerb. »Konkurrenz und Konvergenz« überschrieb Theodor Prager seine Kritik der ökonomischen Systeme im Spannungsfeld von Umwelt, Wirtschaft und Wissenschaft; in der Einleitung des Bandes ist von Konkurrenz nicht die Rede, sondern nur von Wettbewerb, und im Abschnitt über Wettbewerb wird die These aufgestellt, dass der »Kampf um Selbstbehauptung […] die nichtkapitalistischen Länder [zwingt], von der Konkurrenz zu lernen«5. Andere Veröffentlichungen vereinen beide Begriffe nicht nur im Titel, sondern verwenden
4
Heimann 1929: 38.
5
Prager 1972: 11–17, 103.
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beide durchgängig ohne erkennbare Grenzziehung: Wettbewerbsbeziehungen bestehen zwischen Konkurrenten, Konkurrenzgrenzen zwischen Wettbewerbern unterschiedlicher Entfernungen.6 Einige Autoren verzichten ganz auf den Begriff Konkurrenz und verwenden ausschließlich den Begriff Wettbewerb.7 In der ebenfalls ganz überwiegenden Zahl der Veröffentlichungen werden die Begriffe nicht explizit definiert, sondern als selbstverständliche Basis vorausgesetzt. Wenn Begriffsbestimmungen erfolgen, dann werden oftmals bestimmte Funktionen von Wettbewerb und Konkurrenz oder Beschreibungen von Abläufen verwendet, um die Begriffe quasi indirekt zu definieren. So sieht Carl Christian von Weizsäcker Wettbewerb dann als funktionsfähig an, wenn er die ihm zugeordneten Aufgaben erfüllen kann und dabei bestimmte Zielsetzungen verwirklicht werden.8 Klaus Herdzina nennt dazu folgende Funktionen des Wettbewerbs:9 • Wettbewerb garantiert die Beschränkung wirtschaftlicher Macht, die die
Handlungs- und Wahlfreiheit der Wirtschaftssubjekte einschränken würde; • Wettbewerb trägt zur Verteilungsgerechtigkeit bei, sofern diese als Leistungsgerechtigkeit verstanden wird, die Einkommensunterschiede auf Leistungsdifferenziale zurückzuführen sind und nicht leistungsgerechte Einkommen durch Wettbewerb abgebaut werden; • Wettbewerb führt zur optimalen Allokation knapper Ressourcen, da der ineffiziente Einsatz von Produktionsfaktoren und Monopolrenten durch Wettbewerb beseitigt wird; • schließlich führt Wettbewerb zu einer Beschleunigung der Entwicklung und Einführung von technischem Fortschritt – Wettbewerb erhält hier eine Rolle als »Entdeckungsverfahren« zugeschrieben.10 Günter Knieps weist zu Recht darauf hin, dass das Konzept einer so beschriebenen Funktionsfähigkeit von Wettbewerb weit über die Modellwelt der vollkommenen Konkurrenz hinaus geht,11 denn im Gegensatz zur »reinen Lehre« der Neoklassik lassen sich durchaus Konflikte zwischen den unterschiedlichen Zielen des Wettbewerbs denken.
6
Vgl. z.B. Schöler 1977.
7
So z.B. Knieps 2008.
8
Weizsäcker 1981: 355.
9
Herdzina 1999: 32.
10 Vgl. dazu Hayek 1968. 11 Siehe dazu unten Abschnitt 2.2; Knieps 2008: 5.
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Wettbewerb und Konkurrenz in der Politikwissenschaft Selten wird Konkurrenz in der politischen Sphäre losgelöst von ihrem konkreten Gegenstand definiert. Betrachtet wird etwa der Parteienwettbewerb um Ämter in Demokratien, die auf den Erwerb von Macht oder Sicherheit gerichtete Konkurrenz von Staaten im internationalen System oder das Eindringen ökonomischer Wettbewerbslogik in das Handeln des Staates im Zeitalter der Globalisierung. Ähnlich den Wirtschaftswissenschaften sind die Begriffe der Konkurrenz und des Wettbewerbs dabei weitgehend austauschbar. Darüber hinaus wird der Konkurrenzbegriff in der Politikwissenschaft zum Teil nahezu synonym mit dem Begriff »Konflikt« verwendet: Beispielsweise wird das Verhältnis von Staaten im internationalen System in Abgrenzung zum Modus der »Kooperation« sowohl als »kompetitiv« als auch als »konfliktiv« beschrieben, ohne dass die beiden Phänomene definitorisch klar unterschieden würden.12 Mit der Annäherung von Konkurrenz und Konflikt gerät der Charakter des Wettbewerbs als sozialer Koordinationsmechanismus allerdings tendenziell aus dem Blick. Gerade dies soll jedoch in den folgenden Überlegungen im Mittelpunkt stehen. Der Frage nach der Rolle von Konkurrenz in der Politik wird dazu in zwei Bereichen nachgegangen: Wettbewerbsfähigkeit und Wettbewerb als Aufgabe und Instrument des Staates einerseits und politischer Wettbewerb als konstitutives Element demokratischer Systeme andererseits. Als definitorischer Ausgangspunkt bietet sich daher Arthur Benz’ aus Governance-Perspektive13 formulierte, aber abstrakt gehaltene Definition an: Demnach ist Wettbewerb »eine soziale Interaktion zwischen Akteuren, die ein Gut oder ein Ziel anstreben, das nicht alle zugleich oder in gleichem Maße erreichen können.«14 Konkurrenz in der Politik kann als Mechanismus zur Koordination von Handlungen »im Hinblick auf die Erreichung gesellschaftlicher Werte oder kollektiver Güter«15 verstanden werden. Die Interessen der Akteure richten sich dabei insbesondere auf den Erwerb von Macht oder Ämtern, die Qualität von
12 Vgl. dazu Werron 2010. 13 »Governance« ist dabei als »Oberbegriff für sämtliche vorkommenden Muster der Interdependenzbewältigung zwischen Staaten sowie zwischen staatlichen und gesellschaftlichen Akteuren« zu verstehen (Benz et al. 2007: 13). Mögliche Muster bzw. Mechanismen sind beispielsweise Hierarchie, Wettbewerb oder Verhandlungen. 14 Benz 2007: 54. 15 Ebd.: 56.
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Leistungen oder auf soziale Anerkennung. Als zentrale Elemente des sozialen Mechanismus »Wettbewerb« macht Benz folgende aus:16 • »Alle Akteure konkurrieren um die Verwirklichung des gleichen Ziels oder
Gutes.« Dies leitet ihr Handeln in die gleiche Richtung. • »Das Handeln der Akteure wird durch Anreize gesteuert«, die aus den zu
• • • •
•
erreichenden Vorteilen resultieren, welche »aber immer in Relation zu dem, was andere erreichen konnten, gemessen werden.« »Über die Maßstäbe des Vergleichs und die vergleichende Bewertung urteilen Akteure mit der erforderlichen Definitionsmacht.« »Die Koordination der individuellen Handlungen erfolgt […] durch wechselseitige Anpassung […], ohne dass die Akteure miteinander kommunizieren.« Das Ergebnis ist offen, weil Form und Umfang der Zielerreichung von den im Wettbewerb mobilisierten Anstrengungen der Konkurrenten abhängen. »Wettbewerbe erzeugen einen doppelten Koordinationseffekt:« Zum einen lenken Akteure »durch wechselseitige Anpassung ihr Handeln auf ein Ziel« hin und steigern ihre Leistung entsprechend. Zum andern führen Wettbewerbe zur Selektion von für die konkrete Interaktionssituation »pareto-optimalen« Ergebnissen. Dabei können negative soziale Folgen entstehen, »wenn die Leistungssteigerung hinsichtlich eines Gutes […] zur Vernachlässigung anderer Belange führt.« »Damit ein Wettbewerb als Koordinationsmechanismus funktioniert, muss er geregelt verlaufen. […] Zum Ersten sind Maßstäbe des Vergleichs und Messoder Bewertungsmethoden festzulegen.« Zum Zweiten muss ein Mindestmaß an Chancengleichheit gewährleistet werden. Schließlich »müssen die Konkurrenten im Wettbewerb Verhaltensregeln befolgen, die verhindern, dass dessen Wirkung verzerrt und der Mechanismus gestört wird.«
In dieser Beschreibung des Wettbewerbs sind die Einflüsse der ökonomischen Theorie unverkennbar. Tatsächlich hat die Governance-Perspektive in den Sozialwissenschaften sowohl wirtschafts- als auch politikwissenschaftliche Wurzeln.17 Als Besonderheit von Politikwettbewerben hebt Benz hervor, dass die in ihnen vorgenommenen »Bewertungen auf zugewiesener Macht« beruhen und »diese legitimiert werden« muss. Für die Funktionsweise politischer Konkurrenz ist daher von Bedeutung, »welche Instanz die vergleichende Bewertung vornimmt und über
16 Ebd.: 54–56. 17 Benz et al. 2007: 10–13.
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Sieger und Verlierer oder eine Rangliste entscheidet.«18 Damit verweist Benz auf die Frage nach der Legitimität des Konkurrenzprinzips als Koordinations- und Entscheidungsmechanismus. Wie Konkurrenz in der politischen Sphäre bewertet wird, hängt damit auch, aber nicht allein, von deren Wirkungen ab. Im Vergleich zu anderen Formen der Koordination – wie Hierarchie oder Verhandlungen – sieht Benz aber jedenfalls politischen Wettbewerb generell als vorteilhaft an, wenn »Stillstand unerwünscht ist«, da er zu einer »besondere Dynamik der Interaktion« führe.19 Einfluss der Ökonomik auf die Analyse politischer Konkurrenz Ökonomische Modelle rationaler Wahlhandlungen übten seit den 1950er Jahren in den USA – und deutlich später dann auch in Deutschland – großen Einfluss auf die Analyse politischer Prozesse und Institutionen aus.20 Man begann, Politik in Analogie zum Markt und seinen Wirtschaftssubjekten zu analysieren. Beziehungen politischer Akteure als Anbieter (Politiker) und Konsumenten (Wähler) öffentlicher Güter wurden zu einem zentralen Gegenstand der politikwissenschaftlichen Forschung. Dabei wurde die Annahme zugrunde gelegt, dass auch politische Akteure als rationale Nutzenmaximierer handeln, denen es – so jedenfalls die frühen Werke21 – ausschließlich um die Vermehrung von Macht und Ressourcen geht. Seit ihren Anfängen hat sich die ökonomische Theorie der Politik jedoch deutlich weiter entwickelt, unter anderem durch die Integration von Institutionen und sozialen Strukturen in das Theoriegebäude und durch eine Abschwächung der strikten Rationalitätsannahme.22 Gleichzeitig haben fundamentale Bestandteile der ökonomischen Ursprungstheorie soweit Eingang in die Politikwissenschaft gefunden, dass sie durchaus nicht mehr als spezifisch »ökonomische Sichtweise« aufgefasst werden, wie die Beschreibung politischer Konkurrenz oben zeigt. 2.2 Definitionen besonderer Formen der Konkurrenz Vollkommene, »atomistische« Konkurrenz Als vollkommene Konkurrenz wird in den Wirtschaftswissenschaften eine Konstellation beschrieben, in der weder auf der Seite der Anbieter noch auf Seite der Nachfrager ein Akteur existiert, der durch strategisches Verhalten außerhalb des
18 Benz 2007: 56. 19 Ebd.: 66. 20 Braun 1999: 17. 21 Vgl. u.a. Black 1958 und Downs 1957. 22 Braun 1999: 18.
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Marktes den Preis beeinflussen kann, der sich durch Angebot und Nachfrage auf dem Markt ergibt. Das bedeutet in der Regel auf Anbieterseite die Abwesenheit von Monopolen oder Oligopolen, auf Nachfrageseite die Abwesenheit von Monopsonen oder Oligopsonen. Denn wenn nur ein oder wenige Anbieter vielen Nachfragern beziehungsweise viele Anbieter nur einem oder wenigen Nachfragern gegenüberstehen, können Wettbewerbsverzerrungen zum Schaden der jeweils zahlreichen Marktteilnehmer entstehen. Die Marktmacht der wenigen Anbieter oder Nachfrager kann nämlich über deren Preis- oder Mengenentscheidungen das Marktgeschehen stark beeinflussen, insbesondere dann, wenn es ihnen gelingt, sich auf den Märkten als »Preissetzer« zu behaupten.23 Im »reinen Fall« der atomistischen Konkurrenz haben kein Anbieter und kein Nachfrager die Macht, den Marktpreis über ihre Mengenentscheidung als Einzelner zu beeinflussen. Damit ist die maximal mögliche Konkurrenz gleichzeitig die Grundannahme der Neoklassik. Dieser Umstand soll aber nicht darüber hinweg täuschen, dass es gerade in Oligopol-Situationen zu sehr heftigen Wettbewerben kommen kann, da die wenigen Akteure in einem Oligopol ihre relative Marktmacht unter allen Umständen halten wollen. Ruinöser Wettbewerb Unter den Begriff des »ruinösen Wettbewerbs« werden Konstellationen gefasst, bei denen Anbieter – oder Nachfrager – durch ihr Wettbewerbsverhalten in wirtschaftliche Schwierigkeiten gelangen können, die vom Akteur als Übergangszustand in Kauf genommen werden, da man sich für die Zeit danach höhere Gewinne verspricht. Ruinöser Wettbewerb kann aber durchaus auch bis zur Insolvenz von einem oder mehreren der Beteiligten gehen. Das klassische Beispiel ist der Versuch, den eigenen Marktanteil zu erhöhen, indem Konkurrenten durch Dumpingpreise – also mit Preisen, die unter den eigenen Gestehungskosten liegen – aus dem Markt gedrängt werden, um danach die Preise wieder anzuheben. Sollten diese Konkurrenten jedoch mit einer ähnlichen Strategie reagieren, kann es zu einem Preisverfall kommen, der auch den Initiator des Preiskampfes zum Austritt aus dem Markt zwingt. Michael Tolksdorf zeigt zudem, dass es historisch immer wieder das Phänomen gab, dass ganze Branchen in bestimmen Ländern von der Strategie der ruinösen Konkur-
23 Vgl. dazu u.a. Schöler 1977: Kapitel 2; Wied-Nebbeling 1994: 104.
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renz erfasst und in deren Folge alle Akteure erheblich in Mitleidenschaft gezogen wurden.24 Besonders gravierende mögliche negative Konsequenzen eines ruinösen Wettbewerbs erstrecken sich damit nicht nur auf die Akteure selbst, sondern auf die gesamte Volkswirtschaft. Denn kommt es zu einem länger anhaltenden Dumpingwettbewerb, kann auch die Versorgung der Endverbraucher in Mitleidenschaft gezogen werden. Außerdem ist davon auszugehen, dass in Phasen des ruinösen Wettbewerbs eine gesamte Branche ein suboptimales Niveau an Ausgaben für Investitionen, Forschung und Entwicklung tätigt und auf diese Weise eventuell mögliche Produktivitätsfortschritte und damit langfristige Preissenkungen sogar verhindert. Tolksdorf berichtet aus seiner Tätigkeit im Bundeskartellamt, dass viele Entscheidungsträger gerade in größeren Unternehmen daher in Gesprächen immer wieder äußerten, dass »ohne wettbewerbsbeschränkende Maßnahmen wie zum Beispiel Kartellverträge oder preis-mengen-regulierende Absprachen ›ruinöser‹ Wettbewerb auf den entsprechenden Märkten herrschen würde«25. Aber nicht nur von diesen Akteuren kommt der Wunsch, an bestimmten Stellen wettbewerbsregulierende Instrumente gerade zur Erhaltung der Wettbewerbsordnung einzusetzen. Unmittelbar einsichtig, aber häufig und zum Teil vor dem Hintergrund durchsichtiger ökonomischer Interessen bestritten, ist die Erkenntnis aus der Entwicklungsökonomie, dass unter den Bedingungen des globalen Wettbewerbs neue Industriezweige in einem noch wenig entwickelten Land kaum aufgebaut werden können, ohne diese »infant industries« für eine gewisse Zeit vor dem Wettbewerb von Konkurrenten aus weiter entwickelten Ländern zu schützen. Das Argument findet sich ausführlich bereits bei Friedrich List, 26 hat aber auch Eingang in offizielle Dokumente der Vereinten Nationen gefunden, im Jahr 2001 sogar in einen offiziellen Report, obwohl sich die meisten Institutionen und Unterorganisationen der UN durchgehend zum Abbau jeglicher internationaler Wettbewerbsbeschränkungen bekennen.27 Auch in der Politik werden ruinöse Wettbewerbe im Sinne eines unerwünschten »race to the bottom« befürchtet, wenn Staaten oder substaatliche Gebietskörperschaften miteinander in Regulierungswettbewerbe treten. Die empirischen Be-
24 Tolksdorf 1971. In Kapitel 3 dieser Arbeit zeigt der Autor die Auswirkungen des ruinösen Wettbewerbs unter anderem in der amerikanischen Landwirtschaft, dem Steinkohlebergbau und der Baumwolltextilindustrie. 25 Ebd.: 29. 26 List 1841: z.B. 161. 27 Vgl. u.a. Zedillo et al. 2001.
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funde dazu sind nicht eindeutig. Beispielsweise bei den derzeit laufenden Verhandlungsprozessen zum Transatlantischen Freihandelsabkommen (TTIP) wird es aber von entscheidender Bedeutung sein, ob eine solche Entwicklung vermieden werden kann, indem etwa zur Absicherung schwächerer Marktteilnehmer Ausnahmen bei der geplanten vollständigen Deregulierung der Märkte vorgesehen werden. Konkurrenzsozialismus Überlegungen der oben vorgestellten Art führen zurück zu einer Diskussion, die in ihren Ursprüngen auf Ludwig von Mises und Oskar Lange zurückgeht28 und sich auf die Frage konzentriert, ob nicht die jeweils positiven Elemente der alternativen Wirtschaftssysteme – konkurrenzbasierter Kapitalismus und Zentralverwaltungswirtschaft mit Zuteilung von Ressourcen und Konsumgütern – zu einem optimalen Wirtschaftssystem kombiniert werden könnten. Von Mises beschäftigt sich dabei vor allem mit den grundlegenden Problemen, in sozialistischen Staatsbetrieben Prinzipien der in Russland vor 1921 als »bürgerlich« disqualifizierten wirtschaftlichen Rechnungsführung zu etablieren. Selbst wenn diese nur als Naturalrechnung mit Hilfe von Mengengrößen durchgeführt würde, ist es für eine effiziente Allokation knapper Ressourcen dennoch erforderlich, diese Ressourcen zu bewerten, wodurch zumindest relative Preise, wenn nicht sogar echte Geldpreise, entstehen würden.29 Oskar Lange antwortet auf die Kritik von Ludwig von Mises, indem er ein konkurrenzsozialistisches Modell entwickelt: Dieses funktioniert durch Simulation des Modells der vollständigen Konkurrenz, die in eine Wirtschaft mit Kollektiveigentum an den Produktionsmitteln hineinkonstruiert wird.30 Lange strebt dadurch eine liberale und gleichzeitig sozialistische Gesellschaftsordnung an. Arbeitsmärkte und Konsumgütermärkte sollen zu »echten« Märkten werden, Investitionsgütermärkte und Finanzmärkte werden über geplante Preise, die regelmäßig neu berechnet werden, durch eine zentrale Institution koordiniert. Die Debatte um den Entwurf des Konkurrenzsozialismus zeigt beispielhaft, dass durchaus wirtschaftstheoretische Modelle denkbar sind, in denen nicht nur Funktionen der Konkurrenz optimiert werden, sondern die Konkurrenz generell
28 Zentral für die Schriften von Ludwig von Mises in dieser Hinsicht ist von Mises 1920/1921 und die Fortsetzung in von Mises 1924. Zentral für Oskar Lange ist Lange 1936/1937. 29 Vgl. von Mises 1920/1921: 88 f.; die Rezeption der Arbeiten von von Mises wird ausführlich dargestellt und diskutiert bei Feucht 1983: 15 ff. 30 Lange 1936/1937: 62 ff.
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auf bestimmte Bereiche des Wirtschaftsgeschehens beschränkt wird. Das oben dargestellte »infant-industries«-Argument weist in eine ähnliche Richtung, wenngleich die Beschränkung der Konkurrenz hier nicht als dauerhafte Systemkomponente, sondern nur auf Zeit gedacht ist. 2.3 Wettbewerbsfähigkeit als Aufgabe des Staates Die vorangegangen Abschnitte haben bereits deutlich gemacht, dass wirtschaftlicher Wettbewerb immer mit dem politisch dafür gesetzten Rahmen zusammengedacht werden muss: Ermöglichung und Beschränkung von Wettbewerb waren stets Aufgabe der Politik oder wurden als solche doch jedenfalls theoretisch ausgeleuchtet. Dies hat in den letzten Jahrzehnten im Zuge einer zunehmenden Ausrichtung politischen Handelns an »ökonomischen Kategorien, Werten und Prinzipien«, das heißt insbesondere »eine[r] verstärkte[n] Orientierung der Werthaltungen von Akteuren an ökonomischer Rationalität«31, eine neue Wendung erfahren. Einerseits wurde im Zuge wirtschaftlicher Globalisierung Wettbewerbsfähigkeit zu einer vordringlichen Aufgabe des Staates, andererseits wurde politisch die Einführung wettbewerblicher Verfahren in neue Bereiche vorangetrieben. Zum wirtschaftspolitischen Credo des ausgehenden 20. Jahrhunderts und beginnenden 21. Jahrhundert gehört die internationale Wettbewerbsfähigkeit als Aufgabe des Staates. Diese kann als die Fähigkeit eine Landes bzw. einer Volkswirtschaft verstanden werden, Güter und Dienstleistungen zu produzieren, diese im Wettbewerb mit den Gütern und Dienstleistungen anderer Länder auf dem internationalen Markt zu vertreiben und dabei den inländischen Wohlstand zu vermehren.32 Der Begriff hat in seiner verhältnismäßig kurzen Geschichte33 bereits einen Wandel erfahren: Galt es in den 1980er Jahren vor allem als Aufgabe des Staates, für die internationale Wettbewerbsfähigkeit der Firmen seines Landes zu sorgen, rückte im Zuge des Globalisierungsdiskurses in den 1990er Jahren die Wettbewerbsfähigkeit des Landes als Standort für transnational agie-
31 Definition des Begriffs der »Ökonomisierung« in Harms/Reichard 2003. 32 Definition in Anlehnung an Reinert 1995: 25 f. 33 Der Begriff tauchte in den 1960er und 1970er erstmals in der Literatur auf und setzte sich in den 1980er Jahren politisch auf breiter Ebene durch (vgl. Fougner 2006: 170). Mit Reinert (1995) kann man allerdings der Ansicht sein, das Problem als solches habe Staaten bereits seit Jahrhunderten beschäftigt, bevor es mit dem Begriff der Wettbewerbsfähigkeit belegt wurde.
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rende Unternehmen zunehmend in den Vordergrund,34 ohne allerdings die erste Bedeutung gänzlich zu verdrängen. Dabei besteht ein zweifacher Zusammenhang zwischen internationaler Wettbewerbsfähigkeit und Globalisierung: Erstere ist eine Antwort auf die Herausforderungen durch letztere, und die Vertiefung der (neoliberalen) Globalisierung ist eine Strategie zur Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit »eigener« Unternehmen auf dem Weltmarkt.35 Für die damit einhergehenden weitreichenden Veränderungsmuster prägte Philip G. Cerny 1990 die These vom »Competition State«: Der Wohlfahrtsstaat in den westlichen Industrieländern wandele sich als Reaktion auf von den Eliten wahrgenommene Globalisierungsimperative zum »Wettbewerbsstaat«.36 Das staatliche Handeln werde ökonomischer Logik unterworfen und an den Erfordernissen des internationalen Wettbewerbs ausgerichtet. Die gewandelte Rolle des Staates zeige sich insbesondere in • der Abkehr von makroökonomischer Steuerung hin zu Deregulierung und an
mikroökonomischen und angebotsseitigen Aspekten orientierter Industriepolitik, • der Verfolgung kompetitiver anstelle komparativer Vorteile, das heißt, in dem
Bemühen, flexible Antworten auf sich rasch wandelnde internationale Märkte zu finden, statt Schlüsselindustrien zu entwickeln und zu erhalten, • der Betonung von Inflationsbekämpfung und generell einer restriktiven Geldpolitik und • der Verschiebung des Fokus politischer Maßnahmen weg von Vollbeschäftigung, sozialer Sicherung und Umverteilung hin zur Förderung von Unternehmertum, Innovation und Profitabilität im privatwirtschaftlichen und öffentlichen Sektor.37 Der Staat nimmt die dekommodifizierenden Wirkungen des Wohlfahrtsstaates zurück und betreibt aktiv die Integration möglichst vieler Bereiche in den Markt.38 Dabei handelt er selbst zunehmend wie ein Marktakteur, der die Generierung und Maximierung von Profiten anstrebt. Fast alle Politikfelder sind davon berührt, nicht zuletzt, weil Wettbewerbsstaaten laut Cerny in der Tendenz eine restriktive Ausgaben-
34 Fougner 2006: 172–175. Die politischen Maßnahmen, die aus der jeweiligen Problemwahrnehmung folgen, können sich durchaus überschneiden (z.B. die Begrenzung von Energiekosten für exportorientierte Unternehmen). 35 Ebd.: 173. 36 Cerny 1990; Cerny 2010. 37 Cerny 1997: 260. 38 Ebd.: 259; Cerny 2010: 17.
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politik pflegen. Ziel ist einerseits die Begrenzung der Steuerbelastung insbesondere für Unternehmen, andererseits die Vermeidung eines »Crowding Out« privater Investitionen. In späteren Publikationen wird zudem die Reform des Sozialsystems, etwa durch eine aktivierende Arbeitsmarktpolitik und die Bereitstellung öffentlicher Leistungen durch private Anbieter, stärker in den Vordergrund gestellt.39 Die innerstaatlichen Veränderungen gehen einher mit Bemühungen um Deregulierung und um wettbewerbsfreundliche Re-Regulierung auf globaler Ebene. Cerny identifiziert den neoliberalen Staat als das Leitmodell des modernen Wettbewerbsstaates,40 räumt aber ein: »There is a dialectic of divergence and convergence at work, rather than a single road to competitiveness.«41 Welche Ausprägung der Wandel im Einzelnen annimmt, variiert von Land zu Land und wird auch durch Pfadabhängigkeiten geprägt. So findet Horsfall in einem empirischen Vergleich von Daten aus 25 OECD-Ländern – in etwa aus dem Jahr 2005 – drei Gruppen von Staaten, die den Charakteristika des Wettbewerbsstaatsmodells in unterschiedlichem Maße entsprechen.42 Inwieweit der traditionelle Wohlfahrtsstaat heute tatsächlich dem Wettbewerbsstaat gewichen ist, muss somit differenziert betrachtet werden. Umstritten ist auch die Bewertung des beobachteten Wandels. Auch wenn die Theorie des Wettbewerbsstaates prinzipiell als heuristisches Modell verwendet werden kann, sind ihre Vertreter in der Regel kritisch gegenüber den identifizierten Veränderungen. So verweisen die ›Väter‹ der Theorie im angelsächsischen Raum darauf, dass der Staat seine traditionellen Funktionen wie den Schutz vor Marktkräften und die Herstellung eines Minimums an sozialer Sicherheit für alle in der Tendenz verliere – und damit seine Raison d’Étre und Legitimität zumindest teilweise einbüße.43
39 Horsfall 2010: 59. 40 Cerny 1997: 265–267. 41 Ebd.: 265. 42 Horsfall 2010: 67–72. Deutschland gehört dabei zur Gruppe der Länder, die vergleichsweise wenig Übereinstimmungen mit dem Wettbewerbsstaatsmodell aufweisen. 43 Cerny/Evans 1999.
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3. Z IELBESTIMMUNGEN : Z UM RICHTIGEN M ASS
VON
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Das Spektrum der Definitionen und die Spannbreite der Konzepte, die in diesem Beitrag dargestellt wurden, lassen erkennen, dass es keine Übereinstimmung hinsichtlich der Frage gibt, wie viel Konkurrenz für erstrebenswert gehalten wird. Diese Differenz soll im folgenden Abschnitt näher dargestellt werden: Die Positionen reichen von einer uneingeschränkt positiven Bewertung von Konkurrenz, von der es deswegen gar nicht zuviel geben kann, bis zu einer grundlegenden Skepsis, ob Konkurrenz zur Gestaltung von menschlichen Beziehungen und gesellschaftlichen Verhältnissen überhaupt etwas taugt. Dazwischen liegen Ansätze, die Kriterien zur Bestimmung eines ›optimalen‹ Maßes der Konkurrenz suchen. Diese Positionen verdienen eine detailliertere Betrachtung. 3.1 Perspektiven auf wirtschaftliche Konkurrenz Maximum: Neoliberalismus, neoklassische Grundannahmen Die Grundlage der neoklassischen Argumentationslogik, die heute nach wie vor zumindest quantitativ den Markt der ökonomischen Theorien dominiert, kann als Synthese aus einer modifizierten Wertlehre, der allgemeinen Gleichgewichtstheorie und wohlfahrtstheoretischer Elemente angesehen werden.44 Als kleinster gemeinsamer Nenner einer ›Lehrbuch-Neoklassik‹45 können folgende Axiome gelten: • Die individuellen Präferenzen der Wirtschaftssubjekte steuern deren Wirt-
schaftsverhalten. • Das Verhalten der Individuen ist rational und konsistent. Das bedeutet, dass die Präferenzordnung Ri aller Individuen i transitiv ist (aus xRy und yRz
44 Siehe dazu Hampicke 1987: 86; außerdem Hödl/Müller 1986. Siehe zu diesem Abschnitt ausführlicher auch Diefenbacher 2001: Kapitel 3. 45 Schon Hampicke (1987: 79 ff.) zeigt überzeugend, dass die hier im Folgenden skizzierte ›naive‹ Neoklassik unter anderem durch die Theorie der externen Effekte, die Theorie der Kollektivgüter und Kollektiventscheidungen sowie durch die »government-assisted invisible hand« erweitert worden ist, was von den »Anti-Neoklassikern« nur zögernd zur Kenntnis genommen wird. Dennoch erscheint es sinnvoll, zunächst die Grundlagen der ›reinen‹ Neoklassik herauszuarbeiten, da diese nach wie vor das Leitbild neoliberaler Wirtschaftspolitik weitgehend prägt.
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folgt xRz). R ist außerdem vollständig und von irrelevanten Alternativen unabhängig.46 • Nutzenmaximierung ist ein legitimes Ziel des Wirtschaftens sowohl der Individuen als auch der Gesellschaft. Dabei lässt eine Permutation der individuellen Präferenzordnungen über den Individuen die gesellschaftliche Präferenz unverändert. • Die normale Form der Interaktion ist der Äquivalententausch; das heißt, jedes Individuum wählt unabhängig von den Entscheidungen anderer Individuen ein optimales Güterbündel, das es durch Tausch am Markt realisiert.47 Diese Optimierung erfordert eine konsequente Beachtung des Opportunitätskostenprinzips. • Die »invisible hand« des Marktprozesses ist hinreichend wirksam, um zentrale Allokationsentscheidungen überflüssig zu machen. Das setzt voraus, dass Transaktionskosten vernachlässigbar sind, Produktionsfaktoren abnehmende Grenzerträge haben und der Konsum zunehmender Mengen eines Produkts abnehmenden Grenznutzen aufweist. Akzeptiert man diese Annahmen, ist es möglich zu zeigen, dass ein langfristiges allgemeines Konkurrenzgleichgewicht existiert, in dem kommutative, also ausgleichende Gerechtigkeit herrscht.48 Die Konkurrenz ist vollkommen, da immer so viele Anbieter und Nachfrager auf dem Markt aktiv sind, dass keiner den Preis über seinen Marktanteil bestimmen kann. Die allgemeine Gleichgewichtstheorie liefert dabei folgende Ergebnisse: • Jeder kann am Tauschverkehr teilnehmen, wenn er dies unter den gegebenen
Bedingungen will. Im allgemeinen Gleichgewicht realisieren die Individuen ihre Tauschpläne; alle Märkte werden geräumt. • Für homogene Güter gibt es nur einen Preis, ansonsten finden Preisanpassungsprozesse über Arbitragegeschäfte statt. Daher behandelt der Markt alle
46 Siehe hierfür und im Folgenden Sen 1973: Kapitel 1 bis 3. 47 Vgl. Gijsel 1984: 18 f. 48 Aristoteles verwendet den Begriff der Gerechtigkeit für soziale Beziehungen und unterscheidet zwischen kommutativer und distributiver Gerechtigkeit; die kommutative Gerechtigkeit soll dem Prinzip der Gleichheit ohne Berücksichtigung der persönlichen Verschiedenheiten folgen, die distributive Gerechtigkeit individuelle Leistungen und Schwächen angemessen berücksichtigen. In die Diskussion der Ökonomie ist diese Unterscheidung insbesondere von Friedrich von Hayek eingebracht worden. Vgl. dazu Hägglund 1984; Hayek 1971/1991: u.a. 114 ff.
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Individuen gleich, die ein bestimmtes Gut kaufen beziehungsweise verkaufen. • Gewinnmaximierendes Verhalten der Anbieter führt zu kostenminimaler und damit effizienter Produktion. Würde ein Anbieter nicht kostenminimal produzieren, würde ein anderer ihn unterbieten oder einen Extragewinn erzielen: Dies widerspräche aber dem Prinzip der vollkommenen »atomistischen« Konkurrenz, deren Vorhandensein damit auch die gesamtgesellschaftliche Effizienz der Produktion gewährleistet. Die atomistische Konkurrenz erreicht daher ein Maximum, da sie bei jeder Abweichung vom Konkurrenzgleichgewicht umgehend für entsprechende Anpassungsprozesse sorgt. Es kann nun gezeigt werden, dass das allgemeine neoklassische Gleichgewicht, und damit auch die neoklassisch definierte Tauschgerechtigkeit, gleich einem Pareto-optimalen Zustand ist.49 Im Rahmen der Neoklassik erscheint maximale Konkurrenz somit als Vorbedingung zum Erreichen der maximal möglichen Bedürfnisbefriedigung in einer Gesellschaft mit einer gegebenen Ressourcenausstattung, einer gegebenen Produktionsfunktion und einer gegebenen gesellschaftlichen Nutzenfunktion. Die Zielbestimmung einer »maximalen Konkurrenz« kann daher in der ökonomischen Theoriebildung als ein grundlegendes Element betrachtet werden, das gerade in neoliberalen Politikelementen nach wie vor seine Wirksamkeit entfaltet – obwohl es im Grunde seit über fünfzig Jahren von den innerökonomischen Fachdisziplinen der Wettbewerbstheorie und der Wirtschaftspolitik als überholt gilt, vor allem nach Ansicht der Vertreter der Richtungen, die sich mit der Ausgestaltung der Grundidee der sozialen Marktwirtschaft beschäftigen. Die Tragik dieser Spezialdisziplinen, deren Erkenntnisse noch angesprochen werden, liegt darin, dass sie die Dominanz der theoretisch bestechenden Idee des »Maximums« im Kern nicht haben brechen können. Optimum: Funktionen des Wettbewerbs und Global Commons Weiter oben wurden Ansätze angesprochen, die eine Definition der Begriffe Wettbewerb und Konkurrenz über Funktionen von Wettbewerb versuchen. In diesen Ansätzen ist in der Regel nicht mehr die theoretische Grundfigur einer Maximierung des Wettbewerbs als Garant einer optimalen Wirtschaft vorhanden, sondern vielmehr – mehr oder weniger explizit – der Gedanke einer Opti-
49 Vgl. Buchanan 1985.
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mierung im Sinne eines regulativen Ausgleichs über Rahmensetzungen für die Wirtschaft, um ›zu wenig‹, aber auch um ›zu viel‹ Konkurrenz zu verhindern. Stellvertretend für Ansätze dieser Art sollen hier zunächst die ordnungspolitischen Vorstellungen von Walter Eucken angesprochen werden: Staatliche Subventionen und staatliche Zwangsmonopole sollen auf streng geregelte Ausnahmefälle begrenzt, auf der anderen Seite aber Monopole und Kartelle verboten werden.50 Darüber hinaus verlangt Eucken eine aktive Wirtschaftsverfassungspolitik, die die grundlegenden Rahmenbedingungen der Wettbewerbsordnung zu jeder Zeit sichert: Privateigentum, Vertragsfreiheit, Haftungsrecht, Sicherung des Geldwerts durch eine stabile Währungspolitik und die Sicherstellung der Offenheit von Märkten.51 Gerade der Monopolpolitik kommt in der ordoliberalen Schule eine besondere Aufgabe zu. Eine Beschränkung des Wettbewerbs wird es in vielen Industrien allein durch die Produktionstechnik geben, wenn Kostenvorteile durch das Erreichen einer bestimmten Größenordnung – also »economies of scale« – hervorgebracht werden können. Die Forderung nach atomistischer Konkurrenz würde in diesen Fällen ein Zuviel an Wettbewerb und kostenineffiziente Situationen ergeben. In bestimmten Sektoren entsteht dadurch fast zwangsläufig eine Tendenz zu einer langsamen Verringerung der Zahl der Anbieter, solange keine neuen Wettbewerber durch Innovationen in einen solchen Markt eindringen können. Ein unabhängiges Aufsichtsamt soll daher Monopole, aber auch bereits Oligopole so weit wie möglich auflösen und diejenigen permanent kontrollieren, die sich nicht auflösen lassen. Weder eine Verstaatlichung von Monopolen noch die Übernahme ihrer Kontrolle durch deren Arbeiterschaft wird von Eucken als mögliche Lösung des Problems angesehen. Das Aufsichtsamt soll eine Politik auf einer hypothetischen Grundlage betreiben: als ob es Vergleichsmärkte gäbe, auf denen die Monopolisten als Wettbewerber auftreten müssten. In jedem Fall kommt der prinzipiellen Offenheit der Märkte eine besondere Bedeutung zu, die durch den Rahmen der Wettbewerbsordnung gewährleistet sein muss, um Monopolrenten langfristig zu verhindern. In den letzten Jahren ist die Diskussion um eine mögliche Optimierung der Rolle des Wettbewerbs durch die Debatte um eine angemessene Bewirtschaftung der »globalen Gemeingüter« (global commons) neu entstanden. In erster Priorität wird hier die Aufgabe gesehen, die Weltbevölkerung heute und in Zukunft ausreichend mit den globalen Gemeingütern zu versorgen. Insofern muss es gelingen, die Versorgung zumindest partiell von der Kaufkraft der Nachfrageseite unabhängig zu gestalten, um dem ärmeren Teil der Weltbevölkerung Zugang zu diesen
50 Siehe u.a. Eucken 1952: 254 ff. 51 Vgl. dazu auch Knieps 2001: 69 ff.
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Gütern zu ermöglichen. Dennoch muss es gelingen, die globalen Gemeingüter effizient zu bewirtschaften; in dieser Perspektive sollte in bestimmten Bereichen der Bewirtschaftung von globalen Gemeingütern Wettbewerb gefördert und in ein Anreizsystem eingebunden werden. So wird zum Beispiel vorgeschlagen, handelbare Anrechte auf zukünftige Emissionen von Treibhausgasen nach ethischen Kriterien international vorzuverteilen: Auf diese Weise könnten die weltweiten Treibhausgas-Emissionen mit einer absichtlich beschleunigten Rate der Konvergenz der Emissionen pro Kopf zwischen reichen und armen Ländern abgesenkt werden. Innerhalb eines solchen solidarisch bestimmten Rahmens wäre dann ein Wettbewerb möglich, der sich aller denkbarer Marktlösungen bedienen könnte.52 Minimum: Kropotkin, Landauer, solidarische Ökonomie Gustav Landauer hat ein Modell einer friedlich-anarchistischen Revolution ›von unten‹ in einer Artikelserie in der Zeitschrift »Der Sozialist« beschrieben:53 »Was führt uns zum Sozialismus? – Der Generalstreik! Aber ein Generalstreik ganz anderer Art, als er gewöhnlich im Mund der Agitatoren und im Herz der schnell hingerissenen Masse wohnt – die abends Beifall klatscht und morgens wieder zur Fabrik trottet. […] Wir künden Euch, Ihr Arbeiter, den aktiven Generalstreik! […] Im aktiven Generalstreik sind die Arbeiter so weit, daß sie die Kapitalisten aushungern, weil sie nicht mehr für den Kapitalisten arbeiten, sondern für die eigenen Bedürfnisse. Ihr Kapitalisten, ihr habt Geld? Ihr habt Papiere? Ihr habt Maschinen, die leer stehen? Eßt sie auf, tauscht sie untereinander, verkauft sie Euch gegenseitig – macht was ihr wollt! Oder – arbeitet! Arbeitet wie wir. Denn Arbeit könnt ihr von uns nicht mehr bekommen. Die brauchen wir für uns selbst. Wir verschwenden sie nicht mehr im Rahmen Eurer unsinnigen Wirtschaft, wir verwenden sie für die Organisationen und Gemeinden des Sozialismus.«
Landauer beschreibt im Weiteren eine Ökonomie der Solidarität, die die Ökonomie der Konkurrenz ablösen soll: nicht mehr als Lohnarbeiter für den Warenmarkt zu produzieren, den Konsum selbst in kleinen selbständigen Gemeinschaften und Genossenschaften organisieren, als weiteren Schritt der Aufbau eines eigenen Kreditwesens und Bankensystems, schließlich die Übernahme von Grund und Boden durch die Gemeinden. Martin Buber hat die Grundüberzeugungen Landauers in seiner Vision einer »sozialistischen Aufgabe« weitergetragen: Moderne, genossenschaftliche Dörfer müssten zunächst ihre innere Strukturierung in eine solidarische
52 Vgl. u.a. Global Commons Institute 2010. 53 Landauer 1913/2010.
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Gemeinschaft ausbilden, dann untereinander ihre Föderierung vorantreiben, um schließlich auf dieser Basis dann die Gesellschaft insgesamt zu reformieren, in die amorph gewordenen städtischen Gesellschaften einwirken54 – auch hier das Idealmodell einer friedlichen Revolution, die das Leitbild der gegenseitigen Hilfe in Abgrenzung zur kapitalistischen Konkurrenzwirtschaft »ökonomiefähig« macht. Es ist hier nicht möglich, die Vorgeschichte und die weitere Entwicklung dieses Gegenmodells im Detail darzustellen. Gustav Landauer hat sich Anfang des 20. Jahrhunderts intensiv mit Petr Kropotkin beschäftigt und 1908 eine Übersetzung seines Werks »Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt«55 vorgelegt. Genossenschaften und Arbeiterverbände werden hier als die »modernen« Formen der gegenseitigen Hilfe beschrieben: Einrichtungen, die immer zunächst »nach innen« gelten, für die jeweils beteiligten Gruppen von Menschen, dann aber, mit höherem Entwicklungsstand, schließlich zahlreich werden und sich dann zu einer in sich stark vernetzten Institution entwickeln können, die auf friedliche Weise die gesellschaftliche Koexistenz revolutionieren könnte. Wo Kropotkin noch mit großer Vorsicht diese Möglichkeit einer evolutionären Bewegung hin zu einer geordneten Anarchie beschreibt – »Ein einziger Krieg, wir wissen es alle, kann unmittelbar und mittelbar mehr Schlimmes hervorbringen, als Hunderte Jahre ungestörter Wirksamkeit des Prinzips der gegenseitigen Hilfe Gutes erzeugen können«56 –, sieht Landauer im oben zitierten euphorischen Pathos die Möglichkeit, eine Massenbewegung in diese Richtung hervorzurufen. Diese Vision hatte letztlich nicht die geringste Chance einer Verwirklichung, gerade auch durch den Krieg, der ein Jahr nach Landauers Aufruf begann. Martin Buber sieht in den folgenden Jahrzehnten die Kibbuzbewegung als Experimentierfeld einer solidarischen Ökonomie, in der dem Wettbewerb im Grunde nur eine entwicklungspsychologische Funktion zukommt, nämlich dem Einzelnen in der Gruppe zu helfen, sein Potenzial in der Zusammenarbeit mit den anderen zu entfalten. Leistung und Entlohnung im herkömmlichen Sinne der privatwirtschaftlichen Geldökonomie werden hier so weit wie möglich von einander getrennt. Dann aber müssten in einem zweiten und dritten Entwicklungsschritt die Vernetzung gleichartiger Gruppen und schließlich die Übertragung ihres Funktionsprinzips auf die gesamte Ökonomie erfolgen, allein durch die quantitative Zunahme der Zahl dieser Gruppen. Dies ist bislang Utopie geblieben.
54 Buber 1946/1950: 220 f. 55 Kropotkin 1896. 56 Ebd.: 271.
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Die jüngsten Entwicklungslinien, über die hier berichtet werden soll, sind die vor allem im Lateinamerika entstandenen Formen »Solidarischer Ökonomie« – die es in Brasilien sogar zu einem eigenen Ministerium gebracht haben und die viele Elemente einer gemeinwesenorientierten, lokalen Ökonomie aufgenommen haben. Unter einer solidarischen, am Gemeinwesen orientierten Ökonomie soll eine Wirtschaftsweise verstanden werden, in der die meisten Menschen oder Familien die Produktionsmittel besitzen, die sie benötigen, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen.57 Das kann eine Werkstatt sein oder ein Einzelhandelsgeschäft, eine Praxis, ein Bauernhof oder ein Fischerboot. Natürlich können sich in einer solchen Ökonomie einzelne Menschen oder Familien mit anderen zusammenschließen und ihre Produktionsmittel gemeinschaftlich besitzen und bewirtschaften. In diesen Fällen sind genossenschaftliche oder kooperative Formen des Wirtschaftens vorrangig. Der Unterschied zwischen dem industriellen und dem gemeinwesenorientierten System besteht jedoch nicht nur darin, dass in dem einen die Lohnsumme minimiert und der Kapitalertrag maximiert und in dem anderen die Fremdkapitalkosten minimiert und eine breite Palette von Leistungen – darunter auch das Geldeinkommen – maximiert werden soll, wobei diese Leistungen jenen zugute kommen, die an der betreffenden wirtschaftlichen Aktivität direkt partizipieren. Susanne Elsen gibt fünf Kriterien als »strategische Handlungsweisen« an, über die sich Unternehmen der gemeinwesenorientierten Ökonomie definieren:58 • demokratische Unternehmenskultur mit Stimmrecht: one person, one vote; • Eigentum nur, wenn das Produktionsmittel selbst genutzt wird,
Eigentum an Grund und Boden nur in Form von Nutzungsrechten; • bedarfswirtschaftliches Handeln, nicht primär profitorientiert; • Gewinnverwendung nur für das Gemeinwesen; • soziale Einbindung der Genossenschaften oder Kooperativen.
Carola Möller betont mit ihren Charakteristika gemeinwesenorientierten Wirtschaftens noch stärker die lokale Dimension, wenn sie vor allem auf eine »direkte und ökologisch sinnvolle Bedürfnisbefriedigung einer Gruppe, einer Nachbarschaft, eines Dorfes oder eines Stadtviertels und wiederum untereinander ver-
57 Vgl. dazu ausführlich Douthwaite/Diefenbacher 1998: 53 ff. 58 Elsen 2007: 36.
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netzter Zusammenhänge«59 abhebt. Kriterien für ein solches »nicht-patriarchalisches Wirtschaften«60 werden hier unter anderem wie folgt definiert:61 • • • • • • • •
als ursprüngliche Intention: der Gedanke der Selbstversorgung und Selbsthilfe; Bedürfnisbefriedigung der jeweils gemeinsam Wirtschaftenden; Tätigkeiten mehrheitlich im lokalen Umfeld; notwendige Eigenarbeit mehrheitlich als unbezahlte Arbeit; nicht-patriarchale Arbeitsteilung; Wirtschaftseinheiten als lernende Organisationen; ökologisch sinnvolles Wirtschaften; konsensorientierte Entscheidungsfindung in basisdemokratischen Prozessen.
In diesen Beschreibungen wird deutlich, dass auch hier Konkurrenz und Wettbewerb keine direkt steuernden Funktionen zugeschrieben werden, sondern, im oben beschriebenen Sinn Martin Bubers, allenfalls als Mechanismus zur Unterstützung der Entfaltung des eigenen Potenzials ihre Berechtigung haben. 3.2 Perspektiven auf politische Konkurrenz: Wettbewerb als konstitutives Element der Demokratie Der politische Wettbewerb zwischen Personen und Parteien um Wählerstimmen mit dem Ziel, Machtanteile in Form von Ämtern zu erringen, ist heute ein konstitutives Element demokratisch verfasster Gesellschaften: Keine moderne Demokratie kommt ohne die Wahl von politischen Entscheidungsträgern, von Repräsentanten des Wahlvolkes aus. Der Parteienwettbewerb hat dabei eine Selektionsfunktion und sorgt prinzipiell für die Rückbindung der Politik an den Willen der Wählermehrheit. Welcher Stellenwert dem allerdings für Leistungsfähigkeit und Legitimität einer Demokratie eingeräumt wird, kann sich sowohl theoretisch als auch empirisch erheblich unterscheiden: So wird das Wettbewerbsprinzip in der Demokratietheorie Joseph A. Schumpeters zum definitorischen Merkmal demokratischer Ordnung schlechthin erhoben und gilt empirisch als prägend für – nomen est omen – so genannte »Konkurrenz-« oder »Mehrheitsdemokratien«. Die Offenheit von Parteiensystemen und Wahlverfahren für den Eintritt neuer Konkurrenten ist ein zentrales Kriterium für die Beurteilung der Güte von Demokratien. Gleichzeitig kann eine starke Fragmen-
59 Möller 1997: 18. 60 Ebd. 61 Zusammenfassung nach ebd.: 18 f.
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tierung der Parteienlandschaft als Indiz für die Instabilität des politischen Systems und als Gefährdung für die Funktionsfähigkeit der Demokratie gewertet werden. »Konkordanz-« und »Konsensdemokratien«62 weisen zwar periodische Wahlen und ein gewisses Maß politischen Wettbewerbs auf, bestimmender Modus der Entscheidungsfindung sind jedoch Verhandlungen und Konsenssuche. In Demokratietheorien identitärer oder partizipatorischer Prägung63 schließlich spielen zum einen konkurrierende individuelle Interessen generell eine geringere Rolle, zum andern wird Repräsentation – und damit der Wettbewerb um politische Ämter – als defizitäre Form der Demokratie wahrgenommen, an deren Stelle im Idealfall die direkte Beteiligung der Bürger an den Entscheidungen tritt. Dabei wird »von der Existenz oder zumindest der Möglichkeit gemeinwohlorientierter demokratischer Politik ausgegangen«64, das Wettbewerbsmoment verliert demgegenüber an Bedeutung. Obwohl die Bandbreite möglicher Betrachtungsweisen damit bei weitem nicht erschöpft ist, lassen sich schon die genannten Aspekte hier nicht alle vertiefen, zumal sie auf ein Spektrum unterschiedlicher Ziele verweisen, das weit über Art und Umfang von Konkurrenz hinausgeht: Woraus etwa ergibt sich demokratische Legitimität, und was ist unter Leistungsfähigkeit einer Demokratie zu verstehen? Stattdessen soll am Beispiel der empirisch-analytischen Demokratietypen der Konkurrenz- und Konkordanzdemokratie die Kontextabhängigkeit des »richtigen Maßes« politischen Wettbewerbs als bestimmendes Prinzip in aller Kürze deutlich gemacht werden.65 Ohne Schumpeters elitärem Demokratieverständnis66 im Einzelnen zu folgen, lässt sich seine Definition der »demokratischen Methode« durchaus als
62 Die beiden Begriffe werden vielfach synonym verwendet. A. Lijphart, der den Begriff der Konsensdemokratie prägte, differenzierte insofern, als er Machtteilung – und die daraus resultierende Notwendigkeit der Kompromisssuche – als in Konsensdemokratien angestrebt, in Konkordanzdemokratien dagegen formal verankert beschrieb; vgl. Schmidt 2000: 340. 63 Ihr ideengeschichtlicher Ursprung wird in der Regel auf Rousseau zurückgeführt, zur heutigen Theoriefamilie lassen sich etwa Barbers Konzeption »starker Demokratie«, kommunitaristische oder republikanische Demokratietheorie zählen; vgl. Lembcke et al. 2012a. 64 Lembcke et al. 2012b: 20. 65 Die folgende Darstellung beruht, sofern nicht anderweitig gekennzeichnet, auf Schmidt 2000: 325–338. 66 Schumpeter überträgt das Modell wirtschaftlichen Wettbewerbs auf die Politik: Politische Unternehmer bieten politische Programme an, die sie gegen Wählerstimmen tauschen, um Macht zu erwerben. Gesellschaftlich nützliche Funktionen wie das Hervorbringen von Gesetzen werden als »Nebenprodukt« des Konkurrenzkampfs um Macht
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Grundlage der Konkurrenzdemokratie lesen: Demokratie ist demnach »diejenige Ordnung der Institutionen zur Erreichung politischer Entscheidungen, bei welcher einzelne die Entscheidungsbefugnis vermittels eines Konkurrenzkampfs um die Stimmen des Volkes erwerben«67. Am Vorbild der angelsächsischen Demokratien entwickelt, galt der Typus der Konkurrenzdemokratie in den 1950er und 1960er Jahren zunächst als Inbegriff einer leistungsfähigen Demokratie: In einem von Mehrheitsregel und Mehrheitswahlrecht geprägten System stehen sich zwei Parteien oder politische Lager im Wettbewerb gegenüber. Das jeweils regierende Lager trifft seine Entscheidungen weitgehend uneingeschränkt, die Opposition hat die Chance, bei der nächsten Wahl selbst die Macht zu erringen. Als vorteilhaft gilt dabei die Bildung relativ stabiler Regierungen bei gleichzeitiger Chance auf regelmäßige Machtwechsel als Voraussetzung politischer Innovation. Dabei ist das System verhältnismäßig übersichtlich; Machtverteilung, Zuständigkeit und Rechenschaftspflichtigkeit sind für den Wähler gut erkennbar. Individuelle Präferenzen der Mehrheit werden auf eine eindeutige und effiziente Weise in Kollektiventscheidungen übersetzt. Politik in einem wettbewerblichen System, so Manfred G. Schmidt, sei zudem »unterhaltsamer« und passe gut zu einem Politikverständnis, das – wie bei Joseph A. Schumpeter oder auch Max Weber – den Kampf betont.68 Diesen Stärken stehen jedoch Schwächen gegenüber; je nach Kontext können sie sich sogar als Nachteile erweisen. So kann die Machtfülle der Regierung zur Tyrannei der Mehrheit führen. Der kompetitive Charakter der Politik kann in harte Konfrontation und gegebenenfalls zahlreiche Regierungswechsel mit widersprüchlichen und daher langfristig destabilisierenden Politikentscheidungen umschlagen. Zudem sind Konkurrenzdemokratien kaum in der Lage, Minderheiten und Verlierer von Kollektiventscheidungen einzubinden. Typischerweise ist auch die Implementierung politischer Entscheidungen schwieriger, da deren Kosten im Zuge des allein von der Mehrheit bestimmten Willensbildungsprozesses nicht berücksichtigt wurden.
erfüllt, so wie die Herstellung von Produkten – so Schumpeter – ein Nebeneffekt der Profiterzielung ist. Allerdings geht Schumpeter nicht davon aus, dass die Wähler rationale, nutzenmaximierende Akteure sind. Sie zeichnen sich im Gegenteil auf politischem Gebiet eher durch mangelnde Kompetenz und Irrationalität aus, weshalb sie zwischen den Wahlen das Regieren dem gewählten politischen Führungspersonal möglichst ungestört zu überlassen haben. Vgl. Schmidt 2000: 209. 67 Schumpeter 1946/1975: 397, zitiert nach Kersting 2000: 187 f. 68 Schmidt 2000: 337.
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In Konkordanzdemokratien dagegen sind nicht der Modus des Wettbewerbs und das Mehrheitsprinzip, sondern Verhandlungen und das Bemühen um ein gütliches Einvernehmen zwischen unterschiedlichen Interessen kennzeichnend. Alle, auch minoritäre Segmente der Gesellschaft werden mit gesicherten Teilhabeund Vetorechten in die Entscheidung von Fragen allgemeiner Bedeutung eingebunden. Neben der Einbindung oppositioneller Parteien in die Regierung sichern typischerweise »formelle Proporz- und Paritätsregeln bei der Besetzung öffentlicher Ämter […] und Patronage im öffentlichen Dienst sowie in staatlich kontrollierten Bereichen der Wirtschaft« dies ab.69 Als Vorteile der Konkordanzdemokratie gelten dementsprechend der Minderheitenschutz, die Integration unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppierungen und das höhere Potential zur Bündelung und Vermittlung von Interessen. Durch Kooperation werden Nullsummenspiele seltener, zudem sinken die Implementierungskosten. Vor allem in heterogenen Gesellschaften mit einer fragmentierten politischen Kultur und tief verwurzelten Konflikten ermöglicht dies oft überhaupt erst politische Stabilität. Die Nachteile liegen allerdings ebenfalls auf der Hand: Die Gefahr der Blockade und damit die Reduktion des politischen Reformpotenzials, hohe Entscheidungskosten und beeinträchtigte Problemlösungsfähigkeiten durch Kompromisstechniken wie die Verlängerung der Entscheidungsprozesse, zeitliche Streckung der Umsetzung sowie nicht immer sachdienliche Tausch- und Paketentscheidungen. Darüber hinaus dominieren Eliten der unterschiedlichen Segmente die kooperativen Entscheidungsprozesse, die vielfach hinter verschlossenen Türen stattfinden. Verantwortlichkeiten sind dementsprechend schwer nachzuvollziehen und die Wähler haben wenig klare Einflussmöglichkeiten. Die ›klassische‹ Unterscheidung der vergleichenden Politikwissenschaft zwischen Konkurrenz- und Konkordanzdemokratien macht damit deutlich, dass Wettbewerb als zentraler Modus voraussetzungsreich ist. Gerade in heterogenen Gesellschaften bedarf es des Austarierens zwischen konkurrenz- und kooperationsorientierten Elementen politischer Steuerung. Gleiches gilt für grundlegende Fragen der gesellschaftlichen Organisation, wie sie sich beispielsweise angesichts globaler ökologischer Herausforderungen stellen. Jüngere Demokratietheorien betonen auch vor diesem Hintergrund vermehrt deliberative und partizipative Verfahren als ergänzende Mechanismen der Entscheidungsfindung.70
69 Ebd.: 328. 70 Gesellschaftliche Heterogenität ist heute oft weniger durch eine Spaltung der Gesellschaft in stabile Segmente gekennzeichnet als durch Pluralität zum Teil überlappender Gruppen. Zudem sind in vielen westlichen Demokratien die demokratische Kultur und
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4. »P FADE IN U TOPIA« – EINE Z USAMMENFASSUNG IN T HESEN Die Schilderung von Annäherungen an die Begriffe Wettbewerb und Konkurrenz in Wirtschaft und Politik konnte allenfalls einige Spuren der Dialektik des Phänomens nachzeichnen: Wie oben ausgeführt wurde, ist gerade derjenige in Gefahr, Wettbewerb und Konkurrenz zu gefährden, der das ›Spiel‹ besonders gut beherrscht. Auf individueller wie gesamtgesellschaftlicher Ebene erscheint eine erste generelle Schlussfolgerung möglich: Erfolg oder Misserfolg des Modells von Konkurrenz und Wettbewerb zeigt sich gerade auch im Umgang mit den Unterlegenen. Zweitens: Die Vollkommenheit des Leistungswettbewerbs kann aufgrund der Eigenschaften des Wettbewerbs selbst nur angestrebt, aber nicht vollständig erreicht werden.71 Es wird keine auf Dauer stabile Situation geben: Wo sich der Wettbewerb einerseits als permanentes »Entdeckungsverfahren«72 darstellt, gibt es auf der anderen Seite die fortdauernde Verpflichtung, die Wettbewerber zu kontrollieren, ob sie die Wettbewerbsordnung einhalten – und zu prüfen, ob diese vielleicht sogar fortentwickelt werden muss. Drittens: Voraussetzung für einen gerechten Leistungswettbewerb ist die relative Gleichheit der Startbedingungen für alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer.73 Diese Voraussetzung scheint heute nicht gegeben, insbesondere nicht im Blick auf die Trends zur zunehmenden Ungleichheit in der globalen Ökonomie. Viertens: Eine am menschlichen Maß orientierte Einhegung des Grundprinzips von Konkurrenz und Wettbewerb scheint daher nur in einer Regulierung des Marktgeschehens denkbar. In der Perspektive der solidarischen Ökonomie kann dies nur in einer räumlichen Begrenzung des Wettbewerbs gelingen, die eine Hinwendung zum Aufbau lokaler und regionaler ökonomischer und politischer Strukturen nahe legt.
der verfassungsrechtliche Grundrechteschutz fest verankert. Dementsprechend können und müssen die Instrumente und Institutionen, mit denen das Konkurrenzprinzip um Konsens- und Kompromissfindung ergänzt wird, andere sein als in der klassischen Konkordanzdemokratie. Zur Diskussion verschiedener zeitgenössischer Demokratietheorien, darunter die deliberative Orientierung, vgl. Schmidt 2000, Lembcke et al. 2012a. 71 Vgl. dazu auch Volkert 1994: 44. 72 So auch der Titel eines Vortrages von Friedrich A. von Hayek (Hayek 1968). 73 Erhard/Müller-Armack 1972.
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Fünftens: In der Politik hat Wettbewerb als Koordinationsmechanismus einen zunehmenden Stellenwert erhalten. Die Integration ökonomischer Theorieelemente hat in der Politikwissenschaft stattgefunden, ist aber nicht unumstritten. Sechstens: In der repräsentativen Demokratie ist das Konkurrenzprinzip unverzichtbar. Vor allem grundlegende Fragen der gesellschaftlichen Organisation können aber wohl nicht allein wettbewerblich entschieden werden. So erscheinen zunehmend ergänzende Mechanismen wie deliberative Verfahren mit breiter Beteiligung notwendig.
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Kapitalismus und Staatenkonkurrenz T OBIAS TEN B RINK
1. E INLEITUNG In vorliegendem Text wird die These vertreten, dass weltwirtschaftliche Dynamiken und außenpolitische Strategien starker Staaten ein konfliktbeladenes Spannungsfeld bilden, das die Globalisierung als einen instabilen, fragmentierten Prozess erscheinen lässt. In vielen einseitig verallgemeinernden Thesen einer entstehenden Weltgesellschaft ist dies nicht hinreichend analysiert worden.1 Innerhalb der Globalisierungsdebatte hatte in den letzten zwei Jahrzehnten eine bestimmte Harmonisierungsthese eine besondere Anziehungskraft entwickelt. Mit der zunehmenden Transnationalisierung der Weltwirtschaft sowie dem Wegfall des Ost-West-Konfliktes ab 1989 sollte die »neue« Weltordnung perspektivisch ein harmonisches, friedfertiges und demokratischeres Gesicht erhalten. Die Auffassung einer potentiellen »Pazifizierung« der Weltgesellschaft prägte nicht nur volkswirtschaftliche Konvergenzvorstellungen der Neoklassik, sondern auch politikwissenschaftliche Theorien in der Disziplin der Internationalen Beziehungen (IB) oder die Kosmopolitisierungsthese des Soziologen Ulrich Beck.2 Die optimistischen Erklärungen dieses »liberalen Postnationalismus«3 gingen vielfach von einem langfristigen Versiegen der Quellen internationaler, 1
Beim vorliegenden Beitrag handelt es sich um die gekürzte und leicht überarbeitete Fassung von Tobias ten Brink 2012: Überlegungen zum Verhältnis von Kapitalismus und Staatenkonkurrenz. Zeitschrift für Außen- und Sicherheitspolitik (ZFAS) 5 (1): 97–116. Copyright VS Verlag für Sozialwissenschaften. Wiederabgedruckt mit freundlicher Erlaubnis des VS Verlag für Sozialwissenschaften.
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Beck 2004; Held/McGrew 2002; Ohmae 1995; Wendt 2003.
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Müller 2009.
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mit staatlicher Gewalt verbundener Konflikte aus. Aktuelle Maßnahmen wie offensive Währungspolitiken, Sanktionen, aber auch Militärinterventionen starker Staaten werden vorwiegend als Antworten auf »äußere«, den liberalen Kapitalismus bedrohende, archaische Verhaltensweisen bzw. als Ausdruck irrationaler Hegemonievorstellungen angesehen. Zahlreiche Autoren neigen dabei zur Überzeichnung einzelner Trends oder interpretieren diese zu einem nicht oder kaum aufzuhaltenden Übergang in eine »Zweite Moderne«, die die in Nationalstaaten zergliederte Welt ablöst.4 Im akademischen IB-Diskurs wurden diese Thesen bis vor Kurzem eigentlich nur von neorealistischen Argumentationen grundlegend bestritten. In dieser Perspektive werden die zuversichtlichen Aussichten einer Global Governance verneint und erhebliche Rivalitäten zwischen den Großmächten und zwischenstaatliche Konflikte bis hin zu Kriegen antizipiert.5 In jüngerer Zeit – besonders unter dem Eindruck des »Kriegs gegen den Terrorismus«, aber auch der Krisen der EU und der Welthandelsorganisation, den nationalen Aufstiegsprojekten in Indien oder China sowie der globalen Rezession 2008/2009 und den daran anschließenden nationalen Krisenlösungsstrategien – sind jenseits neorealistischer Positionen signifikante Modifizierungen in verschiedenen IB-Ansätzen vorgenommen worden.6 Gleichwohl mangelt es in dieser neuen Diskurskonstellation an systematischen Auseinandersetzungen mit den Wechselverhältnissen zwischen dem globalen Kapitalismus und dem internationalen Staatensystem bzw. den hiermit verbundenen Konkurrenzeffekten. Dies mag teilweise durch eine disziplinäre Engführung erschwert werden, steht aber wohl auch mit einem noch nicht zureichend vollzogenen Wandel theoretischer Erwartungen in Verbindung, weshalb etwa die neue Weltwirtschaftskrise und die zumindest temporäre Aufwertung eines ›starken‹ Staates teilweise wie ein externer Schock behandelt werden und nicht bereits zu einer Modifikation der theoretischen Grundannahmen beigetragen haben. Eine ähnliche Entwicklung hat sich in Ansätzen der Internationalen Politischen Ökonomie (IPÖ) vollzogen. Konstatierten diese vor dem Hintergrund der These einer »neoliberalen« Wende ab den 1970ern häufig eine dramatische Erosion von staatlichen Steuerungsfähigkeiten – Autorinnen und Autoren legten dem die Annahme der Entstehung einer transnationalen Managerklasse oder gar 4
Exemplarisch: Beck 2004.
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Exemplarisch: Mearsheimer 2003.
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Aspekte der imperialen Ordnungspolitik und Unzulänglichkeiten in der Entstaatlichungsthese thematisieren beispielsweise: Brock 2006; Müller 2009; Rosenberg 2005. Vgl. ferner die in unterschiedlicher theoretischer Perspektive vorgetragenen Aufsätze zur fortwährenden Bedeutung des Staatensystems in: ten Brink 2011.
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die Hypothese eines »glatten« Raums der Machtausübung, eines »Empire«, zugrunde7 – werden nun vermehrt die staatlich gesetzten Rahmenbedingungen des wirtschaftlichen Verkehrs sowie sicherheitspolitische Fragestellungen thematisiert.8 Darüber hinaus kam es zur Wiederaufnahme und Weiterentwicklung politökonomischer und imperialismustheoretischer Ansätze, die jedoch im Mainstream der IB kaum Beachtung fanden.9 An eine Reihe von Erkenntnissen in diesen (gleichwohl unterschiedlich konzeptualisierten) Perspektiven einer kritischen IB und IPÖ wird im Folgenden angeknüpft. In einer integralen Perspektive verbindet der Autor dieses Beitrags zusätzlich weitere Forschungsergebnisse interdisziplinär miteinander – zum Beispiel politökonomische Überlegungen mit Ansätzen der materialistischen Staatstheorie sowie mit neo-gramscianischen, neo-poulantzianischen und historischsoziologischen Einsichten. Um einen strukturalistischen Bias zu vermeiden, wird eine historisierende Perspektive eingenommen. Im Gegensatz zu sozialwissenschaftlichen Analysen, in denen (wie in vielen Globalisierungsthesen) historische Entwicklungstrends entweder voreilig extrapoliert oder aber (wie in funktionalistischen Ansätzen) in den engen Bezugsrahmen einer kapitalistischen Entwicklungslogik eingeordnet werden, gilt es, internationale Konkurrenzmechanismen in ihrem historischen Wandel zu analysieren.10 Die im Folgenden entwickelten Überlegungen sollen eine Orientierung auf Konkurrenzverhältnisse und Konflikte ermöglichen, ohne in einen Reduktionismus macht- bzw. staatszentrierter Argumentationen zu verfallen. Die Fragmentierung des Staatensystems wird hierfür mit Merkmalen des globalen Kapitalismus in Zusammenhang gebracht (siehe 2.). Um eine empirische Untersuchung der vielfältigen Varianten internationaler Konkurrenzverhältnisse auch und gerade unterhalb der Schwelle der offenen Gewaltanwendung zu ermöglichen, werden des Weiteren historisch variierende »ökonomische« und »geopolitische« Konkurrenzbeziehungen sowie Spielarten der Geopolitik – verstanden als ›harte‹ bzw. ›weiche‹ Handlungsstrategien moderner Staaten zur Verteidigung, Befestigung bzw. Steigerung von Macht und Einfluss sowie zur nicht notwendigerweise direkten Kontrolle von Räumen – unterschieden (siehe 3. und 4.). Im abschließenden Teil werden einige relevante außenwirtschaftspolitische Konkurrenzdynamiken der Gegenwart umrissen (siehe 5.). 7
Cox/Schechter 2002; Hardt/Negri 2002; Strange 1996.
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Möller 2013.
9
Callinicos 2009; Chibber 2004; Gindin/Panitch 2004; Harvey 2005; Hirsch 2005; Wood 2003.
10 Vgl. für eine umfassendere Darstellung: ten Brink 2008a; ten Brink 2008b: 242–281.
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2. M ERKMALE DES GLOBALEN G EFLECHTS VIELER K APITALISMEN Da der hier in groben Zügen eingeführte Ansatz quer zu anderen Zugängen steht, sind einige allgemein-theoretische Überlegungen unerlässlich. Wie Streeck11 feststellt, können sozialwissenschaftliche Analysen insgesamt von einer stärkeren Berücksichtigung der historischen Besonderheiten der kapitalistischen Sozialordnung profitieren. Um die Eigentümlichkeit des modernen Staatensystems herauszuarbeiten, werden daher im Folgenden Zusammenhänge mit der dominierenden gesellschaftlichen Form unserer Zeit, dem globalen Kapitalismus und den mit ihm verbundenen Konkurrenzverhältnissen und Hierarchien, herausgestellt. Dabei besitzt die Weltwirtschaft eine konstitutive Bedeutung für das Verständnis der fragmentierten Weltordnung. Der real existierenden Weltwirtschaft fehlt ein Steuerungszentrum. Der Weltmarkt entsteht aus dem Zusammenwirken einer unüberschaubaren Anzahl von Faktoren, die sich von den beteiligten Akteuren nicht angemessen durchschauen lassen. Er besteht als global wirksamer Handlungszusammenhang und übt erhebliche Handlungszwänge aus. Die Reproduktion der Weltwirtschaft in ihrer Gesamtheit verkörpert insofern einen Prozess ohne steuerndes Subjekt, der unzählige nicht-antizipierte, paradoxe Effekte zeitigt. Die sich steigernde wechselseitige Abhängigkeit sozio-ökonomischer Prozesse, die in der Globalisierungsdebatte mitunter als das Ergebnis von kaum bestimmten Modernisierungskräften beschrieben wurde, bildet nur eine Seite des kapitalistischen Reproduktionsprozesses. Seine eigentümliche Form entwickelt er erst im Rahmen der wettbewerbsgetriebenen Akkumulation, der Konkurrenz zwischen den Produktionseinheiten, die eine ungleichzeitige, kombinierte und krisenhafte Dynamik befördert: »Als Gesamtresultat […] strebt der Kapitalismus in seinem ständigen Durst nach unendlicher Kapitalakkumulation stets die Errichtung einer geographischen Landschaft an, die seine Aktivitäten zu einem gegebenen Zeitpunkt erleichtert, nur um sie zu einem späteren zerstören und eine ganz andere Landschaft aufbauen zu müssen. Solcherart ist die Geschichte der schöpferischen Zerstörung eingeschrieben in die Landschaft der tatsächlichen historischen Geographie der Kapitalakkumulation.«12
Eine Folge dieses anarchischen Prozesses ist die Herausbildung neuer Wachstumsräume, die sich zu wirtschaftlichen und politischen Machtpolen entwickeln 11 Streeck 2009: 30. 12 Harvey 2005: 102.
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können und in dieser Weise gefestigte internationale Kräftekonstellationen in Frage stellen.13 Gegenwärtig begünstigt eine Restrukturierung des produktiven Kapitals in Richtung Ostasien besonders Chinas nachholende kapitalistische Entwicklung – der asiatische Anteil am weltweiten Bruttosozialprodukt ist zwischen 1960 und heute von 13 % auf etwa 30 % gestiegen – und verleiht dem bevölkerungsreichsten Land der Erde den Status eines überaus relevanten strategischen Standorts der einstigen Peripherie. Um die mit der Entwicklungsdynamik des globalen Kapitalismus verbundene Instabilität genauer zu fassen, werden nun erst einmal historisch variable Merkmale einzelner kapitalistischer Systeme14 beschrieben: Konkurrenzverhältnisse zwischen Unternehmen und Krisendynamiken (2.1), die ›vertikale‹ Konfliktachse der Arbeitsbeziehungen (2.2), die Interaktion zwischen ökonomischen und politischen Akteuren sowie die Einbettung einzelner Volkswirtschaften in weltwirtschaftliche und -politische Zusammenhänge (2.3) sowie Geldverhältnisse bzw. Finanzsysteme (2.4). Diese verschiedenen Merkmale des Kapitalismus – oder genauer, der »vielen«, real existierenden Kapitalismen – befördern nicht nur internationale wirtschaftliche Abhängigkeiten und Konkurrenzverhältnisse, sondern auch staatliche (Standort-)Strategien und (geo-)politische Konflikte. 2.1 Die horizontale Achse kapitalistischer Konkurrenzbeziehungen und die Rolle der krisenhaft-ungleichen (welt)wirtschaftlichen Entwicklung Die systemische Notwendigkeit der erweiterten Akkumulation und Innovation im Kapitalismus setzt sich vermittelt durch die »horizontale« Konkurrenz der Unternehmen durch. Diese wirkt als sozialer Sanktionsmechanismus, der Unternehmen dem Zwang zur Akkumulation bei Strafe der Existenzgefährdung unterwirft. Kapitalistische Märkte entstehen in der Regel in einer spontanen, dezentralen Weise und sind nur bedingt steuerbar.15 Die kapitalistische Interdependenz wird daher nicht automatisch Garant der sozialen Integration, sondern birgt erhebliche Instabilitäts-, Fragmentierungs- und Krisenrisiken in sich. Die maß- und
13 Van der Pijl 2006. 14 Davon zu unterscheiden ist der Begriff der kapitalistischen »Gesellschaft«. Letztere umfasst weitere Dimensionen wie z. B. Hausarbeit, Familie und sozio-kulturelle Phänomene. 15 Mann 1990: 24.
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endlose Kapitalanhäufung sowie der Mechanismus der Konkurrenz verweisen auf die Grenzen der Steuerung, auch und gerade auf globaler Ebene. In neoklassischen Modellen wird der Wettbewerb als eine Kraft angesehen, die die Beziehungen zwischen den Kapitaleinheiten harmonisiert und Unterschiede zwischen Unternehmen, Regionen und letztlich auch Staaten nivelliert. Diese Konvergenzthese beruht allerdings auf unhaltbaren Prämissen – wie etwa der Annahme der vollständigen Konkurrenz und Markttransparenz, homogener Güter, konstanter Produktionstechnik sowie Nachfragestruktur. Die Neoklassik ignoriert die raum-zeitliche Bewegung der Unternehmen, ihre variierende institutionelle Einbettung sowie die Realität von ungleich entwickelten Kapitalien aufgrund ungleich entwickelter Produktivitätsniveaus. Die Expansion des Kapitalismus bringt aus diesem Grund gravierende raum-zeitliche Ungleichheiten nicht nur zwischen der »OECD-Welt« und Schwellen- bzw. Entwicklungsländern, sondern auch innerhalb ersterer hervor. Akkumulationsprozesse setzen sich ungleichmäßig durch, weil die verschiedenen nationalen Gesellschaften unterschiedliche Voraussetzungen für die Etablierung und Reproduktion kapitalistischer Produktionsverhältnisse bieten.16 Eine Analyse der kapitalistischen Produktions-, Konsumtions- und Verteilungsprozesse sowie ihrer institutionellen Einbettung legt zugleich grundlegende Widersprüche des Wirtschaftskreislaufs offen. Historisch traten diese als Überakkumulations-, Unterkonsumptions-, Disproportionalitätskrisen sowie Krisen des Kredit- und Finanzbereichs auf.17 Die Tatsache des relativ simultanen und allgemeinen Charakters besonders der »großen« Krisen des Kapitalismus in den 1870ern, 1930ern und 1970ern (und allem Anschein nach auch gegenwärtig) – obgleich sie auf verschiedenartige sozio-ökonomische, politische und kulturelle Bedingungen in unterschiedlichen Gesellschaften trafen – verweist darauf, dass nationale Akkumulationsregime auf vielfältige Weise mit der internationalen Konkurrenz (und inter- wie transnationalen Politiken) verbunden sind.18 Wie der weitere Argumentationsgang nahelegt, resultieren aus der Dynamik der Kapitalakkumulation eine Reihe von außen(wirtschafts-)politisch vermittelten Wettbewerbs- und Krisenlösungsstrategien. Relevant für die vorliegende Fragestellung sind beispielsweise die internationale Verlagerung von Kapital, die kapitalistische Landnahme in der Form der Erschließung neuer Märkte, die Sicherung von Rohstoffquellen, Pipelinetrassen etc. sowie die Lenkung von Investitionen.
16 Block 2005. 17 Harvey 2010. 18 Brenner 2006.
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2.2 Die ›vertikale‹ Achse kapitalistischer Sozialbeziehungen Die Konflikthaftigkeit kapitalistischer Systeme erschöpft sich nicht in den horizontalen Konkurrenzbeziehungen zwischen Unternehmen. Diese werden von der ›vertikalen‹ Konfliktachse der Arbeitsbeziehungen und Eigentumsverhältnisse überlagert. Soziale Stratifizierungen und insbesondere die vertikale »Klassenpolarisierung zwischen Vermögensbesitzern und Vermögenslosen und die durch sie geschaffene sozialstrukturelle Spannung« stellen erst einmal eine »objektive Grundbedingung kapitalistischer Dynamik«19 dar. Deutschmann zufolge gäbe es ohne diese Spannung kein Aufstiegsmotiv und auch keine Innovationskonkurrenz. Moderne Wirtschaften beruhen auf der privaten Aneignung der produzierten Waren, die nicht auf einem zuvor hergestellten gesellschaftlichen Konsens gründet. Mit den hierarchisch strukturierten Arbeitsverhältnissen sind spezifische Eigentums- und Verfügungsrechte verbunden, die die Partizipation der sozialen Akteure an den Entscheidungs-, Planungs- und Kontrollprozessen über Produktion, Verteilung und Konsumtion maßgeblich bestimmen. Die ›vertikale‹ Achse kapitalistischer Sozialbeziehungen bildet aus diesem Grund nicht nur in Krisen eine Basis fortwährender innergesellschaftlicher Auseinandersetzungen. Um soziale Konflikte einzudämmen, sind interne gesellschaftliche Krisen und Legitimationsdefizite geschichtlich vielfach von Machteliten dadurch zu lösen versucht worden, dass ein externes »Anderes« konstruiert wurde, um eine Krisenexternalisierung zu bewirken. Ein innenpolitischer Konsens über Klassengrenzen hinweg wird über eine Abgrenzung nach außen herzustellen versucht. Wie kritische Arbeiten verdeutlichen, lässt sich die Außenpolitik einer Staatsführung mit anderen Worten nicht losgelöst von einer Analyse der Dynamiken in nationalen Wirtschaften verstehen, unter anderem von hegemonialen Projekten sowie von sozio-ökonomischen Desintegrationstendenzen und hiermit in Verbindung stehenden nationalistischen Bewegungen.20 Die Bedeutung kollektiver Identitäten, affektiver Dimensionen des Politischen sowie von Exklusion als Ausdrucksformen antagonistischer Verhältnisse darf auch in liberalen Demokratien nicht gering geschätzt werden.21
19 Deutschmann 2009: 38. 20 Brand 2006; De Graaff/van Apeldoorn 2011. 21 Geis 2008; Mouffe 2007: 64–67.
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2.3 Staat und Staatensystem: Die Interaktion wirtschaftlicher und politischer Akteure In welcher Weise ist die ökonomische Konkurrenz, Krisenhaftigkeit und grenzenübergreifende Suche nach rentablen Investitionen mit der Politik von Staaten verbunden? Zur Beantwortung dieser Frage müssen die Interdependenzen zwischen Politik und Wirtschaft sowie die Ursachen für die Existenz vieler Einzelstaaten untersucht werden. Kapitalistische Wirtschaftssysteme sind zu ihrer Reproduktion auf »nichtökonomische« Institutionen angewiesen. Dazu gehört insbesondere der moderne Staat. Historisch betrachtet konnte eine gelingende Kapitalakkumulation ohne relativ autonome politische Instanz, die das Gewaltmonopol innehat, über einen längeren Zeitraum nicht realisiert werden. Der Staat stellt zwar keine homogene Einheit dar, versucht jedoch gleichwohl eine Reihe von sozialen, rechtlichen und infrastrukturellen Integrations- und Anpassungsleistungen zu garantieren, die die Aufrechterhaltung kapitalistischer Vergesellschaftung allererst ermöglichen (z.B. Vertragsverhältnisse, Infrastrukturmaßnahmen, Ausbildungssektor). Wie in der materialistischen Staatstheorie veranschaulicht wird, bilden Wirtschaft und Politik derart ein Regulierungsgeflecht, welches durch strukturelle Interdependenzen gekennzeichnet ist: Staatliches Handeln spielt bei der Gestaltung wirtschaftlicher Vorgänge eine konstitutive Rolle. Doch nicht nur die Unternehmen sind abhängig von den jeweiligen staatlichen Instanzen, umgekehrt hängt die Existenz des Einzelstaates von den erfolgreichen Aktivitäten der jeweiligen nationalen Wirtschaft ab.22 Welthistorisch hat sich auf diese Weise ein Geflecht sich unterscheidender, aber miteinander verbundener und durch ständige Differenzierungs- und Anpassungsprozesse gekennzeichneter »politischer« Ökonomien herausgebildet, die sich in einem »Standortwettbewerb« gegenüberstehen. Die kapitalistische Entwicklung mündete nicht in die Organisation eines Weltstaates ein. Es koexistieren viele Staaten, was auf wenigstens zwei zentralen Ursachen beruht: Erstens erfordert die Notwendigkeit der Schaffung klassenübergreifender Koalitionen zur Herstellung innergesellschaftlicher Stabilität die Integrationsleistungen der Einzelstaaten (siehe 2.2). Ohne die Existenz vieler Einzelstaaten als rechtlich verfasster und symbolischer Referenzsysteme wären grundlegende Mechanismen der Ausbalancierung von innergesellschaftlichen Konflikten kaum zu gewährleisten. Diese Form der kollektiven Identitätsbildung setzt andere Staaten gewissermaßen voraus. Die Beseitigung »nationaler« Spaltungen würde etwa die 22 Block 1994: 696–705; Jessop 2007.
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Wirkmacht wesentlicher sozialer Integrationsmodi außer Kraft setzen.23 Zweitens hat die wirtschaftliche Entwicklung nicht zu einer Homogenisierung auf globaler Ebene geführt. Die Welt ist kein glatter, sondern ein gekerbter Raum. Es haben sich fest verankerte wirtschaftliche Zentren gebildet, die in einem engen Wechselverhältnis zu den auf dem jeweiligen Territorium etablierten Staatsapparaten stehen. Relativ immobile raum-zeitliche Fixierungen des Kapitals, insbesondere des territorial verankerten Produktivkapitals, stellen hohe Anforderungen an die staatlichen Regulierungsapparate.24 Gleichwohl diese Konstellation eine historisch gewordene ist, wie funktionalistischen Annahmen entgegnet werden muss, kennzeichnet diese dennoch die Gegenwart wie kaum ein anderer Sachverhalt. Ein Ende des Staatensystems ist theoretisch vorstellbar, doch praktisch nicht abzusehen: Ist der Kapitalismus einmal historisch in nationalen Formen entstanden, so Ellen Meiksins Wood, und wurde er in anderen national organisierten Prozessen imitiert, reproduziert sich dieses System mit einer hohen Wahrscheinlichkeit.25 Zudem sorgt das Unvermögen supra- bzw. transnationaler Organisationen, die Widersprüche des globalen Kapitalismus erfolgreich zu regulieren, für die Beibehaltung des zwischenstaatlichen Systems.26 Um eine gewisse Sicherheit zu gewährleisten, müssen wirtschaftliche Verflechtungsräume ein Maß an Berechenbarkeit aufweisen, die von staatlichen Garantien und Hilfestellungen abhängt. Komplexe Produktionsstrukturen erfordern eine administrativ-ordnungssetzende Infrastruktur (wie Rechtswesen, Verwaltung, Lizenzierungsverfahren), eine wirtschaftliche Infrastruktur (etwa Transportwesen, Kommunikation) sowie weitere Regulierungen (beispielsweise im Arbeitsrecht oder bei der Regelsetzung für ökonomische Transaktionen). Ferner verlangen die Innovationen der Produktionsprozesse eine gewisse Risikoübernahme durch den Staat mittels Subventionen, Direktbeteiligungen etc. Zugleich sind die Staaten angehalten, für ein Mindestmaß an ausgebildeten Arbeitskräften und deren soziale Sicherheit zu sorgen. Dass die Wachstumsstrategien der Unternehmen einer erheblichen Hilfestellung durch politische Regulierung be23 Anderson 1996; Görg 2002. 24 Callinicos 2009: 73–100; Harvey 2005: 95–102; Mann 1997. Die quantitative Bedeutung der fixierten Produktionsmittel übertrifft das BIP von Volkswirtschaften. Das Bruttoanlagevermögen in Deutschland, ein grober Indikator, lag laut Statistischem Bundesamt 2009 bei 10,7 Billionen Euro im Vergleich zu einem jährlichen BIP von etwa 2,5 Billionen Euro. 25 Wood 2003: 137–142, 154–159. 26 Brand 2006.
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dürfen, lässt u.a. an einer kontinuierlich hohen Staatsquote, auch in sogenannten »neoliberalen« Volkswirtschaften, ablesen.27 Umgekehrt sind die Staatsapparate abhängig von einer gelingenden Akkumulation innerhalb ihres Hoheitsgebietes, was sich unter anderem in dem Interesse an der Erhaltung der Besteuerungsgrundlagen ausdrückt: Um handlungsfähig zu bleiben, müssen die politischen Eliten der Tatsache Rechnung tragen, dass die fiskalischen Ressourcen und damit die Mittel, staatliche Politik gestalten zu können, letztlich von einer einigermaßen reibungslosen wirtschaftlichen Entwicklung abhängen. Auch wenn Firmen mehr und mehr global agieren, gehen die Staatsführungen daher von international wettbewerbsfähigen »nationalen« bzw. »einheimischen« Unternehmen aus und haben ein Interesse an dauerhaften Beziehungen zu ihnen. Aus diesem Grund verfolgt eine Regierung dieses Ziel in der Regel nicht nur, weil ihre Mitglieder durch Lobbying bestochen oder mit Wirtschaftseliten personell verflochten sind. Die Globalisierung bringt also eine Gegentendenz hervor: Die transnationale Akkumulation ist im Zuge permanenter Ortswechsel und der Suche nach profitablen Anlagemöglichkeiten gebunden an eine auch staatlich produzierte geographische Infrastruktur. Die Tendenz der Unternehmen, sich weltweit auszubreiten, setzt eine lokale Fixierung von Kapitalinvestitionen voraus. Die DeTerritorialisierung geht einher mit einer Produktion territorialer Fixierungen, die zu unterstützen der Einzelstaat besonders geeignet ist.28 Der globale Kapitalismus ist dem zufolge bis dato nur als eine Vielzahl politischer Ökonomien angemessen zu konzeptualisieren. Inwiefern sich der Prozess der Reartikulation des Raumes sowie seiner Regulierung durch »viele« Kollektivakteure in politische »Staatsprojekte« transformiert, und diese wiederum in konträre Positionen zu anderen Staatsprojekten geraten, kann freilich erst unter Berücksichtigung der Ausprägungen in spezifischen historischen Phasen und konkret-historischen Konstellationen näher untersucht werden. 2.4 Eine Welt, viele Währungen: Kapitalistische Geld- und Finanzsysteme Ein weiteres Merkmal des Kapitalismus, das internationalen Austausch ermöglicht, ihn jedoch zugleich konflikthaft strukturiert, sind die Geld- und Währungsverhältnisse. Das Geld ist ein grundlegendes Medium der Vergesellschaftung in der kapitalistischen Wirtschaft. Der Kreislauf des industriellen Kapitals 27 Hay 2005. 28 Jessop 2007: 180–197.
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gewinnt durch den Mechanismus des Kredits bzw. des Verkaufs von Aktien seine Elastizität. Zugleich unterliegen kapitalistische Akteure sowie die Tätigkeit des Staates, der sich seine materiellen Ressourcen in Geldform beschafft, einer Geldbeschränkung. Da das Geld immer bezogen ist auf konkrete einzelstaatliche (im Falle des Euro, überregionale) Währungsräume, und die Geldpolitik mit dem Gültigkeitsbereich einer Währung Binnen- und Außenwirtschaft gegeneinander abgrenzt, erhält das Geld den Status eines politisch regulierten Mediums, was besonders für die Geldschöpfung zutrifft.29 Innerhalb einzelner Währungszonen wirken Zentralbanken als Emissionsstelle und als »lender of last resort«. Zudem spielen sie eine Rolle bei der Regulation des internationalen Zahlungsverkehrs.30 Mangels eines Weltstaates sind es jedoch »zwingend nationale Währungen, die internationale Funktionen übernehmen müssen, was eine Reihe von Problemen aufwirft«.31 Die Stabilität des je eigenen Währungsraums bildet eine wichtige Komponente des globalen Wettbewerbs. Da die verantwortlichen Institutionen diese im Verhältnis zu den jeweiligen anderen Währungen durchsetzen müssen – etwa durch Strategien der »Unterbewertung« – entsteht eine Währungskonkurrenz, die bis zum geopolitischen Währungskonflikt eskalieren kann.
3. I NTERNATIONALE K ONKURRENZVERHÄLTNISSE Im Folgenden werden zwei zentrale Formen des Wettbewerbs auf globaler Ebene beschrieben, die aus dem Geflecht ›vieler‹ politischer Ökonomien historisch entstanden sind. Diese fasse ich als Überschneidung zweier, relativ unabhängig voneinander existierender und nicht aufeinander zu reduzierender, jedoch sich 29 Cohen 2000: 131–149; Mosley 2003. Hegemoniale Leitwährungskonstellationen (Goldstandard und das englische Pfund als Leitwährung vor 1914, Bretton-Woods-System und US-Dollar als Leitwährung des Westens nach 1945) sind vor dem Hintergrund internationaler Machtverschiebungen von Oligopolkonstellationen (etwa die Zeit zwischen 1914 und 1945) abgelöst worden. 30 Über die genannten Handlungsmöglichkeiten verfügen nicht alle Einzelstaaten gleichermaßen souverän. Währungen von starken Staaten übernehmen Geldfunktionen in schwächeren Staaten. Zugleich sind die Staaten nicht die alleinigen Akteure in diesem »strategischen Spiel«. Die Entscheidung über die Stellung einer nationalen Währung in der Hierarchie der Währungen wird heute auch von den Entscheidungen privater Akteure auf den Devisenmärkten getroffen. 31 Herr/Hübner 2005: 99.
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zeitweise verschränkender Muster der sozio-ökonomischen Unternehmens- sowie der geopolitischen Staatenkonkurrenz. Weil diese Formen des Wettbewerbs sich unterscheiden und differierende Akteure in sie involviert sind, schwankt deren Interaktion historisch betrachtet. Unternehmen und Staatsführungen orientieren sich an verschiedenartigen Kriterien der Reproduktion und bilden somit untereinander ein Spannungsverhältnis aus, das regelmäßig divergierende Handlungsstrategien zur Folge hat.32 Das wesentliche ökonomische Kriterium der Reproduktion besteht in der Behauptung der relativen Kapitalstärke und damit der Profitabilität; sollten Einzelkapitalien dieses Ziel verfehlen, drohen der Bankrott oder die Übernahme. Das wesentliche Kriterium der politischen Reproduktion zielt dagegen erst einmal darauf, die Herrschaft gegenüber der jeweiligen Bevölkerung und gegenüber anderen Staaten sowie äußeren sozialen Kräften zu behaupten. Hier droht im Falle des Scheiterns eine Delegitimierung der Herrschaft. Die wechselseitige strukturelle Abhängigkeit beider Akteursebenen führt aber immer wieder auch zu kongruenten Handlungsstrategien, die sich unter anderem in der politischen Hilfestellung bei der globalen Restrukturierung der Kapitalverwertung und dem Versuch des Managements der internationalen Beziehungen ausdrücken. Als Beispiele hierfür gelten die wirtschaftspolitische Unterstützung bei der Durchführung von Auslandsinvestitionen oder diplomatisch vermittelte Wirtschaftsbeziehungen. Ebenso spielen die militärischen Kapazitäten und Sicherheitsstrategien von Staaten als ›diskrete‹ Hintergrundinformation über ihr internationales Durchsetzungsvermögen eine Rolle, was wiederum Vorteile für wirtschaftliche Akteure mit sich bringen kann – etwa den Zugang zu vormals geschlossenen Märkten. Sollten die Akkumulationsprozesse von Unternehmen die Grenzen der Volkswirtschaft überschreiten, ist die Frage, wie sich dies auf die Handlungsstrategien des ursprünglichen Standorts auswirkt. Historisch wurden internationale Austauschverhältnisse häufig durch die Schaffung supra-staatlicher Abkommen bzw. internationaler politischer Institutionen (temporär oder längerfristig) reguliert. Ist es für den Staat jedoch absehbar, dass die Internationalisierungsprozesse seine Macht potentiell unterminieren könnten, ringt er mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit darum, Investitionsströme mit viel »Mühe und Besonnenheit zu seinem eigenen Vorteil« zu lenken, sowohl intern als auch extern: »Und was den externen Bereich angeht, wird er typischerweise große Aufmerksamkeit auf die Asymmetrien legen, die immer aus dem Handel zwischen Räumen entstehen, und versuchen, die Trümpfe der monopolistischen Kontrolle so stark zu machen, wie er kann. Er 32 ten Brink 2008a: 118–130. Vgl. Teschke/Lacher 2007; Jessop 2004.
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wird sich, kurz gesagt, notwendig am geopolitischen Kampf beteiligen und wo er kann auf imperialistische Praktiken zurückgreifen«.33
Die geopolitischen Anstrengungen moderner Staaten sind somit nicht nur als Ausdruck der Sonderinteressen eines militärisch-industriellen Komplexes oder irrationaler Machtstrategien zu werten, sondern auch und gerade als ein Versuch zu verstehen, spezifische globale Einflussmöglichkeiten im »Allgemeininteresse«34 zu verbessern. Geopolitische Dienstleistungen sowie die Bemühungen zur Schaffung einer internationalen Ordnung lassen sich dabei nicht hinreichend aus mächtigen Profitinteressen erklären, sondern sind immer auch Ausdruck der Interessen einzelstaatlicher Instanzen, die damit etwa auf die Aufrechterhaltung ihrer Souveränität und damit ihrer Machtbasis zielen.35 Die Entstehungsgrundlagen kapitalistischer Geopolitik unterscheiden sich alles in allem erheblich vom geopolitischen System des Feudalismus bzw. Absolutismus.36 In letzterem waren Krieg und Landraub zentrale Instrumente der Aneignung eines Mehrprodukts. Die Okkupation von »fremdem« Territorium im Kapitalismus ist zwar vorstellbar, aber nicht zwingend notwendig: Sollte die Kontrolle von Räumen zur Ermöglichung und Absicherung ökonomischer Durchdringung auch ohne direkte Herrschaft möglich sein, ist dies im Regelfall ein befriedigender Zustand für die beteiligten Staaten bzw. Machteliten. Es sei an dieser Stelle, überleitend zum nächsten Abschnitt, noch einmal darauf verwiesen, dass internationale Konkurrenzverhältnisse sich nicht allein aus externen Spannungen ableiten lassen, sondern erst in einer Kombination mit den innergesellschaftlichen Dynamiken, normativen Konstellationen und Kräfteverhältnissen (sowie weiteren transnationalen Dynamiken) angemessen zu untersuchen sind. 33 Harvey 2005: 108. Insofern kann die Rüstungskonkurrenz als eine zentrale Form des geopolitischen Wettbewerbs verstanden werden. 34 Staatsführungen zielen darauf ab, differierende Einzelinteressen zu einem legitimen außenwirtschaftlichen und -politischen Allgemeininteresse zu bündeln. Das leitet über zu dem Problem eines je konkret durch den Staat zu bestimmenden Interesses, das heißt der Art und Weise, wie der Einzelstaat auf variierende, internationale Herausforderungen reagiert. Dabei werden immer alternative, umkämpfte Umsetzungsmöglichkeiten politisch artikuliert, was die Untersuchung von innergesellschaftlichen Entwicklungen, unter anderem von Verbänden, Parteien bzw. eine interne Differenzierung der Machteliten in Fraktionen, die Kompromisse mit anderen sozialen Gruppen einschließt, erforderlich macht. 35 Deudney 2000. 36 Giddens 1987: 222–236.
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4. S PIELARTEN DER G EOPOLITIK GLOBALEN K APITALISMUS
IM
Allgemein lässt sich aus dem Vorangegangenen folgern, dass aus den vielgestaltigen Artikulationen von wirtschaftlichen und politischen Kooperations- und Konkurrenzverhältnissen konflikthaft strukturierte inter- und transnationale Räume hervorgehen. Diese Räume konstituieren ein Geflecht sozialer Beziehungen spezifischen Charakters, auf der andere Handlungsrationalitäten als innerhalb der (in der Forschung häufig als Referenzfolie verwendeten) relativ stabilen westlichen Gesellschaften herrschen. Die Bedeutung der Dimension von Hierarchie und Unsicherheit auf der Ebene der internationalen Beziehungen untermauert die These, der zufolge inter- und transnationale Dynamiken Prozesse ohne steuerndes Zentrum bleiben.37 Zugleich macht die stetige Veränderung moderner Gesellschaften es notwendig, das Verhältnis der Strukturmerkmale des globalen Kapitalismus zu den verschiedenen historischen Phasen der kapitalistischen Entwicklung in Beziehung zu setzen, das heißt zu der Art und Weise, wie sich die Strukturmerkmale zu typischen Merkmalskombinationen einer bestimmten historischen Periode und/oder Konstellation ausbilden.38 Es gilt dabei, den Gegensatz zwischen gesellschaftlich bedingter Handlungsfähigkeit und institutionalisierten Handlungszwängen zu überwinden. Eine angemessene Berücksichtigung der Handlungsebene kann dazu dienen, die relevante Rolle strategisch-politischer Projekte von Machteliten sowie die kontingenten Entwicklungen in den internationalen Beziehungen zu erfassen. Über die allgemeinen Bedingungen der Konfliktentstehung hinaus kann nun zu einer Analyse der historischen Wirklichkeit übergegangen werden. Die historische Transformation der Außen(wirtschafts)politik lässt sich nunmehr vor dem Hintergrund der sich verändernden Bedeutung der Politisierung der Ökonomie, unter anderem durch sich wandelnde Formen des staatlichen Interventionismus (etwa im liberalen Ordnungsstaat oder im stärker regulierenden Interventionsstaat) sowie durch das Mischungsverhältnis zwischen ›harter‹ und ›weicher‹ Geopolitik genauer beschreiben. 37 Hobson/Sharman 2005. 38 Bieler/Morton 2001. Hegemoniale und nicht-hegemoniale Weltordnungsphasen und ihre, in einem weiteren Schritt einzuführenden, variierenden sozio-ökonomischen und geopolitischen Verlaufsformen können entlang der Entwicklungslinie vom klassischen Imperialismus (1870–1945) über die Weltordnungsphase des Supermachts-Imperialismus (1945–1989) bis zur Phase der neuen Weltunordnung ab 1989 nachgezeichnet werden (ten Brink 2008a: 136–217).
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Die weiche Spielart der Geopolitik beschränkt sich auf die Einflussnahme auf einem fremden Territorium, in internationalen Organisationen und auf ausländischen Märkten mit friedlichen Mitteln, die zu ökonomischen Abhängigkeiten führt und/oder politischen Druck ausübt. Im Rahmen weicher Geopolitik spielen politische oder diplomatische Maßnahmen, ökonomische Sanktionen sowie ökonomische Anreize eine wichtige Rolle bei der Durchsetzung von Ambitionen im jeweiligen Zielgebiet bzw. in der Auseinandersetzung zwischen Staaten.39 Die harte Spielart der Geopolitik zielt dagegen mit vorwiegend militärischen Mitteln auf eine politische Kontrolle externer Räume und/oder auf die Bewahrung bzw. Steigerung des internationalen Einflusses. Weil die Intensität des Umgangs mit Konkurrenzen bzw. der Konfliktaustragung variiert, können die Formen der internationalen Auseinandersetzungen auf einem Kontinuum angeordnet werden. Dies reicht von den Auseinandersetzungen in den Arenen der internationalen politischen Institutionen, über handelsund währungspolitische Spannungen sowie bestimmten, weichen geopolitischen Maßnahmen wie Sanktionen bis hin zur Androhung militärischer Gewalt bzw. der Zurschaustellung militärischer Kapazitäten und weiteren harten geopolitischen Handlungen. Sie können in der Gewaltanwendung kulminieren.40
5. AUSBLICK : G EGENWÄRTIGE K ONKURRENZDYNAMIKEN Abschließend weise ich auf Grundlage der eingeführten Merkmale des globalen Dispositivs vieler Kapitalismen und staatlicher Strategien kursorisch auf einige bedeutende Konkurrenzbeziehungen hin, die geopolitische Dynamiken ausgelöst haben bzw. zukünftig auslösen können. (1) Multipolarität, Wettbewerbsstaatlichkeit und Funktionsstörungen in internationalen Institutionen: Mit dem Zusammenbruch des Ostblocks, der ein geopolitisches Vakuum hinterließ – das an seinen südlichen Rändern in Zentralasien entstandene Machtvakuum entwickelte sich zu einer der wichtigsten Konfliktzonen heutiger Sicherheits- und Energiepolitik –, wurde die bipolar strukturierte Welt kurzzeitig durch die alleinige Vorherrschaft der Vereinigten Staaten abgelöst. Vor dem Hintergrund von veränderten sozio-ökonomischen Kräfteverhältnissen, instabilen Märkten, Konkurrenzverhältnissen im Bereich der Geld- und Währungsbeziehungen und aufsteigenden Mächten konnte der Wunsch nach 39 Gritsch 2005. 40 Grieco/Ikenberry 2003.
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einem amerikanischen Imperium allerdings nicht in eine erneute, nunmehr globale Hegemonie überführt werden.41 Der Prozess eines relativen Machtschwunds der USA offenbarte sich jüngst in der Finanz- und Wirtschaftskrise, die die amerikanische Volkswirtschaft wesentlich härter als frühere Krisen traf und zudem den Aufstieg Chinas wirtschaftlich und machtpolitisch akzentuierte. Die Relevanz nicht immer komplementär handelnder einzelstaatlicher Apparate äußert sich in den letzten Jahren außenwirtschaftspolitisch in Form eines gestärkten Selbstverständnisses des Wettbewerbsstaates – vor dem Hintergrund von Überakkumulationstendenzen und einer Zunahme der Konkurrenz zwischen den Unternehmen auf internationaler Ebene. Der nationale Standortwettbewerb des 21. Jahrhunderts ist insofern keine Fehlwahrnehmung, sondern basiert auf der Existenz vieler wirtschaftlicher Zentren, die wiederum rückgebunden sind an die jeweiligen gesellschaftlichen Kräftekonstellationen sowie an die institutionell verankerten, weiterhin vorwiegend von einzelstaatlichen Herrschaftsinstanzen (wenn auch verstärkt in öffentlich-privaten Mischformen) bearbeiteten Governance-Strukturen. Hinsichtlich der makroökonomischen Einflussmöglichkeiten der Wirtschaftsund Finanzpolitik haben beispielsweise mit den Zentralbanken restrukturierte Institutionen eines Quasi-Staatsinterventionismus an Bedeutung gewonnen. Der globale Einbruch 2008/2009, der nationale Krisenlösungsstrategien zeitigte und
41 Mann 2003; Smith 2005. Entgegen der These, dass der »Krieg gegen den Terror« und besonders die Irakpolitik ab 2002 allein irrationalen Machtpolitiken neokonservativer Regierungseliten geschuldet war, weisen Autoren darauf hin, dass diese auch als ein riskanter (und schließlich gescheiterter) Versuch der amerikanischen Staatsführung verstanden werden kann, erstens militärische Überlegenheit und damit Hegemoniefähigkeit unter Beweis zu stellen, zweitens die Dominanz im Nahen Osten gegenüber anderen Großmächten und der OPEC auszubauen und drittens »demokratische Revolutionen« voranzutreiben bzw. westlich orientierte liberale Marktwirtschaften zu etablieren – Aspekte, die im Interesse großer Teile der amerikanischen Unternehmen gelegen hätten (Callinicos 2009: 223–227; vgl. Bromley 2005). Über die These einer Gegenreaktion des harten Kerns der Staatsorgane, des Gewaltmonopols – seit »dessen Organe zusehends von nichtstaatlichen Akteuren herausgefordert werden« (Müller 2009: 241) – hinaus, besitzt die angezielte Herstellung und Aufrechterhaltung einer hegemonialen politischen Führungsrolle erhebliche Vorzüge für die amerikanische Volkswirtschaft. Kirshner (2008) beschreibt dies am Beispiel der globalen Vorherrschaft des US-Dollar. Diesem Umstand verdankt der amerikanische Staat größere Kapazitäten als andere Nationen, Leistungsbilanzdefizite, einen gigantischen Verteidigungshaushalt sowie Krisen zu schultern.
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eine Debatte um einen »neuen« Protektionismus auslöste, den Schutz einheimischer Produzenten vor »ausländischer« Konkurrenz, pointierte dies. Auch wenn gegenwärtig ein hohes Potential zur Koordination auf supranationaler Ebene existiert, haben Tendenzen der Transnationalisierung sozialer Prozesse in der neuen Weltunordnung bislang vorwiegend zu makro-regionalen Wirtschaftseinheiten (mit allenfalls partieller politischer Integration) geführt. Sie bedürfen weiterhin der staatlich-institutionellen Regulierung und der Ressourcen der Einzelstaaten. Die Weiterentwicklung dieses Trends verbietet ökonomistische Kurzschlüsse: Auch wenn die Unternehmen transnationaler als jemals zuvor handeln und sich etwa auf die infrastrukturellen Voraussetzungen mehrerer Staaten gleichzeitig beziehen, gehen die Staatsführungen weiterhin von international wettbewerbsfähigen »einheimischen« Kapitalien aus und besitzen ein Interesse an dauerhaften Beziehungen zu ihnen, weil sie sich in einer strukturellen Abhängigkeit gegenüber einer gelingenden Kapitalakkumulation innerhalb ihres Territoriums befinden. Nationale bzw. regionale »Alleingänge« stimulierten aus diesem Grund – und zwar bereits vor dem globalen Einbruch – Funktionsstörungen in den internationalen politischen Institutionen. Rivalitäten zwischen der EU und den USA, besonders aber zwischen dem »Norden« und den »Schwellenländern« bewirkten zum Beispiel seit 2003 eine schwelende Krise der Welthandelsorganisation. Zwar sind sich die politischen Machteliten der stärksten Volkswirtschaften der Erde häufig schnell einig darin, wie im Allgemeinen eine liberale globale Ordnung einzurichten sei, sie streiten aber untereinander um die konkrete Rangordnung in der Herstellung dieser Ordnung.42 Während heute die aufstrebenden »BRIC«-Länder sich gewissermaßen als »Status Quo«-Mächte erst einmal in bestehende Regulierungsinstitutionen einbinden lassen und mit einer Politik der praktischen Anpassung auf eine normative wie politische Integration abzielen, deutet ein detaillierterer Blick auf einen relativ inkohärenten Regulierungszusammenhang in den internationalen Institutionen hin. Innerhalb des neuen G20-Forums – selbst Ausdruck des Machtzuwachses von Schwellenländern – verhindern konfligierende Positionen und wirtschaftspolitische Strategien (etwa zur Linderung der Bankenmalaise) die Durchsetzung signifikanter globaler Re-Regulierungen, was die Wahrscheinlichkeit erneuter weltwirtschaftlicher Instabilitäten erhöht. Die Folgewirkungen des globalen Einbruchs haben ferner die EU in massive Schwierigkeiten gestürzt. Von der Zahlungsunfähigkeit bedrohte Länder der Euro-Zone lassen sogar das vor ein paar Jahren undenkbare Ende bzw. eine Verkleinerung der Währungsunion als »Lösung« erscheinen. 42 Chorev/Babb 2009.
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(2) Währungskonkurrenz: Beispielhaft für die komplexe Vermittlung von ökonomischen Konkurrenzverhältnissen und wirtschaftspolitischen Kontrollstrategien bzw. -kapazitäten stehen gegenwärtig Währungsdispute, die mittelfristig die Rolle des US-Dollar als Weltleitwährung gefährden können. Nachdem, im Unterschied zu einigen großen Schwellenländern, der Wachstumsbilanz vieler OECD-Wirtschaften (besonders der Vereinigten Staaten) auch im Jahr 2010 Mängel attestiert werden, zielen eine Reihe entwickelter Volkswirtschaften wie Japan oder Deutschland gleichzeitig auf die Strategie des Exports ab. Um den inneren Wachstumsblockaden zu entgegnen, möchte nunmehr auch die US-Administration den Export in den nächsten Jahren erheblich steigern. Sie forderte auf dem G-20-Gipfel sogar eine (erfolglose) Begrenzung von Exportüberschüssen anderer Exportländer. Da in diesem Zusammenhang die Wahrscheinlichkeit einer Verschärfung der Konkurrenz um die weltweiten Exportmärkte zunimmt – unter der Voraussetzung einer Exportschwemme können Überkapazitäten entstehen; nicht alle Exportwirtschaften können daher zugleich profitieren –, versuchen einige Staaten durch eine Verbilligung der eigenen Währung Marktanteile zulasten anderer Nationen zu gewinnen.43 In der westlichen Kritik an unterbewerteten Währungen von Schwellenländern (besonders Chinas) kommt der sich verschärfende ökonomische Wettbewerb gewissermaßen politisch zum Ausdruck. In diesem Zusammenhang hat auch die Strategie einer sogenannten »quantitativen Lockerung« der amerikanischen Zentralbank – um über den Kauf von Staats- und Privatanleihen die im Umlauf befindliche Geldmenge zu steigern – vergleichsweise heftige internationale Kritiken hervorgerufen, weil dies den Wert des Dollars senken und amerikanische Exporte verbilligen kann. Ob sich diese Spannungen, etwa vor dem Hintergrund eines erneuten Einbruchs von Volkswirtschaften, zu schwerwiegenden politischen Auseinandersetzungen hochschaukeln, ist nicht sicher.44 Möglich wäre es, zumal, wenig beachtet, sich bereits in den Jahren vor der Krise die Hegemonialposition des USDollar abschwächte, was sich beispielsweise in Vorschlägen Chinas zur Schaf43 Wer die Vergabe von Staatsgeldern an marode Unternehmen zugleich an Entlassungen und Lohnsenkungen knüpft, droht einen »Neo-Merkantilismus« zu stimulieren, der unter Bedingungen weltweit sinkender Nachfrage in eine verschärfte Beggar-thy-neighbourPolitik umschlägt. Selbst das Gespenst der Deflation kann dann durchaus real werden. 44 Sollte die Volksrepublik ihre Dollarbestände schnell umschichten, würde deren Wert fallen und zugleich der Wert des chinesischen Yuan steigen, was einen zentralen Wettbewerbsvorteil der Exportökonomie Chinas konterkariert. Die Staatsführung denkt mit ihren Vorschlägen daher vorwiegend an einen mittel- bis längerfristigen Prozess der Umschichtung, der die Erosion der aktuellen Leitwährung vorantreiben würde.
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fung einer neuen Weltfinanzarchitektur manifestierte.45 Die in den letzten Jahren mit dem Begriff »Bretton Woods II« umschriebene Konstellation, die auf Leistungsbilanzdefiziten der USA einerseits und Leitungsbilanzüberschüssen in Ostasien andererseits basierte und die Dominanz des US-Dollars trotz der hohen Staats- und Auslandsverschuldung der Vereinigten Staaten garantierte, wird angezweifelt, und ein fragmentiertes Währungssystem wahrscheinlicher. Da dies nicht im Interesse der USA liegt, deutet diese Entwicklung auf zukünftige Konflikte hin. Begleitet von diplomatischen Beschwichtigungsgesten führt die ObamaAdministration gegenwärtig, anknüpfend an liberal-realistische Traditionslinien, Sicherheitsmaßnahmen fort, um China in eine Art Konzert der Mächte einzuordnen – dirigiert durch die USA, mit dem Ziel einer Unterordnung bzw. Domestizierung der Volksrepublik.46 Dass die gegenwärtig nur episodisch stattfindenden Auseinandersetzungen mit China von der aktuellen (oder zukünftigen) USAdministration – wohl wissend um die wechselseitigen Abhängigkeiten zwischen den zwei größten Volkswirtschaften der Erde – in manifeste geopolitische Konflikte ausgeweitet werden, erscheint dennoch nicht völlig abwegig. Sollten sich die Anhaltspunkte für eine Erosion des amerikanisch dominierten Regulierungsgeflechts auf globaler Ebene verdichten und Konflikte jenseits der Wirtschaftsund Geldpolitik zunehmen, beispielsweise in Fragen der Ressourcensicherung, erscheint dies möglich. Zusätzlich könnten weitere innergesellschaftliche Triebfedern die Rivalitäten befördern, etwa Versuche einer Krisenexternalisierung. Bereits die Radikalisierung der Außenpolitik der Vereinigten Staaten unter Bush stellte zu einem Teil den Versuch dar, soziale Widersprüche des amerikanischen Wachstumsmodells zu überlagern.47 Vor dem Hintergrund des Scheiterns der neokonservativen Strategien zielt die Obama-Administration nunmehr auf eine Wiederherstellung und Erneuerung der amerikanischen Führungsrolle in der Welt.48 Welche strategische Ausrichtung sich im Verhältnis zu China etabliert, hängt dabei nicht zuletzt vom Ausgang inneramerikanischer Auseinandersetzungen ab: Während tief in die chinesische Wirtschaft eingebettete transnationale US-Konzerne an kooperativen Beziehungen mit China interessiert sind, stehen dem Kapitalgruppen skeptisch gegenüber, die sich stärker am amerikanischen Binnenmarkt orientieren. Zudem existieren politische Auseinandersetzungen zwischen populistisch-protektionistischen Kräften (unter anderem in der »Tea-Party-Bewegung«) und einem vor45 Herr/Hübner 2005; McNamara 2008; Cohen 2009. 46 Kaplan 2010. 47 Glassman 2005. 48 De Graaff/van Apeldoorn 2011.
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wiegend transnational ausgerichteten Machtblock. Sollten sich erstere Kräfte durchsetzen, droht eine konfrontativere Haltung der US-Regierung – eine Möglichkeit, die gerade aufgrund der Instabilitäten der amerikanischen Wirtschaft nicht unwahrscheinlich ist. Zweifellos darf die Konflikthaftigkeit der aktuellen Weltordnungsphase nicht als eine einfache Wiederholung der historischen Phase nach 1929 interpretiert werden. Die gegenwärtig unwahrscheinliche Eskalation von Rivalitäten zwischen den stärksten Staaten (insbesondere innerhalb des Nato-Bündnisses) in manifeste zwischenstaatliche Militärkonflikte darf jedoch nicht zur Vernachlässigung der vielschichtigen Konkurrenz- und Konfliktformen unterhalb der Schwelle des zwischenstaatlichen Kriegs führen. Auch wenn verschiedene Gesellschaften in wirtschaftspolitischer Hinsicht ein im Kern ähnliches marktliberales »policy regime« durchsetzen, bedeutet das im Umkehrschluss nicht, dass unter ihnen keine ernsthaften Interessengegensätze bestehen oder entstehen können. Wenn der Unternehmenswettbewerb in eine politisch vermittelte Standortkonkurrenz und Währungskonflikte mündet, politisches Handeln im Rahmen einer fragmentierten, krisengeschüttelten Weltwirtschaft noch unsicherer als zuvor erscheint und sich divergierende Krisenlösungsstrategien gegenüberstehen, erzeugen diese Konstellationen Spielräume für destruktive Konkurrenzbeziehungen, nationalistische Bewegungen und zwischenstaatliche Rivalitäten, die geopolitisches Konfliktpotential in sich tragen. Auf bedenkliche Art und Weise konterkariert das den erwarteten gesellschaftlichen Selbstaufklärungs- bzw. Rationalisierungsprozess in der Moderne und verringert die Aussichten auf eine harmonische Global Governance oder ein Konzert der Mächte.
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Die Rote Königin jagt den Hofnarren Konkurrenz auf der Bühne der Ökologie und im Spiel der Evolution G EORG T OEPFER
Die Evolution des Lebens ist ein Geschehen der globalen Veränderung, das aus der Aggregation von Veränderungen auf der lokalen Ebene von Populationen resultiert. Bestimmender Faktor auf der lokalen Ebene ist die relative Ausbreitung einer Variante im Vergleich zu anderen – der Prozess, den Charles Darwin als Natürliche Selektion bezeichnet hat und der seit den 1940er Jahren weniger metaphorisch als differenzielle Vermehrung beschrieben wird.1 Die differenzielle Vermehrung beruht in vielen Fällen auf Unterschieden in der Fähigkeit von Individuen verschiedener Phänotypen, die Ressourcen ihrer Umwelt effektiv auszunutzen; sie hat damit eine ökologische Dimension und diese ist es, die allgemein als die Basis der Veränderung für die Prozesse auf lokaler Ebene gilt: Die Evolution ist ein Stück, das sich auf ökologischer Bühne abspielt, wie es George Evelyn Hutchinson 1965 in einer schönen Metapher beschrieben hat.2 Weil es auf der Bühne der Ökologie um die Ausnutzung von Ressourcen geht, kann auch von einer ökonomischen Dimension gesprochen werden3 Und weil als eine Ursache für die differenzielle Reproduktion von Individuen ihre Nutzung von nur begrenzt vorliegenden Ressourcen angesehen wird, gilt der Begriff der Konkurrenz zur Analyse dieser Ursachen als zentral.
1
Huxley 1942: 16: »differential multiplication«; vgl. auch www.biological-concepts.com: Eintrag ›differential reproduction‹.
2
Hutchinson 1965.
3
Eldredge 1985: 7 ff.
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Die Wirksamkeit von Konkurrenz auf der lokalen »ökonomischen« Ebene der Ausnutzung von Ressourcen macht sie jedoch nicht notwendig zu einem entscheidenden Faktor auf der globalen genealogischen Ebene der langfristigen Veränderung. Diese genealogische, historische Dimension ist aber die entscheidende Ebene, auf der biologische Arten und taxonomische Einheiten höherer Ordnung abgegrenzt und definiert sind. Auch wenn die Konkurrenz also auf der lokalen ökologisch-ökonomischen Ebene ein entscheidender Faktor für die Veränderung der Populationen ist, muss sie damit noch nicht für die Prozesse des Entstehens und Vergehens von Arten und höheren taxonomischen Einheiten wirksam sein. Die Prozesse auf lokaler Ebene können zum Beispiel abhängig von den jeweiligen Kontexten einer Population sein und sich gegenseitig aufheben: Der Vorteil von Individuen eines Typs im Kontext der Konkurrenz einer Population kann zu ihrem Nachteil in einem anderen Kontext werden, weil in diesem andere Randbedingungen (wie eine andere absolute oder relative Häufigkeit von Ressourcen, andere Räuber und Parasiten, andere Konkurrenten etc.) vorliegen. Empirische Daten aus der fossilen Überlieferung sprechen für die tatsächliche Realisierung dieser theoretischen Möglichkeit. Sie sprechen also dagegen, die Konkurrenz, so wie sie auf der ökologischen Ebene als Faktor für die relative Ausbreitung bestimmter Typen gut belegt ist, unmittelbar auf die evolutionäre Ebene zu extrapolieren und sie auch als den entscheidenden kausalen Faktor auf der Ebene der Makroevolution anzunehmen, sie also als Grund für die Entstehung neuer Arten und den Wechsel ganzer Faunen in der Erdgeschichte zu postulieren. Bevor ich auf die empirischen Daten eingehe, die für die Bedeutung der Konkurrenz in der Ökologie von Gemeinschaften und gegen ihre direkte Wirksamkeit in der Makroevolution sprechen, will ich zunächst das Konzept der Konkurrenz selbst beleuchten, und zwar durch eine kurze Darstellung seiner Geschichte, Definition und des Verhältnisses zu dem vielfach als Gegenbegriff verstandenen Konzept der Kooperation.
K ONKURRENZ : G ESCHICHTE , D EFINITION UND DAS V ERHÄLTNIS ZU K OOPERATION Geschichte Bereits in der Antike wurden Naturphänomene, die später als ›Konkurrenz› bezeichnet werden, beschrieben. So bemerkte Aristoteles an einer Stelle seiner Tierkunde: »Es herrscht Krieg [πόλεµος] unter allen Tieren, die am selben Ort
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leben und sich vom Gleichen ernähren«4. Zu umgehen sei dieser Zustand, wenn für ausreichende Nahrung gesorgt werde, wie dies in zoologischen Gärten vorkomme. Für Aristoteles bildete also die Konkurrenz um Nahrung den Grund für den Kampf unter den Tieren. Was bei Aristoteles und anderen antiken Autoren allerdings fehlte, war eine terminologische Fixierung des Konkurrenzbegriffs und seine klare Abgrenzung von Räuber-Beute-Beziehungen. Außerdem bildete die Vorstellung einer Konkurrenz von der Antike bis zum Ende des 18. Jahrhunderts nie ein dominantes Prinzip zur Beschreibung und Erklärung der Welt des Organischen. Es war eher das Bild einer harmonisch eingerichteten Welt und eines friedlichen Miteinanders der Lebewesen, das den herrschenden Interpretationsrahmen abgab. Biologiehistoriker haben daher eine Blindheit der Naturforscher für die Konkurrenz von der Antike bis in die Frühe Neuzeit diagnostiziert.5 Diese Situation änderte sich allerdings seit Ende des 18. Jahrhunderts in erstaunlicher Geschwindigkeit und in bemerkenswerter Parallele zu den sozioökonomischen Entwicklungen, die unter dem Schlagwort der ›Industrialisierung‹ zusammengefasst werden. Konsequenzen dieser Entwicklung waren unter anderem der verschärfte Wettbewerb um Produktionsressourcen, das Anbieten der eigenen Arbeitskraft als Ressource und die Auflösung lokaler dörflicher Kooperationen, nicht zuletzt auch der über Jahrtausende eingespielten Arbeitsgemeinschaft von Mensch und Tier. In der Entwicklung der Wissenschaften äußerte sich diese Entwicklung in der Einführung eines Terminus für das Phänomen der Konkurrenz. Die ältesten Nachweise des Ausdrucks in der Biologie – ›Concurrenz‹ im Deutschen und ›competition‹ im Englischen – beziehen sich auf die Forstbotanik und Landwirtschaft und finden sich im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts.6 Für die Anwendung des Begriffs auf die Verhältnisse unter natürlichen Bedingungen und seine Etablierung als grundlegendes biologisches Konzept waren besonders der Botaniker Augustin-Pyrame de Candolle und der Geologe Charles Lyell verantwortlich – dies jedenfalls waren die Autoren, auf die Charles Darwin als seine Vorläufer in der Betonung des Konkurrenzbegriffs für das Verständnis der Lebensphänomene verwies.7 Für Darwin wurde der Konkurrenzbegriff zu einem zentralen Konzept seiner Selektionstheorie. Er übernahm ihn von seinen Vorgängern, kannte das Phänomen aber auch aus eigener Anschauung, insbesondere von seinen Studien zum Wachstum von Korallenriffen, das durch eine intensive Konkurrenz um Raum 4
Aristoteles: Historia animalium 608b19-21 (Übersetzung G.T.).
5
Egerton 1973: 338.
6
Vgl. Toepfer 2011; www.biological-concepts.com: Eintrag ›competition‹.
7
Darwin 1859: 62.
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gekennzeichnet ist. In seinem Hauptwerk zur Evolution behauptete Darwin, alle Lebewesen würden einer starken Konkurrenz unterliegen (»all organic beings are exposed to severe competition«8), weil die Organismen danach strebten, sich unbegrenzt zu vermehren, die Ressourcen für ihr Leben aber begrenzt seien. Aufbauend auf den Überlegungen Darwins und in ein mathematisches Gewand gekleidet, erfuhr der Konkurrenzbegriff eine weitreichende theoretische Konsolidierung durch die klassischen mathematischen (Gleichgewichts-)Modelle zur Koexistenz, die in den 1920er Jahren entwickelt wurden und mindestens ein halbes Jahrhundert die Theorien der Gemeinschaftsökologie bestimmten. Definition Seit Darwins Zeiten wird der Konkurrenzbegriff weitgehend gleichbleibend definiert. Explizite Definitionen erscheinen allerdings erst seit Beginn des 20. Jahrhunderts (wobei verbreitete biologische Wörterbücher des frühen 20. Jahrhunderts das Wort noch nicht als eigenes Lemma führten). Zu einem konstant definierten Begriff wurde der Ausdruck offenbar zuerst in der Botanik. Frederic Clements definierte ihn 1905 als das Verhältnis zwischen Pflanzen, die den gleichen Ort bewohnen und von der Versorgung durch die gleichen physikalischen Faktoren abhängen.9 In späteren Definitionen betonte Clements vor allem das Missverhältnis zwischen Anspruch und Angebot (»demands in excess of the supply«).10 Diese Formulierung findet sich im 20. Jahrhunderts in vielen Definitionen des Konkurrenzbegriffs.11 Seit den 1920er Jahren wird Konkurrenz meist auf populationstheoretischer Grundlage und im Kontext von mehreren in Gemeinschaft vorkommenden Arten definiert. Konkurrenz liegt danach vor, wenn die Zunahme der Häufigkeit einer Art die Abnahme der Häufigkeit einer anderen Art verursacht und umgekehrt (MacArthur 1972: »two species are competing if an increase in either one harms the other«12; Gilad 2008: »Competition is defined as an interaction between two or more individuals of the same population or two or more populations in which each negatively affects the other in access to a limited resource(s) (food, water, nesting sites, shelter, mates, etc.).«13 Im Unterschied zu einer Räuber-Beute8
Darwin 1859: 62.
9
Clements 1905: 316.
10 Clements 1916: 72. 11 Vgl. www.biological-concepts.com: Eintrag ›competition‹. 12 MacArthur 1972: 21. 13 Gilad 2008: 707.
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Beziehung ist die Konkurrenz also eine Interaktion von Individuen, aus der keiner der Beteiligten einen unmittelbaren Vorteil zieht. Bezeichnend ist es für den Konkurrenzbegriff (ebenso wie für viele andere biologische Begriffe), dass er vielfach über die Wirkung eines Prozesses definiert wird. Die am meisten diskutierte Wirkung ist der Ausschluss einer Art durch eine andere. Diesen Effekt diskutierte bereits einer der Gründerväter der Pflanzenökologie, der Däne Eugenius Warming, mit seiner These, »daß viele Arten von großen Gebieten der Erdoberfläche nicht durch den unmittelbaren Eingriff der leblosen Faktoren, sondern durch ihren mittelbaren Eingriff, durch den Nahrungswettbewerb mit anderen, stärkeren Pflanzenarten, ausgeschlossen werden«.14 Zu dem theoretisch und experimentell fundierten Konkurrenzausschlussprinzip wird diese These unter anderem durch die Arbeiten Georgij Gauses in den 1930er Jahren (»as a result of competition two similar species scarcely ever occupy similar niches, but displace each other«15). Konkurrenz und Kooperation In einem verbreiteten und bis zum Ende des 20. Jahrhunderts dominanten begrifflichen Schema gelten Kooperation und Konkurrenz als Gegenbegriffe. Die Begriffe bewegen sich allerdings auf etwas anderen Ebenen, insofern für Konkurrenz die Beziehung von mehreren Individuen zu einer genutzten Ressource zentral ist, für Kooperation aber die Effekte auf ihre Fitness. Beides sind dreistellige Relationen; in dem einen Fall steht aber ein ökologisches Verhältnis im Zentrum (die Ressourcennutzung), in dem anderen ein evolutionsbiologisches (der Vorteil des Zusammenschlusses). In evolutionären Entwicklungsdynamiken gedacht, kann daher auch eine enge Verschränkung der beiden Prinzipien vorliegen: Kooperation war in vielen Fällen der Evolution des Lebens (und der Geschichte der Ökonomie) ein Produkt der Konkurrenz (»cooperation can emerge from competition«16). Besonders deutlich wird die Durchdringung der beiden Prinzipien in den Modellen zu den »großen Transitionen« in der Geschichte des Lebens. In jeder dieser Transitionen entstand aus der Kooperation von organisierten Systemen auf einer Ebene ein übergeordnetes organisiertes System auf höherer Ebene, aus der Kooperation von Zellen beispielsweise ein mehrzelliger Organismus. Durch die Kooperation der Einheiten der unteren Ebene bildete sich dabei ein neues Individuum auf übergeordneter Ebene. Es vollzogen sich evolutionäre Transitionen 14 Warming 1896: 94. 15 Gause 1934: 19. 16 Nowak 2011: 156; vgl. ebd.: 269.
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der Individualität.17 Die Organismen selbst sind solche Kooperationsprodukte der Konkurrenz; in ihnen wurden alle Teile auf die Kooperation mit den anderen Teilen selektiert und Konflikte unter den Teilen (also Selektion auf der Ebene der Teile) weitgehend unterdrückt. Die Begriffe der Konkurrenz und Kooperation leisten beide eine Vermittlung zwischen zwei Beschreibungsebenen: der Ebene von Individuen, die miteinander interagieren, und der Ebene der Population, auf der sich der Grund der Interaktion (die Nutzung von Ressourcen) oder ihre Konsequenzen (die relativen Vorteile der Kooperation) finden. Die Beziehung dieser beiden Ebenen zueinander ist das zentrale Thema der Evolutionstheorie: Sie erklärt die langfristigen Veränderungen in Populationen durch die relativen Vor- und Nachteile der Merkmale von Individuen für deren Reproduktion. Weil der Konkurrenzbegriff dieses Verhältnis von seiner kausalen Seite betrachtet, indem die Unterschiede unter den Individuen als die relevanten Ursachen für die Veränderung der Populationen konzipiert werden, kann sie als ein Mechanismus verstanden werden, als Mechanismus (oder auch als Agent18), der im Sinne der Veränderung von Populationen (und Arten) wirksam sein kann. Diese in theoretischer Hinsicht attraktive Stellung des Konkurrenzbegriffs zwischen den Ebenen von Individuen und Population sagt aber noch nichts über die tatsächliche empirische Wirksamkeit dieses Faktors; darüber können nur empirische Studien Aufschluss geben.
D IE TRADITIONELLE P OSITION : V IELFALT , G LEICHGEWICHT UND F ORTSCHRITT DURCH K ONKURRENZ 1983 erschienen zwei einflussreiche Reviews zu empirischen Studien über den Einfluss der Konkurrenz auf die Gestalt ökologischer Gemeinschaften.19 Sie belegten die Bedeutung von Konkurrenz als wichtigen Faktor in diesem ökologischen Kontext. Sie legten damit auch nahe, dass die vielfältigen Rollen, die der Konkurrenz zugeschrieben wurden, nicht nur in den mathematischen Modellen existierten, sondern in realen Gemeinschaften wirksam sind. Die drei wichtigsten, seit Darwin viel diskutierten Rollen sind die Steigerung der Vielfalt in einer ökologischen Gemeinschaft, die Stabilisierung ökologischer Gleichgewichte und
17 Michod 1999. 18 Vermeij 1987: 23, 423. 19 Schoener 1983; Connell 1983; vgl. auch Gurevitch et al. 1992.
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die Ausrichtung der langfristigen Veränderung der Organismen auf die Verbesserung ihrer Funktionen und eine allgemeine Höherentwicklung (»Fortschritt«). Vielfalt Nach Darwins Selektionstheorie ist die Konkurrenz der zentrale Mechanismus zur Generierung der organischen Vielfalt. Darwin formulierte für diesen Mechanismus ein eigenes Prinzip, das Divergenzprinzip, das er für den wichtigsten Punkt seines Hauptwerks hielt. Das Prinzip stellt einen Zusammenhang zwischen Konkurrenz und Diversität her, insofern es einen Vorteil für solche Individuen postuliert, die in ihren Ressourcenansprüchen von den typischen Vertretern ihrer Art abweichen, weil sie auf diese Weise der fitnessmindernden Konkurrenz ausweichen können. Die zentrale Bedeutung dieses Prinzips für Darwin kommt auch darin zum Ausdruck, dass die einzige Abbildung in Darwins Hauptwerk genau zur Erläuterung dieses Prinzips dient.20 Von großer Bedeutung ist die Konkurrenz als Generator der Diversität für Darwins Theorie, weil er darüber Argumente zur Verteidigung einer Ansicht gewinnen konnte, die er aus weltanschaulichen Gründen vertrat: die Vorstellung von einem Maximum an Vielfalt in der Natur. In Analogie zum Fortschritt durch soziale Arbeitsteilung in der menschlichen Ökonomie sah Darwin auch in der Natur den besseren Zustand in einer höheren Vielfalt von Formen verwirklicht – und die Konkurrenz lieferte ihm für die Entstehung dieses Zustands den entscheidenden Mechanismus (»the more diversified the descendants from any one species become in structure, constitution, and habits, by so much will they be better enabled to seize on many and widely diversified places in the polity of nature, and so be enabled to increase in numbers«).21 Der Zustand der größten Vielfalt, der nach Darwins Auffassung »mehr Leben« erhalten kann, ergab sich für ihn aus dem einfachen Mechanismus der Konkurrenz (»mere result from struggle«22). Zumindest für die Ebene ökologischer Gemeinschaften gilt Darwins Prinzip in der Gegenwart als bestätigt. Es liegen inzwischen empirische und experimentelle Bestätigungen der Rolle der Konkurrenz für die Differenzierung von Typen innerhalb einer Art vor (konkurrenzbedingte »Merkmalsverschiebung«, englisch »character displacement«).23 20 Reznick/Ricklefs 2009: 838. 21 Darwin 1859: 112; vgl. Schweber 1980; Gould 2002: 232 ff. 22 Zettel in Darwins Papieren (205.5: 167), datiert auf den 30. Januar 1855; vgl. dazu Gould 2002: 234. 23 Schluter 2000; Grant/Grant 2006.
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Gleichgewicht Während der Konkurrenzbegriff in der Evolutionstheorie Darwins eine Funktion zur Erklärung evolutionärer Transformationen von Organismen übernimmt, wird in anderen biologischen Kontexten über diesen Begriff gerade nicht die Veränderung, sondern die Stabilisierung von Systemen erklärt. Dies gilt besonders für die ökologischen Theorien zur Begrenzung des Wachstums von Populationen und zum Gleichgewicht in ökologischen Gemeinschaften. Die Konkurrenz erscheint hier besonders deshalb als eine entscheidende Größe, weil sie ein perfekt dichteabhängiger Faktor ist und über sie daher eine exakte Kompensation von Störungen und damit die langfristige Konstanz von Populationsgrößen gewährleistet werden kann. Aufgrund der perfekten Dichteabhängigkeit wurde die (innerartliche) Konkurrenz als der ultimate Kontrollfaktor des Populationswachstums beschrieben.24 Nach der klassischen ökologischen Gleichgewichtstheorie ist eine stabile Koexistenz von Konkurrenten verschiedener Arten in einer Gemeinschaft möglich, wenn die das Populationswachstum begrenzenden Faktoren bei zunehmender Seltenheit der Art weniger einflussreich werden. Dies ist unter den Annahmen des Modells dann der Fall, wenn die innerartliche Konkurrenz größer ist als die zwischenartliche, wenn die Populationsgröße einer Art also wesentlich durch innerartliche Konkurrenz begrenzt wird (denn die innerartliche Konkurrenz ist ja bei geringer Populationsdichte am kleinsten). Auch wenn die idealisierenden Annahmen des Modells in verschiedener Hinsicht kritisiert und komplexere Modelle formuliert wurden, ist das Modell in seinen Grundzügen immer noch insoweit akzeptiert, als Konkurrenz, besonders innerartliche Konkurrenz, als ein wichtiger stabilisierender Faktor für ökologische Gemeinschaften gilt. Fortschritt Darwin verband die Konkurrenz nicht nur mit der organischen Vielfalt, sondern auch mit dem Fortschritt der Lebewesen im Sinne ihrer Höherentwicklung in der Evolution. Zwar war er sehr vorsichtig im Gebrauch des Fortschrittsbegriffs und ermahnte sich selbst, ihn lieber nicht zu verwenden; in zahlreichen Passagen postulierte er aber doch in eindeutiger Weise einen Fortschritt in der Transformation (z.B.: »The inhabitants of each successive period in the world’s history have beaten their predecessors in the race for life, and are, insofar, higher in the scale of nature«25). 24 Milne 1957: 264. 25 Darwin 1859: 345.
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Auch heutige Biologen schreiben der Konkurrenz eine wichtige Rolle für die in einigen Abstammungslinien zu beobachtende Steigerung der Komplexität im Laufe der Evolution zu. Die Konkurrenz war danach ein wichtiger Faktor in der Entstehung von Organismen mit einer wachsenden Anzahl an Gewebetypen, zunehmender Körpergröße, längerer Lebensdauer, höherer Stoffwechselrate und damit schnellerer und ausdauernderer Lokomotion sowie der wachsenden Fähigkeit zur gleichzeitigen Ausführung verschiedener Funktionen.26 Der Paläontologe Geerat Vermeij spricht in diesem Zusammenhang von einer sukzessiven Steigerung oder Eskalation in der Evolution, und er hält die Konkurrenz um Ressourcen für den wichtigsten, weil am weitesten verbreiteten Faktor oder Agenten in diesem Prozess (»the most ubiquitous selective agency«).27 Die Eskalation bewegt sich nach Vermeij auf der Ebene von Individuen aber auch ganzer ökologischer Gemeinschaften und Ökosysteme, die eine Steigerung der Produktivität und Diversität im Laufe der Evolution erfahren haben.28 Verbunden war diese Steigerung mit der Entstehung und Zunahme von Lebewesen mit einer energieintensiven Lebensform, etwa in Form der Homöothermie der Vögel und Säugetiere. Diese Lebensformen verdrängten die älteren weniger energieaufwändigen Lebensformen in fast allen Habitaten (lediglich auf isolierten Inseln sowie in Wüsten und anderen ressourcenarmen Habitaten dominieren in der Gegenwart die weniger energieintensiven Lebensformen wie Reptilien). Ähnliche Trends liegen auch für die Pflanzen vor, bei denen gegenwärtig ebenfalls die Dominanz der älteren Lebensformen (wie der Nadelbäume) auf die Regionen mit relativ geringen potenziellen Wachstumsraten wie Berglagen und die hohen geografischen Breiten beschränkt sind.29 Zu beachten ist allerdings, dass die Entwicklung nicht in einem Ersetzen der einfacheren Formen durch die später erscheinenden komplexeren und energieintensiveren bestand, sondern vielmehr in einer Formen akkumulierenden Auseinanderentwicklung, bei der die relativ einfachen neben den komplexeren fortbestanden (wobei die einfacheren und einfachsten Lebensformen wie die Bakterien die komplexen bis in die Gegenwart hinsichtlich der Anzahl und Biomasse um Größenordnungen übertreffen). Weil die komplexen aber nur auf der Grundlage der einfachen Lebensformen möglich waren, will Vermeij zumindest von einer Richtung, einer Direktionalität, in der Evolution sprechen. Diese Richtung sei
26 Vermeij 1999: 246; Vermeij/Leigh 2011: 5. 27 Vermeij 1987: 23; vgl. ebd.: 423; Vermeij 2008: 3. 28 Vermeij/Leigh 2011: 3. 29 Vermeij 1999: 247.
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auch noch nicht unbedingt ein Fortschritt, da mit der Ausrichtung auf zunehmende Energieintensität des Lebens keine Wertsteigerung verbunden sein müsse.30 Viele empirische Studien belegen inzwischen die Bedeutung der Konkurrenz als ökologischer Faktor für die Vielfalt von Organismen, Stabilität von Populationen und Gerichtetheit der Veränderung in Abstammungslinien. Ergänzt wurden die klassischen Konkurrenzmodelle durch die Berücksichtigung anderer abiotischer und biotischer Faktoren31 sowie durch die genaue Analyse der Randbedingungen für die Wirksamkeit von Konkurrenz. Darunter fallen beispielsweise die räumliche und zeitliche Struktur in der Verfügbarkeit der Ressourcen (z.B. ihre diskontinuierliche Erscheinung in Form von lokalen »patches« oder die Unvorhersehbarkeit ihres Auftretens), die zeitliche Einnischung, Prioritätsrefugien, die Nutzung der gleichen Ressourcen in unterschiedlichen quantitativen Verhältnissen (David Tilmans »resource-ratio hypothesis«) sowie schließlich Nicht-GleichgewichtsFaktoren wie stochastische Umweltänderungen oder nicht-lineare Interaktionen zwischen den Populationen verschiedener Arten, die zu Schwankungen der Populationsgrößen führen. Alle diese Faktoren werden in den Modellen der Gemeinschaftsökologie berücksichtigt – ob sie aber über die lokalen ökologischen Verhältnisse hinaus auch die entscheidenden Faktoren für die Veränderung der Arten in der Makroevolution sind, können allein empirische Daten zeigen, die sich auf diese Ebene beziehen.
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›Konkurrenz‹ in der Definition des Selektionsbegriffs Die Bedeutung von Konkurrenz für die Evolution der Organismen könnte bereits daraus folgen, dass der Konkurrenzbegriff definitorisch im Mechanismus der Evolution verankert ist. Dies gilt für Darwins Verständnis der Evolution nach dem Modell der Natürlichen Selektion. In Darwins Selektionstheorie sind die Begrenzung von Ressourcen und die »Überproduktion« von Nachkommen die entscheidenden Momente des evolutionären Wandels (»A struggle for existence inevitably follows from the high rate at which all organic beings tend to increase […]. If such [variations] do occur, can we doubt (remembering that many more individuals are born than can possibly survive) that individuals having any 30 Vermeij 1999: 250. 31 Keddy 1989.
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advantage, however slight, over others, would have the best chance of surviving and of procreating their kind?«32). Mitte des 20. Jahrhunderts entstand aber auch die Auffassung, Selektion könne es auch ohne Konkurrenz geben. Diese Auffassung entwickelte sich ausgehend von Kritik an der Formel vom »Kampf ums Dasein« als zu sehr auf das Überleben von Individuen und zu wenig auf die Unterschiede in ihrer Fortpflanzung bezogen. Im Rahmen der theoretischen Konsolidierung der Selektionstheorie auf populationsgenetischer Grundlage war es möglich, Selektion als differenzielle Reproduktion zu beschreiben, ohne eine Ressourcenbegrenzung annehmen zu müssen. Selektion im Sinne einer unterschiedlichen Nachkommenzahl verschiedener Typen ist gar nicht angewiesen auf den struggle um knappe Ressourcen. Explizit formulierte Charles Birch 1957 die Ansicht, Selektion sei ohne Konkurrenz um Ressourcen denkbar; er bezog dies vor allem auf die Ausbreitung von Genen mit hoher Fitness in einer Population (»All this may happen without resources being in short supply. Competition in the strict ecological sense may not be applicable; natural selection may occur without it«33). Begriffliche Konsolidierung erfuhr diese Auffassung in den viel zitierten Definitionen des Selektionsbegriffs durch Richard Lewontin, in denen die drei Momente der Variation, Vererbung und differenziellen Fitness als die drei Prinzipien der Evolution durch Selektion genannt werden – ausdrücklich aber nicht die Konkurrenz. Denn auch ohne Ressourcenknappheit könne es differenzielle Vermehrung von Genen (oder Typen von Organismen) in einer Population und damit Selektion geben (»the element of competition between organisms for a resource in short supply is not integral to the argument«34). Angesichts der Betonung, die Darwin auf den Faktor der Konkurrenz legt, stellt es eine besondere Ironie der Geschichte der Evolutionstheorie dar, dass eine im weiteren Sinne darwinistische Evolution gar nicht auf das Prinzip der Konkurrenz (um Ressourcen) angewiesen ist. Allerdings ergibt es wenig Sinn, von allen Populationen aus Entitäten mit unterschiedlichen Wachstumsraten zu sagen, unter ihnen würde ein Selektionsprozess stattfinden. Für das Vorliegen von Selektion ist eine Verbundenheit der betrachteten Entitäten notwendig. Die Verbindung kann zum einen in direkter genealogischer Verwandtschaft der Entitäten bei gleichzeitigem Wechsel der 32 Darwin 1859: 63; 80 f. 33 Birch 1957: 13. 34 Lewontin 1970: 1. Lewontin gibt zwischen 1968 und 1978 drei Varianten einer Evolutionsdefinition, die die drei Prinzipien in gewissen Veränderungen und unterschiedlicher Reihenfolge angeben (vgl. www.biological-concepts.com: Eintrag ›selection‹).
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genutzten Ressourcen bestehen: Die Organismen eines Geno- oder Phänotyps können gegenüber denen eines anderen Typs der gleichen Art und in derselben Population einen Vorteil haben, weil sie eine neue Ressource erschlossen haben. In diesem Fall muss keine Konkurrenz vorliegen, weil das Wachstum der beiden Typen von unterschiedlichen Ressourcen begrenzt sein kann, sie aber trotzdem allein durch ihre gemeinsame Abstammung aufeinander bezogen bleiben. Wenn aber zum zweiten nicht unmittelbar miteinander verwandte Entitäten die gleiche Ressource nutzen, dann ist die Ausnutzung dieser gemeinsamen Ressource die selektionsermöglichende Basis der Verbindung; und diese besteht in Konkurrenz. In diesem zweiten Fall ist Konkurrenz der entscheidende Faktor, der die Entitäten aufeinander bezieht, sie zu der Einheit einer ökologischen Gemeinschaft zusammenbindet. Die Konkurrenz um Ressourcen verbindet die Organismen in diesen ökologischen Gemeinschaften miteinander, weil sie eine kausale Abhängigkeit des Erfolgs eines Typs vom Erfolg des anderen Typs herstellt. Konkurrenz ist in diesem Fall das besondere, die Selektion ermöglichende Bindemittel, der darwinsche Klebstoff, wie Peter Godfrey-Smith die Konkurrenz nennt35. Die Rote Königin und der Hofnarr Zu den Grundlagen der Synthetischen Theorie der Evolution, die Erkenntnisse verschiedener Felder der Biologie in einem Theorierahmen integrierte, zählt die Annahme, dass auf der Ebene der Makroevolution, also für das Entstehen und Vergehen neuer Arten und höherer taxonomischer Gruppen, keine anderen Mechanismen wirksam sind als auf der Ebene der Mikroevolution. So wie biotische Interaktionen, in erster Linie Konkurrenz, für die Veränderung der Häufigkeit von Typen in einer lokalen Population verantwortlich seien, würden sie auch die Veränderungen auf der höheren Ebene verursachen. Verbunden ist mit dieser Ansicht die These, dass sich die Organismen eines Typs ständig verändern müssen, weil sie permanent einer Konkurrenz unterliegen. Die Organismen müssen, bildlich gesprochen, ständig laufen, um auf der Stelle zu bleiben, das heißt, um ihren relativen Anteil in der Population halten zu können. Nach einer Figur aus Lewis Carrolls Roman Through the Looking-Glass (1871) wird diese Annahme als Rote Königin-Hypothese bezeichnet. Die Gegenthese zu dieser Ansicht, also die Behauptung, dass auf der Ebene der Makroevolution biotische Interaktionen nicht die entscheidenden Faktoren der Veränderung sind, wird als Hofnarren-Hypothese (Court Jester hypothesis) 35 Godfrey-Smith 2009: 52: »competition is an especially Darwinian glue«.
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bezeichnet.36 Diese Benennung bezieht sich auf den Joker in Kartenspielen, dessen Einsatz einen unberechenbaren Spielverlauf bewirkt; ein besonderer Bezug liegt zu den Assoziationen der Narren-Karte des Tarot-Spiels vor, die zwar andere Karten aussticht, gleichzeitig aber für Unbeschwertheit und Weltfremdheit steht und damit eine Unverbundenheit zu den bestimmenden Faktoren eines Geschehens ausdrückt. Nach dieser Hypothese sind es zufällige äußere Einflüsse, wie kosmische, klimatische oder tektonische Ereignisse, die den Verlauf der Makroevolution bestimmen: Das Kommen und Gehen der großen taxonomischen Gruppen gilt nicht als deterministischer Prozess, sondern als unberechenbar in seinem Verlauf. Dass für den Verlauf der Makroevolution zufällige, gegenüber den Interaktionen der Organismen äußere Ereignisse eine große Rolle spielen, wurde seit Mitte des 20. Jahrhunderts immer wieder behauptet. Eine frühe eindeutige Position findet sich bei George Gaylord Simpson, einem der Begründer der Synthetischen Theorie der Evolution. Er schrieb 1944: »In the history of life it is a striking fact that major changes in the taxonomic groups occupying various ecological positions do not, as a rule, result from direct competition of the groups concerned in each case and the survival of the fittest, as most students would assume a priori. On the contrary, the usual sequence is for one dominant group to die out, leaving the zone empty, before the other group becomes abundant.«37
Tatsächlich liefern Daten über nur fossil bekannte Arten und Gruppen höherer Ordnung Hinweise darauf, dass für die Prozesse der Makroevolution die Konkurrenz nicht der entscheidende Faktor ist.38 Eine der wichtigsten Stützen für diese Vermutung ist der fossile Befund, auf den auch Simpson sich stützte, dass die Diversifizierung einer taxonomischen Gruppe häufig nicht Aussterbeereignissen einer anderen Gruppe vorausging, sondern diesen vielmehr nachfolgte.39 In vielen und gerade in den einschneidenden Fällen eines Massenaussterbens in der Erdgeschichte spielten sich offenbar nicht langsame, über biotische Prozesse vermittelte Verdrängungsprozesse ab, sondern durch äußere abiotische Faktoren ausgelöste Katastrophen, nach denen sich alle betroffenen Gruppen erholten, vorher nicht dominante Formen aber schneller als die bisher etablierten, so dass sich ein umfassender Floren- und Faunenwechsel ereignete. Nach der wahrschein36 Barnosky 1999; 2001; Benton 2009. 37 Simpson 1944: 212. 38 Masters/Rayner 1993. 39 Emiliani 1982; Benton 1987.
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lich durch einen Meteoriten ausgelösten Katastrophe am Ende des Erdmittelalters erholten sich die Säugetiere zum Beispiel schneller als die Dinosaurier und lösten diese als die dominante Form großer Tiere ab. Konkurrenz war danach also nicht der auslösende und ursprünglich treibende Faktor des Faunenwechsels; sie konnte aber sehr wohl ein Faktor in der sekundären Wiederbesiedlung der von der Katastrophe betroffenen Regionen sein und die erneute Dominanz sowie Diversifizierung der ursprünglich vorherrschenden Gruppe verhindern und stattdessen die Ausbreitung einer anderen, neu entstandenen Gruppe ermöglichen. Das Muster eines solchen Prozesses ist für verschiedene Phasen der Erdgeschichte belegt und wird als Ersatz des Stelleninhabers (»incumbent replacement«40) bezeichnet. Man stellt sich vor, dass dieser Ersatz allein aufgrund der Konkurrenzüberlegenheit einer zahlenmäßig anfangs unterlegenen Gruppe (wie der Säugetiere gegenüber den Dinosauriern in der Kreidezeit) nicht möglich war, weil die häufigere Gruppe (der »Stelleninhaber«, in der Kreide also die Dinosaurier) allein durch ihre Populationsgröße und ihr weites Verbreitungsgebiet einen Vorteil hatte (auf der Ebene einzelner ökologischer Gemeinschaften werden derartige Prioritätseffekte seit langem theoretisch angenommen41 und gelten als experimentell belegt42). Erklärt werden kann mit diesem Modell die Tatsache, dass die revolutionären Faunenwechsel in der Erdgeschichte nicht kontinuierlich, sondern abrupt nach einer durch äußere Ereignisse bedingten Katastrophe erfolgten. Das klassische Beispiel dafür ist die Ablösung einer Gruppe meeresbewohnender Schaltiere durch eine andere, nämlich der Armfüßer (Brachiopoden) durch die Muscheln (Bivalvia), die sich nach dem Massensterben am Ende des Perm vor etwa 250 Millionen Jahren vollzog. Dieser Prozess der Ablösung einer Fauna durch eine andere geschah offenbar nicht als sukzessive Verdrängung, sondern als abrupter Wechsel, ausgelöst durch das Massenaussterben, das selbst abiotische Ursachen hatte (wahrscheinlich Vulkanismus und eventuell zusätzlich einen Meteroriten). Erst nach diesem Ereignis kam es zur ausgeprägten Diversifizierung der Muscheln. Diese Diversifizierung war damit keine Ursache des Aussterbens der Armfüßer, sondern eine Folge davon. Die beiden Gruppen waren wie zwei Schiffe, die bei Nacht aneinander vorbeifuhren (»ships that pass in the night«), ohne einander zu beeinflussen, sondern nur gleichermaßen auf äußere Einflüsse zu reagieren, wie Stephen Jay Gould und C. Bradford Calloway in einem berühmten Aufsatz von 1980 schreiben.43 Die Konkurrenz40 Rosenzweig/McCord 1991. 41 Slatkin 1974. 42 Shorrocks/Bingley 1994. 43 Gould/Calloway 1980.
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überlegenheit der Muscheln, die aufgrund ihres Bauplans offenbar bestand, wirkte sich damit zwar nicht als Ursache für die Verdrängung der Armfüßer aus, sie war aber doch für die schnellere Diversifizierung der Muscheln nach dem Massenaussterben der Armfüßer verantwortlich. Die Daten von Gould und Calloway, die im Wesentlichen in Informationen zum Verlauf der Artenvielfalt der beiden betrachteten Gruppen bestanden, liefern allerdings keine hinreichende empirische Grundlage, um das Fehlen von Konkurrenz schlüssig nachzuweisen.44 Andere Daten weisen aber doch genau in diese Richtung. So konnte in einer Studie für alle 840 Familien vierbeiniger Wirbeltiere, für die fossile Daten vorliegen, gezeigt werden, dass die Ereignisse des Auftretens einer neuen Familie unabhängig vom erdgeschichtlichen Zeitpunkt dieses Auftretens erfolgten. Es ist also nicht so, wie nach der Konkurrenz-Hypothese der Roten Königin zu erwarten wäre, dass neue Familien bevorzugt zu Zeiten erscheinen, in denen geringe Konkurrenz besteht, also in frühen Stadien der evolutionären Entwicklung des Lebens auf der Erde.45 Michael Benton, der diese Studie durchführte, schätzt, dass für die vierbeinigen Wirbeltiere etwa sieben Achtel der Diversifizierungsereignisse unbeeinflusst und unbeschränkt von biotischen Interaktionen, insbesondere unabhängig von Konkurrenz, erfolgten.46 Nicht Verdrängung bestehender Gruppen durch konkurrenzüberlegene spätere scheint der dominante Motor der Diversifizierung des Lebens zu sein, sondern die Eroberung neuen »Ökoraums« (ecospace) durch die Entwicklung neuer Formen der Lebensweise (modes of life). Belegt wird diese Sicht auch durch die starke Korrelation, die zwischen der taxonomischen Diversität und der Vielfalt der von den Organismen genutzten ökologischen Räume (Lebensweisetypen) besteht.47 In einer detaillierten Studie, in der der gesamte den vielzelligen Tieren zur Verfügung stehende Ökoraum in drei Dimensionen mit jeweils sechs Formen (sechs Typen des Aufenthaltsortes, der Fortbewegungsgeschwindigkeit und der Ernährungsweise) und damit in insgesamt 216 theoretisch mögliche Typen der Lebensweise unterteilt wurde, konnte ein Ansteigen der Anzahl tatsächlich vorhandener Lebensweisetypen von zwölf in der präkambrischen Fauna auf 92 in der Gegenwart festgestellt werden.48 Zur Erklärung der Steigerung der Biodiversität im Laufe der Erdgeschichte ist die Erschließung neuer Lebensweisetypen offenbar wichtiger als die Unterteilung des vorhandenen Ökoraums in immer 44 Vgl. dazu Vermeij 1987. 45 Benton 1996; 1997: 494. 46 Benton 1996: 645. 47 Sahney et al. 2010. 48 Bambach et al. 2007.
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kleinere Nischen.49 Perioden starker Diversifizierung einer Gruppe folgten jedenfalls häufig auf das Freiwerden von vorher besetztem Ökoraum durch ein Ereignis des Massenaussterbens. Belegt ist dies zum Beispiel für die Diversifizierung der Dinosauer nach dem Massenaussterben der Crurotarsi am Ende des Trias und für die Diversifizierung der Säugetiere nach dem Aussterben der Dinosaurier am Ende der Kreidezeit. Ein weiteres Indiz für den relativ geringen Einfluss der Konkurrenz auf die Entstehung der Diversität einer Gruppe ist, dass die Diversität nur wenig mit biotischen Faktoren wie Körpergröße, Nahrung oder ökologischer Spezialisierung korreliert ist;50 bei Säugetieren besteht allerdings eine Korrelation mit Lebensformtypen, die einer r-Strategie folgen (kurze Generationsdauer und hohe Anzahl von Nachkommen pro Reproduktionsereignis).51 Auch die zu beobachtende evolutionäre Dynamik könnte Hinweise auf den Einfluss von Konkurrenz auf die Diversifizierung einer Gruppe geben: Bei großem Einfluss der Konkurrenz auf die Rate der Veränderung von Organismen sollte in artenreichen Gruppen ein schnellerer evolutionärer Wandel erfolgen. In einem Vergleich von 3.000 rezenten Arten aus 29 Familien von Säugetieren konnte diese Hypothese jedoch nicht bestätigt werden. Tatsächlich hat nach dieser Studie die Intensität der Konkurrenz, gemessen über die Diversität koexistierender Arten in einer Gruppe, keinen Einfluss auf die Veränderungsrate der Körpergröße.52 Selbst für so weitgehend homogene Habitate wie den Meeresboden wird der Einfluss der Konkurrenz als relativ gering eingeschätzt. Trotz einer nur geringen Spezialisierung und Ressourcenaufteilung unter den Organismen der benthischen Gemeinschaften kommt es offenbar selten zur Verdrängung von Arten durch Konkurrenz. Bevor Konkurrenz wirksam werden kann, verhindern in der Regel andere Faktoren wie der Einfluss von Räubern oder äußere Störungen, dass einzelne Arten die vorhandenen Ressourcen monopolisieren können und andere verdrängen.53 Selbst in dieser wenig strukturierten Umwelt wird die aus den klassischen Modellen der Gemeinschaftsökologie zu erwartende Kapazitätsgrenze der Diversität offenbar nicht erreicht, so dass auch für die Gemeinschaft benthischer Organismen Phasen der exponentiellen Zunahme der Diversität zu beobachten sind – unterbrochen lediglich durch abiotisch bedingte katastrophische Einbrüche.54 49 Benton 2009: 730. 50 Ebd. 51 Isaac et al. 2005. 52 Monroe 2012. 53 Stanley 2007b. 54 Stanley 2007a.
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Es gibt allerdings doch einige Befunde aus der fossil überlieferten Geschichte des Lebens, die für eine Rolle der Konkurrenz in der Makroevolution sprechen könnten. Drei der am meisten diskutierten Beobachtungen sind diese:55 (1) die Zunahme von Tierarten am Beginn des Kambriums, die anfangs exponentiell, nach nur zehn Millionen Jahren aber bereits deutlich langsamer verläuft (konkurrenztheoretisch erklärbar durch das schnelle Besetzen der anfangs verfügbaren ökologischen Nischen); (2) der schnelle Wiederaufbau hoher Diversität nach Masseaussterbeereignissen, der analog zur Artenexplosion am Beginn des Kambriums verlief (und ebenso im Rahmen von Konkurrenzmodellen zu erklären ist); (3) die langfristige, über mehrere hundert Millionen Jahre sich erstreckende Konstanz der Diversität zwischen den durch externe Einflüsse ausgelösten Massenaussterbeereignissen (konkurrenztheoretisch erklärbar durch die ökologische Sättigung der vorhandenen Habitate). Zur Erklärung dieser Phänomene ist die Annahme von Konkurrenz allerdings nicht zwingend. Auch andere Faktoren könnten Erklärungen liefern; für die langfristige Konstanz der Diversität im Erdmittelalter könnten zum Beispiel auch andere biotische Faktoren wie Räuber oder Parasiten oder abiotische Faktoren wie regelmäßige Umweltänderungen verantwortlich gewesen sein.56 Die langfristige Konstanz der Diversität könnte außerdem ein bloßes Artefakt der gewählten Untersuchungsebene sein: Sie besteht nämlich lediglich auf den höheren taxonomischen Ebenen der Familien und Ordnungen, nicht aber auf den Ebenen der Arten und Gattungen.57 Schließlich haben nicht alle Gruppen von Organismen tatsächlich ein Plateau der Diversität erreicht; so verlief die Diversitätssteigerung der Samenpflanzen, Insekten und Wirbeltiere, insbesondere auf der Ebene der Arten, in den letzten 100 Millionen Jahren explosionsartig ohne erkennbare Obergrenze.58 Ökologische Interaktionen scheinen bei diesen Organismen eher zu einer sich aufschaukelnden Dynamik der Diversifizierung zu führen als zu einer Begrenzung durch Konkurrenzeffekte. Welcher Schluss ist aus all diesen Untersuchungsergebnissen zu ziehen? Zumindest wird deutlich, dass die Verhältnisse verwickelt sind und kein einheitliches Bild ergeben. Gesichert erscheint es inzwischen, dass die Verhältnisse auf der lokalen ökologischen Ebene der Interaktionen nicht einfach auf die höhere Ebene der Makroevolution übertragen werden können. Selbst wenn die Artbildungsrate 55 Vgl. Sepkoski 1996: 222. 56 Ebd. 57 Benton 1997: 494; Benton/Emerson 2007: 28. 58 Benton 1997: 491; Benton/Emerson 2007: 25.
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auf lokaler Ebene durch Konkurrenz und andere Interaktionsformen bestimmt wird, muss dies noch nicht für die globale Diversität entscheidend sein. Wahrscheinlich ist vielmehr, dass viele der neu entstehenden Arten kurzlebig sind und kaum Spuren in dem paläontologischen Befund hinterlassen.59 Es kann aber auch nicht allein der Zufall der entscheidende Faktor sein, dafür sind die globalen Trends der Entwicklung zu ausgeprägt. Konkurrenz und abiotisch bedingte Zufälle müssen daher in ihrem Zusammenspiel berücksichtigt werden. Das »Ersetzen des Stelleninhabers« ist ein solches theoretisches Modell, in dem auch der Konkurrenz eine Rolle zukommt. Sie wird zwar nicht als primärer kausaler Faktor für das Aussterben von Arten der ursprünglich dominanten Gruppe angesehen (dafür ist die Katastrophe verantwortlich, die zum Massenaussterben führte); die der Katastrophe nachfolgende Diversifizierung, die das Ablösen der einen Gruppe durch die andere bewirkt, beruht aber auf dem Konkurrenzvorteil der einen Gruppe, zum Beispiel so genannten »Schlüsselinnovationen« wie im Fall der Säugetiere dem Fell und der Warmblütigkeit. In verschiedenen Kontexten und für unterschiedliche systematische Gruppen sind es offenbar wechselnde Faktoren, die die Diversität determinieren. Dies sollte nicht erstaunen: Die globale Diversität einer systematischen Gruppe ist ein aggregierender Parameter, dessen Wert durch sehr viele heterogene kausale Faktoren auf den lokalen Ebenen der Interaktion bestimmt wird.60 Die rote Königin ist ein Faktor in diesem Komplex, aber in vielen Fällen nicht der herrschende; es gelingt ihr nicht immer, den Hofnarren einzufangen und auszuschalten.
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Das in seiner Grundstruktur einfache Verhältnis der Konkurrenz hat überraschend vielfältige und weitreichende Konsequenzen für ökologische Systeme und evolutionäre Entwicklungen. Die hier diskutierten theoretischen Einbindungen des Konkurrenzbegriffs machen außerdem deutlich, welche unterschiedlichen epistemischen Rollen dieser Begriff spielen kann. Konkurrenz fungiert nicht nur als ein wichtiger Faktor in der Erklärung der Vielfalt von Organismen, der Stabilität ökologischer Gemeinschaften und der Gerichtetheit evolutionärer Veränderungen, sie kann darüber hinaus sogar die Rolle eines Bindefaktors (»Darwinian glue«) spielen, der ökologische Gemeinschaften zu einer Einheit formt, indem sie eine wechselseitige Abhängigkeit von Populationsgrößen bewirkt. 59 Stanley 1979. 60 Rabosky 2013.
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Konkurrenz ist aber doch nicht primär ein Prinzip der Konstitution von organisierten Systemen; vielmehr ist sie oft ein antagonistisches Prinzip, das für die Zersetzung solcher Systeme verantwortlich ist (»subversion from within«). Das Verhältnis von Kooperation zu Konkurrenz kann aber andererseits nicht als direkter Antagonismus gedacht werden: Konkurrenz kann vielmehr gleichzeitig eine treibende Kraft in der Entstehung von Kooperation durch die Interaktion von Konkurrenten sein. Kooperation ist in dieser Hinsicht ein Aspekt und ein Mittel der Konkurrenzüberlegenheit. Dies gilt besonders für Verbünde von bereits organisierten Systemen, wie mehrzellige Organismen und soziale Gemeinschaften. Was Kant als treibende Kraft für die Fortschrittsgeschichte des Menschen konstatierte, gilt daher noch mehr für die Dynamik der Evolution, die seine Lebensform erst möglich machte: »Der Mensch will Eintracht; aber die Natur weiß besser was für seine Gattung gut ist, sie will Zwietracht«.61
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Konkurrenz in der Natur Interspezifische Konkurrenz als Organisations- und Entwicklungsprinzip von Ökosystemen? T HOMAS K IRCHHOFF
Konkurrenz ist ein zentraler Begriff der Theoriebildung in der Ökologie, also desjenigen Teils der Naturwissenschaft Biologie, der sich mit den Umweltbeziehungen lebender Organismen befasst. Seit spätestens Mitte der 1940er bis zum Ende der 1970er Jahre galt Konkurrenz in der Ökologie sogar als die dominante Interaktionsform zwischen Organismen. Die ökologische und evolutionäre Bedeutung von Konkurrenz war in der Ökologie aber immer umstritten. Kontrovers wurde und wird diskutiert: Wie häufig und wie stark tritt Konkurrenz in der Natur auf? Welchen Einfluss hat sie auf die Verbreitung, die Abundanz und die Eigenschaften von Arten? Welchen Einfluss hat sie auf die Organisation und Entwicklung von Biozönosen bzw. Ökosystemen1 im Vergleich zu anderen ökologischen Interaktionen wie Prädation, zu abiotischen Umweltfaktoren und zu stochastischen Verbreitungsprozessen? Auch eine Vielzahl empirischer und theoretischer Studien hat darüber bisher keine Klarheit gebracht: »We have a very sophisticated science concerned with the experimental and theoretical study of competition, but we are still fearfully ignorant about just how often it occurs and how important it is as a force in natural communities.«2
1
Nach funktionaler Definition besteht eine Biozönose oder ökologische Gesellschaft aus interagierenden Populationen mindestens zweier verschiedener Arten, Ökosysteme sind definiert als funktionale Einheiten aus einer Biozönose und ihrem Biotop.
2
Begon et al. 1996: 201; vgl. HilleRisLambers et al. 2012.
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Die Grundzüge der Kontroversen um Konkurrenz in der Ökologie – ein Höhepunkt lag in den 1980er Jahren, seit einigen Jahren ist eine Wiederbelebung zu konstatieren3 – sollen in diesem Aufsatz dargelegt werden. Der Fokus liegt auf interspezifischer Konkurrenz, das heißt der Konkurrenz zwischen Organismen verschiedener Arten, und ihrer Bedeutung für die Organisation und Entwicklung von Biozönosen bzw. Ökosystemen.4 Dabei unterscheide ich, analytisch, vier Konfliktachsen, die sich de facto vielfältig durchdringen: (1) Welchen Stellenwert hat Konkurrenz als Organisations- und Entwicklungsprinzip von Biozönosen im Vergleich zu anderen Prinzipien? (2) Sind Konkurrenzsysteme Gleichgewichts- oder Ungleichgewichtssysteme? (3) Was ist die Hauptursache für die heutige Artendiversität: konkurrenz-induzierte koevolutionäre Divergenz oder eine Pluralität unabhängiger Evolutionsprozesse? (4) Führt Konkurrenz zu koevolutionärer Divergenz oder Konvergenz? Diese Konfliktachsen rekonstruiere ich ausgehend von der klassischen nischentheoretischen Konkurrenztheorie. Auf diese Theorie beziehen sich die meisten anderen Theorien über Vorkommen und Wirkungen von Konkurrenz, sei es modifizierend, sei es als grundlegende Kritik. Auch die Charakteristika ökologischer Theorien, die früher als diese Konkurrenztheorie formuliert wurden, lassen sich – zumindest mit Blick auf die Fragestellung dieses Aufsatzes – so angemessen rekonstruieren. Es geht mir nicht darum, für oder gegen bestimmte ökologische Konkurrenztheorien zu argumentieren. Vielmehr möchte ich deutlich machen, dass in der Ökologie ganz unterschiedliche Auffassungen über Vorkommen und Wirkungen von Konkurrenz existieren. Und ich möchte thematisieren, warum das, seit Jahrzehnten, so ist. Dabei stütze ich mich auf historische Epistemologien sowie antipositivistische Wissenschaftstheorien und stelle einen Einfluss außernaturwissenschaftlicher, kulturell geprägter Deutungsmuster auf die Theoriebildung in der Ökologie fest. Wissenschaftstheoretisch kritisiere ich damit einen unreflektierten epistemologischen Objektivismus in der Ökologie, normativ wende ich mich gegen außerwissenschaftliche Naturauffassungen und Gesellschaftstheorien, die Konkurrenz als natürliches Prinzip begreifen, ohne zu bedenken, dass Naturauffassungen immer auch Projektionen kultureller Deutungsmuster sind. Bevor ich die vier Konfliktachsen rekonstruiere, gehe ich zunächst auf die Definition von Konkurrenz in der Ökologie ein und werfe dann einen kurzen Blick auf die Vorgeschichte der modernen Ökologie, um zu zeigen, dass Konkurrenz nicht immer als Naturprinzip angesehen wurde.
3
HilleRisLambers et al. 2012: 227–229.
4
Zu Kontroversen um intraspezifische Konkurrenz siehe Toepfer in diesem Band.
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Ö KOLOGIE
Es gibt keine unumstrittene Definition von Konkurrenz in der Ökologie. Die Situation ist nicht grundsätzlich anders als in nicht-naturwissenschaftlichen Disziplinen wie der Ökonomie und der Soziologie.5 Unterschiedliche Definitionen ergeben sich in der Ökologie vor allem aus der Betonung unterschiedlicher Definitionskriterien.6 Ich lege die einflussreiche Definition aus dem Lehrbuch von Begon, Harper und Townsend zugrunde, weil ich sie für besonders differenziert und sachlich angemessen halte. Sie lässt sich auf alle Theorien, die ich im Folgenden behandle, anwenden: »[C]ompetition is an interaction between individuals, brought about by a shared requirement for a resource in limited supply, and leading to a reduction in the survivorship, growth and/or reproduction of the competing individuals concerned«7. Mit dieser Definition ist Konkurrenz zugleich nach Kriterien der Ursache bzw. Funktion, der Struktur und der Wirkung bestimmt: Die Ursache bzw. Funktion der Interaktion »Konkurrenz« ist das Streben von Organismen, ihren Bedarf an Ressourcen, und zwar an limitierenden Ressourcen, zu decken. Dabei versteht man unter einer Ressource diejenigen für einen Organismus zuträglichen Umweltfaktoren, welche von einem Organismus verbraucht oder zumindest vorübergehend gebraucht werden können; eine limitierende Ressource ist eine Ressource, die knapp ist relativ zum Bedarf.8 Die Wirkung von Konkurrenz besteht darin, dass sie für beide bzw. alle Interaktionspartner negative Folgen hat. Es handelt sich um eine (– –)-Interaktion,9 wobei sich die abträgliche Wirkung auf die Überlebenschancen der konkurrierenden Organismen (ökologische Wirkung) und auf deren Beitrag zur Erzeugung von Nachkommen (fortpflanzungsbiologische Wirkung) beziehen kann. Die Struktur von Konkurrenz ist dadurch gekennzeichnet, dass die Interaktion immer eine vermittelte ist; die Beziehung der interagierenden Organismen wird nämlich durch etwas von ihnen Verschiedenes, die gemeinsame limitierende Ressource, hergestellt. Durch dieses Strukturmerkmal ist Konkurrenz
5
Vgl. die Einleitung zu diesem Band und den Beitrag von Diefenbacher/Rodenhäuser.
6
Zu diesen Schwierigkeiten siehe Abrams 1987, auch Cooper 1993: 361.
7
Begon et al. 1996: 203; vgl. Cooper 1993: 361; Trepl 2007: 84.
8
Trepl 2005: 105–117, 149–157, 164–166; Ricklefs 1997: 659.
9
Zum Vergleich: (+ +) Mutualismus/Kooperation, (+ –) Prädation inklusive Herbivorie und Parasitismus, (– 0) Amensalismus, (+ 0) Kommensalismus und (0 0) Neutralismus (vgl. Abrams 1987: 272–274; Begon et al. 1996: 200 f.).
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abgegrenzt von anderen (– –)-Interaktionen, etwa Kämpfen zwischen Beutetier und Räuber, die ohne Bezug auf eine gemeinsame Ressource stattfinden. Nach dem Mechanismus der Vermittlung durch die Ressource unterscheidet man zwei Formen von Konkurrenz: Bei der indirekten oder AusbeutungsKonkurrenz entzieht ein Organismus einem anderen Ressourcen, indem er sie verbraucht und das Ressourcenniveau senkt. Bei der direkten oder InterferenzKonkurrenz entzieht ein Organismus einem anderen Ressourcen, indem er diesen daran hindert (durch realen oder ritualisierten Kampf, Aussonderung von Toxinen etc.), an die noch vorhandene Ressource heranzukommen.10 Auch Interferenz-Konkurrenz ist eine (– –)-Beziehung, weil sie auch dem Gewinner schadet: durch Verletzungen oder Energieverbrauch im Kampf, durch den Ressourceneinsatz zur Ausbildung der für den Sieg erforderlichen Eigenschaften usw. Einige Autoren definieren Konkurrenz unabhängig von der Funktion und Struktur der ökologischen Interaktion alleine anhand ihrer wechselseitig negativen Wirkung: »Competitive interactions take place whenever any two individuals, populations, or species affect each other adversely.«11 Damit verliert man aber aus den Augen, dass Ausbeutungs- und Interferenz-Konkurrenz sich grundsätzlich unterscheiden von ökologischen Phänomenen wie dem erfolgreichen Verteidungskampf (einer Beute gegen einen Räuber) oder sogenannter apparent competition (bei der zwei Konkurrenten sich indirekt gegenseitig beeinträchtigen, indem sie jeweils durch ihre Anwesenheit die Populationsdichte ihres gemeinsamen Räubers erhöhen).12
ZUR E TABLIERUNG VON K ONKURRENZ ALS N ATURPRINZIP Die Ansicht, Konkurrenz sei eine wesentliche Kraft in der Natur, hat sich erst seit dem 19. Jahrhundert durchgesetzt. Eine wichtige Rolle spielten dabei die Theorien von Candolle und Darwin. In Theorien über die Natur wurde über Jahrhunderte zumeist die auf einem göttlichen Plan basierende harmonische Koexistenz der unterschiedlichen Arten vorausgesetzt. Die Natur galt als eine von Gott eingerichtete, vollkommene Ordnung, in der alle Wesen ihren Platz haben und in ihrer Vielfalt (Prinzip der Fülle) ein harmonisches, im Gleichgewicht (balance of nature) befindliches Gesamt-
10 Vgl. Begon et al. 1996: 204 f.; Schoener 1983: 257; Trepl 2007: 86–89. 11 Pfennig/Pfennig 2012: IX. 12 Zu diesen und weiteren Beispielen siehe Abrams 1987.
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system bilden.13 Es war wohl der Schweizer Botaniker und Naturforscher Candolle, der 1820 erstmals interspezifische Konkurrenz als relevantes Ordnungsprinzip in der Natur beschrieben hat: »Toutes les plantes d’un pays, toutes celles d’un lieu donné, sont dans un état de guerre les unes relativement aux autres.«14 Die geografische Verbreitung der Pflanzenarten sei das Ergebnis eines immerwährenden Kampfes (lutte perpétuelle), der dazu führe, dass jede Art nur in dem Terrain wächst, das am besten zu ihr passt (convient le mieux), nicht aber im gesamten Gebiet, dessen Umweltbedingungen innerhalb ihres Toleranzbereichs liegen.15 Anders als die Vertreter des Konkurrenzausschlussprinzips,16 das Anfang des 20. Jahrhunderts formuliert wurde, meint Candolle, es gebe in diesem Konkurrenzkampf gleich starke Konkurrenten, die dauerhaft koexistieren könnten.17 Die Ansicht, Konkurrenz sei eine allgegenwärtige und wirkungsvolle Ursache in der Natur, hat sich allerdings erst mit Darwins Evolutionstheorie etabliert. »Although ideas of competition among organisms antedated Charles Darwin, students of evolution, genetics, and ecology derived their ideas of, and interest in, competition largely from On the Origin of Species.«18 Den Kern von Darwins Evolutionstheorie bildet bekanntlich die Hypothese, dass es zufällige natürliche Variationen unter den Organismen einer Population gibt und diese Variationen der natürlichen Selektion unterliegen, weil ein struggle for existence herrscht. Als Hauptmechanismus natürlicher Selektion bestimmt Darwin Konkurrenz, die er, von »Competition universal«19 sprechend, für allgegenwärtig hält: »Natural selection in each well-stocked country, must act chiefly through the competition of the inhabitants one with another«20. Dabei sei die Konkurrenz in der Regel umso stärker, je ähnlicher sich die Organismen seien, am stärksten sei also die intraspezifische Konkurrenz innerhalb der Population einer Art.21 In der heutigen Evolutionsbiologie und Ökologie dominiert die Ansicht, natürliche Selektion führe vor allem zur Vermeidung interspezifischer Konkurrenz durch
13 Siehe Egerton 1973 zur Geschichte des Konzeptes einer balance of nature. 14 Candolle 1820: 384. 15 Ebd.: 384–386. 16 Zu diesem Prinzip siehe unten, Fußnote 28 auf Seite 145. 17 Candolle 1820: 386. 18 McIntosh 1992: 61, erste drei Wörter im Original als Kapitelanfang hervorgehoben. 19 Darwin 1859: 60. Vgl. ebd.: 62: »The elder De Candolle and Lyell have largely and philosophically shown that all organic beings are exposed to severe competition.« 20 Ebd.: 205; vgl. ebd.: 320. 21 Ebd.: 467 f.
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Divergenz: »Natural selection designs different kinds of animals and plants so that they avoid competition. A fit animal is not one that fights well, but one that avoids fighting altogether«22. Diese Hypothese liegt auch der nischentheoretischen Konkurrenztheorie zugrunde (siehe nächster Abschnitt). Nicht selten wird sie Darwin zugeschrieben.23 Jedoch sprechen zahlreiche seiner Aussagen über die Perfektionierung der Organismen durch natürliche Selektion dafür, dass er in natürlicher Selektion vor allem einen Mechanismus zur Optimierung der Konkurrenzstärke sah.24 So schlussfolgert Tammone:25 Darwin »believed that increased divergence leads, not to a decrease in competition, but to an increase in specialization, and that specialization is a competitive advantage […]. [F]or Darwin, specialization is not a means of avoiding the competition, but a means of beating the competition.«
V IER K ONFLIKTACHSEN IN DER D ISKUSSION UM INTERSPEZIFISCHE K ONKURRENZ IN DER Ö KOLOGIE Der Bezugspunkt der Rekonstruktion: Die klassische nischentheoretische Konkurrenztheorie Die vier Konfliktachsen in der Diskussion um interspezifische Konkurrenz in der Ökologie rekonstruiere ich ausgehend von der klassischen nischentheoretischen Konkurrenztheorie. Diese Theorie, die in der Diskussion um die Organisationsweise und Entwicklung von Biozönosen zumindest in 1960er und 1970er den Status eines nahezu selbstverständlichen normalwissenschaftlichen Forschungsprogramms hatte,26 lässt sich so charakterisieren:27 Biozönosen organisieren und entwickeln sich, indem konkurrierende Arten die Ressourcen eines Habitats solange untereinander aufteilen (resource partitioning), bis diejenige Artenkombination erreicht ist, die die vorhandenen limitierenden Ressourcen optimal, das heißt vollständig und mit maximaler Effizienz nutzt.
22 Colinvaux 1978: 144; vgl. ebd.: 145–149, 190. 23 Siehe z.B. Schweber 1980. 24 Siehe z.B. Darwin 1859: 172, 182, 281, 379. 25 Tammone 1995: 110; vgl. ebd.: 128. 26 Vgl. Schoener 1982: 586; Chesson/Case 1986: 230; Gotelli 2004: 1032. Zur Entstehung dieses Forschungsprogramms siehe insb. Diamond 1978; Schoener 1982: 586 f. 27 Siehe zum Folgenden z.B. Hutchinson 1959; MacArthur/Levins 1967; MacArthur 1969; 1970; 1972; Pianka 1976; Schoener 1974; 1982; Roughgarden 1983.
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In der sogenannten ökologischen Zeit wird dies durch zwei Mechanismen bewirkt: 1. durch Konkurrenzausschluss (competitive exclusion), das heißt, von denjenigen Arten, die in ein Habitat einwandern und durch dieselbe Ressource limitiert werden, bleibt nur die eine Art übrig, die diese Ressource am effektivsten zu nutzen vermag;28 2. durch Nischenkompression29 (niche compression), die auf zwei Weisen erfolgt, (a) als Habitataufteilung, wenn von zwei oder mehr Arten, die durch dieselbe Ressource limitiert werden, jede diese Ressource unter den abiotischen Umweltbedingungen eines anderen Mikrohabitats (patch) effizienter nutzt, (b) als Ressourcenaufteilung, wenn konkurrierende Arten dauerhaft in demselben Mikrohabitat koexistieren, weil jede eine andere limitierende Ressource am effizientesten zu nutzen vermag und sich auf deren Nutzung spezialisiert. Für die sogenannte evolutionäre Zeit wird entsprechend angenommen: Interspezifische Konkurrenz ist umso geringer, je mehr sich die Arten in der Ressourcennutzung unterscheiden. Zudem werde die Ressourcennutzung mit dem Spezialisierungsgrad effizienter. Deshalb komme es durch natürliche Selektion zu koevolutionärer Nischendifferenzierung und Nischenspezialisierung der koexistierenden konkurrierenden Arten. Das heißt, es bildet sich eine Vielzahl von Monopolen für jeweils sehr begrenzte Ausschnitte des vieldimensionalen Nischenraums aus. Eine umfassende Monopolisierung der Ressourcen durch eine einzige Art finde nicht statt, denn »a harvester cannot be simultaneously perfect at several jobs; perfection in one involves reduced efficiency in another, and if an organism must try to harvest in various ways, it must compromise its efficiency in each.«30 Die Entwicklung von Biozönosen ist damit als ökologisches und evolutionäres »species packing«31 beschrieben. Dieses ist ein endlicher Prozess, weil Ressourcen nicht beliebig feingliederig aufteilbar sind – vor allem nicht, weil sich mit dem Spezialisierungsgrad die Ressourcenmenge verringert. Das species packing endet, sobald die minimal erforderliche Nischendifferenz bzw. die maximal mögliche Nischenähnlichkeit (limiting similarity) erreicht ist, unter der Arten noch dauerhaft koexistieren können. Ist dieser Punkt erreicht, dann ist die Biozönose mit Arten gesättigt und in einem Gleichgewichtszustand: Jede der koexis-
28 Einflussreich wurde das Konkurrenzausschlussprinzip durch die Arbeiten von Gause 1934; vgl. Hardin 1960. Für eine sehr frühe Formulierung siehe Monard 1918: 222. 29 Der Begriff der ökologischen Nische wird hier, entsprechend Hutchinsons (1957) Definition, als Inbegriff der Kombination aller derjenigen Ausprägungen von Umweltbedingungen verwendet, unter denen eine Art sich dauerhaft reproduzieren kann. 30 MacArthur 1972: 61. 31 MacArthur/Levins 1967; MacArthur 1969; 1970.
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tierenden Arten nutzt denjenigen Teil der Ressourcen in demjenigen Mikrohabitat, für den sie in diesem die konkurrenzfähigste ist, wobei die Artendiversität positiv korreliert mit der Weite des Ressourcenspektrums, der Anzahl an Mikrohabitaten und dem Spezialisierungsgrad der Arten. Der Spezialisierungsgrad korreliere positiv mit der Produktivität des Habitats und mit der Konstanz der Umweltbedingungen bzw. der Vorhersehbarkeit ihrer Veränderungen (weshalb z.B. Wälder in den Tropen wesentlich artenreicher seien als in der gemäßigten Zone). Im Gleichgewichtszustand herrsche kaum noch Konkurrenz, sondern »a division of labor among specialists.«32 Solche Biozönosen bestehen aus Arten »that tend to complement one another, rather than directly competing, in their uses of the community’s space, time, resources, and possible kinds of interactions.«33 Diese Hypothese, der zufolge fehlende oder geringe aktuelle Konkurrenz in artenreichen Biozönosen geradezu das frühere Wirken von Konkurrenz beweist und die nischentheoretische Konkurrenztheorie bestätigt, hat Connell in kritischer Absicht als »the Ghost of Competition Past«34 bezeichnet. Konfliktachse 1: Welchen Stellenwert hat Konkurrenz als Organisationsprinzip von Biozönosen? Die Annahme der klassischen nischentheoretischen Konkurrenztheorie, interspezifische Konkurrenz sei das zentrale Organisations- und Entwicklungsprinzip von Biozönosen, ist auf ganz unterschiedliche Weise infrage gestellt worden. Drei alternative Hypothesen stelle ich vor. a) Konkurrenz ist zu selten stark, um einflussreich zu sein Diese Hypothese wurde bereits in den 1950er Jahren von Andrewartha und Birch35 vertreten, aber erst Ende der 1970er Jahre vor allem durch einen Aufsatz von Wiens36 als »variable-environment view« einflussreich. Ihr liegt folgende Argumentation zugrunde: In vielen Gebieten der Erde werden die Populationen potenziell konkurrierender Arten durch temporär ungünstige Umweltbedingungen (insbesondere schlechte Witterungsbedingungen wie Trockenheit oder Frost, aber auch verbrauchsunabhängige Ressourcenknappheit) immer wieder drastisch
32 MacArthur 1972: 61. 33 Whittaker 1975: 78. 34 Connell 1979: 137. 35 Andrewartha/Birch 1954: insb. 6–8, 12, 32, 87, 489–492, 650–663, 705. 36 Wiens 1977.
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reduziert. Da die Wachstumsraten von Populationen begrenzt sind, liegt die Summe der Populationsdichten der potenziell konkurrierenden Arten die meiste Zeit weit unterhalb der Kapazitätsgrenze der limitierenden Ressourcen: »Most natural populations are like this. The numbers fluctuate, perhaps widely; but they do not become numerous enough, even during periods of maximal abundance, to use more than a small proportion of their resources«37. Deshalb herrscht zwischen den potenziell konkurrierenden Arten die meiste Zeit allenfalls geringfügige Konkurrenz, die weder eine ökologische noch eine koevolutionäre Nischendifferenzierung der Arten bewirken kann. »Thus, a major paradigm of community ecology is applicable to a minority of natural situations.«38 b) Konkurrenz ist allgegenwärtig, aber selektiert keine Arten Diese Hypothese ist der Kern sogenannter neutralistischer Theorien. Deren wohl bekanntester Vertreter, Hubbell,39 wendet sich explizit gegen die niche-assembly perspective, der zufolge interspezifische Konkurrenz um limitierte Ressourcen bestimmt, welche Arten sich vergesellschaften und welche nicht. Stattdessen vertritt er eine dispersal-assembly perspective, der zufolge Biozönosen Ansammlungen von Arten sind, die sich nicht in einem Gleichgewicht befinden und deren Zusammensetzung sich im Wesentlichen durch zufällige Verbreitungsprozesse ergibt. Das Spezifikum von Hubbels neutralistischer Variante der dispersalassembly perspective ist, dass er als die Ursache der Zufallsverteilung der Arten nicht das Fehlen von Konkurrenz, sondern die ökologische Äquivalenz der konkurrierenden Individuen bestimmt. Diese Hypothese beruht vor allem auf zwei Prämissen: (1) Wenn man größere Gebiete betrachtet, so sind diese mit Individuen (nicht: Arten) gesättigt, das heißt, die dort verfügbaren limitierenden Ressourcen werden vollständig genutzt. Deshalb sei die Dynamik von Biozönosen ein Nullsummenspiel, in dem keine Art ihre Abundanz erhöhen könne, ohne dass die einer anderen abnehme. (2) Alle in einem Habitat koexistierenden Individuen, die ähnliche Nahrungsansprüche haben und deshalb miteinander konkurrieren, sind – so sehr sie sich morphologisch auch unterscheiden mögen – nahezu identisch hinsichtlich derjenigen ökologischen Eigenschaften, welche für ihre Verbreitung und die Zusammensetzung von Biozönosen relevant sind; sie sind also ökologisch oder funktional äquivalent. (Zur Stützung dieser Prämisse siehe Konfliktachse 4.) Unter diesen beiden Prämissen koexistieren, so Hubbell, Arten
37 Andrewartha/Birch 1954: 653. 38 Price 1984: 365; vgl. Simberloff 1982. 39 Hubbell/Foster 1986; Hubbell 2001: insb. 5–9, 53–57, 74, 319, 322, 327; Hubbell 2005.
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nicht obwohl, sondern weil sie ökologisch äquivalent sind. Sie konkurrieren zwar stark miteinander, ihre Konkurrenz führt aber nicht zu Konkurrenzausschluss von Arten und damit auch nicht zur Ausbildung stabiler lokalspezifischer Artenkombinationen. c) Kooperative Interdependenz, nicht Konkurrenz ist entscheidend Vor allem in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts wurden in der Ökologie Theorien vertreten, denen zufolge nicht Konkurrenz, sondern kooperative Interdependenzen, wechselseitige Abhängigkeiten, das Hauptprinzip der Organisation und Entwicklung von Biozönosen darstellen. Das Verhältnis der koexistierenden Arten wird in Analogie zu dem der Organe eines individuellen Organismus gedacht (Organizismus). So ist beispielsweise Thienemann überzeugt: »Das Leben verwirklicht sich nur in Gemeinschaften verschiedenartiger Organismen«, deren »Einzelglieder […] bestimmte, lebensnotwendige Beziehungen zueinander zeigen«40. Jede Lebensgemeinschaft ist »nicht nur ein Aggregat, eine Summe von – aufgrund gleicher exogener Lebensbedingungen an der gleichen Lebensstätte nebeneinander befindlicher – Organismen, sondern eine (überindividuelle) Ganzheit, ein Miteinander und Füreinander von Organismen«41. Konkurrenz ist gegenüber diesen kooperativen Beziehungen von sekundärer Bedeutung. Sie spielt aber in der Lebensgemeinschaft dennoch eine notwendige Rolle, nämlich als Faktor in der Selbstregulation dieser Gemeinschaft, indem sie – in Verbindung mit Geburtenraten und anderen Umweltfaktoren – zur Regulation der Populationsgrößen beiträgt: Die Ordnung der Arten »zu einer Lebensgemeinschaft […] wird ermöglicht durch die gegenseitige Kompensation von Vermehrung und Vernichtung. ›Der Kampf ums Dasein‹ ist also hier eine notwendige Komponente innerhalb der Gemeinschaft, wie es schon Herder gesehen hat.«42 Konfliktachse 2: Sind Konkurrenzsysteme Gleichgewichts- oder Ungleichgewichtssysteme? Gemäß der nischentheoretischen Konkurrenztheorie stellt sich nicht nur theoretisch, sondern auch empirisch in den meisten Biozönosen bzw. Ökosystemen ein Gleichgewichtszustand ein, in dem die Ressourcen auf eine maximale Anzahl von Arten aufgeteilt sind, aber für jeden Ressourcenbereich jeweils nur die eine
40 Thienemann 1956: 102 bzw. 1939: 268. 41 Thienemann 1939: 275. 42 Thienemann 1956: 75; vgl. ebd.: 48 f., 52 f., 64, 121–124.
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konkurrenzstärkste Art verblieben ist, während alle anderen dem Konkurrenzausschluss erlegen sind. Diese Gleichgewichtstheorie ist in unterschiedlicher Weise infrage gestellt worden – und zwar nicht nur von Theorien, die die Prämisse der nischentheoretischen Konkurrenztheorie bestreiten, dass Konkurrenz fast allgegenwärtig ist, sondern auch von Theorien, die an dieser Prämisse festhalten. Ein wesentlicher Anlass für die letztgenannten Theorien waren empirische Befunde, die im Rahmen der nischentheoretischen Konkurrenztheorie Anomalien darstellten, weil die Anzahl koexistierender Arten deutlich höher war als das vermutete Ausmaß an möglicher Nischendifferenzierung. In den letztgenannten Theorien – vier Varianten stelle ich vor – kann man Versuche sehen, den Kern des Forschungsprogramms der nischentheoretischen Konkurrenztheorie vor einer Falsifikation zu schützen, indem Zusatzhypothesen eingeführt werden. a) Ungleichgewicht wegen fluktuierender Umweltbedingungen Berühmt geworden ist in der Ökologie die Anomalie, die unter der Bezeichnung »Paradox des Planktons«43 diskutiert wurde und noch wird: In dem offensichtlich homogenen, also nicht unterteilbaren Habitat, welches eine einzelne Wasserschicht eines Sees darstellt, koexistieren dauerhaft viele Planktonarten, obwohl das Konkurrenzausschlussprinzip unter diesen Bedingungen die Existenz nur einer einzigen Planktonart prognostiziert. Die von Hutchinson zur Lösung dieses Paradoxes vorgeschlagene Hypothese – Connell hat sie als gradual change hypothesis bezeichnet – lautet:44 Im Jahresverlauf verändern sich in der Wasserschicht durch exogene Ursachen die Umweltfaktoren wie Temperatur, Nährstoffgehalt und Beleuchtungsstärke. Damit verändern sich die Konkurrenzstärken der konkurrierenden Arten, und zwar so, dass konkurrenzschwächere zu konkurrenzstärkeren Arten werden und umgekehrt. Weil diese Veränderungen in der Konkurrenzhierarchie so schnell erfolgen, dass es zu keinem Konkurrenzausschluss kommt, stellt sich kein Gleichgewichtszustand ein, sodass viel mehr Planktonarten dauerhaft koexistieren können, als man nach der Nischentheorie erwarten dürfte. b) Ungleichgewicht wegen punktueller Störungen Eine Mittelposition zwischen gradual change hypothesis (Hutchinson) und variable-environment view (Wiens; siehe Konfliktachse 1) nehmen die intermediate disturbance hypothesis (Connell45) und die patch dynamics-theory (Pickett46) ein.
43 Hutchinson 1961. 44 Ebd.; vgl. Connell 1978: 1306. 45 Connell 1978: 1303.
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In beiden Theorien wird nicht bestritten, dass Konkurrenz herrscht, auch nicht, dass sie bei konstanten Umweltbedingungen zu Konkurrenzausschluss und einem Gleichgewichtszustand führt. Bestritten wird aber, dass solch ein Gleichgewichtszustand öfter erreicht wird. Denn durch immer wieder auftretende kleinmaßstäbliche Störungen wie Prädation, Krankheiten, Feuer und Stürme werde die ökologische Sukzession und der Prozess des Konkurrenzausschlusses immer wieder lokal gestoppt oder sogar zurückgesetzt: »Disturbance occurs frequently enough in many systems to destroy or disadvantage the competitive dominants of late successional communities and so allow[s] the coexistence of species with many degrees of competitive ability.«47 Wegen dieser Störungen entstehe, wie Pickett mit seiner patch dynamicstheory betont, auch in Habitaten mit relativ homogenen Standortbedingungen ein dynamisches Mosaik aus Flächen (patches) mit je unterschiedlicher Artenzusammensetzung, in dem dauerhaft eine viel größere Artenzahl koexistieren kann, als es die klassische nischentheoretische Konkurrenztheorie prognostiziert. Von einer intermediate disturbance hypothesis spricht Connell, weil bei mittlerer Störungsintensität (bezüglich Frequenz, räumlicher Ausdehnung und Stärke) die größte Artenvielfalt zu erwarten sei. Demgegenüber wird in der klassischen, gleichgewichtstheoretischen Konkurrenztheorie die höchste Artenvielfalt für konstante Umweltbedingungen prognostiziert (siehe oben, S. 146). c) Endogene chaotische Konkurrenzdynamik Gemäß den bisher vorgestellten Kritiken an der klassischen Konkurrenztheorie verhindern exogene Ursachen die Ausbildung eines Gleichgewichts bzw. die Realisierung von Konkurrenzausschluss. Huisman und Weissing48 haben demgegenüber die Hypothese formuliert, dass auch ein ungestörtes Konkurrenzregime aufgrund seiner endogenen Dynamik unter bestimmten Bedingungen nicht zu einem stabilen Gleichgewichtszustand führt. Durch ihre Modellierungen von Konkurrenzdynamiken sehen sie als bestätigt an: Zwar bildet sich unter konstanten Umweltbedingungen bei nur einer limitierenden Ressource und auch noch bei zwei limitierenden Ressourcen ein stabiles Gleichgewicht mit nur einer Art bzw. nur zwei Arten aus (wie es die klassische Konkurrenztheorie behauptet). Bei drei Ressourcen ergibt sich aber ein System, in dem die Abundanzen der Arten
46 Pickett 1980. 47 Ebd.: 238. 48 Huisman/Weissing 1999; vgl. bereits Gilpin 1975; May/Leonard 1975; vgl. auch neuerdings Dutta et al. 2014.
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dauerhaft regelmäßig oszillieren. »This occurs if the species displace each other in a cyclic fashion. That is, species 1 is the better competitor for resource 1 but becomes limited by resource 2, species 2 is the better competitor for resource 2 but becomes limited by resource 3, species 3 is the better competitor for resource 3 but becomes limited by resource 1, and so on.«49 Und schon ab fünf limitierenden Ressourcen ergeben sich unregelmäßige, chaotische Fluktuationen der Artabundanzen, sodass deutlich mehr Arten dauerhaft koexistieren können, als limitierende Ressourcen zur Verfügung stehen. In der Natur seien solche Bedingungen, beispielsweise für natürliche Plankton-Gesellschaften, häufig zu erwarten. d) Stabile Koexistenz durch kompensatorische Prädation Sowohl in der klassischen Konkurrenztheorie als auch in den bisher dargestellten Kritiken an ihr wird Konkurrenz als eigenständige, isolierte Interaktion thematisiert, insofern keine Abhängigkeit der Ergebnisse interspezifischer Konkurrenz von anderen interspezifischen Beziehungen gesehen wird. Dagegen formuliert die compensatory mortality hypothesis50 eine solche Abhängigkeit. So kann sie, ohne die Gleichgewichtshypothese aufzugeben, erklären, dass die Artenzahl koexistierender Konkurrenten vielfach (wie beim Paradox des Planktons) höher ist als der vermutete Grad an Nischendifferenzierung. Die Hypothese kompensatorischer Mortalität besagt: Auch bei konstanten Umweltbedingungen können Arten, die von derselben limitierenden Ressource abhängig sind, dauerhaft koexistieren, wenn die Schädigungs- oder Mortalitätsrate der konkurrierenden Arten durch Prädation (im weiten, außer Räuber-Beute-Beziehungen auch Herbivorie und Parasitismus umfassenden Sinne) mit ihrer Populationsdichte zunimmt. Dann wird nämlich die konkurrenzstärkste Art, sobald sie eine überdurchschnittliche Populationsdichte erreicht, durch Prädation überdurchschnittlich stark geschädigt, wodurch verhindert wird, dass sie die konkurrenzschwächeren Arten verdrängt und die Ressource monopolisiert. »Local species diversity is directly related to the efficiency with which predators prevent the monopolization of the major environmental requisites by one species.«51
49 Huisman/Weissing 1999: 408 f. 50 Frühe Vertreter der so von Connell (1978: 1307) bezeichneten Theorie sind Paine 1966; Janzen 1970; Connell 1971. 51 Paine 1966: 65; Borer et al. 2014.
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Konfliktachse 3: Artendiversität durch konkurrenzinduzierte koevolutionäre Divergenz oder durch unabhängige Evolution? »Why are there so many kinds of animals?«52 Diese berühmt gewordene Frage hat 1959 der Ökologe Hutchinson gestellt – und als Erklärung im Wesentlichen die oben skizzierte klassische Konkurrenztheorie angeboten. Ihr zufolge ist die heutige Artendiversität zu einem erheblichen Teil das Resultat einer durch interspezifische Konkurrenz induzierten, koevolutionären Divergenz. Diese ist auch für MacArthur »the ultimate reason we have so many species.«53 Damit wird eine holistische Theorie der Genese von Artendiversität vertreten, insofern man annimmt, dass die Genesen der einzelnen Arten und ihrer qualitativ individuellen Eigenschaften wechselseitig abhängig voneinander sind, und nur aus dem ganzheitlichen Kontext der Biozönose heraus erklärbar sind. Diese holistische Sichtweise ist in der Ökologie sehr verbreitet, aber auch grundsätzlich infrage gestellt worden, unter anderem durch eine elementaristisch-individualistische Theorie.54 Dieser zufolge haben die Arten, die in Biozönosen miteinander koexistieren, ihre ökologischen Eigenschaften in voneinander unabhängigen Evolutionsprozessen erworben, und zwar häufig an einem anderen Ort und in einem anderen ökologischen Zusammenhang. Dabei bezieht sich die Hypothese der Unabhängigkeit – das ist wichtig – nur auf die aktuelle Koexistenz, nicht aber auf die ursprüngliche evolutionäre Genese der Arten: »When we consider the ›independent‹ evolutionary histories of species that are considered to be part of a particular community […], we do not imply that a species evolves in a vacuum and without influence from individuals of other species […]. The ›independence‹ is from other ›member species‹ of the modern day ›community‹«55. Demnach sind artenreiche Biozönosen nicht etwa das Ergebnis koevolutionärer Anpassungen und Differenzierungen von Arten im Rahmen einer gemeinsamen, von Konkurrenz geprägten evolutionären Geschichte, sondern das Ergebnis einer Pluralität eigenständiger evolutionärer Geschichten in Verbindung mit ecological fitting56, das ist »the process whereby organisms colonize and persist in novel environments, use novel resources or form novel associations with other species as a result of the suites of traits that they carry
52 Hutchinson 1959: 145, im Original als Überschrift in Großbuchstaben. 53 MacArthur 1972: 61; vgl. Schoener 1974: 27. 54 Vertreter dieser Ansicht sind z.B. Grant 1975; Connell 1980: insb. 137; Janzen 1985; Walter/Paterson 1995; Agosta/Klemens 2008; Tobias et al. 2014. 55 Walter/Paterson 1995: 465. 56 Janzen 1985: 309.
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at the time they encounter the novel condition.«57 Im Hintergrund steht dabei eine Theorie punktueller Evolution bzw. von Nischenkonservierung,58 wohingegen der holistischen Deutung eine Theorie gradueller Evolution zugrunde liegt. Konfliktachse 4: Führt Konkurrenz zu koevolutionärer Divergenz oder zu koevolutionärer Konvergenz? Gemäß der nischentheoretischen Konkurrenztheorie führt Konkurrenz zu koevolutionärer Nischendifferenzierung bzw. Divergenz. Entgegen dieser weit verbreiteten Ansicht argumentieren verschiedene Autoren, Koevolution führe unter Konkurrenzbedingungen eher zu Konvergenz als zu Divergenz. Ein prominenter Vertreter dieser Hypothese ist Hubbell. Für seine neutralistische Theorie (siehe oben, Konfliktachse 1) ist diese Hypothese von zentraler Bedeutung, weil sie seine Prämisse der ökologischen Äquivalenz plausibel erscheinen lässt. Die Vertreter der Hypothese koevolutionärer Konvergenz stützen sich vor allem auf drei Argumente:59 (1) Jede Art muss sich in einer Biozönose nicht nur an einige wenige, sondern an viele andere Arten gleichzeitig anpassen; das heißt, es herrscht nicht diskrete paarweise, sondern diffuse Konkurrenz. (2) Weil Biozönosen keine stabile Artenzusammensetzung aufweisen, verändert sich die Zusammensetzung dieser Gruppe anderer Arten und damit das diffuse Konkurrenzregime permanent. (3) Dieses diffuse, variable Konkurrenzregime ist je nach lokaler Biozönose und damit für jede lokale Population einer Art unterschiedlich beschaffen; die lokalen Populationen einer Art können aber nicht unabhängig voneinander evoluieren, weil sie durch Genfluss miteinander verbunden sind. Aus diesen drei Gründen gibt es keine natürliche Selektion, die zu Spezialisierungen der Arten führt. Die einzelnen Arten passen sich nicht je individuell an einzelne andere Arten und an die spezifischen Bedingungen einer bestimmten lokalen Biozönose an, sondern jeweils viele Arten passen sich in der gleichen Weise an dieselben überlokalen Durchschnittsbedingungen an und werden somit einander ähnlicher. Koevolution »may be a kind of diffuse coevolution resulting in large guilds of competitively coequal or nearly coequal species, rather than in competitive niche differentiation«60.
57 Agosta/Klemens 2008:1123; vgl. Grant 1975. 58 Siehe z.B. Wiens et al. 2010. 59 Siehe zum Folgenden Connell 1980: 132 f.; Hubbell/Foster 1986; Cotton 1998; Zamora 2000; Hubbell 2001: insb. 346; Hubbell 2005: 170. 60 Hubbell/Foster 1986: 319.
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ZUM
AUSSER - NATURWISSENSCHAFTLICHEN H INTERGRUND ÖKOLOGISCHER K ONKURRENZTHEORIEN UND IHRER KRITIK Bisher habe ich gezeigt, dass in der Ökologie ganz unterschiedliche Theorien über das Vorkommen und die Wirkungen interspezifischer Konkurrenz existieren. Weshalb ist das so? Und warum konnten die Kontroversen um Konkurrenz trotz jahrzehntelanger theoretischer Überlegungen und empirischer Untersuchungen nicht beigelegt werden? Um diese Fragen zu beantworten, stütze ich mich auf historische Epistemologien und antipositivistische Wissenschaftstheorien und gehe von folgenden Annahmen aus: (1) Die naturwissenschaftliche Theoriebildung wird durch außernaturwissenschaftliche lebensweltliche Deutungsmuster bzw. Ideale und auch durch konzeptionelle Transfers aus anderen Wissenschaften beeinflusst, ja im context of discovery sogar geleitet, wobei (2) konkurrierende lebensweltliche Deutungsmuster bzw. Ideale zu konkurrierenden naturwissenschaftlichen Forschungsprogrammen und Theoriesystemen führen, die (3) nur sehr begrenzt falsifizierbar sind – es gibt nämlich keine theorieunabhängigen empirischen Daten, und außerdem lassen sich dieselben empirischen Daten durch konkurrierende Theorien erklären – und (4) bei Anomalien durch Zusatzhypothesen vor einer Falsifikation geschützt werden.61 Im Falle ökologischer Theorien über Biozönosen und interspezifische Konkurrenz sind die maßgeblichen kulturellen Deutungsmuster konkurrierende Auffassungen über menschliche Vergesellschaftung und Modi der Sozialintegration.62 Für die Ökologie gilt in besonderem Maße, was vielfach allgemein konstatiert worden ist: »[I]n the idea of nature is […] the idea of man in society, indeed the ideas of kinds of societies«63. Inwiefern das für ökologische Theorien über interspezifische Konkurrenz gilt, möchte ich im Folgenden für einige der vorgestellten Positionen zumindest andeuten. Zunächst ist festzuhalten: Die ›Entdeckung‹ von Konkurrenz als natürliches Prinzip und ökologischer Faktor steht offenbar im Zusammenhang mit Veränderungen im Selbstverständnis des Menschen sowie mit Veränderungen der gesell-
61 Siehe hierzu Kirchhoff 2007: 27–57; 2011: 93–96; 2014: Abschnitt 4 und die in diesen Publikationen genannte Literatur (Cassirer, Eisel, Fleck, Foucault, Groh, Hesse, Köchy, Kuhn, Lakatos, Laudan, Poser, Rheinberger). Vgl. Veith 2001: 80 f., 90 f. 62 Siehe hierzu Botkin 1990; Maasen et al. 1995 und insb. Trepl 1994; Eisel 2004; 2005; Kirchhoff 2007; Trepl/Kirchhoff 2013. 63 Williams 1997: 71.
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schaftlichen und ökonomischen Verhältnisse. Dabei waren von besonderer Bedeutung die Entstehung aufklärerischer politischer Philosophien, insbesondere liberalistischer, und die Etablierung einer marktwirtschaftlich organisierten bürgerlichen Gesellschaft mit neuartigen Formen der Sozialintegration bzw. die Ablösung von Ständegemeinschaften durch Industriegesellschaften, in denen eine durch Wettbewerb forcierte Arbeitsteilung und Spezialisierung zu individualisierender Vergesellschaftung führt.64 »In the second half of the eighteenth century a few naturalists gradually began to recognize competition as a significant factor in nature. This recognition did not develop, apparently, because of any particular biological discovery. Instead, it may have arisen because of an increasing awareness of competition among men and nations.«65 Candolle hat seine Konkurrenztheorie der Verbreitung der Arten vor dem Hintergrund der Bevölkerungstheorie des britischen Nationalökonomen Thomas Robert Malthus entwickelt, den er, nach eigenem Bekunden, 1816 in England getroffen hatte.66 Gemäß Malthus’67 Bevölkerungstheorie wächst die menschliche Bevölkerung geometrisch, das Nahrungsmittelangebot aber nur arithmetisch, sodass es zu Konkurrenz innerhalb menschlicher Gesellschaften komme und – damit wandte Malthus sich gegen den aufklärerischen Fortschrittsoptimismus etwa von Condorcet und William Godwin – die unteren Klassen einer Gesellschaft allezeit zu Mangel und Elend verurteilt seien. Malthus’ Theorie wiederum steht in der Tradition von Thomas Hobbes’ Menschenbild.68 Danach werden die Menschen durch individuelle egoistische Leidenschaften geleitet; und weil nicht genügend Objekte dieser Leidenschaften verfügbar sind, werden menschliche Gesellschaften natürlicherweise durch Kampf, Ausbeutung, Instabilität und Chaos bzw. – in befriedeter Form – durch »Konkurrenz um Bedürfnisbefriedigungsmöglichkeiten«69 geprägt. Diese Konzeption menschlicher Individualität und Vergesellschaftung bzw. die darauf aufbauende Theorie des ökonomischen Liberalismus der klassischen Nationalökonomie (A. Smith, T. Malthus, D. Ricardo) hat in Darwins Evolutionstheorie ihren Ausdruck als Naturtheorie gefunden – so die verbreitete Interpretation, die sich schon bei Karl Marx findet: »Es ist merkwürdig, wie Darwin unter Bestien und Pflanzen seine englische Gesellschaft mit ihrer Teilung der
64 Siehe Sonntag 1999: insb. Kapitel 4; Veith 2001: insb. 11–15, 48, 51, 65, 69, 99, 118. 65 Egerton 1971: 44; vgl. Trepl 1994. 66 Egerton 1973: 338 f. 67 Malthus 1798. 68 Spengler 1942: insb. Kapitel VIII; Marten 1983: 61–68; Clements et al. 1929: 3. 69 Eisel 2004: 33.
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Arbeit, Konkurrenz, Aufschluß neuer Märkte, ›Erfindungen‹ und Malthusschem 70 ›Kampf ums Dasein‹ wiedererkennt.« Während Darwin in seinen früheren Schriften noch wie Humboldt Harmonie als Prinzip der Natur ansah, änderte er im Oktober 1838 nach der Lektüre von Malthus’ Schriften seine Ansicht.71 Er konzediert in der Einleitung zu seinem Origin ganz offen: »This is the doctrine of Malthus, applied to the whole animal and vegetable kingdoms.«72 Die klassische nischentheoretische Konkurrenztheorie stellt biologiegeschichtlich eine Ausweitung der Darwinschen Theorie dar: von einer Theorie vor allem intraspezifischer Konkurrenz zu einer Theorie sowohl intra- als auch interspezifischer Konkurrenz. Sie zeigt auffällige Parallelen zu den ökonomischen Theorien der Neoklassik, die auf den Theorien der klassischen Nationalökonomie aufbauen: Die Neoklassik geht von einem freien Markt aus, durch den die Ressourcenallokation optimiert, ein Gleichgewicht von Angebot und Nachfrage erreicht und das Wachstum der Wohlfahrt maximiert wird, weil die Marktakteure, um ihre egoistischen Eigeninteressen optimal verfolgen zu können, bei freier Konkurrenz ihre Ressourcen mit maximaler Effizienz nutzen müssen, um Produkte von maximaler Qualität anzubieten, wozu Effizienzgewinne bzw. Konkurrenzvorteile durch Differenzierung, Spezialisierung und Arbeitsteilung genutzt werden müssen. Entsprechend wird in der nischentheoretischen Konkurrenztheorie angenommen, dass die Entwicklung von Biozönosen durch konkurrenzinduzierte koevolutionäre Diversifizierung bzw. Spezialisierung gekennzeichnet ist und zu einem Gleichgewichtszustand führt, in dem die vorhanden Ressourcen von einer maximal möglichen Anzahl von Arten mit maximaler Effizienz genutzt werden. Der angenommene ökologische End- und Gleichgewichtszustand entspricht einem marktwirtschaftlichen Pareto-Optimum,73 also einem angenommenen allgemeinen Gleichgewichtszustand, in dem die Wohlfahrt einer Gesellschaft relativ zu den verfügbaren Ressourcen ein derartiges Maximum erreicht hat, dass es unmöglich ist, die Wohlfahrt eines Individuums zu steigern ohne die eines anderen zu mindern. Das extreme Gegenmodell zur nischentheoretischen Konkurrenztheorie ist der ökologische Organizismus (wie ihn z.B. Thienemann vertreten hat), dem zufolge das grundlegende Organisationsprinzip von Biozönosen nicht Konkurrenz, sondern Kooperation bzw., genauer, wechselseitige Abhängigkeit ist. Diese ökologische Theorie
70 Marx 1862/1974: 249; vgl. Engels 1873–1882/1990: 565; vgl. auch z.B. Hardin 1960: 1295; Ghiselin 1969; Egerton 1973: 338 f.; Schweber 1977; 1980. 71 Egerton 1973: 338 f. 72 Darwin 1859: 5. 73 Pareto 1909: Kapitel III.
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weist eine strukturelle Analogie und auch eine ideengeschichtliche Verbindung zu der Annahme auf, menschliche Gesellschaften seien organische Gemeinschaften,74 was zum Beispiel Herder vertreten hat (auf den sich Thienemann bezieht).75 Die vorgestellte ökologisch-evolutionsbiologische Hypothese, dass die Diversität koexistierender Arten nicht auf konkurrenzinduzierter holistischer Koevolution basiert, sondern auf einer Pluralität voneinander unabhängiger evolutionärer Geschichten, könnte auf eine soziologische Kritik an der Hypothese verweisen, Individuierung geschehe – man denke an Elias’ Diktum, dass es »keine Ich-Identität ohne Wir-Identität«76 – qua Vergesellschaftung. Sie könnte auch auf einen soziologischen Individualismus verweisen, der von der klassischen (system-)funktionalistischen Differenzierungstheorie abrückt, dass gesellschaftliche Differenzierung durch Effizienz-/Effektivitätsgewinne erklärbar ist, und der stattdessen das einzelne Individuum als Subjekt jeglichen Handelns in den Vordergrund stellt.77 Die vorgestellten neutralistischen Theorien in der Ökologie gehen wie die nischentheoretische Konkurrenztheorie von starker interspezifischer Konkurrenz und holistischer Koevolution aus. Sie bestimmen als deren Ergebnis aber nicht Nischendivergenz, sondern Nischenkonvergenz, nicht funktionale ›Vereinzelung‹ der Arten, sondern die Ausbildung von Gruppen funktional äquivalenter Arten; Biozönosen bestehen deshalb nicht aus lokal- oder regionalspezifischen Artenkombinationen, sondern aus überregional verbreiteten Arten, die nach stochastischen Prinzipen fluktuieren. In solchen neutralistischen ökologischen Theorien kann man eine Reflexion von Realitäten und Theorien einer globalisierten Wirtschaft sehen, in der globale Ströme von Waren, Technologien, Menschen (als flexible Arbeitnehmer), Informationen usw. »criss-cross national borders, disrupting the organised coherence of individual national societies«78 und in der insbesondere technische Produkte weltweit bestimmte normative Standards und Leistungsanforderungen erfüllen müssen, um konkurrenzfähig zu sein, was – in Verbindung mit der globalen Diffusionen vom Technologien – zu einer Vereinheitlichung oder Konvergenz der technischen Grundmerkmale von Produkten, zu einer ›diffusion of best practice‹ führt,79 sodass »Unter-
74 Siehe zu diesen Auffassungen z.B. Tönnies 1887; Vanberg 1975. 75 Zu Herders Theorie der Volksgemeinschaft siehe Spencer 1996; Kirchhoff 2005; zu den strukturellen Parallelen und ideengeschichtlichen Verbindungen siehe Kirchhoff 2007: 487–497; Kirchhoff 2011: 90–93. 76 Elias 1991: 247. 77 Siehe hierzu Schimank 1985; Schwinn 2001: insb. 11–27, 415–423, 443–446. 78 Macnaghten/Urry 1998: 31; vgl. Veith 2001: 70. 79 Zu dieser These und ihrer kritischen Diskussion siehe Berger/Dore 1996.
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nehmen dazu neigen werden, gleiche oder ähnliche Technologien und Ressourcen zu verwenden (best practice), also ihr Kapital und ihren Input zu homogenisieren«80. Diese wissenschaftstheoretischen Hinweise und beispielhaften Andeutungen zu strukturellen Parallelen zwischen verschiedenen ökologischen Theorien über interspezifische Konkurrenz einerseits und verschiedenen Theorien und Idealen menschlicher Individualität und Vergesellschaftung andererseits zeigen: Man muss – entgegen wissenschaftstheoretischen Positionen eines naiven Objektivismus – davon ausgehen, dass Theorien über Konkurrenz in der Naturwissenschaft Ökologie immer auch Projektionen kultureller Deutungsmuster und Ideale in die Natur darstellen. Die Existenz konkurrierender ökologischer Theorien über das Vorkommen und die Wirkungen von interspezifischer Konkurrenz verdankt sich – zumindest in der Regel – nicht dem Umstand, dass sie auf der Analyse unterschiedlich beschaffener Naturausschnitte basieren und die jeweils richtigen Ergebnisse unzulässig verallgemeinert werden; vielmehr sind die unterschiedlichen ökologischen Konkurrenztheorien offenbar durch unterschiedliche kulturelle Deutungsmuster und Ideale motiviert. Wenn man die Uneindeutigkeit der Theorielage in der Ökologie bezüglich Konkurrenz ignoriert und Konkurrenz auf eine bestimmte, eindeutige Weise als ein natürliches Prinzip identifiziert, so bringt man damit eine bestimmte kulturelle Präferenz zum Ausdruck. Wenn man sich auf dieses angeblich natürliche, angeblich eindeutige Konkurrenzprinzip bezieht, um eine bestimmte Form von Vergesellschaftung zu rechtfertigen (etwa den Neoliberalismus als naturanaloge Wirtschaftsweise), dann begeht man nicht nur einen naturalistischen Fehlschluss, sondern man verstrickt sich auch in einen unkritischen Naturalismus, der zirkulär ein zunächst in die Natur projiziertes gesellschaftliches Ideal als angeblich kulturunabhängige ökologische Theorie wieder aus der Natur herausliest. Bedenkenswert ist noch immer, was bereits Friedrich Engels konstatiert hat: »Die ganze Darwinsche Lehre vom Kampf ums Dasein ist einfach die Übertragung der Hobbesschen Lehre vom bellum omnium contra omnes und der bürgerlichen ökonomischen von der Konkurrenz, sowie der Malthusschen Bevölkerungstheorie aus der Gesellschaft in die belebte Natur. Nachdem man dies Kunststück fertiggebracht […], ist es sehr leicht, diese Lehren aus der Naturgeschichte wieder in die Geschichte der Gesellschaft zurückzuübertragen, und […] zu behaupten, man habe damit diese Behauptungen als ewige Naturgesetze der Gesellschaft nachgewiesen.«81
80 Seidl 2001: 190. 81 Engels 1873–1882/1990: 565.
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Konkurrenz als Beharrungsprinzip Soziologische Theorie im Anschluss an Lewis Carroll T ILMAN R EITZ
Wir leben in einer Konkurrenzgesellschaft. Auf Güter- und Arbeitsmärkten, in Schulen und Hochschulen, in medialen Kämpfen um Aufmerksamkeit, in der Liebe und im Sport: ständig kommt es darauf an, andere hinter sich zu lassen. Im Einzelnen ist dieses Geschehen unübersichtlich; ungleiche Chancen und sogar ein Trend zu Monopolen könnten nicht nur auf kapitalistischen Märkten die Regel sein. Die Soziologie hätte daher einige Anlässe, Grundbegriffe wie Komplexität und Kontingenz durch den der Konkurrenz zumindest zu ergänzen – und sie könnte, wenn sie angrenzende Begriffe wie Konflikt und Klasse hinzunähme, eine umfassende Theorie der Moderne gewinnen. Stattdessen führt der Konkurrenzbegriff ein Schattendasein in der soziologischen Theoriediskussion; seit Beiträgen aus der Frühzeit der Disziplin und der Konkurrenzgesellschaft ist er kaum mehr systematisch geklärt und genutzt worden.1 So sind entscheidende Fragen offen geblieben. Zwei davon soll der vorliegende Aufsatz behandeln. Prägt Konkurrenz auch dort unser Zusammenleben, wo der kapitalistische Markt (noch) nicht hinreicht? Und sorgt sie vorwiegend für gesellschaftliche Dynamik, oder bringt sie im Gegenteil Ordnung und Beharrung hervor? Die erste Frage wird sich als unerwartet schwierig erweisen, weil wir gewohnt sind, Konkurrenz vom Markt her und in Bezug auf Gelderwerb zu begreifen – hier könnte sogar der sachliche Grund für die Schwäche der Soziologie liegen,
1
Erst in jüngerer Zeit (man könnte fast sagen: seit der Krise von 2008) vermehren sich wieder die soziologischen Beiträge zum Thema, vgl. Duret 2009; Werron 2011; Wetzel 2013.
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die das Feld lieber gleich der Ökonomie überlässt. Unmittelbaren Denkanlass geben aber vor allem die Einsichten beider Fächer, die sich zur zweiten Frage verbinden lassen. Konkurrenz wird nicht selten für das Prinzip der Moderne verantwortlich gemacht, dass sich Verhältnisse, Positionen, technische und soziale Probleme und Lösungen ständig verändern bzw. fortentwickeln. Wenn nahezu jede Person und Organisation fast überall mit anderen in Wettbewerb steht, scheint dauernder Wandel vorprogrammiert. Zugleich erwarten Sozialwissenschaftler und -philosophen von Konkurrenz aber auch Ordnung – von Adam Smith bis zur neoklassischen, auf Marktgleichgewicht oder Informationsverarbeitung orientierten Ökonomie.2 Man kann sogar annehmen, dass Konkurrenz bestimmte Über- und Unterordnungen, zumal die ungleiche Verfügung über Güter und Weisungsmacht reproduziert und legitimiert. Wie sich diese konträren Tendenzen zueinander verhalten, wird selten gefragt, schon gar nicht gesellschaftstheoretisch. Antworten findet man eher in der Literatur. Annäherungsweise ist hier die Erkenntnis des geschwächten Adels in Il Gattopardo einschlägig, dass sich alles ändern muss, damit »alles bleibt, wie es ist«.3 Ich komme darauf zurück. Ein besonders präzises literarisches Bild dynamisch-statischer Konkurrenzverhältnisse findet sich jedoch in einem weniger realistischen Kontext, einer Stelle aus Lewis Carrolls Through the Looking-Glass. Nachdem Alice und die Rote Königin länger gerannt und doch nicht vorangekommen sind, erklärt die letztere auf Nachfrage die Bewegungsgesetze ihres Landes: »Now, here, you see, it takes all the running you can do, to keep in the same place. If you want to get somewhere else, you must run at least twice as fast as that!«4 Ein solcher Effekt kommt unter anderem zustande, wenn alle um gleiche Güter konkurrieren. Im Folgenden will ich überlegen, ob dieser Zustand in der Moderne bzw. gegenwärtig in den meisten wichtigen Lebensbereichen erreicht ist – und was es heißt, den Effekt mit dem Bild Carrolls zu begreifen.
2
Bei Smith ist hier unter anderem an die berühmten Formulierungen zur invisible hand des Marktes zu denken, die individuelle Eigeninteressen fürs Gemeinwohl einsetzt, mit dem Vorlauf einer Diskussion, die gewalttätige Konflikte in harmlose Interessenkonkurrenz zu überführen vorschlägt (vgl. Hirschman 1977: besonders 57–76). Den neoklassischen Anschluss daran markiert etwa George Stigler (1976), eine informationstheoretische Variante hat Friedrich August von Hayek entwickelt – der dabei in der Tradition Euckens »die Ordnung, die der Wettbewerb herbeiführt« (Hayek 1968: 10), besonders hervorhebt.
3
Tomasi di Lampedusa 1958: 33.
4
Carroll 1871/1950: 37.
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Dazu werde ich die klassischen Texte Georg Simmels und Karl Mannheims zum Thema heranziehen, aber auch jüngere Soziologien auf ihre Konkurrenzfähigkeit prüfen. Zum einen werde ich fragen, ob ausgehend von Luhmanns und Parsons’ Theorie funktional differenzierter Teilsysteme Konkurrenz jenseits monetärer Märkte zu rekonstruieren ist; zum anderen gehe ich der Vermutung nach, dass Habermas’ kritisches Verständnis systemischer Vergesellschaftung und Bourdieus Kategorien nichtökonomischen Kapitals sich selbst undurchsichtige Theorien der Konkurrenz bilden. Meine beiden Grundfragen lassen sich so in Autorenbündeln behandeln: Mit Simmel kann man Konkurrenz generell als Form von Vergesellschaftung bestimmen, Mannheim, Luhmann und Habermas helfen, sie im Universum moderner sozialer Beziehungen (statt unmittelbar in der Wirtschaft) zu verorten, mit Bourdieu kann schließlich beleuchtet werden, wie sie fast unsichtbar soziale Unterordnung stabilisiert. Gleich zu Beginn sollte auch angemerkt werden, was dabei zu kurz kommt. Zum einen werde ich mich (anders als Wetzel 2013) nicht auf aktuelle ›Diskurse‹ des Wettbewerbs konzentrieren, sondern Konkurrenz als Grundstruktur moderner Vergesellschaftung verhandeln. Andererseits bearbeite ich nicht zentral Wirtschaftsfragen. Von Marx über Schumpeter bis zu heterodoxen Theorien der Gegenwart hat man in verschiedener Weise zu klären versucht, wie ökonomische Konkurrenz wirklich bzw. jenseits der Ideale reiner Angebots- und Nachfrageharmonie funktioniert: als antreibende und angleichende Kraft in Ausbeutungsbeziehungen, die im Kern durch das Eigentum an Produktionsmitteln bestimmt sind, als Durchsetzungskampf innovativer Unternehmer, die das Marktgleichgewicht periodisch zerstören, als ›unvollkommener‹, entscheidend durch Monopole und Monopsonien strukturierter Wettbewerb,5 als institutionelles, de facto von Konventionen geprägtes Handlungsfeld.6 Diese äußerst interessanten Ansätze werden hier nicht weiter ausgewertet,7 weil es eben um eine soziologische Öffnung des Konkurrenzbegriffs geht. Allein Marx wird gegen Ende noch kurz zu Wort kommen – und hoffentlich sicherzustellen helfen, dass meine Ausrichtung auf Soziologie nicht an den zentralen Dynamiken unserer Gesellschaft vorbei führt.
5
So namentlich Piero Sraffa (1926) und, mit sehr formalen Mitteln, Joan Robinson (1933). ›Monopsonien‹, Situationen mit nur einem Nachfrager, können sich besonders auf Arbeitsmärkten (tendenziell) einstellen.
6
So verschiedene Autoren, die man am Rand der ›new institutional economics‹ verorten kann – etwa Mark Granovetter, Neil Fligstein oder Laurent Thévenot.
7
Für einen gesellschaftstheoretisch interessierten Überblick vgl. Nullmeier 2000: 188– 207.
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1. D ER K AMPF UM
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Georg Simmel ist wohl der einzige soziologische Klassiker, der sich systematisch »Zur Soziologie der Konkurrenz« geäußert hat.8 Dabei führt er zwei wichtige Kriterien ein, die Konkurrenz von anderen Formen der Vergesellschaftung zu unterscheiden erlauben, und verbindet damit eine diskussionswürdige These: Konkurrenz ist eine Form von Konflikt, in der die Schädigung des Gegners weder das Ziel noch ein Hauptmittel ist (Kriterium 1), sie ist eine mehrstellige Relation, die umworbene Dritte einschließt (Kriterium 2), und sie ist (so die These) gesellschaftlich anerkannt, weil sie kraft dieser Struktur notwendig auf nützliche Ergebnisse zielt. Alle drei Punkte sollten näher ausgeführt werden, da sie nicht nur das Thema einer Konkurrenzsoziologie zu klären helfen, sondern auch auf wichtige Abgrenzungsprobleme führen. Dass der Konkurrenzkampf nicht unmittelbar Gegner aufeinander loslässt, sondern »ein indirekter ist«,9 verdeutlicht das Beispiel des Wettlaufs: Man bemüht sich, die anderen zu überholen, stellt aber im Regelfall niemandem ein Bein. Schon im Sport lassen sich daher mehr oder weniger konkurrenzförmige Wettkämpfe unterscheiden, etwa das Laufen vom Boxen; die Kompromissformel bei letzteren ist »Möge der Bessere gewinnen«. Auch in anderen Lebensgebieten lässt sich die Unterscheidung leicht anwenden: Wenn ein Staat Gebiete des anderen annektiert, findet ein Schädigungskampf statt, wenn er ihn rüstungstechnisch oder als Urlaubsziel überholt, herrscht Konkurrenz. Simmel gewinnt so sein erstes Bestimmungskriterium: »Wer den Gegner unmittelbar beschädigt oder aus dem Weg räumt, konkurriert insofern nicht mehr mit ihm.«10 Das Wirtschaftsrecht legt nahe, dass moderne Gesellschaften hier selbst einen Unterschied machen, dass sie den Typus des Laufs bevorzugen und dass sie dafür gute Gründe
8
Die Äußerungen von Durkheim, Weber und selbst Mannheim sind beiläufiger und wenig entwickelt. Durkheim (1893: 325–330) sieht Konkurrenz bloß darwinistisch als Daseinskampf im verdichteten Zusammenleben, Weber (1921–1922/1980: 20) definiert sie soziologischer als gewaltlosen »Kampf« um knappe Verfügungschancen, übersieht aber die Rolle derer, die solche »Chancen« gewähren (vgl. Werron 2011: 232); der Begriff der Verfügungschancen wird sich unten trotzdem als hilfreich erweisen. Mannheim schließlich will Konkurrenz zwar betont überökonomisch begreifen, gibt aber keine allgemeine Definition (siehe unten). Vgl. für weitere Literatur Wetzel 2013: 15 f.
9
Simmel 1903/1983: 174.
10 Ebd.
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haben. Es lässt nicht zu, Konkurrenten durch Dumpingpreise oder Absprachen aus dem Weg zu räumen, um dann allein oder als Produzentengruppe den Markt zu beherrschen – legitim sind nur eine faktisch günstigere Produktion (bzw. eine kleinere Profitspanne) oder Qualitäten, die Konsumentinnen und Konsumenten vorziehen. Das Ziel ist hier offenkundig, dauerhaft Konkurrenz zu gewährleisten, statt Monopole oder Oligopole zu tolerieren, und kaum weniger klar ist der übergeordnete Zweck, dass die Konkurrierenden einander fortlaufend zu guten und günstigen Leistungen zwingen. Zugleich wird in diesem Beispielfeld deutlich, dass sich auf der Wildbahn wirklicher Konkurrenz, jenseits geregelter Wettkampfspiele, nicht immer leicht sagen lässt, wo der (legitime) Wettbewerb aufhört und wo die (illegitime) direkte Schädigung anfängt: bei zeitweilig sehr geringen Profitspannen des größeren Anbieters, bei Werbeverträgen mit allen führenden Medien … ? Simmel erwähnt solche Grenzfälle selbst, stellt damit aber nicht sein Kriterium in Frage. Eher scheint er zu meinen, dass eine weitergehende Rekonstruktion durchgängig zu entscheiden erlaubt, ob Konkurrenz vorliegt. Dazu gehört zunächst, dass man sachlich erklären kann, weshalb es nicht auf Schädigung ankommt: Weder liegt der »Kampfpreis […] in der Hand eines Gegners«, noch ist »die Besiegung des Konkurrenten« für sich das Ziel11 – es nützt wenig, ihn beseitigt zu haben, wenn die eigenen Waren, Avancen oder Lehren trotzdem keinen Anklang finden. Damit ist zugleich angesprochen, was sich als Simmels zweites Kriterium verstehen lässt: dass »der Zielpunkt, um den innerhalb einer Gesellschaft die Konkurrenz von Parteien stattfindet, doch wohl durchgängig die Gunst […] dritter Personen ist«.12 Ob man dazu sinnvoll Einzelne zählen kann (Simmel nennt mehrmals die »Neigung« einer »Dame« als Beispiel) oder nur eine Menge von Adressaten in Betracht ziehen sollte (wie die der Zahlungsfähigen oder aller möglichen Partner), muss hier nicht geklärt werden; wichtiger und typischer ist sicher der zweite Fall. Für ihn bietet sich, wie Tobias Werron ausgeführt hat, der Begriff des ›Publikums‹ an, der von Käufern und Wählerinnen bis zu tatsächlich Zuschauenden verschiedenste Gruppen bezeichnen kann.13 Man unterstellt dann (mit guten, noch zu explizierenden Gründen) zusätzlich, dass die Menge dritter Personen eher offen und anonym als begrenzt und bekannt ist. Weitere Unterscheidungen könnten anschließen, etwa die, ob das Publikum homogen ist (alle Wahlberechtigten) oder Hierarchien aufweist (sodass
11 Ebd.: 174 f. 12 Ebd.: 176. 13 Vgl. Werron 2011: besonders 237–246.
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das Urteil der selbst Angesehenen und Attraktiven mehr zählt), ob es insgesamt den Erfolg bestimmt oder ob Schiedsrichter dazwischen treten, inwieweit Leistungen objektiviert werden können oder von (der Summe der) Einschätzungen abhängig bleiben, ob zentral um Anerkennung oder um klar bestimmte Vorteile konkurriert wird. Eine verbindende Unterscheidungslinie kommt in den Blick, wenn man zunächst festhält, in welchem Sinn Konkurrenz eine mehrstellige soziale Relation ist: Mindestens zwei Akteure versuchen einander zu überbieten, um von (vielen) Dritten ein limitiertes Gut zu erhalten. So viel Sozialität fordert nämlich die Frage heraus, was entscheidend ist: die sachliche Leistung oder ihr sozialer Erfolg? Gewöhnlich sind sicher beide beteiligt. Besonders schnelle und preiswerte Rechner haben hohe Marktchancen – aber die Verkaufszahlen können auch durch beliebtes Design, wirkungsvolle Werbung oder die schon erreichte Verbreitung steigen, und der subjektive Anteil der Kaufentscheidung fällt nie völlig fort. Selbst bei Sportarten, in denen man messbar höher, schneller und weiter sein muss, bestimmen Regeln, was als Leistung gilt, und Beliebtheit, ob sie sich lohnt. Demgegenüber sind Fälle, in denen nur sachliche Faktoren den Ausschlag geben, schwer denkbar, und rein sozial bestimmte nicht mehr eindeutig als Konkurrenz zu bezeichnen; man käme so entweder auf etwas wie Kämpfe ums Überleben oder auf bloße Beliebtheitsfragen. Dass zwischen diesen Extremen einiges möglich ist, berührt schließlich Simmels These zur Anerkanntheit von Konkurrenz. Er legt sie gleich in zwei Versionen vor.14 Prinzipiell sieht er (nicht viel anders als Adam Smith) den »ungeheure[n] Wert der Konkurrenz« darin, dass sie den Nutzen der Individuen und der Gesamtheit verklammert: »da sie, vom Standpunkt der Gruppe aus gesehen, subjektive Motive als Mittel darbietet, um objektive soziale Werte zu erzeugen und, vom Standpunkt der Partei, die Produktion des objektiv Wertvollen als Mittel benutzt, um subjektive Befriedigungen zu gewinnen.«15 Auch wenn sich die Konkurrierenden fremd werden und die Verlierer untergehen, bleibt nicht nur der Erfolg der Leistungsfähigen, sondern vor allem der Ertrag fürs Publikum. Zugleich sieht Simmel allerdings, dass ›objektive soziale Werte‹ keine stabile Sache sind. Wenn die Konkurrierenden nur versuchen, den »Umworbenen entgegen- und näherzukommen«, »geschieht dies oft um den Preis […] des sachlichen Wertes der Leistung«.16 Simmels Beispiele sind, zeittypisch, Gelehrte, Parteiführer, Künstler und Journalisten, die »zur Leitung der Masse bestimmt sind«, im Konkurrenzverhältnis
14 Vgl. zum Folgenden die sehr klare Rekonstruktion bei Werron (2011: 233–235). 15 Simmel 1903/1983: 176. 16 Ebd.
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aber deren »Instinkte und Launen« bedienen müssen.17 Doch das Problem lässt sich auch allgemeiner fassen. Wer erklärt, dass Konkurrenz anerkannt wird, weil sie dem Publikum Nutzen bringt, sollte sagen können, was die durch sie geschaffenen ›Werte‹ wertvoll macht. Simmel findet hier eine bemerkenswerte Lösung: Er hält nicht nur fest, dass eben zählt, was verbreitet als gut gilt, sondern stellt der sachlichen Leistung von Konkurrenz einfach eine soziale zur Seite: Selbst wenn »inhaltlich eine Umkehrung der Rangordnung und der sozialen Lebenswerte« erfolgt, vermindert das »nicht die formale Bedeutung der Konkurrenz für die Synthesis der Gesellschaft. […] Die moderne Konkurrenz, die man als Kampf aller gegen alle kennzeichnet, ist doch zugleich der Kampf aller um alle.«18 So wird denkbar, dass sie das soziale Band nicht auflöst, sondern eher neu knüpft. Zieht man beide Erklärungen Simmels für die Durchsetzung des Prinzips Konkurrenz in Betracht, ergibt sich ein interessantes Spannungsfeld. Nichts garantiert ja, dass sie ihre sachliche und ihre soziale Funktion immer gleichermaßen erfüllt. Diese Spannung wird nur akuter, wenn man davon ausgeht, dass es rein objektive Werte sowieso nicht gibt. Auch dann können Leistungen, die sich in einem aus bestimmten Gründen relevanten Bewertungsschema feststellen lassen, in den vorherrschenden Konkurrenzverhältnissen keine Rolle spielen. Je nachdem, auf welchen Teil des Verhältnisses man schaut, sind so verschiedene Divergenzen annehmbar: • Besonders hierarchie- oder meinungsabhängige Konkurrenzformen (z.B. der
Wettbewerb um Privilegien oder um eine libertäre Wählerschaft) können die Steigerung objektivierbarer Leistungen (z.B. in der Arbeitsproduktivität oder in der Gesundheitsversorgung) verhindern. • Steigerungen im objektivierbaren und quantifizierbaren Bereich können Formen von Anerkennungskonkurrenz angreifen, die vorher für sozialen Zusammenhalt gesorgt hatten (etwa in Max Webers Szenario, dass nur noch Bürokratien und Geld den Wettbewerb um Regierungsmacht prägen). • Teile des Publikums können dominante Konkurrenzformen (z.B. ökonomische in der Kulturindustrie) als Zerstörung von anderen (z.B. ästhetischen) Standards ablehnen. • Die Wohltaten wichtiger Typen von Konkurrenz (etwa um Bildungsabschlüsse) könnten nur bestimmten Gruppen, vielleicht nur Minderheiten wirklich zugute kommen.
17 Ebd.: 176 f. 18 Ebd.: 177.
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Bezieht man diese Punkte (zumal den letzten) auch auf die in Konkurrenz Involvierten (Textilarbeiter, die besonders günstig Kleidung herstellen …), ist der Gesamteffekt noch einmal ambivalenter und schwerer einzuschätzen. Um zumindest die Möglichkeiten zu ordnen, wäre zu prüfen, ob die Instanzen, die für Simmel harmonisch zusammenwirken, überhaupt in einem eindeutig fassbaren Zusammenhang stehen. Wie verhalten sich die Mechanismen der Konkurrenz zur Ermittlung des ›sozial Wertvollen‹, zur Vermehrung und zur Verteilung begehrter Güter? Einige soziologische Theorien bieten hier Ansätze für Antworten. Um sie zu prüfen, muss allerdings geklärt werden, inwiefern Konkurrenz moderne Gesellschaften tatsächlich prägt.
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ÖKONOMISCHEN UND AUSSERÖKONOMISCHEN S INN
Man kann diese Frage auf drei Weisen genauer stellen: Ist Konkurrenz (im mit Simmel entfalteten Sinn) erst in der Moderne zum gesellschaftlich dominanten Prinzip geworden? Wenn ja, lässt sich das auf Eigenheiten moderner Konkurrenzverhältnisse zurückführen? Und sind diese Eigenheiten besonders in der kapitalistischen Konkurrenz ausgeprägt, sodass sie womöglich stilbildend wirkt, die anderen Wettbewerbe verändert oder sie sogar konkurrenzlos beherrscht? Was von den Antworten abhängt, lässt sich an einem Dokument aus der Zeit festmachen, als sich der Übergang zur kapitalistischen Moderne erst anbahnte. In seinen Reflexionen zu Umgangsformen äußert Pascal die Sorge, dass ein Lebensbereich ›tyrannisch‹ Macht über alle anderen beansprucht: »Tyrannei ist, etwas auf einem Wege haben zu wollen, was man nur auf einem anderen haben kann. Man teilt verschiedenen Verdiensten verschiedene Pflichten zu, die Pflicht zur Liebe der angenehmen Art (agrément), die Pflicht zur Furcht der Gewalt, die Pflicht zum Vertrauen (créance) der Wissenschaft. Man muss diese Pflichten erfüllen, man ist ungerecht, wenn man sie verweigert, und ungerecht, wenn man nach anderen verlangt. Daher sind diese Reden (discours) falsch und tyrannisch: Ich bin schön, also muss man mich fürchten, ich bin stark, also muss man mich lieben, ich bin … Und ebenso ist es falsch und tyrannisch zu sagen: Er ist nicht stark, also werde ich ihn nicht achten, er ist nicht klug, also werde ich ihn nicht fürchten.«19
19 Pascal 1670/1997: 58 (= edition Lafuma: n° 58a, edition Brunschvicg, n° 332). Die Übersetzung von Ulrich Kunzmann wurde korrigiert.
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Die meisten dieser Ansprüche kann man leicht in Konkurrenzverhältnisse mit Publikum übersetzen; man muss die ›Verdienste‹, denen es Glauben, Furcht oder Liebe ›schuldet‹, bloß eher als Leistungen (wie Forschung und Umgangston) denn als Qualitäten (wie Stärke und Schönheit) begreifen. So erhält man ein frühes Schema einer arbeitsteilig gegliederten oder ›funktional differenzierten‹ Gesellschaft: Politische Macht fordert Gehorsam, Wissenschaft Überzeugung usw. Doch schon vor Pascal war bekannt, dass diese Differenzierung bedroht ist, weil zumal ökonomischer Erfolg die abgelehnte tyrannische Macht ausüben kann – Geld verspricht ja tatsächlich, so gut wie alles auf eine Weise haben zu können. Marx hat in einer seiner ersten Kapitalismuskritiken solche Äußerungen gebündelt; sein Resümee lautet: »Das Geld ist der allgemeine […] Wert aller Dinge. Es hat daher die ganze Welt, die Menschenwelt wie die Natur, ihres eigentümlichen Wertes beraubt. Das Geld ist das dem Menschen entfremdete Wesen seiner Arbeit und seines Daseins, und dies fremde Wesen beherrscht ihn, er betet es an.«20 Die Anklagen und Befürchtungen reißen seither nicht ab; noch Michael Walzer versucht, auf Pascals Reflexion eine politische Philosophie gegen Markt- wie Staatsfixierungen zu begründen.21 Funktional steht damit in Frage, weshalb man der marktwirtschaftlichen Konkurrenz zutrauen kann, dass sie alle anderen dominiert, sozialstrukturell sind die Positionen zu untersuchen, die Individuen kraft ihres Wissens, ihrer Kultiviertheit, ihrer Befehlsgewalt oder ihres Reichtums einnehmen. Die Pointe wird im Schnittpunkt beider Herangehensweisen liegen. Marktkonkurrenz kann sich nicht nur in fast alle sozialen Zusammenhänge ausbreiten, sondern ist auch wesentlich dafür verantwortlich, dass Individuen eine gute oder schlechte soziale Gesamtposition erreichen. Beides gilt es nun genauer nachzuvollziehen. Vormoderne bzw. vorkapitalistische Gesellschaften haben sich, soweit Textzeugnisse und Übersetzungen verlässlich sind, nicht als Konkurrenzgesellschaft begriffen (genau gesagt ja überhaupt nicht als Gesellschaft, sondern eher als Gemeinwesen). Man kann aber rückblickend Typen von Konkurrenz rekonstruieren, die in ihnen wichtig waren, etwa um kriegerische Leistung, um familiäre Macht- und Prachtentfaltung, um religiösen Anhang. Und man kann sogar kulturelle Situationen erkennen, in denen Wettbewerbe zentral waren. Für Jacob
20 Marx 1844/1972: 375. Die religiöse Diktion erklärt sich aus dem Kontext, einer heiklen (weil selbst antijüdische Klischees nutzenden) Dechiffrierung von Bruno Bauers Judenfeindschaft als Unbehagen in der bürgerlich-egoistischen Gesellschaft. 21 Vgl. Walzer 1983.
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Burckhardt hatte »Griechenland im 7. und 6. vorchristlichen Jahrhundert« einen »kulturellen Primat des Wettkampfes in allen gesellschaftlichen Sphären« etabliert – »in der Kunst, […] im Krieg, in der Politik, im Gerichtswesen und im Wirtschaftsleben«;22 für Norbert Elias bestimmte in der höfischen Gesellschaft des Absolutismus eine verschärfte »Rang-, Status- und Prestigekonkurrenz«23 den Horizont sozialen Handelns und Beobachtens. Bereits diese beiden Beispiele legen aber auch nahe, was vormoderne Konkurrenzverhältnisse von modernen unterscheidet: In ihnen ist Konkurrenz grundsätzlich in eine anerkannte Sinnordnung (oder in Kämpfe darum) eingebettet. Man will zu den umfassend Besten gehören, in deren Händen das Wohl der Gemeinschaft liegt,24 man versucht in der herrschaftlich verfügten Statusordnung ganz nach oben zu kommen oder strebt möglichst viele dafür zu gewinnen, dass sie Gott auf die beste Weise dienen. Pascals antityrannische (und wohl auch antiabsolutistische) Reflexion hat demgegenüber fast anarchisches Potenzial; sie greift jede hierarchische Gliederung der Konkurrenzbereiche an und lässt offen, ob zwischen ihnen überhaupt eine feste Beziehung besteht. Spezifisch moderne Konkurrenz könnte in eben diesem Sinn funktional differenziert oder freigesetzt sein. Tatsächlich vermuten viele Texte zum Thema, dass in verschiedenen Bereichen des Zusammenlebens je eigene Konkurrenztypen vorherrschen. Sie binden dies allerdings fast automatisch an die Frage, ob der wirtschaftlichen Konkurrenz andernorts Ähnliches entspricht. Frank Nullmeier und Tanja Pritzlaff halten derart fest, »nach dem Urbild des gemeinwohlfördernden Wettbewerbsmechanismus« bei Adam Smith seien »auch andere Bereiche sozialer und politischer Auseinandersetzung sowie kultureller Produktion gedacht worden, so die wissenschaftliche Argumentation, die politische Öffentlichkeit, die […] künstlerische Innovation«, räumen aber gleich weitere Erwartungen aus: »Die Geschichte dieser jenseits der Ökonomie angesiedelten Wettbewerbsfiguren und -ideale ist noch nicht geschrieben.«25 Tobias Werron stellt sogar eine »vergleichende Analyse […] von Konkurrenz in unterschiedlichen Funktionssystemen« in Aussicht (namentlich »in Wirtschaft, Politik, Wissenschaft, Religion, Kunst, Sport etc.«), benennt dann aber nur »offene Forschungsfragen« (namentlich die, ob sich jeweils »ein Trend eher zur Zunahme oder zur Abnahme von Konkurrenzsituationen
22 Nullmeier/Pritzlaff 2002: 189. In welchem Maß Burckhardts These eine nachträgliche Unterstellung ist, muss hier nicht geklärt werden. 23 Elias 1983: 108. 24 Vgl. Nullmeier/Pritzlaff 2002: 191. 25 Ebd.: 187.
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beobachten lässt«).26 Dagegen mutet Karl Mannheims klassischer Beitrag fast übertrieben konkret an. Er setzt die Annahme, dass »die Konkurrenz nicht nur als Phänomen der ökonomischen Sphäre untersucht werden, sondern als Phänomen des gesamten gesellschaftlichen Lebens betrachtet werden muss«, 27 in eine Studie zum Widerstreit politisch-theoretischer Erkenntnisansprüche um. Das Ergebnis ist originell: Mannheim sieht einen historischen Strukturwandel der Weltauffassungen, vom tradierten Konsens (etwa in Volksweisheiten) übers Monopol (der christlichen Kirche) und eine »atomisierte Konkurrenz« (zur Zeit der Aufklärung) bis zu neuen Konzentrationsprozessen (in den politischen Bewegungen ab dem 19. Jahrhundert). Fraglich ist nur, ob er damit das wirtschaftsfixierte Paradigma auflösen kann. Während er einerseits ein »theoretisches Gegeneinander« um die »öffentliche Auslegung des Seins« annimmt,28 das eher ein direkter als ein indirekter Kampf zu sein scheint, bemüht er für eindeutige Konkurrenz dann doch »analoge Prozesse im Gebiete des Ökonomischen«29 – namentlich den Fortgang vom liberalen Wettbewerb zur Konzentration. Das Ziel, »das spezifisch Ökonomische in der Kategorialapparatur abzustreifen, um das sui generis Soziale erfassen zu können«,30 ist so nicht zu erreichen. Es fehlen allgemeine Begriffe jenseits des ›Geistigen‹ und des ›Ökonomischen‹. In der neueren deutschen Soziologie herrscht an solchen Begriffen grundsätzlich kein Mangel. Besonders Niklas Luhmann hat verschiedenste Kategorien vorgeschlagen, mit denen sich die vielgestaltigen, lose und unüberschaubar vernetzten Handlungslogiken moderner Gesellschaften systematisch vergleichen lassen. Dazu zählt wesentlich der von Werron genutzte Begriff der ›Funktionssysteme‹, die sich – um es mit alltagstauglichen Worten Luhmanns zu sagen – auf bestimmte Leistungen spezialisieren.31 Sie verarbeiten jeweils Probleme, die anderweitig nicht oder nur schlecht zu bewältigen sind, sei es der Umgang mit knappen Gütern oder die laufend aktualisierte Vergewisserung über die gemein-
26 Werron 2011: 256 f. 27 Mannheim 1929: 38. 28 Ebd.: 43, 45. 29 Ebd.: 57. 30 Ebd.: 43. 31 So die Formulierungen in Luhmanns Beitrag Funktion zum Historischen Wörterbuch der Philosophie (1972) und seinem Buch Politische Theorie im Wohlfahrtsstaat (1981). Terminologisch unterscheidet er allgemeine, unverwechselbare Funktionen eines Systems (wie das staatliche Gewaltmonopol) und dessen Leistungen für bestimmte andere Bereiche (z.B. staatliche Wissenschaftsförderung).
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same Wirklichkeit. Man kann dabei an die Leistungen denken, die Konkurrenz mutmaßlich freisetzt: In der Wirtschaft bemüht man sich, profitabel verkäufliche Güter herzustellen, in der Politik konkurriert man darum, für verbindliche Entscheidungen beauftragt zu werden, in den Massenmedien um Aufmerksamkeit für die wichtigsten Neuigkeiten, in der Wissenschaft um gültige Einsichten und in der Kunst um innovative, gefallende Formgebung. Luhmann hilft einem nicht direkt, diese Assoziation genauer zu fassen; Konkurrenz und Wettbewerb gehören (aus noch zu nennenden Gründen) nicht zu seinen Vergleichsbegriffen. Doch das Schema verselbstständigter Funktionssysteme erlaubt erste allgemeine Thesen dazu, was Konkurrenz in der Moderne explosiv macht: Sie geben Raum für Sonderentwicklungen (und spezifische Wettbewerbe), die dennoch das Ganze betreffen. Ein Begriff, den Luhmann von Talcott Parsons übernimmt und den konkurrierend Habermas ausgebaut hat, lässt sich sogar dafür nutzen, diesen Prozess in der Tat vergleichend zu analysieren: Dass man um die Gunst des Publikums konkurriert und dabei doch nicht intentional allen dient, ermöglichen ›symbolisch generalisierte Interaktionsmedien‹ (oder ›Kommunikationsmedien‹).32 Man konkurriert nicht einfach um Kunden, die Zustimmung des Volks und der anderen Wissenschaftlerinnen, sondern um Geld, um Wählerstimmen und Weisungsmacht, um positiv referierte, gut platzierte und häufig zitierte Publikationen. Um die Rolle dieser Medien zu begreifen, ist zunächst die einfachste Vorleistung für einen Vergleich hilfreich, ein Überblick über das zu Vergleichende. Die meistens mit ›usw.‹ abgeschlossene Liste der sozialen Bereiche, die als ›Funktionssysteme‹ in Frage kommen, liest sich einigermaßen vollständig so: Politik, Wirtschaft, Recht, Wissenschaft, Kunst, Massenmedien, Erziehung, Gesundheit, Religion, vielleicht auch Sport und etwas im Bereich Liebe/Familie/ Intimbeziehungen.33 Ob es Kriterien gibt, die klar erkennen lassen, was dazu gehört und (vor allem) ob hier sinnvoll vergleichbare Zusammenhänge vorliegen, soll vorerst nicht diskutiert werden. Mir genügt die Eingangsevidenz, dass die Stichworte offenkundig spezialisierte Handlungsbereiche bezeichnen, in denen jeweils auch Konkurrenz herrscht. Allerdings ist sie unterschiedlich relevant. In Recht, Religion und Gesundheitssystem spielen Konkurrenzmechanismen wohl nicht
32 Auf diesen Begriff nimmt Werron, der Konkurrenz an Luhmann anschließend »mediensoziologisch« beleuchten will (2011: 252 und öfter), seltsamerweise keinen Bezug. Sein Medienbegriff bleibt auf klassische Informations- und Verbreitungsmedien von der »Telegraphie« bis zum »Internet« (ebd.: 253) begrenzt. 33 Vgl. die (von Stichweh, Schimank, Baecker und anderen ausgehende) Zusammenstellung bei Roth 2014.
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die Hauptrolle. Sicher gibt es erfolgreiche Ärztinnen, Kanzleien und Priester, doch die Felder sind nicht insgesamt dadurch strukturiert, wer die meisten Heilungen vorweist, Prozesse gewinnt und Gläubigen versammelt. Solche Erfolge schlagen sich eher in Stellungen, Honoraren und Reputation nieder als in rechtlichen, medizinischen und religiösen Ordnungen, da auch andere Beteiligte (Richterinnen, Gesetzgeber, Kommentatoren), institutionelle Strukturen (Kirchen, Versicherungen, Gesundheitspolitik …) und Handlungsziele (wie medizinische Grundversorgung) das Geschehen bestimmen. Auch ›Funktionssysteme‹, in denen deutlicher ein Konkurrenzmechanismus vorherrscht – wie die Konkurrenz um Noten und Abschlüsse, um Wählerstimmen und um einschlägige Publikationen – sind zugleich von anderen Logiken geprägt – von Bildungsstandards, finanziellen Zwängen und bürokratischen Zuständigkeiten, dem Spiel von Konflikt, Konsens und Kompromiss, umkämpften Wahrheits- und Methodenauffassungen. Will man solche Einschränkungen systematischer fassen, bietet sich das Kriterium an, ob ein Bereich jeweils eigene Medien hat, die Konkurrenz zulassen. Für Parsons und Luhmann bedingen sie, dass überhaupt spezialisierte Praxis stattfindet: Sie kodifizieren Interaktionen (z.B. als Tauschangebot oder als Test), und sie motivieren erwünschte Reaktionen (Geld lässt sich erwartbar in Güter und Arbeit umsetzen, Anweisungen der Staatsmacht werden meistens befolgt).34 Wenn das Medium darüber hinaus irgendeine Form von Akkumulation zulässt, sind die Bedingungen für moderne Konkurrenz gegeben: Man kann sich um klar definierte Arten und Ausmaße hochwahrscheinlicher Kooperation bemühen, ohne sie direkt anderen abkämpfen oder von ihnen zugestanden bekommen zu müssen. Stattdessen strebt man einfach gute Abschlüsse an (die einem den Zugang zu guten Jobs oder zumindest zu raren weiteren Bildungsgängen verschaffen), arbeitet sich im Machtapparat hoch oder akkumuliert eben Kapital. Das mehrstellige Verhältnis der Konkurrenz ermöglicht so eine tendenziell asoziale Bemühung um soziale Verfügungschancen. Im Kontrast wird zugleich klar, wo sie an ihre Grenzen stößt: wo immer substanzielle Übereinstimmung oder Gegnerschaft weiterhin unumgänglich ist.
34 So schon die ersten Versuche von Parsons (1963a, 1963b; vgl. erläuternd Jensen 1980: 12–15) und noch die letzte Zusammenfassung Luhmanns: »Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien leisten eine neuartige Verknüpfung von Konditionierung und Motivation. Sie stellen die Kommunikation in jeweils ihrem Medienbereich, zum Beispiel in der Geldwirtschaft oder dem Machtgebrauch in politischen Ämtern, auf bestimmte Bedingungen ein, die die Chancen der Annahme auch im Falle von ›unbequemen‹ Kommunikationen erhöhen.« (Luhmann 1998: 204)
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Diesen Punkt hat sehr klar Jürgen Habermas gesehen. Während Parsons und Luhmann vorrangig eine formale Konzeption von Interaktionsmedien zu entwickeln versuchen, die auf möglichst alle spezialisierten Lebensbereiche passt,35 will er gerade zwischen verständigungsorientiertem Handeln und medial vermittelten systemischen Prozessen unterscheiden. Das erstere erlaubt prinzipiell alle Dimensionen sprachlichen Austauschs zu aktivieren: kognitive Angemessenheit, normative Übereinstimmung oder Dissonanz, aufrichtige Gefühlsäußerungen oder ästhetische Stimmigkeit. Wo dagegen »Medien wie Geld und Macht« etabliert sind, entscheidet allein instrumentelle Vernunft: »sie codieren einen zweckrationalen Umgang mit kalkulierbaren Wertmengen und ermöglichen eine strategische Einflussnahme auf die Entscheidungen anderer Interaktionsteilnehmer unter Umgehung sprachlicher Konsensbildungsprozesse«.36 So werden einerseits große Komplexitätsniveaus in der Wirtschaft, im Staat und generell in Verwaltungen möglich, doch andererseits entziehen sich ihre Leistungen der kollektiven Kontrolle, und man handelt sich bekannte Probleme der Moderne ein: Freiheitsverluste, Entfremdung, eine ökonomisierte und verwaltete Welt, Fachmenschen ohne Geist und Genussmenschen ohne Herz. An Habermas’ Zugriff ist einiges auszusetzen. Er führt die sehr kurze Liste der ›Medien wie Macht und Geld‹ nie sinnvoll weiter, sondern nimmt für alle anderen Spezialisierungen an, dass sie in umfassender Verständigung gründen bzw. sich (»wie etwa fachliche Reputation oder […] moralisch praktische Führerschaft«) »auf bestimmte Sorten grundsätzlich rational motivierten Vertrauens stützen«.37 Das wirft freundliches Licht auf Recht, Kunst, Erziehung, Wissenschaft usw., erzeugt aber ein Schwarz-Weiß-Bild der Moderne, in dem die Zwänge von Ökonomie und Verwaltung fortwährend die sonst überall vorhandene kommunikative Vernunft unterdrücken. Das dargestellte Grundargument lässt sich
35 Die Kehrseite dieser Bemühung sollte zumindest erwähnt werden: Weder Parsons noch Luhmann haben einen überzeugenden Medienbegriff. Der erstere sucht offenkundig nach etwas, das etwa so wie Geld funktioniert, und wird bei jeder Erweiterung – erst zu ›power‹ (Parsons 1963b), dann zu ›influence‹ (Parsons 1963a) abstraktallgemeiner (Habermas 1981–1982: 400–419). Luhmann probiert sich erfolgreicher in verschiedenen Bereichen aus, hat jedoch die jeweiligen Formen medialer Kodifizierung nie wirklich vergleichbar gemacht. Wenn auch ›Liebe‹ und ›Wahrheit‹ generalisierte Medien sein sollen, wüsste man gern, was hier Geldsummen oder amtlichen Kompetenzen entspricht. Ansonsten sollte man nicht von ›Medien‹, sondern höchstens von spezifizierten Erfolgschancen reden (siehe unten). 36 Habermas 1981–1982: 273. 37 Ebd.: 272.
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allerdings auch anders einsetzen: Man kann fragen, welche Lebensbereiche symbolisch generalisierte Konkurrenzmedien ausgebildet haben. Diese Medien könnten dann auch in Bereichen zu entdecken sein, die nicht von vornherein ›normfrei‹ erscheinen, müssten jedoch nicht wie bei Luhmann die Operationsweise von Wissenschaft, Politik, Recht, Erziehung, Kunst usw. insgesamt festlegen. Im Einzelnen müssten solche Medien nur zwei Kriterien erfüllen: • Sie müssten die Möglichkeiten, bestimmte Arten sozialer Kooperation zu fin-
den, quantifizieren oder in eine Rangordnung bringen. Das leisten neben Geld und Amtsbefugnissen etwa auch Noten, Publikationen und Wählerstimmen, mal in Gestalt eindeutiger Kompetenzen (man darf jetzt die Regierung bilden), mal in Gestalt erhöhter Chancen (man wird erst jetzt für ein Stipendium in Betracht gezogen). • Welche Erfolge man dabei erzielen bzw. welche Handlungs- und Zugriffschancen man ausbauen kann, wäre dann in der Tat abhängig von den spezialisierten Teilzusammenhängen, in die eine Kodifizierung eingebettet ist. Was Luhmann unter dem Begriff ›Medien‹ diskutiert, sind diese Erfolgschancen: Als prominent publizierende Wissenschaftlerin hat man Zugriff darauf, was andere für wahr halten, als gewählte Abgeordnete darauf, welche Entscheidungen sie als bindend akzeptieren müssen. Abgrenzungen fallen dann leicht. Nicht alle Medien, die Handlungszusammenhänge prägen, sind Konkurrenzmedien im angegebenen Sinn; Gesetze und Gerichtsurteile etwa sind stattdessen Medien der Konfliktaustragung. Und nicht alle Typen von Wettbewerb haben einen medialen Code; um sexuelle Beziehungen oder um künstlerische Bedeutung wird auf vielschichtige Weise konkurriert. Auch in seiner Anwendung sollte der Begriff der Konkurrenzmedien eine differenzierte und ergänzungsfähige Sicht auf die Kontexte eröffnen, in denen Erfolgsorientierungen freigesetzt werden und sich systemische Entwicklungen verselbstständigen. Man kann nun feststellen, dass im Bildungssystem unter anderem die Hierarchie der Noten und Abschlüsse, in der repräsentativen Demokratie auch der Anteil an Wählerstimmen, im Journalismus Einschalt- und Abrufquoten strukturierend wirken – während gleichfalls Lernziele festgelegt, Kompromisse gefunden und gute Recherchen gewürdigt werden. Man kann so zudem neue Konkurrenzmedien wahrnehmen, im akademischen Feld zum Beispiel Rankings, die Messung von Publikationserfolg und staatlich inszenierte Wettbewerbe um Forschungsgeld.38
38 Vgl. Münch 2011; Wetzel 2013: 61–102.
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Und man kann sogar nachvollziehen, wie normative und ästhetische Kriterien selbst in Konkurrenzmedien eingeschmolzen werden, etwa in Evaluationen, die Auskünfte über das Engagement, die Vertrauenswürdigkeit oder den Umgangston der Bewerteten einschließen. Für die Frage, inwiefern ökonomische Konkurrenz in der Moderne die dominante Wettbewerbsform ist, liefert der ausgeführte Vergleich immerhin zwei Anhaltspunkte. Zum einen ist festzuhalten, dass in der kapitalistischen Wirtschaft alles zusammenfällt, was eben analytisch unterschieden wurde. Hier bestimmt das Konkurrenzmedium den gesamten spezialisierten Zusammenhang, unterscheidet ihn signifikant von anderen und weist auf breiter Front die Erfolge zu. Wenn Marx’ prägnante Kurzformel G-W-G’ zutrifft, besteht kapitalistisches Wirtschaften darin, dass man sich mit Geld (G) Waren (W) samt Arbeitsleistungen verschafft, um damit etwas herzustellen, das sich für mehr Geld (G’) verkaufen lässt.39 Zentral ist mit anderen Worten, Verfügungschancen über Güter und Leistungen zu akkumulieren, und wer immer dabei in Führung geht, zieht die anderen mit ins Rennen: »In der Konkurrenz erscheint diese innre Tendenz des Kapitals als ein Zwang, der ihm von fremdem Kapital angetan wird und der es vorantreibt über die richtige Proportion mit beständigem Marche, marche!«40 Im Vergleich hiermit fällt der Raum, den Konkurrenz in den anderen besprochenen Fällen einnimmt, bescheidener aus; höchstens der Sport könnte eine ähnlich starke Wettbewerbslogik aufweisen. Ökonomische Konkurrenz herrscht aber noch in einem zweiten Sinn vor: Das Medium Geld regelt nicht nur die Beziehungen zwischen Einzelnen und Organisationen, die vorrangig wirtschaftliche Handlungsziele verfolgen, sondern auch den Aufbau der meisten anderen Organisationen, die Struktur vieler anderer Zusammenhänge sowie die Macht- und Vorteilsverteilungen zwischen Individuen überhaupt. So spezialisiert die Handlungsweisen im Recht, im Sport, in der Erziehung, den Massenmedien usw. sein mögen – ein entscheidendes Handlungsmotiv ist jeweils, wie viel man damit verdienen kann. Das bedeutet für Organisationen, dass sie durchgängig über einen verlässlichen Mechanismus verfügen, um qualifizierte Mitarbeit zu gewinnen, und für die Einzelnen, dass sich ihre Vorteile und ihre Verfügungsmacht gegenüber beinahe allen anderen auf einer einzigen Erfolgsskala abbilden lassen. Selbst abgestufte Weisungsmacht, die ein vergleichbar verbreitetes Medium bildet,
39 Vgl. Marx 1890/1962: 161–170. Stefan Breuer (1992: 183 f.) hat Luhmann dahingehend kritisiert, dass Geld im Marxschen Sinn das einzige wirklich generalisierte Kommunikationsmedium ist. 40 Marx 1857–1858/1983: 327.
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ist in der Regel von jener Motivation gedeckt (man fügt sich, weil man bezahlt wird) und kommt an diese quantitative Eindeutigkeit nicht heran. Die zweite Ausführung bringt zugleich etwas in den Blick, das Luhmann und Habermas mehr oder weniger gezielt ausblenden: Die Konkurrenz von Individuen um Positionen. Dass Luhmann konkurrenzblind bleibt, könnte sogar wesentlich an seiner bekannten Vorentscheidung liegen, ›Menschen‹ nicht als Teil, sondern nur als kontingente Umwelt der Gesellschaft zu begreifen. Für diese Entscheidung gibt es einige gute Gründe, aber die Motivationen, die vorherrschende Handlungsformen verständlich machen, und die Eigenschaften, an die der Zugang zu weiterhin bestehenden Machtpositionen gebunden wird, kann man so nicht verhandeln. Habermas ist offener für Menschen; er arbeitet sich allerdings so bemüht an der frühen Frankfurter Vernunftkritik und der Systemtheorie ab, dass ihm schlicht die Begriffe für soziale Über- und Unterordnung fehlen. Es wäre interessant zu sehen, ob und wie diese Blickverengungen durch eine Situation bedingt sind, in der man meinen konnte, dass es im wohlfahrtsstaatlich gezähmten Kapitalismus langfristig allen vergleichsweise gut gehen würde.41 Das große Thema, wie Ungleichheit in der Moderne (re-)produziert wird und inwiefern sie als Machtverhältnis gesellschaftlich strukturierend wirkt, scheint damit nachrangig geworden zu sein. In jedem Fall muss die Frage, wie Konkurrenz Macht- und Vorteilspositionen verteilt, mit anderen theoretischen Mitteln bearbeitet werden.
41 Habermas gibt diese Motivation direkt zu erkennen. Seit seinem Buch zum »Spätkapitalismus« (1973) vermutet er eine »sozialstaatliche Pazifizierung des Klassenkonflikts« (1981–1982: 512 und öfter) und entscheidet sich entsprechend dafür, »die Kompositionsregeln für das Muster sozialer Ungleichheit« nicht weiter zu untersuchen (ebd.: 513). Stattdessen »interessiert« ihn nun, »wie ein neuer Typus von klassenunspezifisch ausgelösten Verdinglichungseffekten entsteht« (ebd.) – die Kolonialisierung der Lebenswelt. Luhmann zeigt zur gleichen Zeit in seinem Buch zum Wohlfahrtsstaat noch größeren Optimismus: »Unter der Bedingung hoher gesellschaftlicher Komplexität kann es sehr wohl auch Steigerungsverhältnisse geben, in denen ein Mehr an politischer Realisation, wirtschaftlicher Produktivität, wissenschaftlichem Fortschritt mit einem größeren Repertoire an Möglichkeiten individualisierter persönlicher Lebensführung kombinierbar ist.« (Luhmann 1981: 27)
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3. D IE V ERTEILUNG
DER
E RFOLGSWAHRSCHEINLICHKEIT
Jenseits der bundesdeutschen Diskussion gehört die Ungleichheitsfrage tatsächlich zum Kern soziologischer Theoriebildung. Eine beliebte Erzählung über die westlich-liberale Gesellschaft lautet etwa so: Während man in ständischen Ordnungen in seine Position hineingeboren wurde, bricht sich in der Moderne soziale Mobilität Bahn. Die Einkünfte sowie (in differenzierterer Betrachtung) die Bildungserfolge, der politische Einfluss, die intellektuelle Wirksamkeit und kulturelle Sichtbarkeit Einzelner hängen zunehmend von ihrer je eigenen, gegebenenfalls in pluralisierten Kontexten unterschiedlich bewerteten Leistung ab. Zweifel an dieser Erzählung – oder auch an ihrer unterstellten, so von niemand wirklich vertretenen Reinform – sind allerdings ähnlich verbreitet, zumal in der Bildungs- und Mobilitätssoziologie sowie der Analyse sozialer Schichtungen oder Klassen. Sie machen sich in der Regel daran fest, dass man hartnäckige Wettbewerbseinschränkungen oder ungleiche Ausgangsbedingungen sieht. So kann man bereits mit einfachen, ökonomisch gestalteten Mitteln herleiten, dass auch eine universelle Konkurrenz Vorteilsordnungen aufrecht erhält. Raymond Boudon hat dies am zentralen Verteilungsapparat der Bildung gezeigt: Für wohlhabende Familien ist es besonders leicht und rational, in kostspielige Bildungsgänge zu investieren, die ihre Kinder dann meistens wieder in gute berufliche Positionen mit hohen Einkommen bringen.42 Wenn man darüber hinaus erkennen will, welche Faktoren den Wettbewerb einschränken oder verzerren, bietet sich der Ansatz Pierre Bourdieus an. Er bemüht sich generell um eine möglichst umfassende Erklärung stabilisierter Ungleichheiten: Unter den bekannten Soziologen hat niemand so breit und konsequent wie er zu zeigen versucht, weshalb auch in der Moderne, unter der Vorgabe formaler Gleichheit, die Geburt die soziale Position vorbestimmt. So hilft er den starken Befund zu begreifen, dass in der allseitig mobilisierten Gesellschaft ausgerechnet die soziale Mobilität nicht zunimmt oder sogar zurückgeht.43 Der Preis ist, wie sich zeigen wird, nicht allein eine relative Blindheit für den Wandel, der ebenfalls stattfindet. Vor allem reduziert Bourdieu (ohne dies unmittelbar so zu sagen) soziale Verhältnisse tendenziell auf Positionskonkurrenz. Auch bei ihm ist der Ausgangspunkt bildungssoziologisch; die wesentliche Neuerung besteht in seiner berühmten Erweiterung des Kapitalbegriffs. Bourdieu arbeitet in seinen frühen, gemeinsam mit Jean-Claude Passeron verfassten Studien
42 Boudon 1974: besonders 29–31. 43 Vgl. dazu den kompakten Überblick von Stephan Lessenich (2006).
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zu Schule und Hochschule heraus, dass Bildungserfolg entscheidend durch familiär vermittelte Kultur bedingt ist;44 er erweitert das mit einem anderen Forschungsteam zu der These, dass die ›Vererbung‹ sozialer Positionen im organisierten Kapitalismus einen neuen Umweg über Bildungswohlstand nimmt,45 und er stellt in seinem Hauptwerk La distinction heraus, dass kultureller Status ein eigenes Lebensziel darstellt bzw. einen ganzen (unteren) Teil der herrschenden Klasse definiert.46 Die begriffliche Konsequenz lautet, dass man neben ökonomischem auch ›kulturelles Kapital‹ in Rechnung stellen muss, um zu sehen, wie Individuen ihre gesellschaftliche Position erreichen, und zwei weitere Güter lassen sich flüssig ergänzen: das ›soziale Kapital‹ der ausgebauten Kontakte sowie schließlich das ›symbolische Kapital‹ des Ansehens, in das man ggf. alle anderen Kapitalien konvertieren kann.47 Generell bildet die (eingeschränkte) Austauschbarkeit der jeweils akkumulierten Guthaben eine Pointe von Bourdieus Theorie. Bildungsabschlüsse ebnen den Weg zu Einkünften, Privilegien schaffen Ansehen. Wir konkurrieren entsprechend nicht bloß funktionsteilig, sondern als Gesamtpersonen um einen integralen sozialen Status. Gegen ökonomische Konkurrenztheorien erklärt Bourdieu, »dass die Praxen einer bestimmten Klasse von handelnden Individuen nicht allein von der Struktur der theoretischen, durchschnittlichen Profitchancen abhängen, sondern von den spezifisch für diese Klasse geltenden Chancen. Das heißt, sie sind abhängig von […] der Struktur der Verteilung der gegebenen Arten von Kapital (ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital), die […] als Instrumente zur Aneignung dieser Chancen anzusehen sind.«48 Und auch fürs sozialstrukturelle Gesamtbild empfiehlt er (gegen marxistische Ansichten) ökonomisch bestimmte Positionskämpfe durch andere zu ergänzen: »Tatsächlich ist der soziale Raum mehrdimensional, ein offener Komplex relativ autonomer, das heißt aber auch: in mehr oder minder großem Umfang […] dem ökonomischen Produktionsfeld untergeordneter Felder. Innerhalb der einzelnen Teilräume sind die Inhaber der herrschenden und die der beherrschten
44 Bourdieu/Passeron 1964 und 1970. 45 Bourdieu et al. 1971. Die These ist inzwischen nicht mehr vollständig zu halten: Der Anteil der direkt vererbten Vermögen am Volkseinkommen ist in Frankreich seit 1950 »um das Drei- bis Vierfache« gewachsen (Piketty 2013/2014: 505). 46 Bourdieu 1979. 47 Vgl. Bourdieu 1983 und 1984: 10 f. 48 Bourdieu 1974: 194.
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Positionen pausenlos in vielfältige Kämpfe verwickelt (ohne sich deshalb zwangsläufig zu antagonistischen Gruppierungen zu formieren).«49 Im Kontext der zweiten Belegstelle zeigt Bourdieu Ansätze dazu, die Ordnung der Positionen selbst als umstritten zu begreifen;50 hier interessieren jedoch stärker die Faktoren, die in seinen Augen die Konkurrenz einschränken. Der Streit um die Interpretation der Ordnung spielt dabei durchaus eine Rolle; umkämpft ist nicht zuletzt, welche Art Leute einen Anspruch darauf erheben kann, vorteilhafte Positionen einzunehmen. Doch schon um zu begreifen, was verschiedene Arten von Leuten erkennbar macht, muss man das Prinzip heranziehen, das Bourdieu Habitus nennt: das Ensemble strukturell bedingter Handlungs-, Wahrnehmungs- und Urteilsgewohnheiten. Als Handlungsprinzip sorgt der Habitus dafür, dass Menschen nur selten sozial ganz unvertraute Rollen anstreben (»Das ist nichts für uns«). Als Wahrnehmungsgewohnheit hilft er – oft gar nicht bewusst – zu sortieren, ob jemand Merkmale angemessener Sozialisierung zeigt (»Das ist ein rundum vielversprechender junger Mann«). Und als Urteilsprinzip hilft er nicht nur Ansprüche zu bewerten, sondern bestätigt noch in kollektiven Kämpfen gegebene Machtverteilungen (»Um so hoch zu kommen, muss man ziemlich korrupt sein«). Zusammen machen diese Mechanismen verständlich, weshalb Auf- und Abstiege seltener stattfinden, als man das unter Bedingungen formeller Gleichheit, genetischen Zufalls und allseitiger Konkurrenz annehmen könnte. Statt solcher Idealbedingungen müsste man sehr spezielle Formen von Positionskämpfen untersuchen, etwa »Konkurrenzbeziehungen, in denen die privilegierte Klasse alles daransetzt, die Ansprüche (auf Erhebung in den Adelsstand, auf Bildung oder Ähnliches) der auf sie folgenden Klasse zurückzuweisen, indem sie deren Ambitionen und Erwartungen für eine Art individuellen Größenwahn ausgibt«.51 Das Bild Lewis Carrolls scheint sich also zu bestätigen, wenn man zusätzlich wahlweise annimmt, dass verschiedene Gruppen an verschiedenen Stellen zu laufen begonnen haben, dass einigen Gewichte an
49 Bourdieu 1984: 32. 50 Sein Punkt kann hier nicht genauer geprüft werden. Für Bourdieu ist vor allem umkämpft, wie Einzelne klassifiziert, gesehen und bewertet werden; wissenschaftliche Einordnungs- und soziale Ordnungskämpfe erscheinen dabei als nahezu gleichartig: »Die Analyse des Kampfes der und um Klassifizierungssysteme lässt die politische Ambition zutage treten, von der noch das erkenntnistheoretische Bestreben um eine ›richtige‹ Klassifizierung getrieben wird.« (Bourdieu 1984: 29) 51 Bourdieu 1974: 192 f.
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die Füße geschnallt wurden oder dass einem an vorher markierten Stellen im Zweifelsfall doch jemand ein Bein stellt. Eben diese glatte Übereinstimmung macht allerdings fraglich, ob Bourdieus Darstellung uneingeschränkt zutreffen kann. Das Bild strukturell vorentschiedener Positionskämpfe könnte ähnlich vereinfachend sein wie das eines gerechten Leistungswettbewerbs. Zum einen ist zweifelhaft, ob (verzerrte) Konkurrenz wirklich nur Beharrung hervorbringt. Die ziemlich offenkundige Dynamik moderner Kunst und Massenkultur etwa wird bloß unverständlich, wenn man hier mit Bourdieu nur Individuen um ›Kapital‹ konkurrieren sieht. Man kann dann vielleicht nachzeichnen, wie die Konkurrenz auf dem kulturellen Massenmarkt bekannte ästhetische Muster konserviert (und unmittelbar Geld bringt), während der Wettstreit der Künstler untereinander (der sich erst auf längere Sicht finanziell auszahlt) alte kulturelle Hierarchien bestätigt.52 Aber was es formal, inhaltlich und für Ordnungsvorstellungen heißt, wenn Avantgarden die tradierte Kunstauffassung angreifen oder zunehmend untere Schichten die kulturellen Standards bestimmen, kann auf diese Weise nicht geklärt werden. Noch wichtiger dürfte sein, dass die Theorie der Positionskämpfe nahezu nichts über die gelebten Beziehungen zwischen den Positionen sagt: zwischen abhängig Arbeitenden und Beschäftigenden (bzw. deren Funktionären), Eigentümerinnen und Nichteigentümern von Produktionsmitteln, Anweisenden und Ausführenden, Prüfenden und Geprüften, freien Berufen und ihrer Klientel, Produzenten und Konsumenten von Weltdeutung usw. Erst solche Verhältnisse bestimmen das Spiel der Unterordnung, in dessen Rahmen auch Konkurrenzkampf herrscht – doch Bourdieu begnügt sich weithin damit, den letzteren zu untersuchen. So kann er zwar beleuchten, wie und weshalb Menschen in Positionen gelangen, aber nicht, was sie in ihnen tun. Statt etwa die Arbeit anderer auszubeuten, ihre Abhängigkeit zu nutzen und zu befestigen, Entscheidungen zu treffen, zu unterlaufen oder sich ihnen zu fügen, Deutungsmacht auszuüben oder von anderen verwaltete Ideologien nachzusprechen, scheinen alle nur damit beschäftigt, für sich selbst ökonomisches Kapital, soziale Kontakte und kulturelle Kompetenzen anzuhäufen. Schon die Gleichsetzung dieser sehr verschiedenen Güter als ›Kapital‹ verschleift alle Unterschiede, auf die es ankäme. Und für das im genaueren Sinn so genannte ökonomische Kapital hat Marx überspitzt festgestellt: »Es erscheint also in der Konkurrenz alles verkehrt.«53 Das Argument ist auch bei ihm, dass ein Wechselspiel von (ökonomischen) Positionen nicht sinnvoll rekonstru-
52 So die Hauptthesen von Bourdieu 1992. 53 Marx 1894/1968: 219.
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ierbar ist, wenn man nur den Blickwinkel derer einnimmt, die in ihm erfolgreich sein wollen. Gerade weil es in dieser Weise beschränkt ist, hat Bourdieus Szenario allerdings auch Erkenntniswert. Es lässt weit über Marx’ Themen hinaus die Annahme zu, dass die Akteure selbst durch ihre Konkurrenz um Positionen, Erfolg und Verfügungschancen blind für die Verhältnisse werden, die zwischen ihnen herrschen.54 Zur Kennzeichnung der Konkurrenz als indirektem Kampf würde das unmittelbar passen. Man sieht (oder wünscht) sich nicht als Teil einer Klasse, die andere ausbeutet, beherrscht, abhängig hält oder bevormundet, sondern als (bald) durch Leistung erfolgreiche Managerin, Juristin, Wissenschaftlerin oder PRExpertin; im besten Fall beschwert man sich, dass soziale oder geschlechtliche Diskriminierung einem den Weg nach oben schwer macht. Wo diese Teilblindheit tatsächlich herrscht, kann man Konkurrenz zugleich als praktische Realität und als ideologische Praxis begreifen. In einer umständlichen, aber vielleicht hilfreichen letzten Abwandlung von Lewis Carrolls Bild hieße das: Alle sind so sehr auf die kleinen relativen Ortsveränderungen fixiert, die sie im unausgesetzten Wettrennen erreichen können, dass sie gar nicht mehr sehen, wie das Feld der Laufenden insgesamt angeordnet ist (und was sie außer Laufen noch tun). Für die Gesellschaftstheorie heißt das, dass sie die strukturerhaltenden Effekte von Konkurrenz nur dann begreifen kann, wenn sie nicht nur die Strukturen der Konkurrenz untersucht. *** Damit bleiben zwar genügend Fragen offen, aber es ist ein Punkt erreicht, an dem sich die Reflexion sinnvoll abschließen lässt. Konkurrenz hat als indirekter Kampf um Güter, über die Dritte verfügen, gleichzeitig einen besonders sozialen und einen potenziell asozialen Charakter: Sie zwingt, sich mit anderen zu vergleichen (oder vergleichen zu lassen), und sie verlangt, dabei den Kriterien eines nicht direkt am Kampf beteiligten ›Publikums‹ zu entsprechen. In dem Maß, in dem dieses Publikum nicht bloß konkret und sozusagen persönlich die Leistungen der Konkurrierenden beurteilt und honoriert, sondern allgemeine Muster den Erfolg festhalten und vergleichbar machen, gewinnt die asoziale Seite von Konkurrenz an Gewicht. Sie ermöglicht es, dass Konkurrenzprozesse eingespielte Lebensordnungen aufsprengen und dass die Beteiligten ihre Ziele vermehrt
54 In neuerer Begrifflichkeit kann man auch sagen: Die ›Diskurse‹ und ›Dispositive‹ des Wettbewerbs haben ›subjektivierende‹ Effekte (Wetzel 2013: besonders 19–21).
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strategisch statt verständigungsorientiert durchsetzen. Auch der unbeliebte Ressortchef gibt verbindliche Anweisungen, auch die fragwürdige Erfolgsunternehmerin kann neue Technik und Arbeitskräfte einkaufen. Konkurrenz wird damit zu einem Motor diverser Umbrüche, die moderne Gesellschaften kennzeichnen und bis in die Gegenwart nicht aufgehört haben. Ihre Medien reichen von Schulnoten bis zu Wählerstimmen; die klarste und größte Wirkung hat aber fraglos das Konkurrenzmedium Geld. Es bestimmt auch die Positionen, um die Individuen in unserer Gesellschaft wetteifern. Analysen sozialer Schichtung setzen gewöhnlich begründet beim Einkommen an (und ordnen ihm andere Elemente wie Verantwortung oder Expertise häufig funktional zu). Dennoch spielt bei der Konkurrenz um Gesamtpositionen auch die integrale Erfolgsbilanz der Einzelnen eine Rolle; Bildung, Macht und Geld lassen sich vielfältig, wenn auch nicht unbegrenzt gegeneinander eintauschen. Das hilft zu verstehen, weshalb Konkurrenz nicht bloß alles ändert, sondern zumal soziale Unterordnungen auch reproduziert. Es sollte allerdings nicht übersehen lassen, dass sie größtenteils bloß bestätigt, was in der Struktur der Positionsverteilung schon vorliegt. Auch hier ist das beste Beispiel der kapitalistische Markt, auf dem die einen ihre Arbeitskraft verkaufen und andere über ihre Verwendung verfügen bzw. den mit ihr erwirtschafteten Profit ansammeln. In solchen Verhältnissen kann man zweierlei kritisch sehen: Dass (fast) alle gezwungen sind, endlos miteinander um die Wette zu laufen, und dass sie im selben Maß die Möglichkeit verlieren, die Macht- und Vorteilsverteilungen untereinander direkt in Frage zu stellen.
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Konkurrenz und Solidarität Alternative oder verwobene Formen sozialer Interaktion? M ARKUS V OGT
E INFÜHRUNG Konkurrenz und Solidarität schließen einander keineswegs immer aus. Sie können sich auch wechselseitig bedingen. Denn in Situationen mit vielen Akteuren hat häufig nur der Chancen, sich in der Konkurrenz zu behaupten, der zu Solidarität fähig ist und im Gruppenverband kooperiert. Auch unter den Bedingungen gnadenloser Konkurrenz gehört die Strategie der wechselseitigen Hilfe und damit die »Evolution der Kooperation«1 zu den Grundelementen der Entwicklung. Dies gilt sowohl für die Evolution von Arten und Verhaltensmustern in der Natur als auch erst recht für die Entstehung und Stabilisierung kultureller Handlungsmuster. Insofern sind Konkurrenz und Solidarität selbstverständlich komplex miteinander verwobene Interaktionsformen. Ein Beispiel für die gezielte Verflechtung von Handlungsmustern der Konkurrenz und der Solidarität ist das Ordnungsmodell der Sozialen Marktwirtschaft. Es beruht auf der Leitidee, dass Markt und Sozialstaat als die beiden wichtigsten Institutionalisierungsformen von Konkurrenz und Solidarität sich wechselseitig nicht nur begrenzen, sondern auch ermöglichen und stärken. Die Kunst guter Ordnungspolitik liegt demnach darin, diese beiden Gegenpole auf die richtige Weise miteinander zu verweben.2
1
Kropotkin 1902/1975; Simmel 1908/1992; Axelrod 1991; Shleifer 2004; zur methodischen Problematik einer evolutionären Ethik vgl. Zelinka 1994; König/Vogt 1998.
2
Vgl. Homann 2002; Vogt 2012.
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Solidarität geht nach humanistischem und erst recht nach christlichem Verständnis freilich nicht darin auf, nur ein Mittel zur besseren Konkurrenz zu sein. Sie schließt als ethischer Begriff auch den Anspruch ein, über den bloßen Vorteil hinaus die Interessen anderer, denen man sich verpflichtet weiß, zu vertreten. Sie fordert, auch dann dem anderen zu helfen, wenn es dem Akteur selbst nicht nutzt. Im Horizont des christlichen Glaubens reicht Solidarität sogar bis zur Bereitschaft, das eigene Leben für andere hinzugeben. Bei all dem sind Solidarität und liebende Hingabe für den anderen nach christlicher Weltsicht nicht nur moralische Imperative, sondern sie wurzeln in der Vorstellung, dass die Konkurrenzsituationen zwischen Menschen letztlich nicht das Entscheidende sind. Aus christlicher Sicht werden sie umfangen von einer gemeinsamen Gotteskindschaft aller Menschen. Diese hat zur Konsequenz, dass Menschen in der solidarisch liebenden Zuwendung zum Nächsten die Nähe Gottes und ihre eigene Identität finden können. Solidarität wird so zum Königsweg für gelingendes Leben, sodass dieser ein systematischer Vorrang gegenüber Konkurrenzverhältnissen zukommt. Vor dem Hintergrund dieses Verständnisses sind Konkurrenz und Solidarität nie völlig zu harmonisieren, sondern trotz aller möglichen Verwobenheit immer auch als Gegenpole, zwischen denen sich der Mensch entscheiden muss, zu sehen. Dabei ist jedoch zu beachten, dass Solidarität – auch wenn sie sich an christlichen oder humanistischen Idealen der grenzenlosen Hingabe orientiert – unter Bedingungen der realen Welt nicht beliebig gefordert werden kann. Solidarität muss sich auch in Situationen der Konkurrenz um knappe Güter und Positionen in der Gesellschaft bewähren.3 Insofern ist Solidarität nicht in jedem Fall ›gut‹: Sie kann dazu führen, dass derjenige, der solidarisch helfen will, selbst scheitert und die Mittel zum Helfen verliert. Darüber hinaus besteht die Gefahr, dass sie diejenigen, denen geholfen wird, abhängig macht und ihnen so letztlich schadet. Ebenso ist Konkurrenz nicht in jedem Fall ›schlecht‹ oder ethisch negativ: Sie kann zu Leistungsbereitschaft motivieren und eine soziale Dynamik in Gang setzen, in der eine Entfaltung der eigenen Fähigkeiten gefördert wird. Wenn sich in Konkurrenzsituationen das Bessere durchsetzt, dient dies langfristig dem Wohle aller. Insofern ist die Analyse, bis zu welchen Grenzen solidarisches Verhalten gefordert und sinnvoll ist, und wann Verhaltensmustern und Institutionen der Konkurrenz Raum gegeben werden soll, eine durchaus immer wieder neu aktuelle Herausforderung für die Ethik. Sie ist eine Schlüsselfrage der Wirtschaftsethik. Die entscheidende sozialethische Frage ist, wie die Interaktionsformen des Konkurrierens und der Solidarität auf die richtige Weise miteinander verwoben
3
Hilpert 1997; Gabriel/Ritter 2005.
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werden können. Dabei geht es nicht darum, irgendwo in der Mitte zwischen den beiden Extremen einen Kompromiss zu suchen. Gefordert ist vielmehr, beide Verhaltensweisen auf ihre jeweiligen Voraussetzungen, Grenzen und Bedingungen hin zu analysieren, um Zuordnungen zu finden, in denen sie nicht nur nebenund gegeneinander stehen, sondern sich so wechselseitig durchdringen und begrenzen, dass eine konstruktive soziale Dynamik entsteht.
B EGRIFFSKLÄRUNG Analysen zur sozialen Dynamik des Konkurrenzverhaltens Anthropologische Sichtweisen der agonalen Veranlagung des Menschen Konkurrenz entsteht, wenn Güter oder soziale Positionen knapp sind und die Interaktionsteilnehmer versuchen, ihren Bedarf auf Kosten anderer zu befriedigen. Hierdurch kommt es zu Wettbewerbsverhalten mit dem Bestreben, andere zu übertreffen. Entsteht Leistung primär durch Konkurrenzsituationen, so spricht man von Wettbewerbsorientierung.4 Das Bedürfnis, eigene Fähigkeiten und Einstellungen mit anderen zu vergleichen, wird in einer agonal, also auf Konkurrenz und Wettbewerb ausgerichteten Kultur gezielt gefördert. Dies erzeugt, etwa im Sport, hohe Leistungsanreize. Trotz großer Unterschiede in der kulturellen Ausprägung von agonalen Verhaltensweisen ist kaum zu bezweifeln, dass ihnen angeborene Handlungsdispositionen zugrunde liegen.5 Konkurrenzsituationen finden sich in nahezu allen Lebensbereichen. Je ähnlicher die Bedürfnisse und Fähigkeiten sind, desto größer ist in der Regel die Konkurrenz. So ist beispielsweise die Konkurrenz in Bezug auf Preis, Qualität und Service zwischen unabhängigen Unternehmen, die ähnliche Güter anbieten und ähnliche Kundengruppen umwerben, am größten. Eines der wichtigsten Mittel, sich im Konkurrenzkampf durchzusetzen, ist die Fähigkeit zu verlässlichen Bündnissen und Kooperationen. Wettbewerbsdruck führt sowohl zu Konkurrenz als auch zu Kooperation.6 Diese wechselseitige Durchdringung der Handlungsantriebe ist die Basis eines vitalen Charakters:7 Kluge Egoisten halten ihre Aggression im Zaum und kooperieren.
4
Papastefanou 2005; Ungethüm 2005.
5
Eibl-Eibesfeld 1970; Wickler/Seibt 1991; Reichholf 2001.
6
Porter 1980; Axelrod 1991.
7
Wilhelm Korff, auf den ich hier wesentlich zurückgreife, nennt diese wechselseitige
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Konkurrenz in der Natur und ihre Transformation in der Kultur Die Entdeckung der Evolutionstheorie, dass sich Ordnungen durch offene Konkurrenz und Selektion der Besten ›von selbst‹ herausbilden, gehört zu den erfolgreichsten Paradigmen moderner Wissenschaft.8 Konkurrenz erzeugt aggressives Verhalten. Die Evolutionsforschung versteht dieses weitgehend als einen endogenen Handlungstrieb.9 Durch vielfältige Ritualisierungsformen wird der Kampf um Geschlechtspartner, Territorium, Rangstellung und Nahrung in den evolutionär geprägten Verhaltensmustern so eingegrenzt, dass er sich in der Regel für die Artentwicklung positiv auswirkt. Auch im menschlichen Verhalten findet sich vielfach eine konstruktive Begrenzung und Indienstnahme des Aggressionstriebes durch ritualisierte Formen der Konkurrenz, sei es im Sport oder im sozialen Rangstreben. Dabei werden die mit ihr verbundenen vitalen Energien auf kulturelle Leistungen umgelenkt.10 Kulturfähig wird das Konkurrenzverhalten vor allem durch einen Wechsel vom Recht des Stärkeren zum Recht der Priorität, also des Besten.11 Die westliche europäisch-transatlantische Kultur beruht wesentlich auf dem agonalen Prinzip.12 Das Wort ›Konkurrenz‹ kommt vom lateinischen concurrere, ›zusammen laufen‹, und bezog sich ursprünglich auf den sportlichen Wettkampf im Laufen. Es drückt also eine situativ begrenzte und klar regulierte Interaktion zur Ermöglichung von Leistungsvergleichen aus. Die Interaktionsform der Konkurrenz ist in diesem ursprünglichen Sinn nicht unmittelbar gegen den oder die anderen gerichtet, sondern es handelt sich um einen Handlungstyp des Nebeneinanders, das auf einen Vergleich zielt, bei dem der Sieg des einen den des anderen ausschließt. In diesem Sinne des sportlichen Leistungsvergleichs ist Konkurrenz keine Naturtatsache, sondern eine Kulturform. Soll sie nicht zum bloßen Machtkampf werden und einen auf eine spezifische Fähigkeit bezogenen Vergleich
Durchdringung der Handlungsantriebe oder Formenkreise menschlicher Vergesellschaftung »Soziale Perichorese« (Korff 1985: 78–101). 8
Popper 1945/1992; Vogt 1997.
9
Lorenz 1983; kritisch dazu Bauer 2008. Vgl. auch König/Vogt 1998.
10 Vgl. dazu mit Rückgriff auf Konrad Lorenz u.a. Korff 1985: 78–91. 11 Vgl. dazu das Motto »Immer der erste zu sein und vorzustreben vor anderen« (αἰὲν ἀριστεύειν καὶ ὑπείροχον ἔµµεναι ἄλλων), mit dem König Hippolochos seinen Sohn Glaukos in den Trojanischen Krieg schickt (Ilias 6,208 und 1,784). 12 So die Deutung von Jakob Burckhardt (Burckhardt 1957). Dabei gibt es jedoch erhebliche Unterschiede zwischen der griechischen und der römischen Ausprägung einer Wettbewerbskultur; siehe dazu Vogt-Spira 2012; Weiler 2004.
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von Leistungen ermöglichen, setzt sie die Definition, Kontrolle und Einhaltung von Regeln voraus (z.B. darf man den anderen beim Wettlauf nicht festhalten). Zur ethischen Qualifikation von Konkurrenz und Wettbewerb gehört Fairness. Die psychologische und soziale Wirkung von Wettbewerb ist zweischneidig: Sie kann die zwischenmenschliche Interaktion beleben, zu Leistungen anspornen und bei Erfolg das Selbstbewusstsein stärken; sie kann jedoch auch zu Missgunst, Misstrauen, Angst oder Frustration führen sowie dazu, dass Ressourcen für die Selbstbehauptung im Wettbewerb verschwendet werden, die anders sinnvoller genutzt werden könnten (z.B. Wettrüsten). Im Wettbewerbsverhalten gibt es deutliche geschlechtsspezifische Unterschiede.13 Nach dem Urteil des Züricher Philosophen Michael Hampe ist die moderne westliche Kultur wesentlich durch Konkurrenzlogiken geprägt, die zwar hohe Leistungen erzeugen, von der die meisten Menschen aber zugleich systematisch in die Selbstentfremdung getrieben werden: In kapitalistischen Systemen läuft Selbstfindung über Konkurrenzsituationen und über käufliche Masken, mit denen man sich nach außen vom anderen unterscheiden kann. Marken funktionieren so. Sein Ich zur Geltung zu bringen, bedeutet, in diesen Konkurrenzsituationen unverwechselbar sichtbar zu sein. Das ist etwas anderes als zu wissen, welches Leben man führen will. Ich glaube, Personen, die wissen, welches Leben sie führen möchten, sind aus Konkurrenzsituationen raus. Nietzsche spricht in diesem Kontext von ›Vornehmheit‹. Man vergleicht sich nicht mit anderen, aber man merkt, was das eigene Leben ausmacht. Gerade unsere Kultur, die ich auch als Konkurrenzkultur beschreiben würde, ist dem Auffinden der eigenen Stimme hinderlich.14
13 Vgl. dazu Papastefanou 2005; Michalitsch 2003. Während bei Männern die Neigung zum Kräftemessen in ritualisierten Formen des »Kampfes« mit anschließend relativ stabilen Hierarchien stark ausgeprägt ist, neigen Frauen – so Papastefanou – zumindest in der europäischen Kultur eher zu indirekter, jedoch permanenter Konkurrenz über einen Wettbewerb im Streben nach Anerkennung oder pro-sozialer Dominanz. Jeder Versuch einer Typisierung bleibt jedoch problematisch. 14 Hampe 2014: 64.
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Konkurrenz als organisatorisches Leitprinzip moderner Gesellschaft Soziale Funktion des Konkurrenzprinzips In modernen Gesellschaften ist die Zuweisung von Gütern und sozialen Positionen durch leistungsorientierte Auslese- und Wettbewerbsprozesse bestimmt. Das Konkurrenzprinzip bietet hier ein Gegenmodell zu einer Verteilung anhand von Kriterien der Geburt und Herkunft (Stand, Geschlecht etc.). Die Inszenierung von Situationen der Konkurrenz und des Wettbewerbs prägt den Typus der »offenen Gesellschaft« des Westens.15 Er hat wesentlich zur sozialen Durchlässigkeit sowie zur Wohlstandsentwicklung beigetragen. Durch die Selektion des Starken und Erfolgreichen ermöglicht das Konkurrenzprinzip eine Dynamik des ständigen Fortschritts und wurde zum Leitprinzip der Gestaltung moderner Gesellschaft. Systematisch lassen sich die Funktionen des Wettbewerbs unter vier Gesichtspunkten zusammenfassen.16 Leistungsanreiz und Motivation: Wettbewerb, als Prozess des ständigen Vergleichens mit anderen, führt dazu, dass die Wettbewerber ständig versuchen, neue Produkte zu entwerfen, alte Produkte zu verbessern bzw. den Produktionsprozess zu verbessern, um hierdurch einen Wettbewerbsvorteil zu erreichen. Dezentrale Handlungskoordination und Freiheitsermöglichung: Eine zentrale Koordinierungsstelle, die über die Produktion und Verteilung der Güter bestimmt, wird in einem als Markt organisierten Wettbewerb nicht benötigt. Dort übernimmt der Markt, durch die Preise als Indikator der Dringlichkeit, diese Funktion. Der Wettbewerb überlässt es den einzelnen Akteuren selbst, ihre Chancen und Stärken zu erkennen, und ist somit ein effektiveres Verfahren zur Handlungskoordination als eine zentrale Steuerung. Allokationsoptimierung und dynamische Wohlstandsmehrung: Der Wettbewerb trägt dazu bei, dass die Produktionsmittel effizient eingesetzt werden, um so die Produktionskosten zu senken und den Gewinn zu erhöhen. Der Gewinn des einen wird nicht grundsätzlich einem anderen weggenommen, sondern bringt in der Regel einen wirtschaftlichen Prozess der Wohlstandssteigerung in Gang. Machtkontrolle zugunsten Dritter in anonymen Systemen: Durch fehlenden Wettbewerb entstehen häufig Strukturen, die ineffizient und teuer sind sowie zu überhöhten Preisen führen. Durch die Konkurrenzsituation des Wettbewerbs kann dies verhindert werden. Die Konkurrenz zwischen Unternehmen führt in
15 Popper 1992. 16 Vgl. dazu Hayek 1968/1996; Homann 2002; Henkel 2002.
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der Regel dazu, dass diese sich gegenseitig kontrollieren und die Konsumenten – beispielsweise durch Preisnachlässe – begünstigt werden. Kosten der Konkurrenz im Blick auf das Gemeinwohl Der freie, chancengleiche Wettbewerb ist eine Idealvorstellung, deren Realisierung immer nur begrenzt gelingen kann. Denn menschliche Beziehungen sind durch eine Asymmetrie von Macht und Information geprägt, sodass Chancengleichheit in Konkurrenzsituationen erst durch die Festlegung und Kontrolle bestimmter Regeln ›künstlich‹ hergestellt werden muss. Die gedankliche Grundfigur des Liberalismus, dass der Markt Freiheit ermöglicht, muss unter heutigen Bedingungen differenziert werden:17 Zugleich mit der Freiheitsermöglichung ist er ein Handlungsraum, der enorme Zwänge mit sich bringt und die einzelnen Akteure, die darauf angewiesen sind, sich im Markt durchzusetzen, unter Druck setzt und in seine eigene Logik zwingt. Der Markt ist also keineswegs nur ein neutraler Spiegel der individuellen Präferenzen der Kunden, sondern er prägt auch die Leitwerte der Interaktion und die Präferenzen der Marktteilnehmer in erheblichem Maße: Der Freiheitsgewinn durch Wettbewerb ist also ethisch abzuwägen gegen den Freiheitsverlust durch die Zwänge und Wahrnehmungsverzerrungen des Wettbewerbs. Wenn der Markt zum Selbstzweck wird, findet eine Verkehrung von Mittel und Zweck statt, die ihn »zu einer unmenschlichen und entfremdenden Einrichtung mit unabsehbaren Folgen verkommen lassen kann«18. Notwendig sind moralische Zielsetzungen, die »die Autonomie des Marktes sicherstellen und gleichzeitig in angemessener Weise eingrenzen«19. Das ethische Problem des Wettbewerbs ist letztlich das der Begrenzung gesellschaftlicher Teilsysteme auf eine je spezifische Teilrationalität, die nicht ohne Weiteres auf das Gemeinwohl hin integriert werden kann. Die Schattenseiten einer einseitigen Dominanz von Konkurrenzverhalten lassen sich derzeit an vielen Beispielen veranschaulichen: So waren beispielsweise die Privatisierungen von Post, Bahn, Fernsehen, Telekommunikation oder Wasserversorgung, welche wesentlich von der Absicht geleitet waren, die Konkurrenzlogik des Marktes als Impuls für eine positive Dynamik an Effizienzsteigerung zu nutzen, keineswegs in jeder Hinsicht positiv. Die Konzentration auf profes-
17 Vgl. Thielemann 2009; Herzog 2014. 18 Päpstlicher Rat für Gerechtigkeit und Frieden 2006: Nr. 348. 19 Ebd.: Nr. 349.
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sionelle Stimmenoptimierung mit Hilfe von Werbemanagern in der Demokratie unterhöhlt die Spielräume für Sachdiskussionen und führt zum Phänomen der »Postdemokratie«.20 Nicht selten bilden sich dabei jedoch verdeckte neue Monopolstrukturen heraus, sodass auch der Blick auf die Schattenseiten von Exzessen des Konkurrenzverhaltens keineswegs prinzipiell gegen die Organisationsprinzipien von Wettbewerb und Konkurrenz sprechen. Festzuhalten bleibt jedoch zumindest für eine christliche Wirtschaftsethik: Der Blick auf die Not der Verlierer und damit auch die Schattenseiten von Konkurrenzprozessen hat einen ethischen Vorrang gegenüber dem Ziel der allgemeinen Wohlstandssteigerung. Die ethische Bewertung von Verhaltensmustern und Institutionen der Konkurrenz ist daran zu messen und danach auszugestalten, ob sie dem Wohl der Schwächsten und einer umfassenden menschlichen Entwicklung dienen. Solidarität und Subsidiarität Christliche Zugänge Solidarität im christlichen Sinne meint das Füreinander-Einstehen im Aufbegehren gegen Bedingungen, die der Entfaltung des Humanen entgegenstehen.21 Die solidarische Zuwendung zum Schwachen und Bedürftigen findet in der biblischen Tradition ihre nachhaltigste Begründung. Christliche Ethik ist darauf angelegt, die Hilflosen zu verteidigen, den Stummen die eigene Stimme zu leihen und den Ärmsten ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen. Herzstück christlicher Solidarität ist die Option für die Armen. Diese gehört zur Substanz christlicher Ethik. Sie ist in der Bibel ein moralischer Imperativ und zugleich Ausdruck einer Gotteserfahrung:22 Immer wieder erwählt Gott ausgerechnet die Schwachen, Kleinen, Vergessenen und am Rande Stehenden als Träger seiner Botschaft. Die Armentheologie gehört zu den prägenden Traditionssträngen biblischer Überlieferung. Solidarität mit den Armen gilt als Praxis des christlichen Glaubens. Durch vielfältige Äußerungen und Symbolhandlungen hat Solidarität im Anspruch einer Theologie der Armut neue Aktualität für die Kirche erlangt. Das Wort ›Solidarität‹ fand erst verhältnismäßig spät Eingang in die christliche Tradition. Es leitet sich vom lateinischen solidus, ›dicht‹, ›fest‹, ›solide‹ her.23
20 Crouch 2008. 21 Baumgartner/Korff 2009: 225–237. 22 Vgl. Vogt 2009b: 2–17. 23 Geprägt ist der Begriff durch seine Verwendung im Frankreich des 17. und 18. Jahrhunderts, wo solidarité den Sinn von sozialer ›Verbundenheit‹, ›Einigkeit‹ und ›Gemein-
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Unter dem Einfluss französischer Philosophen, Soziologen und Ökonomen wurde der Solidaritätsbegriff schließlich im bürgerlichen Solidarismus gegen Ende des 19. Jahrhunderts zur zentralen Begründungsfigur des Sozialstaats und ging in dieser Bedeutungsvariante in die katholische Soziallehre ein. Dabei waren insbesondere die beiden deutschen Jesuiten Gundlach und Nell-Breuning prägend. Johannes Paul II. hat den Begriff der Solidarität in den Mittelpunkt seiner Sozialverkündigung gestellt und den Aspekt der »Globalisierung der Solidarität« als grundlegende Aufgabe für Armutsüberwindung und als Voraussetzung für den Fortbestand unserer Zivilisation betont. Mit dem Begriff »Strukturen der Sünde« hat Johannes Paul II. in Sollicitudo rei socialis einen klaren strukturethischen Akzent im christlichen Verständnis von Solidarität gesetzt.24 Christliche Solidarität bedeutet demnach: gemeinsam die Strukturen der Sünde überwinden. Das bis heute längst nicht ausgeschöpfte ethische Innovationspotential des Solidaritätsbegriffs für die christliche Sozialethik besteht darin, dass er eine rechtsfähige, über privat-karitative Perspektiven hinausgehende mitmenschliche Verbundenheit und Verpflichtung formuliert.25 Er geht über das paternalistischfürsorgliche und mildtätig-helfende Verständnis von Solidarität (Pro-Solidarität, im Modus des Für) hinaus und zielt auf gleicher Augenhöhe reziprok-egalitär auf Con-Solidarität im Modus des Mit. Wenn Mildtätigkeitsveranstaltungen als Solidaritätsaktionen ausgegeben werden, wird eine entscheidende Pointe des Begriffs verdeckt. Insofern Solidarität als Strukturprinzip nicht nur auf punktuelle Assistenz drängt, sondern auf eine »nachhaltige Änderung der Notlagen« sowie eine »Korrektur struktureller Defizite«26, ist sie heute durch globale Probleme wie zum Beispiel Klimawandel, Hungerbekämpfung oder Finanzkrise mit einer neuen Qualitätsstufe von Komplexität konfrontiert. Subsidiäre Solidarität Der entscheidende Streit um die Interpretation von Solidarität ist heute die Frage ihrer Zuordnung zur Subsidiarität. Diese muss so ausgestaltet werden, dass sich die beiden Prinzipien nicht wechselseitig neutralisieren, sondern einander vertie-
schaft‹ sowie in praktischer Hinsicht ›Sich-Verbünden‹, ›Füreinander-Eintreten‹ bekommt. Bemerkenswert ist dabei der Ausgangpunkt von deskriptiven und damit sozialwissenschaftlich verankerten Aspekten. Vgl. Fiegle 2003. 24 Die Enzyklika spricht von »strukturgewordener Sünde« (Johannes Paul II. 1987: Nr. 121). 25 Vgl. dazu umfassend Große Kracht/Spieß 2008. 26 Baumgartner 2004: 287; vgl. ebd.: 291.
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fen und stützen. Deshalb zunächst zum Begriff der Subsidiarität: Das Subsidiaritätsprinzip hat seine tiefste Begründung im christlichen Menschenbild, das den Menschen nicht als Kollektivwesen auffasst, sondern als ein Wesen, das – trotz ständiger Verfehlungen und Verstrickungen in Schuld – eigenverantwortlich handeln will und kann. Es widerspricht der Würde des Menschen, ihn mehr als notwendig zu bevormunden. Alle Gesetze und alle soziale Hilfe sollen auf die Ermöglichung und Stützung von Eigenverantwortung ausgerichtet sein. Subsidiarität antwortet nicht auf Zielfragen moderner Gesellschaft (diesbezüglich erbringt sie wenig Neues gegenüber Personalität und Solidarität), sondern auf Steuerungsprobleme.27 Entscheidende Probleme der gesellschaftlichen Ordnung sind heute nicht Folgen eines mangelnden Konsenses hinsichtlich der Ziele, sondern der Durchsetzung der Ziele in den nicht hierarchisch organisierten und zunehmend komplexen Strukturen der Weltgesellschaft. Es sind nicht primär Zielkrisen im Sinne des Übergangs zu neuen Wertorientierungen, sondern Steuerungskrisen.28 Solidarität im christlichen Sinn muss subsidiär organisiert und wahrgenommen werden. Sie unterscheidet sich von einer Kollektivierung der Haftung. Subsidiäre Solidarität ist auf die Ermöglichung von individueller Gestaltungskompetenz angelegt, als Hilfe zur Selbsthilfe, nicht als paternalistische Bevormundung. Nach Maßgabe des Subsidiaritätsprinzips brauchen wir zur Sicherung globaler Solidarität keine Weltregierung, sondern eine neue globale Handlungsfähigkeit durch die Koordination unterschiedlicher Akteure.29
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»Die Letzten werden die Ersten sein« – Transzendierung der Maßstäbe von Erfolg Das evolutionäre Erklärungsmodell von Ordnungsbildung durch das Prinzip der Konkurrenz und der auf sie bezogenen Nützlichkeit im Wettbewerb ist das erfolgreichste Paradigma moderner Wissenschaft. Es nimmt aus Mangel an Wahr-
27 Wilhelms 2001: 131–137. 28 Ebd.: 132. 29 Vgl. dazu aus zivilökonomischer Perspektive: Benedikt XVI. 2009: Nr. 37–42.
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heitstheorien nicht selten den Charakter eines Weltbildes an.30 Dieser Hintergrund ist mitverantwortlich dafür, dass das Konkurrenzprinzip des Marktes bisweilen wie ein metaphysisches Konzept der Fortschrittsgenerierung oder wie eine »Götze« (Kompendium der Soziallehre, Nr. 349) verabsolutiert wird. Deshalb erscheint es wichtig, grundsätzlich nach der Reichweite der Logik des Konkurrenzprinzips und seinem Verhältnis zur Logik der Solidarität, wie sie sich im christlichen Evangelium findet, zu fragen.31 Es gibt wesentliche Differenzen zwischen der Deutung der Welt im Fluchtpunkt der Konkurrenz und der christlichen Wirklichkeitssicht: a) Nach christlicher Überzeugung ist das zentrale Ziel allen menschlichen Strebens, nämlich das ewige Leben oder die Schau Gottes, kein knappes Gut, das sich sinnvoll in den Kategorien des Wettbewerbs denken lässt. Die Vorstellung einer Konkurrenz um das beschränkte Angebot von Plätzen im Himmel ist der biblischen Vorstellung fremd. Wenn möglicherweise viele dieses Lebensziel verfehlen, ist der Grund dafür nicht, dass andere schneller oder besser sind und ihnen zuvorkommen, sondern, dass sie selbst sich der Annahme der Gnade verschließen. Nicht durch Konkurrenz zum Mitmenschen, sondern durch liebende Zuwendung zu ihm öffnet sich der Mensch der Gnade Gottes. Selbst wenn Paulus vom Wettkampf ums ewige Leben spricht (1 Kor 9,24) ist dies kein Paradigma der Konkurrenz. Denn Liebe, das zentrale christliche Gut, ist nicht ein Gegenstand oder Wert, der unter den Bedingungen von Knappheit und Konkurrenz konsumiert wird, sondern ein Gut, das sich in der Logik des solidarischen Weiterschenkens durch die Teilhabe vieler vermehrt. Die Ökonomie der zentralen christlichen Werte – Liebe, Glück/Heil, Freiheit – gehorcht nicht der Logik knapper Güter, um deren Besitz man konkurrieren kann, sondern der Ökonomie des Schenkens.32 b) Literarisch ist eine der wesentlichen Besonderheiten der Bibel, dass sie die Geschichten von »Scheiterern« und Verlierern – sei es der Prophet Jeremias oder Jesus am Kreuz – bewahrt. Damit wird nicht das Scheitern selbst verherrlicht, sondern der Blick kritisch geweitet, insofern das, was vor Gott zählt und langfristig gelingendes Leben bringt, nicht identisch ist mit dem,
30 Vogt 1997. 31 Vgl. dazu auch Vogt 2009a; zu den hier nur angedeuteten sozialpolitischen Aspekten biblischer Ethik vgl. Durchrow 1994. 32 Vgl. dazu Hoffmann 2009; Benedikt XVI. 2009: Nr. 34–39.
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was unter Menschen als Erfolg bewertet wird. Die Bibel setzt auf die Stärke der Schwachen.33 Sie stellt sich an die Seite der Armen und der Außenseiter und deckt von dorther das Unrecht unter Menschen auf. Dabei geht es stets um die Kritik von Unrecht und Selbstüberheblichkeit erfolgreicher Menschen, nicht um Leistungsfeindlichkeit. So fordert die Bibel – wie etwa das Gleichnis von den Talenten zeigt (Mt 25,14–39) – durchaus mit aller Strenge eine individuelle Entfaltung der jeweiligen gottgegebenen Talente. Die jüdisch-christliche Option für die Schwachen zielt nicht auf Nivellierung von Unterschieden, sondern auf Gerechtigkeit und Solidarität der Starken mit den Schwachen. c) Die zahlreichen Varianten der Sprüche zum Erster und Letzter Sein, die eine Umkehr der Erfolgs- und Wettbewerbsethik implizieren und den, der dient und zurücksteckt, bevorzugen (vgl. z.B. Mk 10,44: »Wer bei euch der erste sein will, der sei der Diener aller«) und den Mächtigen vom Thron stürzen sehen (Lk 1), sind ein deutlicher Kontrapunkt zur Leistungs- und Wettbewerbsmoral. Der Maßstab Gottes transzendiert jede Rangordnung unter Menschen. Er wirkt befreiend, indem er das Konkurrenzdenken aufbricht und die »Kleinen« und Geringgeschätzten ermutigt, indem er auf ihre gleichrangige Würde verweist. d) Die Barmherzigkeit Gottes ist nicht der Lohn für Leistung, man muss sie nicht verdienen; sie wird ohne Vorleistung geschenkt. Das vom Evangelium geforderte gute Handeln ist Antwort auf die Zuwendung und Nähe Gottes, Ausdruck der von ihm geschenkten Freiheit. Wer christliche Ethik zum verlängerten Arm bürgerlicher Leistungsmoral macht, verkehrt sie in ihr Gegenteil. Der spezifisch christliche Sinn der Ethik transzendiert in fundamentaler Weise jedes Konkurrenzdenken. Dies muss sich jedoch nicht materialethisch an einem inhaltlichen Gegensatz christlicher Normen zu denen ökonomischwettbewerbsorientierter Ethik festmachen, sondern primär an einem neuen Sinnhorizont, der Leistung (im Sinne eines umfassenden Strebens nach geistigen und materiellen Werten) aus Freiheit statt aus Angst um das eigene Wohl ermöglicht. Die »Gute Botschaft« Jesu ist, dass Gottes Barmherzigkeit nicht Leistung und Wohlverhalten belohnt, sondern dass Gott den ersten Schritt geht und den Menschen durch seine befreiende Zuwendung zum Tun des Guten befähigt. Wäre die
33 Zu einem Versuch der Grundlegung Christlicher Sozialethik aus diesem Ansatz vgl. Vogt 2009.
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Anerkennung Gottes der Lohn von Leistung, wäre der Mensch sein Sklave und nicht zur Freiheit der Kinder Gottes befreit (Gal 5). Die Logik des Reiches Gottes ist nicht die Belohnung von Leistung, sondern die Ermöglichung von Freiheit, deren Früchte ein gutes Leben und damit auch Solidarität und Leistungsfähigkeit in einem umfassenden Sinne sind. Maßstab eines solchen von innen her verwandelten Leistungsstrebens ist nicht der relative Vorteil gegenüber anderen, sondern die Übereinstimmung mit sich selbst als Entfaltung der gottgeschenkten Talente. Sie fördert eine Kultur der Anerkennung, die dazu befähigt, ohne Verbissenheit im Wechselspiel von Erfolg und Misserfolg an den gesellschaftlichen Wettbewerbsprozessen teilzunehmen. Das Wissen um die Kontingenz der Kriterien aller menschlichen Bewertungsmaßstäbe und um die personale Würde, die auch durch Misserfolg nicht zerstört wird, negiert nicht die Bedeutung von Erfolg und Wettbewerb, aber es ermöglicht ein entspanntes Verhältnis zu ihnen, was Leistungsfähigkeit und -freude eher begünstigt. Das Wissen darum, dass Gott auch die Schwachen und Verirrten nicht verloren gibt, ermutig dazu, immer wieder einen neuen Anfang zu wagen und verpflichtet die Gläubigen, solche Chancen anzubieten und zu unterstützen. Psychologisch gesehen ist eine solche Ethik der Anerkennung Voraussetzung für eine humane Kultur des Wettbewerbs, die den Schwächeren mitkommen lässt und die Fähigkeit fördert, ohne Verzweiflung verlieren zu können. Eine auf Selektion ausgerichtete Leistungsmoral schafft eine Atmosphäre lähmender Angst, eine Kultur der Anerkennung dagegen ist die Basis, auf der einzelne Wettbewerbssituationen produktiv bewältigt werden können. Gerade in der Bildung, die in Deutschland nach den Ergebnissen der Pisatests vor allem daran krankt, dass sich viele Schülerinnen und Schüler sehr früh abgestempelt fühlen und resigniert sind, wird deutlich, wie sehr eine Kultur der Anerkennung die Basis dafür ist, Leistungswille und -fähigkeit zu entdecken und zu entfalten. Die Stärke der Schwachen und ihre Bedeutung für eine humane Gesellschaft Oft sind es gerade die Unangepassten und die Verlierer der standardisierten gesellschaftlichen Konkurrenzprozesse, die Neues bringen. So waren jedenfalls viele Wegbereiter für neue Wege in Malerei, Literatur, Musik und Wissenschaft zunächst Scheiterer, die lange auf den Erfolg warten mussten. Wettbewerb, der kurzatmig auf unmittelbaren Erfolg ausgerichtet ist, grenzt nicht selten jene aus, die die Hoffnungsträger von morgen sind, weil sie nicht in der Anpassung an
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gegenwärtige Erfolgskriterien aufgehen, sondern kreativ die Methoden des Erkennens sowie die Maßstäbe des Schönen hinterfragen und erneuern. Solidarität mit denen, die in einem bestimmten System als schwach erscheinen, ist nicht leistungsfeindlich, sondern ist auch gesellschaftstheoretisch ein wichtiger Weg, um die Potentiale künftiger Leistungsträger der Gesellschaft zu erschließen, zum Beispiel durch Bildung für alle oder durch eine Familienpolitik, von der die künftigen Leistungspotentiale der Gesellschaft ganz wesentlich abhängen. Solidarität erschließt – um es mit einem ökonomischen Begriff zu sagen – das »Humankapital« von morgen. Sie ist nicht als Kompensation für mangelnden Erfolg in Konkurrenzprozessen zu begreifen und zu gestalten, sondern als Ermöglichung von Leistung, als empowerment und Hilfe zur Selbsthilfe, die schöpferische Fähigkeiten freisetzt und gesamtgesellschaftlich eine Investition in die Leistungsfähigkeit und den Leistungswillen möglichst vieler darstellt.34
O RDNUNGSETHISCHE K ONSEQUENZEN Defizite des Dualismus zwischen Wettbewerbsethik und Solidarität Ordnungsethisch ist der Dualismus von Wettbewerbsethik und Solidaritätsethik unbefriedigend. Wenn man genau hinschaut, erscheint zugleich auch die Begrenzung des Wettbewerbs durch Protektionismus, Korruption, Monopole und Bürokratisierung als Wurzel von Armut. Trotz der Öffnung globaler Märkte gibt es einen starken Protektionismus, beispielsweise im Weltagrarmarkt. Man kann also mit guten Argumenten auch gerade die Begrenzung des Wettbewerbs als Armutsursache diagnostizieren. In manchen Bereichen wäre ein Zugang zu Märkten unter fairen Bedingungen die beste Hilfe zur Selbsthilfe, die schon bei relativ geringen Veränderungen das Entwicklungspotential vieler südlicher Länder ganz wesentlich verbessern könnte. Karl Homann bringt die Provokation traditioneller christlicher Ethik durch eine Wettbewerbsethik auf den Punkt: »Wettbewerb ist solidarischer als Teilen. Wettbewerb ist die effizientere Form der Caritas unter den Bedingungen
34 Hier unterscheiden sich die Konfessionen christlicher Ethik erheblich. Während der Protestantismus stärker auf Fürsorge und »innerweltliche Askese« setzt, konzentriert sich katholische Sozialethik traditionell eher auf Selbsthilfe im Sinne der kooperativen Solidarität. Vgl. Weber 2005; Gabriel/Große Kracht 2004; Gabriel/Ritter 2005.
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moderner Gesellschaft«35. Konkurrenz fördere Kreativität und Freiheit sowie die Dynamik der Wohlstandsentwicklung zum Wohle aller weit besser als die hergebrachte Identifizierung des Ethischen mit altruistischem Vorteilsverzicht. Ohne diese auch im kirchlichen Raum breit geführte Debatte hier im einzelnen festhalten zu können, möchte ich als Resümee und Ausgangsfrage für die folgende ordnungspolitische Abschlussreflexion festhalten: Wir haben zugleich zu viel und zu wenig Konkurrenz. Es fehlt an einer exakten Analyse ihrer Bedingungen und Grenzen, die eine konstruktive Zuordnung zu solidarischen Prinzipien ermöglicht. Die verspätete Anerkennung des Marktes in der kirchlichen Soziallehre Die kirchliche Soziallehre, die zuerst zwischen Kapitalismus und Sozialismus zu vermitteln suchte, sprach sich erst 1991 mit der Enzyklika Centesimus annus (Nr. 19, 42, 48) für die sozialethische Anerkennung des freien Marktes und damit des Konkurrenzprinzips als Grundlage wirtschaftlicher Ordnungen aus. Im Kompendium der Soziallehre der Kirche (2004) findet sich im siebten Kapitel ein Abschnitt zur Rolle des freien Marktes: »Der freie Markt ist eine in sozialer Hinsicht wichtige Institution, weil er effiziente Ergebnisse in der Produktion der Güter und Dienstleistungen sichern kann. […] Ein wirklich von Wettbewerb bestimmter Markt ist ein wirkungsvolles Mittel, um wichtige Ziele der Gerechtigkeit zu erreichen«36. Systematisch betrachtet liegen der ethischen Anerkennung des regulierten Konkurrenzprinzips in Form der Marktwirtschaft vor allem drei Erkenntnisse zugrunde: (1) Der Markt hat positive Effekte für das soziale und wirtschaftliche Leben. Er motiviert zu Leistungsbereitschaft und effektiven Produktionsmethoden, er kontrolliert die Wettbewerber und erzwingt niedrige Preise. (2) Da der Staat nicht in eigener Regie eine direkte Kontrolle der wirtschaftlichen Akteure und eine flächendeckende Versorgung aller Bürger gewährleisten kann, kommt ihm lediglich eine Assistenzfunktion zu. Ihm obliegt die Schaffung gerechter Rahmenbedingungen für den sozialen und ökonomischen Austauschprozess. (3) Die Durchsetzung von Gemeinwohlinteressen mit Hilfe von Wettbewerbs-
35 Vgl. Homann 2002: 20. 36 Päpstlicher Rat für Gerechtigkeit und Frieden 2006: Nr. 347; vgl. Johannes Paul II. 1991: Nr. 34.
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strukturen, die das individuelle Vorteilsstreben statt den Gemeinsinn ansprechen, hat zur Konsequenz, dass ein am Eigeninteresse orientiertes Handeln als adäquate Anpassung an die gewollten gesellschaftlichen Strukturen erscheint und insofern auch moralisch anerkannt werden muss. Gewinn hat eine berechtigte Funktion als »Indikator für Zustand und Betrieb eines Unternehmens«. Das Erfolgsgeheimnis der Sozialen Marktwirtschaft ist, dass ihre Grundelemente die gleiche anthropologische Basis haben wie die Gerechtigkeitstheorie von Aristoteles.37 Man kann diese mit den drei Begriffen Konkurrenz, Kooperation und Solidarität umschreiben: Die rechtsstaatliche Rahmenordnung sorgt für Fairness bei den Konkurrenzprozessen; der Marktprozess ermöglicht Arbeitsteilung und damit Kooperation, ohne dabei die Konkurrenzdynamik aufzuheben; der Sozialstaat bringt die Solidarität institutionell zum Ausdruck. Die Dynamik der Sozialen Marktwirtschaft beruht darauf, dass die Elemente nicht nur unverbunden nebeneinander stehen, sondern sich wechselseitig durchdringen, begrenzen und stabilisieren. In den letzten Jahren hat sich die Marktwirtschaft erfolgreich über die ganze Welt verbreitet. Hierbei hat sich jedoch gezeigt, dass sie ihre soziale Dimension oft nicht hinreichend entfalten kann. Sollen die sozialen Funktionen des Marktes wirksam werden, bedarf es einer intensiven Reflexion der Bedingungen und Grenzen des Konkurrenzprinzips. Die Soziale Marktwirtschaft setzte hohe kulturelle und institutionelle Standards voraus. Ihre positive Dynamik ist abhängig von einem funktionierenden Rechtsstaat sowie einer Kultur der Initiative und Verantwortungsbereitschaft. Sie ist ein Wagnis der Freiheit, das nicht ohne Bildung, Kultur und Rechtsstaat funktionieren kann. Freiheit durch Fairness und intelligente Selbstbeschränkung Institutionelle Rahmenbedingungen für fairen Wettbewerb Die wichtigste ordnungspolitische Schlussfolgerung aus der Analyse des Verhältnisses von Konkurrenz und Solidarität ist, dass der Staat möglichst wenig durch direkte Interventionen in den Wettbewerb eingreifen sollte. Seine Aufgabe ist die Herstellung einer politisch-rechtlichen Rahmenordnung, die die Sicherung des Eigentums und die Vertragsfreiheit garantiert, sowie die Schaffung von Chancengleichheit durch die Verhinderung von Monopolstellungen. Des Weiteren obliegt es dem Staat, für die soziale Sicherung in den Bereichen zu sorgen,
37 Vgl. Vogt 2012.
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die nicht über die Steuerung durch Märkte oder gesellschaftliche Eigeninitiative abgedeckt werden können. Eine weitere Bedingung für einen fairen Wettbewerb ist die Schaffung von Leistungsäquivalenten. Hierbei muss die Konkurrenz- oder Verhandlungssituation so beschränkt werden, dass eine Ausnutzung einseitiger Machtverhältnisse unterbunden wird. Nötig ist eine soziale und ökologische Rahmenordnung, die Chancengleichheit herstellt und eine Externalisierung von Kosten verhindert. Tugenden zur Integration von Markt und Moral Für einen fairen Wettbewerb sind nicht nur rechtliche Regelungen erforderlich, sondern es bedarf auch einer freiwilligen moralischen Mehrleistung der Individuen. Diese hat im Kern drei Dimensionen, die je eigene Formen moralischer Integrität und Initiative erfordern: (1) Die Geltung einer Rechtsordnung beruht nie allein auf der Sanktionierbarkeit ihrer Normen, sondern immer auch komplementär auf der Grundlage freiwilliger Akzeptanz durch die Individuen. (2) Rechtsnormen sind oft nur sehr allgemein und müssen von den einzelnen Individuen in ihren jeweiligen Handlungsfeldern interpretiert, konkretisiert und implementiert werden. (3) Innovationen müssen von den einzelnen Akteuren in Wirtschaft, Wissenschaft und Praxis ausgehen.38 Diese drei Grundfunktionen der Moral im Kontext der Wirtschaft – komplementär, implementär und innovatorisch – umschreiben die Grundbereiche der jenseits des Rechts liegenden Übergänge zwischen Moral und Markt. Sie verdeutlichen, dass ein Markt auf Dauer nicht ohne individuelle Verantwortungsbereitschaft funktionieren kann. Die verbreitete Vorstellung, dass der Markt eine moralfreie Sphäre sei, ist ein Irrtum. Subsidiarität als Basis des »sozialen Kapitalismus« Insofern Sozialpolitik die Voraussetzungen für Leistung durch Risikoschutz, Bildungszugang und Beteiligung schafft, ist sie als integraler Bestandteil der Marktwirtschaft zu werten. Das Soziale ist unter diesem Blickwinkel eine Investition in die Entwicklung und Leistungsfähigkeit (künftiger) Marktteilnehmer. Der Sozialstaat soll nicht die vom Strukturwandel Betroffenen entschädigen, sondern sie in die gesellschaftliche Interaktion reintegrieren. Dieser Integrationsanspruch muss heute angesichts des globalen Wettbewerbs sowie des demografischen Wandels neu gefunden und durchgesetzt werden. Das wesentlich von christlichen Grundlagen inspirierte Modell der Sozialen
38 Vgl. Korff 1992.
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Marktwirtschaft und des sogenannten »rheinischen Kapitalismus« scheint an sein Ende gekommen zu sein. Aber auch der »Erlösungsliberalismus« verliert seine Anziehungskraft.39 Die einseitige Interpretation des Subsidiaritätsprinzips, die auf eine Privatisierung von Risiken hinausläuft, statt die heute neu auszubalancierende Zusammengehörigkeit von Eigenverantwortung und Solidarität herauszuarbeiten, ist meines Erachtens der Hauptgrund für den Verlust sozialpolitischer Glaubwürdigkeit auch in kirchlichen Stellungnahmen. Im Sinne der Ermöglichung von Eigenverantwortung erfordert Subsidiarität heute vom Staat verstärkte Anstrengungen: Dazu gehören unter anderem die Sicherung öffentlicher Güter wie Bildung und Gesundheitsversorgung für alle, intergenerationelle Gerechtigkeit durch Familienund Umweltpolitik sowie eine Begrenzung der Staatsverschuldung. Freiheit durch intelligente Selbstbeschränkung Im Blick auf die Exklusion der Armen sowie den Ausverkauf der ökologischen Lebensgrundlagen werden die Begrenzung der Konkurrenz und ihre Umlenkung auf langfristig und gesamtgesellschaftlich wünschenswerte Ziele zu einer Existenzfrage der Zukunftssicherung. Grenzenloser Wettbewerb führt zur Atemlosigkeit kurzfristiger Ziele. Der ständige Wettbewerb lässt keine Atempausen, in denen der Einzelne innehalten und überlegen kann, was er selbst wirklich vorrangig braucht und was die Sinnperspektive des eigenen Lebens ist, von der her die Güter, die man im Wettbewerb erringen kann, erst ihren Wert erhalten. Notwendig ist eine »intelligente Selbstbegrenzung«40, damit die Dynamik des wirtschaftlichen Wettbewerbs nicht so sehr das Handeln der Marktteilnehmer und den Gang der gesellschaftlichen Entwicklung bestimmt, dass der Mensch zu ihrem Sklaven wird, statt die Wirtschaft als Mittel zur Erreichung seiner humanen und kulturellen Ziele zu nutzen.41 Die Logik des Wettbewerbs darf nicht mit der Logik von Geldmärkten gleichgesetzt werden, weil dies sonst zu einseitigen Dominanzen der Reichen in allen Bereichen führt; notwendig ist vielmehr eine Abgrenzung von »Sphären der Gerechtigkeit«42, damit sich die gesellschaftlichen Teilsysteme nach ihrer je eigenen Logik entwickeln können und sich eine differenzierte Vielfalt unterschiedlicher Chancen entsprechend der Vielfalt unterschiedlicher Begabungen und Handlungssysteme herausbildet.
39 Gabriel/Große Kracht 2004. 40 Offe 1989. 41 Vgl. Sen 2002. 42 Walzer 1992.
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Die Rolle des Marktes und verantwortliches Unternehmertum Die Probleme der globalen Armut lassen sich nicht nach dem caritativen Muster des Teilens und Abgebens lösen: Sie haben strukturelle Ursachen und bedürfen daher eines spezifisch strukturethischen Zugangs für ihre Bewältigung. Es fehlt an den rechtlichen, sozialen, ökologischen kulturellen und ethischen Voraussetzungen, um Markt und Moral verbinden zu können. So tritt Muhammad Yunus, der »Banker der Armen«, der 1974 in Bangladesch die Grameen-Bank mitgründete, dezidiert für eine Stärkung der freien Marktwirtschaft ein, weil diese den Armen mehr und besser helfe als Almosen.43 Er plädiert für offenen Wettbewerb als Grundlage von Freiheit, Leistung und Gerechtigkeit. Seine Devise heißt: Business statt Almosen. Almosen helfen für einen Tag – Geschäftskredite für ein ganzes Leben. Nach seiner Überzeugung sind die Armen weder zu dumm noch zu passiv zum Geldverdienen, sondern ihnen fehlt vor allem der Zugang zu Kapital und Märkten. Vor dem Hintergrund dieser Analyse fordert Yunus ein Menschenrecht auf Zugang zu Kapital und bietet dafür mit den Mikrokrediten ein innovatives Konzept. Mikrokredite werden in der jüngsten Sozialenzyklika ausdrücklich genannt und positiv bewertet: »Es entwickelt sich ein ›ethisches Finanzwesen‹, vor allem durch den Kleinkredit und allgemeiner die Mikrofinanzierung. Diese Entwicklungen rufen Anerkennung hervor und verdienen eine breite Unterstützung.«44 Mikrofinanzen sind ein wirtschaftliches Erfolgskonzept. Mit ihrer Hilfe scheint zu gelingen, was sonst auseinanderklafft: Geld verdienen und Entwicklung fördern, Marktwirtschaft und Solidarität, Armenorientierung und innovatives Wirtschaften, Gewinn und Gewissen. Die Vision eines Unternehmertums, in dem sich wirtschaftliches Denken mit sozialem Nutzen verbindet, ist ein Schlüssel zur Überwindung von Armut. In der Bewältigung von Risiken setzt sie nicht auf kapitalförmige Sicherheiten, was dazu führen würde, dass nur die Reichen Zugang haben, sondern auf das soziale Kapital einer wechselseitigen Bürgschaft der Menschen. Dabei wird Solidarität zur revolutionären Kraft. Dies entspricht dem Geist der kirchlichen Soziallehre sowie den Erfahrungen der solidarischen Überwindung der sozialen Fragen im späten 19. Jahrhundert in Europa. Auch damals war das Genossenschafts- und Verbändewesen von zentraler Bedeutung.45 Yunus formuliert ein in vieler Hinsicht
43 Yunus 2007. 44 Benedikt XVI. 2009: Nr. 45; vgl. auch ebd.: Nr. 65. 45 Vgl. Vogt 2012: 9–12.
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vergleichbares Konzept unter anderen Bedingungen und hat damit eine Perspektive entwickelt, um die heutige globale soziale Frage produktiv anzugehen. Insofern er bei kleinen sozialen Gruppen ansetzt und programmatisch Eigeninitiative fördert, kann man sein Konzept als subsidiäre Solidarität kennzeichnen. Ihr Schlüssel ist die Umkehr der sozialen Dynamik von einer auf Selektion und Ausschluss ausgerichteten Konkurrenz zu einer »solidarischen Konkurrenz«, die sich aus sozialen Netzwerken speist und diese stärkt. Insbesondere im Blick auf die Bewältigung von Kollektivgutproblemen wie etwas der Klimaschutz oder Sicherheit wird die Entwicklung einer globalen »Collaborative Culture«46 zur entscheidenden politisch-strategischen, wirtschaftlichen und sozialen Herausforderung für die Zukunft unserer Zivilisation.
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Konkurrenz – Ordnungsprinzip zwischen Integration und Desintegration P ETER I MBUSCH
Kann Konkurrenz ein Ordnungsprinzip moderner Gesellschaften sein? So ließe sich eingangs eines soziologischen Beitrags über den Begriff und das Phänomen der ›Konkurrenz‹ trefflich fragen. Konkurrenz in ihren unterschiedlichen Formen ist heute scheinbar zu einem grundlegenden Prinzip sozialer Interaktion geworden, als grundlegende Form gesellschaftlicher Organisation ist sie seit der Durchsetzung von marktförmig strukturierten Gesellschaften verbreitet (und weitgehend akzeptiert). Dass das Konkurrenzprinzip mittlerweile quasi einen universellen Charakter erlangt hat, ließe sich an einer Fülle von Beispielen aufzeigen. Doch wie schafft es das Konkurrenzprinzip, Integration zu befördern, wie lässt sich über Konkurrenz Integration bewerkstelligen? Fördert nicht Konkurrenz eher Dissoziation und Zerfall? Führt sie nicht zu Dauerstreit und sozialen Konflikten? Befördert Konkurrenz damit am Ende nicht eher gesellschaftliche Desintegration als soziale Integration? Und von welcher Konkurrenz sprechen wir hier eigentlich? Denken wir bei Konkurrenz eher an das ökonomische Prinzip, welches marktwirtschaftlich organisierten Gesellschaften scheinbar unverbrüchlich als makrosoziologischer Rahmen zur Strukturierung von Gesellschaften zugrunde liegt, oder an anthropologische Grundlagen menschlicher Vergesellschaftungen, welche persönliche Kämpfe und Rivalitäten mit Mitmenschen auf ganz unterschiedlichen Feldern einschließt und eher für eine mikrosoziologische Betrachtung der Gesellschaft taugt? Im Folgenden möchte ich der Frage nach der Bedeutung der Konkurrenz für die Integrations- und Desintegrationsproblematik moderner Gesellschaften nachgehen. Dazu werde ich zunächst einige soziologische Einsichten zum Wesen und zum Gehalt der Konkurrenz vorstellen, um dann nach der Bedeutung der Konkurrenz als gesellschaftsstrukturierendem und gesellschaftstauglichem Prinzip zu
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fragen. Dabei werde ich vor allem unterschiedliche Arten und Formen der Konkurrenz in ihren Konsequenzen für Integration und Desintegration beleuchten und dabei auch auf die heute gängigen, aber durchaus schädlichen Apotheosen des Konkurrenzdenkens eingehen, welche den Zusammenhalt eines Gemeinwesens zu unterminieren drohen. Schließlich möchte ich einige sozialverträgliche Formen der Konkurrenz in Bezug auf soziale Integration benennen, aber auch auf die negativen Wirkungen übersteigerter Konkurrenzvorstellungen in Form sozialer Desintegrationsprozesse hinweisen. Meine These wird dabei sein, dass nur ein geordnetes Verhältnis von Konkurrenz und Kooperation sowie die effektive Einhegung des Konkurrenzprinzips gesellschaftliche Integration befördern und soziale Desintegration zu vermeiden in der Lage ist.
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Obwohl Konkurrenz ein Grundprinzip moderner, kapitalistischer Gesellschaften ist, haben sich doch nur vergleichsweise wenige Soziologen mit dem Begriff und seinen Implikationen eingehender auseinandergesetzt. Nicht, dass es nicht genügend Abhandlungen über bestimmte Formen und Typen der Konkurrenz gäbe, aber das große Bild der Konkurrenz als Wettbewerb oder Wettstreit wird fast zur Gänze von den Annahmen der Wirtschaftswissenschaften mit ihren beizeiten dubiosen Prämissen und Modellplatonismen geprägt.1 Demzufolge müssen Wettbewerb und Konkurrenz als segensreiche und für alle Beteiligten positive Effekte verbürgende, konstitutive Elemente von Marktgesellschaften betrachtet werden, die nicht nur der Natur des Menschen angeblich am besten entsprechen, sondern auch die besten Fähigkeiten des Menschen zutage fördern würden. Schon Theodor Geiger hatte dazu früh in seiner soziologischen Auseinandersetzung mit der Konkurrenz geschrieben: »Das öffentliche Denken hat sich von der Wirtschaftskonkurrenz so vereinnahmen lassen, daß die Anwendung des Konkurrenzbegriffs auf andere Gebiete gleichsam als Analogie angesehen wurde. Die Besonderheiten der Wirtschaftskonkurrenz wurden generalisierend auf den Konkurrenzbegriff übertragen, obwohl dies nur durch angestrengte Auslegungskünste möglich war.«2 Max Weber hatte in seiner Schrift »Wirtschaft und Gesellschaft« versucht, das ökonomische Denken auf seine rationalen Grundlagen zurückzuführen und die reine Marktvergesellschaftung als rationalste Form des Wirtschaftens zu betrach-
1
Vgl. Fuchs-Heinritz et al. 1994: 360; Reinhold 2000: 355.
2
Geiger 1941/2012.
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ten, sich dem Wesen der Konkurrenz dabei aber durchaus differenziert angenähert. In seinen soziologischen Grundbegriffen betrachtete er die Konkurrenz als eine Form des Kampfes, wobei er Kampf machttheoretisch als eine soziale Beziehung fasste, bei der das Handeln an der Absicht der Durchsetzung des eigenen Willens gegen Widerstand orientiert ist. »Der ›friedliche‹ Kampf soll ›Konkurrenz‹ heißen, wenn er als formal friedliche Bewerbung um eigene Verfügungsgewalt über Chancen geführt wird, die auch andere begehren.«3 Die geregelte Konkurrenz setzte er davon insoweit ab, als sie sich in ihren Zielen und Mitteln an einer Ordnung orientiert. Den ohne sinnhafte Kampfabsicht gegeneinander geführten (latenten) Existenzkampf der Menschen um Lebens- oder Überlebenschancen fasste er hingegen als »Auslese« – wobei er hier noch zwischen »sozialer Auslese« und »biologischer Auslese« differenzierte.4 Der letztgenannte Aspekt war Weber wichtig, weil jedes Kämpfen und Konkurrieren auf Dauer betrachtet zu einer Art Auslese derjenigen führt, die für den Sieg im Kampf über die wichtigsten persönlichen Qualitäten verfügen. Weber war sich allerdings darüber im Klaren, dass diese Qualitäten höchst unterschiedlich ausfallen können: »ob mehr physische Kraft oder skrupellose Verschlagenheit, mehr Intensität geistiger Leistungs- oder Lungenkraft und Demagogentechnik, mehr Devotion gegen Vorgesetzte oder gegen umschmeichelte Massen, mehr originale Leistungsfähigkeit oder mehr soziale Anpassungsfähigkeit, mehr Qualitäten, die als außergewöhnlich, oder solche, die als nicht über dem Massendurchschnitt gelten: – darüber entscheiden die Kampf- und Konkurrenzbedingungen, zu denen, neben allen denkbaren individuellen und Massenqualitäten auch jene Ordnungen gehören, an denen sich, sei es traditional, sei es wertrational oder zweckrational, das Verhalten im Kampf orientiert. Jede von ihnen beeinflusst die Chancen der sozialen Auslese.«5 So sah Weber denn auch in der Marktvergesellschaftung zwar einerseits die unpersönlichste praktische Lebensbeziehung, welche Menschen miteinander eingehen können, andererseits aber zugleich ein von rationalen Zweckinteressen an Tauschgütern bestimmtes Handeln; einerseits einen rationalen Preisbildungs- und Distributionsmechanismus, andererseits eine im Tauschakt angelegte Form der Gewinnung ökonomischer Macht. Als paradoxalen Effekt bringt die Expansion der Tauschbeziehungen und die intensive Konkurrenz dann bei Weber sogar eine relative Befriedung der sozialen Verhältnisse hervor. Konkurrenz ist bei Weber also ein durchaus konfliktträchtiges Geschehen, welches nicht
3
Weber 1921/1976: 20.
4
Ebd.: 20.
5
Ebd.
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immer – oder besser: nur unter bestimmten Bedingungen – rationale Ergebnisse produziert, denn eine von allen sakralen, ständischen und traditionalen Gebundenheiten befreite Konkurrenz führt am Ende etwa über Monopolbildungen oder auch die Beimischung von Gewalt geradewegs zur Aufhebung der Konkurrenz. Während Weber in seinen Schriften die Konkurrenz eher als eine Art Vergesellschaftungsmuster auffasst, welches Vergemeinschaftungsprinzipien entgegen gesetzt ist, betrachtet Georg Simmel in seiner Schrift über den »Streit«6 eher das Doppelsinnige der Konkurrenz, indem er ein entzweiendes und ein verbindendes Element zwischen den Konkurrenten feststellt. »Man pflegt von der Konkurrenz ihre vergiftenden, zersprengenden, zerstörenden Wirkungen hervorzuheben und im übrigen nur jene inhaltlichen Werte als ihre Produkte zuzugeben. Daneben aber steht noch diese ungeheure vergesellschaftende Wirkung […]. Die moderne Konkurrenz, die man als den Kampf aller gegen alle kennzeichnet, ist doch zugleich der Kampf aller um alle.«7 Simmel sieht hier also eine »sozialisierende Kraft der Konkurrenz«8, welche dann ausbuchstabiert und anderen Formen des Streits in ihrer Typik gegenübergestellt wird. Wie Weber fasst auch Simmel die Konkurrenz als eine Art Kampf, allerdings spezifiziert er die Typik der Konkurrenzkämpfe dahingehend, dass es sich bei solchen Kämpfen um »parallele Bemühungen beider Parteien um ein und denselben Kampfpreis«9 handelt; der Kampf selbst wird indirekt ausgetragen. Im Gegensatz zu anderen Kämpfen geht es also bei der Konkurrenz nicht primär um Offensive oder Defensive, weil sich der Kampfpreis nicht in der Hand eines der Kontrahenten befindet, sondern von dritter Seite kommt. Während bei vielen anderen Kämpfen der Sieg über den Gegner nicht nur den Siegespreis unmittelbar einbringt, sondern der Siegespreis selbst ist, so können nach Simmel bei der Konkurrenz zwei andere Kombinationen auftreten: »wo die Beseitigung des Konkurrenten die zeitlich erste Notwendigkeit ist, da bedeutet diese Besiegung an sich eben noch gar nichts, sondern das Ziel der ganzen Aktion wird erst durch das Sich-darbieten eines von jenem Kampf an sich ganz unabhängigen Wertes erreicht […]. Der Konkurrenzkampf erhält bei diesem Typus seine Färbung dadurch, dass die Entscheidung des Kampfes für sich noch nicht den Zweck des Kampfes realisiert, wie überall da, wo Zorn oder Rache, Strafe oder der ideale Wert des Sieges als solchen den Kampf motiviert. Noch mehr vielleicht unterscheidet sich der zweite Typus der
6
Simmel 1908/1992: 284–382.
7
Simmel 1903: 1012.
8
Ebd.
9
Ebd.: 1011.
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Konkurrenz von anderen Kämpfen. Bei diesem besteht der Kampf überhaupt nur darin, dass jeder der Bewerber für sich auf das Ziel zustrebt, ohne eine Kraft auf den Gegner zu verwenden.«10 Die Konkurrenz dient also im Gegensatz zu anderen Formen des Streits oder des Kampfes zugleich einem höheren Zweck: »Darin liegt nun der ungeheure Wert der Konkurrenz für den sozialen Kreis […]. Während die anderen Kampftypen […] die Werte und Kräfte der Kämpfer sich gegenseitig verzehren lassen, und als Resultat für die Gesamtheit oft nur das verbleibt, was die einfache Subtraktion der schwächeren Kraft von der stärkeren übrig lässt, wirkt umgekehrt die Konkurrenz, wo sie sich von der Beimischung der anderen Kampfformen frei hält, durch ihre unvergleichliche Kombination meistens wertsteigernd; da sie, vom Standpunkt der Gruppe aus gesehen, subjektive Motive als Mittel darbietet, um objektive soziale Werte zu erzeugen und, vom Standpunkt der Partei, die Produktion des objektiv Wertvollen als Mittel benutzt, um subjektive Befriedigungen zu gewinnen.«11 Den »Passiva der Konkurrenz« – wie Simmel die möglichen negativen Begleiterscheinungen von Konkurrenzkämpfen nennt – stehen damit bedeutende »Aktiva« gegenüber, die von ihm wie folgt sozial bilanziert werden: Freisetzung ungeheurer synthetischer Kräfte; Konkurrenz in der Gesellschaft letztlich als Konkurrenz um den Menschen; Ringen um Beifall und Aufwendung; Ringen der Wenigen um die Vielen; Verweben tausender soziologischer Fäden unter den Mitmenschen etc. Wie Weber sieht nun auch Simmel, dass Konkurrenz nicht einfach nur frei sein kann, weil sie ansonsten aufgrund ihres individualistischen Prinzips zerstörerisch wirkt. Da der einzelne Konkurrent sich immer ein Selbstzweck ist und seine Kräfte für den Sieg seiner eigenen Interessen einsetzt, bedarf es einer bestimmten Art der Regulierung der Konkurrenz. Weber nennt hier entsprechend die je spezifischen Kampf- und Konkurrenzbedingungen, Fragen der Legalität und Anerkennung der Konkurrenten, eine gewisse Marktethik oder historische Beschränkungen der Marktvergesellschaftung – Faktoren also, welche die »freie Konkurrenz« behindern, erschweren oder eben einschränken. Simmel hingegen erläutert Einschränkungen des Konkurrenzprinzips im Verhältnis des Konkurrenzkampfes zur Struktur sozialer Kreise: So seien etwa innerhalb der Familie oder in religiösen Gemeinschaften bestimmte Konkurrenzprinzipien außer Kraft gesetzt. Daneben sieht Simmel aber auch noch Fälle, in denen nicht die besonderen Zweckgehalte einer Gruppe die Konkurrenz ausschlössen oder eindämmten, sondern es Gründe jenseits inhaltlicher Interessen oder der Charakteristika der Konkurrenz selbst
10 Simmel 1908/1992: 323 f. 11 Ebd.: 325 f.
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gebe, die zu einem Verzicht auf Konkurrenz (oder bestimmte ihrer Mittel) führten. Hier nennt er etwa das sozialistische Organisationsprinzip oder das kommunistische Gleichheitsprinzip. Schließlich gibt es noch andere Modifikationen des Konkurrenzprinzips, die nicht den Verzicht auf Konkurrenz als solche bedeuten, sehr wohl aber bestimmte ihrer Mittel betreffen. Simmel unterscheidet hier »interindividuelle« und »überindividuelle« Beschränkungen der Konkurrenzmittel: Erstere finden statt, wenn eine gewisse Zahl von Konkurrenten freiwillig darin übereinkommt, auf bestimmte Praktiken, mit denen sie die anderen zu übertrumpfen trachten, zu verzichten; letztere finden statt durch Instanzen, welche jenseits der Konkurrenten und ihrer jeweiligen Interessensphären liegen – insbesondere Recht und Moral. »Es handelt sich hier um Stadien der Entwicklung, in der die absolute Konkurrenz des animalischen Kampfes ums Dasein in die relative übergeht; d.h. in der allmählich alle diejenigen Reibungen und Kraftparalysierungen ausgeschaltet werden, derer es für die Zwecke der Konkurrenz nicht bedarf.«12
V ON DER ANALYSE ZUR APOTHEOSE – ZUR B EDEUTUNG DES K ONKURRENZDENKENS Die soziologischen Klassiker Weber und Simmel sind mit der Konkurrenz als einem Vergesellschaftungsmuster noch sehr differenziert umgegangen. Zwar haben sie manchen segensreichen Effekt der Konkurrenz gesehen, zugleich aber auf deren Nachteile hingewiesen. Zudem waren sie überzeugt, dass der Konkurrenz in gewisser Weise Schranken gesetzt werden müssen, damit Konkurrenz auch die intendierten Effekte wirklich zeitigt. Einfach davon auszugehen, dass simple Konkurrenz am Ende schon das Beste für eine Gesellschaft und ihre Mitglieder bringen würde – davon waren die beiden Autoren weit entfernt. Auch wenn eines der Grundprinzipien marktförmig organisierter Gesellschaften zumindest in einem wichtigen Teilbereich aus Konkurrenz und Wettbewerb besteht, so wäre man doch – mit Geiger – schlecht beraten, wollte man die Konkurrenz umstandslos für alle gesellschaftlichen Bereiche als das geeignete Mittel der Interaktion propagieren. So verdeutlicht etwa ein Blick auf die Geschichte des Kapitalismus,13 dass es historisch meistens so gewesen ist, dass das Konkurrenzprinzip im Bereich der Wirtschaft als das zentrale Prinzip angesehen wurde, andere Bereiche der Gesellschaft aber nach anderen Prinzipien organisiert
12 Ebd.: 341. 13 Kocka 2014.
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waren. Im Bereich der Wirtschaft selbst gab es zudem historisch betrachtet sehr unterschiedliche Regelungen bezüglich der Reichweite und Tiefe der Konkurrenz, in der Regel mussten andere Instanzen darüber wachen, dass Konkurrenzprinzipien eingehalten, Regeln nicht verletzt oder die Konkurrenz schlichtweg außer Kraft gesetzt wurde. Schaut man sich beispielhaft einmal die bundesrepublikanische Wirtschaftsordnung der Nachkriegszeit genauer an, dann wird man schnell erkennen, wie komplex das Regelwerk der gewünschten, zulässigen und versagten Konkurrenzbeziehungen (gewesen) ist. Auch grundlegend anthropologisch gesprochen funktionierten die Menschen nur selten auf der Basis reiner Konkurrenzüberlegungen. Immer spielten Kooperationsaspekte eine wichtige Rolle, ohne sie wäre das langfristige Überleben der Menschen kaum möglich gewesen.14 Zwar spielt im alltäglichen Miteinander der Menschen Konkurrenz als Handlungsmuster und Konkurrenzdenken als Überlegung in vielerlei Hinsicht eine wichtige Rolle, aber niemand will offenbar in einer Gesellschaft leben, in der diese Prinzipien ausschließlich handlungsleitend werden. Zu präsent ist dafür offensichtlich das Wissen, dass Konkurrenz in starkem Maße Ungleichheit befördert und Konflikte herauf beschwört, die ihrerseits wieder Folgewirkungen für die Integrationsfähigkeit moderner Gesellschaften zeitigen.15 Nun lässt sich seit einigen Jahrzehnten feststellen, dass die eingelebten Formen von Konkurrenz und Kooperation ins Wanken geraten sind, viele Schranken der Konkurrenz geradezu eingerissen wurden. Sowohl in der gesellschaftlichen Verfasstheit marktwirtschaftlicher Ordnungen wie auch im alltäglichen Nebenoder Miteinander der Menschen hat sich ein Paradigmenwechsel ereignet, der vor allem mit der weltweiten Durchsetzung und nachfolgenden Hegemonie des »neoliberalen« Denkens zu tun hat. Dieses Denken und seine beherrschenden marktorientierten Prinzipien, die sich sozio-ökonomisch unter die Stichworte Liberalisierung, Deregulierung und Privatisierung16 subsumieren lassen, haben die Konkurrenz nicht nur der unter dem »neoliberalen Regime« lebenden Menschen, sondern auch ihrer Institutionen und Organisationen deutlich befördert. Konkurrenz und Wettbewerb werden seither beinahe als Allheilmittel für alle möglichen Probleme gepriesen, sie haben Einzug in Gesellschaftsbereiche gehalten, von denen zuvor angenommen worden war, dass sie nicht sinnvoll nach Konkurrenzaspekten strukturiert werden könnten.17 Trotz der seinerzeitigen Warnung von
14 Voland 1996; Jessen 2014. 15 Werron 2010; Imbusch/Heitmeyer 2012. 16 Biebricher 2012; Harvey 2005. 17 Binswanger 2012; Wetzel 2013.
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Jürgen Habermas18 vor dem fortschreitenden Übergreifen der »Systemimperative« auf die »Lebenswelten« der Menschen mit all ihren negativen Folgen, findet sich heutzutage in öffentlichen Diskursen geradezu eine Apotheose der Konkurrenz: So wird Konkurrenz mit Effizienz und Effektivität kurzgeschlossen, Konkurrenz wird mit Wettbewerbsfähigkeit gleichgesetzt, Konkurrenz und deren negative Folgen werden vielfach naturalisiert und dadurch in gefährlicher Weise re-legitimiert, Konkurrenz befördert das »unternehmerische Selbst«19, Konkurrenz wird individualisiert, konkurrenzfähig sein heißt heute in gewisser Weise auch »satisfaktionsfähig« zu sein.20 Mit dem Hohelied auf Konkurrenz und Wettbewerb gehen deshalb negative Klassifikationen für all diejenigen einher, die sich dem Konkurrenzdiskurs verweigern oder Verlierer der Konkurrenz sind: Sie gelten als gestrig, haben die Zeichen der Zeit nicht verstanden, sehen nicht die angeblich immensen Vorteile der Konkurrenz, wollen nicht aus ihrer Komfortzone heraus, verweigern sich dem unausweichlichen sozialen Wandel etc. Im Kontext der neoliberalen Wirtschaftspolitiken, den entsprechenden Reformprozessen und ihren sozial höchst unausgewogenen Folgen, die das Tempo der ökonomischen und technologischen Modernisierung in den letzten Jahrzehnten bestimmt haben, hat sich zudem ein grundlegender Wandel weg von den historischen Postulaten »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit« hin zu neuen Widersprüchen und Gegenläufigkeiten vollzogen, die konstitutiv sind für die Integrationsfähigkeit moderner Gesellschaften:21 • • • • • •
Je mehr Freiheit, desto weniger Gleichheit je weniger Gleichheit, desto mehr Konkurrenz je mehr Konkurrenz, desto weniger Solidarität je weniger Solidarität, desto mehr Vereinzelung je mehr Vereinzelung, desto weniger soziale Einbindung je weniger soziale Einbindung, desto mehr rücksichtslose Durchsetzung.
Die an sich schon ambivalenten Modernisierungsprozesse weisen unter neoliberalen Vorzeichen nicht nur ihre positiven Seiten aus – schließlich beinhaltet der »Neoliberalismus« ja auch ein neuartiges Freiheitsversprechen –, sondern insbesondere auch ihre beträchtlichen Schattenseiten, die sich in zunehmenden so-
18 Habermas 1981. 19 Bröckling 2007. 20 Klein 2010. 21 Vgl. zum Folgenden Heitmeyer 1994: 46.
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zialen, ökonomischen und politischen Desintegrationsprozessen niederschlagen. Unter den neoliberalen Bedingungen können diese nicht mehr wie früher einfach als Ausgrenzung von Randgruppen begriffen werden, die dann als marginales soziales Problem erscheinen, oder als Aufspaltung in eine Art Zwei-DrittelGesellschaft gekennzeichnet werden, wobei es immerhin der Mehrheit noch recht gut geht, sondern die damit einhergehenden Verwerfungen gehen viel tiefer und betreffen deshalb Grundpfeiler der gesellschaftlichen Integration. Im Einzelnen geht es dabei um:22 • Auflösungsprozesse von Beziehungen zu anderen Personen oder von Lebens-
zusammenhängen • Auflösungsprozesse der faktischen Teilnahme an gesellschaftlichen Institutionen • Auflösungsprozesse der Verständigung über gemeinsame Wert- und Normvorstellungen. Im Folgenden soll deshalb das Verhältnis von Konkurrenz zu Integration bzw. Desintegration näher beleuchtet werden. Ich gehe davon aus, dass sich durch die Verschärfung der Konkurrenz, wie sie sich seit einiger Zeit in allen Lebensbereichen niedergeschlagen hat, die Integrationsproblematik ebenfalls verschärft. Angesichts der oben erwähnten Gegenläufigkeiten und der darin zum Ausdruck kommenden Spiralbewegung nehmen Desintegrationsprozesse in der Gesellschaft zu. Damit wird die ohnehin schon schwierige Integration moderner Gesellschaften noch schwieriger, weil ungelöste Integrationsaufgaben zunehmen und Desintegrationsprozesse, die als Gefährdungen von zivilen Kernnormen der Gesellschaft aufgefasst werden können, ihre zerstörerischen Wirkungen umso leichter zeitigen können. Dabei werde ich auch auf die Frage eingehen, welche typischen neuen Konfliktkonstellationen sich aus der neuen Konkurrenzförmigkeit der Gesellschaft ergeben, welche politischen und ökonomischen Konflikte mit der aus der verschärften Konkurrenz resultierenden erhöhten sozialen Ungleichheit zusammen hängen und wie einzelne gesellschaftliche Akteure und der Staat auf die Desintegrationsphänomene reagieren. Meine These ist, dass die Integrationsmechanismen moderner Gesellschaften zukünftig angesichts der zunehmenden Konkurrenz unter verstärkten Druck geraten und Desintegrationserscheinungen unter den veränderten gesellschaftlichen Machtverhältnissen zunehmen werden.
22 Vgl. ebd.
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D IE I NTEGRATIONS -/D ESINTEGRATIONSPROBLEMATIK VOR DEM H INTERGRUND ZUNEHMENDER K ONKURRENZ Wenn über Integration und Desintegration nachgedacht wird, kommen vielfach zunächst nicht moderne westliche Gesellschaften in den Sinn, sondern eher fragile oder zerfallende Staaten, die von lang anhaltenden Kriegen oder Bürgerkriegen, Sezessionskonflikten oder sonstigen Formen der Instabilität betroffen sind. Moderne westliche Gesellschaften, die auf einer arbeitsteiligen kapitalistischen Ökonomie (und eben dem Konkurrenzprinzip) beruhen und repräsentativ-demokratisch verfasst sind, scheinen dagegen eher ein historisches Erfolgsmodell zu sein. Alle anderen Gesellschaftstypen, angefangen von archaischen Stammesgesellschaften bis hin zu komplexen nicht-demokratischen Gesellschaften sind historisch und global gesehen auf dem Rückzug. Aber gerade moderne Gesellschaften, die sich jenseits von Extremsituationen wie Kriegen, Bürgerkriegen oder Sezessionskonflikten befinden, die den physischen oder politisch-institutionellen Bestand von Gesellschaften in Frage stellen, bleiben anfällig für Desintegrationsprozesse, weil deren Integration gerade aufgrund ihrer Freiheitsspielräume stets prekär ist. Denn gesellschaftliche Integration ist auch in Phasen eines relativ stabilen Ordnungszustandes nicht einfach gegeben, sie muss vielmehr fortlaufend ›hergestellt‹ werden. Moderne Gesellschaften beruhen insofern immer auf einer voraussetzungsreichen Reproduktionsleistung. Deshalb lautet auch eine der Grundfragen der Soziologie seit jeher »Wie ist Gesellschaft möglich?«.23 Diese Frage ist heute wieder aktueller denn je, da die gegenwärtigen sozioökonomischen und politischen Entwicklungen in den westlichen Industriegesellschaften von unübersehbaren Ambivalenzen geprägt sind. Die durch die neoliberale Globalisierung ausgelösten Umbrüche in den Wirtschaftsstrukturen, die damit einher gehenden verschärften Konkurrenzmuster und Umstellungszumutungen sowie die Verschärfung sozialer Ungleichheiten haben für zahlreiche Menschen vielfältige wirtschaftliche, soziale und politische Risiken (Zugangsprobleme zum Arbeitsmarkt, mangelnde positionale und emotionale Anerkennung, Teilnahmeprobleme an einzelnen gesellschaftlichen Subsystemen, Sinnlosigkeitserfahrungen im politischen Alltag, abnehmende moralische Anerkennung, exklusiver werdende Leistungsund Verteilungsstrukturen sowie labile oder fragile Gemeinschaftszugehörigkeiten) herauf beschworen, welche ernsthafte Herausforderungen für die Integration moderner Gesellschaften darstellen. Soziale Desintegrationsprozesse und Konflikte treten immer deutlicher hervor und entladen sich mitunter sogar gewaltsam.
23 Vgl. Abels 2009: 81–139.
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Wenn auch moderne Gesellschaften einerseits über beträchtliche Integrationspotenziale verfügen und Existenz-, Partizipations- und Zugehörigkeitschancen bieten, so ist doch andererseits die zunehmende Krisenanfälligkeit der konkurrenzbasierten Vergesellschaftungsmuster (z.B. in Form von Strukturkrisen, Regulierungskrisen und Kohäsionskrisen) nicht zu übersehen.24 Wenn auch gegenwärtig die äußere Stabilität der Gesellschaft noch nicht in Frage gestellt ist und offene Desintegrationsprozesse bisher selten oder die Ausnahme geblieben sind, so steht doch die innere Qualität der demokratischen Gesellschaft angesichts beachtlicher Normverletzungen, der Rechtfertigung von Ungleichheitsideologien, der Abwertung solidarischer Orientierungen, fremdenfeindlicher Einstellungen und diskriminierender Verhaltensweisen, interethnischen Konflikten und Feindseligkeiten ein ums andere Mal auf dem Prüfstand. Setzt man Integration/Desintegration und Konkurrenz miteinander ins Verhältnis, dann ist zunächst zu bedenken, dass das eine wie das andere graduelle Konzepte sind. Beide sind immer mehr oder weniger realisiert und die Art ihrer Durchsetzung bzw. Verwirklichung hängt wiederum von Art und Ausmaß der Integration und der Konkurrenz in einer Gesellschaft, aber auch von den an beide gerichteten je aktuellen Erwartungen ab – sie sind also historisch wandelbar. Selbst längere Phasen der Stabilität in einer bestimmten Konstellation der beiden Aspekte bedeuten nicht, dass sich deren Relationen im Zuge von Krisenerfahrungen nicht ändern können. Gerade angesichts der Verschärfung der globalen Konkurrenz im ökonomischen Bereich und der sie begleitenden ›Ellbogenmentalitäten‹ und ›winner-take-all‹-Strategien in der gesellschaftlichen Sphäre – gemeinhin also auch der Verschärfung der sozialen Konkurrenz – gibt es somit im Hinblick auf moderne Gegenwartsgesellschaften gute Gründe, die Integrationsproblematik ernst zu nehmen und möglichen Desintegrationsgefahren vorzubeugen. Denn aufgrund ihrer systemischen Differenzierung, normativen Offenheit, lebensweltlichen Pluralisierung und Individualisierung weisen moderne Gesellschaften im Grunde einen extrem hohen Integrationsbedarf auf. Zu diesem Zwecke haben sie vielfältige Integrationsmechanismen ausgebildet. Die Grundfigur der modernen Ordnung, der Integrationsmechanismus par excellence, ist der explizite oder implizite Vertrag. Dazu gesellen sich rechtlich-institutionelle Vorkehrungen wie die Garantie bestimmter Grundrechte, die demokratisch legitimierte und zeitlich begrenzte Einsetzung von politischen Entscheidungsträgern, ein ausdifferenziertes System zur Austragung und Beilegung von Konflikten, das staatliche Gewaltmonopol, Minderheitenschutz, aber auch die Praxis öffentlicher Diskurse über strittige gesellschaftliche und politische Fragen. Diese Vorkehrungen
24 Heitmeyer 1997: 11 f.
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ermöglichen es, dass konkurrierende Interessen und Normkonflikte nicht auf destruktive Weise ausgetragen werden, zumindest deren Koexistenz zu gewährleisten. Hinzu kommen, wie schon in vormodernen Zeiten, symbolische Bekräftigungen der gesellschaftlichen Einheit und Zusammengehörigkeit. Doch auch die Gesamtheit dieser Integrationsmechanismen vermag nicht eine vollständige und dauerhaft verlässliche Integration zu verbürgen, wenn im Innern der Gesellschaft zentrifugale Kräfte wirken, die durch ein Übermaß an Konkurrenzorientierung entstehen. Mit ihr gehen nämlich zunächst schleichende, dann sich manifestierende Desintegrationserscheinungen einher, die sich in einer Vielzahl von Symptomen niederschlagen und schließlich in handfeste Konflikte münden. Aus einem diffusen »Unbehagen an Modernität« folgen Vorurteile und Menschenfeindlichkeit, entstehen Ideologien der Ungleichwertigkeit, am Ende steht in der Regel Gewalt. Die Sozial- und Kulturwissenschaften reflektieren diese Problematik in sehr unterschiedlicher Weise. Auf der einen Seite steht seit Jahrzehnten die Versicherung, zumindest um den Typus westlich-demokratischer Gesellschaften stünde es – trotz Neoliberalismus, Globalisierung und Konkurrenzverschärfung – bestens. Problematisch seien nicht die Verhältnisse selbst, sondern das aufgeregte Krisengerede darüber. Diesem Gerede widersprächen handfeste empirische Indikatoren zur Akzeptanz bestimmter gesellschaftlicher Werte und Normen, zum Wahlverhalten sowie zu objektiven und subjektiven Lebenslagen. Auf der anderen Seite mehren sich in der politischen Öffentlichkeit wie in wissenschaftlichen Kreisen die Stimmen, die auf massive Desintegrationserscheinungen hinweisen: • Die konkurrenzorientierten Modernisierungsprozesse führten nämlich – so eine
weit verbreitete Krisendiagnose – mit der Auflösung traditioneller Klassenund Schichtenstrukturen und entsprechender Vergemeinschaftungsformen zu einer massiven Individualisierung, einer Schwächung des »sozialen Kapitals« und damit auch einer Vernachlässigung von Belangen des Gemeinwohls. • Die konkurrenzverschärfenden Modernisierungsprozesse brächten eine fortschreitende Rationalisierung und gesellschaftliche Differenzierung mit sich, die althergebrachte Strukturen auflöse und statt verbindlich vorgegebenen sozialen Normen, Orten und Rollen vielmehr Pluralismus, Heterogenität, Segmentierung, Wahlzwänge und Wahlchancen befördere. Damit zeichneten sich Orientierungsund Sinnkrisen ab. • Schließlich mündeten die Modernisierungsprozesse in eine Globalisierung alles Gesellschaftlichen, die kulturelle Besonderheiten weitgehend abschleife, die Bedeutung des Nationalstaats als zentralem Ort politischer Entscheidungen und identitätsstiftendem Bezugspunkt relativiere. Zugleich würden die Konkurrenz- und
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Verwertungslogiken des Kapitalismus überbetont und utilitaristische Verhaltensweisen – und mit ihnen individualistische und klientelistische Interessen – gestärkt. Aufgrund dieser konkurrenzbasierten Entwicklungstendenzen sei die funktionale (systemische) und vor allem die soziale Integration im Sinne einer gelungenen Vergesellschaftung der Individuen in mehrfacher Hinsicht bedroht,25 so dass sich soziale Gemeinschaftsgefühle, vor allem bezogen auf den Fluchtpunkt des Nationalstaates, nicht mehr einstellen könnten:26 • Die ökonomische Integration sei gefährdet, weil auf den nationalen Arbeits-
märkten unter dem Druck von Rationalisierung, Konkurrenz und Standortverlagerungen ein Teil der Bevölkerung gar nicht mehr in Lohn und Brot kommt, prekäre Formen der Arbeit sich immer stärker durchsetzen, Normalarbeitsverhältnisse gegenüber flexiblen Formen stark abnehmen und damit zugleich historisch verbürgte Formen der Solidarität brüchig werden. • Die politische Integration sei gefährdet, weil einerseits nationale Handlungschancen und Identifikationsmuster durch einen Machtverlust der Staaten schwinden und andererseits, bedingt durch Migrationsbewegungen und die Erfahrung von Multikulturalismus, die Einheit des »Staatsvolks« untergraben und zudem politische Partizipation auf bestimmte Bevölkerungssegmente eingegrenzt wird. • Schließlich sei die kulturelle Integration gefährdet, weil es im Zuge der vielgestaltigen Modernisierungsprozesse auch zu einem Werterelativismus oder gar Werteverfall kommt, die sich nachteilig auf den moralischen Zusammenhalt eines Gemeinwesens auswirken. An zeitdiagnostischen Formeln, um die damit verbundenen problematischen Folgen zu erfassen, mangelt es nicht. Sie reichen von der »Kolonialisierung der Lebenswelt«27 über den »flexiblen Menschen«28 bzw. »modularen Menschen«29 bis hin zu den »Überflüssigen«30. Sofern die als ursächlich angenommenen Entwicklungen auf der Basis einer stärkeren Konkurrenzorientierung mehr als nur marginale Erscheinungen sind, stellt sich die Frage, wie sich diese Prozesse auf
25 Imbusch/Heitmeyer 2008. 26 Vgl. Heitmeyer 1997: 24. 27 Habermas 1981. 28 Sennett 1998. 29 Gellner 1995; Bauman 1997. 30 Bude/Willisch 2008.
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die Integrationsfähigkeit von Gesellschaften auswirken, welches Ausmaß sie jeweils besitzen und welchen Grad Desintegration schon erreicht hat. Des Weiteren stellt sich die Frage, wie viel Konkurrenz eine Gesellschaft verträgt bzw. sich leisten will – und sich angesichts der Folgeprobleme leisten kann. Schließlich weisen Konkurrenzgesellschaften noch unausgesprochene Machtaspekte auf: »In der Konkurrenzgesellschaft werden Machtkonflikte zu einer individuellen Erfahrung in Permanenz. Wenn der individuelle Lebensweg beherrscht wird von der Chance des Hochkletterns und der Gefahr des Absturzes, vom Erfolg und Misserfolg im Wettbewerb mit anderen, dann muss die eigene Biographie als Sequenz freiwilliger und unfreiwilliger, gewonnener oder verlorener Machtkämpfe empfunden werden. Je offener für vertikale Mobilitätsprozesse die Gesellschaft erscheint, umso stärker werden sich Machterfahrungen individualisieren und umso eher werden individuelle Erfahrungen als Machterfahrungen interpretiert werden.«31 Doch was ist mit Integration und Desintegration in Bezug auf Konkurrenz nun genau gemeint? Wie viele andere sozialwissenschaftliche Begriffe sind auch diese beiden eher vage, unbestimmt und vieldeutig, sie lassen Raum für assoziatives Denken. Es geht bei Integration um sozialen Zusammenhalt, um eine Art von Vergemeinschaftung, um die Kohäsion eines Gemeinwesens und dessen Kohärenz, beizeiten auch um die soziale Ordnung als Ganzer, um Handlungskoordinierung und Interdependenzen und nicht zuletzt um moralische Integrität. Integration kann relativ statisch als fertiges Ergebnis und als Endzustand von etwas betrachtet oder dynamisch als Prozess, als Ordnungsproblem oder gleich als dessen Lösung konzipiert und verstanden werden. Komplexe Gesellschaften mit einer hohen Binnendifferenzierung in einzelne Funktionssysteme sowie strukturell voneinander abgehobenen Klassen, Schichten und Milieus haben fortlaufende Integrationsfunktionen zu erfüllen, um sich als Einheit definieren und als solche auch gegenüber anderen Gesellschaften darstellen zu können. Im Verlauf der letzten Jahrhunderte haben wir uns daran gewöhnt, diese Einheit im Wesentlichen als kongruent mit Nationalstaaten zu sehen, obgleich die Existenz von lokalen Gesellschaften, länderübergreifenden Kulturräumen und eines »kapitalistischen Weltsystems« evident ist. Erst in den letzten Jahrzehnten ist mit dem immer engeren regionalen Zusammenschluss von Staaten auf globaler Ebene die Gleichsetzung von Gesellschaften mit Nationalstaaten immer fragwürdiger geworden. Faktisch überlagern und verschränken sich Gesellschaften auf unterschiedlichen räumlichen Ebenen und in den unter-
31 Popitz 1992: 16; vgl. Imbusch 2012.
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schiedlichen Systemen von Wirtschaft, Politik und Kultur. Entsprechend stellt sich heute das Integrationsproblem in vielen Dimensionen neu.32 Ein Teil dieses Integrationsproblems ist die Konkurrenz. Denn die verschärfte Konkurrenzlage und der globale soziale Wandel unterminieren ein Stück weit Stabilität, so dass sich die Integration von Gesellschaften nicht mehr allein durch das weitgehend reibungslose Zusammenspiel von Funktionssystemen und funktionalen Rollen herstellen lassen dürfte. Gesellschaften benötigen auch sozial konstruierte Makro-Identitäten (z.B. als Ethnie, Volk oder Kulturgemeinschaft). Erst das Zusammenspiel von Systemintegration und Sozialintegration sichert den Bestand von Gesellschaften. Brechen die Mechanismen sozialer Integration zusammen, so folgt über kurz oder lang auch ein Zusammenbruch der Systemintegration. Funktionsfähige Wirtschaftssysteme brauchen ein Mindestmaß an Regulation und Vertrauen, politische Systeme ein Mindestmaß an Legitimität, soziale Systeme ein Mindestmaß an Ausgleich und Gerechtigkeit. Aber auch umgekehrt gilt: Versagen die Mechanismen der Systemintegration, so ist auch die Sozialintegration massiv gefährdet. Eine Gesellschaft, deren politisches System entscheidungsunfähig ist oder deren Wirtschafts- und Sozialsystem elementare Leistungen der Produktion, Distribution und des sozialen Ausgleichs nicht zu erbringen vermag, wird auch ihren Zusammenhalt verlieren und somit Tribalismus, innere Feindseligkeit und soziale Anomie begünstigen. Als quasi natürlicher Gegenbegriff zur Integration fungiert der Begriff der Desintegration. Daneben findet sich jedoch noch eine ganze Reihe weiterer Begriffsbildungen, die auf Zustandsbeschreibungen zielen, die mit Integration überwunden oder vermieden werden oder Erosionsprozesse von Integration andeuten sollen. Dazu gehören etwa Desorganisation, Unordnung, Anomie, Sezession, Exklusion, Zerfall, soziale Fragmentierung, Entsolidarisierung, Auflösung bzw. Schwächerwerden von sozialen Bindungen, Partikularismus, Regionalismus etc. Hinzu kommen alle möglichen Formen von Ungerechtigkeit, Erniedrigung, Missachtung und Deprivation, nicht zuletzt individualpsychologische Kategorien wie Sinnverlust, Orientierungslosigkeit, Wurzellosigkeit, Identitätsstörungen, Entfremdung und Indifferenz sowie alle möglichen Folgen der Individualisierung wie Isolation, Hedonismus, Konsumismus. Sie sind sozusagen die Negativfolie der Integration, bilden das Schreckgespenst für den Zusammenhalt von Gesellschaften. Sie sind zugleich Folgeerscheinungen der stärkeren Konkurrenzorientierung einer Gesellschaft, die individualistische Nutzenmaximierung
32 Imbusch/Heitmeyer 2008.
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adelt, Leistung mit Erfolg verwechselt und Konkurrenzprinzipien in allen gesellschaftlichen Teilbereichen für angemessen und sinnvoll erachtet. Zu bedenken ist dabei, dass diese Beispiele ihre beunruhigende Kraft nicht allein vor dem Hintergrund eines normativen Selbstverständnisses entfalten, das auf Integration und eine wie auch immer geartete »gute Gesellschaft« ausgerichtet ist. Das wird deutlich, wenn man das Integrationsproblem auf verschiedene Ebenen herunterbricht:33 Auf der sozialstrukturellen Ebene (hier Reproduktionsaspekt genannt) stellt sich das Problem der Teilhabe an den materiellen und kulturellen Gütern einer Gesellschaft, was in der Regel objektiv durch ausreichende Zugänge zu Arbeits-, Wohnungs- und Konsummärkten sichergestellt wird, subjektiv aber auch eine Entsprechung in Form von Zufriedenheit mit der beruflichen und sozialen Position finden muss. Hier geht es also letztlich um Aspekte positionaler Anerkennung. Auf der institutionellen Ebene (hier Vergesellschaftungsaspekt genannt) geht es um die Sicherstellung des Ausgleichs konfligierender Interessen, ohne die Integrität und Würde von Personen zu verletzen. Dies erfordert aus Sicht des Desintegrationsansatzes etwa die Einhaltung basaler, die moralische Gleichwertigkeit des (politischen) Gegners gewährleistender, demokratischer Prinzipien, die von den Beteiligten als fair und gerecht bewertet werden. Die Aushandlung und konkrete Ausgestaltung solcher Prinzipien bedingt ebenfalls entsprechende Teilnahmechancen und -bereitschaften einzelner Akteure. Hier kommen Aspekte moralischer Anerkennung zum Tragen. Auf der personalen Ebene (hier Vergemeinschaftungsaspekt genannt) geht es schließlich um die Herstellung emotionaler bzw. expressiver Beziehungen zwischen Personen zum Zwecke von Sinnstiftung und Selbstverwirklichung. Hier werden erhebliche Zuwendungs- und Aufmerksamkeitsressourcen, aber auch die Gewährung von Freiräumen sowie eine Ausbalancierung von emotionalem Rückhalt und normativen Anforderungen benötigt, um Sinnkrisen, Orientierungslosigkeit, eine Beeinträchtigung des Selbstwertgefühls oder Wertediffusion und Identitätskrisen zu vermeiden. Dies kann nur auf der Basis emotionaler Anerkennung geschehen. Mit dieser Unterscheidung von Vergemeinschaftungsaspekten (kulturellexpressive Formen der Sozialintegration), Vergesellschaftungsaspekten (kommunikativ-interaktive Formen der Sozialintegration) und der funktionalen Systemintegration auf der sozialstrukturellen Ebene lassen sich nicht nur soziale oder systemische Integrations- und Desintegrationsaspekte differenzieren. Es lassen sich auch weitergehende Unterscheidungen wie die zwischen positiver In-
33 Vgl. Heitmeyer/Anhut 2000: 48, 52.
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tegration (Stabilität, Sicherheit) und negativer Integration (Zwang, Kontrolle) sowie zwischen positiver Desintegration (sozialer Wandel, innovative Abweichungen) und negativer Desintegration (Ausgrenzung, Gewalt) treffen, ohne vorschnelle und letztendlich irreführende Gleichsetzungen von Stabilität und Integration bzw. Integration und Konfliktfreiheit vorzunehmen. Im Rahmen eines solchen Analyserasters bleibt dann empirisch zu eruieren, wie makrostrukturelle Entwicklungen auf gesamtgesellschaftlicher Ebene mit individuellen Handlungsdispositionen und persönlichen Erfahrungshintergründen auf der Mikro-Ebene zusammen spielen und wie diese gegebenenfalls durch milieuspezifische oder kulturelle Einflussfaktoren auf der Meso-Ebene beeinflusst werden und dann Integration oder eben Desintegration befördern. Dabei ist zu bedenken, dass Konkurrenz als Prinzip, Leitlinie und Orientierung nur eines – wenn auch ein besonders wichtiges, weil Folgeerscheinungen produzierendes – der Phänomene ist, die für Desintegrationsprozesse sorgen können, allerdings auch selten in reiner Form auftritt: So funktionieren beispielsweise Märkte nicht ausschließlich auf der Basis von Konkurrenz und Tausch; sie bedürfen vielmehr der politischen Regulierung und vertraglicher Absicherungen; Regulierung und Verträge setzen ihrerseits wieder Vertrauen voraus – etwa das Vertrauen darauf, dass bestimmte (moralische) Standards und soziale Handlungs- und Interaktionsmuster eingehalten werden. Umgekehrt sind auch Solidargemeinschaften, etwa eine Familie, nicht nur durch Werte integriert, sondern sie enthalten Elemente zweckrationalen Handelns (beispielsweise in Form einer familiären Arbeitsteilung oder eines Gebens und Nehmens, an das interessengeleitete Reziprozitätserwartungen geknüpft sind) und auch der Konkurrenz. Das bedeutet für die Integrationsproblematik moderner Gesellschaften, dass jeweils mehrere Integrationsmedien zusammen wirken müssen, wenn systemische und soziale Integration und damit gesellschaftliche Integration insgesamt gelingen soll. Und umgekehrt gilt: Erst wenn mehrere oder viele solcher Integrationsmechanismen wegbrechen, ist Desintegration die Folge.
I ST KONKURRENZBASIERTE , I NTEGRATION MÖGLICH ?
KONFLIKTHAFTE SOZIALE
Das Denken über Integrations- und Desintegrationsprozesse ist vielschichtig. Seit jeher haben sich Philosophen, Sozialtheoretiker und später vor allem Soziologen mit der Integrationsproblematik von Gesellschaften befasst. Legendär geworden sind dabei die gesellschaftstheoretischen Entwürfe der Vertragstheoretiker Hobbes, Locke, Toqueville mitsamt ihre Begründungen, die später von Marx
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und Engels (Klassenkampf und Konflikt), Durkheim (Solidarität und funktionale Arbeitsteilung) und Weber (legitime Ordnung und Herrschaft) – mit je unterschiedlichen Akzentuierungen – fortgeführt wurden. Gegenüber diesen klassischen Ansätzen von Integration und Desintegration hat sich in den zeitgenössischen sozialwissenschaftlichen Theorien die Problematik in zweifacher Hinsicht verschoben:34 Zum einen wird modernen Gesellschaften mit fortschreitender Entwicklung immer weniger Integrationsfähigkeit zugetraut, da die gruppenkohäsiven und durch Institutionen abgesicherten Bindungen der Menschen von Prozessen fortschreitender Individualisierung und Fragmentierung (häufig auf der Basis von Konkurrenz) bedroht werden. Diese Bindungslosigkeit und Verflüssigung des Sozialen gilt den postmodernen Theorieansätzen sogar als selbstevident und nicht mehr revidierbar. Zum anderen ist im Prozess der Modernisierung der Moderne immer weniger klar, welches der eigentliche Integrationsrahmen in sozialräumlicher Hinsicht sein könnte. Globalisierungs- und Internationalisierungsprozesse haben nicht nur die Konkurrenz verschärft, sondern auch jeglichen eindeutigen Bezugsrahmen für Integration erodieren lassen – und bestehende Zweifel an der Integrationsfähigkeit nationalstaatlich verfasster Gesellschaften verstärkt. Damit lösen sich nicht nur die in den klassischen Interpretationsansätzen enthaltenen Annahmen in Bezug auf Integrationsprozesse auf, sondern es kommt auch zu einer tendenziellen Entgrenzung von Desintegrationsprozessen. Nicht Solidarität, legitime Ordnung und ein geteilter und für alle verbindlicher Wertehorizont können heutzutage noch für die nötige Integration sorgen, sondern vor allem deliberative Verfahren und Diskurse, Differenzprinzipien und Konflikte sollen dies richten. Auch der Bezugsrahmen für Integrationswie für Desintegrationsprozesse hat sich von der nationalen Gesellschaft in zunehmendem Maße auf die sich herausbildende Weltgesellschaft verschoben. Die einzelnen Sichtweisen auf die Integrationsproblematik gehen von unterschiedlichen theoretischen Grundannahmen aus, sind von jeweils zeitspezifischen Erfahrungshorizonten und Problemwahrnehmungen geprägt und wohl auch von politischen Präferenzen beeinflusst. Sie stehen in Spannung zueinander, ergänzen sich aber teilweise auch. Im Folgenden möchte ich einmal wert- und vertragsorientierte Theorien mit funktionalistisch argumentierenden Ansätzen und Konflikt- bzw. konkurrenzbasierten Erklärungen vergleichen, um die Besonderheiten, Voraussetzungen und Problematiken der einzelnen Ansätze zu verdeutlichen. Wert- und vertragsbezogene Theorien sehen in einer gemeinsam geteilten Wertebasis oder in expliziten bzw. impliziten Verträgen zwischen den Gesell-
34 Imbusch/Rucht 2005.
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schaftsmitgliedern das zentrale Integrationsmittel. Hier fungieren gemeinsam geteilte Werte und Normen oder die Vernunft als Basis für die Möglichkeit sozialer Integration. Wertbezüge finden sich insbesondere in der schottischen Moralphilosophie (z.B. Adam Smiths »moral sentiments«), in Émile Durkheims Begriff der organischen Solidarität, bei den amerikanischen Pragmatisten (z.B. John Dewey, George Herbert Mead) und der Mehrzahl der Kommunitaristen (z.B. Amitai Etzioni, Charles Taylor). Vertragstheoretische Überlegungen sind hingegen schon früh bei Thomas Hobbes anzutreffen, sie reichen bis hin zu modernen Rational Choice-Theoretikern. Sie finden sich aber auch – wenngleich ohne Betonung der Kategorie des Vertrags – bei Jürgen Habermas, insofern im Akt des Diskurses ein impliziter Vertrag über die Neutralisierung aller Einflüsse jenseits des »zwanglosen Zwangs des besseren Arguments« anerkannt wird. Während Wertbegründungen für Integration angesichts des Wertepluralismus der westlichen Gesellschaften in den Hintergrund getreten sind, erfreut sich vertragstheoretisches Denken weiterhin einer gewissen Beliebtheit. Strukturfunktionalistische bzw. funktionalistische Systemtheorien sehen den integrierenden Modus für die Gesellschaft hingegen in spezifischen Vermittlungsmechanismen innerhalb und zwischen funktional spezifizierten Teilsystemen der Gesellschaft. Sie kommen dabei ohne die Wert- oder Vertragsbezüge der zuvor genannten Theorien aus, weil sich Integration quasi aus den strukturellen Erfordernissen arbeitsteilig organisierter Gesellschaften ergibt. Hier reicht eine Traditionslinie von Herbert Spencer über Talcott Parsons und Niklas Luhmann bis hin zu Richard Münch. Märkte, Bürokratien und Assoziationen sowie ihre spezifischen Arbeitsteilungsprinzipien und System- bzw. Normerhaltungsfunktionen sind in diesem Fall integrierende Mechanismen für die Gesellschaft.35 Konflikt- und konkurrenzbasierte Theorien gehen von prinzipiellen Spannungen und Ungleichheiten in Gesellschaften aus und scheinen zunächst einmal wenig geeignet zu sein, um gesellschaftliche Integration zu befördern. Allerdings erfreuen gerade sie sich in den letzten Jahren einer zunehmenden Beliebtheit, auch wenn sie an besondere Voraussetzungen gebunden sind und nicht einfach umstandslos für alle Gesellschaften Anwendung finden können. Im Grunde sehen sie in der produktiven Bearbeitung von Konflikten bzw. der Anerkennung von Differenz die Möglichkeit zu sozialer Integration. Dies wird in demokratisch-pluralistisch organisierten Gesellschaften deshalb möglich, weil diese quasi vom geregelten Streit und einem eingehegten Konfliktprocedere leben, dieses ist geradezu konstitutiv für sie. Konflikte und Konkurrenzen können dieser Per-
35 Münch 1998.
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spektive zufolge deshalb integrativ wirken, weil ein fester, verbindlicher Rahmen existiert, innerhalb dessen Konflikte und Konkurrenz ausgetragen werden können, ohne das Gemeinwohl zu gefährden. Nur dort, wo die Spielregeln selbst zur Disposition stehen oder verändert werden sollen, wird das friedliche Zusammenleben gefährdet. In diesem Fall verliert die konflikthafte Integration ihre integrierende Wirkung. Ansätze zu diesem Denken finden sich frühzeitig schon im Werk von Karl Marx, später dann ausgeprägt bei Georg Simmel, Lewis Coser und bei Ralf Dahrendorf und heutzutage bei Sozialtheoretikern wie Helmut Dubiel und Axel Honneth.36
RESÜMEE: DESINTEGRATIONSPROZESSE UND KONKURRENZ Moderne Gesellschaften können sich heutzutage kaum mehr auf natürliche Integrationsmodi stützen, die allgemein anerkannt sind und durch starke Instanzen kultureller Überlieferung oder personaler Sozialisation reproduziert werden. Integration wird prekär, weil ihre Mechanismen im Zuge beschleunigter Modernisierungsprozesse als wandelbar erfahren werden, sie mit gewandelten Herausforderungen konfrontiert und anhaltenden Begründungszwängen ausgesetzt ist. Das bedeutet nicht, dass klassische oder traditionelle Integrationsmodi bereits jegliche Gültigkeit verloren haben. Aber es bedeutet doch, dass sie nicht mehr unhinterfragt Geltung beanspruchen können. Aufgrund der zunehmenden Komplexität gesellschaftlicher Beziehungen ergeben sich desintegrative Tendenzen nicht mehr nur aus wenigen basalen Konfliktlinien – etwa zwischen religiösen und säkularen Tendenzen, zwischen Ethnien bzw. Sprachgemeinschaften oder zwischen Kapital und Arbeit –, sondern fallen weitaus vielgestaltiger aus. Insbesondere mit der fortschreitenden und sich allseits verschärfenden Konkurrenz wächst die Wahrscheinlichkeit einer gesellschaftlichen Fragmentierung, so dass soziale Gruppen und Milieus überwölbende Gemeinsamkeiten verloren gehen. Desintegrationstendenzen in westlichen Demokratien vollziehen sich dabei häufig eher verdeckt und schleichend. Das erklärt zum Teil auch, dass die Sozialindikatorenforschung und die Forschung zu politischen Einstellungen anhand von relativ oberflächlichen Indikatoren und Operationalisierungen (Wohlstand, Lebenszufriedenheit, Wahlbeteiligung für etablierte Parteien, Einstellung zur demokratischen Ordnung etc.) vor allem Befunde gesellschaftlicher Stabilität zutage fördern. Seit den 1990er Jahren wuchs jedoch das Bewusstsein dafür, dass
36 Dubiel 1997; Honneth 1994.
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sich auch unter den Bedingungen einer hohen rechtlich-institutionellen Stabilität durchaus Anzeichen von Desintegration bzw. Fragmentierung ausmachen lassen. Abschließend möchte ich dies an vier Punkten verdeutlichen: Erstens vollzieht sich ein Übergang zur Weltgesellschaft, mit dem die Kohäsionskräfte des Nationalstaates ganz entscheidend geschwächt werden, ohne dass auf transnationaler Ebene kompensierende Integrationsmechanismen bereits in Kraft oder vergleichbare auch nur absehbar wären. Insbesondere fehlen internationale Governance-Strukturen, die eine hohe Legitimität und zugleich eine große Durchsetzungskraft besitzen. Hier lässt sich nach wie vor von einer institutionellen Unterentwicklung im internationalen System sprechen, die angesichts der Konkurrenzimperative des globalen Kapitalismus dringend einer Ausgestaltung bedürfen.37 Auch die Anerkennungsmuster und Wertmaßstäbe sind auf globaler Ebene noch höchst unterschiedlich, so dass sie bislang keine identitätsstiftenden Potenziale mobilisieren können. Zweitens haben sich im Zuge neoliberaler Modernisierungsprozesse Konkurrenzmuster und Verteilungskämpfe im nationalen wie internationalen Rahmen verschärft,38 sind die Gegensätze zwischen Arm und Reich größer statt kleiner geworden. In den entwickelten Ländern des Westens haben Erwerbslosigkeit und prekäre Beschäftigungsverhältnisse deutlich zugenommen. Integration über Arbeit – immer eines der zentralen Inklusionsmuster und Eckpfeiler der sozialen Integration in Deutschland – funktioniert angesichts der Deregulierungs- und Flexibilisierungsstrategien nur noch begrenzt. Soziale Exklusion und Überflüssigkeit sind heute zu beängstigenden Schlagworten geworden, Abstiegsängste reichen bis in die Mittelschichten hinein. Darüber hinaus sind im Globalen Süden ganze Länder und Regionen von Verarmung und Verelendung gezeichnet, womit auf mittlere und lange Sicht Konflikte (auch in den Industrieländern) vorprogrammiert sind. Drittens ist es, verstärkt durch die Renaissance marktliberaler Prinzipien, zu einer Verschiebung von Grundwerten in der Weise gekommen, dass das Solidarprinzip zugunsten von Prinzipien der Wettbewerbs, der Leistung und der individuellen Selbstverantwortung in den Hintergrund getreten ist.39 Das hat nicht zuletzt etwas mit der durch die Globalisierung gestärkten Macht der Wirtschaftseliten zu tun, die mit Flexibilisierungs- und Deregulierungsmaßnahmen nicht nur entscheidend zu den Prekarisierungstendenzen in der Gesellschaft beitragen, sondern über die Drohung mit Produktions- und Arbeitsplatzverlagerungen ihren Einfluss
37 Münch 2001. 38 Loch/Heitmeyer 2001. 39 Imbusch/Rucht 2007b.
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auf Politik und Staat derart geltend machen, dass es zu einer Reorganisation des Wohlfahrtsstaates und zu einer engen Beschränkung von Staatsaufgaben kommt. Mit dem Übergang vom rheinischen zum angelsächsischen Modell des Kapitalismus ist nicht nur der Konsens über das Modell der Sozialen Marktwirtschaft zerbrochen, sondern hat sich auch die soziale Verantwortung der Wirtschaftseliten verändert. Soziale Verantwortung ist heute keine bindende Verpflichtung der Unternehmen mehr, sondern ein Akt der Freiwilligkeit einzelner Akteure. Nicht mehr das alt-europäische Modell einer Solidarität der Brüderlichkeit (auf der Basis gegenseitiger Verpflichtungen und Erwartungen) steht im Vordergrund, sondern das US-amerikanische Modell von Charity als einer Solidarität des Mitleids, als der Gewährung einer Gunst der Gebenden und der Dankbarkeit der Nehmenden, die gewährt oder verweigert werden kann.40 Dies verweist nicht mehr auf die Existenz, sondern eher auf die Abwesenheit eines belastbaren gesellschaftsweiten Solidaritätsprinzips zwischen starken und schwachen gesellschaftlichen Gruppen, deren Konkurrenz um gesellschaftliche Ressourcen sich verschärfen wird. Schließlich sind mit der Zunahme transnationaler Migrationsströme – sei es aufgrund von Krisen, Kriegen und Vertreibungen, sei es aufgrund von arbeitsmarktbedingten Wanderungsbewegungen – neue ethnische, religiöse und kulturelle Reibungsflächen entstanden, die teilweise auch zu Verhärtungen, Parallelgesellschaften und manifesten Konflikten geführt haben.41 Diese bilden – neben Massenarbeitslosigkeit, Prekarisierung und »Demokratieentleerung« – einen Nährboden für rechtsradikale und fremdenfeindliche Aktivitäten, und beinhalten über die Mobilisierung von Identitäten nicht zuletzt ein beträchtliches Gewaltpotenzial. Auch zwischen Staaten und Kulturen gibt es Anzeichen dafür, dass sich die Konfliktlinien aufgrund primordialer, askriptiver oder kultureller Merkmale vertiefen und Kulturkämpfe sich verschärfen. All dies wird die Konfliktivität westlicher Gesellschaften in den nächsten Jahren verschärfen, zumal die neuen Konfliktlinien ohne funktionale Integrationsmechanismen bei verstärkter Konkurrenz kaum zu beheben sein dürften.
40 Ebd. 41 Heitmeyer/Dollase 1996.
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Individualisierung durch Konkurrenz Grundlagen und Entwicklungsdynamik antagonistischer Kooperation M AGNUS S CHLETTE
Konkurrenz scheint uns allerorten zu begegnen. Es ist üblich, zum Beispiel so etwas wie die Konkurrenz selten gewordener Orchideen um ihren schwindenden Lebensraum zu erörtern oder die Konkurrenz von Eisbären um Nahrung. Es wird auch gerne und ubiquitär von der Konkurrenz der Arten gesprochen. Es bleibe dahingestellt, ob diese Redeweise semantisch überhaupt durch den Konkurrenzbegriff gedeckt ist, weil es gewöhnlich auf wenig Gegenliebe stößt, wenn reibungslose Verständigungen durch beckmesserisches Pochen auf begriffliche Missverständnisse hintertrieben und in unbequemes Stocken gebracht werden. Die folgenden Überlegungen beschränken sich deshalb darauf zu klären, was es heißt, in einer spezifisch menschlichen Weise zu konkurrieren. Selbst wenn wir annehmen, dass menschliches Konkurrenzverhalten etwas mit der Konkurrenz der Pflanzen oder Tiere oder gar der Arten gemeinsam hat, so dürfte gleichwohl allein die Konkurrenz unter Menschen dadurch charakterisiert sein, dass die Konkurrenten ein Bewusstsein ihres Verhaltens als eines Konkurrenzverhaltens erlangen, dieses Verhalten reflektieren, im Für und Wider von Gründen Stellung zu ihm nehmen und es ostentativ als Bestandteil einer Lebensführung planen und gestalten können. In diesem Sinne können allein Menschen ihr Leben im Medium von Konkurrenzverhältnissen individuieren. ›Konkurrenz‹ ist ein dreistelliges Prädikat: Jemand konkurriert mit einem oder mehreren Kontrahenten um ein Gut. Um Menschen in einer den Menschen eigentümlichen Weise Konkurrenzverhalten zuzuschreiben, reicht es daher nicht aus, dass sich die Kontrahenten gleichermaßen um den Erwerb eines Gutes bemühen. Sie müssen es miteinander tun. Charakteristisch für dieses Miteinander
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ist indessen seine Interessendifferenz. Gemeinsam haben die Konkurrenten dasjenige, was sie zugleich trennt: ihr Begehren nach dem Erwerb des besagten Gutes. Spezifisch für die Konkurrenz unter Menschen ist also der agonistische Charakter der Konkurrenz, lateinisch concurrentia, deutsch Bewerbung, worunter ich grundsätzlich Folgendes zu verstehen vorschlage: In einer spezifisch menschlichen Weise zu konkurrieren heißt, dass sich zwei oder mehrere Kontrahenten durch ihr Engagement für den Erwerb eines Gutes miteinander um seinen alleinigen Besitz bewerben. Allein darum soll es im Folgenden gehen. Die Konkurrenz von Parteien bzw. Gruppen von Kontrahenten, von Verbänden und Institutionen, bleibt in meiner Erörterung ausgespart. Eine Klärung des Verständnisses der Konkurrenz von Kollektiven setzt aber die Auseinandersetzung mit den von mir allein berücksichtigten Konkurrenzverhältnissen zwischen Individuen voraus. Insofern ist meine einseitige Perspektive vielleicht entschuldbar. Grund zur Konkurrenz gibt ein Mangel, weil um nichts konkurriert werden muss, das allen potentiellen Kontrahenten der ›Bewerbung‹ gleichermaßen verfügbar ist. Konkurrenzfördernde Güter sind solche, deren Knappheit ihre Verfügbarkeit einschränkt. Gibt es Äpfel für alle, muss keiner um das reichhaltige Angebot mit anderen konkurrieren; andererseits: hängt das Obst zum Greifen nah und reif von allen Bäumen, konkurrieren Obsthändler miteinander um die geringe Nachfrage nach ihren Waren. Da sich Konkurrenzverhalten in Abwägung des Angebots und der Nachfrage von Gütern ausbildet, scheint die Primärzuständigkeit für die Erörterung des Themas in der Ökonomie zu liegen. Allerdings ist begrifflich bereits viel als geklärt oder vermeintlich selbstverständlich vorausgesetzt, wenn sich die Ökonomie des Themas annimmt. Konkurrenten konkurrieren miteinander aufgrund wechselseitiger Erwartungen und Erwartungserwartungen. Nicht nur teilen sie die Einschätzung des begehrten Gutes, wenn sie miteinander konkurrieren, sie unterstellen einander auch die gleiche Einschätzung und darüber hinaus auch das Wissen des Anderen um die eigene Einschätzung des Gutes. In diesem Sinne handelt es sich um eine gemeinsame Wertschätzung für ein nicht als allen gleichermaßen verfügbar erachtetes Gut. Ferner machen die Konkurrenten nicht nur ihren Anspruch auf das fragliche Gut geltend, sondern sie unterstellen und akzeptieren den gleichen Anspruch auf der Seite ihres jeweiligen Kontrahenten. Und schließlich berücksichtigen sie in ihrem Handeln wechselseitig die Absicht ihres Kontrahenten, das von beiden gleichermaßen begehrte Gut zu erwerben. Sie stellen sich in ihrem Handeln aufeinander ein. Der agonistische Charakter der Konkurrenz hat daher den Charakter einer bestimmten Form von antagonistischer Kooperation. Aber nicht nur die intersubjektivitätstheoretischen Bedingungen der Möglichkeit von Konkurrenz liegen außerhalb des Horizonts der Ökonomie, sondern das
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Konkurrenzverhalten ist nicht einmal mehrheitlich in Begriffen der Ökonomie erfassbar. Die Ökonomie beschäftigt nur ein Ausschnitt dieses Verhaltens, nämlich derjenige, der den Erwerb von ökonomisch quantifizierbaren Gütern betrifft. Wie zum Beispiel Äpfel. Äpfel sind in den folgenden Überlegungen nicht von Interesse. Es wird um andere Güter gehen, genau genommen sogar nur um ein einziges, wiewohl für die Entstehung und Entwicklung von Konkurrenzverhältnissen grundlegendes Gut: um Anerkennung. Konkurrenz um Anerkennung ist ökonomisch erst dann erfassbar, wenn das Verhältnis zwischen Gegenstand und Form der Anerkennung quantifizierbar ist. Mich wird eine Art von Konkurrenz um Anerkennung beschäftigen, für die das nicht ohne weiteres der Fall ist. Ich befasse mich mit der Konkurrenz um Anerkennung von Individualität. Mich interessiert, was die strukturellen intersubjektivitätstheoretischen Voraussetzungen dafür sind, dass den Kooperationspartnern ihre Individualität überhaupt zu einem Gegenstand der Konkurrenz um Anerkennung werden kann. Denn dabei handelt es sich um ein Konkurrenzverhältnis, das die Menschen in den westlichen Gesellschaften zunehmend erfasst und einem massiven Individualisierungsdruck aussetzt. Wer Konkurrenz unter Menschen, insbesondere in den modernen Gesellschaften, verstehen will, sollte sich daher auch mit der Konkurrenz um Anerkennung, insbesondere mit der Konkurrenz um Anerkennung von Individualität, befassen. Aber ist diese Art von Anerkennung überhaupt ein knappes Gut? Ist nicht vielmehr die Durchsetzung der Menschenrechte zumindest in den demokratischen Gesellschaften der westlichen Welt ein ausreichender Beleg für die Institutionalisierung dieser Art von Anerkennung? Hinweise auf Menschenrechte gehen an der Pointe vorbei, dass Gegenstand des von mir behaupteten Konkurrenzverhältnisses nicht die Anerkennung des menschlichen Lebens als solchen einschließlich bestimmter subjektiver Rechte ist, sondern vielmehr die Wertschätzung der individuellen Besonderung, durch die sich die Menschen voneinander unterscheiden und auf eine unverwechselbare und unvertretbare Weise ›sie selbst‹ sind. Der Aufsatz schlägt einen Bogen von den intersubjektivitätstheoretischen Voraussetzungen sozialer Kooperation zu den Bedingungen, unter denen die spezifisch antagonistische Kooperation einerseits die Ausbildung individualisierter Anerkennungsverhältnisse der Menschen begünstigt und sich andererseits in ihnen besonders gut stabilisieren kann. Zunächst werde ich nachvollziehen, wie die Entwicklung spezifisch menschlicher Kooperation über die Entstehung von Bedeutungsbewusstsein vermittelt ist (1.), und dann die praktische Aneignung von Bedeutung im Sozialisationsprozess skizzieren (2.). Erst wenn sich zeigt, dass Sozialisation wesentlich zur Selbstverortung praktischer Individuierung in einem Horizont von Maßstäben der Bewährung an der Normativität sozialer Bedeutungszusammenhänge besteht (3.), kommen die sozialontologischen
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Bedingungen antagonistischer Kooperation und deren Auswirkung auf die Individualisierungsdynamik in den Blick, der die Konkurrenz um Anerkennung von Individualität als ihr wesentliches Movens eingeschrieben ist (4.).
1. B EDEUTUNG Der agonistische Charakter der spezifisch menschlichen Konkurrenz beruht, so hatte ich behauptet, auf einer Form der antagonistischen Kooperation. Konkurrenz zu verstehen setzt daher voraus zu bestimmen, wovon der Erfolg sozialer Kooperation abhängt. Grundsätzlich hängt er davon ab, ob die Teilnehmer die Reaktion des jeweils Anderen auf das eigene Verhalten antizipieren und in ihren Haltungen berücksichtigen können. Was die Voraussetzungen dieser wechselseitigen Verhaltensantizipation sind und wie sie eine Kommunikationsdynamik freisetzt, die wiederum ihrerseits die Grundlage spezifisch menschlicher Kooperation und insbesondere auch der antagonistischen Kooperation bildet, die Konkurrenten miteinander verbindet, ist in einer bis heute gültigen Prägnanz von George Herbert Mead auf den Begriff gebracht worden. Ich schließe mich daher im Folgenden Meads Argumentation an, die ich in Grundzügen nachzeichne. Da das Handeln der Kooperationspartner durch ihre jeweiligen Haltungen gegenüber den Reaktionen ihres Gegenübers initiiert und bestimmt werden, beruht Kooperation Mead zufolge letztlich darauf, die Haltung des jeweils anderen gegenüber der eigenen Haltung als einen die eigene Haltung bestimmenden Reiz im Handlungsvollzug konstituieren zu können. Geschieht das, dann setzt diese wechselseitige Berücksichtigung der Haltungen eine Kommunikation in Gang, die sich als Prozess der Anpassung an den Anderen durch »reziproke Verschiebung« (reciprocal shifting) der jeweils eigenen Haltungen vollzieht.1 Die Voraussetzung dieses Vermögens ist die Objektivation der Haltung in einem beiden Handelnden gemeinsamen Medium. Diese Aufgabe erfüllt die »Gebärde« (gesture). Die maßgebliche Funktion der Gebärde sieht Mead darin, die Haltung als Initialphase des erwartbaren Reaktionsverhaltens zu artikulieren. Die Gebärde dient mithin der Kommunikation der Kooperationspartner, sie ist das Medium der »Gebärdenkommunikation« (conversation of gestures) und ihr motorischphysiognomischer Variationsspielraum gleichsam das Alphabet der Kooperation.2
1
Mead 1934: 63.
2
Ebd.: 43.
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»Eine Gebärde des einen Organismus, die Resultante des sozialen Aktes, in dem die Gebärde eine frühe Phase ist, und die Reaktion des anderen Organismus auf die Gebärde sind die Relata einer dreifachen oder dreifaltigen Relation (a triple or threefold relationship) zwischen der Gebärde und dem ersten Organismus, der Gebärde und dem zweiten Organismus sowie der Gebärde und den nachfolgenden Phasen des gegebenen sozialen Aktes; und diese dreifaltige Beziehung bildet die Matrix, auf der Bedeutung entsteht bzw. welche sich in das Feld der Bedeutung entwickelt.«3 Das ist so zu verstehen, dass im voll entwickelten Bedeutungsbegriff objektive Bedeutung und individuelles Bedeutungsbewusstsein im Medium der Gebärdenkommunikation vermittelt sind. Mit dieser Interpretation der Gebärde kehrt Mead, wie Hans Joas zu Recht betont hat, die traditionelle geistesgeschichtliche Relationierung von Bewusstsein und Handeln um. Denn er versucht jetzt, so Joas, »Bedeutung in Handlungsaufgaben zu fundieren und d.h. in natürlichen Problemen und ihrer kooperativen Bewältigung.«4 In der Gebärdenkommunikation erkennt Mead die strukturelle Voraussetzung für die Entwicklung einer notwendigen Bedingung von Bedeutungsbewusstsein, die sich aus dem instrumentellen, nicht-kooperativen Handlungsvollzug nicht erschließen lässt, nämlich der Aufmerksamkeit des Handelnden auf die eigenen Haltungen. Da die Kooperationsteilnehmer sich an den Haltungen des jeweils anderen orientieren, ist es für den einen Handelnden relevant, die Haltungen des anderen, die sich ja ihrerseits an den Haltungen seines Gegenübers orientieren, durch das Bewusstsein der eigenen Haltung antizipieren zu können, denn von der jeweils eigenen Haltung hängt ab, welche Gebärde das Gegenüber kommunizieren wird. In der sozialen Kooperation mit anderen profiliert sich ausgehend von der Analyse ihrer Handlungsansätze »durch unsere instinktiven Reaktionen auf ihre Änderungen der Körperhaltung und andere Anzeichen sich entwickelnder sozialer Handlungen« über »unsere Anpassungen (adjustments) an ihre wechselnden Reaktionen […] durch einen Prozess der Analyse unserer eigenen Reaktionen auf ihre Reize«5 schließlich, so Meads Formulierung im englischen Original, »a consciousness of one’s own attitude as an interpretation of the meaning of the social stimulus.«6 In der sozialen Kooperation geht den Handelnden der Reizcharakter ihrer eigenen Reaktionen für den jeweils anderen auf, mit anderen Worten: das Be-
3
Ebd.: 76, Übersetzung von M.S.
4
Joas 1989: 101.
5
Mead 1910a: 403, Übersetzung von M.S.
6
Ebd.
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wusstsein ihrer eigenen Haltung hat die Eigenschaft der Interpretation dieser Haltung als eines Reizes, die darin besteht, dass die anderen auf sie wahrscheinlich in einer erwarteten Weise reagieren werden. Bedeutungsbewusstsein emergiert folglich zunächst in der Interpretation der jeweils eigenen Haltung eines der an der Kooperation beteiligten Individuen als eines erwarteten Reizes für die anderen Beteiligten. Es ist das Bewusstsein eigener Haltungen sub specie erwarteter Reaktionen, die diese Haltung als Reiz qualifizieren bzw. be-deuten. Zwar ist die entstehungsgeschichtliche Ausgangsformation dieses ›interpretativen‹ Bewusstseins die vorsprachliche Gebärdenkommunikation;7 damit sich die Disposition zur Aufmerksamkeit auf die eigenen Gebärden phylogenetisch ausbilden kann, ist es aber unabdingbar, dass die Teilnehmer an der sozialen Kooperation die jeweils eigenen Gebärden auch als solche wahrnehmen können. Dabei dürfen wir zunächst nicht an eine Art Selbstzuschreibung der Gebärde denken, sondern vielmehr an eine unmittelbare Vertrautheit mit ihr. Hier spielt der Emotionsausdruck eine gewisse Rolle, denn durch ihn ist der Handelnde seiner Gebärde unmittelbar als seiner Gebärde gewahr. Entscheidend ist darüber hinaus, dass die gegenständliche Wahrnehmbarkeit der eigenen Gebärde die Möglichkeit eröffnet, »implizit«, wie Mead sagt, in dem Individuum, das die Gebärde macht, »die gleiche (same) Reaktion« hervorzurufen, die sie »explizit« in den anderen Individuen hervorruft, an die sie adressiert ist,8 weil es durch Selbstwahrnehmung ebenfalls zum Kreis der Empfänger gehört. Meads paradigmatisches Beispiel für Gebärden, die von den Handelnden, die sie machen, selbst wahrgenommen werden können, ist die »Lautgebärde« (vocal gesture). Sie sei ein privilegiertes Medium der Aufmerksamkeit auf sich gegenüber dem »eigenen Gesichtsausdruck oder der eigenen Körperhaltung«, denn man vernehme »mit seinen Ohren die eigene Lautgebärde in derselben Form, die sie für einen Mitmenschen besitzt«9. Unter der impliziten Hervorrufung des Reaktionsverhaltens der Empfänger einer Gebärde in ihrem Sender sollten wir uns die Evozierung derjenigen Haltung denken, die auf die Haltung des Senders im jeweiligen Empfänger als Initialphase seiner motorischen Reaktion erfolgen wird. Der Grund dafür, dass die Haltung, die der von einem der Handelnden kommunizierte Reiz im anderen explizit auslöst, in ihm selbst ein impliziter Impuls bleibt, besteht darin, dass der Sender der Gebärde zwar auch ihr Empfänger,
7
Zur zusammenfassenden Darstellung der Struktur vorsprachlicher Gebärdenkommunikation vgl. Mead 1910b/1987: 221.
8
Mead 1934: 47.
9
Mead 1912/1987: 235.
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nicht aber ihr Adressat ist. Die Haltung, die sich in der Gebärde verkörpert, dominiert die durch deren Wahrnehmung im Sender evozierte Reaktionshaltung, berücksichtigt diese aber wiederum als die erwartbar dominante Haltung des Adressaten. Die dominierende Haltung wird so zu einer ein explizites Reaktionsverhalten erwartenden Haltung. Kommuniziert nun einer der Handelnden seine Gebärde dem anderen in der Erwartung, dieser werde darauf in der vom ersten Handelnden antizipierten Weise reagieren, reagiert dieser tatsächlich in der erwarteten Weise, und entwickelt sich daraus ein Prozess reziproker Verschiebung und wechselseitiger Orientierung der jeweils eigenen Gebärden an denjenigen des anderen, dann gewinnt die Gebärde den Charakter eines »signifikanten Symbols«, eines Zeichens. Das gilt aus den genannten Gründen zumal für die Lautgebärde.10 Die Bedingungen für die Entstehung der Symbolizität von Gebärden sind demnach erstens das Bewusstsein der in ihnen artikulierten Erwartungen, zweitens deren zumindest hochwahrscheinliche Erfüllung durch Eintreten der expliziten Reaktion im Adressaten, die der Sender implizit in sich selbst hervorgerufen hat,11 und drittens die wechselbezügliche Orientierung der Verhaltenserwartungen in der sozialen Kooperation.12 Hat sich die Bedeutungsfunktion der Zeichen im Vollzug der Gebärdenkommunikation erst einmal stabilisiert, dann hat sich entwickelt, »was wir
10 »Die Lautgebärde wird ein signifikantes Symbol […], wenn sie auf das Individuum, das sie macht, die gleiche Wirkung (the same effect) ausübt wie auf das Individuum, an das sie adressiert ist« (Mead 1934: 46). 11 Diese beiden Bedingungen werden von Mead unmittelbar nacheinander wie folgt benannt: »When, in any given social act or situation, one individual indicates by a gesture to another individual what this other individual is to do, the first individual is conscious of the meaning of his own gesture« (ebd.: 47, Hervorhebung von M.S.) – hier wird die Gebärdenbedeutung an die Erwartungshaltung (is to do) geknüpft. Und etwas später heißt es: »Gestures become significant symbols when they implicitly arouse in an individual making them the same responses which they explicitly arouse, or are supposed to arouse, in other individuals, the individuals to whom they are addressed« (ebd., Hervorhebung von M.S.) – hier betont Mead das Erfolgskriterium der Erwartungshaltung, denn die Erwartung ist in der hohen Wahrscheinlichkeit des Eintretens des Erwarteten (supposed to arouse) begründet. 12 Auch Tugendhat anerkennt die Dialogizität der sozialen Kooperation als »Lösung des Problems« der Bedeutungsidentität, gibt ihr aber eine sprachphilosophisch verengte Deutung. Vgl. Tugendhat 1997: 255 f.
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›Sprache‹ nennen«13. Dann können wir auch situationsunabhängig Bedeutungen evozieren, mit denen die Zeichen in den Reiz-Reaktions-Schaltkreisen situationsabhängiger Gebärdenkommunikation ursprünglich belehnt worden sind. Die situationsunabhängige Evozierung von Bedeutungen durch Internalisierung der zeichenvermittelten Gebärdenkommunikation nennt Mead »das Wesen des Denkens«14. In ihr erfüllt sich die Genese des Bedeutungsbewusstseins: »The thought transcends all occurences.«15 Nun ist das Universum der Zeichen auch dasjenige Medium, in dem die von Mead naturalistisch gedachte Objektbedeutung und das menschliche Bedeutungsbewusstsein miteinander zu Repräsentationen der gegenständlichen Welt vermittelt werden.16 Folglich sind die instrumentell Handelnden sich der Bedeutung der begegnenden Objekte bewusst, wenn sie deren erwartbare ›Reaktionen‹ auf die in ihren eigenen Haltungen initiierten Handlungen im Medium signifikanter Symbole antizipieren, und zwar als solche Reaktionen antizipieren, die ihrerseits wiederum für das Folgehandeln relevante Reize darstellen werden. Die Strukturlogik der zeichen- bzw. sprachvermittelten Verhaltenserwartung wird also aus der Gebärdenkommunikation, in der sie ihren Ursprung hat, auf das instrumentelle Handlungsfeld übertragen, wo Distanz- und Kontaktwahrnehmung gegenständlicher Objekte zu deren zweckgerichteter Manipulation jetzt vorsätzlich und planvoll koordiniert werden können. Die operationalen Schemata, welche die instrumentelle Objektbeziehung immer schon qualifiziert hatten, werden unter Bedingungen des entfalteten Bedeutungsbewusstseins reflexiv zugänglich. Allerdings verkompliziert sich die Sachlage dadurch, dass sich die Bedeutung keines Objekts der materiellen Welt in dem Gehalt der manipulativen Vorhabe eines einzelnen Handelnden erschöpft. Das zeigt Meads Unterscheidung des Typs singulärer Reaktionshaltungen von demjenigen komplexer Reaktionshaltungen, die er an den Beispielen des haltungsbedingten Reizcharakters von Hämmern und Pferden illustriert.17 Dabei handelt es sich natürlich um eine analytische Unterscheidung zum Zwecke der Klärung des Haltungsbegriffs, weil es de facto schlechterdings keine bloß singulären Reaktionshaltungen gibt. Dass ein Pferd nicht nur ein biologisches Tier ist, sondern eben auch »an economic animal«,
13 Mead 1934: 46. 14 Ebd.: 47. 15 Ebd.: 88. 16 Zu Meads Theorie der Dingkonstitution, auf die ich hier nicht näher eingehen werde, vgl. Joas 1989: 7. Kapitel; Joas 1978: Abschnitt 2. 17 Mead 1934: 11 f.
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bedeutet die Berücksichtigung der Haltungen Dritter für die Konstitution des Reiz-Objekts Pferd, und diese über das Reiz-Objekt vermittelte Verschachtelung wechselseitiger Haltungsberücksichtigungen wird semantisch durch den Begriffsinhalt von ›Pferd‹ repräsentiert. Ein anderes Beispiel, das Mead bemüht, um die Vermittlung instrumenteller und kommunikativer Haltungen im Bedeutungsbewusstsein zu verdeutlichen, ist unser Bewusstsein von Stühlen. »What thinking proper means is that this process of associating chair as object with the word ›chair‹ is a process that human beings in society carry out, and then internalize.«18 Die Semantik belegt, dass im Bedeutungsbewusstsein epistemischer und praktischer Bezug Aspekte einer intrinsisch bestimmten Bewusstseinsganzheit sind. Die Repräsentation bestimmter Gegenstände als ›Stühle‹ ist eine Kognitionsleistung, die eine ›Gebrauchsanleitung‹ enthält, wie man sich zu ihnen verhalten kann, mehr noch, wie man um der Vermeidung von Verhaltensauffälligkeit willen sich zu ihnen verhalten sollte. Wer sich des Sachverhaltes bewusst ist, vor einem Stuhl zu stehen, der hat damit implizit zugestanden, dass er sich in einem Raum befindet, der den Gesetzen der newtonschen Physik entspricht, dass er sich wahrscheinlich im Geltungsbereich einer Kultur befindet, deren Angehörige unter bestimmten Situationsbedingungen den besagten Gegenstand nutzten, um zu sitzen, und dass er, sollte er sich in einer Situation befinden, die durch einige dieser Bedingungen charakterisiert ist, sogar gut daran täte, es ebenso zu halten, soll er sich nicht ›falsch‹ benehmen. Mit anderen Worten: Epistemé und praxis sind durch das Bedeutungsbewusstsein vermittelt. Der in der Semantik der Alltagssprache manifeste Geltungssinn des Sollens reicht dabei von Erwartungen der Konventionserfüllung, wie sie später Gegenstand von Erving Goffmans Rahmenanalyse wurden, über Gehalte des epistemischen und praktischen Ansinnens bis zu Ansprüchen ästhetischer, ethischer und religiöser Art (ohne diese so scharf voneinander trennen zu können, wie es diese Klassifizierung insinuiert), denen nicht zu entsprechen mit Sanktionen verbunden sein kann: »Die Haltung der Gemeinschaft gegenüber unserer eigenen Reaktion [auf bestimmte Reize] wird im Sinne der Bedeutung dessen, was wir tun, in uns eingeführt«19, und diese Haltung ist immer auch eine (im weiten, also nicht moralisch eingeschränkten Sinne) normative Erwartungshaltung. Der Ertrag von Meads Bedeutungstheorie ist der Aufweis der impliziten praktischen Orientierungsleistung von Bedeutung.
18 Ebd.: 106, Hervorhebung von M.S. 19 Ebd.: 195, Übersetzung von M.S.
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2. S OZIALISATION Um die anspruchsvolle Konzeptualisierung des Bedeutungsbewusstseins als eines Bewusstseins operationaler Schemata, die durch die Verhaltenserwartungen anderer qualifiziert sind, theoretisch zu fundieren, muss Mead allerdings zeigen, wie es sich in der Ontogenese entwickelt. Die Stationen dieses Prozesses sind der Erwerb der Fähigkeit zur Einnahme der Rollen anderer Kooperationspartner, die vom Kind zunächst im einfachen Rollenspiel (play)20 und später im organisierten Wettkampfspiel (game)21 eingeübt werden, sowie Stufen der Verallgemeinerung, auf denen die Verhaltenserwartungen eines immer größeren Kreises von Teilnehmern der Kooperation schließlich zum ›generalisierten Anderen‹ (generalized other) zusammengefasst22 und als Medium der Rekonstruktion und Bewertung des eigenen Verhaltens internalisiert werden.23 Meads Rekonstruktion der Struktur des Sozialisationsprozesses, in dem Menschen die operationalen Schemata der Kooperation internalisieren und in sich als Maßstäbe angemessenen Verhaltens aufrichten, bahnt schließlich den Zugang zum Konzept lebenspraktischer Bewährung, das uns Aufschluss über die anthropologische Struktur des Konkurrenzverhaltens gibt. Im Kern von Meads Argumentation steht die Analyse sozialer Rollen. Unter einer ›Rolle‹ müssen wir uns einen Komplex von Haltungen vorstellen, die nach bestimmten Kriterien, die durch den jeweiligen inhaltlich spezifizierten Rollenbegriff definiert werden – wie zum Beispiel denjenigen der Mutterrolle –, zu dem Ganzen eines idealiter in sich stimmigen Verhaltensmusters organisiert sind. Diesem Verhaltensmuster entspricht wiederum idealiter die »Kohärenz des Prädikatensystems«24 signifikanter Symbole im Medium der Sprache, das ein
20 Ebd.: 150. Das play berücksichtigt nur die besonders übersichtlich typisierte Rolle eines Kooperationspartners, z.B. die der Mutter, des Kaufladenbesitzers, der Krankenschwester usw. 21 Ebd.: 151. Das game berücksichtigt die Rollen mehrerer Kooperationspartner und deren Koordination untereinander, wobei mit fortschreitender Beherrschung seiner Logik sowohl die Rolleninhalte als auch ihre Organisation immer weiter differenziert werden. 22 Ebd.: 90, 154. 23 Mead entfaltet hier nur eine Stufentypologie der Bewusstseinsentwicklung, die ihrerseits empirisch differenzierbar ist. Vgl. dazu Selman 1984. 24 Ulrich Oevermann, »Vorlesungen zur Einführung in die soziologische Sozialisationstheorie«, zitiert nach Wagner 2004, Band 2: 108.
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Bewusstsein der Reziprozitätsstruktur sozialer Kooperation unter dem Verhaltensgesichtspunkt der jeweiligen Rolle ermöglicht. Die Verhaltenserwartungen beruhen daher im sprachlich vermittelten Bedeutungsbewusstsein auf der Objektivität dessen, was im Horizont des jeweiligen Prädikatensystems erwartbar ist. Der Generalisierungsstufe des Anderen – von der Familie über die Mitgliedschaft in sozialen Korporationen bis hin zur bürgerlichen Gesellschaft und der Weltgesellschaft, um dem Kategorisierungsschema von Hegels Rechtsphilosophie zu folgen, dessen Sachgehalt meines Erachtens Meads Konzeptualisierung dieses Prozesses folgt – entspricht die horizontale und vertikale Ausweitung des Prädikatensystems; die horizontale Ausweitung, weil immer mehr Prädikate in das System integriert werden müssen; die vertikale Ausweitung, weil die integrierten Prädikate intensional hinsichtlich ihrer Relationen untereinander bestimmt werden müssen. Die Stufen der Internalisierung des ›generalisierten Anderen‹ durch extensionale Ausweitung und intensionale Differenzierung des Prädikatensystems führen das Individuum zu der »vollen Entwicklung« seiner Identität,25 denn es lernt sich im Medium der sprachlich repräsentierten Verhaltenserwartungen sukzessiv differenzierter zu seinem eigenen Verhalten und Handeln zu verhalten und sich durch die dynamische Wechselbeziehung zwischen der Spontaneität des Handelns und der Reflexivität seiner Rekonstruktion und Bewertung im Horizont der Verhaltenserwartungen des ›generalisierten Anderen‹ zu individuieren. Den Individuierungsprozess in der Spannung zwischen Spontaneität und Reflexivität, zwischen Aktivität und Verstehen, zwischen Handlungszwang und Begründungsverpflichtung fasst Mead unter glücklichem Bezug auf die Flexion der Personalpronomina als intrinsische Wechselbezüglichkeit von ›Ich‹ und ›Mich‹ (›I‹ und ›me‹) auf.26 Dabei kommt der Instanz des ›I‹ die Aufgabe zu, der Gefahr eines deterministischen Missverständnisses der Ontogenese bereits in den grundbegrifflichen Anfängen der Sozialisationstheorie zu wehren. Sie war der innovative Ertrag von Meads Auseinandersetzung mit Deweys Kritik am Reflexbogenmodell und James’ Analyse des Bewusstseinsstroms in seinem frühen Aufsatz »Die Definition des Psychischen«, und an diesem Ertrag hält Mead auch in der Ausarbeitung seiner Sozialisationstheorie fest. Ich erinnere an die Bestimmung des Psychischen,27 die Mead in dem fraglichen Aufsatz gibt: es sei »jenes Stadium der Erfahrung, innerhalb dessen wir ein unmittelbares Bewusstsein konfligierender Handlungsantriebe haben, die dem Objekt seinen Charakter als Objekt nehmen und uns insofern in
25 Mead 1934: 158. 26 Ebd.: 173–178. 27 Mead 1903: 143.
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einer Haltung der Subjektivität zurücklassen, während derer aber aufgrund unserer rekonstruktiven Tätigkeit, die zum Begriff des Subjekts ›Ich‹ (im Unterschied zum Begriff des Objekts ›Mich‹) gehört, ein neues Reiz-Objekt entsteht«. Wie stellt sich die bereits durch die Flexion der Personalpronomina insinuierte Beziehung zwischen der rekonstruktiven Tätigkeit des ›I‹ und dem ›me‹ im Zusammenhang der Sozialisationstheorie nun dar? Die Subjektivität des ›Ich‹ besteht in tastenden Erprobungen der Konstitution neuer Reiz-Objekte durch das Handeln, dessen Gehalt als ›Mich‹ im Medium des internalisierten Prädikatensystems zunächst durch intuitive und im Bedarfsfall inferentiell explizite Angemessenheitsurteile über das erfolgte Handeln nachholend repräsentiert wird. Das ›Ich‹, die Subjektivität des Handelnden, »does not get into the limelight«28, jedenfalls nicht als solche, sondern immer nur als ›Mich‹, als aus der Perspektive des internalisierten Anderen bedeutete Handlungsinstanz, und zwar »only after he has carried out the act«29. Beide sind intrinsisch aufeinander bezogen, insofern der Handelnde durch seinen bisherigen Lebensvollzug dazu disponiert ist, die tastende Erprobung erneuter Reizkonstitution in die Richtung einer bestimmten Varianz von Haltungen zu vereindeutigen, ohne dass der faktische Vollzug dieser Vereindeutigung vorhersehbar ist, und das ist es, was Mead meint, wenn er vom Handelnden sagt, die Haltungen der anderen, »which one assumes as affecting his own conduct«, konstituierten das ›Mich‹, will heißen: würden durch Vermittlung des ›Mich‹ das Verhalten disponieren, dann aber fortfährt, »and that is something that is there, but the response to it is as yet not given«30. Das ›Mich‹ ist durch das ›Ich‹ bestimmt, weil »die rekonstruktive Tätigkeit, die zum Begriff des Subjekts ›Ich‹ […] gehört«, zur Entdeckung neuer Sachverhalte und neuer intensionaler Bezüge in dem internalisierten Prädikatensystem führt, durch die das Neue repräsentiert wird.
3. B EWÄHRUNG Meads Beitrag zur Erschließung der Struktur spezifisch menschlichen Konkurrenzverhaltens beruht auf seiner Konzeptualisierung personaler Individuierung durch die Verschränkung von Bedeutungs- und Sozialisationstheorie im Ausgang von einem gattungsübergreifenden Begriff der sozialen Kooperation. Die folgenden Überlegungen leiten von einem Konzept des kooperationsvermittelten
28 Mead 1934: 174. 29 Ebd.: 175. 30 Ebd.: 176.
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Bedeutungsbewusstseins zu demjenigen des unhintergehbaren lebenspraktischen Bewährungsbewusstseins über und schließen damit die Rekonstruktion der Voraussetzungen ab, die bedacht sein müssen, wenn wir Konkurrenz in Begriffen der antagonistischen Kooperation fassen wollen. Im Zentrum meiner Argumentation steht dabei wiederum die welterschließende Macht der Sprache. Nach meiner bisherigen Orientierung an der Intersubjektivitätstheorie von George Herbert Mead schließe ich mich jetzt Ernst Tugendhats sprachphilosophischer Erörterung der humanspezifischen Egozentrizität des praktischen Selbstverhältnisses an. Den Ertrag meiner Auseinandersetzung mit Tugendhat werde ich zuletzt wieder auf Meads wechselbezügliche Relationierung des ›I‹ und des ›Me‹ zurückbeziehen. Als ›Egozentrizität‹ bezeichnet Tugendhat eine Eigenschaft, die ›ich‹-Sager auszeichnet, das heißt Wesen, die eine propositionale Sprache sprechen und singuläre Termini verwenden können.31 Erst durch den Gebrauch der propositionalen Sprache wird es möglich, sich auf Sachverhalte als solche zu beziehen, und erst durch die singulären Termini, das auch situationsunabhängig zu tun.32 Die Kommunikation im Medium einer propositionalen Sprache – gemeint ist eine Sprache, deren grammatische Struktur die logisch-semantischen Voraussetzungen für die Bildung von Propositionen erfüllt – ermöglicht es, darin folgt er Mead, das Sprechen von den faktischen Verständigungssituationen zu entbinden und durch seine Internalisierung auf das Denken hin zu transzendieren. »Statt nur zu reagieren, kann der Hörer auf das, was der Sprecher sagt, mit Ja oder Nein oder den dazwischen liegenden Einstellungen wie Fragen oder Bezweifeln antworten, und auf diese Weise gewinnt die Sprache eine Funktion, die nicht nur situationsunabhängig ist, sondern auch unabhängig von der Kommunikation; es entsteht jetzt das, was wir Denken nennen, und wenn man denkt, kann man selbst, was man denkt, in Zweifel ziehen. So entsteht das für Menschen so charakteristische Phänomen der Überlegung«.33 Wie Mead knüpft auch Tugendhat das Denken also an die Fähigkeit zum vorsätzlichen Gebrauch signifikanter Symbole, aber er weist zusätzlich darauf hin, dass dieser Gebrauch in dem Vermögen fundiert ist, eine propositionale Sprache zu sprechen und singuläre Termini zu gebrauchen. Und diese Voraussetzungen eröffnen dem Menschen einen
31 Tugendhat 2003: 1. Kapitel. 32 Vgl. ebd.: 16. Ausführlicher zu Tugendhats Unterscheidung zwischen Signalsprachen und propositionalen Sprachen in Bezug auf die Fähigkeit zur Ja/Nein-Stellungnahme gegenüber Sachverhalten vgl. Tugendhat 1976: 12. und 13. Vorlesung. 33 Tugendhat 2007: 43.
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Raum des praxisentlasteten Gebens und Nehmens von Gründen. Jetzt kann er eine prinzipiell unendliche Menge möglicher Aussagen über die Wirklichkeit machen und gegeneinander abwägen, was der Fall ist. Ferner eröffnet sich ihm ein prinzipiell unendlicher Horizont der Deutung und Interpretation von Sachverhalten. Zu den singulären Termini zählen nun auch das Personalpronomen in seiner vollständigen Flexion oder deren logisch-semantische Äquivalente. Nur unter ihrer grammatischen Voraussetzung können Menschen sich selbst überlegend Prädikate zuschreiben und Aussagen über sich selbst machen. Daraus wiederum resultiert die Fähigkeit zur Selbstobjektivierung,34 insofern ich jetzt wissen kann, welche Eigenschaften ich besitze, in welchen Zuständen ich mich befinde, was ich tue usw.: »[S]ich seiner selbst bewusst sein heißt, sich als Denkender in einem Spielraum von Stellungnahmen bewusst sein«35. Auch dieser Gedanke ist eine sprachanalytische Differenzierung von Meads Überlegungen zur Sprachlichkeit der Selbstbeziehung. Unter den signifikanten Symbolen sind es spezifisch die Personalpronomina – oder logisch-semantische Äquivalente –, die das reflexive Sich-zu-sich-Verhalten ermöglichen. Unsere Sprache befähigt uns nicht nur zu Ja/Nein-Stellungnahmen über die äußere Welt, sondern auch zu solchen über unsere eigenen Befindlichkeiten und Bewandtnisse und damit zu einer Abwägung von Gründen nicht nur für die Wahrheit, sondern auch für die Güte von Sachverhalten, von der selbstbezüglichen Frage, ob meine erkannte Befindlichkeit für mich besser ist als eine denkbar andere, bis zu der maximal weltbezüglichen, ob die Welt aus meiner Sicht so sein soll, wie sie ist. Gleichursprünglich mit der Fähigkeit zur Selbstobjektivierung ist die Fähigkeit des Menschen, Dritten dieselben Fähigkeiten der Selbst- und Fremdzuschreibung von Prädikaten und der Aussage von Sachverhalten überlegend zuzuschreiben, und damit wiederum die Fähigkeit zur Selbstdezentrierung, insofern ich dann zugleich weiß, »einer unter allen«36 zu sein, die sich Gedanken über die Befindlichkeiten und Bewandtnisse ihres Lebens machen und Fragen darüber stellen, ob die gemeinsam belebte Welt aus ihrer jeweils individuellen Perspektive ihren Ansprüchen an das Gutsein des eigenen Lebens entspricht. Die Eigenschaft der Egozentrizität besteht darin, dass Menschen sich wichtig nehmen, weil sie erstens ihre Gefühle, Absichten usw. jetzt als die eigenen erkennen und in einem Spielraum des Überlegens abwägen können, zweitens aber
34 Tugendhat 2003: 27. 35 Ebd.: 48. 36 Ebd.: 27.
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auch darum wissen, dass ihre Wichtigkeit durch andere in Frage gestellt werden kann, die sich ihrerseits ebenso wichtig nehmen.37 Das Bewusstsein, einer unter allen zu sein, disponiert uns dazu, der eigenen Wichtigkeit wider ihre mögliche Infragestellung oder Ignorierung durch andere in dem ›logical space of reasons‹ (Wilfrid Sellars) Geltung zu verschaffen, den die semantisch-propositionale Sprache eröffnet. Dadurch gewinnt die Artikulation des subjektiven Geltungsbedürfnisses eine intersubjektive (und in diesem Sinne objektive) Komponente, denn Gründe sind als solche allen Sprechern dieser Sprache zugänglich. Vor allem werden wir durch den Spielraum von Ja/Nein-Stellungnahmen zu Subjekten von sogenannten ›ich‹-Handlungen, die durch das Bewusstsein qualifiziert sind, dass es wesentlich von mir abhängt, ob sie gelingen oder nicht. Indem ich in dem Spielraum auf etwas Gutes aus bin, der sich im Überlegen eröffnet, weiß ich mich unmittelbar als Handelnden, an dem es selbst liegt, ob er seine Tätigkeit gut ausgeführt haben wird. Deshalb lassen sich ›ich‹-Handlungen »nur als Gegenstand eines Sich-Ansprechens in einem Selbstimperativ verstehen«38. Und insofern ich einer von allen bin, werde ich auch von Dritten daran bemessen, ob ich mich diesem Selbstimperativ gestellt habe. Für die Einführung des Bewährungskonzepts ist es nun maßgeblich, dass unsere Sprache uns von der selbstbezüglichen Frage, ob meine jeweils gegenwärtig gewahre Befindlichkeit für mich besser ist als eine denkbar andere, bis zu der maximal weltbezüglichen, ob die Welt aus meiner Sicht so sein soll, wie sie ist, zu einer Abwägung von Gründen für die egozentrisch bemessene Güte von Sachverhalten befähigt. Dabei lässt sich die Frage, was wir in unserem Leben so wichtig nehmen, dass wir es als für uns gut bewerten würden, vielmals nicht von der Frage lösen, wie es gut ist es zu artikulieren. Tugendhat hat auf diesen Zusammenhang mit der Unterscheidung zwischen dem adverbiell Guten und dem prudentiell Guten hingewiesen.39 Das adverbiell Gute bezeichnet die gute Ausübung einer Tätigkeit, und diese betrifft ihre Anerkennungswürdigkeit, die sich wiederum nicht auf die Funktionalität der Tätigkeit für ihr érgon beschränkt, auf welche die logisch attributive Verwendung von ›gut‹ abhebt.40 Denn die Voll-
37 Vgl. ebd.: 29. 38 Ebd.: 62. 39 Ebd.: 68. 40 Für Tugendhat resultiert der Begriff des adverbiell Guten aus einer internen Differenzierung des attributiv Guten, das für Platon das Maß der Güte von èrga und Tätigkeiten ist. Allgemein zur Begriffsanalyse des ›Guten‹ vgl. Tugendhat 1994: 3. Vorlesung; von Wright 1963, zum adverbiell Guten ebd.: §§ 9–12.
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zugsweise funktional gleichermaßen zielführender Tätigkeiten kann immer noch besser oder schlechter sein, je nachdem, welche Wertmaßstäbe in die Ausübung meiner Tätigkeit einfließen. Das hängt offensichtlich von unseren Vorstellungen des prudentiell Guten ab, und deshalb muss das adverbiell Gute im prudentiell Guten »einen Ort haben« 41. Unsere Begriffe des für uns Guten enthalten gewissermaßen ›Anweisungen‹, was das für uns gut Auszuübende ist, aber auch, in welchem Sinne unsere Tätigkeiten im Rahmen unseres Strebens nach dem für uns Guten adverbiell gut sind. Dabei kommt dem adverbiell Guten allerdings aufgrund seiner intersubjektiven Komponente ein besonderes Gewicht zu. »Affektiv bedeutet ein Fehler im prudentiellen Bereich […] lediglich – in der aktiven Perspektive – Ärger und – in der passiven – Bedauern. […] Ist der Fehler hingegen ein solcher des adverbiell Schlechten und hat man ihn vor anderen begangen oder er ist für andere erkennbar, so empfindet man Scham. Scham ist das Gefühl des Wertverlustes, den man in den Augen der anderen erleidet; und wenn der Fehler für andere nicht wahrnehmbar ist, empfindet man eine Schamvariante, denn sie hätten es wahrnehmen können: man empfindet dann einen Wertverlust in den möglichen Augen der anderen«.42 Aufgrund unserer Selbstaufforderung zum adverbiell Guten im Horizont unserer Vorstellungen davon, was das für uns Gute ist, nehmen wir das Urteil anderer wichtig. Es ist das Urteil darüber, ob wir dem Gehalt unserer eigenen Ansprüche gerecht werden, und dieses Urteil ist uns deshalb wichtig, weil der Gehalt dieser Ansprüche gar nicht in unserem Belieben steht. Er erschließt sich uns in den inferentiellen Implikationen dessen, was es heißt, etwas zu sein oder etwas zu tun. Beziehen wir Tugendhats Überlegungen zurück auf Meads Konzeptualisierung des praktischen Selbstverhältnisses durch die Wechselbezüglichkeit von ›Ich‹ und ›Mich‹, dann können wir jetzt sagen, dass Individuierungsprozesse wesentlich auf ›ich‹-Handlungen beruhen, die wir als ›Ich‹-Instanz im Horizont von Maßstäben des adverbiell Guten ausüben. Diese Maßstäbe haben ihrerseits in denjenigen Lebensgütern »einen Ort«, wie Tugendhat sagt, die wir in unserem Leben wichtig nehmen, und beides, sowohl das prudentiell Gute als auch das adverbiell Gute, sind uns in dem internalisierten Prädikatensystem des generali-
41 Tugendhat 2003: 72. 42 Ebd.: 75. Ein Teilbereich dieser Scham ist die moralische Scham, gegenüber anderen unrecht gehandelt zu haben. Zu dieser Unterscheidung vgl. auch Tugendhat 1976: 57 ff., wo Tugendhat allerdings der – wie ich jetzt unterscheidend sagen möchte – ethischen Scham ein geringeres existentielles Gewicht beilegt als in Tugendhat 2003.
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sierten Anderen erschlossen, das die ›Mich‹-Instanz qualifiziert. In diesem Sinne individuieren sich Menschen kraft der Wechselbeziehung zwischen Spontaneität und Artikuliertheit. Individuierung vollzieht sich im Bewusstsein der billigen, das heißt nicht zwingend faktisch erwarteten, aber erwartbaren, nicht zwingend faktisch erhobenen, aber erhebbaren Bewährungsanforderungen der anderen, die in der Sprache der wechselseitig als verbindend unterstellten Gemeinschaft semantisch repräsentiert sind. Axel Honneth hat Meads Vorschlag zur Konzeptualisierung von Individuierungsprozessen anerkennungstheoretisch interpretiert. »Wenn das Subjekt dadurch, dass es die sozialen Handlungsnormen des ›generalisierten Anderen‹ zu übernehmen lernt, zur Identität eines sozial akzeptierten Mitglieds seines Gemeinwesens gelangen soll, dann ist es sinnvoll«, so Honneth, »für dieses intersubjektive Verhältnis den Begriff der ›Anerkennung‹ zu verwenden: in dem Maße, in dem der Heranwachsende seine Interaktionspartner auf dem Weg der Verinnerlichung ihrer normativen Einstellungen anerkennt, kann er sich selbst als ein Mitglied ihres sozialen Kooperationszusammenhanges anerkannt wissen.«43 Honneths Interpretation berücksichtigt meines Erachtens aber nicht hinreichend, dass die Anerkennung des einen Handelnden durch den anderen auf seine Bewährung gegenüber dem anderen verwiesen ist – und umgekehrt. Die Handelnden anerkennen einander in ihrem Streben nach Bewährung an den im Geltungsraum der Kooperationsgemeinschaft billigerweise erhebbaren Verhaltenserwartungen des jeweils anderen, und auf einer tieferen, grundlegenden Stufe der sozialen Reziprozität anerkennen sie wechselseitig die Bereitschaft jeweils des einen zur Anerkennung des Bewährungsanspruches des anderen an den ihm billigerweise zu unterstellenden Verhaltenserwartungen. So werden die Handelnden durch den Vollzug der sozialen Kooperation zu Individuen sozialisiert, die den Bewährungsanspruch als Haltung verinnerlicht haben, und zwar den Anspruch der Bewährung nicht erst auf einer moralischen und rechtlich regelbaren Ebene, sondern in dem ganzen weiten Feld der praktischen Orientierungen. Dieses Feld hat Mead im Blick, wo er die »Selbstverwirklichung des Individuums in der sozialen Situation« verhandelt.44 Keineswegs ist nämlich der Anspruch der Selbstverwirklichung unvereinbar mit dem Anspruch der Bewährung an den Erwartungen und Forderungen der anderen. Vielmehr handelt es sich dabei selbst um einen Bewährungsanspruch, der auf Anerkennung durch die anderen zielt. Die Individuen bewähren sich in ihrem Handeln an ihren wechselseitigen Erwartungen dadurch,
43 Honneth 1994: 126. 44 Mead 1934: 200.
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dass sie diesen Erwartungen durch ihr Handeln von ihrem »own particular and unique standpoint«45 in der sozialen Situation aus gerecht werden, der durch ihre Vergangenheit, durch die individuelle Ordnung ihrer Lebensgüter und ihre dadurch bedingte individuelle Interpretation der adverbiellen Güte ihrer ›ich‹Handlungen bestimmt ist.
4. K ONKURRENZ Der bisherige Gedankenweg führte mich von einer Rekonstruktion der strukturellen Grundlagen symbolisch vermittelter Kooperation über deren ontogenetische Internalisierung im Prozess der Sozialisation bis zu einem Konzept der bewährungsorientierten Individuierung. Der Anspruch lebenspraktischer Bewährung wird nicht zuzüglich zu unserer Lebenspraxis auch noch errichtet und akzeptiert, sondern er inhäriert dieser Lebenspraxis in Form von intersubjektiven Maßstäben für die Güte unserer Tätigkeiten, denen wir uns um den Preis des Scheiterns von Kooperation und Weltbearbeitung nicht entziehen können. Abschließend ist das Ergebnis meines Gedankenwegs zunächst auf das Konzept der Konkurrenz als antagonistischer Kooperation und dann auf den meine Argumentation leitenden Fall der Konkurrenz um Anerkennung von Individualität zu beziehen. Dabei wird zu berücksichtigen sein, dass die Struktur der Konkurrenz um Anerkennung von Individualität in dem mit Rekurs auf George Herbert Mead und Ernst Tugendhat entfalteten Begriff der sozialen Kooperation anthropologisch angelegt ist, die Aktualisierung dieser Struktur und die Bedeutung, die sie für die Selbstverhältnisse der Menschen annehmen kann, dagegen historisch stark variiert. Erst unter den Bedingungen hochgradig individualisierter Gesellschaften – wie denjenigen in der westlichen Moderne – wird die Konkurrenz um Anerkennung von Individualität zu einem Grundverhältnis sozialer Kooperation und der in ihr angelegte Antagonismus zu einer potentiellen Gefährdung nicht nur der individuellen Individuierungsprozesse selbst, sondern auch ihrer gemeinschaftlichen Voraussetzungen. In dem Maße, in dem der Heranwachsende seine Interaktionspartner auf dem Weg der Verinnerlichung ihrer normativen Einstellungen anerkenne, so hatte ich Axel Honneth zitiert, könne er sich selbst als ein Mitglied ihres sozialen Kooperationszusammenhanges anerkannt wissen.46 Und ich hatte Honneths Gedanken
45 Ebd.: 201. 46 Vgl. oben, S. 257.
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der Reziprozität von Anerkennungserwartungen und -forderungen dahingehend ergänzt, dass der Begriff der Anerkennung intrinsisch mit dem der Bewährung verbunden sei. Demnach bedeutet die sozialisatorisch vermittelte Verinnerlichung der normativen Einstellungen von Interaktionspartnern zu allererst, das eigene Handeln an den kooperativ eingerichteten Maßstäben der Gelungenheit und des Erfolgs zu bewähren. Das Fundament der Anerkennung einer Kooperationsgemeinschaft potentieller Interaktionspartner besteht darin, dass ich mich den Begriffen davon unterstelle, was es heißt, eine bestimmte Tätigkeit in guter Weise auszuüben. Es ist in erster Linie die adverbielle Güte meiner ›ich‹Handlungen, durch die ich mich als ein vollwertiges Mitglied einer Kooperationsgemeinschaft individuiere, das strukturell durch die Reziprozität von Anerkennungsbeziehungen bestimmt ist.47 Die Anerkennung, die ich der Kooperationsgemeinschaft dadurch zolle, dass ich mein Handeln an Gütekriterien bewähre, die in der fraglichen Gemeinschaft für den jeweiligen Typus von Tätigkeiten gelten, denen ich mich gerade widme, wird durch die Anerkennung erwidert, die von Seiten meiner Interaktionspartner der Bewährung meines Handelns gezollt wird. In welchem Zusammenhang stehen nun lebenspraktische Bewährung und Konkurrenz um Anerkennung? In einer spezifisch menschlichen Weise zu konkurrieren heißt, so hatte ich vorgeschlagen, dass sich zwei oder mehrere Kontrahenten durch ihr Engagement für den Erwerb eines Gutes miteinander um seinen alleinigen Besitz bewerben.48 Weil die Bewährung unserer Lebenspraxis darin besteht, dass wir den unseren Tätigkeiten innewohnenden Maßstäben der Gelungenheit und des Erfolgs gerecht werden, mündet sie immer dann in Konkurrenzverhältnisse, wenn die Ziele unserer Tätigkeiten in dem Erwerb von Gütern bestehen oder den Erwerb von Gütern zumindest implizieren, die nur begrenzt verfügbar sind und auch von anderen begehrt werden. Denn unter diesen Bedingungen bemessen sich die Gelungenheit und der Erfolg unserer Tätigkeiten auch daran, dass sie die Bemühungen unserer Mitbewerber um die begehrten Güter berücksichtigen, dass wir also unsere eigenen Tätigkeiten in Antizipation der Tätigkeiten der anderen gestalten, die sich ihrerseits an den ihnen innewohnenden Maßstäben der Gelun-
47 Dabei handelt es sich allerdings noch nicht zwingend um eine symmetrische Reziprozität von Anerkennungsbeziehungen, da die Bedeutung der Tätigkeiten, an deren adverbiellen Güte die Handelnden sich wechselseitig messen, in der Regel sozial stark hierarchisiert ist. Symmetrische Reziprozität wäre erst in einer klassenlosen Gesellschaft verwirklicht. 48 Vgl. oben, S. 242.
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genheit und des Erfolgs orientieren. Nun ist wiederum das grundlegende Gut unseres an lebenspraktischer Bewährung orientierten Handelns dasjenige der Anerkennung, die unsere Interaktionspartner der Gelungenheit und dem Erfolg unserer Tätigkeiten zollen. Menschen konkurrieren dann um Anerkennung miteinander, wenn es sich bei der Anerkennung um ein prekäres, nicht gleichermaßen verfügbares Gut handelt. Das ist grundsätzlich der Fall, wenn einerseits unterschiedliche Bewährungsanforderungen reziprok miteinander verkoppelt sind, wenn also jeweils meine Bewährung integraler Bestandteil der Bewährung des anderen ist, und andererseits Bewährung in einem Spannungsverhältnis von Angebot und Nachfrage verortet ist. Zur reziproken Verkoppelung von Bewährungsanforderungen folgendes Beispiel: Ein Zimmermann, der es beim Bau von Häusern zu handwerklicher Kunstfertigkeit gebracht hat, sucht dafür keine beliebige und konsequenzenlos ausgesprochene Belobigung, sondern eine verbindliche Wertschätzung, etwa der Art, wie sie ihm von Häuslebauern entgegengebracht wird, die sich entscheiden, den Traum vom Eigenheim in seine Obhut zu legen. Deren Wertschätzung ist deshalb verbindlich, weil mit ihrer Entscheidung für das Engagement des Zimmermanns etwas auf dem Spiel steht, das seinerseits Bewährungsanforderungen unterliegt. Die Eigenheimaspiranten stellen sich in aller Regel dem Anspruch, eine Familie zu gründen, für die Kinder ein geeignetes Entwicklungsumfeld zu schaffen oder Vorstellungen vom guten Leben zu verwirklichen; oftmals sind die Ansprüche auch konkreter, wenn sie zum Beispiel von haushalterischen Erwägungen bewogen werden, den Bankkredit einer Mietwohnung vorzuziehen, oder wenn sie geeigneten Raum für Heimarbeit benötigen, der ihnen anderweitig nicht zur Verfügung steht. Sie sind also interessiert an guter Zimmermannsarbeit, weil deren Produkt in ihrem Leben eine herausgehobene Rolle spielt. Sie können es sich nicht leisten, in dieser Angelegenheit einen schweren Fehler zu machen. Das macht sie für den Zimmermann zu Kandidaten einer angemessenen Anerkennung seiner Tätigkeit. Zur Verortung der Bewährung im Spannungsverhältnis von Angebot und Nachfrage baue ich das Beispiel noch etwas weiter aus: Stellen wir uns vor, dass die Häuslebauer in der günstigen Position sind, zwischen den Dienstleistungen mehrerer Zimmerleute wählen zu können. Unser Zimmermann muss dann berücksichtigen, dass es Kollegen mit ähnlicher Kunstfertigkeit gibt, er muss aber ebenso in Erwägung ziehen, ob die von ihm erreichbare Kunstfertigkeit im Bau von Häusern im Verhältnis zu derjenigen der anderen von den Häuslebauern tatsächlich in demselben Maße geschätzt wird, wie er es erwartet. Fällt nun die Wahl der Häuslebauer tatsächlich auf ihn, dann wird die Anerkennung, die sie
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unserem Zimmermann für die Güte seiner Tätigkeit bezeugen, noch dadurch vertieft, dass sie die Wahl hatten, wen sie mit dem Bau seines Hauses beauftragen (in Wirklichkeit ist es natürlich ein Vorschuss von Anerkennung aufgrund bereits geleisteter Arbeiten, derer er sich auch in Zukunft würdig erweisen muss). Die Pointe, die durch das Beispiel illustriert werden soll, besteht darin, dass die lebenspraktischen Bewährungsanforderungen, die wir an die adverbielle Güte unserer Tätigkeiten stellen, einerseits die Ausbildung von Konkurrenzverhältnissen begünstigen, die Konkurrenzverhältnisse aber andererseits auch auf den Bewährungsanspruch rückwirken und ihn verändern: Zum einen ist die Wertschätzung, die nach reiflicher Abwägung der Optionen zur Entscheidung für die ›Bewerbung‹ eines bestimmten Handelnden um Anerkennung der adverbiellen Güte seiner Tätigkeit führt (in unserem Beispiel zur Bevorzugung des besonders kunstfertigen Zimmermanns gegenüber seinen Kollegen), mehr wert als eine wahllose Anerkennung, weil die ihr vorangegangene Abwägung der Optionen ihr zusätzliches Gewicht verleiht – in diesem Sinne fördert die Bewährungsdynamik die Ausbildung von Konkurrenzverhältnissen; zum anderen wird die Bewährung, durch die sich ein Handelnder mit anderen um das Gut der Anerkennung durch Dritte bewirbt, intrinsisch von der praktischen Berücksichtigung dieser Dreiecksrelation bestimmt – und in diesem Sinne ist die Rückwirkung der Konkurrenzverhältnisse auf das Verständnis des Bewährungsanspruchs zu verstehen. Unter Konkurrenzbedingungen reicht es eben nicht aus, gute Häuser zu bauen, sondern die Ausübung dieser Tätigkeit muss sich in einem Wechselverhältnis von Erwartungen und Erwartungserwartungen unter den Konkurrenten sowie zwischen den Konkurrenten und den Häuslebauern verorten. Und die Berücksichtigung dieser Dreiecksrelation erhöht den Druck auf die Individualisierung der Bewährung, durch die sich die Kontrahenten voneinander unterscheiden und gegenüber dem Anerkennenden unterscheidbar machen. Wir Menschen, so hatte ich mit Ernst Tugendhat argumentiert, seien Subjekte von ›ich‹-Handlungen, die sich dadurch auszeichnen, dass es an uns selbst liegt, ob wir sie in guter Weise ausführen oder nicht. Ferner war ich Tugendhat darin gefolgt, dass ›ich‹-Handlungen diejenige Art von Tätigkeiten sind, in denen wir primär nach adverbieller Güte streben, worunter die gute Ausübung einer Tätigkeit zu verstehen ist, deren Anerkennungswürdigkeit sich wiederum nicht auf die Funktionalität der Tätigkeit für ihr érgon beschränke. Die Vollzugsweise funktional gleichermaßen zielführender Tätigkeiten kann laut Tugendhat immer noch besser oder schlechter sein, je nachdem, welche Wertmaßstäbe in die Ausübung
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meiner Tätigkeit einfließen. Unsere Begriffe des für uns Guten enthalten demnach gewissermaßen ›Anweisungen‹, was das für uns gut Auszuübende ist.49 Der von Tugendhat vorgeschlagene Parameter zur Qualifizierung von ›ich‹Handlungen ist also die prudentiell motivierte Hingabe, die der Handelnde in ihre Ausübung investiert (Tugendhat spricht von ihnen als einem Gegenstand des Sich-Ansprechens in einem Selbstimperativ). Ich behaupte nun, dass unter Konkurrenzbedingungen die Individualität der ›ich‹-Handlungen eine wachsende Rolle spielt. Unter Bedingungen der Konkurrenz um Anerkennung kann die Bewährung unserer ›ich‹-Handlungen in zunehmendem Maße erfordern, dass der Individualität des Handelnden im Verhältnis zum Produkt oder Resultat seiner Tätigkeit ein gesteigertes Gewicht zukommt. Darunter ist nun keineswegs zu verstehen, dass das Produkt oder Resultat unwichtig wäre, vielmehr zeichnet es die individualisierten ›ich‹-Handlungen aus, dass die Güte ihres Produkts oder Resultats wesentlich durch die Individualität desjenigen mitbestimmt ist, der sie ausübt. Unser Zimmermannsbeispiel illustriert den einfachsten Fall der Konkurrenz um Anerkennung lebenspraktischer Bewährung. Denn die Kriterien der Bewährung stehen vorab fest und erlauben eine relativ sichere Kalkulation, wie die Tätigkeiten ausgeübt werden sollten, damit sie anerkannt werden. Aber je höheren Anteil die Individualität des Handelnden an der Gelungenheit seiner Tätigkeiten hat, desto schwerer sind diese Kriterien vorab bestimmbar. Die Konkurrenz um Anerkennung unserer ›ich‹-Handlungen motiviert die Ausbildung eines potentiell einzigartigen Bewährungsprofils und damit zugleich auch die Individualisierung der Beziehung zwischen Bewährungs- und Anerkennungssubjekt. Angemessen ist demnach die Anerkennung eines Bewährungsanspruchs nur dann, wenn sie im Produkt oder Resultat einer Tätigkeit immer auch die Individualität des Handelnden würdigt, durch die dieser sich in Unterscheidung von seinen Konkurrenten bewähren will. Umgekehrt ist die Bewährung eines Anerkennungsanspruchs angemessen nur dann, wenn sie im Adressaten das Alter Ego der individualisierten Beziehung richtig antizipiert. Im Maße ihrer Individualisierung verlieren Bewährungsanspruch und Anerkennungsbereitschaft die verlässlichen Kriterien, anhand derer sie sich aufeinander beziehen und die reziproken Erwartungen sich stabilisieren können. Je größer der Individualisierungsdruck, desto größer ist auch die Gefahr des Scheiterns an dem Anspruch, sich im Verhältnis von Bewährung und Anerkennung durch die adverbielle Güte seiner Tätigkeiten zu individuieren, weil sich die angemessenen Kriterien von Gelungenheit und
49 Vgl. oben, S. 256.
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Erfolg erst im Vollzug der Tätigkeiten herausbilden bzw. in ihm ›entdeckt‹ werden. Das Paradigma maximaler Individualisierung der Beziehung zwischen Bewährungs- und Anerkennungssubjekt ist das künstlerische Handeln, dessen permanenter Innovationsdruck, insbesondere auch in der ›Bewerbung‹ der Konkurrenten um Aufmerksamkeit, alle einst geltenden Maßstäbe dessen, was Kunst denn sei, aufgezehrt hat. Dem Literaturwissenschafter Harold Bloom zufolge ist der künstlerische Innovationsdruck einer Einflussangst geschuldet, die den Dichter auf der Suche nach einer eigenen Sprache zum permanenten Vatermord an seinen Lehrern und Wegbereitern antreibt. Konkurrenz fördert Individualisierung, andererseits kann sich die immer auch durch anderweitige kulturelle und sozialstrukturelle Faktoren beförderte Individualisierung von Lebensläufen unter den Bedingungen der antagonistischen Kooperation besonders gestaltreich artikulieren. Das adverbiell Gute müsse, so Tugendhat, im prudentiell Guten »einen Ort haben«50, aber unter Bedingungen der Konkurrenz um Anerkennung gewinnt geradezu das umgekehrte Verhältnis an Plausibilität: Der Individualisierungsdruck, den die Selektivität der Anerkennung unter Konkurrenzbedingungen auf den Bewährungsanspruch des Einzelnen ausübt, disponiert ihn dazu, das prudentiell Gute im adverbiell Guten zu verorten und Vorstellungen des guten Lebens an den Maßstab zu binden, dass sich in ihnen die Einzigartigkeit einer von anderen unterschiedenen Individualität Geltung verschaffe, durch die er sich in den für ihn maßgeblichen Tätigkeiten gegenüber seinen Kontrahenten in der Konkurrenz um Anerkennung bewährt. Das Eigeninteresse am Guten gewinnt dann sukzessive Prägnanz durch die Herausforderung einer Konkurrenz, in der sich Individualität durch Unterscheidung profilieren und bestätigen lassen kann. Die zunehmende Diversifizierung von Lebensstilen sowie die Öffnung von Lebensläufen für eine nicht antizipierbare Zukunft, die weniger als Zumutung, denn als Herausforderung begriffen wird, zumindest in den urbanen Lebensräumen individualisierter Gesellschaften, ist ein Indiz dieses prudentiell kalkulierten Konkurrenzbegehrens, das nicht vorschnell mit dem Klischee des Entrepreneurship identifiziert werden sollte, zu dem es von der Profitideologie der neoliberalen Wirtschaftsordnung gern hochstilisiert wird.51
50 Tugendhat 2003: 72. Vgl. oben, S. 256. 51 Vgl. Sennett 2000; Honneth 2002.
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Konkurrenz der Religionen? R OLF S CHIEDER
Der Apostel Paulus vergleicht im 1. Korintherbrief das Leben im Glauben mit einem sportlichen Wettkampf: »Wisst ihr nicht, dass die, die in der Rennbahn laufen, zwar alle laufen, aber nur einer den Preis erlangt? Lauft so, dass ihr ihn erlangt! Jeder Wettkämpfer ist aber in allen Dingen enthaltsam; jene, um einen vergänglichen Kranz zu empfangen, wir aber einen unvergänglichen.«1 Ganz ähnlich heißt es im Hebräerbrief: »Darum also wollen wir […] mit Ausdauer laufen in dem Wettkampf, der vor uns liegt«2. Konkurrenz ist den neutestamentlichen Autoren nicht fremd. Im Gegenteil: die Metapher des sportlichen Wettkampfes soll zu besonderen asketischen Übungen anregen. Insofern hat Peter Sloterdijk nicht ganz unrecht, wenn er vorschlägt, die Theologie als »Trainingswissenschaft«3 neu zu konzipieren. Die Aufforderung, das eigene Leben zu ändern, Askese zu üben, ein anspruchsvolles Lebensziel zu verfolgen, gehörte von Beginn an zu den christlichen Selbstsorgetechniken, deren Wirkungen bis in unsere Tage reichen.4 Im Vergleich mit seinen trainingsintensiven und den Konkurrenzkampf gern annehmenden biblischen Anfängen hat das Kirchenchristentum in Europa jahrhundertelang Wettbewerbssituationen durch Territorialisierung und staatliche Regulierung zu vermeiden gesucht. Diese Strategie scheint jedoch an ihr Ende zu kommen – wenn auch in den vom orthodoxen Christentum geprägten Ländern der Wettbewerb der Glaubensgemeinschaften mit staatlicher Hilfe immer noch
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1. Kor. 9, 24 f.
2
Hebr. 12, 1.
3
Sloterdijk 2014: 145 f.
4
Vgl. Foucault 1982/2001.
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unterbunden wird. Globale Daten scheinen darauf hinzudeuten, dass diejenigen Religionsgemeinschaften wachsen, die den Konkurrenzkampf mit anderen Religionsgemeinschaften bewusst annehmen und ihre Gemeinden wie Unternehmen organisieren.5
R ELIGIONSÖKONOMIE : EIN P ARADIGMENWECHSEL IN DER R ELIGIONSFORSCHUNG Im Juli 1992 präsentierten der Ökonom Laurence R. Iannaccone und die Soziologen Roger Finke und Rodney Stark bei der Western Economic Association in San Francisco ein Papier, das im Rückblick als ein Meilenstein in der Religionsforschung angesehen werden kann. Es trug den Titel »Deregulating religion: the economics of church and state«. Programmatisch heißt es in der Zusammenfassung: »Traditional religious research fails to recognize religion as a market phenomenon. It especially overlooks supply-side factors […], emphasising instead demand-side shifts in the perceptions, tastes, and needs of consumers.«6 Nicht ohne Ironie kritisieren die Autoren das Säkularisierungsnarrativ, das behaupte, die religiösen Bedürfnisse hätten sich im Zuge der Modernisierung dramatisch gewandelt. Gerade davon sei nicht auszugehen. Die Nachfrage nach Religion sei relativ stabil, mit ihrem Niedergang sei nicht zu rechnen. »In practice, therefore, most demand-side explanations for religious change amount to little more than ad hoc postulations of altered tastes.«7 Hingegen könne eine nüchterne Analyse der Angebotsstrukturen sehr viel zwangloser und plausibler Unterschiede im religiösen Verhalten erklären. Zumal die Deregulierung religiöser Märkte zu einem gesteigerten Interesse an Religion führe: »Our examples demonstrate that simple deregulation lies at the root of major religious trends and that the vitality of a religious market depends critically upon its competitiveness.«8 Der Gottesdienstbesuch sei in den Ländern »with numerous competing churches«9 signifikant höher als in Ländern mit einer monokonfessionellen Religionskultur. Der vorgenommene Vergleich zwischen den USA und den skandinavischen Ländern spricht in der Tat für die These der Autoren, dass ein von
5
Vgl. Graf 2014.
6
Iannaccone et al. 1997: 350.
7
Ebd.: 351.
8
Ebd.: 350.
9
Ebd.: 351.
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staatlicher Kontrolle befreiter religiöser Markt vitaler ist als ein monokonfessionelles Staatskirchensystem. In den USA besuchen etwa 45 Prozent der Gläubigen wöchentlich einen Gottesdienst, in Schweden sind es zwei Prozent. Die Autoren bestreiten aber, dass die Ursache dafür in einem unterentwickelten Sinn und Geschmack der Schweden für Religion liege. Vielmehr sei das religiöse Angebot schlicht unattraktiv. Die Autoren zitieren einen Vertreter der schwedischen Kirche, der zu bedenken gibt, dass die Schweden zu ihrer Kirche ein Verhältnis wie zu einem Postamt hätten: Man sei dankbar für die Öffnungszeiten, nehme das Angebot aber nur in Anspruch, wenn dafür ein besonderer Anlass bestehe. Das halten Iannaccone, Finke und Stark aber für die billige Ausrede eines Kirchenfunktionärs, dem es letztlich gleichgültig ist, ob die Kirchenmitglieder am Gemeindeleben teilnehmen. Denn durch das staatliche Kirchenfinanzierungssystem seien Pfarrerinnen und Pfarrer gar nicht darauf angewiesen, dass Menschen am Gemeindeleben teilnehmen. Der Mangel an Konkurrenz mache die für das kirchliche Leben Verantwortlichen in Skandinavien faul und bequemlich. Umgekehrt zeige das US-amerikanische Beispiel, wie eine konsequente Deregulierung des religiösen Marktes das religiöse Leben aufblühen lasse. Lag um 1800 die Kirchenmitgliedschaft in den USA bei etwa 20 Prozent, so stieg diese im Lauf des 19. und 20. Jahrhunderts auf über 60 Prozent an. Die Produktivität der Forderung, sich nicht mehr ausschließlich auf eine gewandelte Nachfrage zu konzentrieren, sondern vielmehr die Angebotsbedingungen in den Blick zu nehmen, können die Autoren auch am Erfolg der sogenannten »Televangelists« zeigen, also dem Erfolg evangelikaler Prediger wie Jerry Falwell und Pat Robertson. Hatten Religionssoziologen diesen Erfolg zunächst auf einen bedenklichen Anstieg fundamentalistischen Denkens in den USA zurückgeführt, so können Iannaccone, Finke und Stark nüchtern zeigen, dass der Erfolg evangelikaler Prediger im Fernsehen schlicht darauf zurückzuführen ist, dass in den achtziger Jahren die bis dahin geltende Richtlinie, dass alle Fernsehstationen den Kirchen freie Sendezeiten einzuräumen hätten, fiel, und die liberalen Kirchen, die bis dahin das kostenfreie Programm dominierten, unfähig waren, sich auf die neuen Bedingungen einzustellen. Demgegenüber ergriffen evangelikale Prediger die Gelegenheit, sich durch Spendengelder ihrer Zuschauer Sendzeiten zu kaufen und so ihre Version des Evangeliums publik zu machen. Und so resümieren die Autoren, »that priviledged liberal denominations consistently lost market share when faced with conservative competition because their leaders proved slow to innovate or emulate the successful innovations of others and
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often failed to address the perceived needs of their members, giving preference instead to their own social/doctrinal views.«10 Vehement widersprechen die Autoren Säkularisierungstheorien, die entweder mit einem allmählichen Verschwinden oder mit radikalen Transformationen religiösen Lebens in der Gegenwart rechnen. So viel sei sicher: »The traditional rumors of religion’s demise are greatly exaggerated. For good or ill, at home and abroad, religious belief remains widespread, religious commitments continue to shape people’s behavior, new and deviant religions remain a focus of legal debate, and religious differences sustain political and social conflict.«11 Diese Diagnose hält auch nach mehr als zwanzig Jahren einer empirischen Überprüfung stand – ja sie besitzt heute mehr Evidenz denn je. Religionen spielen im öffentlichen Leben weltweit eine wachsende Rolle – sei es als zivilgesellschaftliche Akteure, sei es als mediales Phantasma wie der Islam in Europa.12 Das Säkularisierungsnarrativ hat seine Überzeugungskraft verloren. Niemand glaubt mehr an einen mit geschichtsphilosophischer Notwendigkeit hereinbrechenden Niedergang der Religion. Aber selbst die Reformulierung der Säkularisierungstheorie als zunehmende gesellschaftliche Ausdifferenzierung und damit Neutralisierung der religiösen Sphäre gegenüber der ökonomischen, der wissenschaftlichen, der politischen wird zunehmend hinterfragt und es wird auf Phänomene der Entdifferenzierung und Durchmischung der Sphären in postsäkularen Gesellschaften hingewiesen.13 Fragt man sich rückblickend, weshalb das Säkularisierungsnarrativ im 20. Jahrhundert so erfolgreich sein konnte, so wird man die antiklerikalen politischen Religionen des Faschismus und des Sozialismus als Protagonisten identifizieren können. Nicht weniger einflussreich waren aber auch kirchliche Prediger, die von den Kanzeln herab den Unglauben der modernen Welt anprangerten. Sich leerende Kirchen fassten protestantische wie katholische Geistliche nicht als Anfrage an die Attraktivität des kirchlichen Angebotes auf – vielmehr erschienen die leeren Kirchen als ein untrügliches Anzeichen für einen Abfall vom Glauben und ein Erliegen gegenüber den Verführungen der modernen Warenwelt. Als einen Tanz um das goldene Kalb empfanden viele die moderne kapitalistisch geprägte Welt. Man selbst war ein einsamer Rufer in der Wüste, der sich zwar mit prophetischer Kritik dem Trend in den Weg zu stellen sucht, letztlich aber den unvermeidlichen Weg in die Minderheiten-
10 Iannaccone et al. 1997: 360. 11 Ebd.: 363. 12 Zum Islam als Phantasma des Westens vgl. Schieder 2011: 40–44. 13 Vgl. Pfleiderer/Heit 2011.
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kirche antreten muss, wo sich ein heiliger Rest entschiedener Christen gegenseitig trösten und stärken kann. Die Konzentration auf vermeintliche Säkularisierungsprozesse, die als dramatischer Verfall religiöser Nachfrage auf Seiten der Bevölkerung gedeutet wurden, verstellte den Blick für die Frage nach dringend notwendigen Reformen kirchlicher Angebotsstruktur. Die Säkularisierungstheorie war in Kirchenkreisen deshalb so beliebt, weil sie so bequem war: Nicht das eigene Angebot was schlecht, sondern die gottlose Welt. Auf diese diskursive Blickverengung machte übrigens schon der Intendant des Bayerischen Rundfunks, Kurt von Boeckmann, im Jahr 1930 aufmerksam, als er die ersten Rundfunkpredigten von katholischen und protestantischen Pfarrern in den sogenannten »Morgenfeiern« des erst wenige Jahre alten Mediums Radio evaluierte: »Die Morgenfeiern sind im wesentlichen eine Kopie der kirchlichen Predigt! Das heißt: es ist wohl Rücksicht genommen worden auf gewisse Notwendigkeiten (Zensur, Auswahl der Redner); inhaltlich aber handelt es sich vielfach um religiös-dogmatische Ansprachen mit gelegentlicher Polemik gegen kirchenfeindliche Tendenzen oder besondere Eigenschaften der Gegenwart. Es fehlt das allgemein erhebende Moment, es fehlt der Appell an den Geist, es ist meist nur ein Appell an eine als vorhanden angenommene kirchliche Haltung der Hörerschaft.«14 Der Prozess der Verkirchlichung des Protestantismus wurde durch die Erfahrungen mit dem Faschismus und später dem Sozialismus noch verstärkt. In West- wie in Ostdeutschland wurde die gesellschaftliche Umwelt als bedrohlich empfunden. Der grundsätzlich kritische Bezug auf die gesellschaftliche Gegenwart wurde durch eine theologische Religionskritik potenziert, die der gelebten Religion der Bevölkerung eine Theologenreligion gegenüberstellte, die sich selbst gerne als »prophetisch« verstand, die aber aufgrund der Tatsache, dass die Propheten zugleich pensionsberechtigt waren, wenig Glaubwürdigkeit entfalten konnte. Während in der wissenschaftlichen Theologie bereits in den siebziger Jahren eine Wiederentdeckung des Religionsbegriffs und die Kritik einer prinzipiellen theologischen Gesellschaftskritik sich durchzusetzen begann, dauerte es bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts, bis die protestantischen Landeskirchen im Rückblick von einer »Selbstsäkularisierung« der Kirchen sprachen, die nun durch missionarische Anstrengungen überwunden werden müsse.
14 Diese Klage Boeckmanns findet sich in der Niederschrift der Ausschusssitzung der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Rundfunk am 11.04.1930, Landeskirchliches Archiv Nürnberg, LKR IV 573 a Bd. 1. Dabei muss man sich vor Augen halten, dass bereits die Zensur des Rundfunks alle Polemik der Pfarrer gegen andere Konfessionen konsequent tilgte. Mehr zur Herausforderung des neuen Mediums für die Kirchen in Schieder 1995.
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»K IRCHE
DER F REIHEIT « – AUF DEM W EG ZU EINER KONKURRENZFÄHIGEN
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Das sogenannte »Impulspapier« des Rates der EKD aus dem Jahr 2006 mit dem Titel »Kirche der Freiheit. Perspektiven für die evangelische Kirche im 21. Jahrhundert« stellt sich ausdrücklich in einen religionsökonomischen und konkurrenzorientierten Kontext: »Die evangelische Kirche in Deutschland steht vor großen Herausforderungen: Demographische Umbrüche, finanzielle Einbußen, die Spätfolgen zurückliegender Austrittswellen, hohe Arbeitslosigkeit, globalisierter Wettbewerb sind gesellschaftliche Entwicklungen, von denen die Kirche entscheidend betroffen ist. Sie nötigen zu einem Wandel kirchlicher Strukturen, der sehr viel Kraft und Aufmerksamkeit in Anspruch nimmt.«15 So lautet der erste Satz des Impulspapiers. Dieser strukturelle Wandel setze einen Paradigmenund Mentalitätenwechsel bei »hauptamtlich Mitarbeitenden und ehrenamtlich Engagierten«16 voraus. Geistliche Profilierung, Schwerpunktsetzung und Außenorientierung seien die neuen orientierenden Leitbegriffe. Die Chancen für eine Neuorientierung seien günstig. Das Interesse an religiösen Fragen nehme zu, ebenso der Wunsch nach Beheimatung und Orientierung. Zumal als Begleiterin von Lebensgeschichten sei die Kirche immer noch gefragt. Doch auch die Zahl der Ehrenamtlichen sei nach wie vor hoch und die Kirche als kultureller Faktor genieße hohes Ansehen. Andererseits sei jedoch die demographische Entwicklung besorgniserregend; der Mitgliederbestand sei in Gefahr, bis 2030 um mehr als 40 Prozent zu sinken. Wenn auch die Kirchensteuereinnahmen noch stabil seien, so müsse man doch mit Sorge in die Zukunft blicken und Strategien entwickeln, um »gegen den Trend« zu wachsen. Wie sehr sich das Impulspapier der EKD von der Forderung der Religionsökonomie, die Aufmerksamkeit doch endlich auf die »supply side« des Religionsmarktes zu lenken, beeindrucken ließ, zeigt das folgende Zitat: »Die evangelische Kirche ist natürlich […] kein Wirtschaftsunternehmen; aber was sie dort an geeigneten Methoden und Erfahrungen lernen könnte, wird noch zu wenig genutzt.«17 Es müsse nun darum gehen, die Organisation zu verbessern, Kernkompetenzen zu definieren, Mission zu verstärken, Stärken zu entdecken und zu aktivieren und – expressis verbis – »vom wirtschaftlichen Denken« zu lernen.18
15 Kirchenamt der EKD 2006: 7. 16 Ebd. 17 Ebd.: 28. 18 Ebd.: 40 f.
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Was das genau bedeutet, wird so beschrieben: »Nicht mehr die lange oder gute Tradition einer Aufgabe ist ausschlaggebend, sondern die zukünftige Bedeutung. Bei jeder finanziellen Unterstützung durch die EKD muss die Frage überzeugend beantwortet werden können, ob es für die Zukunft des Protestantismus in Deutschland von herausragender Bedeutung sei, diese Aufgabe fortzusetzen.«19 Das Impulspapier wurde einerseits als Versuch der »Verbetriebswirtschaftlichung« der Kirche, als Strategie der Entmachtung der Gemeinden und der Einführung eines »Top-down«-Organisationsmodus vor allem von Theologieprofessoren gescholten, doch können die Initiatoren dieses Papiers nach acht Jahren zufrieden feststellen, dass das Grundanliegen, nämlich die kirchliche Lage durch Reformen des Angebotes zu verbessern, weithin angenommen wurde. Allerdings leidet das Impulspapier unter den gleichen grundsätzlichen Problemen wie das religionsökonomische Modell selbst. Diese grundsätzlichen Anfragen lassen sich so zusammenfassen: Was wird auf dem religiösen Markt eigentlich »produziert«? Wer sind die »konkurrierenden Marktteilnehmer«? Sind die Konturen einer Religionskultur hinreichend mit dem Begriff des »Marktes« erfasst?
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ORGANISIERBAR ?
Niklas Luhmann hat bereits in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts in seinem bekannten Essay »Die Organisierbarkeit von Religion und Kirchen« auf grundlegende Probleme einer betriebswirtschaftlichen und organisationssoziologischen Betrachtungsweise religiösen Lebens hingewiesen. Er stellt zunächst fest: Die Kirche »hat der Welt eine Theologie der Kontingenz in Aussicht gestellt. Sie wird dieses Versprechen nur durch Organisation einlösen können.«20 Zugleich aber gilt: »Keine der zentralen gesellschaftlichen Funktionen wird voll und ganz durch organisierte Sozialsysteme getragen.«21 Um einer Theologie der Kontingenz für die Welt willen solle sich die Kirche von einer Institution zu einer Organisation wandeln. Dabei sei zu beachten, dass der religiöse Bedarf einer Gesellschaft, der sich im Religionssystem Ausdruck verschafft, stets komplexer sei als das Angebot der Religionsgemeinschaften. Insofern sei zum einen damit zu rechnen, dass neben den Religionsgemeinschaften auch Familien, Vereine und der Staat religiöse Angebote vorhalten, zum anderen sei aber auch zu
19 Ebd.: 42. 20 Luhmann 1972: 285. 21 Ebd.: 245.
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bedenken, dass die Religionen ihr religiös-theologisches Angebot gestiegenen Inklusionsansprüchen anpassen müssten. Die jüngste weltweite Debatte über den Umgang mit Homosexuellen in den Kirchen ist dafür ein anschauliches Beispiel. Und warum ausgerechnet eine »Theologie der Kontingenz«? Wie das Rechtssystem das Problem der Ungerechtigkeit in der Welt erträglich macht und das Gesundheitssystem das Problem der Krankheit, so macht das Religionssystem das Problem der Kontingenz erträglich. Aber so wenig die Organisation des Rechtssystems das Problem der Ungerechtigkeit lösen kann, so wenig kann selbstverständlich auch die Kirche als Organisation das Kontingenzproblem ›lösen‹. Luhmann will die Kirchen daran erinnern, dass sie nicht dies und das organisieren sollen. Sie sollen sich vielmehr auf das konzentrieren, was die Gesellschaft vom Religionssystem erwartet: die Befähigung zum Umgang mit Kontingenz. Das ist eine anspruchsvolle Aufgabe. Man wird daran scheitern, wenn man sich in klerikaler Selbstabschließung dieser gesamtgesellschaftlichen Aufgabe von vorne herein verweigert. Aber auch wer die vorhandenen Kontingenzen nur verdoppelt, mit anderen Worten, wer keine Theologie der Kontingenz, sondern bestenfalls eine Theorie der Kontingenz bietet, erzeugt zu wenig Motivationskraft, Kontingenz nicht nur zu ertragen, sondern auch zu gestalten. In Luhmanns Worten: »Religion hat […] die Funktion, die an sich kontingente Selektivität gesellschaftlicher Strukturen und Weltentwürfe tragbar zu machen, das heißt ihre Kontingenz zu chiffrieren und motivfähig zu interpretieren. Damit ist einmal gesagt, dass Religion der Systemebene der Gesamtgesellschaft zugeordnet ist und bleibt; sie kann sich nicht damit begnügen, die selektive Identität anderer Systeme, etwa die Kirchlichkeit einer Kirche, zu behaupten und zu reflektieren.«22 Grundsätzlich unterscheidet Luhmann drei Möglichkeiten der Steuerung von Kirche: die Steuerung durch Personalpolitik, die Steuerung durch Strukturpolitik und die Steuerung durch Programmpolitik. Wenn diese auch voneinander abhängig sind, so ist die Programmpolitik durch die anderen Steuerungsmöglichkeiten langfristig nicht substituierbar. Mit anderen Worten: Ohne eine Theologie, die tatsächlich Steuerungswirkungen zu entfalten vermag, sieht Luhmann geringe Chancen, Veränderungen in der Kirche nachhaltig zu organisieren. Lapidar stellt er fest: »Vom Standpunkt reiner Organisationstheorie aus müsste man […] fordern, dass der theologisch interpretierte ›Auftrag‹ der Kirche (soziologisch: die Chiffrierung ihrer gesellschaftlichen Funktion) in ein variables Programm übersetzt wird, das als kirchenpolitisches Steuerungsinstrument und als Respezifizierungs-
22 Ebd.: 250 f.
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mechanismus fungiert.«23 Es braucht also eine Ekklesiologie, die die gesellschaftliche Funktion von Religion nicht nur im Modus der Negation deutet. Luhmann fordert, dass das Organisationssystem Kirche ein Verständnis von Theologie entwickeln müsse, »das eine programmatische Anleitung zur Erzeugung religiös bestimmten Erlebens und Handelns vorsieht und als solche bindend entschieden werden kann«.24 Wegen der überragenden Bedeutung der Programmpolitik für die Organisation der Kirche konstatiert er deshalb: »Gerade soziologisch und organisatorisch gesehen scheint mithin das Hauptproblem der Kirche ein theologisches zu sein.«25 Es wäre ein grandioses Missverständnis Luhmanns, wollte man seine Formel von der Theologie als einer Funktion der Kirche so verstehen, als habe die universitäre Theologie innerkirchlichen Abgrenzungsbedürfnissen zu dienen. Das genaue Gegenteil ist der Fall: Die Theologie zwingt die Kirche, sich der gesamtgesellschaftlichen Funktion von Religion ebenso bewusst zu bleiben, wie der Chiffrierung individueller Erfahrungen. Am Anfang der Forderung Luhmanns nach einer Theologie als Funktion der Kirche steht die systemtheoretische Bestimmung des Religionsproblems auf der Ebene des Gesellschaftssystems. »Religion hat […] die Funktion, die an sich kontingente Selektivität gesellschaftlicher Strukturen und Weltentwürfe tragbar zu machen, das heißt ihre Kontingenz zu chiffrieren und motivfähig zu interpretieren.«26 Insofern steht die paradoxe und pointierte These Luhmanns, dass gerade aus organisationssoziologischen Gründen die Kirche dringend auf Theologie – und nicht auf Ökonomietheorie – angewiesen sei, in einem wohltuenden Widerspruch zur These Friedrich Wilhelm Grafs, der behauptet: »Wie jedes andere Unternehmen müssen auch Religionskonzerne ihre corporate identity pflegen, den eigenen Markennamen profilieren, die Qualität ihrer Güter und Dienstleistungen sichtbar machen. Genau dazu dient unter den Bedingungen des Pluralismus das neue Konfessionsbranding.«27
23 Ebd.: 262. 24 Ebd. 25 Ebd. 26 Ebd.: 250 f. 27 Graf 2014: 38.
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G RUNDSÄTZLICHE P ROBLEME DES RELIGIONSÖKONOMISCHEN
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Friedrich Wilhelm Graf meint, dass religionsökonomische Deutungsmuster es erlauben, »religiöse Wandlungsprozesse relativ präzise zu modellieren und das konkrete Religionsverhalten einzelner Akteure schlüssig nachzuzeichnen«28. Bei genauerem Hinsehen ist den angeblich »erschließungsstarken Sprachspielen der Religionsökonomie«29 gegenüber jedoch Skepsis angebracht. Ein Einwand, der schon früh gegen Iannaccone, Finke und Stark erhoben wurde, ist deren implizite Voraussetzung, dass die US-amerikanische Religionskultur sozusagen die »default position« sei, von der aus alle andere Religionskulturen als unterkomplexe Abweichungen identifiziert und Modernisierungsdefizite festgestellt werden könnten. So wenig überzeugend die Annahme europäischer Religionssoziologen war, dass die US-amerikanische Religionskultur als eine »Ausnahme« zu gelten habe, so wenig überzeugend ist nun die Annahme der Religionsökonomie, dass sich »religiöse Märkte« weltweit wie in den USA entwickeln würden, wenn sie nur von staatlicher Regulierung befreit würden. Dabei wird bereits übersehen, dass auch der amerikanische Religionsmarkt staatlich reguliert ist. Man beachte nur die Unzahl von Gerichtsverfahren in den letzten Jahrzehnten, in denen die Grenze zwischen zwei Religionsformen immer wieder neu gezogen wird: nämlich zwischen einer erlaubten öffentlichen Zivilreligion – immerhin wird mit jeder Dollarnote das staatliche Credo »In God we trust« in die Welt getragen30 und an öffentlichen Schulen die »Pledge of Allegiance« zu einer »nation under God« zelebriert31 – und jenen religiösen Äußerungen, die als Privatsache behandelt werden. Auch das liberal-kapitalistische Marktmodell ist nicht dadurch entstanden, dass der Staat sich aus dem Markt zurückgezogen hätte. Ganz im Gegenteil haben die USA Marktbedingungen geschaffen, die der liberalen Wirtschaftsmentalität Vorteile gewährt. Die gänzlich andere Religionskultur in Deutschland mit ihrer engen Kooperation zwischen Staat und Religionsgemeinschaften lässt sich gerade
28 Ebd.: 39. 29 Ebd. 30 Wenn der Aussage eines jungen Religionsanthropologen geglaubt werden darf, hängt der Erfolg des Dollars gegenüber dem Euro und dem Rand als Währung in Zimbabwe, dessen eigenes Währungssystem zusammengebrochen ist, nicht zuletzt daran, dass für die Bevölkerung der Gottesbezug ein wesentliches Präferenzkriterium ist. 31 Zur Zivilreligion Barak Obamas vgl. Schieder 2013.
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nicht als unterentwickeltes Modell begreifen, dem eine Deregulierung nach USamerikanischem Muster gut tun würde. Ganz im Gegenteil muss die Religionsforschung – ebenso wie übrigens die Institutionenökonomik32 in Bezug auf das Verhalten der Marktteilnehmer – die institutionellen und strukturellen Traditionen in den jeweiligen Ländern viel ernster nehmen als sie das bisher getan hat. Die Mentalitäten, die die Bevölkerung eines Landes im Blick auf die gelebte Religion, die praktizierte Politik, das wirtschaftliche Verhalten ausbildet, lassen sich wie die Internodien eines Rhizoms gerade nicht voneinander isoliert betrachten, sondern nur in ihren Wechselwirkungen beschreiben. Es mag ja durchaus reizvoll sein, für einen Moment, gewissermaßen als bewusste Verfremdung, das religiöse Verhalten der Menschen mit wirtschaftswissenschaftlichen Kategorien zu analysieren – aber dies doch nur für eine kleine Weile und nur im Bewusstsein davon, dass sich die ökonomischen Modellierungen wirtschaftlichen Verhaltens ihrerseits weiterentwickeln. Besonders deutlich wird die Notwendigkeit der Kritik des religionsökonomischen Modells bei der Frage, welches »Produkt« Religionsgemeinschaften denn eigentlich anbieten. Rodney Stark und William Bainbridge geben darauf folgende Antwort: »Religious organizations are social enterprises whose primary purpose is to create, maintain, and exchange supernaturally based general compensators.«33 Sie unterscheiden zwischen »rewards« und »compensators«. Während es sich bei den »rewards« um Gewinne handelt, die nichts mit Religion als einem Glaubenssystem zu tun haben – wie beispielsweise das soziale Ansehen, das durch Mitgliedschaft in einer bestimmten Gemeinde gewonnen wird, oder der kulturelle Gewinn durch das Singen und Musizieren in der Kirche bis hin zur Sozialisation der Kinder in einer sicheren Umwelt –, handelt es sich bei den »compensators« um spezifisch religiöse Gewinne, die aus einer bestimmten Glaubensperspektive erwachsen. Als Beispiele nennen die Autoren das Gebet als eine Möglichkeit, seine Schuld zu bekennen und Trost zu finden, aber auch religiöse Lehren, die Orientierung bieten, ferner die Hoffnung auf Reparationen in einem Leben nach dem Tod und schließlich das Gefühl, erwählt zu sein, das ein Überlegenheitsgefühl trotz gegensätzlicher Erfahrungen ermöglicht.34 Nach diesem Modell wären also diejenigen Religionsgemeinschaften am erfolgreichsten, die diese »religiösen Bedürfnisse« am besten erfüllen. Bereits ein oberflächlicher Blick auf das religiöse Leben beispielsweise in Deutschland zeigt, dass die beiden
32 Vgl. etwa Briddat 2004. 33 Stark/Bainbridge 1987: 42. 34 Ebd.: 46.
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Großkirchen in dieser Hinsicht weitaus weniger zu bieten haben als kleinere Religionsgemeinschaften. Trotzdem ist kein Trend hin zu den kleinen Religionsgemeinschaften erkennbar. Religionsökonomen modellieren ihre Theorien in der Regel auf der Annahme, dass jeder Mensch versucht, sein Leben auf der Grundlage von Kosten-NutzenKalkulationen zu führen. Gerade diese Annahme eines Homo oeconomicus wird jedoch zunehmend zweifelhaft. Es ist gar keine Situation vorstellbar, in der ein Mensch sich zu einem bestimmten Zeitpunkt vornimmt, eine Vielzahl von Religionsanbietern miteinander aus einer Konsumentenperspektive nach »rationalchoice«-Gesichtspunkten zu vergleichen und sich dann für einen zu entscheiden. Was bei »mietwagen-billiger« und »wohnen-billiger« sehr gut funktioniert, klappt auf dem »religiösen Markt« schon deshalb nicht, weil die Marktteilnehmer sich immer schon in einer religiösen oder weltanschaulichen Tradition vorfinden. Es käme einer Parodie gleich, Judentum, Islam, Protestantismus, Katholizismus unter Kosten-Nutzen-Gesichtspunkten miteinander zu vergleichen und dann entsprechende »Kaufempfehlungen« zu geben.35 Das »rational-choice«-Konsumentenmodell kann aber auch deswegen nicht funktionieren, weil sich eine Religionsgemeinschaft dadurch auszeichnet, dass ihre Mitglieder Konsumenten und Produzenten zugleich sind, mithin der religiöse Gewinn und die gemeinschaftliche religiöse Produktion zusammenfallen. Religiöse Menschen wollen gerade keine Konsumenten sein. Sie wollen das Reziprozitätsprinzip, dass aller Ökonomie zugrunde liegt, überwinden. Eine mit betriebswirtschaftlichen Methoden für sich werbende Kirche steigert zumindest in Deutschland die eigene Glaubwürdigkeit nicht, sondern setzt sie aufs Spiel. Neuere religionsökonomische Theorien haben deshalb ihr Augenmerk auf die Glaubwürdigkeit von Religionsgemeinschaften gelegt: »The key to marketing religion is creating the perception of credibility. Credible commitments by suppliers foster confidence, not because they prove the validity of religious claims but because they signal suppliers’ convictions.«36 Diese Glaubwürdigkeit kann und wird in Deutschland nun aber gerade nicht durch die Dichotomie zwischen einem religiösen Markt und dem Staat hergestellt, sondern durch die enge Kooperation des Staates mit den Religionsgemeinschaften. Das Wohlwollen des Staates steigert in Deutschland die Glaubwürdigkeit einer Religionsgemeinschaft – und so gibt es auf dem Feld der
35 Vgl. dazu das faszinierende Theaterstück »The Day before the Last Day« der jüdischen Autorin Yael Ronen, das 2011 an der Schaubühne Berlin von jüdischen, palästinensischen und deutschen Schauspielern aufgeführt wurde. 36 Vgl. Miller 2002: 441.
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Bildung und der Diakonie ein eng gewobenes Netz von kirchlichem zivilgesellschaftlichem Engagement und staatlicher Förderung. Selbstverständlich schadet dieses nach wie vor erfolgreiche Subsidiaritätsmodell den Kirchen nicht, vielmehr ernten sie dafür Anerkennung auch bei den kirchlich Distanzierten.
»D ISENCHANTMENT « ODER »R EENCHANTMENT «? Die Frage drängt sich auf, warum der ökonomische Diskurs auf dem Gebiet der Religionsforschung so viel Nachahmer fand. Es ist ja kein Zufall, dass der Siegeszug religionsökonomischer Plausibilitäten in der Hochzeit des Neoliberalismus begann: Die Welt schien marktförmig lesbar und ihre Probleme schienen mit ökonomischen Strategien lösbar zu sein. War der Kapitalismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts dämonisiert worden, so wurden ihm Ende des 20. Jahrhunderts geradezu messianische Qualitäten zugeschrieben: Freiheit, Frieden, Gerechtigkeit, Reichtum und Wachstum für alle schien er bringen zu können. Das »Ende der Geschichte« schien in Sicht zu sein. Der ökonomische Diskurs war herrschend geworden und wurde mithin auf den Feldern der Politik, der Medizin, der Bildung, der Wissenschaft – und schließlich auch auf dem Feld der Religion getestet. Inzwischen hat sich Ernüchterung eingestellt. Die Faszination ist erloschen. Die Sachlogiken der jeweiligen gesellschaftlichen Sphären fordern ihr Recht zurück. Der Neoliberalismus war kein Rückfall in frühkapitalistische Verhältnisse. Er zielt vielmehr darauf, die Individuen dazu zu bewegen, ihrer eigenen Existenz eine unternehmerische Form zu geben. Jeder ist eine »Ich-AG«. Der Staat zieht sich aus der Regelung der ökonomischen und sozialen Probleme zurück und weist die Verantwortung für individuelle Lebensrisiken dem Einzelnen zu. Weder autoritäre Repression noch wohlfahrtsstaatliche Intervention ist das Prinzip neoliberaler Gouvernementalität, sondern der Appell an die Selbstregierungsfähigkeiten der Subjekte. Die neue Form von Gouvernementalität besteht also in der Aktivierung von Selbstregierungstechniken. Die heute weltweit gepflegten Selbsttechniken der Subjekte – vom Besuch des Fitness-Studios über den Besuch von Modeberaterinnen bis hin zur Arbeit am selbstsicheren Auftreten mit seinem Coach – sind nicht die neuesten Auswüchse eines schrankenlosen Egoismus, sie sind von der Gesellschaft selbst geforderte Technologien des Selbst. Die Befähigung zur Selbstregierung ist eine Technik, die das Christentum seit Jahrhunderten gepflegt hat. Möglicherweise verdankt sich das neue Interesse an individueller Religiosität und Spiritualität eben jenen neuen gesellschaftlichen Erfordernissen. Die Gesellschaft braucht selbstgewisse, optimistische, vertrauenswürdige,
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verlässliche, von einem hohen Arbeitsethos bestimmte Mitglieder: religiöse Menschen bringen diese Kompetenzen in hohem Maße mit. Religion wird als soziale Ressource entdeckt.37 Man kann aber noch einen Schritt weiter gehen und fragen, ob der ökonomische Diskurs der letzten Jahrzehnte nicht seinerseits eine religiöse Funktion erfüllt hat. Systemtheoretisch gebildeten Religionsforschern war die Rede von einem »religiösen Markt« immer schon suspekt, weil damit die Illusion erzeugt wurde, es gebe ein klar abgrenzbares Gebiet religiöser Aktivitäten mit klar bestimmbaren Akteuren. Das ist aber keineswegs der Fall: zwar lässt sich von Seiten der Religionssoziologie die Funktion des Religionssystems beispielsweise als Bearbeitung des Kontingenzproblems bestimmen, jedoch gibt es eine Vielzahl von Akteuren, die diese Funktion übernehmen können: die Kirchen haben kein Monopol auf Religion. Fußballvereine, Filmproduzenten, Lehrer, Politiker, Eltern – sie alle können gegebenenfalls als Religionsakteure auftreten. Umgekehrt erfüllen Religionsgemeinschaften nicht nur religiöse Funktionen, sondern auch politische, soziale, moralische, erzieherische. Möglicherweise handelt es sich bei der Anwendung des Marktbegriffs auf die Religion um eine Re-Mythologisierung zweiter Ordnung. Denn der Begriff ›Markt‹ (im Singular!) verschleiert, dass dieser letztlich aus einer chaotischen Vielzahl von unabhängigen Entscheidungen unabhängiger Akteure besteht. Gleichwohl gefällt es der Öffentlichkeit, von ›dem Markt‹ als einer allmächtigen und allwissenden Entität zu sprechen. Als entweder dämonische Macht oder als gütige »invisible hand« scheinen ihm die Menschen willenlos ausgeliefert zu sein – wie es sonst nur von Gott ausgesagt wird. Welches Interesse verbindet sich mit einer solchen implizit religiösen Aufladung ökonomischer Begriffe? Der Anthropologe Keith Hart vermutet, dass Geld deshalb als eine so faszinierende und zugleich Angst machende Macht erfahren wird, weil es einerseits die Hoffnung nährt, ein das Leben stabilisierender Faktor zu sein, andererseits aber alle Analysen der Finanzmärkte zeigen, dass Geld ein höchst instabiles Medium ist. Gerade so wird es aber zu einer bedrohlichen Macht. »Searching for the source of money’s power is like asking how God gets us to believe in Him. Of course we made him up, just as we made and make money up. Because all we can ever know is the past, why would anyone accept a claim to guarantee an unknowable future? But we do, because we have to – and faith is the glue sticking past and future together in the present.«38 Wetten auf die Zukunft oder abstrakter formu-
37 Vgl. etwa Putnam 2010. 38 Hart 2010: 161.
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liert: auf die Temporalität der Märkte ist die große Herausforderung der globalisierten, elektronischen Finanzmärkte.39 Die Vermutung, dass der Glaube an das Funktionieren der Märkte selbst eine religiöse Dimension besitzt, ist nicht neu. In ihrer dämonisierten Variante finden wir sie bereits in der marxistischen Kapitalismuskritik. Aber auch ein religionswissenschaftlicher Blick vermag im Finanzkapitalismus der letzten Jahrzehnte nicht die von Max Weber prognostizierte Rationalisierung und Entzauberung der Welt, sondern ihre neue Verzauberung zu entdecken.40 So spricht Peter van der Veer von einem neuen »re-enchanted capitalism«41. »For Weber magic is an irrational way of dealing with uncertainty, but recent social scientists have started to analyse magical practices as an integral and essential part of global capitalism […]. These practices are premised on a general, absolute, and apparently transcendent faith in the market.«42 Während weithin behauptet werde, in unserem »säkularen Zeitalter« sei die Transzendenz verloren gegangen, meint van der Veer, »that the transcendence of the state and the metaphysics of the market are foundational to modern society.«43 Es ist kein Zufall, dass sich Autoren, die der Moderne keinen Religionsverlust attestieren wollen, häufig auf Émile Durkheim berufen. Denn dieser hat emphatisch darauf hingewiesen, dass ohne ein kollektives Bewusstsein die Existenz von Sozialität nicht denkbar sei. Selbst der moderne Individualismus sei eben nicht einem Prozess der Atomisierung der Gesellschaft geschuldet. Vielmehr, so Durkheim, handle es sich auch beim ihm – wie bei allen gesellschaftlich wirksamen Entwicklungen – um eine Transformation des kollektiven Bewusstseins, die als ein »culte de l’individu« bezeichnet werden könne. Diesem Kult des Individuums sind auch jene unterworfen, die dazu keine Lust haben. In der modernen Gesellschaft ist jedes Gesellschaftsmitglied dazu gezwungen, ein selbstbestimmtes, selbstverantwortliches, sich selbst immer wieder optimierendes Individuum zu sein.
39 Vgl. Miyazaki 2003, der die Hoffnungen und Ängste von japanischen ›Tradern‹ untersucht. 40 Vgl. Vogl (2012: 178): »Haben sich moderne Vorsorgegesellschaften einmal über die Verwandlung von Gefahren in Risiken und über die Bändigung des Zufalls formiert, so ist nun das Zufällige, die Gefahr, ein ungebändigter Ereignissturm in die Mitte dieser Gesellschaften zurückgekehrt, als tyché oder Zufall in einer archaischen Gestalt: irregulär, gestaltlos und von Nicht-Wissen umspielt. Konkurrenzverhalten auf den Finanzmärkten, so viel wenigstens weiß man, führt eben nicht automatisch Gemeinwohl herbei.« 41 Van der Veer 2012: 186. 42 Ebd.: 185. 43 Ebd.: 189.
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T RANSFORMATIONEN DES K ONKURRENZGEDANKENS IM Z EITALTER DER I NDIVIDUALISIERUNG Wenn man auch den Religionsökonomen mit ihrer These vom bleibenden Religionsbedarf auch unter modernen Bedingungen zustimmt, so wird man die Augen vor ganz wesentlichen Transformationen nicht verschließen können. Dazu gehören neben den – nach einer Phase wohlfahrtsstaatlich geordneter Lebensplanungssicherheit – gestiegenen Kontingenzerfahrungen vor allem Migrationsprozesse, die zu einer Deterritorialisierung der Religionen führen und damit zu einem »gobalen Denominationalismus«44, der es den sogenannten »Weltreligionen« erstmals ermöglicht, tatsächlich weltweit um Gläubige zu werben. Religion wird zunehmend zu einer Angelegenheit individueller Wahl. Allerdings entstehen den Religionsgemeinschaften neue Konkurrenzen, die der Religionssoziologe José Casanova als »globale Sakralisierung« bezeichnet: die religiöse Aufladung politischer oder sozialer Phänomene. Wer etwa die globale Trauer um Nelson Mandela im Dezember 2013 verfolgt hat, dem drängt sich unweigerlich der Gedanke auf, dass Mandela – ähnlich wie Martin Luther King – als Prophet und Heiliger einer globalen Zivilreligion der Menschenrechte verehrt wird. Selbst der weltweit wachsenden Begeisterung für den Fußballsport kann man sich religionstheoretisch nähern. Nirgendwo wird kollektiv so inbrünstig gebetet, so hingebungsvoll gesungen und so glaubwürdig mitgefiebert wie in den Fußballstadien der Welt. Religion als ekstatische Selbstüberschreitung wird in den Fußballstadien gesucht und gefunden, die sich neuerdings gerne »Arena« nennen. Jedes Spiel ist ein Endkampf – ein bewusst inszeniertes apokalyptisches Schauspiel – mit kontingentem Ausgang. Ein Fußballspiel ist die Inszenierung von Kontingenz – und wir so zu einem Sinnbild für das Leben und seine Bewältigung. Magie wird ganz selbstverständlich praktiziert: das Sich-Bekreuzigen, das Küssen von Ringen, das Tragen bestimmter Kleidungsstücke, das Stoßgebet vor dem Elfmeter. Möglicherweise gibt es ja einen inneren Zusammenhang zwischen der Erfahrung gestiegener Kontingenz und der Begeisterung für den Sport: In beiden Fällen ist Scheitern möglich – und in beiden Fällen scheinen Askese und Selbsttechniken probate Mittel des Umgangs mit Kontingenz zu sein. Zugleich bietet gerade der Mannschaftssport eine Beheimatung im Kollektiv an. Niemals würde man mehr alleine durch Leben gehen müssen, versprechen die Fans in ihren Gesängen. Das Identifikationsangebot ist überwältigend. Die Kirchen in Deutschland sind angesichts dieser professionellen Inszenierung und
44 Vgl. dazu Casanova 2009: 108–119.
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Expression kollektiver Gefühle nicht konkurrenzfähig. Freilich verfügen sie über andere Identifikationsangebote von verblüffender Stabilität.
D ER Z WANG ZUR H ÄRESIE UND DIE S EHNSUCHT NACH I DENTIFIKATION Den Begriff »Zwang zur Häresie« hat der amerikanische Religionssoziologe Peter L. Berger bereits in den Siebzigerjahren des letzten Jahrhunderts geprägt.45 Berger spielt mit dem Begriff ›Häresie‹, der zunächst einfach nur ›Wahl‹ bedeutet. Sei in traditionalen Gesellschaften Religion im Wesentlichen geerbte, von den Eltern übernommene Religion gewesen, so sei das Individuum in der Moderne gezwungen, aus einer Vielzahl von Angeboten sich seine eigene Religion zu wählen, oder aber, sie sich aus einer Vielzahl von Angeboten selbst zusammenzubasteln. Die Unterscheidung von Rechtgläubigkeit und Häresie als Irrlehre wird damit aber sinnlos. Selbst bei formaler Kirchenmitgliedschaft hat jedes Kirchenmitglied seinen eigenen Glauben und seinen ganz individuellen Zugang zum Religiösen. Auf diesen Sachverhalt hatte bereits Friedrich D.E. Schleiermacher in seiner Schrift »Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern« im Jahre 1799 aufmerksam gemacht. Der von Berger so genannte Zwang zur Häresie ist in den Sozial- und Kulturwissenschaften mittlerweile eine ganz selbstverständliche Zeitdiagnose. Theoretiker der Postmoderne feierten sie als neue Möglichkeit, sich selbst zu gestalten, aus sich selbst ein Kunstwerk machen zu können. Dabei könne allerdings nicht mehr von einer ganzheitlichen, eindeutigen Identität ausgegangen werden. Identität in der Postmoderne sei »Patchwork-Identität«46. Die Patchwork-Kohärenz sei »eine Kohärenz ohne ›Identitätszwang‹«. Sie sei »ein kreativer Prozess von Selbstorganisation«47. An die Stelle des Zwangs zur Identität sei der ästhetische Imperativ getreten: Gestalte Dein Leben als ein Kunstwerk, als ein Kunstwerk, das im Werden ist. Was freilich als Zugewinn an »individueller Gestaltungskompetenz« gilt, ist zugleich ein Zwang zu immer mehr »Ambiguitätstoleranz«. Die Vielfalt der Möglichkeiten ermöglicht und erzwingt auszuwählen und sich zu entscheiden – und genau das wird immer schwieriger. Aufgrund der Überfülle des Möglichen sind die Menschen ständig zur Wahl gezwungen; dies
45 Berger 1979. 46 Keupp 1992: 872. 47 Ebd.
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aber nicht nur bei Automarken und Modefirmen, sondern auch im Blick auf die Lebensorientierung insgesamt. Die Menschen leiden nicht unter Sinnverlust, sondern am Sinnüberschuss und am Sinnüberfluss. Wer sich für eine bestimmte Glaubensrichtung entscheidet, wählt aus einer Vielzahl möglicher aus. Und weil man das weiß, bleibt mit dem Bewusstsein der Wahl immer das Gefühl verbunden, auf andere Möglichkeiten verzichtet zu haben. Der Imperativ ›Handle stets so, dass die Anzahl deiner Wahlmöglichkeiten größer wird‹ führt in die Sackgasse: Die Botschaft von den unbegrenzten Möglichkeiten entwertet die Wirklichkeit. »Die begrenzte Wirklichkeit ist leer: eine realisierte Möglichkeit, eine gefällte Entscheidung entzaubert, desillusioniert, sie hat die dumme Melancholie, die ein Lotterielos nach der Ziehung hat … «48. Die Sehnsucht nach Identifikation ist allgegenwärtig. Vom Grundschüler mit dem Fußballtrikot seines Lieblingsfußballspielers über die jugendlichen Fans der Popkultur bis hin zur Kopftuch tragenden Muslima – Identität wird über Identifikation gebildet. Auch ein politisches Gemeinwesen kann nur überleben, wenn sich eine ausreichende Zahl von Bürgerinnen und Bürgern mit ihm identifiziert. Die Zugehörigkeit zu einer Nation ebenso wie die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Konfession haben über Jahrhunderte das Selbstbewusstsein der Menschen in Europa bestimmt. Nationalismus und Konfessionalismus waren die Folge. Im Zuge der Globalisierung ist mit einem schwindenden Identifikationspotential des Nationalen zu rechnen, auch wenn bei internationalen Sportwettkämpfen ein folkloristisches, auf den Event zugeschnittenes Nationalgefühl aktiviert wird. Das Zeitalter des Nationalismus ist ebenso zu Ende, wie die Auflösung konfessioneller Milieus in Deutschland endgültig ist. Wenn wir aber von einem bleibenden Bedürfnis nach Identifikation ausgehen, dann stellt sich in der Tat die Frage, welche Identifikationsangebote der heranwachsenden Generation noch einleuchten. Womit identifizieren sich Jugendliche? In einer Befragung von 8.000 Berufsschülerinnen und Berufsschülern haben Andreas Feige und Carsten Gennerich erhoben, was diese in ihrem Leben für besonders wichtig halten.49 Ein zentrales Anliegen der Jugendlichen sind stabile und konsistente Nahraumerfahrungen, wie Eingebettetsein in der Familie, eine verlässliche Partnerschaft, ehrliche und gute Freunde. Sinnerfahrungen macht man mit Leuten, die man schätzt und die einen schätzen. Fundamentalistische Orientierungen sind nicht auszumachen. Das Interesse an
48 Schmitt 1919: 102. 49 Feige/Gennerich 2008.
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einer »Minimierung des Beziehungsrisikos« ist sehr hoch, dementsprechend sucht man »Interaktionsstabilität und Erwartungssicherheit«50. Wenn das Familiale und das Lokale nicht nur bei Jugendlichen, sondern vermutlich auch bei Erwachsenen eine zunehmend wichtige Rolle spielt, dann ist das eine plausible Erklärung für ein erstaunliches religionssoziologisches Phänomen im Osten Deutschlands. Axel Noack, Bischof der Kirchenprovinz Sachsen, hat dieses Phänomen bei der EKD-Synode im Mai 2003 in Leipzig so beschrieben: »In unserem Gebiet gießen wir so viel Glocken wie wir in hundert Jahren nicht gegossen haben. Das macht man sich gar nicht klar. Die Leute geben Geld für Glocken, Orgeln und Uhren, schon weniger für die Notsicherung und schon gar nicht für das Gehalt des Pastors. […] Jetzt kommen im Förderverein Menschen auf uns zu. Sie haben keine Erfahrungen damit und können auch nur ganz schwer sagen, warum sie mitmachen. Beim Kaffeetrinken frage ich immer: Warum macht ihr das mit der Kirche? Da sagen die nicht: Romanische Rundbogen, gotische Spitzfenster, sondern sie sagen: Das ist unsere Kirche. Ich sage: Wieso eure Kirche? Ihr geht dort doch gar nicht hinein. Die Entgegnung: Hinein gehen wir nicht, aber meine Großmutter ist hier getauft.«51
War in der Zeit der DDR selbst der Betrieb nicht nur ein Ort der Arbeit, sondern auch der sozialen Kommunikation und der Identifikation, so hat der ökonomische Strukturwandel auch massive Einflüsse auf die Kommunikationskultur und das kollektive Gefühlsleben der Bevölkerung. Ihr gehen die Identifikationsmöglichkeiten verloren. Identifikation ist ein Prozess der Selbstextension. Wer sich mit jemandem oder etwas identifiziert, findet etwas von sich selbst im Anderen wieder. Identifikation ist ein riskantes Unternehmen. Denn der Verlust eines signifikanten Anderen wird als persönliche Kränkung erlebt. Es ist erstaunlich, dass in einer Region mit mehr als 70 Prozent Konfessionslosen ausgerechnet die Kirchengebäude Identifikationspotentiale besitzen.
50 Ebd.: 195. 51 Die Äußerung von Bischof Noack ist im Synodenprotokoll der 1. Tagung der 10. Synode der EKD, Leipzig, 22.–25. Mai 2003, nachzulesen.
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B IN ICH KONKURRENZFÄHIG ? Trotz der paulinischen Empfehlung, das christliche Leben als eine Konkurrenz aufzufassen, steht die christliche Theologie dem Konkurrenzdenken meist ablehnend gegenüber. Auch wenn sie anerkennen muss, dass die diskursive Macht von Konkurrenzmetaphern den Todsünden der Wollust, der Völlerei und der Faulheit Grenzen zu setzen vermag, so wiegt für sie doch viel stärker, dass Konkurrenz die Todsünden des Hochmuts und des Neides anstachelt und legitimiert. Neid aber ist nach Augustinus die »peccatum maxime«52. Der Neid und das Sich-Vergleichen mit anderen ist eine Ursünde, die Augustinus schon im Mord des Kain an seinem Bruder Abel am Werk sieht. Es ist bemerkenswert, dass auch für den frühen John Rawls der »Egotismus« aus Neid, Stolz, Geltungssucht und Distinktionsstreben als die Ursünde des Menschen gilt. »Der Geltungssüchtige ist der Sünder par excellence.«53 Die Sünde der Geltungssucht »ist per se die Zerstörung der Gemeinschaft. Sie ist die anscheinend unauslöschbare Verdorbenheit, die menschliche Beziehungen affiziert.«54 Allerdings zieht Rawls daraus nicht die lutherisch-pessimistische Konsequenz, dass die Sünde als Faktum hinzunehmen und Konkurrenzverhalten als anthropologische und soziale Tatsache zu akzeptieren sei. In diesem Falle ginge es nur noch darum, diese Ursünde so einzuhegen, dass sie nicht nur destruktive, sondern auch gemeinschaftsbildende Wirkungen zeigt. John Rawls selbst ist diesen Weg nicht gegangen. Ihm ging es auch nach seinem Verzicht auf theologische Semantik darum, den Egotismus durch Einsicht in eine Theorie der Anerkennung prinzipieller Gleichheit zu überwinden – der »original sin« wird die »original position« entgegengesetzt. Wenn schon der Einzelne als Individuum nicht imstande ist, nicht mit seinen Mitmenschen zu konkurrieren, so sollen doch gesellschaftlich die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, dass die Menschen als Bürger einander als Gleiche anerkennen.55 Es ist freilich die Frage, ob die wachsende Plausibilität des Konkurrenzdenkens tatsächlich als zunehmende Geltungssucht richtig identifiziert ist oder ob sich dahinter nicht vielmehr ein ganz reales Bedürfnis nach Anerkennung und Rechtfertigung verbirgt, das unter den Bedingungen eines »neuen Geist des
52 Augustinus, De Civitate Dei XV, 7, 1. 53 Rawls 2010: 229. 54 Ebd. 55 Vgl. Nullmeier 2014: 14–20.
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Kapitalismus«56 zwingend geworden ist. Die Arbeiten des französischen Soziologen Luc Boltanski kreisen um diese Frage. Der neue Geist des Kapitalismus zwinge jeden Einzelnen dazu, sich selbst und seine Welt als Projekt aufzufassen. Das Leben im Geist des neuen Kapitalismus sei eine Abfolge von Projekten; selbst die Gründung einer Familie und das Aufziehen eines Kindes werde zum Projekt. Projekte zeichneten sich dadurch aus, dass sie stets vom Scheitern bedroht seien – und so gelte es, mit größtem Einsatz und größter Umsicht das Projekt so gut und so lange wie möglich am Leben zu halten, zugleich aber den Anschluss an ein neues Projekt nicht zu verpassen. Stets sei mit der notwendigen Suche nach einem Anschlussprojekt zu rechnen. Die Hoffnung, auserwählt zu sein, einerseits und das deprimierende Warten eines wachsenden Prekariats, selegiert zu werden, andererseits ist das Thema von Boltanskis »Vorhölle«57. Die Insassen der Vorhölle sind nicht von Geltungssucht getrieben – sie sehnen sich schlicht nach Anerkennung. Die Befürchtung, den Anforderungen nicht mehr genügen zu können, treibt sie um. Nicht die Geltungssucht, sondern der Wunsch nach Anerkennung ist es also, der sie in das Konkurrenzparadigma einwilligen lässt. Wer es kritisiert, setzt sich dem Verdacht aus, nicht mehr konkurrenzfähig zu sein. In seiner Untersuchung »Soziologie der Abtreibung« spitzt Boltanski diesen Gedanken noch einmal zu. Ein Fötus, so Boltanski, befinde sich in einer prekären Lage. Er wisse nie, ob er ein tumoraler, mithin zu vernichtender, oder ein authentischer, mithin willkommen geheißener sei. Über die Macht der Anerkennung verfügen andere. Letztlich müsse man sich aber darüber im Klaren sein, dass die Bedingungen, unter denen ein Fötus existiere – »in der Schwebe zwischen Existenz und Nichtexistenz, zwischen der Vorhölle und der Welt, zwischen der Zugehörigkeit zu einem anderen und der Zugehörigkeit zu sich selbst, zwischen dem Nichts und dem Ganzen, zwischen der Wirklichkeit und dem Virtuellen, zwischen der Ordnung der Tatsachen und der Ordnung des Projekts«58 – die Bedingungen des menschlichen Lebens überhaupt seien. Möglicherweise ist der Vergleich des Menschen mit einem Fötus auch insofern erhellend, als er darauf aufmerksam macht, dass das Leben eines jeden Menschen von einer elementaren Anerkennung und grundsätzlichen Zuneigung seiner Eltern abhängig gewesen ist. Die Annahme des Fötus durch die Eltern ist der reziprozitätsfreie Beginn einer konkurrenzlosen Beziehung. Eltern lieben ihr Ungeborenes nicht wegen seiner liebenswerten Eigenschaften, denn diese kennen
56 Boltanski/Ciapello 2006. 57 Boltanski 2001. 58 Eigene Übersetzung einer Passage aus Boltanski 2004: 447.
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sie ja gar nicht. Es ist zunächst die Liebe zu einem fremden Wesen und ein implizites Versprechen, auch dann sorgend für ihn da zu sein, wenn es sich anders entwickelt als erwünscht entwickelt. In Erinnerung an unsere Herkunft käme es dann also wesentlich darauf an, die Konkurrenz zuvörderst als ein gemeinschaftliches Tun, als ein MiteinanderUnterwegs-Sein zu denken. Auf dieser Strecke, die der Apostel Paulus als »Rennbahn« bezeichnet, ist es unwichtig, Konkurrenten auszustechen und aus dem Feld zu schlagen. Es kommt vielmehr darauf an, sich selbst zu bewähren, den Kampf gegen sich selbst zu gewinnen, die eigenen Schwächen zu besiegen – und auf jeden stolzen oder neidischen Vergleich mit anderen grundsätzlich zu verzichten. Zugleich sind jedoch gesellschaftliche Bedingungen erforderlich, die elementare Anerkennungsleistungen niemandem verweigern. Konkurrenz ohne eine Kultur der Anerkennung ist gnadenlos, mithin dem Menschen nicht zuträglich. Rechtfertigungstheologien unterschiedlicher konfessioneller Provenienz wollen den Menschen über die Angewiesenheit auf soziale und politische Anerkennung hinaus daran erinnern, das Ansehen des Menschen als ein gnädiges Angesehen-Werden von Gottes Doxa zu deuten.
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Konkurrenz und Kompetenz R EINHARD S CHULZ
»Jeder bürgerliche Charakter drückte trotz seiner Abweichung und gerade in ihr dasselbe aus: die Härte der Konkurrenzgesellschaft. Der Einzelne, auf den die Gesellschaft sich stützte, trug ihren Makel an sich; in seiner scheinbaren Freiheit war er das Produkt ihrer ökonomischen und sozialen Apparatur. An die je herrschenden Machtverhältnisse appellierte die Macht, wenn sie den Spruch der von ihr Betroffenen einholte. Zugleich hat in ihrem Gang die bürgerliche Gesellschaft das Individuum auch entfaltet. Wider den Willen ihrer Lenker hat die Technik die Menschen aus Kindern zu Personen gemacht. Jeder solche Fortschritt der Individuation aber ist auf Kosten der Individualität gegangen, in deren Namen er erfolgte, und hat von ihm nichts übriggelassen als den Entschluß, nichts als den je eigenen Zweck zu verfolgen.«1
1944 haben Horkheimer und Adorno im Kulturindustrie-Kapitel der Dialektik der Aufklärung unter dem Eindruck des amerikanischen Exils den Begriff der »Konkurrenzgesellschaft« mit dem Ziel eingeführt, die »Aufklärung als Massenbetrug« zu beschreiben. Siebzig Jahre später stellt sich die Frage nach der Aktualität dieser Diagnose neu und ob neben den vielen anderen in der Zwischenzeit verbreiteten Selbstbeschreibungen der modernen Gesellschaft, etwa als Risiko-, Erlebnis-, Multioptions- oder Wissensgesellschaft,2 die Sprechweise von der »Konkurrenzgesellschaft« eine besondere Tiefenschärfe für die Wahrnehmung der Gegenwart für sich beanspruchen kann. Die Schwierigkeiten einer solchen Zeitdiagnose rühren nicht nur von den Veränderungen der weltpolitischen Lage nach dem Zweiten Weltkrieg, insbesondere durch das Fallen des »Eisernen Vorhangs« und der damit einhergehenden Ausbreitung des globalisierten Kapitalismus
1
Horkheimer/Adorno 1944/1969: 164.
2
Beck 1986; Schulze 1992; Gross 1994; Böhme/Stehr 1986.
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her, sondern beziehen sich auch auf das methodische Instrumentarium, mit dem eine solche Diagnose vorgenommen werden könnte. Im Unterschied zur Kritischen Theorie Horkheimers und Adornos ist vor allem durch Niklas Luhmanns Systemtheorie3 die philosophische Reflexion einer Spannung von Individuum und Gesellschaft durch die soziologische Bebachtung sozialer Funktionssysteme ersetzt worden. Bezogen auf das Thema dieses Beitrages könnte eine so verstandene Gesellschaft nur noch unter den einschränkenden Bedingungen ihrer eigenen Kommunikationsmöglichkeiten auf Konkurrenz und Kompetenz reagieren. Und je nach Maßgabe der wichtigsten Funktionssysteme wie Politik, Recht, Wirtschaft, Wissenschaft, Erziehung oder Religion geht es mal um die Konkurrenz um Macht, mal um Einfluss, mal um Geld, mal um Reputation, mal um Aufstiegschancen, mal um Vertrauen. Nicht viel anders verhält es sich mit der Kompetenz, die in Abhängigkeit von der jeweiligen Codierung (wahr/falsch, Recht/Unrecht usw.) nur innerhalb der einzelnen Funktionssysteme zur Geltung gebracht werden kann. Dies geschieht durch Kommunikation, denn »[d]ie Gesellschaft besteht aus nichts anderem als aus Kommunikationen, und durch die laufende Reproduktion von Kommunikation durch Kommunikation grenzt sie sich gegen eine Umwelt andersartiger Systeme ab.«4 Die von Horkheimer und Adorno postulierte »Härte der Konkurrenzgesellschaft« würde also je nach Funktionssystem ganz unterschiedliche Gestalt annehmen können und die Einschränkungen und Entfaltungsmöglichkeiten des »Einzelnen« übersteigen die »ökonomische und soziale Apparatur«. Eine in der Kritischen Theorie auf »Kosten der Individualität« postulierte Dichotomie von Individuation und Individualität verliert ihre Überzeugungskraft, wenn der ethische Maßstab der Aufklärung »soziologischer Abstinenz«5 zum Opfer fällt. Aber auch Horkheimer und Adorno
3
Luhmann 1984.
4
Luhmann 1986: 24.
5
Ebd.: 16: »Auch wo die Soziologie sich als Oppositionswissenschaft gab oder als ›kritische Theorie‹, hatte sie allein die Gesellschaft im Blick und humane Prinzipien, denen die vorgefundene Gesellschaft nicht oder noch nicht entsprach: zu wenig Freiheit oder zu wenig Gleichheit oder zu wenig Gerechtigkeit oder zuwenig Vernunft – bürgerliche Themen also! Der Part, den die Soziologie innerhalb der gesellschaftlichen Diskussion übernahm, war Selbstkritik der Gesellschaft anhand bestimmter Ideale und nicht mehr Selbstalarmierung im Hinblick auf unsichere Hoffnungen und Befürchtungen. Die Kritik jener Kritik hatte leichtes Spiel, denn die Ideale haben eine fatale Neigung, sich in Illusionen zu verwandeln. Der Theoriehintergrund dieser Diskussion ist heute versunken – auch wenn man für eine Zeit lang noch mit einer gewissen ›Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen‹ rechnen muß.«
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reflektieren das »Zugleich« von Unterwerfung und Entfaltung des Individuums in der bürgerlichen Gesellschaft und eröffnen damit die Perspektive auf all jene Ambivalenzen, die das gesellschaftliche Zusammenleben heute mehr den je prägen6 und die in diesem Beitrag für die Reflexion des Zusammenhangs von Konkurrenz und Kompetenz ins Spiel gebracht werden sollen. Die Kritische Theorie wie die Systemtheorie haben in der gegenwärtigen Theorielandschaft für sich allein jene Erklärungskraft eingebüßt, die ihnen im 20. Jahrhundert noch zugetraut wurde. Stattdessen wird heute häufig ein postmoderner Theoriemix favorisiert, bei dem je nach Problemlage verschiedene Theorieelemente miteinander kombiniert werden können. Auch das bei allen Unterschieden von Kritischer Theorie und Systemtheorie beiden gemeinsame Interesse an der Gesellschaft ist schon lange keine Selbstverständlichkeit mehr: »[H]eute ist ›Gesellschaft‹ altmodisch und ›Kultur‹ wieder modern. Die Dezentrierung des Gesellschaftsbegriffs hat mit dem Vakuum zu tun, das das Nachlassen der Überzeugungskraft marxistischer Theorieprogramme im allgemeinen Bewusstsein hinterlassen hat. Fast scheint es gar keine Gesellschaftstheorie mehr zu geben; manchen erscheinen Habermas und Luhmann wie wissenschaftsgeschichtliche Fossilien, die sich von der Soziologie längst verabschiedet haben.«7
Wenn man aber heute Konkurrenz und Kompetenz als Kulturphänomene, zum Beispiel als Lern-, Unternehmens- oder Freizeitkultur in den Blick nimmt, gewinnt man einerseits den Zugang zu beobachtbaren empirischen Untersuchungsgegenständen, büßt dabei aber andererseits einen übergreifenden theoretischen, historischen, strukturellen oder normativen Gesichtspunkt ein. Dadurch entsteht eine Leerstelle, die bis etwa Mitte der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts durch miteinander konkurrierende supertheoretische Konzepte wie die der Kritischen Theorie oder der Systemtheorie gefüllt werden konnten. Demgegenüber ist in der gegenwärtigen unübersichtlichen Theorielandschaft der Theorien- und Grundlagenstreit durch das interdisziplinäre Projektmanagement abgelöst worden, bei dem Konkurrenz und Kompetenz zugleich als Reflexionsgegenstände – wie in diesem Beitrag – und aber auch als Treibriemen der Reflexion aufgefasst werden können. Dies ist typisch für die Erscheinungsform der zweiten oder »reflexiven Moderne«8, die den globalisierten Kapitalismus zum Anlass nimmt, alte Gewiss-
6
Bauman 1995.
7
Schnädelbach 2009: 264.
8
Beck et al. 1996.
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heiten über den Haufen zu werfen und einen Systemwandel bzw. eine Selbsttransformation der Industriegesellschaft in Aussicht zu stellen, die den Individuen ganz neue, bisher ungekannte Möglichkeiten einräumen soll: »Wenn der Modernisierungsprozeß zu ökonomischem Wachstum führen soll, müssen die Arbeitnehmer im späten 20. Jahrhundert substantielle Fähigkeiten der Informationsverarbeitung erwerben und somit sehr gut ausgebildet sein. Mit der Fähigkeit zu Problemlösungen, Infragestellungen usw., die in dieser Ausbildung erworben werden, wird zugleich jene Art von Wissen erlernt, das sich als rationale Kritik gegen das ›System‹ wenden läßt. Wenn der Modernisierungsprozeß zunehmende Individualisierung voraussetzt, dann werden diese Individuen – weniger Tradition und Konvention unterworfen – in zunehmendem Maße frei sein, sich den Folgen der Modernisierung zu widersetzen. Und genau in dieser Weise unterscheidet sich die reflexive Moderne von der ›einfachen‹ Moderne.«9
Die Euphorie der noch in den 1990er Jahren durch reflexive Modernisierung in Aussicht gestellten Kritikfähigkeit gegenüber dem »System« ist inzwischen verblasst, geblieben ist aber die Überzeugung, dass ohne eine Umstellung von tradiertem Wissen und Bildung auf überprüfbare Kompetenzen eine auf den Wettbewerb vorbereitende reflexive Individualisierung nicht in Szene gesetzt werden könne. Schränkten früher starke Abhängigkeiten und Hierarchien, geringe Aufstiegschancen, widrige Arbeitsverhältnisse und soziale sowie religiöse oder selbst auferlegte Legitimationszwänge das Arbeitsleben ein, sieht sich heute der flexibilisierte Mensch10 mit Unsicherheiten durch ständigen Wechsel (»Zeitarbeit«), fehlende Resonanz (»Ich-AG«), Oberflächlichkeit, Selbstwertverlust und fehlendem Vertrauen konfrontiert. Diese Veränderungen gehen immer häufiger mit der Angst vor Kontrollverlust und dem Schwinden von Intensitäten wie emotionaler Nähe, tiefer gehenden Beziehungen oder erfahrener Loyalität einher, wofür die Zeit immer knapper zu werden scheint. Dennoch kam es unter dem Druck der ökonomischen Globalisierung zu einer immer weiteren Steigerung der Bereitschaft zur Flexibilisierung, die durch entsprechende Maßnahmen vor allem im Wirtschafts- und Bildungssystem flankiert wurden. Denn auf der einen Seite stand die neoliberale Rücknahme wirtschaftspolitischer Errungenschaften11 und auf der anderen Seite
9
Lash 1996: 199.
10 Sennett 1998. 11 Honneth 2011: 454: »All diese wirtschaftspolitischen Errungenschaften, im Rückblick wesentliche Zwischenschritte auf dem Weg zur Etablierung sozialer Freiheit in der marktwirtschaftlichen Sphäre gesellschaftlicher Arbeit, werden nun aber bekanntlich im Laufe
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der 1999 begonnene und bis heute noch nicht abgeschlossene Bologna-Prozess, der das gesamte Schul- und Hochschulsystem unter Kontrolle der OECD trotz aller Widerstände auf marktgerechte Beschäftigungsfähigkeit (»employability«12) umstellen soll. Unter Berücksichtigung der dafür notwendigen Maßnahmenkataloge entsteht eine bis dahin nicht gekannte enge Verbindung von Kompetenz als Einheitsziel zukünftiger schulischer und universitärer Bildung und Ausbildung und Konkurrenz als »Bild des Marktes im ganzen«, wobei der Markt »nicht mehr als eine soziale Einrichtung gesehen [wird], für die wir gemeinsam als Mitglieder einer Kooperationsgemeinschaft die Verantwortung tragen, sondern als Stätte einer Konkurrenz um die jeweils selbst zu verantwortende Nutzenmaximierung.«13 Unter Maßgabe dieser gesellschaftlichen Transformation ist derjenige, der in diesem Wettbewerb nicht bestehen kann, selber schuld. Dabei wird allerdings stillschweigend unterstellt, dass wer anders wollte, auch anders könnte. Das der Aufklärungsphilosophie entnommene Postulat freier Selbstbestimmung wandert auf diese Art und Weise in das neoliberal interpretierte Marktgeschehen des »freien Spiels der Kräfte« ein, ohne dabei zu berücksichtigen, dass unsere anthropologische Mitgift an nicht selbst zu verantwortende Grenzen der Belastbarkeit oder Flexibilisierung stoßen könnte. Denn die Wettbewerbsfähigkeit scheint für den globalisierten Kapitalismus mittlerweile das Maß aller Dinge geworden zu sein, die einen forcierten Leistungsanspruch in nahezu allen Lebensbereichen zur Folge zu haben scheint. Unterschiedslos scheinen Industrieunternehmen, Schulen, Universitäten, Krankenhäuser oder Altenheime derselben Wettbewerbslogik unterworfen zu sein, die sich in einem übergreifenden dürren Managementvokabular manifestiert. Wer sich in der Konkurrenz mit anderen behaupten wolle, müsse auf vielfältige Kompetenzen zurückgreifen können, die zum alleinigen Ziel unserer Bildungsinstitutionen geworden sind und denen durch bürokratisch verordnete Zielvereinbarungen, quantifizierbare Kreditpunkte und standardisierte Prüfungsverfahren Nachdruck verschafft werden soll und wird. Diese in den moder-
der 1990er Jahre sukzessive wieder zurückgenommen; die einzelnen Großunternehmen beginnen sich erneut stärker an Rentabilitätsgesichtspunkten und Aktienkursen zu orientieren, die staatlichen Organe beschränken ihre vermittelnden und vergesellschaftenden Aktivitäten allmählich auf bloß äußere Aufsichtsfunktionen, und die Gewerkschaften verloren infolge beider Entwicklungen zunehmend ihre starke Mitbestimmungsrolle.« 12 Hierunter versteht man sowohl die für ein lebenslanges Lernen notwendigen Weiterund Zusatzqualifikationen wie auch die Bereitschaft des Arbeitnehmers, seine Erwerbsbiografie an den Wandel der Arbeits- und Berufswelt anzupassen. 13 Honneth 2011: 467.
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nen Gesellschaften den tradierten Bildungsbegriff ablösenden neuen neoliberalen Normen sind jedoch gegenwärtig mit einem sich steigernden Unbehagen gepaart, das sich für den Einzelnen in einer ganzen Fülle begleitender Symptome wie etwa Unrast, Stress, Depression, Lust- und Sinnlosigkeit offenbaren kann.14 Der scheinbar einzig mögliche Ausweg aus einer anscheinend nur mit noch mehr Kompetenz zu begegnenden Konkurrenz gerät daher in Misskredit, weil das damit verbundene Erfolgs-, manchmal sogar Glücksversprechen allzu häufig unerfüllt bleiben kann. Eine solche Konstellation macht es notwendig, über das Verhältnis von Konkurrenz und Kompetenz neu nachzudenken. 1. Besteht zwischen Konkurrenz und Kompetenz eine kausale Beziehung oder kann die Kompetenzentwicklung auch ganz neue, bis dahin nicht gekannte Konkurrenzen neu hervorbringen? 2. Handelt es sich bei der Konkurrenz angesichts der vielfältigen Anleihen in der Tier- und Pflanzenwelt um eine natürliche Tatsache oder eher um die Folge einer bestimmten kapitalistischen Produktionsweise? 3. Kann sich der Kompetenzbegriff im Vergleich etwa mit dem Bildungs-, Emanzipations- oder Aufklärungsbegriff bewähren oder soll er diese Begriffe auf eine fragwürdige Weise ›überwinden‹ helfen? 4. Besitzen Begriffe wie Konkurrenz und Kompetenz überhaupt genügend historische Trennschärfe, um die moderne Gesellschaft angemessen beschreiben zu können oder besteht nicht vielmehr die Gefahr, dass vor allem der Glaube an die Kompetenz der anderen Konkurrenzgefühle negativer Art in uns wachrufen kann? Diesen vier Fragen soll im Folgenden weiter nachgegangen werden.
1. Besteht zwischen Konkurrenz und Kompetenz eine kausale Beziehung oder kann Kompetenzentwicklung auch ganz neue, bis dahin nicht gekannte Konkurrenzen hervorbringen? Die Frage nach ökonomischer Stärke und aggressiver Wettbewerbsfähigkeit bleibt nicht länger auf Unternehmen und Märkte beschränkt, sondern erfasst mittlerweile alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens. So bemisst sich etwa die Attraktivität einer städtischen Region an der Anwesenheit von flexibilisierten und kreativen hoch technisierten Arbeitern und Angestellten, Künstlern, Musikern und homosexuellen Menschen, die in Kategorien wie dem Bohemien-, Gay- oder Diversity-Index15 zu erfassen versucht wird. Richard Florida stellt, indem er diese Zusammenhänge für verschiedene amerikanische Metropolen quantifiziert hat,
14 Ehrenberg 2004; Freud 1994. 15 Florida 2002.
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in seinem viel beachteten Bestseller The Rise of the Creative Class über die drei Begriffe Talent, Technologie und Toleranz für die USA einen inneren Zusammenhang zwischen dem neuen »Geist des Kapitalismus«16 und den dafür erforderlichen Eigenschaften seiner Träger her. Für den Zusammenhang von Konkurrenz und Kompetenz ist dabei hervorzuheben, dass durch diesen neuen Geist der kapitalistische Akkumulationsprozess zugleich legitimiert und beschränkt wird. Denn im Unterschied zum stationären Industriekapitalismus, bei dem die Konkurrenzfähigkeit eines Unternehmens im wesentlichen von der durch Massenproduktion stimulierten Konsumbefriedigung abhing, ist der neue Finanzkapitalismus an Managementqualitäten gebunden, die ständigen Bewährungsproben17 ausgesetzt sind. »In dieser Hinsicht lässt sich ohne Übertreibung der Standpunkt vertreten, dass eine Gesellschaft (oder ein Gesellschaftszustand) durch die Natur der von ihr begründeten Bewährungsproben definiert werden kann, durch die die soziale Auslese der Personen erfolgt, sowie durch die Konflikte, die sich am Gerechtigkeitsgehalt dieser Bewährungsproben entzünden. […] Diese Bewährungsproben sind allerdings stets verbesserungs- und damit auch kritikwürdig. Die Strukturierungsbemühungen kennen nämlich keine Grenzen, weil die Zahl der verschiedenen Blickwinkel, unter denen die Personen betrachtet werden können, ontologisch unendlich sind.«18
Konkurrenz und Kompetenz treten so gesehen in eine Spirale ein und eine nicht abschließbare immer weiter gehende Steigerung oder Umgestaltung des Könnens steht in einer direkten Beziehung zu den von immer neuer Konkurrenz hervorge-
16 Boltanski/Chiapello 2003: 65: »Dadurch, dass die Akteure einen spezifischen kapitalistischen Geist verinnerlichen, lasten auf den Akkumulationsprozessen Beschränkungen, die nicht rein formaler Natur sind und ihnen somit einen spezifischen Rahmen vorgeben. So liefert der kapitalistische Geist sowohl eine Rechtfertigung des Kapitalismus (im Unterschied zu radikalen Infragestellungen) als auch einen kritischen Bezugspunkt, mit dessen Hilfe die Diskrepanz zwischen den konkreten Akkumulationsformen und den normativen Konzeptionen der Sozialordnung angeprangert werden kann.« 17 Gelhard (2011: 161) gibt zu bedenken, dass der französische Begriff épreuve in der deutschen Übersetzung von Der neue Geist des Kapitalismus zwar durchgängig mit »Bewährungsprobe« übersetzt worden sei, aber »der Terminus im Deutschen eine deutlich informellere Note hat als der Begriff der Prüfung [also der wörtlichen Übersetzung von épreuve].« Er habe daher in der deutschen Übersetzung die »entsprechenden Stellen stillschweigend geändert.« 18 Boltanski/Chiapello 2003: 74 f.
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rufenen Bewährungsproben, da eine vollständige oder fehlerlose Bewährungsprobe logisch undenkbar erscheint. Wir haben es hier mit jener Dialektik der Bewährung zu tun, auf die schon Hegel in dem Kapitel über Herrschaft und Knechtschaft in der Phänomenologie19 aufmerksam gemacht hatte. Dabei sind Bewährungsprobe und Kritik so eng miteinander verbunden, dass eine Kritik am Kapitalismus nicht mehr wie noch bei Horkheimer und Adorno als eine an der kapitalistischen Gesellschaft überhaupt aufzufassen wäre, sondern vielmehr als wiederkehrende interne Bewährungsproben des Kapitalismus, zum Beispiel bei Einstellungstests für Posten in einem Assessment-Center, die dazu beitragen, die gesellschaftlich »verborgenen Prinzipien zu klären bzw. die Protagonisten dazu zu bewegen, sie offen zu legen, um im Anschluss daran – je nach den Optionen und Strategien der Kritiker – eine korrektive oder radikale, reformistische oder revolutionäre Kritik vornehmen zu können.«20 In dieser Betrachtungsweise erfährt der Kritikbegriff eine interne Differenzierung und wird, was Horkheimer und Adorno in der Rede vom zugleich der Entfaltung und Unterwerfung des modernen Individuums schon andeuteten, zum kritischen Korrektiv zukünftiger kapitalistischer Entwicklung. Eine an Kompetenz gekoppelte Kritik wäre damit in eins als Gesellschafts- und Selbstkritik zu verstehen. Im Hinblick auf die damit verbundene Aufkündigung einer Differenz von Individuum und Gesellschaft – einer Prämisse, die eine Kritik an der kapitalistischen »Konkurrenzgesellschaft« erst ermöglicht hatte – könnte man unter Maßgabe des »neuen Geistes des Kapitalismus« sogar von einer im Interesse beider stehenden Koevolution von Individuum und kapitalistischer Gesellschaft sprechen. Es ist das Verdienst von Andreas Gelhard, dass er in Kritik der Kompetenz auf das Übersetzungsproblem von épreuve in »Bewährungsprobe« aufmerksam gemacht hat (siehe Fußnote 17), um durch die wörtliche Übersetzung als »Prüfung« die Grundlage für eine Kritik an Boltanski und Chiapello und damit unter anderem an deren Konzept der Kompetenz legen zu können. Dabei geht es
19 Hegel 1807/1975: 148 f.: »Das Verhältnis beider Selbstbewusstsein[e] ist also so bestimmt, daß sie sich selbst und einander durch den Kampf auf Leben und Tod bewähren. – Sie müssen in diesen Kampf gehen, denn sie müssen die Gewißheit ihrer selbst, für sich zu sein, zur Wahrheit an dem Anderen und an ihnen selbst erheben. […] Diese Bewährung aber durch den Tod hebt ebenso die Wahrheit, welche daraus hervorgehen sollte, als damit auch die Gewißheit seiner selbst überhaupt auf; denn wie das Leben die natürliche Position des Bewußtseins, die Selbständigkeit ohne die absolute Negativität ist, so ist er die natürliche Negation desselben, die Negation ohne die Selbständigkeit, welche also ohne die geforderte Bedeutung des Anerkennens bleibt.« 20 Boltanski/Chiapello 2003: 77.
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Gelhard vor allem um die Unvereinbarkeit der seit Hegels Anerkennungstheorie verbreiteten Einsicht in die Prozessstruktur der Bewährung mit psychologischen Prüfungsverfahren, »die aus der Perspektive des vergleichenden Beobachtens operieren.«21 Denn »Bewährung bedeutet nicht, unter den Augen eines Beobachters am besten abzuschneiden, sondern Antworten zu (er)finden, die die anderen annehmen und – zumindest auf Zeit – akzeptieren können. Dabei agiert jeder zugleich als Prüfer und Prüfling, der sich den unvorhersehbaren Reaktionen anderer auszusetzen hat. Die Logik der Bewährung ist eine Konfliktlogik.«22 Das heißt, Boltanski und Chiapello können unter Bezugnahme auf den Managementdiskurs der 1990er Jahre keine Bewährungsprobe, sondern nur Prüfungssituationen thematisieren, für die das moderne Assessment-Center mittlerweile zum Modell geworden ist, das auch auf andere gesellschaftliche Bereiche ausgedehnt wird.23 In deren Folge ist es zu einer inflationären Ausbreitung des Managementvokabulars gekommen, bei dem Project-, Product Developement-, Communication-, Human Resources-, Marketing-, Logistic-, IT- oder PR-Manager um die Interpretationshoheit in verschiedensten gesellschaftlichen Institutionen wetteifern und dabei den bis dahin vorherrschenden Eigensinn dieser Institutionen uminterpretieren oder sogar ignorieren. Wer wäre vor der neoliberalen Wende in den 1990er Jahren auf den Gedanken gekommen, dass Unternehmen, Universitäten, Schulen, Krankenhäuser oder Altenheime mit der gleichen Managementlogik überprüft werden könnten, um für den Wettbewerb fit gemacht zu werden? Wie war es möglich, ein Managementvokabular zu etablieren, das die Binnenlogiken dieser Institutionen in kürzester Zeit so vereinheitlichen konnte, dass der Eindruck entstand, alle Einrichtungen hätten es mit den gleichen oder ähnlich gearteten Problemen zu tun? Wie konnte es geschehen, dass »ein Ensemble von Fähigkeiten, die sich durch Adjektive wie ›fachlich‹, ›sozial‹, ›moralisch‹, ›kommunikativ‹ oder ›emotional‹ jedem beliebigen Lebensbereich anpassen lassen«24 in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rücken konnte? Die Antwort lautet:
21 Gelhard 2011: 144. 22 Ebd. 23 Ebd.: 134: »Von der Auslese der Hamburger Volksschüler über die Intelligenztests im amerikanischen Heer bis zu den derzeitigen Angeboten der Ehe- und Karriereberatung hat die Angewandte Psychologie niemals nur möglichst effektive Mittel entwickelt, sondern sich immer auch um die Erschließung neuer Absatzmärkte gekümmert. Das übersehen Boltanski und Chiapello, wenn sie hoffen, Kompetenztests im Dienste der Sozialkritik einsetzen zu können.« 24 Ebd.: 120.
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»›Ein Maßstab für alles‹ erfährt seine Neuauflage unter dem Titel der Kompetenz«25, ein universalistisches Kontrollverfahren, das es in dieser Form laut Gelhard zuvor vielleicht nur in Gestalt der christlichen Gewissensprüfung um 1800 gegeben habe. Über den Kompetenzbegriff konnte mit dem Anspruch auf Überprüfbarkeit ein Objektivierungsgebaren in Szene gesetzt werden, wie es zuvor nur mit den Messverfahren der empirischen Wissenschaften in Verbindung gebracht werden konnte, das nun aber vor den unwägbaren, ambivalenten und widerständigen Erfahrungen menschlicher Situationen vor allem unter Verwendung der Methoden der angewandten Psychologie nicht länger Halt macht. Ein kurzer Exkurs zum hermeneutischen Situationsbegriff soll verdeutlichen, was alles auf dem Spiel steht, wenn mit dem derzeit an Prüfungslogiken orientierten Kompetenzbegriff ein »Maßstab für alles« weiter auf dem Vormarsch bleiben sollte. Die entscheidende Bestimmung des Begriffs der Situation ist in Hans-Georg Gadamers Hauptwerk Wahrheit und Methode26 mit der Fußnote: »Der Begriff der Situation ist vor allem von K. Jaspers (Die geistige Situation der Zeit) und Erich Rothacker in seiner Struktur aufgehellt worden.« verknüpft worden und sie lautet: »Wirkungsgeschichtliches Bewußtsein ist zunächst Bewußtsein der hermeneutischen Situation. Die Gewinnung des Bewußtseins einer Situation ist aber in jedem Falle eine Aufgabe von eigener Schwierigkeit. Der Begriff der Situation ist ja dadurch charakterisiert, daß man sich nicht ihr gegenüber befindet und daher kein gegenständliches Wissen von ihr haben kann. Man steht in ihr, findet sich immer schon in einer Situation vor, deren Erhellung die nie ganz zu vollendende Aufgabe ist. […] Geschichtlich sein heißt, nie im Sichwissen aufgehen.«
Gadamer knüpft direkt an Jaspers’ Begriff der »Existenzerhellung«27 an, ohne dass das von ihm mit einer breiteren systematischen Erörterung verbunden worden wäre. Gleichwohl haben wir es dabei mit der vielleicht wichtigsten Markierungslinie zwischen wissenschaftlicher und hermeneutischer Erfahrung zu tun, die in einen unmittelbaren Zusammenhang des Unterschiedes von Beobachtung und Bewährung gebracht werden kann. Denn eine in der »hermeneutischen Situation« beheimatete hermeneutische Erfahrung ist eine in gegenseitiger Be-
25 Ebd.: 121. 26 Gadamer 1960/1986: 307. 27 Jaspers 1932/1973.
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währung nie zu vollendende, die durch die »scholastische Einstellung«28 einer äußerlichen beobachtenden auf der Subjekt-Objekt-Spaltung basierenden Überprüfung zwangsläufig außer Kraft gesetzt würde. Um dem damit einhergehenden Sachverhalt in seiner inneren Struktur näher zu kommen, wendet sich Gadamer Hegel zu, der die systematische Begründung für die Struktur des wirkungsgeschichtlichen Bewusstseins geliefert habe: »Das Prinzip der Erfahrung enthält die unendlich wichtige Bestimmung, dass für das Annehmen und Fürwahrhalten eines Inhalts der Mensch selbst dabei sein müsse, bestimmter, dass er solchen Inhalt mit der Gewissheit seiner selbst in Einigkeit und vereinigt finde.«29 Es war Kant, der diese Form des »Führwahrhaltens«30 in Was heißt: sich im Denken orientieren? dem theoretischen Wissen entgegen gesetzt und damit den von Hegel vorbereiteten und den von Gadamer ausgearbeiteten Erfahrungsbegriff maßgeblich vorbereitet hatte. Denn die hermeneutische Situation, in dem ein Geschehen für uns erscheinen kann, ist in einer über das Kantische Modell hinausgehenden hermeneutischen Perspektive immer schon (lebens-)geschichtlich und sprachlich imprägniert. »Ein Maßstab für alles« unter dem Titel der Kompetenz könnte jedoch durch dieses öffentliche Sprechen in eigener Sache31 gar nicht irritiert werden, weil die Prüfungssituation im Unterschied zur offenen hermeneutischen Situation durch die in Anschlag gebrachten Prüf- und Beobachtungspraktiken vorab strukturiert und standardisiert wäre. Damit wird deutlich, dass auf die Unterscheidung zwischen unvorhersehbarer im »Konflikt« mit anderen zu suchender Bewährung und standardisierter Beobachtung (Prüfung) allergrößter Wert gelegt werden sollte, damit der von Boltanski und Chiapello unter-
28 Bourdieu 2001: 26 ff. 29 Hegel 1817/1976: 38. 30 Kant 1786/1999: 54: »Ein jeder Glaube, selbst der historische, muß zwar vernünftig sein (denn der letzte Probierstein der Wahrheit ist immer die Vernunft); allein der Vernunftglaube ist der, welcher sich auf keine anderen Data gründet als die, so in der reinen Vernunft enthalten sind. Aller Glaube ist nun ein subjektiv zureichendes, objektiv aber mit Bewußtsein unzureichendes Fürwahrhalten; also wird er dem Wissen entgegengesetzt.« 31 Gelhard 2011: 142: »Hegels Begriff des Gewissens zieht letztlich die Konsequenz aus Kants Begriff der Aufklärung, der die vernünftige Selbstprüfung des Einzelnen und sein öffentliches Sprechen in eigener Person als ein und dasselbe Geschehen fasst. Schon nach Kant bedeutet sich selbst zu prüfen nicht den Rückzug in irgendeine Form der Innerlichkeit, sondern sich öffentlich im ›Kreis seiner Prüfer‹ zu äußern. Hannah Arendt bringt das auf die Formel einer ›Überprüfung, die aus der Begegnung mit dem Denken anderer entsteht.‹«
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nommenen Überzeugungsarbeit für einen kompetenz- und kritikbasierten neuen Kapitalismus kritisch begegnet werden kann. Welche negativen Konsequenzen ein Auswandern der Beobachtungs- und Prüflogik aus dem Assessment-Center in den ebenfalls immer mehr durch das Kompetenzdenken geprägten pädagogischen Alltag haben kann, soll mit der dritten Frage genauer untersucht werden.
2. Handelt es sich bei Konkurrenz angesichts der vielfältigen Anleihen in der Tier- und Pflanzenwelt um eine natürliche Tatsache oder eher um die Folge einer bestimmten kapitalistischen Produktionsweise? »Es ist der globalisierte Markt, dessen Herrschaft solider fundiert ist als jedes politische System: nämlich auf jener Grundeigenschaft des Menschen, die im alten Todsündenkatalog noch unter dem Doppelnamen luxuria und avaritia figuriert: Gier und Geiz. Seit Adam Smith gerade im natürlichen Egoismus die unsichtbare Hand Gottes am Werk gesehen hatte, durfte sich die Marktherrschaft ihrerseits als Freiheit verkleiden. Eigentlich lebt sie von einer Tautologie: Was gewinnt, ist ein Gewinn. Jeder und jede will gewinnen.«32
Wie konnte es kommen, dass die Tradition der Aufklärung als Sachwalter der Freiheit, die in vielen Theorieformationen des 20. Jahrhunderts, etwa des Neukantianismus, der Existenzphilosophie, der philosophischen Hermeneutik, der Kritischen Theorie oder der Diskursethik, noch eine so zentrale Rolle gespielt hatte, ihre Überzeugungskraft schrittweise einzubüßen scheint? Warum haben Gier und Geiz so leichtes Spiel, von den niederen Instinkten der Menschen Besitz zu ergreifen, und treffen anscheinend immer weniger auf eine vernünftige Gegenwehr? Mit Beginn des 21. Jahrhunderts scheint es gelungen zu sein, dem Primat der Gewinnmaximierung auch außerhalb des globalisierten Marktes immer mehr zum Durchbruch zu verhelfen. Besonders das Bildungssystem ist davon in besonderer Weise in Mitleidenschaft gezogen worden und die Hochschulen sind inzwischen weltweit zum wichtigsten Schrittmacher des globalisierten Fortschritts geworden. Pisa und Bologna nähren zusätzlich die Aussicht, dass dieser Fortschritt messbar und damit auch planbar gemacht werden kann. Kompetenzerwerb und Konkurrenzfähigkeit sind damit innerhalb des durch die reflexive Modernisierung angestoßenen Prozesses der Individualisierung zu Siamesischen Zwillingen geworden. Die damit verbundenen Ansprüche setzen die nachwachsenden Generationen unter erheblichen Druck und das familiäre Zusammenleben wird zunehmend über die
32 Muschg 2012: 30.
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durch das Bildungssystem aufgedrängten Managementaufgaben nachhaltig gestört. Wer möchte schon, dass der eigene Nachwuchs in diesem Wettbewerb nicht bestehen kann? Zusätzliche Investitionen in den täglichen Kompetenzerwerb, sei es in den Nachhilfeunterricht oder den Erwerb von soft skills aller Art, stehen daher auf der Tagesordnung. Größere Fitness im Wettbewerb ist dabei gleichzeitig immer der Wettbewerb um die besten Lehrer, Trainer oder Coaches für diesen Wettbewerb. Die aufklärerische Zielsetzung der Selbstbestimmung transformiert zum flexibilisierten Bündel situativ abrufbarer Kompetenzen. »Da weder Religion noch das Sittengesetz mehr verbindlich vorgeben, was als Gewinn zu betrachten ist und was nicht, hat der monetär messbare keine natürlichen Feinde mehr – außer dem Neid. Eine neue Technologie, von der wir abhängen, hat das Gewinnprinzip zum Maß aller Dinge gemacht: Der digitale Rechner hat die Verhältnisse umgekehrt: die Erwartungen der User müssen mit seinem System kompatibel sein: sie müssen sich rechnen.«33
Die nachwachsenden Generationen werden als User sozialisiert und kommen aufgrund der Kompetenzorientierung der Bildungsinstitutionen mit dem Vokabular von Aufklärung und Emanzipation kaum noch in Berührung. An die Stelle intrinsischer Wertvorstellungen treten extrinsische Anreize aus der Umwelt, die immer wieder neue Anpassungen notwendig machen und dem in dieser Weise flexibilisierten Selbst eine spielerische Note verleihen sollen. Kompetenz bedeutet in diesem Zusammenhang die Befähigung zu den richtigen, das heißt zu den von der Umwelt jeweils geforderten Spielzügen. Dabei kann es durchaus sein, dass die Regeln des Spiels selber gar nicht durchschaut werden. Es ist das Spielen allein, das den Ehrgeiz anstachelt und Ergebnisse »liefern« soll. So erfreuen sich im pädagogischen Alltag Planspiele, die auf wirtschaftliche oder politische Themen Bezug nehmen, immer größerer Beliebtheit und die Tagespresse ist gerne bereit, die Sieger unter den Usern aus Schulen oder Hochschulen der Umgebung stadtbekannt zu machen. Hier überlagern sich Orientierungsmuster des Sports und der Wirtschaft auf schwer durchschaubare Weise, und die ökonomische Konkurrenz wird zu einer sportlichen Herausforderung. Kritische Rückfragen nach dem diese Konkurrenz anstachelnden Regelwerk des ökonomischen oder sportlichen Wettbewerbs müssen nicht gestellt werden, um an diesem Spiel teilnehmen zu können. Was zählt ist der Vollzug innerhalb einer vorgegebenen Matrix. Wenn sich dann irgendwann der Alltag der User nur noch aus solchen reaktiven Mustern zusammensetzt, egal ob digital, im Sport oder in der Plan-
33 Ebd.
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spielkommunikation in Schule und Hochschule, dann entstehen stabile Haltungen, die beunruhigendes Fragen, das heißt solches Fragen, das über die jeweilige Matrix hinausgeht, verlernt haben und die Gestaltung des eigenen Lebens kann als Folge davon als Projektmanagement34 erscheinen. Unter der Hand hat sich dann das Verständnis von Kompetenz als einer Disposition für Offenheit im Umgang mit unvorsehbaren Situationen35 in eine der Anpassung an digitale Systemfigurationen oder an das ökonomisch oder politisch Bestehende transformiert. »Den Rohstoff für die Transformation kultureller Materie ins Virtuelle liefert eine Eigenschaft des Silikon-Kristalls. Sie ermöglicht 0-1-Entscheidungen ohne Ende und damit eine Umrechnung der Realität in die Sphäre ihrer unbeschränkten Verfügbarkeit. Eine technologische und eine ökologische Revolution – Digitalisierung und Globalisierung – verstärken sich gegenseitig zu einem Meta-Universum, das mit dem realen nichts mehr zu tun haben muss, aber auf kalkulierbaren Prämissen beruht. Es erscheint unhintergehbar, da wir nicht mehr feststellen können, wo und wie es uns hintergeht – außer in Form von Crashs und Krisen, die wie Naturkatastrophen hereinbrechen.«36
Die Menschheitsgeschichte wird auf diese Weise zu einem Blindflug ohne Ziel, und die derzeit zu beobachtende Gleichzeitigkeit von Naturkatastrophen und Finanzkrisen wirkt wie ein Menetekel. Diese Konstellation könnte zu einem Weckruf werden, wenn die herrschenden egoistischen Binnenrationalitäten die Zeichen der Zeit einer uns allen gemeinsamen Gefahr erkennen könnten. Neue Formen von Solidarität würden dann eine Chance erhalten können, in denen eine auf Langfristigkeit und Nachhaltigkeit ausgerichtete Kompetenz sich mehr und mehr als Widerpart und nicht als Beförderer von egoistischer Konkurrenz zu erkennen geben könnte. Dafür wäre es aber notwendig, das unheilvolle Zusammenspiel zwischen Individualisierung und Kompetenzerwerb aufzubrechen. Die reflexive Modernisierung wäre dann allerdings mit der Anforderung konfrontiert, selber reflexiv zu werden und das Versprechen vermeintlich größerer individueller Freiheit als dasjenige zu durchschauen, was es ist: »Die Ethik der Sorge um sich als Praxis der Freiheit«37. Foucault lehnt alle fertigen Konzepte reflexiver Freiheit ab und belässt jedem Einzelnen im Rahmen seiner Machtbeziehungen, die immer schon eine unterwerfbare Freiheit voraussetzen, die Möglichkeit, Unstimmigkeiten, Brüche
34 Thommen/Richter 2004. 35 Weinert 1999. 36 Muschg 2012. 37 Foucault 2005: 879.
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oder Widersprüche aufzuspüren, die die Umgestaltung bestehender Zustände und seiner selbst erlauben. Innerhalb einer solchen relationalen Denkform erscheinen Konkurrenz und Kompetenz als analytische Kategorien, die in ihrem Wechselspiel auf Positivitäten abzielen, wie sie in den verschiedenen Praktiken unseres menschlichen Zusammenlebens auf sehr verschiedene Weise beheimatet sein können.
3. Kann sich der Kompetenzbegriff im Vergleich mit dem Bildungs-, Emanzipations- oder Aufklärungsbegriff bewähren oder soll er diese Begriffe auf eine fragwürdige Weise ›überwinden‹ helfen? Schulen und Hochschulen sind mit Beginn des 21. Jahrhunderts zu Agenturen des Kompetenzerwerbs geworden. Aus der gut gemeinten Absicht einer Entrümpelung überladener Lehr- und Studienpläne ist die fragwürdige Engführung einer Outputorientierung geworden, bei der Gesichtspunkte von Steuerung, Planung und Kontrolle zunehmend die Oberhand über mit Emanzipation, Aufklärung und Freiheit verbundene Bildungsziele gewinnen konnten. Der damit intendierte Paradigmenwechsel vom Bildungs-Wissen zum Kompetenz-Können suggeriert eine bisher nicht für möglich gehaltene Transparenz des Unterrichts- und Seminargeschehens und favorisiert das Portfolio38 als Kontrollinstanz für einen jederzeit überprüfbaren Wissens- und Lernzuwachs. »Mit dem Hinweis auf die beträchtlichen 150 Millionen, die allein der Bund für Bildungsforschung mit seinem Rahmenprogramm ausgebe« verband Manfred Prenzel 2011 bei einer ÖFEB39-Tagung in Graz den Zusatz: »Man gebe also, wolle man das System von seinen Defiziten befreien, noch viel zu wenig Geld für die ›Empirische Bildungsforschung‹ aus. Es lohne sich, den Betrieb kräftig weiter expandieren zu lassen.«40 Bei solchen Überlegungen wird vor allem der volkswirtschaftliche Schaden frühen Schul- oder Studienabbruchs in den Vordergrund gerückt und so getan, als ob es einen »praktischen Nutzen der Ergebnisse der Bildungsfor-
38 Mit Hilfe des Portfolios soll eine systematische kompetenzbasierte Lernstrategie erarbeitet werden. Dabei stehen die Reflexion und Evaluation des eigenen Lernens in Auseinandersetzung mit irgendeinem Gegenstand im Vordergrund, womit der Übergang von der passiven Überprüfung (des Wissens) zum aktiven Kompetenzerwerb (des Könnens) intendiert wird. 39 Österreichische Gesellschaft für Forschung und Entwicklung im Bildungswesen. 40 Prenzel 2011, sinngemäß zitiert in Gruschka 2013: 1.
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schung«41 geben würde. Selbstverständlich werden bei der »Überprüfung« der Konkurrenzfähigkeit von Bildungseinrichtungen jene »Indikatoren« zu Grunde gelegt, die die Akkreditierungseinrichtungen und Pisa-Konsortien mit der Rückendeckung von angewandter Psychologie und betriebswirtschaftlichen Modeworten selber erfunden haben und deren »Wissen« in alljährlichen Neujustierungen der immer gleichen »Vergleichsstudien« besteht. Konkurrenz und Kompetenz verschmelzen zum Terminus der Konkurrenzfähigkeit und die jeweils neuesten Pisa-Rankings erinnern an die sportlichen Ereignisse irgendeiner Europameisterschaft. »Wissen müsste man dagegen, was dieses ›Wissen‹ bezogen auf bestimmte Inhalte des Unterrichts und bestimmte Konstellationen mit Schülern bedeutet. Das aber lässt sich nicht durch allgemeine Evidenz bewerkstelligen, man muss dafür viel näher an die konkrete Praxis herantreten, womit generelle, also öffentlich einfach zu kommunizierende Befunde ausgeschlossen sind. […] Diese Forschung geht davon aus, dass Unterrichten ein hochkomplexer Vorgang ist. Er bezeichnet immer Premieren, deren Drehbücher selbst nur begrenzt festliegen und die nicht von Experten für Praktiker geschrieben werden können, wenn man denn an Lehren als einer notwendig professionellen Tätigkeit festhalten will.«42
Mit diesem Einwand Gruschkas kann an die zuvor angestellten Überlegungen zum hermeneutischen Erfahrungsbegriff angeknüpft werden, der auch für das Unterrichten fruchtbar gemacht werden sollte. Denn hermeneutisch verstanden verbinden sich Verstehen und Lehren und Lernen innerhalb des Unterrichtens zu einer Einheit aus dem Verstehen lernen der Schülerinnen und Schüler und dem Verstehen lehren43 und lernen der Lehrerinnen und Lehrer. Der kategoriale Rahmen für dieses Unterrichtsgeschehen ist ein sokratischer,44 der von der beunruhigen-
41 Prenzel 2011, ebd. sinngemäß zitiert. 42 Gruschka 2013: 3 und 5. 43 Schulz 2014. 44 Wagenschein 1968/1999: 75: »Pädagogik hat mit dem Werdenden zu tun: mit dem werdenden Menschen und – im Unterricht, als Didaktik – mit dem Werden des Wissens in ihm. Die sokratische Methode gehört dazu, weil das Werden, das Erwachen geistiger Kräfte, sich am wirksamsten im Gespräch vollzieht. Das exemplarische Prinzip gehört dazu, weil ein genetisch-sokratisches Verfahren sich auf exemplarische Themenkreise beschränken muß und auch kann. Denn es ist – ich sage nicht ›zeitraubend‹ sondern – ›muße-fordernd‹ und deshalb von hohem Wirkungsgrad.«
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den Dimension philosophischen Fragens, wie zum Beispiel Staunen und Zweifel,45 bestimmt sein sollte. Das dabei zum Thema Gemachte reduziert sich nicht auf die diskursive Dimension der gesprochenen Sprache und deren bestätigende Überprüfung (Wie sage ich, was ich schon weiß?), sondern hat mit Verstehen zu tun: Wie habe ich a) zu verstehen, was sich mir b) zeigt? – wobei a) und b) Praktiken sind, innerhalb derer sich auf der Subjektseite eine »Grundhaltung« und auf die Objektseite ein »Unterrichtsprinzip« in Abhängigkeit von den Unterrichtsinhalten bilden kann. Unter Rückgriff auf die Metapher des Spiels kann dieser offene Bildungsprozess als relationales Geschehen rekonstruiert werden, bei dem die jeweiligen »Spielzüge« im Spannungsfeld von Regel und Kontingenz unumgänglich sind. Ein so verstandenes offenes Unterrichten verwirklicht sich in der kommunikativen Bewährung mit Andersdenkenden und benötigt nichts Vor-, Neben- oder Übergeordnetes, das tendenziell einen unheilvollen Primat der prüfenden Beobachtung und Anpassung an bestehende Standards gegenüber dieser ergebnisoffenen Bewährung zur Folge haben würde. So hat in jüngster Zeit ein technokratischer Reformdiskurs eine forcierte Didaktisierung mit sich gebracht, bei der das »Verstehen lehren« als vorrangiges Unterrichtsziel zunehmend gefährdet erscheint.46 Das die Zielsetzungen dieser Didaktisierung vor allem unter Maßgabe einer verbesserten Konkurrenzfähigkeit sowohl der Bildungsinstitutionen untereinander wie auch der betroffenen Subjekte selbst gerechtfertigt werden sollen, verkennt einmal mehr den Eigensinn der Subjektbildung, der mit zu stark
45 Rumpf/Kranich 2000: 33: »Weder die Alltagsroutine noch die Routine des Wissenschaftslernens nimmt das Staunen und Zweifeln des frühen, ersten Blicks recht ernst. Man könnte diese Fixierung auf möglichst schnelle und umwegfreie Aneignung von Endergebnissen auch als Verleugnung der Anfänglichkeit des Lernens bezeichnen. Weil es doch nur um die Inbesitznahme der als richtig und wichtig approbierten Erkenntnisse geht, werden die Lerninhalte so stilisiert, daß die Lerngänge möglichst zügig durchlaufen werden können.« 46 Gruschka 2011: 136 f.: »Verstehen zu lehren bedeutet, nimmt man es als Ausgangspunkt und Ziel der didaktischen Bemühungen, dass alles das vermieden werden muss, was das Verstehen behindern kann. […] Didaktisierung ist letztlich der Umschlag der gut gemeinten Hilfestellung in die faktische Behinderung. Lehren setzt damit an am Maßstab des Verstehens und an den gleichsam natürlichen, von der Sache wie von den Dispositionen der Lernenden aus bestimmten Voraussetzungen und Bedingungen der Möglichkeit des Verstehens. […] Es geht um das Wechselspiel von Fragen und Antworten, das sich in der lebendigen Auseinandersetzung der Klasse mit dem Inhalt der Sache in immer gleicher Bedeutung ergibt.«
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vereinfachenden Steuerungsmodellen nicht erfasst werden kann. Dies wirft die abschließende Frage auf, wie Dimensionen der Verfeinerung und Kultivierung (Bildung) mit jenen der Steuerung und Steigerung (Kompetenz) zusammen gedacht werden können, ohne in den alten Antagonismus von Individuation auf Kosten der Individualität (Eingangszitat Horkheimer/Adorno) zurückfallen zu müssen.
4. Besitzen Begriffe wie Konkurrenz und Kompetenz genügend historische Trennschärfe, um die moderne Gesellschaft angemessen beschreiben zu können, oder besteht nicht vielmehr die Gefahr, dass vor allem der Glaube an die Kompetenz der anderen Konkurrenzgefühle negativer Art in uns wachrufen kann? In dem bis hierhin aufgezeigten notwendigen Selbstbezug des hermeneutischen Verstehens wie auch des eigensinnigen Machens von Erfahrung erfährt eine sich nunmehr immer deutlicher abzeichnende philosophische Kritik an Konkurrenz und Kompetenz ihre Zuspitzung. Denn indem der Kompetenzdiskurs überprüfbares Können als epistemologische Kategorie für sich vereinnahmt, führt er eine Verwissenschaftlichung der Erfahrung herbei, die das von Hegel her entwickelte reflexive »Prinzip der Erfahrung« als einer »Gewissheit seiner selbst« außer Kraft setzen würde. Subjektivierung durch Erfahrung und Subjektivierung als Erfahrung sind eben nicht dasselbe. Im ersten Fall versteht man sich in Abhängigkeit von einer bestimmten Subjektform (z.B. Wissenschaftler, Unternehmer, Lehrer) auf die Veranstaltung einer bestimmten Art des Machens und Könnens einer verwissenschaftlichten Erfahrung, letzteres räumt hingegen eine dialektische Umkehrung des Bewusstseins ein, welche zwar in der wissenschaftlichen Erfahrung (z.B. Physik, Ökonomie, Pädagogik) ihren Ausgangspunkt finden kann, aber diese transzendiert. Nur in diesem Hegelschen Kontext können aber die in den vorhergehenden Abschnitten im Zusammenhang von hermeneutischer Erfahrung und Verstehen eingeführten Begriffe der Bewährung und Beunruhigung eine sinnvolle Verwendung finden, denn beide bedürfen der Möglichkeit einer Begegnung, die als die Bedingung der Möglichkeit von wissenschaftlicher Erfahrung ausgeblendet werden muss. In Anknüpfung an Kant und Hegel konnte mit Andreas Gelhard gezeigt werden,47 welche fatalen Konsequenzen es haben kann, wenn, wie im modernen Management und neuerdings auch in der Schule, Bewährung durch das diagnostische Werkzeug der Beobachtung überformt wird, die meint,
47 Gelhard 2011.
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wirklicher Begegnung keine Beachtung schenken zu müssen. Wichtig ist in unserem Zusammenhang, dass sich im Unterschied zu der neutralisierten Beobachterperspektive bei der wissenschaftlichen Erfahrung im Hegelschen Modell der Bewährung beide Seiten aufs Spiel und damit einem möglichen Scheitern aussetzen müssen. Eine solche Situation ist jedoch nur bei einer wirklichen Begegnung möglich, die aus systematischen Gründen in der methodischen Veranstaltung der Erfahrungswissenschaft (Physik und angewandte Psychologie machen da keinen Unterschied) unterschlagen werden muss, für die gelingende pädagogische Situation des schulischen Unterrichts aber konstitutiv ist. Gleiches gilt für die reflexive Dimension der Beunruhigung, bei der Günther Buck allerdings auf einen wesentlichen Unterschied zwischen Hegel und Dewey aufmerksam gemacht hat: »Dewey hat die Bedeutung der ›Beunruhigung‹ durch das Unerwartete, also der negativen Erfahrung als des Anstoßes für alles ›reflexive‹ Verhalten des Unternehmens und Lernens neu gewürdigt. Die Negativität gehört hier zum Wesen der Erfahrung, und sofern der Pragmatist mit ihr als einem Wesenszug aller Erfahrung rechnet, versteht er sich als den radikal Belehrbaren und Unvoreingenommenen, der jedem Dogmatismus abhold ist. […] Aber die Grenze des pragmatistischen Verständnisses der Erfahrung liegt darin, dass die Offenheit und Belehrbarkeit immer auf derselben Ebene bleibt. […] Die negative Erfahrung bezieht sich hier immer nur auf unser Umgehenkönnen mit den Dingen, die sie korrigieren hilft. Sie macht uns klüger, aber der Erfahrende wird sich durch sie nicht seiner Erfahrung und das heißt: seiner selbst bewusst.«48
Prägnanter als in dieser verdinglichten Dimension des »Umgehenkönnen[s] mit den Dingen« hätte der Kompetenzbegriff kaum erfasst werden können und hier verläuft denn auch die deutlichste Trennungslinie zwischen dem mit dem Pragmatismus zu vereinbarenden Kompetenz- und dem mit Hegel zu vereinbarenden Bildungsbegriff einer sich selbst bewusst werdenden Erfahrung. Der markanteste Unterschied zwischen Kompetenz und Bildung ist daher wohl weniger in der Beunruhigung, der Offenheit, der Begegnung oder im Umgehenkönnen mit den Dingen als vielmehr im Sinne Hegels im reflexiv werdenden Verstehen der selber gemachten Erfahrungen zu finden. Aber sind der Kompetenzdiskurs und dabei vor allem die empirische Bildungsforschung mit ihrem an den Erfahrungswissenschaften angelehnten Forschungsdesign überhaupt in der Lage, jenen Ebenenwechsel mit einzubauen, den diese Selbstbezüglichkeit zur Bedingung hätte? Bei einer solchen Anforderung würde ein ebenfalls im Einklang mit Hegel
48 Buck 1989: 82.
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befindliches auf den Begriff der Praxis (z.B. der Unterrichtspraxis) abgestelltes relationales Forschungsprogramm durch ein reflexives auf den Begriff der Erfahrung abgestelltes Programm erweitert werden müssen. Denn während ein einseitig auf den Kompetenzerwerb fokussiertes Forschungsdesign immer wieder Gefahr läuft, als Theorie- und Bildungskritik durch die möglichst genaue Analyse von empirischen Praktiken missverstanden werden zu können, könnte sich ein am Erfahrungsbegriff orientiertes reflexives Konzept dadurch auszeichnen, dass Subjektbildung vielmehr als ein Theorie und Praxis umgreifendes reflexives Forschungsprogramm aufgefasst werden könnte. Von Michel Foucault, der in seiner Genealogie die »Subjektkonstitution mit einer historischen Ontologie von uns selbst verbindet«49, heißt es: »Zentraler ist für ihn der Begriff der Praxis, von dem her auch die ›Erfahrungen‹ zu analysieren sind« – obwohl »der Begriff der Erfahrung, den Foucault nie wirklich systematisch explizierte, in den 60er Jahren von ihm emphatisch verwendet, in den 70er Jahren teilweise scharf kritisiert und mit der zu verabschiedenden Phänomenologie verquickt [wurde], und [es] erfolgte eine Wiederkehr in den späteren Texten.«50 Im Hinblick auf den Zusammenhang von Konkurrenz und Kompetenz wird es höchste Zeit, dass Lernen und (sich selbst bewusst werdender) Erfahrung im Unterschied zu Lernen und (standardisierbarer) Kompetenz größere Aufmerksamkeit geschenkt wird. Denn der auf gesamtgesellschaftliche Resonanz angewiesene Kompetenzdiskurs leidet angesichts von Checklisten immer neuer Kompetenzen unter der Hyperspezialisierung seines technokratischen Vokabulars und einem dem globalen Wettbewerb geschuldeten Konkurrenzwahn, der diesen Diskurs immer wieder neu anstachelt. Die »Konkurrenzgesellschaft« (Horkheimer/Adorno) wird aufgrund der immer größer werdenden Unübersichtlichkeit ihrer »Anforderungsprofile« zur Glaubensgemeinschaft, die ihre Glaubensgrundlage – das Vertrauen in die Kompetenz und das Wissen der anderen – verloren hat, aber nicht anders kann als sich am zerrütteten Glauben festzuklammern. Es wird immer dringlicher, dass der Steuerungsideologie der Konkurrenzfähigkeit ein Kompetenz und Bildung vermittelnder Lernbegriff entgegengesetzt wird, der anstatt in falschen Gegensätzen zu verharren, dem Eigensinn und der lebendigen Erfahrungsgeschichte der Subjektbildung gerecht werden kann.
49 Ruoff 2009: 129. 50 Unterthurner 2007: 320 f.
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Konkurrenz im Gesundheitssystem A. K ATARINA W EILERT , J ULIA P FITZNER
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Eine Konkurrenzsituation im Gesundheitsbereich kann sich auf verschiedenen Ebenen mit ganz unterschiedlichen Bedeutungen einstellen. Der Deutsche Ethikrat hat in seiner Stellungnahme zu Nutzen und Kosten im Gesundheitswesen drei verschiedene Ebenen der Konkurrenz im Gesundheitsbereich identifiziert.1 Auf der Makroebene konkurriert der Gesundheitsbereich mit anderen Politikbereichen um die finanziellen Ressourcen. Auf dieser Ebene ist jedoch zu bedenken, dass die allgemeine Volksgesundheit durch zahlreiche Politikbereiche, wie etwa Umweltschutz und Bildung, gefördert wird. Teils wird von einem ganz erheblichen Einfluss dieser Faktoren auf die Gesundheit ausgegangen.2 Es geht auf der Makroebene um eine gesellschaftliche Entscheidung im Hinblick auf die grundsätzliche Verwendung öffentlicher Mittel.3 Während staatliche Ausgaben für Prävention (z.B. Aufklärungskampagnen gegen Aids, Hygienevorrichtungen etc.) und die allgemeine Förderung der Volksgesundheit häufig direkt aus öffentlichen Mitteln bestritten werden, wird die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) weitgehend aus den Beiträgen ihrer Mitglieder finanziert. Im Rahmen der Konkurrenz um Mittel aus dem Bundeshaushalt ist die GKV damit anderen Politikbereichen unterlegen. Diese politische Entscheidung hängt nicht zuletzt mit dem enormen Budgetbedarf zusammen: Die Ausgaben der GKV sind etwa halb
1 2
Deutscher Ethikrat 2011: 13 f. Vgl. hier nur die Forschungen von Johannes Siegrist: Siegrist 1996; Siegrist/Marmot (Hg.) 2008, darin insbesondere den Beitrag von Siegrist/Theorell.
3
Vgl. auch Oduncu 2012: 364 f.
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so hoch wie die Ausgaben des gesamten Bundeshaushaltes.4 Daher ist die Konkurrenzsituation auf der Makroebene keine ökonomische, sondern eine politische Konkurrenz um die Frage, wie die öffentlichen Mittel zwischen den einzelnen, teils erheblich indirekt gesundheitsrelevanten Bedarfsbereichen zu verteilen sind und wie in diesem Rahmen ein solidarisch finanziertes Krankenversicherungssystem ausgestaltet werden kann (Steuerfinanzierung versus Beitragsfinanzierung). Im Rahmen der Finanzierbarkeit und Ausgestaltung eines Systems einer solidarischen Versicherung spielt auch die Frage nach dem Wettbewerb zwischen den einzelnen Krankenkassen eine Rolle, da durch Anreize zur Kostensenkung eine höhere Effizienz erreicht werden kann.5 Dem vorgelagert ist jedoch die Entscheidung, ob und inwieweit überhaupt eine Krankenversicherung solidarisch finanziert werden sollte. Hier stehen sich das System der PKV (Privaten Krankenversicherung) und der GKV in Konkurrenz um Beitragszahler gegenüber. Die Konkurrenz zwischen PKV und GKV ist sowohl eine ökonomische (insoweit die PKV durch ihr Leistungsspektrum oder niedrigere Einstiegsbeiträge attraktiver zu sein versucht als die GKV) als auch eine politische (insoweit der Markt reguliert wird und eine Pflichtmitgliedschaft für weite Bevölkerungsteile6 in einer GKV besteht). Auf der Mesoebene konkurrieren die einzelnen Pflege- und Gesundheitsbereiche miteinander um das Budget, das dem Gesundheitssektor zur Verfügung steht. Ausgaben für Arzneimittel stehen etwa in Konkurrenz zu Ausgaben für Rehabilitation oder Prävention.7 Auf der Mikroebene ist die individuelle Konkurrenz der Patienten um Anteile an Gesundheitsdienstleistungen oder Medizinprodukten angesiedelt. Erstens geht es um eine Konkurrenz um Gesundheitsdienstleistungen, die aufgrund des begrenzten finanziellen Budgets knapp sind. Innerhalb dieser Fallgruppe kann man wiederum verschiedene Konkurrenzsituationen voneinander unterscheiden. So kann in Frage stehen, ob etwa ein Mensch mit einer kurzen Lebenserwartung noch eine kostenintensive medizinische Behandlung (etwa eine teure HerzOperation) erhalten sollte. Theoretisch könnte die Operation vorgenommen
4
Gerlinger/Burkhardt 2012.
5
Becker/Schweitzer 2012: 83.
6
In § 5 SGB V wird der Personenkreis definiert, für den die Versicherungspflicht gilt. Selbstständige gehören in der Regel nicht dazu. Versicherungsfreiheit genießen überdies nach § 6 SGB V vor allem Arbeiter und Angestellte mit einem die Jahresarbeitsentgeltgrenze übersteigenden Verdienst und Beamte.
7
Deutscher Ethikrat 2011: 13 f.
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werden, aber mittelbar hätte dies Auswirkungen auf die Finanzierbarkeit anderer medizinischer Dienstleistungen für andere Patienten, deren Heilerfolg entweder aussichtsreicher wäre oder deren Lebensspanne voraussichtlich mehr gesteigert werden könnte. Eine zweite Konkurrenzsituation stellt sich unmittelbarer und drängender dar, nämlich wenn zwei Patienten gleichzeitig in ein Krankenhaus eingeliefert werden, deren Fortleben von demselben intensivmedizinischen Gerät abhängig ist, das jedoch nur noch für einen Patienten verfügbar ist. Hier muss ganz unmittelbar einem Patienten der Vorzug vor dem anderen gegeben werden. Schließlich gibt es eine dritte Konkurrenzsituation um die Qualität einer medizinischen Behandlung. So kann nicht jeder Patient vom Chef- oder Oberarzt behandelt werden und es müssen auch angehende Assistenzärzte die Chance bekommen, ihre Kenntnisse zu vertiefen. In dieser dritten Situation geht es zwar nicht um Leben und Tod, es kann aber in bestimmten Fällen zu merkbaren Qualitätsunterschieden kommen. Diese letzte Fallgruppe leitet bereits über zu einer zweiten Kategorie der Konkurrenz auf der Mikroebene, und zwar einer Konkurrenz, die nicht durch eine Erhöhung der Geldressourcen lösbar ist, weil sie auf einer natürlichen Knappheit beruht. Gemeint ist die Konkurrenz um Organe. Auch wenn durch politische Entscheidungen der Organmangel verringert werden könnte, sind die hierfür notwendigen Methoden (wie vor allem die »Widerspruchslösung«) entweder gesellschaftlich und ethisch stark umstritten oder verbieten sich (wie eine Regulierung durch Geld) aus ethischen Gründen gänzlich. Die Knappheit medizinischer Dienstleistungen auf der Mikroebene bedeutet, dass eine Verteilungsentscheidung seitens der behandelnden Ärzte oder auf einer höheren Ebene getroffen werden muss,8 sofern die Allokation nicht allein über Marktmechanismen, das heißt etwa den Einsatz finanzieller Mittel seitens der Patienten, gelöst werden soll. Obwohl es auf der Mikroebene um die Verteilung knapper Güter auf verschiedene Patienten geht, stehen die Patienten bisher nicht in einem direkten Konkurrenzverhalten zueinander, da sie die Verteilung der Gesundheitsleistungen selbst nicht beeinflussen können.
8
Ebd.: 14.
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Das System der solidarisch ausgerichteten GKV steht in Konkurrenz zur marktwirtschaftlich organisierten PKV.9 PKV und GKV als ungleiche Wettbewerbsteilnehmer: Solidarität versus Wettbewerb Der Wettbewerb zwischen PKV und GKV besteht auf zwei verschiedenen Ebenen, einer ökonomischen Ebene und einer politischen Ebene. Auf der politischen Ebene geht es um einen Wettbewerb der Systeme, nämlich eines solidarischen Systems (GKV) und eines marktwirtschaftlich orientierten Systems (PKV). Die PKV beruht auf der Privatautonomie der Bürger und gestaltet sich durch vertragliche Beziehungen der Versicherten zum Versicherer. Sie geht von der Idee zur Selbstverantwortung befähigter Individuen aus. Aufgrund der unabhängig vom Verdienst zu entrichtenden Beitragszahlungen setzt sie finanziell leistungsstarke Personen voraus. Die GKV ist hingegen nicht durch Individualverträge, sondern durch Gesetz bestimmt und bemisst die zu entrichtenden Beiträge nach der Höhe des Arbeitsentgelts bzw. der Rente und ermöglicht auf diese Weise auch einer finanziell schwachen Gruppe eine vollwertige Absicherung für den Krankheitsfall. Die PKV erbringt ihre Leistungen durch Geldzahlungen, die GKV leistet in natura.10 Politisch wird darum gestritten, welches System gerechter ist. Während die PKV für eine Leistungsgerechtigkeit steht und aufgrund der finanziellen Altersrückstellungen eine Generationengerechtigkeit befördert, steht die GKV für eine solidarische und soziale Gerechtigkeit. Politisch wird unterschiedlich gewichtet, welche Elemente der Gerechtigkeit wie hoch zu bewerten sind und wie eigenverantwortlich und autonom der Bürger handeln kann, muss oder darf. In die Gerechtigkeitserwägungen fließen auch Bewertungen des »Systemfunktionierens« ein; denn ein Krankenversicherungssystem kann nur dann seinen Zweck der Absicherung erfüllen, wenn es nachhaltig finanziert ist und eine gewisse Kosten-Nutzen-Effizienz erfüllt.
9
Auch zwischen den einzelnen Krankenkassen der GKV besteht eine Konkurrenz um Versicherte, da gesetzlich Versicherte ihre Krankenkasse frei wählen können (§§ 173 ff. SGB V); näher hierzu Gaßner/Eggert 2011. Steuerungselemente sind z.B. Wahltarife und Zusatzleistungen. Ebenso gibt es einen Wettbewerb zwischen einzelnen Leistungserbringern, den die gesetzlichen Kassen für sich nutzbar machen können, vgl. Becker/ Schweitzer 2012: 83.
10 Isensee 2010: 838.
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Ließe man dem ökonomischen Wettbewerb zwischen beiden Systemen freien Lauf (keine Pflichtmitgliedschaft, keine Finanzierungshilfen), würde die PKV die GKV sehr wahrscheinlich verdrängen, da die GKV auf dem Grundsatz der Solidarität (nicht nur zwischen Gesunden und Kranken, sondern auch zwischen einkommensschwachen und einkommensstarken Menschen) beruht, der zu einem reinen Marktmechanismus in starker Spannung steht. Mindestens aber würde es zu einer solchen Schwächung der Finanzkraft der GKV kommen, dass eine dem heutigen technischen Stand angemessene Gesundheitsversorgung nicht mehr gewährleistet werden könnte. Es handelt sich bei PKV und GKV nämlich um gänzlich unterschiedliche Systeme mit unterschiedlichen Systemlogiken. Die politische Vorentscheidung, den Gesundheitsmarkt aufgrund übergeordneter sozialer Gerechtigkeitsinteressen nicht dem Markt zu überlassen, führt dazu, dass der ökonomische Wettbewerb zwischen beiden Systemen reguliert werden muss und damit eingeschränkt ist. Die weitreichendste Regulierung im Wettbewerb um Beitragszahler ist die sogenannte Versicherungspflichtgrenze. Über die Einkommenshöhe wird definiert, wer in der GKV pflichtversichert11 ist. Durch die Versicherungspflichtgrenze (Jahresarbeitsentgeltgrenze) werden der GVK Versicherungsnehmer garantiert, ohne dass sie sich durch ein markttaugliches Leistungsangebot in einem Marktwettbewerb bewähren muss. Die Versicherungspflichtgrenze basiert auf sehr unterschiedlichen Erwägungen: zum einen auf einem paternalistisch-fürsorgenden Staat, der einkommensschwache Arbeitnehmer davor bewahren will, keinen ausreichenden Versicherungsschutz zu haben, zum anderen auf der Idee, auch einkommensstärkere Gruppen in der solidarischen Versicherung zu binden, um die Finanzierung zu gewährleisten. Diese Wettbewerbsverzerrung zugunsten der GKV muss vor dem Hintergrund des Kontrahierungszwanges der GKV betrachtet werden, die ihre Versicherten nicht nach Leistungsstärke und Gesundheitsrisiko auswählen und deren Beitragszahlung nicht am Krankheitsrisiko ausrichten darf. Damit sind ihr die wesentlichen Mittel zur Beherrschung einer ökonomischen Konkurrenzsituation (Kosten-Nutzen-Analysen) entzogen. Hinzu kommen Bestimmungen im Fünften Sozialgesetzbuch12 wie die der Familienversicherung (§ 10 SGB V), wonach Kinder und gegebenenfalls Ehegatten kostenlos in die Versicherungsleistungen einbezogen sein können, was ökonomisch betrachtet für die einzelne Krankenkasse ein bedeutsamer Nachteil wäre, wenn es hier keinen Ausgleich gäbe.13
11 Technisch gesprochen genießen jene Arbeiter und Angestellten, deren Einkommen die Jahresarbeitsentgeltgrenze übersteigt, Versicherungsfreiheit (§ 6 Abs. 1 Nr. 1 SGB V). 12 Das Fünfte Sozialgesetzbuch (SGB V) regelt die gesetzliche Krankenversicherung. 13 Zwischen den einzelnen Kassen der GKV erfolgt der Ausgleich über den Gesund-
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Ethische Rechtfertigung für einen regulierten Wettbewerb Die Regulierung des öffentlichen Gesundheitswesens mit dem Anspruch eines egalitären Zugangs für alle Menschen unabhängig von ihren finanziellen Ressourcen hat ihre Wurzeln bereits Ende des 19. Jahrhunderts in der Bismarckschen Sozialgesetzgebung. Das strukturbestimmende Element der Sozialversicherung ist seitdem der Solidaritätsgedanke. Die ethisch-politische Idee hinter einer solidarischen Versicherung ist die gegenseitige Verbundenheit der Versicherten, bestimmte Lebensrisiken (wie Krankheit und Unfall) gemeinsam zu tragen und dabei die Höhe der Leistungen nicht an Vorbedingungen (wie den Gesundheitszustand und die Höhe der Einzahlungen) zu koppeln. Solidarität bedeutete schon nach der Bismarckschen Idee der Krankenversicherung nicht nur eine finanzielle Solidarität der Versicherten untereinander, sondern auch der zu Beitragszahlungen verpflichteten Arbeitgeber mit den Arbeitnehmern. Da Gesundheit als existentielles, konditionales14 und transzendentales Gut15 vielfach die Voraussetzung zur Verwirklichung der persönlichen Ziele und Pläne und zur vollen Teilhabe an der Gesellschaft ist, verpflichtet sich eine per Gesetz dazu bestimmte Solidargemeinschaft für ein hilfsbedürftiges Individuum im Bedarfsfall einzustehen.16 Dadurch wird das sonst im Wettbewerb übliche Verfahren des Gleichgewichts von Leistungen und Gegenleistungen außer Kraft gesetzt.17 Aus dem Solidaritätsgedanken ist allerdings kein allgemeines »ethisches Recht« auf Unterstützung und Hilfe ableitbar.18 Eine isolierte Betrachtung des Solidaritätsprinzips, ungeachtet der individuellen Selbstverantwortung, birgt die Gefahr der »Aushöhlung des Sozialstaats und seiner Institutionen«.19 Daher kann
heitsfond, indem die Krankenkassen pro versicherter Person eine risikoadjustierte Pauschale erhalten. 14 Oduncu 2012: 364. 15 Transzendentale Güter besitzen einen Ermöglichungscharakter; ihr Besitz muss vorausgesetzt werden, damit die Individuen »ihre Lebensprojekte überhaupt mit einer Aussicht auf Minimalerfolg angehen, verfolgen und ausbauen können.« (Kersting 2000: 477) Siehe auch Kersting 1999: 152; Kersting 2008b: 30 f. 16 Marckmann 2010: 10. 17 In diesem Zusammenhang führt Kalvelage ein Zitat von Oskar Lafontaine aus dem Wahlkampf 2005 an »Zwischen dem Schwachen und dem Starken unterdrückt die Freiheit und befreit das Gesetz.« (Klavelage 2014: 187) 18 Nothelle-Wildfeuer 2002: 200. 19 Ebd.
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es nur gemeinsam mit dem Subsidiaritätsprinzip richtig interpretiert werden, wonach das Individuum im Grundsatz erst dann einen Anspruch auf Hilfe der Gemeinschaft hat, wenn es aus eigenen Kräften nicht dazu in der Lage ist.20 Würden Gesundheitsleistungen unter Marktbedingungen angeboten werden, müssten medizinische Leistungen nach der Zahlungsfähigkeit der Patienten verteilt werden. Einkommensungleichheiten und das Armutsrisiko von Familien würden eine Zugangsbarriere zu Gesundheitsleistungen darstellen. Da in einer freien Marktgesellschaft die individuellen, finanziellen Ressourcen vorrangig von der sozialen Stellung der Bürger abhängen, käme es zu einer zusätzlichen Schlechterstellung von bereits benachteiligten Individuen.21 Aufgrund der Blindheit des Marktes für soziale Belange wäre eine Unterversorgung bzw. Fehlversorgung die Folge.22 Der in den Menschenrechten gründende23 ethisch-soziale Anspruch der Bürger auf medizinische Bedarfs- und Bedürfnisgerechtigkeit und
20 Ebd. Im Sinne des Subsidiaritätsprinzips müssen sich Hilfsmaßnahmen an zwei Regeln messen lassen können: Das Kompetenzanmaßungsverbot fordert immer erst die Wahrung der eigenen Kompetenz indem jeder zunächst seine individuellen Aufgaben eigenverantwortlich ausführt. Es richtet sich also dagegen, »dass die soziale Sphäre den einzelnen Personen Zuständigkeiten entzieht« (Anzenbacher 1998: 213). Das Hilfestellungsgebot gewährt Individuen nur bei mangelnder Leistungsfähigkeit die Bereitstellung von Hilfeleistungen durch die größere Einheit im Sinne von »Hilfe zur Selbsthilfe«. Allerdings müssen »die je größeren und übergeordneten Sozialgebilde im Dienst der kleineren und untergeordneten« stehen. (Ebd.) Kalvelage setzt sich durchaus kritisch mit diesem Konzept auseinander und sieht in einer politisch diskutierten Stärkung der Eigenverantwortung der Patienten eine potentielle Gefährdung der Gleichheit und warnt vor einem »Sozialabbau und einer Entsolidarisierung« (Kalvelage 2014: 187). 21 Kersting 2002: 276. Schon jetzt zeigen Statistiken, dass sozial bessergestellte Bürger eine längere Lebenserwartung haben als sozial schwächere Menschen (Siegrist 2001: 37). Wilkinson und Picket zeigen, dass die Möglichkeit eines sozialen Aufstiegs (soziale Mobilität) in Gesellschaften mit einer stärker nivellierten Einkommensverteilung höher ist. Demgegenüber treten in Gesellschaften mit großen Einkommensunterschieden einige soziale Probleme wie niedrige Lebenswertwartung, psychische Erkrankung, Säuglingssterblichkeit, Übergewicht, Drogenkonsum, vermehrte Teenagergeburten, die Häufigkeit von Morden oder die relative Zahl von Gefängnisinsassen vermehrt auf. (Kalvelage 2014: 188) 22 Dietz 2011: 268. 23 Rauprich 2008: 140.
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medizinische Gleichmäßigkeit der Versorgung verbietet daher die Allokation von Gesundheitsleistungen über den Markt.24 Dass die Bevölkerung eine alleinige Regulierung der Gesundheitsleistungen über Marktmechanismen mutmaßlich ablehnt, verdeutlichen zwei Gedankenexperimente. So nahmen Hunt und Sherman fiktiv an, dass auf einer Insel 1000 Kinder leben, die von einer Seuche bedroht sind. Der Ausbruch der Seuche lässt sich mit einem Impfstoff einschränken, der allerdings nicht unbegrenzt verfügbar ist. Es können genau 1000 Einheiten des Impfstoffs hergestellt werden. Die Sterbewahrscheinlichkeit der Kinder verringert sich bei einer einmaligen Impfung von 90% auf 10%; bei jeder weiteren Impfung reduziert sich die Sterbewahrscheinlichkeit zusätzlich, allerdings in deutlich geringerem Maße. In einem staatlichen Gesundheitssystem würde jedem Kind eine Impfung zustehen. Würde die Verteilung des Impfstoffs dem Marktmechanismus überlassen, würden die Kinder von wohlhabenden Eltern vier Mal geimpft werden (darüber hinausgehende Impfungen haben in dem Gedankenexperiment keine Wirkung mehr). Da die wohlhabenderen Eltern nur pflichtgemäß handeln, ist ihnen kein moralischer Vorwurf zu machen. Bei dieser Überlegung wird der Unterschied zwischen einer individualadressierten und einer institutionenorientierten Moral deutlich.25 Eine Institutionalisierung gerechter Allokationsmuster ist notwendig, um eine gerechte und einkommensneutrale Verteilung des Impfstoffs zu gewährleisten. Dabei ist eine unparteiliche Perspektive zur Festlegung von fairen Allokationsregeln zur Vermeidung von Benachteiligungen bzw. Bevorzugungen erforderlich. Um die Präferenzen der Probanden in einem unabhängigen Kontext zu untersuchen, wurden die Teilnehmer in einem Gedankenexperiment von John Rawls durch den sogenannten »Schleier des Nichtwissens« entindividualisiert.26 Mit dem Ziel, parteiliche Entscheidungen zu verhindern, wurde den Individuen in einer fiktiven Entscheidungssituation sämtliches identitätsstiftendes Wissen über sich genommen.27 Hintergrund für diese Entindividualisierung war die Grundannahme
24 Ebd. 25 Kersting 2008b: 33f. 26 Ebd.: 34; Rawls 2012: 29. Wird zum Teil auch als Schleier der Unwissenheit übersetzt. 27 Kersting 2008b: 34. Hierzu gehören der individuelle Gesundheitszustand, verfügbare finanzielle Ressourcen, physische und soziale Eigenschaften (z.B. Religionszugehörigkeit), sozialer Status, materieller Besitz, kognitive und sozio-emotionale Fähigkeiten, individuelle Neigungen (z.B. Risikoaversität) oder auch der individuelle Lebensentwurf. Weitere Grundvoraussetzungen dieses Gedankenexperiments waren die Annahme bestimmter idealisierender und Fairness garantierender Bedingungen
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von Rawls, dass in diesem »Urzustand«28 alle Menschen gleiche Interessen haben und ein gerechtes (verstanden als faires) System anstreben. Der Wunsch der Probanden wäre unter diesen Gegebenheiten, dass die Gesundheitsversorgung unabhängig vom finanziellen Status der Menschen gewährleistet wird. Zudem soll die Verteilung der Maßnahmen unter politischer Aufsicht und im Sinne des Solidaritätsprinzips erfolgen. Allein die Bedürftigkeit und nicht der Marktpreis sollte die Allokation von Gesundheitsleistungen regulieren.29 Die so angenommene Präferenz der Gesellschaft für eine öffentlich regulierte Gesundheitsversorgung bedeutet allerdings nicht, dass das staatliche Gesundheitssystem jedem Bürger jede Therapie finanzieren muss oder gar dass die Gesundheit eines jeden Mitmenschen garantiert wird.30 Verfassungsrechtlicher Rahmen für den regulierten Wettbewerb Der regulierte Wettbewerb mit der Folge der Sicherung einer medizinischen Versorgung aller Bürger, unabhängig von ihrem Einkommen und sozialen Stand, ist Ausdruck des grundgesetzlichen Sozialstaatsprinzips.31 Das Sozialstaatsprinzip (Art. 20 I GG) verpflichtet den Staat, eine bestimmte – in ihrem Umfang umstrittene32 – Gesundheitsversorgung sicherzustellen. Das Recht auf Gewährung des Existenzminimums (aus Art. 1 I GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 I GG) umfasst mit dem physischen Wohl auch die medizini-
sowie die Annahme von rational entscheidenden und allein an der Durchsetzung der individuellen Präferenzen interessierter Menschen (Rawls 2012: 29; siehe auch Kersting 2008a: 278 f.). 28 Rawls nennt den Zustand »original position«. Die wörtliche Übersetzung ist Urzustand (Rawls 2012: 34 ff.). Gebräuchlich ist aber auch die Bezeichnung als »Naturzustand«. 29 Kersting 2008a: 278 f. 30 Kersting 2008b: 36. 31 Vgl. Becker/Schweitzer 2012: 82; Oduncu 2012: 364. 32 Mindestens muss die »Sicherung der nackten Existenz« staatlich garantiert werden; ob darüber hinaus die »soziale Gleichheit« bis hin zu einer Maximalversorgung zu garantieren ist oder nur eine Ermöglichung der »medizinischen Normalversorgung«, ist umstritten (näher Neumann 2006: 394; Huster 2010: 1077). Huster plädiert für eine »Normalversorgung«, deren Standard kulturell unterschiedlich ausfallen kann. Dazu soll empirisch ermittelt werden, wie viel ein durchschnittlicher Bürger als finanzielles Opfer bereit ist, für die Gesundheitsversorgung auszugeben.
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sche Versorgung. Ein daraus resultierender verfassungsunmittelbarer Leistungsanspruch ist allerdings subsidiär und besteht nur, insoweit der Staat den Anspruch nicht durch weitere Gesetze konkretisiert hat und der Einzelne nicht aus eigener Kraft für sein medizinisches Existenzminimum sorgen kann.33 Auch aus der Schutzpflicht des Staates für das Leben und die körperliche Unversehrtheit (Art. 2 II GG) kann die Pflicht zu einer Ermöglichung einer Basisversorgung abgeleitet werden.34 Auf welche Weise und in welcher Form der Staat die medizinische Existenzsicherung verwirklicht, wird verfassungsrechtlich nicht vorgegeben. Insofern genießt die GKV als Institution keinen verfassungsrechtlichen Bestandsschutz, sondern der Staat könnte diesem Ziel zum Beispiel auch im Wege einer Auffangversorgung durch eine entsprechend ausgestaltete Sozialhilfe nachkommen.35 Da die staatlichen Regulierungen des Wettbewerbs in Freiheitsrechte sowohl der privaten Versicherungsunternehmer als auch der durch die Versicherungspflicht gebundenen Bürger eingreifen, steht in Frage, inwieweit diese Eingriffe verfassungsrechtlich gerechtfertigt sind. Weitreichende Folgen für die PKV und die Bürger hat insbesondere die Versicherungspflichtgrenze, die bedeutet, dass Arbeitnehmer erst ab einem bestimmten, verhältnisweise hoch angesiedelten Einkommen von der Versicherungspflicht in der GKV freigestellt sind. Dem Arbeitnehmer wird dadurch faktisch die Möglichkeit genommen, sich die Versicherung nach Leistungsangebot und Kosten-Nutzen-Erwägungen auszusuchen. Vielmehr zahlt er aufgrund des Solidarprinzips für die gleiche Leistung unabhängig von seinem Gesundheitszustand unter Umständen mehr Beiträge als ein krankes Versicherungsmitglied mit geringem Einkommen. Für den Pflichtversicherten stellt sich dies als ein Eingriff in seine allgemeine Handlungsfreiheit nach Art. 2 I GG dar. Das Bundesverfassungsgericht hat diesen Eingriff jedoch als gerechtfertigt angesehen.36 Die Rechtfertigung stützt sich auf drei Erwägun-
33 Neumann 2006: 394. 34 Vgl. zu Judikatur und Schrifttum und den dort vertretenen unterschiedlichen Standpunkten Schmidt Aßmann 2001: 24 ff. Der sogenannte »Nikolaus-Beschluss« des BVerfG spricht von einer Schutzpflicht aus Art. 2 II GG ausdrücklich nur im Zusammenhang mit der Pflichtversicherung, nach der Prämisse: Wenn jemand verpflichtet wird, Mitglied der GKV zu sein, dann dürfen ihm nicht Therapiemöglichkeiten bei lebensbedrohlicher Krankheit verwehrt werden. 35 Neumann 2006: 394. 36 »Das Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit ist betroffen, wenn der Gesetzgeber Personen der Pflichtversicherung in einem System der sozialen Sicherheit unter-
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gen, erstens auf die Schutzbedürftigkeit von Arbeitnehmern mit niedrigem und mittlerem Einkommen, zweitens auf den »sozialen Ausgleich zwischen Gesunden und Kranken, vor allem aber zwischen Versicherten mit niedrigem Einkommen und solchen mit höherem Einkommen sowie zwischen Alleinstehenden und Personen mit unterhaltsberechtigten Familienangehörigen«37, sowie drittens auf die Notwendigkeit der »finanziellen Stabilität und damit der Funktionsfähigkeit«38 der GKV.
K ONKURRENZ UM G ESUNDHEITSDIENSTLEISTUNGEN INNERHALB DER GKV − L ÖSUNG EINES K NAPPHEITS PROBLEMS BEI WEITGEHENDER AUSSCHALTUNG VON MARKTWIRTSCHAFTLICHEN K ONKURRENZMECHANISMEN Da sich die Höhe der Beitragszahlungen und damit das zur Verfügung stehende Budget in der GKV nicht an primär wirtschaftlichen bzw. an das »Krankheitsrisiko« angelehnten, sondern vor allem an sozialen Kriterien orientiert, ist das Verteilungsproblem drängender als bei der PKV mit einem erhöhten Finanzvolumen einschließlich finanzieller Rücklagen. Damit stellt sich die Frage, wie die Ressourcen am gerechtesten auf die Versicherten verteilt werden.39 Eine Konkurrenz der Versicherten um eine Leistung würde bestehen, wenn die Leistung an den Einen die unmittelbare Nichtleistung an den Anderen zur Folge hätte. Dies ist bei Organtransplantationsanwärtern mit ähnlichen Gewebemerkmalen der Fall, die auf dasselbe Spenderorgan warten. Daher ist die Lösung der Konkurrenz um Organe von besonderer Brisanz.40 Gleiches gilt, wenn nur ein intensiv-
wirft […]. Sein Schutzbereich wird berührt, wenn der Gesetzgeber durch die Anordnung von Zwangsmitgliedschaft und Beitragspflicht in einem öffentlich-rechtlichen Verband der Sozialversicherung die allgemeine Betätigungsfreiheit des Einzelnen durch Einschränkung ihrer wirtschaftlichen Voraussetzungen nicht unerheblich einengt.« (Bundesverfassungsgericht 2005: 25, 42; vgl. Bundesverfassungsgericht 2009) 37 Bundesverfassungsgericht 2009: Tz. 229 juris, Hervorhebung A.K.W. 38 Ebd.: Tz. 233 juris; vgl. Isensee 2010: 841. 39 Der Leistungskatalog der GKV wird bestimmt vom Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA), vgl. http://www.g-ba.de/. 40 Die Allokation von Organen wird gemäß dem Transplantationsgesetz mittels einer Warteliste nach den Kriterien der Dringlichkeit und Erfolgsaussicht, näher bestimmt durch Richtlinien der Bundesärztekammer, vorgenommen.
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medizinisches Gerät zur Verfügung steht, das von zwei eingelieferten Patienten benötigt wird. Bei anderen Gesundheitsdienstleistungen ist die Konkurrenz weniger unmittelbar. Die teure Herz-Operation an einem 90-jährigen Patienten hat nicht sofort zur Folge, dass für den 30-jährigen Patienten eine andere kostenintensive Therapie nicht mehr finanziert werden kann. Hier findet eine indirekte Konkurrenz um das Budget statt, deren Auswirkungen langfristiger zu denken sind. Während die Organspende einen Sonderfall bildet, der nicht durch eine Erhöhung des Finanzvolumens zu lösen ist bzw. aus ethischen Erwägungen heraus nicht über den Preis gelöst werden soll, geht es in allen anderen Fällen um die gerechte Allokation des zur Verfügung stehenden Geldbudgets. Da die solidarische GKV die Leistungszuteilung nicht nach der Einzahlung oder individuell ausverhandelten Verträgen der Versicherten vornimmt, sind die Kriterien für eine gerechte Zuteilung zu diskutieren. Dies wirft äußerst schwierige Abgrenzungsfragen auf und ist derzeit eines der drängendsten Probleme des Gesundheitssystems. Leistungszuteilungen können entweder durch vorgelagerte Entscheidungen (auf der Mesoebene) geschehen, indem etwa Leistungskriterien exante formuliert werden, oder aber durch die Individualentscheidung eines Arztes (auf der Mikroebene), der etwa nur einen von zwei Patienten annehmen kann oder sonstige Auswahlentscheidungen trifft.41 Im Rahmen einer optimierten und gerechten Allokation der vorhandenen Mittel stehen besonders die Begriffe der Rationierung, Priorisierung und Rationalisierung im Vordergrund. Rationierung In der Gesundheitswirtschaft ist mit Rationierung die Vorenthaltung von Leistungen gemeint. Sie ist das schärfste Mittel als Reaktion auf Ressourcenknappheit und ›Kostenexplosion‹. Bestimmte medizinische Dienstleistungen oder Medizinprodukte werden für bestimmte Patientengruppen nicht mehr von der solidarischen Versicherung getragen, obwohl ein positiver medizinischer Nutzen von ihnen zu erwarten ist und sie im Sinne von § 12 Abs. 1 SGB V »notwendig« sind.42 Schon jetzt gibt es Arznei-, Heil- und Hilfsmittel, deren Wirksamkeit
41 Deutscher Ethikrat 2011: 14. 42 § 12 Abs. 1 SGB V: »Die Leistungen müssen ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein; sie dürfen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten. Leistungen, die nicht notwendig oder unwirtschaftlich sind, können Versicherte nicht beanspruchen, dürfen die Leistungserbringer nicht bewirken und die Krankenkassen nicht bewilligen.«
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nicht bestritten wird, die aber dennoch von einer Finanzierung aus der Solidargemeinschaft ausgenommen sind, da es sich entweder um »Lifestylepräparate« handelt oder um Arzneimittel an der Grenze zu Drogerieartikeln (»nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel«), die lediglich zur Linderung leichter Beschwerden eingesetzt werden.43 Die Bezeichnung als Rationierung wird hierbei allerdings vermieden. Um die Rationierung richtig einschätzen und bewerten zu können, muss man verschiedene Spielarten unterscheiden: harte versus weiche, direkte versus indirekte, offene versus verdeckte und implizite versus explizite Rationierung. Umfang und Reichweite der Rationierung: harte versus weiche Rationierung Eine harte Rationierung bedeutet die absolute Vorenthaltung einer medizinischen Behandlung. Dies wäre der Fall, wenn es gesetzlich verboten wäre, dass sich der Patient die erwünschte Maßnahme privat (etwa durch eine Zusatzversicherung oder vollständige private Versicherung) hinzukauft. Damit erhalten alle gleich viel und gleich wenig.44 Eine weiche Rationierung würde hingegen die Knappheit der Mittel in der GKV nicht zu einer Knappheit in der Versorgung (Rationierung) für alle machen, sondern nur im Rahmen der solidarischen Versicherung wirken. Dies bedeutete, dass die sich an Kosten-Nutzen-Analysen (anstelle von Solidarität) ausrichtenden privaten Versicherer einen Wettbewerbsvorteil genießen würden, da gerade die Arbeitnehmer mit hohem Einkommen teils schon zu einer vergleichbaren oder sogar geringeren Prämie einen höheren Gesundheitsschutz durch die PKV erlangen können. Modi der Rationierung Ging es bei der Frage nach einer harten versus weichen Rationierung um den Umfang der Rationierung, so zeigen die Begriffspaare der direkten versus indirekten Diskriminierung und offenen versus versteckten Rationierung die Art und Weise auf, mittels derer medizinische Leistungen vorenthalten werden. Eine Rationierung kann direkt oder indirekt erfolgen. Bei einer direkten Rationierung werden bestimmte Patienten oder Patientengruppen von einer bestimmten medizinischen Versorgung bzw. ihrer solidarischen Finanzierung ausgeschlossen, indem zuvor definierte Kriterien der Rationierung festgelegt
43 Vgl. § 34 SGB V. Bei schwerwiegenden Erkrankungen gelten Ausnahmen im Hinblick auch auf sonst nicht verschreibungspflichtige Medikamente. 44 Deutscher Ethikrat 2011: 21 f.
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werden.45 Eine indirekte Rationierung trifft keine vorher festgelegten Patienten(gruppen), sondern potentiell alle,46 zum Beispiel in Form von Budgetierungen. Als Folge müssen Ärzte auf der Mikroebene entscheiden, wer welche medizinischen Leistungen erhält.47 Das Begriffspaar »offene versus verdeckte Rationierung« soll den Umgang mit einer Rationierung bezeichnen. Die offene Rationierung macht transparent, dass rationiert wird und nach welchen Kriterien dies erfolgt. Sowohl die Öffentlichkeit als auch der Patient wird über die Rationierung informiert. Die verdeckte Rationierung erfolgt dagegen nach nicht benannten Kriterien, ist somit intransparent, und verschleiert die Tatsache der Rationierung. Eine verdeckte Rationierung überschneidet sich mit einer indirekten Rationierung, wenn weder offengelegt wird, dass eine Rationierung erfolgt noch Kriterien für sie vorliegen. Ethische Bewertung der Rationierung Die Knappheitssituation im Gesundheitswesen ist keine schicksalsmäßig gegebene Situation, sondern zumindest zum Teil das Ergebnis einer gesellschaftspolitischen Entscheidung. Eine Einschränkung der Ausgaben in anderen öffentlichen Bereichen zugunsten des Gesundheitsbudgets könnte die Rationierungsproblematik vermindern oder gar vermeiden.48 Im Hinblick auf die zunehmende Ressourcenknappheit49 ist ein »Versorgungsmaximalismus«50, bei dem alle möglichen und denkbaren Gesundheitsleistungen solidarisch finanziert werden, weder ethisch geboten noch ökonomisch im Interesse der solidarisch Versicherten, die letztlich die damit verbunden Kosten durch erhöhte Beiträge zu tragen haben.51 Eine solidarische Bereitstellung aller verfügbaren Leistungen in Abhängigkeit von einem subjektiven Dringlichkeitsgefühl und den individuellen Versorgungspräferenzen einzelner
45 Ebd.: 22. 46 Winkelhake 2011: 1, 10. 47 Vgl. Oduncu 2012: 361. 48 Marckmann 2010: 10 f. 49 Marckmann/in der Schmitten 2011: 304. 50 Marckmann 2010: 11. 51 Im Hinblick auf das ökonomische Prinzip des abnehmenden Grenznutzens kann eine Maximierung des Gesundheitsnutzens (bei neuen Verfahren steht oft überproportional hohen Ausgaben ein vergleichsweise geringer Nutzengewinn gegenüber) nicht das primäre Ziel einer Gesellschaft sein (Marckmann 2010: 11). Siehe auch Kersting 2008b: 38; Marckmann/in der Schmitten 2011: 305; Kliemt 2002: 160; Rauprich 2008: 143 f.
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Bürger würde das Gesundheitssystem schnell an seine Grenzen bringen. Die Festlegung des Ausmaßes der gemeinschaftlich finanzierbaren Versorgungsleistungen ist kein statischer Zustand, sondern muss normativ in Abhängigkeit vom medizinischen Entwicklungsstand, der ökonomischen Leistungsfähigkeit und den gesellschaftlichen Präferenzen definiert werden.52 Denn »menschliche Bedürftigkeit ist plastisch und in hohem Maße kulturimprägniert, sozial codiert und interpretationsabhängig.«53 Im Hinblick auf die zunehmende Mittelknappheit ist es an der Zeit, über Instrumente zur Regelung des Zugangs zu beschränkten Leistungen nachzudenken.54 Das Instrument der harten Rationierung ist aus ethischer Sicht zu vermeiden. Das Vorherrschen bestimmter Regeln, die eine gesundheitlich notwendige oder subjektiv gewünschte Versorgung im Einzelfall untersagen, beschränkt sowohl die Patienten als auch die Therapeuten unzulässig in ihrer Freiheit und zwingt zu »moralischem Übel«55. Um einzelfallbezogene, willkürlich erscheinende Entscheidungen zu vermeiden, sollten Rationierungen strukturell durch entsprechende transparente Regelungen und gesellschaftliche Institutionen abgesichert sein. Die zum Teil bereits auf der Mikroebene vorherrschende56 verdeckte und implizite
52 Marckmann 2010: 11. 53 Kersting 2008b: 31. 54 Nach Kliemt sind sowohl in privaten als auch in öffentlichen Versicherungssystemen grundsätzlich drei Wege der formalen Beschränkung des Ressourceneinsatzes möglich: Vorgabe von begrenzten Budgets für die Behandlung von Gruppen und Patienten; Standardisierung der Behandlung mit fixiertem Maximalaufwand oder die Budgetierung der Behandlung einzelner Patienten (Kliemt 2002: 161). 55 Laufs 1993: 290. 56 In einer Studie von Beske et al. 1999 gaben 73% der befragten Leser des Deutschen Ärzteblatts an, dass schon heute Rationierungen von Gesundheitsleistungen stattfinden. Bei einer Studie von Boldt/Schöllhorn 2008 waren es 67% der befragten leitenden Ärzte deutscher Intensivstationen, die Rationierungen festgestellt haben. Bei einer Studie von Strech et al. 2009 gaben 79% der befragten Ärzte intensivmedizinischer und kardiologischer Abteilungen an, dass in den vergangenen 6 Monaten Maßnahmen, die für die Patienten nützlich gewesen wären, aus Kostengründen nicht durchgeführt bzw. ersetzt wurden. Im Hinblick auf die Häufigkeit von Rationierungsentscheidungen zeigte eine Studie von Strech und Marckmann 2010, dass 13% der befragten Ärzte häufig (mindestens ein Mal pro Woche) rationieren. Deutlich häufiger wurde rationalisiert: 60% bestätigten eine häufige Rationalisierung.
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Rationierung ist problematisch,57 da medizinische Entscheidungen bei Patienten mit demselben Krankheitsbild unterschiedlich ausfallen können.58 In solchen Fällen liegt die Rationalisierungslast allein bei den Ärzten.59 Im Gegensatz dazu entstehen bei einer offenen und zugleich weichen Rationierung unter Knappheitsbedingungen nur dann ethisch drängende Probleme, wenn wichtige bis hin zu lebensnotwendigen Behandlungen oder Untersuchungen vorenthalten (d.h. nicht finanziert) werden. Denn bei Mittelknappheit sichern transparente Rationierungsregeln gleichartige Mindestchancen und bewahren Bürger vor einem »unfairen« Versorgungsausschluss.60 Daher wird in der Literatur vielfach die Etablierung eines Stufenmodells vorgeschlagen.61 Darin wird zwischen einer unverzichtbaren Basis- und Grundversorgung und einer darüber hinausgehenden zusätzlichen Versorgung unterschieden.62 Im Bereich der Grundversorgung verlangen die Menschenrechte eine »Rationierungsimmunität« und das »Recht auf Egalitarismus«.63 Bei der Zusatzversorgung ist es hingegen ethisch und gerechtigkeitstheoretisch möglich, Ungleichheiten des Versorgungsniveaus zuzulassen. Gemäß dem Rawlsʼschen Differenzprinzip sind soziale und ökonomische Unterschiede gerecht, wenn sie an – im Sinne der Chancengleichheit – allgemein zugängliche Positionen und Ämter gebunden sind und gerade den benachteiligten Mitgliedern der Gesellschaft langfristig nützen.64 Wenn über eine Zusatzversorgung höherwertige privat finanzierte medizinische Innovationen ins Gesundheitssystem eingebracht werden, ohne dass die Allgemeinheit über Pflichtbeiträge dafür aufkommt, können die weniger begünstigten Mitglieder einer Gesellschaft im Zeitverlauf
57 Wohlgemuth et al. 2009: 4; Jachertz/Rieser 2007: 23; Strech et al. 2009: 1261. 58 Herrmann/Kliesch 2011: 259. 59 In einer Studie von Strech et al. 2009 gaben 82% der Ärzte an, der zunehmende Kostendruck wirke sich negativ auf ihre Arbeitszufriedenheit aus. Zudem gaben 78% der befragten Mediziner an, die Situation gefährde die Arzt-Patienten-Beziehung. In Tiefeninterviews gaben Ärzte u.a. Gewissens- und Rollenkonflikte, emotionale Belastungen und willkürliche Entscheidungen als Folge des zunehmenden Kostendrucks an (Marckmann/in der Schmitten 2011: 306). 60 Kliemt 2002: 167. 61 Nothelle-Wildfeuer 2002: 200; Henke/Göpffarth 1998: 144; Kliemt 2002. 62 Mack 2001: 30. 63 Kersting 2008b: 30. 64 Rawls 1997: 12.
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durchaus von dem daraus resultierenden Wissensaufbau profitieren.65 Der definierte Leistungsumfang der Grundversicherung muss aber unter medizinischen Gesichtspunkten ausreichend sein, um Krankheiten zu lindern oder zu heilen.66 Zur Veranschaulichung, wie explizite Rationalisierungsentscheidungen in der Praxis umgesetzt werden können, hat der interdisziplinäre Forschungsverbund »Allokation« das Instrument der »Kostensensiblen Leitlinien« (KSLL) erarbeitet. Auf Basis der wissenschaftlichen Evidenz zu Kosten und Nutzen ausgewählter Versorgungsleistungen werden Patientensubgruppen identifiziert, bei denen der zu erwartende medizinische Nutzen am größten ist. Diese werden bei der Verteilung des knappen Guts präferiert. Patientensubgruppen, bei denen eine teure Versorgungsleistung nur einen geringen zusätzlichen Nutzengewinn erwarten lässt, wird eine kostengünstigere Alternative empfohlen, da ein vergleichsweise geringes »Nutzenopfer« erbracht wird. Die dadurch eingesparten Ressourcen kommen anderen bedürftigeren Patienten zugute.67 Priorisierung Definition der Priorisierung Priorisierung bedeutet, dass die knappen finanziellen Ressourcen der GKV entsprechend einer niedergeschriebenen oder gedachten Rangliste, die aufgrund von Vorrangigkeitserwägungen erstellt wurde, verteilt werden. Die Priorisierung erfolgt in Deutschland erst, »wenn trotz konsequenter Beachtung des Wirtschaftlichkeitsgebots das medizinisch Notwendige nicht mehr finanzierbar ist und deshalb nicht oder nicht sofort zur Verfügung gestellt werden kann.«68 Eine offene und rechtlich in den Eckpunkten geregelte Priorisierung (und Rationierung) gibt es bei der Transplantation von Organen.69 Hier traute sich der Gesetzgeber bereits, direkter mit der Priorisierung umzugehen, da es von den Patienten nicht als Systemversagen oder sozial ungerecht angesehen wird, wenn nicht genügend
65 Mack 2001: 30. 66 Mack (ebd.) schlägt vor, dass das Leistungsspektrum der Zusatzversicherung ausschließlich Methoden beinhaltet, die »aufwendiger, intensiver, schmerzfreier oder auch nur hochwertiger« sind. Uhlenbruck (1995: 431) erwägt die Einschränkung des Versorgungsspektrums der GKV bei sachfremden und nicht notwendigen Leistungen oder den Ausschluss versicherungsfremder Leistungen als ethisch rechtfertigbare Lösung. 67 Marckmann 2010: 13. 68 Andreas/Junghanns 2010: 312. 69 Näher siehe ebd.: 313.
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Spenderorgane zur Verfügung stehen. Die Priorisierung dient der gerechten Ausgestaltung der Rationierung. Politisch schwieriger ist es, eine Priorisierung im Hinblick auf knappe finanzielle Ressourcen zu regeln, da jede Regelung bereits ein politisches Eingeständnis ist, dass nicht für Alle das medizinisch Mögliche geleistet werden kann.70 Bislang erfolgt die Priorisierung in der ärztlichen Versorgung verdeckt. Nicht nur die Frage, ob priorisiert werden darf, ist umstritten, sondern auch und vor allem, nach welchen Kriterien dies zu geschehen hat. In der Wissenschaft gibt es eine Reihe von Vorschlägen, die vom Alter über die Dringlichkeit, Kosten-Nutzen-Erwägungen und die Frage des Selbstverschuldens bis hin zu Vorschlägen einer Priorisierung im Losverfahren reichen.71 Die Zentrale Ethikkommission der Bundesärztekammer (ZEKO) hat 2007 in einer viel beachteten Stellungnahme eine Kriterienliste mit den drei Merkmalen der medizinischen Bedürftigkeit, des zu erwartenden medizinischen Nutzens sowie der Kosteneffektivität vorgeschlagen.72 Im Rahmen der medizinischen Bedürftigkeit werden von der ZEKO vier Stufen benannt: erstens der »Lebensschutz und Schutz vor schwerem Leid und Schmerzen«, zweitens der »Schutz vor dem Ausfall oder der Beeinträchtigung wesentlicher Organe und Körperfunktionen«, drittens der »Schutz vor weniger schwerwiegenden oder nur vorübergehenden Beeinträchtigungen des Wohlbefindens« und viertens die »Verbesserung und Stärkung der Körperfunktionen«. Ethische Bewertung der Priorisierung Bei der Begründung eines Verfahrens zur Einschränkung solidarisch finanzierter Gesundheitsleistungen präferieren einige Ethiker eine Kombination aus der Strategie der Transzendentalisierung und der Prozeduralisierungsstrategie.73 Im Sinne der Transzendentalisierung muss der Bürger im Krankheitsfall dahingehend geschützt werden, dass seine Selbstständigkeit und Selbstbestimmung möglichst weitgehend gewahrt und wiederhergestellt wird. Die Solidargemeinschaft, ebenso wie der einzelne Arzt, besitzt die Pflicht, den körperlich und/oder
70 Vgl. die Rede von Hoppe 2009: »Manchmal schmerzt die Wahrheit, aber manchmal muss man auch den Mut haben, sie trotzdem auszusprechen. Ich weiß, dass ich mit meinen Ausführungen zur Priorisierung ein Tabu gebrochen habe – und zwar das Tabu, das unbegrenzte Leistungsversprechen der Politik nicht in Frage zu stellen.« 71 Andreas/Junghanns 2010: 313. 72 Zentrale Ethikkommission bei der Bundesärztekammer (ZEKO) 2007. 73 Habermas 1992: 565; Werner 2002: 128 ff.
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geistig Benachteiligten so zu unterstützen, dass zumindest ein individuell erreichbares Mindestmaß an Teilnahme am Leben möglich ist.74 Bei der Prozeduralisierungsstrategie wird primär auf ein wertneutrales, gerechtes Verfahren abgezielt, das eine faire Verteilung der Gesundheitsleistungen erlaubt.75 Dieser Gedanke wird in dem Stufenmodell von Marckmann aufgegriffen. Darin wird zwischen formalen Kriterien zur Sicherstellung eines fairen Allokationsverfahrens und materialen Verteilungskriterien, die zentrale inhaltliche ethische Maßstäbe zur gerechten Allokation festlegen, unterschieden. Zu den formalen Kriterien zählen Transparenz, Konsistenz, Legitimität, Begründung, Evidenzbasierung, Partizipationsmöglichkeit, Minimierung von Interessenkonflikten, Widerspruchsmöglichkeit und Regulierung.76 Auf Ebene der materialen Verteilungskriterien nennt Marckmann die Kriterien der medizinischen Bedürftigkeit (gemessen an der Dringlichkeit der Behandlung und der Schwere der Krankheit), des zu erwartenden medizinischen Nutzens und des Kosten-Nutzen-Verhältnisses.77 Oduncu greift diese Kriterien auf und bringt sie in eine Rangfolge: Das von der ZEKO vorgeschlagene Kriterium der medizinischen Bedürftigkeit ist demnach das vorrangig zu berücksichtigende Entscheidungskriterium.78 Inhaltlich geht es um die Bestimmung des Schweregrads der Krankheit, des davon ausgehenden Gefährdungspotentials und der Dringlichkeit der medizinischen Maßnahme.79 Die übergeordnete Bedeutung dieses Kriteriums leitet sich aus den Prinzipien der Menschenwürde und des Lebensschutzes sowie aus dem Gleichheitsgrundsatz ab.80 Die nachfolgende Ebene der Entscheidungsfindung sollte sich – wie Oduncu vorschlägt − mit dem nachgewiesenen Nutzen und der Zweckmäßigkeit der Behandlungsmethode beschäftigen. Nur der Nutzennachweis einer medizinischen
74 Der wichtigste Vertreter ist Norman Daniels, der Rawls Modell politischer Gerechtigkeit in Bezug auf gesundheitspolitische Fragen interpretiert. Weitere Vertreter dieser Theorie sind Christopher Boorse, Lennart Nordenfelts und Otfried Seewald (Werner 2002: 133 f.). 75 Ebd.: 135. 76 Marckmann/in der Schmitten 2011: 311; Marckmann 2010: 12 f.; siehe auch Daniels/ Sabin 2002; Emanuel 2000; Marckmann 2008. 77 Marckmann 2010: 13. Bei der Definition der materialen Verteilungskriterien bezieht sich Marckmann auf solche, die sich bereits in anderen Ländern in einem politischen Prozess der Prioritätensetzung etablieren konnten. 78 Fuchs 2010: 439. 79 Oduncu 2012: 363; Marckmann 2010: 13. 80 Oduncu 2012: 363.
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Maßnahme nach Evidenzbasierter Medizin EbM81 (in der Regel mittels Hinzuziehung von RCTs) rechtfertigt ihre Durchführung auf Kosten der Allgemeinheit. Maßnahmen mit keiner bzw. nur marginaler Wirksamkeit verschärfen unnötig das Finanzierungsproblem und sind daher ethisch nicht ausreichend begründbar.82 Auf der nächsten Ebene wird auf die Kosten-Nutzen-Effektivität abgestellt. Bei Vorrang der Kriterien der medizinischen Bedürftigkeit und der Zweckmäßigkeit sind im Vergleich kosteneffektivere Maßnahmen vorzuziehen, da diese unter der Voraussetzung begrenzter Ressourcen den gesamtgesellschaftlich erreichbaren gesundheitlichen Nutzen maximieren.83 Rationalisierung Definition der Rationalisierung Die Reaktion auf Knappheit mit dem Mittel der Rationalisierung stellt die Kosten-Nutzen-Erwägungen im Sinne einer Effizienzsteigerung in den Mittelpunkt. Der Einsatz der Ressourcen soll verbessert werden, so dass weniger Mittel zu einer gleich guten oder sogar besseren Gesundheitsversorgung führen. Da die Rationalisierung ihrer Idee nach zunächst auf Effektivität ausgerichtet ist, geht sie Rationierungen und Priorisierungen vor. Dennoch kann auch eine Rationalisierung bedeuten, dass in einem bestimmten Punkte rationiert oder priorisiert wird, um insgesamt ein höheres Gesundheitsniveau zu erreichen. Ethische Bewertung der Rationalisierung Wie Rationalisierungsmaßnahmen ethisch zu bewerten sind, hängt davon ab, ob sie mit einer Leistungskürzung verbunden werden oder lediglich einen besseren Einsatz der Ressourcen bei gleicher Versorgungsleistung bedeuten. Wenn basierend auf dem Prinzip des Wohltuns und des Nichtschadens bewiesenermaßen ineffektive Leistungen unterlassen werden, ist dies von allseitigem Nutzen. Gemäß dem deutschen Sachverständigenrat zur Begutachtung
81 »Evidenzbasierte Medizin (EbM = beweisgestützte Medizin) ist der gewissenhafte, ausdrückliche und vernünftige Gebrauch der gegenwärtig besten externen, wissenschaftlichen Evidenz für Entscheidungen in der medizinischen Versorgung individueller Patienten.« (Deutsches Netzwerk Evidenzbasierte Medizin e.V. 2011) 82 Vgl. Buyx et al. 2009: 93 f. und insbes. 95 ff., die die marginale Wirksamkeit ›kostenblind‹ definieren. 83 Fuchs 2010: 439; Oduncu 2012: 363.
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der Entwicklung im Gesundheitswesen84 kann eine Eliminierung der bestehenden Über- bzw. Fehlversorgung im deutschen Gesundheitssystem finanzielle Mittel in nicht unerheblichem Umfang freisetzen.85 Die Vermeidung unnötig teurer Maßnahmen bei einer Verfügbarkeit alternativer, kostengünstigerer aber qualitativ gleichwertiger Versorgungsleistungen ist eine weitere ethisch gebotene Rationalisierungsstrategie.86 Eine unproblematische Rationalisierung kann auch darin liegen, dass der Patientenwille stärker berücksichtigt wird. Unter dem Begriff der Verteilungsgerechtigkeit würde dann nicht mehr die Gleichheit unter prinzipiell allen Berechtigten verstanden werden (»jedem das Gleiche«), sondern das Prinzip »jedem das Seine«.87 Eine Multicenter Studie von Schneidemann et al. konnte zeigen, dass eine Berücksichtigung des Patientenwillens vor allem in der letzten Lebensphase zu einer Elimination teurer, aber unerwünschter Maßnahmen führen könnte.88 Allerdings gilt es zu bedenken, dass hier schnell unter dem Deckmantel der »Patientenautonomie« auch ungewünschte Therapievorenthaltungen geschehen können – je nach Art der Aufklärung über eine Maßnahme schätzen Patienten den persönlichen Nutzen unterschiedlich ein.
84 Ehemals Sachverständigenrat für die konzertierte Aktion im Gesundheitswesen. Seinen jetzigen Namen erhielt der Sachverständigenrat 2004 nach der Abschaffung der Konzertierten Aktion im Gesundheitswesen durch das Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung (2003). 85 Gutachten 2000/2001 des Sachverständigenrates für die Konzentrierte Aktion im Gesundheitswesen (Deutscher Bundestag 2001: 125 ff.); siehe hierzu auch Marckmann et al. 2014. Im deutschen Gesundheitssystem sieht Kalvelage folgende (ethisch unproblematische) Einsparmöglichkeiten: Regulierung der Facharztinanspruchnahme, Veränderung der Anreizwirkung zur Mengenausweitung in der Gebührenordnung, Kontrolle des Einsatzes von Großtechnik, Etablierung einer Zweitmeinung bei chirurgischen Eingriffen zur Vermeidung nichtindizierter Eingriffe, Steuerung der pharmazeutischen Produktion und Kontrolle der Zulassung von teuren Me-too-Präparaten (Kalvelage 2014: 196). 86 Dass gerade diese Überlegung in der Praxis Relevanz hat, zeigt eine Studie von Strech et al. So stimmen 98% der befragten Ärzte intensivmedizinischer und kardiologischer Abteilungen der Aussage zu, dass sie auf kostengünstigere, aber ebenso effektive Maßnahmen umsteigen (Strech/Marckmann 2010). 87 Nothelle-Wildfeuer 2002: 200. 88 Marckmann/in der Schmitten 2011: 309. Aufgrund eines potenziellen Interessenskonflikts empfiehlt es sich aber eine solche Berücksichtigung des Patientenwillens eng durch die Ethikkommission begleiten zu lassen.
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Ethisch problematischer sind Rationalisierungsüberlegungen auf Basis interpersoneller Kosten-Nutzen-Abwägungen, da in diesem Fall sozialethische Aspekte im Vergleich zu der individualethischen Sichtweise bedeutender sind.89 In diesem Fall verfolgt eine Rationalisierung nämlich das Ziel der Nutzenmaximierung einer Gemeinschaft im Sinne der medizinischen Effizienz.90 Der Utilitarismus dient oftmals als ethische Begründung dieser Effizienzbestrebungen.91 Empirische Studienergebnisse zeigen, dass die erforschten persönlichen gesundheitsbezogenen Präferenzen nicht immer mit Rationalisierungsentscheidungen übereinstimmen. So konnten Ubel et al. nachweisen, dass die Befragten nicht vorrangig das Ziel einer gesundheitlichen Gesamtnutzenmaximierung anstreben.92 Bei einer utilitaristischen Nutzenmaximierung sind die Lebensrettung sowie die Behandlung schwerkranker Patienten signifikant geringer bedeutend als dies nach der Meinung der Bevölkerung angenommen wird.93 Eine rein utilitaristische Rationalisierungsstrategie stellt also keine adäquate Rekonstruktion unserer Moralvorstellungen dar.94 Sie führt unter Umständen zu kontraintuitiven und ethisch bedenklichen Ergebnissen. Daher besteht die Gefahr einer Benachteiligung von Einzelnen, vor allem von Minderheiten. Ebenso können persönliche Freiheitsrechte beschnitten werden. Sofern Kosten-Nutzen-Erwägungen zur Lösung des Kostendrucks unabdingbar sind, sollte im Sinne der Prinzipien der Verteilungsgerechtigkeit und der Lebensinwertdifferenz95 nicht nur das
89 Rothgang/Staber 2009: 496. 90 Kersting 2008b: 26 f.; Nothelle-Wildfeuer 2002:197; siehe auch Höffe 1992: 10 f.; Rawls 2012: 44. 91 Bedeutende Vertreter des Utilitarismus sind Jeremy Bentham, John Stuart Mill und Henry Sidgewick (Marckmann/Siebert 2002: 172). 92 Ubel et al. 1996, zitiert in Marckman/Siebert 2002: 185. 93 Dieses Ergebnis war stabil, unabhängig von der verwendeten Methode (Rating Scale-, Standard Gamble- oder Time Trade-off-Verfahren) (Marckmann/Siebert 2002: 185). 94 Dies verdeutlicht das Oregon Experiment. Siehe hierzu eine kurze Einführung in Güntert 2008: 288–290. 95 Das Prinzip der Lebenswertindifferenz untersagt eine gesamtgesellschaftliche Maximierung der Interessen auf Kosten des individuellen Lebens- und Gesundheitsinteresses. Folglich ist es ethisch problematisch, das Leben der Staatsbürger in Abhängigkeit von der Funktionsfähigkeit des Organismus, des Alters, der gesellschaftlichen Rolle oder ähnlichem, also nach Kriterien, die allein auf nicht-medizinischen Überlegungen basieren, als weniger oder mehr lebenswert zu kategorisieren und davon das Ausmaß der Unterstützung im Krankheitsfall abzuleiten. Die Verrechnung von einzelnen
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Wohl der Allgemeinheit, sondern auch das individuelle Wohlbefinden Berücksichtigung finden.96
F AZIT Konkurrenz existiert im Gesundheitssystem auf verschiedenen Ebenen und in verschiedenen Formen. Von besonderer Bedeutung ist die Konkurrenz zwischen den Systemen der solidarischen (GKV) und der marktwirtschaftlichen (PKV) Versicherung in Form der politischen Konkurrenz um eine gerechte Organisation der Gesundheitsversorgung und Auslotung des Maßes staatlicher Verantwortung in diesem Bereich sowie in Form der ökonomischen Konkurrenz um Beitragszahler der nicht-pflichtversicherten Personen. Die politische Grundentscheidung, den Zugang zu medizinischen Leistungen allen Menschen unabhängig von ihrer Finanzkraft zu gewährleisten, führt darüber hinaus im Rahmen der GKV zu einer Konkurrenz um Gesundheitsdienstleistungen, jedenfalls unter der Prämisse, dass nicht unbegrenzt Steuermittel in die GKV einfließen sollen (was zu Lasten anderer, auch teils gesundheitsrelevanter Politikbereiche ginge!) und dass die Beiträge nicht unerschöpflich erhöht werden sollen. Die Knappheitsproblematik lässt sich dabei nur zu einem Bruchteil durch Rationalisierung entschärfen, indem vorhandene Mittel effektiver eingesetzt werden. Zentral steht hier in Frage, wie die Verteilungsproblematik über einen effektiven Mitteleinsatz hinaus ohne marktwirtschaftliche Konkurrenzmechanismen gelöst werden kann. Will man der Knappheitsproblematik nicht durch eine ethisch nicht zu vertretene harte Rationierung begegnen, bei der niemandem erlaubt wäre, jede technisch mögliche Gesundheitsdienstleistung zu erlangen, so führt dies unweigerlich zu einer weichen Rationierung unter Maßgabe von Kriterien auszuhandelnder Priorisierung, bei der ein Bereich verbleibt, der nicht solidarisch finanziert wird, sondern privat durch Zusatzversicherung oder Zuzahlungen bezahlt werden muss. Eine völlige Ausschaltung marktwirtschaftlicher Preisgestaltung auch in diesen Randbereichen würde die Knappheitsproblematik am Ende nicht lösen, sondern eher
gegenüber konkurrierenden Personen oder Gruppen ist daher ethisch höchst problematisch (Oduncu 2012: 362). Zudem würde ein solches Verfahren den Prinzipien der Menschenwürde, dem Gleichheitsgebot und der Solidarität widersprechen. Deshalb hat John Rawls, der prominenteste Kritiker des Prinzips der Nutzenmaximierung, die Theorie der Gerechtigkeit als Gegenentwurf dargestellt (siehe Rawls 2012: 336 ff.). 96 Rothgang/Staber 2009: 496. Siehe auch Brantl 2011.
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erweitern und die Stabilität des Systems der solidarischen Versicherung insgesamt in Frage stellen. Zentral ist es dabei, Rationierungen offenzulegen und die Kriterien hierfür im Rahmen einer demokratischen Grundsätzen genügenden Priorisierung unter Beachtung von gesellschaftlich auszuhandelnden Gerechtigkeitsvorstellungen zu finden. So gilt es, im Gesundheitsbereich einen politischökonomischen Sonderweg zu finden, um die auf verschiedenen Ebenen bestehenden Konkurrenzen jeweils angemessen und sozial verträglich zu gestalten.
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Die Inszenierung von Alternativen Zur Konkurrenz bio- und alternativmedizinischer Heilverfahren im Gesundheitswesen T HORSTEN M OOS
Der Gesundheitsmarkt ist hoch reguliert und gleichwohl stark umkämpft. Insbesondere das Nebeneinander bio- und alternativmedizinischer Behandlungsansätze stellt ein Konkurrenzverhältnis dar, das auf ganz unterschiedlichen Bühnen ausgetragen wird: in Arztpraxen, wo reichhaltige Kataloge von Individuellen Gesundheitsleistungen1 vor Patienten ausgebreitet werden; auf dem großen Markt der Selbstmedikation zwischen Apotheke, Empfehlungen der besten Freundin und Anzeigen in Fernsehzeitschriften; in Zusatzangeboten von Krankenkassen, mit denen diese um solvente Kunden werben; und im breiten Angebot von Heilpraktikern. Offeriert werden traditionelle Medizinsysteme oft außereuropäischer Provenienz, wie das Ayurveda, Heilverfahren, die im 19. Jahrhundert entwickelt wurden, etwa die Homöopathie, sowie Ansätze jüngeren Ursprungs.2 Sie alle werden je auf ihre Weise als andere Medizin inszeniert. Nun gehört die Inszenierung von Differenzen konstitutiv zu Waren- und Dienstleistungsmärkten hinzu. Konkurrierende Angebote müssen von semantischen Unterscheidungen begleitet sein, um als solche überhaupt wahr- und in Anspruch genommen zu werden. Insbesondere auf dem Medizinmarkt sind diese gerne als ausschließliche Alternativen inszeniert worden. Man bezeichnete sich wechselseitig als Quacksalber oder Kurpfuscher und stellte den behauptetermaßen unwirksamen Angeboten der Gegenseite die eigenen, wirksamen Therapeutika
1
Vgl. Raspe 2007.
2
Vgl. Nissen/Manderson 2013: 2.
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gegenüber. Der heutige westliche Medizinmarkt ist durch eine spezifische Semantik der Konkurrenz gekennzeichnet, die mit der Opposition von konventioneller und unkonventioneller Medizin, Schul- und Alternativmedizin, evidenzbasierter und Ganzheitsmedizin oder ähnlichen Gegensatzpaaren operiert. Diese Opposition hat sich erst im Zuge der Professionalisierung der Ärzteschaft im 19. Jahrhundert herausgebildet; sie diente geradezu als ein Medium dieser Professionalisierung. Auch unter den veränderten Bedingungen des Gesundheitswesens zu Beginn des 21. Jahrhunderts dient dieser Gegensatz noch als Basisstrukturierung der medizinischen Angebotspalette. Dabei muss keine ausschließliche Alternative behauptet werden. Noch die Rede von einer »Komplementärmedizin«, die die »Schulmedizin« zur »integrativen Medizin« ergänzt, beruht auf der Differenz zwischen dem Üblichen und dem Anderen in der Medizin.3 Im Folgenden wird die Inszenierung dieser Konkurrenz exemplarisch untersucht. Gefragt ist dabei nach der Funktion, die sie – über die schlichte Marktstrukturierung hinaus – für die gesellschaftliche Kommunikation über Krankheit und Gesundheit sowie über Chancen, Grenzen und Aporien der Medizin hat. Die Konkurrenz von Schul- und Alternativmedizin wird dabei als von beiden Seiten erbrachte inszenatorische Leistung verstanden. Es geht also nicht um die Verschiedenheiten der sozialen Träger oder therapeutischen Praktiken, sondern um die kulturellen Repräsentationen dieser Konkurrenz, um Symbolisierungsstrukturen, semantische Oppositionen und ikonische Kontrastierungen. Diese bestehen, auch wenn ein überwiegender Anteil der deutschen Bevölkerung sowohl schulals auch alternativmedizinische Angebote wahrnimmt, und ein großer Teil der praktizierenden Ärztinnen und Ärzte alternativ- und komplementärmedizinische Verfahren als zumeist privat zu finanzierende Zusatzleistungen anbietet.4 Nicht um praktische Hybridisierungen des Gesundheitsmarktes geht es also im Folgenden, sondern um bedeutungsvolle Differenzen, die diese erst möglich machen. In dieser kulturwissenschaftlichen Perspektive muss auch die für die Nachfrager von Gesundheitsdienstleistungen und -produkten zentrale Frage nach der Wirksamkeit ausgeblendet bleiben. Denn die Inszenierung der Konkurrenz bezieht sich auf die Situation vor der möglichen Behandlung, in der offen ist, ob das angebotene Therapeutikum helfen wird oder nicht. Nicht die Wirksamkeit, sondern die Wirksamkeitsbehauptung gehört zur Inszenierung von Konkurrenz. Die Beschreibung der genannten Opposition wird dadurch erschwert, dass keine neutrale Terminologie zur Verfügung steht. Alle bereits genannten und
3
Vgl. Dobos et al. 2006: 3; Witt 2010.
4
Vgl. Stange 2010; Böcken et al. 2012; Eschenbruch 2013; Lüddeckens 2013.
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viele weitere Begriffe für die Entgegensetzung von üblicher und nicht üblicher Medizin strukturieren diese Konkurrenz aus dem Blickwinkel einer der beiden Seiten. Begriffe wie »All(ö)opathie« oder »Schulmedizin« entstammen dem polemischen Wortschatz der Homöopathie, während Begriffe wie »wissenschaftliche« oder »evidenzbasierte« Medizin Selbstbeschreibungen darstellen, die ihrerseits polemische Abgrenzungen beinhalten.5 In der medizinethnologischen Literatur hat sich hier der Begriff der »Biomedizin« durchgesetzt.6 Auch dieser Begriff ist nicht unproblematisch; er mag in affirmativer Hinsicht dahingehend missverstanden werden, als seien alle »schulmedizinischen« Verfahren durch humanbiologische Einsichten fundiert, während er umgekehrt auch polemische Konnotationen einer illegitimen Verobjektivierung des kranken Menschen durch biologische Kategorien mit sich führt. Als Notbehelf soll er dennoch auch hier verwendet werden, wobei darauf hinzuweisen ist, dass damit nicht essentialistisch ein einheitliches Wesen der so bezeichneten Medizin behauptet sein soll, sondern nur eine Seite einer verschieblichen und umkämpften semantischen Differenz bezeichnet ist. Für die Gegenseite wird im Folgenden im Anschluss an Robert Jütte der Begriff der Alternativmedizin gebraucht: »Als ›alternativ‹ werden im folgenden Heilweisen bezeichnet, die in einer bestimmten medikalen Kultur, die selbst wiederum einem historischen Wandlungsprozess unterworfen ist, zu einem bestimmten Zeitpunkt oder über einen längeren Zeitraum von der herrschenden medizinischen Richtung mehr oder weniger stark abgelehnt werden, weil sie die Therapieformen der herrschenden medizinischen Richtung teilweise oder völlig in Frage stellen bzw. auf eine unmittelbare und grundlegende Änderung des medizinischen Systems abzielen.«7
Die Infragestellung der Biomedizin als herrschender medizinischer Richtung ist dabei im weitesten Sinne zu verstehen. Sie reicht von fundamentaler Ablehnung bis zu grundsätzlicher Anerkennung unter dem Vorbehalt, sie sei nicht ausreichend und bedürfe der Ergänzung. Die Ausgestaltung dieser Opposition gilt es jeweils zu untersuchen. Die Grundthese des vorliegenden Beitrags ist, dass die Inszenierung der Konkurrenz von Bio- und Alternativmedizin Grundprobleme des Krankseins und des Therapierens unter den Bedingungen eines modernen, hoch ausdifferenzierten
5
Vgl. Bock 1993.
6
Vgl. Greifeld 2013: 16; Eschenbruch 2013: 131.
7
Jütte 1996: 13.
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Medizin- bzw. Gesundheitssystems reflektiert.8 Alternativmedizinen präsentieren sich selbst als Antworten auf hiermit verbundene Schwierigkeiten und Aporien, sodass ihre Beiträge zur Inszenierung der Konkurrenz als Reflexionen der Probleme moderner Medizin gelesen werden können. Dabei zeigt die Struktur ihrer Antworten, dass sie nicht nur selbst unter den Bedingungen moderner Medizin stehen und diesen nicht entrinnen können, sondern die damit verbundenen Schwierigkeiten und Aporien sogar an manchen Stellen signifikant verschärfen. Mithin sind Alternativmedizinen nicht nur auf der Ebene hybrider Praktiken, sondern auch auf der Ebene der deutenden Reflexion von Kranksein und Heilen integraler Bestandteil moderner Medizinkultur. Die Inszenierung der Konkurrenz von Bio- und Alternativmedizin wird im Folgenden in drei Zugängen exemplarisch untersucht. Zunächst kommt die Homöopathie als Antipode biomedizinischer Professionalisierung im 19. Jahrhundert in den Blick (1.). Auf den gegenwärtigen Gesundheitsmarkt bezogen ist die Analyse verschiedener alternativmedizinischer Populärzeitschriften (2.), bevor mit der Terlusollogie ein vergleichsweise unbekanntes Heilverfahren jüngeren Datums in den Fokus rückt (3.) Dabei wird jeweils analysiert, auf welchen Feldern Konkurrenz inszeniert wird, in welchen Formen dies geschieht, welche Struktur von Konkurrenz im Blick ist und wie diese Konkurrenz handhabbar gemacht wird. Als heuristische Gliederung wird unterschieden zwischen Aspekten, in denen es um das präsentierte Wissen selbst geht, also um Reflexionen zu seiner Struktur, seinem Status und den Gründen seiner Geltung, und solchen Aspekten, die den Inhalt des Wissens betreffen, also um Aussagen über die medizinische Wirklichkeit, wie sie sich aus der Sicht der jeweiligen Medizinform zeigt. Erstere Aspekte sollen als epistemologisch, zweitere als ontologisch bezeichnet werden, ohne dass damit hochstufige philosophische Theorien medizinischen Wissens und medizinischer Wirklichkeit unterstellt wären.9 Hierbei zeigen sich auffällige Gemeinsamkeiten wie auch Unterschiede in den Inszenierungen von Konkurrenz, die entsprechend der genannten Grundthese als medizinimmanente Reflexionen auf Grenzen und Aporien moderner Medizin gelesen werden können (4.).
8
Zu den Termini »Medizinsystem« und »Gesundheitssystem« vgl. Bauch 1996.
9
Zum Begriff des Wissens in diesem Zusammenhang vgl. Moos et al. 2011.
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1. H OMÖOPATHIE , ODER : D IE E RFINDUNG DER S CHULMEDIZIN Um das Jahr 1800 tummelte sich auf dem Gesundheitsmarkt eine Fülle unterschiedlicher Anbieter.10 Neben den akademisch ausgebildeten Ärzten waren dies die weiteren Angehörigen der sogenannten zünftigen Medizin – Wundärzte, Hebammen und Apotheker mit handwerklicher Ausbildung –, dazu eine Vielzahl von Heilkundigen unterschiedlichster Provenienz. Ein Gegensatz von orthodoxer und alternativer Medizin bestand nicht, da zum einen die akademischen Ärzte unter sich in zahlreiche »Sekten« gespalten waren und zum anderen die Grenze zwischen Arzt und »Quacksalber« als prekär erschien. Es ist der Arzt und medizinische Publizist Samuel Hahnemann, der diesen pluralen Gesundheitsmarkt auf eine einfache, binäre Alternative bringt. Seine eigenen medizinischen Einsichten, das Simile-Prinzip der Heilung von Ähnlichem durch Ähnliches und die Methode der hohen Verdünnung von Arzneimitteln, präsentiert er in dem 1810 erschienenen »Organon der rationellen Heilkunde« der Öffentlichkeit in systematisierter Form.11 Diese Lehre, für die er den Begriff »Homöopathie« prägt, setzt er zunächst der »alten«, »bisherigen« oder »gemeinen« Medizin gegenüber. Wenig später bezeichnet er zunächst einen Teil dieser herkömmlichen Heilkunde, sodann ihr Ganzes als »Allöopathie«. Damit ist eine semantische Opposition geschaffen, die nicht nur bis heute fortwirkt – zumeist in Form des 1876 geprägten Begriffspaares Homöopathie versus »Schulmedizin«.12 Auch die inhaltliche bzw. konnotative Füllung dieser Opposition bildet ein für die Folgezeit prägendes Schema. Es wird in den publizistischen Auseinandersetzungen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gefestigt und durch die im Wesentlichen gleichzeitig vollzogene Professionalisierung der akademischen Ärzteschaft auf der einen Seite und der Homöopathen auf der anderen Seite institutionell untersetzt. Die Homöopathie ist also das erste »Andere« einer sich selbst als Einheit begreifenden und als solche professionalisierenden »Schulmedizin«. Im Folgenden wird die Füllung dieser Opposition auf dem Höhepunkt der publizistischen Auseinandersetzung um die Homöopathie von beiden Seiten aus beleuchtet: anhand der Schrift Samuel Hahnemanns »Die Allöopathie. Ein Wort der Warnung an Kranke jeder Art« von 1831 und anhand der zwei Jahre später erschienenen Gegenschrift
10 Zum Folgenden vgl. Jütte 1996: 19 ff., 179 ff. 11 Hahnemann 1810. 12 Vgl. Jütte 1996: 34.
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des Hamburger Arztes Friedrich Alexander Simon »Geist der Homöopathie. Ein Wort der Warnung an Kranke jeder Art«. Lebendige Erfahrung wider totes Bücherwissen Hahnemanns Polemik gegen die »alte[..] Arzneischule« (313) findet ihre Zusammenfassung und ihren Höhepunkt im Schlussabschnitt: »So lange die milde, naturgemäße, sichre Heilkunst, die Homöopathik, noch nicht gefunden war, mußte jeder rechtschaffne und billige Menschenfreund das unübersehlige Heer Aerzte alter Schule bedauern, daß sie in der dunkeln Mitternacht ihrer schrecklich gelehrten Unwissenheit umhertappten, und daß ihr Eifer in Behandlung natürlicher Krankheiten statt dieselben zu bessern, oder gar zur gewünschten Heilung zu bringen, dieselben verdarb und unheilbar machte. Denn wer unter ihnen sollte den Wirwarr so vieler (angeblich grundgelehrter) grundloser, hypothetischer Lehren und naturwidriger, therapeutischer Satzungen und Verfahrungsarten mit, in ihrer eigenthümlichen Wirkung ungekannten Arzneien in sinnlosen Gemischen und vielen großen Gaben auseinander wirren? – wer unter ihnen das Falsche vom Wahren trennen und ihr Curverfahren auf eine naturgemäße, dauerhaft hülfreiche Handlungsweise hinleiten? Sie waren damals eben so sehr als diejenigen Kranken, welchen sie durch ihre alte, ungebesserte Methode schadeten, und wie noch jetzt, unendlich schaden, höchlich zu bedauern. Aber seitdem das Licht der allein naturgemäßen, in unverdorbnen, natürlichen Krankheiten Heil und Gesundheit durch specifische, gehörig bereitete, wenige, milde Arzneien bald und sicher herstellenden Lehre erschienen ist und durch Europa in wundernswürdigen Thaten leuchtet, sind diejenigen, welche dieselbe nicht achteten,| sie verschmäheten und verfolgten, nicht mehr zu bedauern; sie verdienen in ihrer Versessenheit auf ihr altes, Menschenbrüder hinrichtendes Curverfahren, nur Verachtung, Abscheu, und die unpartheiische Geschichte wird ihre Namen brandmarken ob ihrer Verschmähung der gewissen Hülfe, die sie ihren bedauernswürdigen Kranken hätten bringen können, wenn sie ihre Augen und Ohren nicht freventlich gegen die heilbringende Wahrheit verschlossen hätten.« (31 f.)
Zunächst springt hier der religiöse Ton ins Auge: In die finstere Nacht der von den Ärzten alter Schule beherrschten Welt ist nun das Licht der Homöopathie gekommen, und der endzeitliche Kampf beider Mächte läuft auf das bevorstehende Gericht – nicht Gottes, aber der Geschichte – hinaus, das die Gerechten von den Frevlern scheiden und Letztere verwerfen wird. Nun ist solche endzeit-
13 Die Seitenzahlen im Text verweisen hier auf Hahnemann 1831.
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liche Rhetorik für das 19. Jahrhundert nicht ungewöhnlich. Hier steht sie im Dienst der bereits angesprochenen dichotomischen Scheidung wahrer und falscher Medizin. Diese Scheidung wird in doppelter Hinsicht plausibel gemacht: auf epistemologischer Ebene durch die Gegenüberstellung zweier unterschiedlicher medizinischer Wissenstypen, und auf ontologischer Ebene durch die Kontrastierung zweier medizinischer Ontologien. Hahnemann zufolge unterscheidet sich das homöopathische Wissen fundamental von dem der »alten Arzneischule« (3). Es hat zunächst einen gänzlich anderen Geltungsgrund: An die Stelle des auf Bücherwissen, Lehrtradition und darin auf bloßen Satzungen beruhenden alten Wissens tritt das neue homöopathische Wissen, das sich auf »unzählige, sorgfältige Beobachtungen, Erfahrungen und Versuche« (18 f.) gründet. Es stehen sich doktrinäre und empirische Medizin gegenüber. Der Grund für die Erfahrungsresistenz der alten Medizin liegt nach Hahnemann in der Konvention, mehrere Arzneien in gemischter Rezeptur zu verabreichen. Sie erlaube in den seltensten Fällen einen Rückschluss auf die Wirkung der einzelnen Arzneisubstanz und mache so Erfahrung unmöglich. Mit diesen differierenden Geltungsgründen des Wissens verbinden sich auch unterschiedliche Geltungsstatus. Das doktrinäre Wissen der alten Medizin hat mangels Erfahrungsgrundlage den Status der puren Behauptung, während das homöopathische den der »Wahrheit« (20, 31) beanspruchen kann. Die Homöopathie steht für Hahnemann mithin nicht mehr unter dem Geltungsvorbehalt künftiger Erfahrungen. Die genaue Naturbeobachtung und die experimentelle Grundlage, die die Geltung homöopathischen Wissens verbürgt, ist als abgeschlossen gedacht. Homöopathisches Wissen ist einheitlich und auch durch zukünftige Erkenntnisse nicht mehr widerlegbar; es unterscheidet sich mithin auch durch seine Struktur vom Wissen der alten Medizin. Letzteres ist ein uneinheitliches »Wirrwarr« (31) unterschiedlichster Lehren, zersplittert und »unverständlich[..]« (29). Homöopathisches Wissen ist hingegen einfach, geschlossen, nachvollziehbar und damit unmittelbar handhabbar. Mit dem Motiv der Einfachheit ist der Überschritt zur medizinischen Ontologie gegeben. Hahnemann rekonstruiert das altmedizinische Therapieren als den Versuch, in die unüberschaubaren Kausalzusammenhänge des (letztlich mechanisch gedachten, wiewohl der Begriff hier nicht fällt) Körpers an geeigneter Stelle einzugreifen, um der Ursache der Krankheit eine mächtigere Ursache der Heilung entgegenzustellen. Es ist ein Kampf um kausale Dominanz; und so verwendet Hahnemann in seiner Beschreibung der alten Medizin immer wieder militärische Metaphern. Das »Heer« (31) der Ärzte tut Gewalt, bestürmt die Kranken, versucht, »die starke Krankheit mit physischer Gewalt zu bezwingen« (11). Dem stellt er seine eigene, auf vitalistischen Motiven gründende medizinische Onto-
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logie entgegen.14 Es ist der Organismus des Kranken, der sich durch seine Lebenskraft selbst heilt. Die Natur ist also nicht nur Gegenstand empirischer Erforschung und Austragungsort des Kampfes zwischen Krankheit und Therapie, sondern auch heilendes Agens. Eine Medizin, die mit Gewalt auf den Kranken einstürmt, beschädigt diese Selbstheilungsfähigkeit und führt, über lange Zeit angewandt, zu gänzlicher Unheilbarkeit. Hahnemann hat hier vor allem die heroische Medizin seiner Zeit mit ihrem therapeutischen Dreigestirn von Aderlass, Erbrechen und Abführen im Blick. Sie schwächen den Organismus, während es doch die alleinige Aufgabe der Medizin ist, die Störungen der Lebenskraft zu beseitigen und so deren selbstheilende Wirkung zu ermöglichen. Diesen Störungen gilt es, durch eine milde, genau auf die jeweilige individuelle Störung passende Medikation zu begegnen. An die Stelle des kriegerischen Arztes tritt der Arzt als Menschenfreund, der Störungen aufhebt und Krankheiten »wie durch Wunder in Gesundheit verwandeln« (30 f.) kann. Hinsichtlich der zeitlichen Struktur seiner medizinischen Ontologie von Krankheit und Heilung operiert Hahnemann mit unterschiedlichen Entgegensetzungen. Einerseits kontrastiert er die schnelle homöopathische Heilung mit den langjährigen und erfolglosen Versuchen der alten Medizin (24). Andererseits rühmt er die Geduld der Homöopathen, die wissen, dass bereits eine einzelne Arzneimittelgabe »mehrere Tage, ja Wochen zur Vollführung ihrer Wirkung im menschlichen Körper braucht« (18), und setzt dem das Bild vielgefragter herkömmlicher Ärzte entgegen, die »täglich […] sechzig, achtzig und mehr Kranken anderthalb minütliche Besuche« (17) abstatten. Hier stehen die Motive des geduldigen Wartens auf Naturprozesse auf der einen Seite und der instantanen Wunderheilung unausgeglichen nebeneinander. Diese medizinische Ontologie ist mit zwei weiteren Motiven verbunden, die auch für andere Alternativmedizinen prägend bleiben: Zum einen steht das Reine, Unvermischte der homöopathischen Arzneien gegen die gemischten Rezepturen altmedizinischer Ärzte. Zum anderen ist es das Motiv der Individualität. Es gilt, das jeweils Eigentümliche wahrzunehmen. Hahnemann spricht von der Individualität der jeweiligen Krankheit (11) und einzelnen Arzneisubstanz (13).15 Demgegenüber steht die Allöopathie, die alle Krankheiten begrifflich klassifiziert und dann »über einen und denselben, im Buche für den Namen nun einmal angenommenen Curleisten« (10) schlägt.
14 Zum Vitalismus am Beginn des 19. Jahrhunderts vgl. Wiesing 1995. 15 Ob mit Individualität der Krankheit an den einzelnen Krankheitsfall oder an einen Subtypus (»Art«, 10) von Krankheit gedacht ist, ist an dieser Stelle nicht klar.
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Ebenso dichotomisch wie die Wissenstypen und Ontologien der Medizin stellt Hahnemann auch die Träger medizinischen Wissens dar. Die alte Medizin wird trotz ihrer Erfolglosigkeit stabilisiert durch einen Komplex aus behördlicher Stützung, universitärer Etablierung, entsprechenden Prüfungsordnungen sowie den einflussreichen, in der Leitung von Kliniken und als Leibärzte von Fürsten und Beamten tätigen Ärzten. Diesem geschlossenen Komplex sieht Hahnemann die institutionell ungestützten Homöopathen gegenüber (16 f.). Der Macht der Gegenseite haben sie lediglich das Licht ihrer Wahrheit und den Erfolg ihrer an Wunder grenzenden Heilungen entgegenzusetzen. In diesem Gegenüber ist für die Ärzte, vor allem aber für die Kranken, nun die Zeit der Entscheidung gekommen. Licht oder Finsternis – ein Drittes gibt es nicht. Die Alternative von Homöopathie und Allöopathie, wie sie Hahnemann inszeniert, ist in ihrer kontradiktorischen Struktur nur im Modus der Entscheidung handhabbar. Ärztliche Tugenden gegen Betrug und Verblendung Die Gegenschrift Friedrich Alexander Simons reflektiert unterschiedliche Strategien der nichthomöopathischen Ärzteschaft, sich zur Homöopathie ins Verhältnis zu setzen. Ohne Namen zu nennen bezieht Simon sich auf »gutherzig tolerante Kunstgenossen« (6216), die die Homöopathie nicht aufgrund ihrer theoretischen Aussagen bzw. medizinischen Annahmen beurteilen (und also verwerfen), sondern allein die Wirksamkeit ihrer Behandlungen in Betracht ziehen. Er selbst schließt sich dieser Strategie jedoch nicht an, sondern arbeitet wie vor ihm Hahnemann mit Figuren dichotomischer Scheidung. Gegenüber der »sogenannten homöopathischen Heilmethode« (IX) positioniert er die »gewöhnliche[..] Heilkunst« (IX). Er verweigert sich Hahnemanns Ansinnen, den Laien, an die sich auch seine Schrift richtet, zwei gleichrangige Heilsysteme zur Entscheidung vorzulegen. Er inszeniert die Dichotomie vielmehr auf berufsethischer Ebene, wo der »ehrliche Arzt« dem »Afterarzt« (XI) gegenübertritt. Diese Abgrenzung wird im Verlauf der Streitschrift in immer neuen Farben tugendethisch gemalt: Da steht Ehrlichkeit gegen Betrug aus »Ruhmsucht und Eigennutz« (16), vernünftige Wissenschaft gegen »Wahnbilder[..] der Einbildungskraft« (39), eitle Fabulierkunst gegen Gewissenhaftigkeit (52) und Urteilsfähigkeit gegen Verblendung (58). Entsprechend befasst sich Simon immer wieder mit der Person Hahnemanns, die für ihn den Prototyp der dargestellten Untugenden darstellt.
16 Die Seitenzahlen im Text verweisen hier auf Simon 1833.
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Die Funktion der tugendethischen Scheidung ist offenkundig: Simon kann seinen Lesern kein medizinisches System, keine einheitliche medizinische Ontologie vorlegen, die sich lebensweltlich plausibilisieren ließe. Zwar stellt er immer wieder medizinische Wirkweisen von Arzneimitteln dar (etwa 30 ff.), argumentiert dabei aber so voraussetzungsreich, dass er nicht hoffen kann, die mit der Schrift angezielten »Layen« (IX f., 31) auch wirklich zu gewinnen. Das Wissen, das er anzubieten hat, ist komplex und uneinheitlich, sodass nicht die Plausibilisierung dieses Wissens selbst, sondern das Vertrauen (14, 20, 59) in die professionellen Träger des Wissens entscheidend wird. Medizinisches Wissen ist Expertenwissen, das eine Prüfung durch den Laien nicht mehr erlaubt. Dem gesunden Menschenverstand, an den gleichwohl immer wieder appelliert wird, bleibt allenfalls die Prüfung grundlegender theoretischer Kohärenzen (43). Simon schreibt der gewöhnlichen Heilkunde einen ganz ähnlichen Geltungsgrund zu wie Hahnemann der Homöopathie, aber einen gänzlich anderen Geltungsstatus. Er sieht das medizinische Wissen auf Versuch und Erfahrung, gewissenhafte und »treue[..] Naturbeobachtung« (40; vgl. 22, 31 f.) sowie auf Sammlung und Systematisierung gegründet. Das daraus entstehende Wissen entbehrt aber gerade der von Hahnemann für die Homöopathie reklamierten unbedingten Geltung. »Es gibt in der Medizin so wenig zuverlässige Erfahrung« (39). Das medizinische Wissen ist nicht wie der »Stein der Weisen« (15, 17) einmal gefunden, sondern befindet sich in steter Fortentwicklung, Wandlung und Revision. Dies gilt für Wirksamkeitsannahmen, insbesondere aber für die medizinische Theoriebildung, also die »Erforschung der Gründe« (23), die für die Wirkung bestimmter Verfahren angegeben werden können. Zur Tugendhaftigkeit des Heilkundigen gehört es folglich, die Fülle der Misserfolge und Gegenerfahrungen anzuerkennen. Auch die Homöopathie wandelt sich, aber sie versucht nach Darstellung Simons, ihre Wandlungen zu verschleiern. Sie biete kein kohärentes System, sondern nur luftige Generalisierungen einiger weniger, unkontrollierter Erfahrungen und widersprüchliche, immer wieder veränderte Theorien, begleitet von stereotypen Erfolgsmeldungen. Auf der Seite der medizinischen Ontologie entspricht dieser Verbesserbarkeit der Theorie die Verbesserbarkeit der Natur. Simon erkennt an, dass es so etwas wie »Selbsthülfe« der Natur gebe (48, 67), betont aber, dass diese darüber hinaus aber immer wieder der »Kunsthülfe« (79) bedürfe. Diese Kunsthilfe wird im Modus kausaler Einwirkung auf den Körper praktiziert, und zwar durch Medikamente, die gerade den der Krankheit entgegengesetzten Zustand hervorrufen (contraria contrariis, 24). Dass solche Therapien oftmals nur symptombezogene (»pallierende«, 25) Wirkung haben, gesteht Simon durchaus zu. Es kann nicht alles geheilt, sondern eben oft nur gelindert werden. Typisierend gesprochen ist
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Simons medizinische Ontologie mechanistisch, insofern sie es mit einzelnen Kausalketten in einer perfektiblen Natur zu tun hat, während Hahnemanns Konzept der Selbstheilung des Organismus vitalistisch grundiert ist.17 Hinzu kommt bei Simon ein anderer Theoriestatus medizinischen Wissens: Es geht ihm um die »praktisch […] durchführbare Theorie« (47), also um eine therapeutisch operationalisierbare Zusammenfassung des jeweiligen, lückenhaften, verbesserbaren medizinischen Wissens einer Zeit und nicht um ein fertig geschlossenes System. In diesem Zusammenhang greift Simon auch die religiösen Töne bei Hahnemann auf und wendet sie religionskritisch: Hahnemann trete als »Pseudomessias medicus«18 (79) auf, verwechsle sich mit Gott (53), verkündige die ewige Wahrheit (55) und sammle »Jünger« (44, 61) um sich. In dieser quasireligiösen Heilslehre stehe Hahnemann paradigmatisch für den »Mysticismus« (80), bei dem es sich um eine allgemeine Zeiterscheinung handle. Schließlich unternimmt es Simon, Gründe für den Erfolg der Homöopathie darzulegen. Diese sieht er zum einen auf therapeutischer Ebene in dem Umstand, dass in der Tat die Natur manche Krankheit beseitigt und die Nichttherapie oft erfolgreicher als die Therapie ist. Damit weist die Existenz der Homöopathie indirekt auf Fehler insbesondere der heroischen Medizin hin. Die greife viel zu stark ein und berücksichtigte oft auch nicht die Individualität des Patienten; damit gibt Simon an zwei entscheidenden Punkten Hahnemann recht, ohne ihn hier zu nennen (70). Andere Gründe sieht er auf der Ebene der Modalitäten der Inanspruchnahme ärztlicher Leistungen: Eine unwirksame homöopathische Maßnahme würden Patienten niemals skandalisieren, sondern verschweigen, da sie mit einem Erfolg nicht rechneten und sich zudem schämten, zum Homöopathen gegangen zu sein. Daher würden nur Erfolge berichtet. Ebenso spielten der Homöopathie der Reiz des Neuen, die Ungeduld der Patienten und die Neigung zum Arztwechsel sowie die strategische Beschränkung der Homöopathen auf leichte Erkrankungen in die Hände (64 ff.). In der publizistischen Auseinandersetzung um die Homöopathie bildet sich also ein dichotomisches Schema von Alternativmedizin versus akademischer Medizin heraus, das das therapeutische Feld strukturiert. Es reflektiert zum einen die gewandelte Struktur der Öffentlichkeit auf dem Gesundheitsmarkt und den dadurch hervorgerufenen Kampf um die Laien, die Vernaturwissenschaftlichung der Medizin und die dadurch gegebene immer stärkere Abkopplung medizinischen
17 Vgl. Wiesing 1995: 44 ff. 18 So der Titel einer früheren Schrift Simons.
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Wissens von der Lebenswelt der Kranken wie auch die fortschreitende Professionalisierung der Ärzteschaft (und die Gegenprofessionalisierung der Homöopathie). In der Formulierung und Plausibilisierung dieser Dichotomie spielen auf beiden Seiten religiöse Motive eine Rolle. Insgesamt ergibt sich ein Schema, in das dann auch andere »alternative« Heilweisen eintreten.
2. ALTERNATIVMEDIZINISCHE G ESUNDHEITS ZEITSCHRIFTEN , ODER : D IE F ORTSETZUNG DES K AMPFES UM DIE L AIEN Ein Literaturtyp, in dem die Konkurrenz von Alternativ- und Biomedizin gegenwärtig publikumswirksam inszeniert wird, sind alternativmedizinische Gesundheitszeitschriften. Im Folgenden werden vier von ihnen auf ihren Beitrag zur Inszenierung dieser Konkurrenz untersucht: »Praxis: natur«, »natur & heilen«, »Ayurveda« und »Naturarzt«.19 Berufsständische Abgrenzung: Heilpraktiker versus Ärzte Die Zeitschrift »Praxis: natur« erscheint viermal jährlich in einer Auflage von 20.000 Exemplaren. Sie entsteht »in Kooperation« mit einem HeilpraktikerVerband und »ist das erste Magazin aus der Heilpraktiker-Praxis […] [Sie] richtet sich an die moderne, aufgeschlossene, großstädtische Familie«.20 Im Heft kommen mit einer Ausnahme keine Ärzte, sondern nur Heilpraktiker zu Wort. Die Abgrenzung gegenüber der Schulmedizin ist stark. Das Editorial setzt den Grundton: »Zehntausende sterben an Medikamenten – diese Meldung ging Ende letzten Jahres durch die Medien. Bis zu 58.000 Patienten pro Jahr […] überleben den vom Arzt verschriebenen Chemiecocktail nicht.« Gerade bei Zivilisationskrankheiten, so der Herausgeber weiter, »bieten die Heilpraktiker viele naturheilkundliche Alternativen zur Chemie, bei denen man vor allem bei einem sicher sein kann: an ihnen stirbt man nicht« (321). Die dichotomische Gegenüber-
19 Es handelt sich um eine Zufallsstichprobe derjenigen Zeitschriften des Sektors, die an einem beliebig gewählten Tag des Jahres 2013 in einer mittelgroßen Bahnhofsbuchhandlung erhältlich waren. Selbstverständlich wird mit diesem Vorgehen keinerlei Repräsentativität beansprucht. 20 http://www.greenmediaverlag.de/praxisnatur/ (aufgerufen am 28.09.2014). 21 Die Seitenzahlen im Text verweisen hier auf »Praxis: natur« 1/2013.
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stellung, die die Zuständigkeiten für das Thema Gesundheit ordnet, wird hier berufsständisch organisiert. Auf der einen Seite stehen »die« bzw. häufig auch »der« Heilpraktiker (17, 20, 21), auf der anderen Seite der Arzt bzw. »die Schulmedizin« (20). Im Einzelnen werden sehr unterschiedliche Therapieverfahren wie Phytotherapie, Heilfasten, Kolon-Hydro-Therapie, Akupunktur, Homöopathie, Eigenbluttherapie und viele mehr genannt (21), die jedoch nicht als untereinander konkurrierend, sondern als einheitliches, vom »erfahrene[n] Heilpraktiker« (20, 21) verwaltetes Therapieangebot erscheinen. Der Geltungsgrund der »modernen Heilkunde« (16) besteht dabei in einer Konvergenz von uraltem und neuestem medizinischen Wissen. Was »schon zu Frühzeiten der Menschheit« (16), in der »Volksmedizin« (13) oder in alten Hochkulturen (13, 16, 28) erkannt wurde, wird von ›der‹ modernen Wissenschaft bestätigt. Entsprechend verbinden sich in den Beiträgen Semantiken des Altehrwürdig-Traditionellen – wobei immer wieder auch religiöse Vorstellungen positiv aufgegriffen werden (16, 28) – mit szientistischen Semantiken aus dem Bereich der Humanbiologie und der Medizin (etwa 18, 31). Häufig wird auf wissenschaftliche Studien verwiesen. Eine dritte, gleichsam zwischen beiden angesiedelte Wissensquelle sind die Einsichten großer historischer Heilkundler, die in einer Serie eingespielt werden. Im Heft 1/2013 geht es um den »Lehmpastor« Emanuel Felke (24 f.), der seinerseits tradiertes Wissen und eigene Erfahrungen zu Therapiekonzepten verband. Was Heilpraktiker anbieten, ist also in vierfachem Sinn Erfahrungsmedizin: Uralte Heilerfahrungen der Menschheit werden von großen Persönlichkeiten der Heilkunde aufgenommen und zu Therapieansätzen verarbeitet, die durch die moderne Wissenschaft bestätigt werden und durch den erfahrenen Heilpraktiker individuell angemessen am Patienten appliziert werden (21). Dieser vierfache Vertrauensgrund führt zu einem Geltungsstatus heilkundlichen Wissens, der das Sprechen in indikativischen Sätzen erlaubt, die in der Regel nicht durch Potentialitätskategorien angekränkelt sind. So wirkt die Kolon-Hydro-Therapie folgendermaßen: »Sie entfernt auf wirksame Weise angesammelten, stagnierten Stuhl und Fäulnisstoffe von den Wänden des Darmes. Dieser natürliche Säuberungsprozess bewirkt, dass die Symptome, die entweder direkt oder indirekt mit dem Nichtfunktionieren des Darmes zusammenhängen, beseitigt werden.« (17) Dieser hohe, selten durch Einschränkungen abgemilderte Geltungsstatus wird noch dadurch betont, dass wiederholt auf Grenzen der Schulmedizin hingewiesen wird (3, 20). Die berufsständische Dichotomie von Heilpraktikern und Ärzten repliziert sich auf der Ebene der medizinischen Ontologie durch die dichotomische Scheidung von guten und schlechten Substanzen und Praktiken. Das eine macht krank, das andere gesund. Eine Hintergrundplausibilität für diese Dichotomie stellt die
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semantische Opposition von »natürlich« und »künstlich«, gestützt von zivilisationskritischen Motiven, zur Verfügung. Dies beginnt bei Ernährungsempfehlungen: »Fastfood macht krank«, »Cola führt zu Depressionen« (6), während Fisch, Walnussöl, Ingwer, Beeren und Misteln Risiken mindern und Beschwerden lindern. Ähnlich gilt es auf therapeutischer Ebene, etwa bei der KolonHydro-Therapie, »der natürlichen Lebensgemeinschaft von Bakterien und Mensch« wieder aufzuhelfen, die durch »sterilisierte und denaturierte Lebensmittel, fehlerhafter Ernährung und Lebensweise, Umweltbelastung, Gifte und Missbrauch von Medikamenten« (17) zerstört ist. Neben der Darmspülung mit Wasser helfen hier Salate, Gewürze und Heiltees. Der bereits aus der Homöopathie bekannte Topos des sanften Heilens, das an die Stelle der nebenwirkungsreichen Schulmedizin tritt, und vor allem der Motivkomplex des Reinigens, Entschlackens und Säuberns (»weil Rohkost den Körper total säubert«, 14) unterstützen diesen zivilisationskritischen Grundton. Verglichen mit den Ausführungen Hahnemanns fällt auf, dass kein Widerstand gegen Konzepte kausaler Einwirkungen auf den Körper mehr vorliegt. Im Gegenteil: Das Schema von Krankheit wie Gesundheit verursachenden Substanzen, Verfahren und Lebensweisen wird über den Umgang mit Krankheit hinaus prinzipiell auf die gesamte Lebensführung hin ausgedehnt. Ernährung, Freizeitverhalten, Beziehungskonflikte, Stress in der Arbeitswelt und vieles mehr sind unmittelbar gesundheitsrelevant. Diese Umstellung vom Krankheits- auf den Gesundheitsbegriff ist auch für die Biomedizin beschrieben worden.22 Sie führt zu einer Entgrenzung medizinischer Semantiken und ärztlicher Zuständigkeiten, die sich auch in den folgenden Zeitschriften zeigt. Universale Einpassung in die Natur Eine subtilere Abgrenzungsstrategie verfolgt die Zeitschrift »natur & heilen«. Sie wendet sich an »die stetig wachsende Zahl von Menschen, die der Schulmedizin mit gesunder Skepsis gegenübersteht und in einer ganzheitlichen, naturgemäßen Medizin eine sinnvolle Ergänzung oder Alternative sieht«23. Nach eigenen Angaben ist die Leserschaft zu mehr als 90 Prozent weiblich, mittleren Alters, gebildet und kaufkräftig. Das Magazin ist in Format, Grafik, Papier und Druck hochwertiger aufgemacht als die Konkurrenz; der Themenkanon umfasst
22 Vgl. Bauch 1996. 23 http://www.naturundheilen.de/fileadmin/mediadaten/N_H_Mediakompass_2014.pdf (aufgerufen am 28.09.2014).
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neben den Bereichen Alternativmedizin, Gesundheitsvorsorge und Ernährung auch die zielgruppenspezifischen Themen »biologisches Gärtnern, Ökologie und Naturschutz« sowie »sinnvolle Lebensgestaltung und Spiritualität«.24 Mit der Einbeziehung des Themas Ökologie verbindet sich eine aufschlussreiche Modifikation im Bereich der medizinischen Ontologie. Die Natur erscheint einerseits weiterhin als heile Gegenwelt zur entfremdeten Zivilisation. Sie liefert Heilmittel, spricht darüber hinaus direkt zum Menschen und führt ihn, anders als Bücher und bedrückende Zeitungsnachrichten, zu sich selbst (7, 11, 6625). Die »Naturvölker« lebten noch in die Natur eingebettet; wir sind heute von ihr entfremdet und leben ein durch Stress, Druck und Angst gekennzeichnetes Leben, das schließlich krank macht. Die Folge sind »Erschöpfung, Burnout, Depression, Herzinfarkt, Rückenleiden, Krebs« (66). Es gilt, diese »Trennung von der Natur aufzuheben« (66). Die Wiedergewinnung der Natur ist dabei nicht nur ein Mittel zum Zweck der Heilung oder Vorbeugung von Krankheiten; sie ist auch, in stark naturreligiöser Konnotation, ein eigenes Ziel der im Heft versammelten Empfehlungen. So heißt es etwa: »Wilde Kräuter bereichern nicht nur die gesunde Küche, sondern bringen uns auch der oft verloren geglaubten Natur wieder näher.« (24) Andererseits erscheint die Natur nicht nur als Reservoir des Heilsamen und als Gegenüber spiritueller Selbstfindung, sondern auch selbst als gefährdet (58): Sie kann erkranken und ist der Heilung bedürftig. Vermittelt über den Ökologiediskurs wird der Anwendungsbereich des Medizinischen mithin noch weiter ausgedehnt: über den Menschen und seine Lebensführung hinaus auch auf die nichtmenschliche Biosphäre, letztlich auf die ganze »Erde« (23). Dies macht ein ausführlicher Beitrag über Homöopathie bei Pflanzen deutlich. Sie »ticken ähnlich wie Menschen« (13), können ebenso seelisch erkranken und entwickeln Symptome, die sich im Stil der klassischen Homöopathie verstehen lassen. Die Alternativmedizin heilt also nicht nur den Menschen, sondern auch die Natur. Auch in epistemologischer Hinsicht ist der genannte Beitrag einschlägig. Er verteidigt die Geltung homöopathischen Wissens – explizit für Pflanzen, implizit für Menschen – gegen den biomedizinischen Einwand, es handle sich dabei nur um einen »Placebo-Effekt« (21). Pflanzen lassen sich nicht von ihren eigenen Wirksamkeitserwartungen beeinflussen. Bei ihnen »weiß man einfach, dass das Mittel gewirkt hat« (21).
24 Ebd. 25 Die Seitenzahlen im Text verweisen hier auf »natur & heilen. Die Monatszeitschrift für gesundes Leben« 04/2013.
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Die Inszenierung von Konkurrenz wird in »natur & heilen« kaum je mit den Mitteln expliziter Abgrenzung geleistet. Dies ist auch nicht notwendig: Der das Heft tragende Grundgedanke einer ebenso lebensstilbezogenen, medizinischen wie ökologisch-spirituellen Einpassung in die Natur, begleitet von einem zwischen Landhaus-Wohnen und Meditationsbildern angesiedelten Bildprogramm, macht es überdeutlich, dass eine naturwissenschaftlich orientierte und technisch aufgerüstete Medizin hier schon ästhetisch keinen Platz hat. Fremde Ergänzung des Eigenen Anders als die bisher behandelten Magazine ist »Ayurveda. Journal für ein gesünderes Leben« einer einzigen alternativmedizinischen Richtung verpflichtet. Offenbar wendet sich das in einer Auflage von 30.000 Stück erscheinende Magazin einerseits an Endverbraucher ayurvedischer Angebote,26 andererseits aber auch an therapeutisch Tätige, da es Verbandsnachrichten (627) und einen Kongressbericht (44 f.) enthält. Thematisch ist es im für alle Magazine charakteristischen Grenzbereich von Medizin, Lifestyle, Wellness und Ernährung angesiedelt. Ökologie ist kein Thema; topische Verweise auf Natur und das Natürliche sind vorhanden (etwa 15; 45 f.), aber vergleichsweise schwach ausgeprägt. Das Magazin verfolgt nahezu durchgängig eine klar komplementärmedizinische Strategie. Immer wieder geht es um die »Anerkennung [des Ayurveda] als eine komplementäre Medizin« (10; vgl. 6, 11, 45) über den reinen Wellnessbereich hinaus. Etwa im Bereich der Krebstherapie, einem Schwerpunkt des Heftes, werden »unterstützende Behandlungen« (24) aus dem Ayurveda propagiert. Ayurvedisches Wissen wird inszeniert als altes, überliefertes Wissen, das in modernen wissenschaftlichen Studien zunehmend Bestätigung findet (6, 21, 48). Zu diesem zeitlichen Aspekt kommt jedoch noch ein räumlicher: Ayurveda wird inszeniert als Wissen ›von woanders her‹, das gleichwohl auch ›bei uns‹ Geltung beanspruchen kann. So ist das Bildprogramm mit vielen Holz- und Grüntönen an den gattungsüblichen Natur- und Landhausstil angelehnt, dabei aber subtil orientalisierend (1, 15, 18, 22, 31 und öfter). Als Behandler und Experten werden gerne Menschen augenscheinlich indischer Herkunft gezeigt (39, 43, 44). Die gleichzeitige Inszenierung von Fremdheit und Aneignung findet sich auch auf sprachlicher Ebene. Die Texte sind mit Sanskrit-Termini gespickt; diese werden angeeignet durch verschiedene sprachliche Mittel wie etwa Synonymisierung
26 Vgl. die Fülle von Anzeigen und Advertorials im Heft. 27 Die Seitenzahlen im Text verweisen hier auf »Ayurveda«, Heft 36, Ausgabe 1/2013.
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(»unser Stoffwechsel (Agni)«, 8; die »nährenden« (guru) und erwärmenden (ushna) Nahrungsmittel«, 9) oder semantische Mischung (»baut der Körper Kapha auf, um […] das Immunsystem zu stärken«, 8). Einige Termini werden durch beständige Wiederholung vertraut gemacht, insbesondere die drei »Doshas« (18), die den Kern der medizinischen Ontologie des Ayurveda bilden. Die Aneignung des Fremden wird zudem im Heft an verschiedenen Stellen selbst problematisiert. So werden die Ayurveda-Rezeption in verschiedenen westlichen Ländern dargelegt (10 f.) und die Möglichkeit europäischer Modelle des Ayurveda diskutiert, die bestimmte, hier nicht »verkehrsfähig[e]« Behandlungsmethoden aussparen und vor allem wissenschaftliche Wirksamkeitsnachweise erbringen müssen: »nur wenn sich der Ayurveda in wissenschaftliche[n] Studien nach westlichen Kriterien als wirksam behaupten kann, ist eine langfristige Integration in unsere Medizinkultur möglich« (45). Mehrfach wird auf die Nähe des Ayurveda zur westlichen Medizin hingewiesen (21, 45). Das mit dem Ayurveda verbundene Importbewusstsein, das seinen Reiz und seine Verheißung, ein Mehrwert über die westliche Medizin hinaus zu sein, ausmacht, erfordert gleichzeitig, sich dem Aneignungsproblem zu stellen.28 Ähnliches zeigt sich beim Geltungsstatus ayurvedischen Wissens. Einerseits fehlt nicht der Hinweis auf die Grenzen der Schulmedizin (19), und wie üblich werden Heilungsprozesse zumeist ohne Einschränkung im Indikativ dargestellt. Anekdotische Evidenz wird vielfach herangezogen – sogar zum Beleg präventivmedizinischer Wirksamkeit: So wird berichtet von einer Frau, die nach ayurvedischer Behandlung keinen Darmkrebs bekam (21 f.). Andererseits wird regelmäßig betont, die Beiträge stellten »kein Heilversprechen« dar (23, 27, 54). Zusammen mit den Hinweisen auf weitere notwendige Wirksamkeitsbelege entsteht so das Bild einer nicht völlig unanfechtbaren Heilmethode. Sogar auf innerayurvedische Antagonismen wird hingewiesen (11). Die medizinische Ontologie wird als einfach präsentiert. Drei Lebensenergien oder Grundprinzipien, die Doshas, sind im gesunden Körper im Gleichgewicht. Ungleichgewichte zwischen ihnen führen zu Krankheiten. Jeder Mensch hat eine individuelle Konstitution, einen eigenen »Dosha-Typ« (12) und ist insofern individuell zu behandeln. Diese einfache Ontologie dient nicht nur dem Verständnis somatischer Krankheiten und ihrer Therapien, sondern auch der Plausibilisierung einer eigenen Psychologie (26, 52 ff.) und eines spirituellen Bereiches, in dem es insbesondere um Sinnfragen geht (26 f., 3, 15, 20, 23). Die ayurvedische Medizin mit ihren verschiedenen Methoden, die drei Doshas zu re-
28 Zur Plausibilisierung des Ayurveda vgl. auch Koch 2006.
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gulieren, wird dabei im Bildprogramm, das im Wesentlichen Nahrungsmittel und Massagesituationen zeigt, als mild gekennzeichnet – ein Topos, der sich im Text allerdings eher selten findet (z.B. 13). Dies dürfte darauf zurückzuführen sein, dass Ayurveda auch invasive (21) und an die heroische Medizin erinnernde (23) Verfahren umfasst, »Disziplin« (10) erfordert und insofern keineswegs den Erwartungen an ein ›mildes‹ Heilverfahren entspricht. Insgesamt erscheint Ayurveda als fremdes, ganzheitlich-spirituell ausgerichtetes Medizinsystem, das jedoch in vielem der westlichen Medizin ähnlich ist und insofern als deren angemessene Ergänzung herangezogen werden sollte. Ein großer Schwerpunkt liegt auf der Selbstwirksamkeit der Patientinnen und Patienten, die sich durch Ernährung und Lebensführung ihrer jeweiligen DoshaKonstitution entsprechend verhalten und so zu ihrer Gesundung oder Gesunderhaltung beitragen können. Am Paradigma der Krebserkrankung wird Ayurveda als Komplementärmedizin im Dienste der Wiedergewinnung von Handlungsfähigkeit präsentiert: »Nach den schulmedizinischen Behandlungen kehrt dann meist etwas Ruhe ein und die Frage, was kann ich noch, stellt sich.« (26) Alternativmedizinische Binnenkonkurrenzen Anders als die bisher besprochenen Zeitschriften hat das Journal »Naturarzt. Natürlich heilen – gesund leben« eine bis ins 19. Jahrhundert zurückreichende Geschichte, auf die auch zu Werbezwecken verwiesen wird. 1862 unter dem Titel »Wasserfreund« gegründet, dann 1863 in »Der Naturarzt. Correspondenzblatt für Freunde naturgemäßer Heilmethoden« umbenannt, war das Blatt publizistisches Organ einer medizinkritischen Laienbewegung, die die Heilung von Krankheiten ohne Medizin, allein durch »natürliche Wirkfaktoren wie Wasser, Licht, Luft, Sonne und Ernährung«29 propagierte. Heute hat sich, entsprechend der extensionalen Ausdehnung des Begriffs Naturheilkunde, das Spektrum der im Heft besprochenen bzw. angebotenen Therapieverfahren erweitert; es umfasst unter anderem Schüßler-Salze, Homöopathie, Akupunktur, traditionelle chinesische Medizin, Eigenbluttherapie, Entsäuerung und Tiertherapien. Ähnlich wie in »Praxis: natur« stehen die verschiedenen heilkundlichen Systeme mit ihren Ontologien teilweise unvermittelt nebeneinander (15–1730). Anders als dort kommen aber auch innere Brüche im alternativmedizinischen Spektrum vereinzelt zur Sprache (11, 45). Ein Fallbericht schildert die Geschich-
29 Jütte 1996: 29; zum »Naturarzt« vgl. auch ebd.: 31 f. 30 Die Seitenzahlen im Text verweisen hier auf »Naturarzt«, Jg. 131 (2013), Heft 4.
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te eines Mädchens mit Neurodermitis, das verschiedene alternativmedizinische Behandlungen mit geringem oder ohne Erfolg durchlaufen hat, bevor man schließlich den Schlüssel fand. Auch mögliche Nebenwirkungen alternativmedizinischer Behandlungen werden thematisiert (7, 26). Diese differenzierende Sichtweise korrespondiert den Mediadaten des Magazins, das 26 Prozent im Gesundheitswesen Tätige unter seinen Lesern weiß (Auflage: 70.000).31 Während »Praxis: natur« die Abgrenzung gegenüber der »Schulmedizin« vor allem berufsständisch – Heilpraktiker versus Ärzte – inszeniert, schmückt sich der »Naturarzt« umfänglich mit ärztlicher Kompetenz (2, 4 f.). Die Abgrenzung gegenüber der Biomedizin geschieht vor allem auf pharmazeutischer Ebene: »Der Naturarzt tritt ein für den weitgehenden Verzicht auf Pharma-Präparate mit ihren nicht selten gefährlichen Nebenwirkungen.« (2) Entsprechend wird der Gegensatz von Natur- und Kulturwelt vielfach mithilfe der Chiffre »Chemie« (9, 19, 50) organisiert. Weitere Abgrenzungen gegenüber der Biomedizin liegen auf dem Feld der Unabhängigkeit »von Einflüssen und Interessen anderer, wie etwa PharmaIndustrie oder Lobbyisten« (2), vor allem aber in der Verständlichkeit und Lebensnähe des Dargestellten: »Anders als nach manchem Arztgespräch werden dem Leser Zusammenhänge verständlich« (2). Dies steht allerdings in Spannung zu teilweise sehr technischen Beschreibungen naturheilkundlicher Verfahren (10 ff.; 21 f.). Mindestens dem Anspruch nach ist naturheilkundliches Wissen handhabbar und öffnet insbesondere dann noch therapeutische Möglichkeiten, »wenn schon ›alles Mögliche‹ probiert wurde« (14); »irgendwas muss man doch dagegen tun können« (31). Die Situation chronisch kranker, lange Therapiegeschichten durchlaufender Patienten steht mehrfach im Blick des Blattes (14 ff., 26, 31 f.). Psychologisch (54, 35 ff.) und nicht zuletzt auch ökologisch orientierte Beiträge (3, 18, 41) unterstützen den Anspruch einer ganzheitlichen Betrachtung, die nicht nur über das rein Somatische, sondern auch über den Menschen selbst hinausgreift. Insgesamt zeigt sich beim Durchgang durch alternativmedizinische Publikumszeitschriften, dass diese in mehrfacher Hinsicht in das durch die publizistischen Auseinandersetzungen des 19. Jahrhunderts geprägte Schema von Alternativversus Biomedizin eintreten. So wird zumeist ein hoher, insbesondere durch Erfahrung verbürgter Geltungsstatus des alternativmedizinischen Wissens reklamiert, wobei über das Hahnemann’sche Pathos des Neuen auch traditionale Be-
31 Vgl. http://www.naturarzt-access.de/ivzs/NAmedia14.pdf (aufgerufen am 01.10.2014).
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gründungen hinzutreten. Angeboten wird schnelle, erfolgreiche Heilung, die nicht nur symptomatisch ist und der Individualität des Patienten Rechnung trägt. Die Passung der angebotenen Behandlung zum Patienten wie zur Krankheit ist nicht erst ex post durch den Erfolg der Behandlung festzustellen, sondern durch eine vergleichsweise medizinische Ontologie, die Krankheit und Therapie zueinander in Beziehung setzt, von vornherein verbürgt. Insbesondere die Semantik der Natürlichkeit stellt auf ein solches gleichsam apriorisches Passungsverhältnis ab. Stark betont wird dabei die Handlungsfähigkeit von Patienten und Therapeuten: Es kann noch etwas getan werden, auch wenn die »Schulmedizin« schon »ausbehandelt« hat. Doch an bestimmten Stellen unterscheidet sich die Inszenierung der Alternativmedizin von den Schemata des 19. Jahrhunderts. Die gegen die disziplinäre Zersplitterung der Biomedizin gewendete »Ganzheitlichkeit« alternativmedizinischer Ansätze wird nun auf potenziell alle Bereiche menschlicher Lebensführung ausgezogen. Schon die Naturheilkunde des 19. Jahrhunderts kannte eine starke Präventionsorientierung sowie den Fokus auf Ernährung und Bewegung. In den Zeitschriften des Jahres 2013 erscheint die Anwendung von Alternativmedizin als Element eines naturnahen Lebensstils, der oft auch ökologisches Bewusstsein und/oder eine Aufgeschlossenheit für spirituelle Fragen einbezieht. Dabei spielt, anders als in der Frühzeit der Homöopathie, die Divergenz medizinischer Ontologien keine entscheidende Rolle. Sie werden je und je zu Plausibilisierung therapeutischer oder anderer Angebote eingesetzt, können aber durchaus unvermittelt nebeneinanderstehen, ohne dass Ausgleichsversuche unternommen würden. Die Konkurrenz zwischen Alternativ- und Biomedizin wird nicht so sehr weltanschaulich als vor allem ästhetisch, am Ort des Lebensstils, handhabbar gemacht.
3. T ERLUSOLLOGIE , ODER : 32 DIE »V ERPFLICHTUNG ZUM G ESUNDSEIN « Die Terlusollogie basiert auf einer Einteilung aller Menschen in zwei einander polar entgegengesetzte »Atemtypen« und proklamiert eine »typenentsprechende« Medizin und Lebensweise. Sie wird zurückgeführt auf den Geiger Erich Wilk, der 1949 mit dem Buch »Typenlehre. Magnetismus, Charakter und Gesundheit« an die Öffentlichkeit trat. Wilk unterscheidet »einen dynamischen
32 Hagena/Hagena 2006: 91.
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oder auch Bewegungstyp« (933) oder »Mondtyp« (10) und »einen statischen oder auch Ruhetyp« (9) oder »Sonnentyp« (10). Abhängig davon, ob am Tag der Geburt der Einfluss der Sonne oder des Mondes stärker war – hierfür gibt Wilk ein einfaches lineares Rechenschema an –, ist ein Mensch sein Leben lang dem einen oder anderen Typ zugehörig (22). Dies bestimmt körperliche Konstitution, Denken, Charakter, Begabungen und Interessen, Sexualität, sportliche und musikalische Präferenzen wie auch Religiosität. Wer das anerkennt und sich typengerecht verhält, dem sind Gesundheit, Wohlbefinden und ein langes Leben verheißen; wessen Lebensweise, Umwelt oder auch nur Erbanlagen dem eigenen Typus widersprechen, dem drohen Krankheit, Verlust der Leistungsfähigkeit, seelische Instabilität, er wird unfrei oder gar delinquent. Vom Typ hängt es ab, welche Lebensmittel zu- oder abträglich sind; er bestimmt die richtigen Körperhaltungen, Bewegungen und die Art, richtig zu atmen. So ist die Typzuordnung ein unerlässliches Hilfsmittel für alle, die lehrend oder therapeutisch tätig sind. Denn grundsätzlich gilt: Was für den einen aufgrund seines Typs absolut geboten ist, ist für den anderen gerade das Falsche. Hieraus erklären sich auch die nur partiellen Heilerfolge der bisherigen, typenblinden Medizin. Auf diesem Grundgedanken beruht auch die Terlusollogie, die sich – ausweislich ihrer Eigengeschichtsschreibung34 – als direkte Fortentwicklung der »Lehre«35 Erich Wilks präsentiert. Die Kinderärztin Dr. Charlotte Hagena sei um 1960 von einer mit den Einsichten Wilks arbeitenden Ärztin geheilt worden und habe daraufhin in Zusammenarbeit mit ihm die Ernährung und Behandlung von ihr anvertrauten Heimkindern seiner Lehre gemäß gestaltet. Ihre grundsätzlichen Überlegungen sowie eine Fülle von Fallberichten erscheinen 1993 unter dem Titel »Konstitution und Bipolarität. Erfahrungen mit einer neuen Typenlehre«.36 Nach der Einrichtung einer Ausbildung für Terlusollogie schreibt ihr Sohn, der Arzt Christian Hagena, ein weiteres Buch, in dem er die Lehre systematisch darzustellen beansprucht und eine Vielzahl von typenangepassten Körperübungen in Wort und Bild präsentiert.37 Die Inszenierung der Konkurrenz zwischen der neuen Lehre und der alten »Schulmedizin« bleibt in den Büchern von Wilk und
33 Die Seitenzahlen im Text verweisen hier auf Wilk 1949. 34 Vgl. Hagena/Hagena 2006: V, 3; Hagena 2005: V f.; www.hagena.eu/3.html. 35 Hagena/Hagena 2006: 1. 36 Hagena/Hagena 2006. Zuerst erschienen 1993. 37 Hagena 2005. Zuerst erschienen 2000.
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der beiden Hagenas strukturell gleich. Inhaltlich zeigen sich jedoch Verschiebungen, die sich unterhalb der behaupteten Lehrkontinuität vollzogen haben.38 Der spezifische Charakter terlusollogischen Wissens wird als »Naturgesetz« angegeben (W3, H/H55, H1 und öfter39). Damit verbunden ist ein doppelter Geltungsgrund des Wissens: Einerseits verdankt es sich der Erfahrung, der genauen Beobachtung, dem Unternehmen, »der Natur etwas abzulauschen, was sie sonst diskret für sich behält« (W5). Wie bei Hahnemann wird dies gegen Bücherwissen (W4) bzw. bloß Gelerntes (KV) in Stellung gebracht. Diese Erfahrungen sind nun in eigentümlicher Weise mit naturphilosophischer Spekulation verschränkt. Wilk reklamiert für sich ausdrücklich eine »Beweisführung durch Ideen« (W3). Das Gegenüber von Sonne und Mond, Dynamik und Statik verdankt sich »philosophischen Betrachtungen« (W5), appliziert in einem entschieden konstruktiven Zugriff: »Für die Statik wählte ich mutig die Sonne, denn nichts schien mir offensichtlicher, als die Polarität dieser beiden kosmischen Kräfte.« (W6) Diese charismatischen Setzungen konnten gleichwohl »bis ins Kleinste bewiesen werden« (W5).40 Allein die moderne Wissenschaft und mit ihr der ärztliche Stand haben sich noch nicht zur Anerkennung dieses Naturgesetzes durchringen können. So wird stereotyp zur Prüfung des Vorgelegten aufgefordert (W3; H/Hv; H2, 4, 8, 149). Bereits bei Wilk, vor allem aber bei Christian Hagena, wird der Naturgesetzcharakter durch Diagramme, Tabellen, Rechenverfahren und szientistische Semantiken unterstrichen. Diese wandeln sich allerdings; während Wilk, der sich als Magnetopath versteht, Anleihen beim Mesmerismus nimmt,41 so wird dies bei seinen Nachfolgern sukzessive ausgeblendet (H/H2; 4; 21) und durch neurowissenschaftliche Semantiken ersetzt. Nun ist es die Polarität der Hirnhälften, die zur Plausibilisierung der Typendualität herangezogen wird (H/H50 ff.; H5, 30 ff.). Wie von Hahnemann für die Homöopathie wird für das Wissen der neuen Typenlehre der Status absoluter Gewissheit reklamiert (W49, 51; H/H6, 8, 77; H1 f. und öfter). Auch wenn dieses Wissen mehrfach erweitert werden konnte, so ist der jeweils erreichte Stand »bis heute unübertroffen und unverändert«.42
38 Zur Diskussion um die heute vor allem in Musikpädagogik und Logopädie verbreitete Terlusollogie siehe z.B. Pezenburg 2011. 39 Im Folgenden wird Wilk 1949 zitiert als »W«, Hagena/Hagena 2006 als »H/H« sowie Hagena 2005 als »H«. 40 Zu Charismatikern in der Alternativmedizin vgl. Schoene 1980: 231. 41 Zum Mesmerismus vgl. Jütte 1996: 103 ff. 42 www.hagena.eu/3.html.
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Der Umgang mit Ungewissheit wird beispielhaft deutlich am sogenannten »Fragezeichentyp« (H12-17). Wenn der Einfluss von Sonne und Mond zur Zeit der Geburt ähnlich groß ist, kann die Typenzuordnung eventuell durch das Geburtsdatum nicht genau bestimmt werden. Dann ist aus dem Verhalten eines Menschen auf seinen Typ zu schließen. Doch auch in diesem Fall gibt es keine Ambiguität. »Wir wissen aber, dass auch bei diesen Menschen eine Energie die Führung hat. Dieser führenden Energie hat er sich genauso unterzuordnen wie ein Mensch, dessen Atemtyp zweifelsfrei berechnet werden kann.« (H14) Da die ganze Erklärungskraft der Typenlehre darin liegt, alle Kontingenzen menschlicher Verfasstheit durch Einordnung in den einen oder anderen Typ in Notwendigkeit zu überführen und damit auch das relative Recht medizinischer Methoden, psychologischer Theorien etc. zu rekonstruieren, darf es in der Typenzuordnung keine Uneindeutigkeit geben. »Viele Theorien, die bis heute aufgestellt wurden, hatten immer einen gewissen Prozentsatz an Richtigkeit. Die Fehler bestanden nur darin, dass sie extrem die Belange einer einzigen Richtung vertraten, weil ihre Schöpfer nicht von der naturgesetzlichen Zweiheit der Kräfte wussten.« (W17) Vom Naturgesetzbegriff aus erschließt sich auch die Struktur des Wissens: Es ist, wie der häufig singularische Gebrauch des Terminus anzeigt, ein einfaches Wissen (W51, H/H91). Es stiftet Ordnung in einer »verworrenen Welt« (W20). Gleichzeitig wird es durch seine grundlegende Unterscheidungsleistung jedem Menschen in seiner Individualität gerecht (W18; vgl. H/H8, 20, 91; H149 und öfter). Vor allem schließt das Wissen den garstigen Graben zwischen medizinischer Theorie und therapeutischer Praxis.43 Denn das Naturgesetz der Typendualität bestimmt Menschen nicht nur de facto; es fordert auch Unterordnung. »Die Geburtsstunde liefert zunächst das Naturgesetzliche und die daraus folgenden eindeutigen Regeln. Diese gilt es, in der Lebensführung zu berücksichtigen.« (H149) Das ganze Leben steht unter einer objektiven Notwendigkeit, die individuellen Neigungen durchaus entgegenstehen kann, der man sich aber nur um den Preis des Schadens für Leib und Leben entziehen kann. So gilt etwa: »Bei der typenrichtigen Ernährung betrachten wir die Regeln der Ernährung ausschließlich unter dem Aspekt der Gesunderhaltung und nicht nach dem, was wir gerne essen. Die Atmung als Lebensmotor [und damit die Zuordnung zu Atemtypen] ist der Ernährung übergeordnet.« (H26) Die in den Büchern ausgebreiteten Fallgeschichten sind entsprechend nahezu durchweg Berichte von Menschen mit schweren Krankheiten oder in unglücklichen Lebenssituationen, denen Ärzte und andere Experten nicht helfen konnten, die sich dann aber durch strikte Ein-
43 Zu diesem Grundproblem der Medizin siehe Wiesing 1995.
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haltung der terlusollogischen Regeln aus ihrem misslichen Zustand befreit haben. Der gleichsam salutogenetische Imperativ der »Verpflichtung zum Gesundsein« (H/H91) fordert eine auf die gesamte Lebensführung sich erstreckende Observanz. Das leitende Ideal ist die »absolute Beherrschung unseres Lebens« (W23).44 Wilks Typenlehre dient denn auch ungebrochen als medizinische Ontologie. Durch die polare Grundstruktur von Einatmen und Ausatmen, Dehnen und Zusammenziehen, Kälte und Wärme, Sonne und Mond sowie Dynamik und Statik wird eine universale Orthopädie des Alltags plausibilisiert (H49 ff.). Das therapeutische Zentrum der Terlusollogie stellen »typenrichtige« Körperübungen dar. Hier ist die Abgrenzung zur Biomedizin durch die Behauptung gegeben, man bedürfe in aller Regel keiner Medikamente (H/H1, 57; H1). Die körperlichen Übungen, eine ergänzende Ergonomie alltäglicher körperlicher Verrichtungen sowie eine hochdetaillierte, sich auf nahezu alle Nahrungsmittel erstreckende Diätetik genügten zur Heilung und Gesunderhaltung. Auch hier ist wieder die Struktur des ausgeschlossenen Dritten einschlägig: Lunare Menschen brauchen tierisches Fett, solare pflanzliches; lunare dürfen Weißwein und schwarzen Tee trinken, solare Rotwein und Kaffee (H28 f.). Was dem einen nützt, ist für den anderen schädlich: Die terlusollogische Orthopraxie kennt keine Adiaphora. Auch die terlusollogische Ontologie greift über den Menschen hinaus. »Die Naturgesetze, die diesem Buch zugrunde liegen, gelten für die ganze belebte Natur.« Sie steht insgesamt unter den Einflüssen der »kosmischen Energien« (H/H91). Interessant sind dabei die religiösen Bezüge. Religiöse Anklänge finden sich in den wiederholten Beziehungen auf den Kosmos wie auch im Topos der wundergleichen Heilung (H/H57, 76, 88). Vor allem aber wird Religion bereits bei Wilk zum Explanandum der Theorie: »Die Kirche spielt im Leben des Statikers eine große Rolle. Ohne eine strenge Disziplin ist er in seelischen Fragen völlig haltlos. Der gemeinschaftliche Gottesdienst mit pomphaftem Zeremoniell gibt ihm Kraft und Stärke.« (W47) Entsprechend führen die Hagenas kulturgeschichtliche Betrachtungen an: »Und wo finden wir die größere Farbenpracht bei religiösen Zeremonien? Nicht im Norden Europas […]. Nein, die mehr vom Auge lebenden solaren Menschen breiteten in Kirchen und Zeremonien Farbe und Glanz aus. Im Norden wurde der Gottesdienst immer farbloser und bestimmt vom Hören des gesprochenen Wortes oder des Kirchengesangs,
44 Bei Wilk erfolgt diese über ein Gesellschaftsprogramm, das unter der Maxime »Gleiches zu Gleichem« (W16) eine im Wesentlichen typenreine Gestaltung sozialer Beziehungen fordert (W34; vgl. abgeschwächt noch H/H7, 30; H45, 48).
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denn das Hören liegt dem lunaren Typ mehr. Das Gehör liegt bei ihm in der Warmzone.« (H/H90) Auch hier eignen sich also religiöse Bezüge dazu, den umfassenden Erklärungsanspruch der eigenen Theorie zu verdeutlichen. Insgesamt wird die Terlusollogie als eine Art Metatheorie inszeniert, die das relative Recht herkömmlicher Therapieverfahren einzuordnen erlaubt und dabei alle Kontingenzen ausräumt. »Wir stellen uns mit der Terlusollogie nicht gegen bekannte Methoden, nicht gegen die Medizin, nicht gegen die Pädagogik usw., wir wollen ein Überdenken der bisher erfolgreich eingesetzten Methoden, um sie dann unter Berücksichtigung der terlusollogischen Erkenntnisse individuell neu einzusetzen.« (H2) Diese Logik der metatheoretischen Verwaltung von Geltungsansprüchen bestimmt vor allem die Ernährungsempfehlungen. Im Bereich der Körperübungen werden hingegen weniger bestehende Methoden typengerecht zugeordnet als eigene proklamiert. Hier geht die Inszenierung der Konkurrenz vom Anspruch der Neuordnung der Schulmedizin fließend in den ihrer Ersetzung über. In allen Fällen wird der umfassende Anspruch formuliert, das Leben werde dann – und nur dann – glücklich, gesund und erfolgreich sein, wenn sich der Einzelne den ihm von den terlusollogischen Experten auferlegten Regeln unterwerfe. Freiheit wird inszeniert als Sich-Fügen in die expertokratisch verwaltete Notwendigkeit: »Es geht nicht um Glauben oder Nichtglauben, sondern es geht um exakte Feststellungen und deren Konsequenzen.« (H/H6)
4. Z UR D EUTUNG DER
INSZENIERTEN
ALTERNATIVEN
Der Kulturwissenschaftler und Medizinhistoriker Eberhard Wolff macht in der Deutung der Alternativmedizin als eines kulturellen Phänomens zwei einander entgegenstehende Stränge aus. Auf der einen Seite stehen Forschungsansätze, die Alternativmedizin als gegenkulturelles Phänomen verstehen: Im Zuge der zunehmenden Professionalisierung und Herausbildung einer ärztlichen Dominanz in der Biomedizin habe sich, in Reaktion und Protest, eine vor allem von Laien getragene Alternativmedizin als medizinische Gegenkultur entwickelt. Auf der anderen Seite stehen Ansätze, die Alternativmedizin als integralen Bestandteil moderner Medizinkultur verstehen. Dem schließt Wolff sich an und sieht »die Verbreitung von Alternativmedizin vor allem in letzter Zeit als Teil einiger größerer Trends in der Entwicklung des Gesundheitswesens vor allem im 20. Jahrhundert […], die sich unter dem gemeinsamen Dach des Begriffes der
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›Gesundheitsgesellschaft‹ zusammenfinden«45. Zu diesen Trends zählt er die zunehmend aktivere Rolle der Patienten im Gesundheitswesen, die sich in steter Eigenaktivität dem Imperativ der Gesundheit als einem »beinahe ubiquitären, quasi religiösen Orientierungspunkt« unterordneten und so »ein ständiges Selbstmanagement« der Arbeit am eigenen Körper betrieben.46 Dazu gehöre auch die Herausbildung einer »High-Touch-Health-Kultur«47, in der Gesundheitsdienstleistungen einen individualisierten Service sowie einen ästhetischen Erlebniswert bieten und zudem der zunehmenden »Moralisierung unserer Gesellschaft« Rechnung tragen müssten, indem sie sich etwa als ökologisch korrekt und insofern auch für das Milieu der »LOHAS« anschlussfähig zeigten.48 All dies vermöge die Alternativmedizin besser zu bedienen, weswegen sie weniger als Protestform denn als integraler Teil, wenn nicht in mancher Hinsicht gar als Vorreiter »der modernen Medikalkultur« zu verstehen sei.49 Die im vorliegenden Beitrag ausgewerteten Inszenierungen der Konkurrenz von Alternativ- und Biomedizin deuten – bei aller Verschiedenheit im Einzelnen – darauf hin, dass diese Entgegensetzung zu einfach ist. In der Selbstpräsentation der Alternativmedizinen zeigen sich zwar durchaus Motive, die sie als Teil einer patienten- und erlebnisorientierten, ästhetisierten, moralisierten modernen Medizinkultur verstehen lassen. Gleichzeitig lassen sie sich aber auch als Reaktionen auf Aporien moderner Medizin lesen: Reaktionen, die in ihren konkreten Vorschlägen zuweilen insofern paradox verfasst sind, als sie die Aporien eher verschärfen als lösen. So gelesen sind Alternativmedizinen gerade in ihrer inszenierten Dissidenz Vorreiter moderner medizinkultureller Trends. Einige Belege für diese Doppelstruktur werden im Folgenden dargestellt. Hier ist zum einen die wiederkehrende, wissenschaftstheoretisch krude Behauptung zu nennen, das eigene – aus Tradition, Erfahrung und Autorität generierte – Wissen könne unbedingte Gewissheit beanspruchen. Die Attraktivität solcher Behauptungen ist nicht überraschend, da Alternativmedizinen sich zumeist auf biomedizinisch schwer handhabbare Krankheiten beziehen. Der Basistopos anekdotischer Evidenz ist der einer langen, durch stete Verschlechterung gekennzeichneten Krankengeschichte, für die nach langwieriger, quälender Suche nun endlich ein Schlüssel zur Heilung gefunden wurde. Die hier artikulierte Hoffnung ist emp-
45 Wolff 2010: 177. 46 Ebd.: 180 f. 47 Ebd.: 181. 48 Ebd. Zum »Lifestyle of Health and Sustainability« vgl. Kirig/Wenzel 2009. 49 Wolff 2010: 182.
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fänglich für eine weltanschaulich grundierte Medizin, die gerade im Besitz dieses einen Schlüssels zu sein behauptet. Hierfür steht auch die in zahlreichen Varianten verwendete Chiffre »Natur«: Sie signalisiert ein vorgängiges, theoretisch aufweisbares und praxisfähiges Passungsverhältnis von Leiden und Behandlung. Zugrunde gelegt ist jeweils eine medizinische Ontologie, die Annahmen über die Verfasstheit des Menschen und das Wesen der Krankheit einerseits und über Heilmittel und Heilverfahren andererseits in einem auf wenigen Grundprinzipien fußenden System plausibel zusammenfasst. Die Lücke zwischen Physiologie und Nosologie einerseits und ärztlicher Kunst andererseits ist damit bereits auf der Theorieebene geschlossen. Was aus der Natur kommt, ist dem Menschen, der zeitweilig vergaß, ein Stück Natur zu sein, a priori zuträglich. Gerade diese Reklamation eines absoluten Geltungsstatus des eigenen Wissens verschärft nun aber das unterliegende Gewissheitsproblem. Denn sie bildet, wie schon der Beitrag von Simon zeigt, einen Hauptangriffspunkt biomedizinischer Argumentation gegen die Alternativmedizin50 und führt zudem aus Patientensicht zu einer Nebeneinanderstellung verschiedener, unvereinbarer Medizinsysteme mit jeweils exklusivem Geltungsanspruch. Die kognitive Dissonanz mag in postweltanschaulichen Zeiten erträglich sein; sie führt aber entweder in die dezisionistische Wahl oder wieder zurück zur Schlüsselstellung von Experten – Heilpraktikern, alternativmedizinisch tätigen Ärzten, Ratgeberautoren –, die den Zugang zu den Heilverfahren verwalten. Der Versuch, verloren gegangenes Vertrauen in therapeutische Professionelle durch ontologisch gestützte Gewissheit zu ersetzen, führt also, wenn nicht in die weltanschauliche Dissidenz, so doch wieder zu Experten zurück, nur eben zu anderen. Ähnliches gilt für das Verhältnis von Krankheit, Gesundheit und Therapie. Seit Hahnemann ist es das Versprechen von Alternativmedizinen, Krankheiten nicht nur symptomatisch zu behandeln, sondern tatsächlich von Grund auf zu heilen. Mit diesem oft nicht weiter explizierten Heilungsideal verbindet sich eine expansive Tendenz. Angezielt ist ein Zustand »ganzheitlichen«, Leib, Seele und Geist umfassenden Wohlseins, dem auch der nicht kranke Körper nicht zu entsprechen vermag. Mit diesem Heilungsbegriff haben die Alternativmedizinen Teil an der Umstellung des Medizinischen vom Paradigma der Krankheit, die zu bekämpfen ist, auf das der Gesundheit, die es zu fördern gilt. Es geht nicht nur um Reparatur, sondern um Erhaltung, Intensivierung und Optimierung leibseelischen Integriertseins. Neben die Diagnose und Therapie von Krankheiten tritt die Prävention; und da potenziell alle Lebensbereiche präventionsrelevant sind, ist
50 Für die jüngere Zeit siehe paradigmatisch Köbberling 2004.
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Medizin auch potenziell für alle Lebensbereiche zuständig. Das Versprechen, wirklich zu heilen, generiert eine Praxis, die den Menschen in keinem Bereich seines Lebens mehr als wirklich gesund betrachten kann. Das gilt für den gesamten Medizinsektor, verschärft sich aber für die Alternativmedizin, insofern die Menge der Präventions- und Optimierungsempfehlungen hier potentiell unbegrenzt ist: Eine geschlossene medizinische Ontologie, wie sie etwa die Terlusollogie aufweist, erlaubt eine imperative Durchstrukturierung aller Lebensbereiche. Auch hier ist also eine paradoxe Verschärfung allgemeiner medizinkultureller Tendenzen durch die Alternativmedizin zu konstatieren. Insbesondere die alternativmedizinische Wellnessorientierung und die Diätetik sollten dabei nicht ausschließlich als Exzesse eines zeitgeistspezifischen »Körperkults« verstanden werden. Wenn sie etwa als Begleitmaßnahmen zur Krebstherapie angeboten werden, können sie meines Erachtens auch gedeutet werden als Strategien der Behauptung oder Wiedergewinnung eines erlebnisfähigen Leibes in einer Situation, in der dieser durch Krankheitssymptome und belastende Therapien bedroht ist und auf einen in Dritter-Person-Perspektive angesehenen Körper zu schrumpfen droht: Ich habe nicht nur einen kranken Körper, sondern bin auch und trotz allem sinnlicher und genussfähiger Leib. Das benannte Paradox liegt dann darin, dass eben dieser wiedergewonnene Leib in toto unter medizinischer Perspektive, also als potentiell kranker, erscheint.51 Gleichwohl, diese These soll hier gewagt werden, findet sich im alternativmedizinischen Diskurs selbst ein möglicher Ausweg aus der Aporie eines ins Unbegrenzte gesteigerten Selbstmanagements. Dieser liegt in den Bereichen Ökologie und Spiritualität. Es ist auffällig, dass alternativmedizinische Publikumszeitschriften sich vielfach um das Thema der Ökologie bemühen. Zur Erklärung genügt es meines Erachtens nicht, auf ein für Ökologie und Alternativmedizin aufgeschlossenes Milieu oder auf die assoziative Verbindung beider Themen im Terminus »Natur« zu verweisen. Das Interesse am eigenen Garten und mehr noch am Klimawandel zeigt die heilende Natur selbst als bedroht. Nicht mehr nur der eigene Körper, sondern auch der eigene Garten und die gesamte Biosphäre sind Gegenstand der Sorge. Vermöge dieser Sorge kann der Einzelne von sich selbst absehen; damit trägt das ökologische Interesse auch Züge einer Erlösung von sich selbst. Das wird noch verstärkt durch spirituell anmutende Verweise auf eine letzte große Einheit in allen Differenzerfahrungen und auf den Menschen als Geistwesen, das letztlich vom Geschehen um Krankheit
51 Die im Hintergrund stehenden anthropologischen Theorieperspektiven können hier nicht entfaltet werden.
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und Gesundheit unberührt bleibe.52 Die Ausziehung medizinischer Ontologie bis in den Kosmos hinein führt also nicht nur zu einer verschärften Entgrenzung der Medizin auf alle Lebensbereiche, sondern bietet auch, mit dem Angebot eines Absehens von sich selbst, einen potentiellen Ausweg.53 Die Tendenz der Entgrenzung des Medizinischen wird wiederum durch die alternativmedizinischen Pathosformeln der Ganzheitlichkeit und der Individualität noch befördert. Sie reagieren auf die Erfahrung, als Patient in der Biomedizin lediglich in bestimmter, reduzierter Hinsicht in den Blick zu kommen und nicht in der Fülle der eigenen Persönlichkeit gewürdigt zu werden. An die Stelle der Prävalenz des Somatischen und der hohen disziplinären Ausdifferenzierung der Medizin soll eine integrierte Heilkunde treten, die den Menschen als ganzen und als bestimmten in den Blick nimmt. Auch damit verbindet sich eine Paradoxie: Zum einen sind die einzelnen alternativmedizinischen Ontologien, gerade weil sie einfach und handhabbar sein sollen, zuweilen strukturärmer und reduktionistischer als biomedizinische Erklärungsansätze; zum andern folgen aus der Parataxe verschiedener Heilsysteme und der mit ihr verbundenen hybriden Praxis der Inanspruchnahme wiederum nur selektive Zuständigkeiten eines alternativmedizinischen Systems. Weiterhin ist das Versprechen gesteigerter Selbstwirksamkeit zu nennen. Gegenüber der elementaren Passivitätserfahrung, einer naturwissenschaftlichhochtechnologisch organisierten Medizin ausgeliefert zu sein, wird die Möglichkeit aktiver Selbstsorge angeboten. Es kann immer noch etwas getan werden, und als Patient bestimme ich selbst, wie ich behandelt werden will. Alternativmedizinen scheinen den Gedanken der Patientenautonomie in Richtung auf eine wunscherfüllende Medizin zu vervollkommnen. Kann ich im Kontext der Biomedizin zwar in eine Behandlung einwilligen, eine solche aber nicht einfordern, wenn der Arzt diese als nicht indiziert erklärt, so tritt mir die Alternativmedizinerin mit der Verheißung entgegen, auch hier noch etwas im Angebot zu haben. Gerade im Bereich der Begleitmedikation bei Krebserkrankungen wird dieses Angebot in Stellung gebracht. In Spannung zu diesem Angebot gesteigerter Autonomie steht jedoch die expertokratische Struktur vieler alternativmedizinischer Angebote. Nicht ich, sondern der homöopathische Arzt oder Heilpraktiker
52 Siehe z.B. Seite 26 der oben ausgewerteten Ausgabe von »Ayurveda«. 53 Religionswissenschaftlich und theologisch zeigen sich hier tiefergehende systematische Zusammenhänge zwischen Religion und Medizin, die nicht schon abgegolten sind im Verweis auf die Religionsförmigkeit alternativmedizinischer Angebote. Siehe dazu Schoene 1980: 229; Bull 1990; Lüddeckens 2013; Hempelmann 2007; Schäfer et al. 2008.
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entscheidet nach langer Anamnese, welches Arzneimittel für mich das richtige ist; und die Terlusollogin stellt Regeln für mein gesamtes Leben auf. Je geschlossener die einzelnen Heilsysteme auftreten, desto mehr schrumpft die Patientenautonomie zusammen auf die Möglichkeit, zwischen verschiedenen Medizinsystemen zu wählen. An die Stelle der Patientenautonomie mit ihren Aporien angesichts des hochasymmetrischen Arzt-Patienten-Verhältnisses tritt die Konsumentenautonomie auf einen Markt medizinischer Dienstleistungen. Auf struktureller Ebene der Inszenierung von Konkurrenz zeigen sich Differenzen zwischen den verschiedenen untersuchten Beispielen. Konkurrenz kann als eine zwischen sich ausschließenden Alternativen inszeniert sein; oder sie kann in dem Angebot bestehen, die herkömmliche Medizin zu erweitern bzw. zu komplementieren und so gar mit ihr zusammen auf höherer Ebene zu verschmelzen. Die ausschließliche Alternative lässt sich streng nur im Modus der Konversion handhabbar machen, wie sie auch in manchen alternativmedizinischen Fallgeschichten berichtet wird: Früher glaubte ich, dass p – heute bin ich überzeugt, dass q. Die Inszenierung einer Zielperspektive der Integration geht hingegen mit der Aufforderung einher, das eine als passende Ergänzung des anderen zu erkennen; an den Anschlussstellen müssen sich beide Systeme als synonyme Formulierungen desselben verstehen lassen. Gerade die Strategie der Synonymisierung erweist sich jedoch, wie für das Ayurveda gezeigt werden konnte, selbst als paradox, da signifikante Differenzen aufrechterhalten werden müssen, um anschließend Identifikationsangebote machen zu können.54 Die Integration kann also nur als zukünftige Integration des noch nicht Integrierten inszeniert werden. Hinsichtlich der Inszenierung von Alternativen zeigten sich Hinweise, dass die Konkurrenz von Alternativ- und Biomedizin zunehmend weniger auf weltanschaulicher als auf ästhetischer Ebene ausgetragen wird. Der Modus der Handhabung von Konkurrenz ist dann weniger die weltanschauliche Dissidenz als vielmehr die ästhetische Distinktion (und die mit ihr verbundene ökonomische Wahl). Wenn dem so ist, sind auch hybride Praktiken mindestens kognitiv entlastet, und einige der aufgewiesenen Aporieverschärfungen dürften sich als weniger problematisch herausstellen. Spätestens jedoch, wenn es um schwere und lebensbedrohliche Erkrankungen geht, brechen die genannten Aporien mit unverminderter Härte auf. Hier befinden wir uns am Übergang zu Fragen einer Ethik der Alternativmedizin,55 die an anderer Stelle weiter zu verfolgen sind.
54 Vgl. dazu die Polemik von Köbberling (2004) gegen die Alternativmedizin. 55 Siehe dazu etwa Kappauf/Meran 1998.
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Von Deutungsmacht und Bücherschlacht Vermerke zu literarischen Konkurrenzen J ÖRG T HOMAS R ICHTER
Konkurrenz prägt Literatur in mindestens doppeltem Sinn, als Sujet und als Verfahren. Erstes ist in einem knappen Essay nur annähernd zu erschließen. Qua der ihr eigenen Mittel hat die Literatur sich – auch und in immenser Breite – diesem Themenbereich zugewandt und konkurriert damit selbst mit anderen, zum Beispiel ökonomischen oder biologischen Diskursen. Das ist ein breit gelagertes, extrapoetisches Problem zwischen der Literatur und ihren Themen. Bedarf es aber der Konkurrenz über diese erste Problemstellung hinaus, um Literatur zu beschreiben? Um diese Frage zu beantworten, soll im Sinne eines philologischen Beitrags Konkurrenz zweitens als literarisches Verfahren diskutiert werden. Hier ist das philologisch grundständigere Problem zu erörtern, wie Konkurrenz nicht als Dargestelltes präsent ist, sondern Darstellung selbst produziert. Bevor sich der Essay dem zweiten intrapoetischen Punkt widmet, ist jedoch zunächst der erste, extrapoetische Konkurrenzdiskurs aus dem Weg zu räumen. Als Apologie eines Amerikanisten sei dem vorangestellt: Die in der Argumentation herangezogenen Beispiele stammen überwiegend aus dem Korpus der anglo-amerikanischen Literatur, ergänzt um deutschsprachige Lesefrüchte. Sie beanspruchen nicht die Hoheit paradigmatischer Geltung und können in der Tat nur der Beispielhaftigkeit der Illustration dienen. Darüber hinaus waren einige Urszenen aus der griechischen und römischen Klassik einzubeziehen.
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E XTRAPOETISCHE K ONKURRENZEN Ökonomie ist seit Adam Smith auch zu einem wesentlichen Sujet der Literatur avanciert. An dieser Stelle muss ein Überblick hinreichen, um das Problem zu erläutern. Literaturwissenschaftlich hat sich, wie der Name schon sagt, vor allem der New Economic Criticism mit dem Thema auseinandergesetzt. Er kursiert seit Ende der 1990er Jahre unter diesem Markenzeichen,1 gründet aber in einer Tradition, die zumindest in der amerikanischen Kritik bis in die 1940er Jahre zurückreicht, als maßgeblich William Charvat in seinen bahnbrechenden buchhistorischen und literarökonomischen Arbeiten die Produktionsbedingungen von Literatur sowie deren Auseinandersetzung mit dem Markt untersuchte. Dabei zählt zu dieser nicht mehr ganz neuen neu-ökonomischen Kritik auch die Diskussion der literarischen Darstellung von wirtschaftlichen Prozessen, darunter Konkurrenz. Literatur und Wirtschaftskonkurrenz Die Germanistin Sandra Richter hat jüngst in einem wohltuend unakademischen Buch beschrieben, wie Literatur – verstanden als Erfahrungs-, Projektions- und Experimentalraum – sich mit dem ökonomischen Wettbewerb auseinandersetzt. Richters auch zwischen deutschen, französischen, amerikanischen und englischen Literaturen vergleichendes Buch Mensch und Markt: Warum wir den Wettbewerb fürchten und trotzdem brauchen legt im historischen Durchgang ökonomische Theorien und literarische Texte nebeneinander. Es zeigt auf, wie Literatur im Kontrast zu ökonomischen Theorien »Parallelgeschichten« oder »kritische Darstellungen« bereithält oder »wettbewerbliche Situationen [personalisiert]«,2 ja mehr noch: »Die Literatur vermittelt sogar Ideen über eine Zukunft, in der die Konkurrenzbeschleunigungsfalle nicht mehr zuschnappt.«3 Literatur »dokumentiert« Wettbewerb, sie »bewertet« ihn »moralisch«; sie entwickelt »kreative Alternativen«.4 Die im Buch stimmig dargelegte Beiordnung von Literatur zur Sozial- und Wissensgeschichte der Geschäftsökonomie vor allem 1
Namensgebend war eine Aufsatzsammlung von Martha Woodmansee und Mark Osten (Woodmansee/Osteen 1999), zitiert auch in Richter 2012: 12, 245/Anmerkung 9. Einen überaus konzisen Überblick über die kritische Schule gibt Hewitt 2009. In Deutschland vgl. vor allem Arbeiten von Joseph Vogl.
2
Richter 2012: 19.
3
Ebd.: 21.
4
Ebd.: 34, 219.
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im 19. und 20. Jahrhundert verlangt, dass Literatur trotz oder gerade wegen ihrer, sagen wir: nicht-empirischen, experimentellen Darstellungsweise als Stimme zur Ökonomie gehört werden muss, insbesondere dann, wenn sich zeigt, dass – wie in der Finanzkrise der 2010er Jahre – auch die Wettbewerbstheorien der Ökonomen die Wirklichkeit nicht meistern. Mit ihren Geschichten, Entwürfen, Experimenten bietet die Literatur ein Feld alternativer Reflektion zur Wirtschaft, sie belebt einen Markt der Theorien, gerade, indem sie abweichende – konkurrierende Deutungen bereithält.5 Mensch und Markt erlaubt es, einen sehr spezifischen Bereich der Konkurrenz als Sujet zu überblicken – und bezüglich detaillierter Beispiele sei auf das Buch verwiesen.6 Allerdings klammert das Buch wettbewerbliche Sujets in der Literatur, die sich nicht auf den Markt und dessen Wirtschaft beziehen, dezidiert aus. Das ist dem Buch nicht vorzuwerfen, aber genau darauf kommt es an. Denn dass es zumindest eng-, wenn nicht irreführend ist, Konkurrenz auf ökonomische Beziehungen zu reduzieren, hat Karl Mannheim 1928 gemerkt, als er versuchte, das Konzept in einer Soziologie des Geistes zu etablieren. Mannheim unternimmt eine galante begriffsgeschichtliche Rückprojektion, die das Phänomenfeld der Konkurrenz der tatsächlichen Begriffsbildung vorlagert. Konkurrenz versteht er als »eine allgemeine soziale Beziehung«, die zwar in der Ökonomie »entdeckt« wird, aber neben den Beziehungen der Generationen zueinander für Kultur generell (mit)konstitutiv ist.7 Ihm nach sind nicht nur ökonomische Verhältnisse, sondern ist »jedes historische, weltanschauliche, soziologische Wissen […] eingebettet und getragen vom Macht- und Geltungstrieb bestimmter konkreter Gruppen, die ihre Weltauslegung zur öffentlichen Weltauslegung machen wollen«.8 Mit anderen Worten: In den Konkurrenzen der Ideen bzw., so Mannheim, »Denkstile« beginnt, was heute in der Ökonomie und daran anknüpfend 5
Hinsichtlich der Behauptung wechselseitiger Maßstäblichkeit zwischen Ökonomie und Literatur vgl. auch jüngst Amann et al. 2014.
6
Diskutiert werden u.a. Johann Wolfgang von Goethe Wilhelm Meisters Lehrjahre und Friedrich Schillers Der Kaufmann, Gottfried Kellers Martin Salander, Honoré de Balzacs Comedié humaine, Elizabeth Gaskells Mary Barton, Charles Dickens Hard times, Emile Zolas L’Argent, Thomas Manns Die Buddenbrooks und Heinrich Manns Im Schlaraffenland, Arhur Millers Death of a Salesman und viele andere mehr. Von besonderem Interesse sind ihre Ausführungen zum »komplexen« Wettbewerb, der ab den 1970 bis in die Gegenwart literarisch zur Sprache kommt, bei Autoren wie William Gaddis, Burkhard Spinnen und Urs Widmer.
7
Mannheim 1929: 43.
8
Ebd.: 45.
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auch in anderen Fächern wie der Biologie die Forschung umtreibt. Im Gebiet des Wissens und des Geistes geben Deutungsmacht und Geltungsanspruch den Preis ab, um den die Konkurrenten ringen, zuerkannt wird er ihnen momentan durch die öffentliche Diskussion, die sich der einen oder anderen Sicht zuneigt, aber auch historisch durch den »Geschichtsstrom«, der »auf die Dauer das Brauchbarste an Erfahrungsgehalten, an Erfahrungsparadigmata, an Erfahrungseinstellungen usw. aus[siebt]«.9 Dass dabei um ein Drittes konkurriert wird, ist in Mannheims Begriffsbestimmung zwar durchaus eingeschlossen (der Wettstreit im Geistigen gilt, wie gesagt, der Deutungsmacht), aber dieses wird in sich durch das Metier des Wettkampfs selbst bestimmt. Erhöht wird, ökonomisch gesprochen, nicht unbedingt der Tausch-, sondern der Gebrauchswert des Erzeugnisses: Man ringt in den Wissenschaften miteinander im Interesse besserer Erkenntnis; man ringt in den Künsten gleichermaßen miteinander und wird zum besseren Drechsler von Worten, zum besseren Dichter erkoren. Und das, was literarische Konkurrenz befeuert, muss natürlich nicht unbedingt nur der literarintrinsische Wert sein: Beim literarischen Preisausschreiben ringen Dichter neben dem Ruhm manchmal auch um ein Preisgeld – und verbinden so die literarische Konkurrenz mit der ökonomischen. Ebenso gern, zum Beispiel in der Tradition der höfischen Lyrik, inszeniert man den literarischen Wettkampf um die Gunst einer oder eines oft fingierten Geliebten – wie zum Beispiel in jenen Sonetten William Shakespeares, die sich mit dem »Rival Poet« auseinandersetzen. Dessen Sonnet 86 fürchtet, in dieser literarischen Auseinandersetzung zu unterliegen: »Was it his spirit, by spirits taught to write / Above a mortal pitch, that struck me dead?« Und Sonett 76 weiß schon vorab: »So all my best is dressing old words new« – so dass, wie immer die Liebe spielt, unter der Maske der erotischen Konkurrenz dann doch um die Wortkunst gerungen wird. Doch ist Kleinlichkeit hier unangebracht. Erweiterte Konkurrenzmotive Mit Blick auf die Literatur lässt sich dem erweiterten Konkurrenzbegriff Mannheims folgen, mit einer Einschränkung. Denn trotz der aktuell beißenden Konjunktur des Wissensbegriffs in den Philologien ist skeptisch nachzufragen, ob es sich bei Literatur überhaupt um ein »Wissen«, und sei es eines des Geistes, handelt oder nicht schlichter doch um die programmatische Abkehr von einem Wissenskonzept, dass im Literarischen zugunsten eines reaktiven und dynamischen Erkennens als trügerisch, anmaßend oder auch nur reduktiv entlarvt wird. Und 9
Ebd.: 80.
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möchten literarische Künste – die in Mannheims Konzept wohlgemerkt ungenannt bleiben – ihre wissenskontrastive Weltauslegung wirklich so dominant machen? Die von Sandra Richter beschriebene Konkurrenz literarischen Erzählens mit Ökonomie deutet – nur ein wenig gegen ihren Strich gelesen – wenigstens an, dass sich Literatur aus der Spannung zu und nicht aus Komplementarität mit der Episteme der Wissenschaften entfaltet. Dies wäre länger auszuführen und kann an dieser Stelle nicht entschieden werden. Weniger strittig dürfte die Folgerung sein, dass mit Mannheim auch bezüglich der ›schönen‹ Literatur der Themenkreis zu erweitern ist. Die literarische Inszenierung von Konkurrenz übersteigt eine ökonomische Interpretation selbst dann oft, wenn Wirtschaft und Konkurrenz zusammen verhandelt werden. Gerade die extraökonomische Vervielfältigung von Konkurrenzsemantiken scheint ihr charakteristisches Anliegen. Der Roman des US-amerikanischen Autors Chuck Palahniuk Fight Club von 1996, verfilmt in dem gleichnamigen KultKlassiker von David Fincher (1999), ist dafür ein gutes Beispiel. Er macht männliches Konkurrenzverhalten insbesondere gegen wirtschaftliche Realität geltend. Diese ist, so das Szenario, nicht mehr durch Konkurrenz, sondern durch Konsum bestimmt. Der Roman wird erzählt aus Sicht eines Angestellten, der bezeichnenderweise Rückrufaktionen für Automobile koordiniert, indem er deren Kosten gegen mögliche Schadensersatzansprüche gewichtet. Das Milieu ist von Dekadenz gezeichnet. In den Fight Clubs, die in dunklen Bars entstehen, schlagen sich wirtschaftsmüde Männer paarweise jenseits von Öffentlichkeit und sozialem Status miteinander. Aus dieser Wiederentdeckung maskuliner, nicht materiell oder ideell entlohnter Gewalt zwischen freiwilligen Wettkämpfern, wie sie die Wirtschaft nicht (mehr) bieten kann, folgt dann in paramilitärischer Ausweitung des Prinzips die Subversion von Wirtschaft durch anarchischen Terror (»Project Mayhem«). Der hier inszenierte Wettstreit glänzt, möchte man grob zusammenfassen, in seiner Absage an eine übersättigte Ökonomie und macht eine ältere Form der Auseinandersetzung geltend, die als agonistisch bezeichnet werden könnte. Auf die Agonistik wird unten zurückzukommen sein. Nur bildet die Gegenüberstellung von Konkurrenz und Markt erst eine Seite der Medaille. Ein Leitmotiv in Fight Club ist außerdem die Rivalität zwischen Tyler Durden, dem machistischen Protagonisten, und dem Erzähler, die zwar beide den Fight Club gründeten, aber um eine Frau konkurrieren. Um die Sache noch verwickelter zu gestalten, soll sich schließlich Tyler Durden als das abgespaltene, ›andere‹ Selbst des Erzählers enthüllen, das dieser wiederum überwältigen möchte. Es wohnen also zwei widerstreitende Seelen in einer Brust, die in einer agonistischen Auseinandersetzung innerhalb eines Selbst um Herrschaft ringen. Auch ohne tiefere
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Exegese dieses Romans zeigt sich, dass die poetische Pointe des Konkurrenzsujets in dessen Diversifizierung liegt. Unbenommen der literarischen Diversifizierung von ökonomischen Konkurrenzen zählen lebensweltliche Konkurrenzsituationen zwischen Generationen, Geschwistern, Geliebten usw. zu den grundlegenden und gängigen Handlungsmotiven in epischer, dramatischer oder Romanliteratur. Darauf hat – ohne vordergründigen Blick auf geschäftsweltliche Hintergründe – bereits Elisabeth Frenzel in einer Reihe von Einträgen in ihrem Lexikon Motive der Weltliteratur hingewiesen.10 Frenzel erkennt in Motiven wie den »verfeindeten Brüder[n]«, »Freierprobe« und »Nebenbuhlerschaft« eine literarische Durchdringung anthropologischer Bestimmtheiten. Der Bruderzwist ist das »unnatürliche« Ringen um elterliche Gunst oder rechtlichen Vorteil; die Freierprobe kommt dem Archetypischen ab; die Nebenbuhlerschaft nährt sich aus der »menschlichen Neigung zur Eifersucht«, die wiederum eine »literarische Konstante« formt. Alle drei Motive, per Verweis miteinander verquickt, kann Frenzel von der Antike bis in die Moderne fortschreiben. Der Bruderzwist führt von der Feindschaft zwischen Seth und Osiris im ägyptischen Mythos über Kain und Abel zu Shakespeare bis zu John Steinbecks East of Eden; die Nebenbuhlerschaft von Homers Odyssee zu Lessings Miss Sarah Sampson; die Freierprobe von bei Herodot beschriebener Freierschau über die »Scharfsinnsprobe« im Märchen hin zu Gottfried Kellers Novelle »Die drei gerechten Kammmacher« (1856). Auch letzte unterstreicht die Diversifizierung einer an sich einfachen Konkurrenzsituation in der literarischen Aufnahme. Hauptsächlich konkurrieren die drei Kammmachergesellen um die Werkstatt ihres Meisters. Dazu sparen sie um die Wette Geld (ökonomische Konkurrenz), dazu verteidigen sie den besten Platz im gemeinsamen Bett (existentielle Konkurrenz), dazu wird um die Gunst der reichen Jungfer Züs gerungen (Liebeskonkurrenz), dazu huldigen ihr die Gesellen um die Wette in Lobreden (poetische Konkurrenz) und dazu wird schließlich ein tragischer Wettlauf veranstaltet (athletische Konkurrenz). Und nebenher bleibt zu beachten, dass mit den drei Gesellen im fiktiven Schweizer Örtchen Seldwyla auch drei verschiedene Volksgruppen miteinander um Aufnahme in die Schweizer Gemeinschaft bitten: ein Sachse, ein Bayer, ein Schwabe treten auf Schweizer Boden in einen versteckten nationalen Wettbewerb. Die unterschiedlich ausführlichen Überblicksdarstellungen Frenzels und Sandra Richters sind aber noch um Weiteres zu ergänzen. Im schmalen Rahmen dieses Essays müssen wenige Hinweise auf Texte genügen, die wenigstens partiell 10 Frenzel 1988: 81–94 (»Brüder, Die verfeindeten«), 185–196 (»Freierprobe«), 575– 588 (»Nebenbuhlerschaft«).
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ganze Erzählgattungen vertreten. So konkurrieren beispielsweise in Ernest Hemingways The Old Man and the Sea (1952) Mensch und Fisch miteinander. Statt Mensch und Markt geht es um Mann und Meer. »I will show him what a man can do and what a man endures«, meint der fiktive Fischer Santiago im Selbstgespräch.11 Um den Preis des Überlebens und gültiger Maskulinität im Alter tötet er den Schwertfisch, gefressen wird dieser aber von Haien, die den Mann um seinen Preis betrügen. Gerichtet wird über ihn von einem Fischerjungen, der seinen Ruhm bezeugt. Überhaupt ist Hemingway diesbezüglich eine Fundgrube, denn der Konkurrenz zwischen Mensch und Tier sind auch viele seiner Erzählungen über den Stierkampf gewidmet. Doch wir müssen noch bei den Meeresbewohnern bleiben, weil eine weitere klassische Erzählung dieses Typs unter anderen der Waljagdroman Herman Melvilles, Moby Dick (1851), wäre, der in gewisser Hinsicht das Vorbild für Hemingways Roman abgibt. Auch hier jagt ein alter Mann ein großes Meerestier und wird von einem jüngeren Eleven – »Call me Ishmael« – ins Bild gerückt. Will man diesen Wettstreit zwischen Mensch und Tier nicht spätromantisch (Melville) oder existentiell (Hemingway) ausgelegt wissen, sollte man die Hochseefischerei verlassen und Festland betreten, wo dann in naturalistischer und Darwinscher Manier Wolf, Hund und Mensch, aber auch Wolf, Luchs und Stachelschwein oder Wolfshund und Hund gegeneinander antreten wie in Jack Londons White Fang (1906)12 – der im Übrigen mit The Sea Wolf (1904) auch einen Hochseeroman zur Geltung bringt, worin der kulturalisierte Seemann Humphrey van Weyden gegen den naturalisierten Kapitän Wolf Larsen antritt. Eben so wenig darf Rudyard Kiplings The Jungle Book (1894) als literarische Befassung mit interspezifischer Konkurrenz und Kooperation unterschlagen werden. Generell muss hinsichtlich der Tier- und Jagdromane die feinsinnig philosophische Meditation zur Jagd von José Ortega y Gassets gelesen werden, gerade um nicht vorschnell den Begriff der Jagd von dem der Konkurrenz zu sondern. Glaubt man dem spanischen Philosophen ist »[i]n Wirklichkeit […] nämlich die Jagd der Wettstreit oder das Aufeinandertreffen zweier Systeme von Instinkten«.13 Damit menschliche und tierische Instinkte auf solche Weise aufeinander treffen können, wird die »zoologische Hierarchie« fiktiv außer Kraft gesetzt. Der Jäger muss sich in die Mentalität des Wilds hineinversetzen. Er muss, anders ge11 Hemingway 1952/1980: 66. 12 Zur Mitte des Romans hat sich White Fang, der Titelheld, bereits in ein »professional fighting animal« verwandelt, auf dessen Sieg oder Niederlage die menschlichen Zuschauer wetten. 13 Ortega y Gasset 1956: 543.
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sagt, ein System erfinden, in welchem Konkurrenz möglich wird. Das, was aus ökologischer Perspektive eine Räuber-Beute-Beziehung ist, muss umgedeutet werden, damit Jäger und Gejagtes sich gleichberechtigt und unhierarchisch auf denselben ›Preis‹ beziehen können – und dies wäre an sich ein poetischer Akt. Von dieser fingierten Konkurrenz kündet dann auch nicht nur der Jagdroman. Man müsste den Kreis weiter ziehen und detaillierter auf den modernen Menschenjagdroman eingehen: den Kriminal- bzw. Detektivroman, in welchem etwa das Paradigma der Spur (so Carlo Ginzburg) letztlich als Jagdmetapher dient und Detektive sowie Kriminelle die Rollen von Jägern und Wild spielen. Insbesondere die Romane der hard boiled school haben die Ermittlungsarbeit in diese Form der Jagd-affinen Konkurrenz überführt, und bereits Edgar Allan Poe verlangt dem ›jagenden‹ Detektiv ab, sich mental in die Gedankenwelt des ›gejagden‹ Verbrechers zu versetzen: »the analyst throws himself into the spirit of his opponent«.14 Auch die Gattung des oft unerwähnten, weil vielleicht als zu trivial empfundenen Sportromans ist, ähnlich dem Jagdroman, der Konkurrenz verschrieben. Die sportliche Konkurrenz auf Ökonomie zurückzuführen, wäre ein Fehlgriff. Bernard Malamud erzählt in The Natural (1952) im Stile des arthurischen Ritterromans vom Verlangen eines Baseballspielers nach dem Sieg.15 Auch dabei dient die sportliche Konkurrenz nur allzu oft als Verweis auf übergeordnete Auseinandersetzungen. Anhand von John Updikes Rabbit-Romanen etwa lässt sich beobachten, wie ein aus dem Sport abgeleitetes Konkurrenzmotiv – der AllAmerican hero Rabbit Angstrom ist Ex-Basketballspieler – sich mit politischen Wettbewerbsmotiven des Kalten Kriegs (etwa: Wettrüsten) und erotischem Wettstreit verbindet.16 Erinnert sei in diesem Zusammenhang auch an die zahllosen, vielfältigen, manchmal formelhaften Sportlermemoiren wie Manfred von Brauchitschs Rennfahrermemoire Kampf um Meter und Sekunden (1953) oder Lance Armstrongs Radfahrer- und Krebsmemoire It’s not about the Bike (2000), um hier nur zwei umstrittene Autoren dieses Genres zu nennen, der eine neben dem Sport befangen in politisch-ideologischen Auseinandersetzungen zwischen Nationalsozialismus sowie dem mit dem Kapitalismus wetteiferndem Sozialismus, der andere neben dem Radsport im Kampf mit Krebs und Doping. Armstrong weiß unter anderem: »There was a big difference between the discreet jockeying of European cycling, and the swaggering, trash-talking American idea 14 Poe 1841/1992: 474. 15 Zur Übersicht über den frühen Sportroman siehe zu den USA beispielsweise Nolan 2010 und Oriard 1982, zum deutschen Sportroman Sicks 2008. 16 Dazu siehe das Kapitel »Zero Sum Marriages/Global Games« in Miller 2001.
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of competition«.17 Dass es bei sportlichen Wettkämpfen nicht nur auf Athletik, sondern auch auf Köpfchen ankommt, belegt schon das Märchen von Hase und Igel. Der Gegensatz zwischen europäischem jockeying und amerikanischer competition, so stereotyp er daherkommt, bildet auch eine lokale Konkurrenz in der Auslegung des Konkurrenzbegriffs ab, denn bekanntlich heißt das Konkurrenzphänomen auf deutsch schlicht »Konkurrenz«, auf englisch aber »competition«, und dies schließt die gegenüber der harten Konkurrenz milde Mitbitterschaft und auch ein gemeinsames Erstreben durchaus ein. Armstrongs Gegenüberstellung stellt diese friedvolle etymologische Ableitung allerdings mit Nachdruck begriffshistorisch auf den Kopf und alltagssprachlich auf die Füße. Konkurrenz möchte, mit Mannheim und Armstrong gesprochen, als Qualität sozialer und eben nicht nur schlicht ökonomischer Beziehungen verstanden werden. Die knappe Auflistung von einzelnen Werken und Autoren muss hier nicht fortgesetzt werden. Was sie zeigen soll, ist, dass Konkurrenz in der Literatur in allen möglichen Facetten aufgegriffen wird. Darunter spielt manchmal auch Ökonomie eine Rolle, zumeist aber geht es um agonistische Auseinandersetzungen – wobei dies eine Behauptung ist, die hier nur auf Grundlage verstreuter Lektüren, nicht aus statistisch repräsentativen Studien aufgestellt sein kann. Thematisch zeigt sich dennoch klar, dass die Verwirrung und Komplizierung der weltlichen Konkurrenzen in Ökonomie, Verwandtschaft, Fortpflanzung oder Leistungsfähigkeit das grundlegende Metier der Literatur bilden. Eben deswegen scheint der Blick auf das Thema zwar jederzeit zeit- und diskurskritisch relevant – weil es die Interventionspotentiale von Literatur gegenüber unterschiedlichen Theorien, Politiken, Weltzugängen bestärkt. Genau deswegen aber ist es auch geboten, ihrer philologischen Qualität auf die poetischen, nicht: thematischen Schliche zu kommen. Literarische Konkurrenz übersteigt ihre geläufige Deutung als alternative Sozialgeschichte, wo sie sich jenseits ihres Verhältnisses zur Gesellschaft auch in ein Verhältnis gegenüber ihr selbst: ihrer Tradition, ihrer Poetiken setzt. Konkurrenz ist, nimmt man wenigstens die oben genannten Texte ernst, ein gleichermaßen Bedingendes wie Zu-Erfindendes. Wenn gegenwärtig, wofür Mensch und Markt eine scharf gelungene Markierung ist, Literatur als Kommentar auf ökonomische Konkurrenz verstanden wird, wird ihre Geschichte als Schreiben, als Erfinden von Konkurrenz leider im Wesentlichen ausgeblendet. Das scheinbar unumgängliche Diktat des ökonomischen Verstehens sperrt sich gegen die Wahrnehmung nicht ökonomischen Wettstreits. Dadurch aber übersieht man: Literatur kommentiert nicht Konkurrenz, sie birgt sie in sich selbst.
17 Armstrong 2000: 53.
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I NTRAPOETISCHE K ONKURRENZEN Poetologisch betrachtet setzt Konkurrenz schon auf kleinster, literarischer Ebene ein – in der Differenz zwischen logos und philogos, im rhetorischen Ornat, im grauen Bereich zwischen Wort und Liebe zum Wort, welche die literarische gegen die philosophische, aber auch gegen die naturwissenschaftliche Rede gewichten. Aus diesem Spannungsverhältnis heraus lügen die Dichter (Platon) und bieten in ihrer sprachlich vieldeutigen, idiosynkratischen Verfassung zunächst deliberativ den Autoritäten der Ordinärsprache, unterschiedlichsten Fachsprachen, Diskursen, Gelehrtenidiomen, ja ihrer eigenen Tradition Paroli. Harold Bloom hat in diesem Zusammenhang auf die »intrapoetische« Auseinandersetzung zwischen »großen« Dichtern hingewiesen – ein Wort, das sich der vorliegende Essay frech angeeignet hat. Die von ihm beschriebene Einflussangst jüngerer Dichter vor ihren Vorgängern bildet eine diachrone Form des Wettstreits, eine Selbstbehauptung gegen Tradition, eine Form »der selbstrettenden Karikatur, der Verzerrung, des perversen absichtsvollen Revisionismus, ohne den die moderne Dichtung nicht bestehen könnte«.18 Doch sind auch hier weitere Aspekte geltend zu machen, denn intrapoetischer Wettstreit ist nicht auf ein epigonales, psychologisch ödipales Verhältnis von neuen zu alten Dichtern zu beschränken. Tatsächlich können mehrere, durchaus unterschiedlich gelagerte intrapoetische Konkurrenzformen unterschieden werden. Der Sängerwettstreit etwa wäre im Unterschied zum Wettstreit eines Dichters mit seinen Vorläufern als synchrone Konkurrenz zu verstehen. Zu nennen wäre auch die Konkurrenz zwischen den Künsten oder aber innerhalb einer Kunstform. Das Ringen um territoriale bzw. nationale Kunsthoheit spielt ebenso eine Rolle. Ein wenig anders gelagert sind Konkurrenzen innerhalb des sprachlichen Materials, wie sie innerhalb eines Werkes vermittelt bzw. inszeniert werden. Nicht nur stehen die Dichter untereinander oder mit der Ordinärsprache im Wettstreit, schon in ihren Werken inszenieren sie Sprache als Konkurrenz, so eine Erkenntnis des russischen Formalismus. »Das Wort verwandelt sich zur Kampfarena zweier Stimmen«, meint Michail Bachtin,19 und dies mögen dann verschiedene Soziolekte, Dialekte oder Historiolekte sein. Diese Liste ist weder vollständig noch kann sie hier detailliert diskutiert werden. Nur eine Linie dieser Konkurrenzverhandlungen innerhalb literarischer Poetiken sei hier erörtert.
18 Bloom 1995: 30. 19 Bachtin 1969: 119.
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Literarischer Agon Eine griffige Theorie zur Konkurrenz in der Literatur hat sich um die Idee des Agon gebildet, eines Wettstreits mindestens zweier Kontrahenten innerhalb eines Metiers vor Publikum, die im Mannheimschen Sinne um Anerkennung, Meisterschaft und Ruhm suchen. Dabei ist festzuhalten, dass bereits die griechischen Agone den Wettstreit der Sänger in ihre Wettkämpfe einbezogen.20 Entsprechend schilt Platons Politeia zwar die Dichter, mag aber den musischen Wettbewerb in seiner Polis-Vision nicht missen. Als Rivalität zwischen Künstlern und den Künsten (zwischen Malerei, Bildhauerei, Literatur) prägt das Agonale später die Renaissance und wirkt von da ab bis in die Gegenwart.21 So sind die aufwendigen Untersuchungen zur Agonalität in den Künsten, wie sie Jacob Burckhardt und Friedrich Nietzsche ausgangs des 19. Jahrhunderts anstellten, nur schwer als entratene Ästhetisierungen von wirtschaftlichem Wettbewerb miss zu verstehen.22 Jacob Burckhardt meint mit Blick auf die Antike, Kunst entstünde hier aus dem nicht zwanghaften, »geistigen Überschuß«. Sei erst einmal die künstlerische Potenz (neben den Potenzen des Staates und der Religion) entstanden, »verdrängen, ersetzen und bedingen sich die einzelnen Gebiete [innerhalb der Kultur].«23 Der musische Agon, der öffentlich ausgetragene künstlerische Wettstreit, scheint hier auf als ein reiner, quasi interesseloser Kampf um den Vorrang zwischen Künstlern, zwischen den Künsten. Nietzsche greift diesen Gedanken auf. Die Kunst der griechischen Tragiker sei »nicht ohne Wettkampf zu denken.«24 Platon lässt er sagen: »Seht, ich kann das auch, was meine großen Nebenbuhler können; ja, ich kann es besser als sie. […] – und nun verwerfe ich das alles zusammen und verurteile alle nachbildende Kunst! Nur der Wettkampf machte mich zum Dichter, zum Sophisten, zum Redner!«25 Der Wettkampf als eine in der ästhetischen Auseinandersetzung gründende Form macht nach Nietzsche aus der Kunst heraus buchstäblich Staat und gründet
20 Siehe Scheliha 1987. Zur agonistischen Poetik im griechischen Drama siehe Biles 2011. 21 Zum Agon zwischen Künstlern siehe Goffen 2002; zum Paragone zwischen den Künsten und deren Fortwirken im 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart hinein siehe Simonis/Simonis 2011. 22 Dies entgegen Richter 2013: 227. 23 Burckhardt 1905 bzw. 1929/1985: 68, 71. 24 Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches. In: Nietzsche 1954–1956: Bd. 1, 559. 25 Nietzsche: Homers Wettkampf. In: Nietzsche 1954–1956: Bd. 3, 296.
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neben dem Politischen auch philosophisch die »Anerkennung« und »Regulierung« der menschlichen Natur, so Henning Ottmann.26 Mit dem Agon machen Burckhardt und Nietzsche eine Figur der Konkurrenz in den Künsten dingfest, die zentral für die Ästhetik, aber auch – gewissermaßen zweckentfremdet – im politischen Denken ist. Eine Diskussion der philologischen, philosophischen und politischen Nachwehen des Agonalen führt hier zu weit.27 Festgehalten sei nur die Zuspitzung der These, dass sie gerade nicht im ökonomischen Denken aufgeht, ganz im Gegenteil: Wo Ökonomie beginnt, endet Konkurrenz im agonalen Sinne, da ökonomische Konkurrenten neben ihrem Interesse an gegenseitiger Überbietung dieses immer auch an den Interessen eines Dritten (Märkte, Konsumenten) ausrichten müssen, die zwar jenseits der Auseinandersetzung gelagert sind, aber doch den Boden dafür bereiten. Idealerweise treibt die agonale Konkurrenz die jeweilige Kunst durch den Wettbewerb voran, wohingegen die geschäftliche Konkurrenz zwar auch die Kunst bzw. das Produkt betrifft, aber ihren Gewinn anderswo, im Kontor, verbucht. Die Konkurrenz im Agon findet ihr Drittes in sich selbst, darin, es besser gemacht zu haben, nicht daran, besser verdient zu haben. Im ökonomischen Bereich wird Konkurrenz in das Geschäftliche verzerrt.28 Dabei ist Agonalität in der Kunst nur eine scheinbar selbstverständliche Form, an die man denkt, wenn die Rede auf alte und neue Formen der Auseinandersetzung wie Sängerwettstreit, Poetry Slam, literarisches Preisausschreiben oder European Song Contest kommt. Schon der Fortschrittsbegriff ist in der Literatur schwer zu handhaben. War Miltons Paradise Lost besser als Homers Odyssee? Waren William Wordsworths oder Walt Whitmans Gedichte besser oder auch nur komplexer als William Shakespeares Sonette, oder letzte besser als die Petrarkas? Die agonale Konkurrenz zwischen Milton und Homer besteht vermutlich nicht darin, dass Milton Homer verbessert, oder darin, dass er statt Homer verbindlich für die neuzeitliche »Weltauslegung« wird. Ihr Resultat ist 26 Ottmann 1999: 50. 27 Zur politischen Aktualisierung des Agon vgl. jüngst etwa Mouffe 2013. 28 Erst im 19. Jahrhundert, meint Burckhardt (1905 bzw. 1929/1985: 84 f.), werde das »Drama zum Geschäft […] wie jetzt der Roman und noch so vieles, das Literatur heißt«. Nietzsche konstatiert ähnlich: »Man sieht jetzt mehrfach die Kultur einer Gesellschaft im Entstehen, für welche das Handeltreiben ebensosehr die Seele ist, als der persönliche Wettkampf es für die ältern Griechen und als Krieg, Sieg und Recht es für die Römer waren. Der Handeltreibende versteht alles zu taxieren, ohne es zu machen, und zwar zu taxieren nach dem Bedürfnisse der Konsumenten, nicht nach seinem eigenen persönlichsten« (Nietzsche: Morgenröthe. In: Nietzsche 1954–1956: Bd. 1, 1131).
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vielmehr, dass es fortan Homer und Milton, dass es eine weitere Traverse in der literarischen Weltbeschreibung gibt. Die scheinbare Selbstverständlichkeit des Agonalen trügt noch in anderer, fundamentalerer Hinsicht. Moderne Literatur wird für gewöhnlich geschrieben, das heißt, die Mündlichkeit des verbalen Wettstreits ist verschwunden. »Verba volant, scripta manent«, lautet ein lateinisches Sprichwort. Dass der schreibende Platon über die sprechenden Dichter triumphiert, hat vermutlich mit diesem Wechsel in der Technologie des poetischen Worts zu tun. Darauf haben grundlegend Walter J. Ongs literaturwissenschaftliche und mentalitätsgeschichtliche Forschungen zur »Technologisierung des Worts« durch Schrift hingewiesen.29 Nach Ong ist Agonalität ein fester Bestandteil mündlicher Kulturen, in denen die leibhaftige Präsenz der Sprecher vor Ort, ihre Anpassung an konkrete Redesituationen und ihre Interaktion mit Zuhörern unabdingbar ist. Die Rede ist in lebensweltliche Auseinandersetzungen verflochten, ohne Sager und Gesagtes voneinander scheiden zu können.30 Agonal heißt danach, dass man spricht, um eine Behauptung im Vergleich zu halten und sich dabei der aktuell verfügbaren Mittel bedient, um eine Sache zu entscheiden, die nicht entschieden ist, worin es also eine Entscheidungslücke gibt, die zu besetzen ist. Es bedeutet auch, dass die Konkurrenten nicht zeitlich oder räumlich getrennt sind. Sie stehen mit minimaler zeitlicher und räumlicher Versetzung in einem synchronen Wettstreit miteinander und idealer Weise vor leidlich neutralen, zumindest überzeugbaren Juroren. Einen maßgeblichen solcher Wettbewerbe inszeniert Aristophanes in der Komödie Die Frösche, wobei hier schon ein poetisches Spiel mit dem Agon betrieben wird, dass ihn sowohl komödiantisch feiert als auch hintertreibt.31 Um 405 vor Christus lässt er zwei ältere Tragödiendichter, Aischylos und Euripides, gegeneinander vor Dionysos um die Dichterkrone antreten. Nach einem Wettkampf auch in gegenseitiger Beschimpfung (»Du Bühnenlumpensammler, Du Bettelbrutaushecker, Fetzenstückler!« schimpft Aischylos) wird die Bedeutung 29 Ong 1981. 30 Ong 1982/2003: 43–45. Man begegnet diesem Agonalem im weiteren und zugleich abgeschwächten Sinne mitunter in Konferenzpausen oder auf geselligen Veranstaltungen, wo die Kunst der Konversation praktiziert wird: »Conversation is an art in which a man has all mankind for his competitors, for it is that which all are practising every day while they live«, weiß Ralph Waldo Emerson in einem mittlerweile geflügelten Wort. Darüber hinaus sei auch auf die verschiedenen Rating-Instrumente bei elektronischen Gesprächsforen hingewiesen, wo verbale Äußerungen nach Beliebtheit sortiert werden. 31 Für eine detaillierte Diskussion des Stückes siehe Biles 2011.
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ihrer Worte schließlich mit der Waagschale abgemessen, wie Dionysos, der den Wettstreit richten will, verärgert meint: »So kommt, da ich zu guter Letzt wie Käs / Auswägen soll so großer Dichter Kunst!«32 Aber die Tragöden spielen mit unterschiedlichen Maßeinheiten wie dem »geflügelten Wort« oder dem physischen Gewicht der in den Versen beschriebenen Gegenstände wie zum Beispiel Streitwagen die objektive Waage aus, so dass Dionysos schlussendlich nach Gutdünken entscheiden muss. Wenn er sich so für Aischylos entscheidet, bleibt der künstlerische Streit zwischen den Tragöden offen. Vielmehr profitiert die Komödie des Aristophanes als buchstäblich lachende Dritte von dem Streit, indem sie zugleich Unsinn und Produktivität des Agon auf der Bühne unter Beweis stellt. Die Inszenierung des Wortwettstreits öffnet so verschiedene Ebenen der Auseinandersetzung: zwischen zwei Dichtern vor einer Jury, zwischen Urteilsinstanzen, aber auch zwischen der Komödie des Aristophanes und den Tragöden, die darin in parodistischer Manier vorgeführt werden. Was in dieser Komödie noch als zumindest im Ansatz faire Konkurrenz zwischen zwei Tragöden auf die Bühne gesetzt wird (um dann gleichwohl auf der Metaebene der Komödienhandlung hintergangen zu werden), erlaubt noch den Schluss, dass es sich in der agonalen Auseinandersetzung um die Konkurrenz zwischen Gleichberechtigten handelt. Diese Deutung des Agon ist jedoch zu optimistisch. Ein markantes Beispiel für einen Text, der die dunkleren Facetten des Agon würdigt, sind Publius Ovidius Nasus Metamorphosen, verfasst bereits im ersten Jahrzehnt unserer Zeit. Auch Ovid, so hat die Forschung längst angemerkt, steht bereits in einem dichterischen Wettstreit. Im »Spiel« mit der Gattung des Epos sowie in konkreter Abgrenzung gegen Vergil konkurriert er mit dem römischen Aeneas-Epos und singt – parodierend, digressiv und eben metamorph ein Epos auf Sittenverfall und göttliche Schandtaten.33 Unter dem lateinischen Namen des Agon (certamen) schildert Ovid in den Metamorphosen eine Reihe von Wettbewerben, in denen nur allzu häufig die Ungleichheit der Konkurrenten im Vordergrund steht. Menschen und Götter, Halbgötter und Götter stehen sich im nur scheinbar neutralen Rahmen des jeweiligen Metiers gegenüber, die Rangniederen unterliegen jedoch konsequent. Das ovidsche certamen bildet keine ideale Konkurrenz unter gleichen Bedingungen für die Teilnehmer, aber es schafft im Rahmen dieser Fiktion den Raum für ein frevelhaftes Aufbegehren gegen die Götter. Dass der Streit für die Herausforderer jedes Mal tragisch endet, ist eine Insignie von Macht, dass man sie überhaupt herausfordern kann, ein Zeichen ihrer Angreifbarkeit. 32 Aristophanes 405 vor unserer Zeitrechung/1845: 200. 33 Vgl. Latacz 1979.
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Neben den athletischen Wettkämpfen zwischen Apoll und Hyacinthus im Diskuswurf,34 dem Wettlauf zwischen Atalanta und Hippomenes35 sind unter den vielfältigen certamina auch einige musische Wettkämpfe. Beispielsweise fordert der Halbgott Pan mit der Flöte die Leier Appollons heraus, der Berggott Tmoleus wird zum Richter erkoren (und nimmt sich zu diesem Zweck den Wald aus den Ohren). Als Apollon zum Sieger gekürt wird, maßt sich der eigentlich unbeteiligte Midas an, das Urteil anzufechten und wird dafür – als Zeichen seiner mangelnden ästhetischen Urteilskraft – mit Eselsohren bestraft. Mangelndes Urteilsvermögen und mehr noch, Selbstüberhebung bilden die Themen eines weiteren Wettstreits, in welchem die neun Töchter von Pierus und Euhippe die neun Musen zum Gesangswettstreit herausfordern. Vor den Nymphen als Preisrichterinnen singt eine der Pieriden ein Schmählied auf die Götter, worauf Calliope als Vertreterin der Musen mit einem Lobgesang auf die Göttin Ceres antwortet. Als die Nymphen daraufhin die Musen zu Siegern küren, schmähen die Schwestern die Göttinnen und werden prompt in Elstern verwandelt. Sie werden zu »Spöttern des Waldes«, ausgezeichnet durch »krächzende Redseligkeit und endlos Verlangen zu schwatzen«.36 Es handelt sich um eine Verwandlung, die abermals die Unterlegenen zeichnen soll, deren Wort nunmehr bedeutungslos im Wald verklingt. Man bekommt es so, abstrakter gesagt, mit Gesängen zu tun, deren Meriten von ihrer unterschiedlich stark sanktionierten Institutionalisierung abhängen. Die Pieriden scheitern nicht, weil sie schlechter singen, sondern weil, wie Ovid es darstellt, ihre Version einen mythologischen Status untergräbt. Mit dem Agon existiert ein gefährlicher Ort, an dem es möglich ist, sich einen idealen Wettbewerb als in Burckhardts Sinne interesselos vorzustellen, zugleich zeigt Ovid wieder und wieder die damit verbundene, zwangsläufig zu Fall kommende Hybris der Herausforderer, die zwar ästhetisch, aber nie existentiell ihren Kontrahenten gewachsen sind. Der dritte musische Wettstreit aus den Metamorphosen, auf den es vor allem ankommen soll, spielt nicht im Metier des Gesangs oder der instrumentellen Musik, sondern der bildenden Kunst. Arachne, eine lydische Frau niederer Herkunft, fordert Minerva, die Göttin der Weisheit und des Handwerks, heraus. Beide weben jeweils einen Bildteppich um die Wette. Um sie herum stehen die neugierigen Frauen des Dorfes, denen Ovid allerdings keine Richterrolle zugesteht. Es wären also Juroren verfügbar gewesen, aber stattdessen soll Minerva als Mitbewerberin unfairer Weise selbst das Urteil sprechen. Minerva webt einen 34 Ovid um 5 nach Chr./1999: X, 175–189. 35 Ebd.: X, 560–707. 36 Ebd.: V, 294–678, hier: V, 678.
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Teppich, der die Meisterschaft der Götter rühmt. Er zeigt sie selbst im Wettbewerb mit Poseidon um die Schirmherrschaft Athens, weitere Bilder von Wettkämpfen zwischen Menschen und Göttern in den Ecken ihres Geflechts mahnen ihre Konkurrentin vor menschlicher Hybris. Arachne wirkt dem entgegen einen Teppich, der darstellt, wie unter anderen Jupiter sich mit List und Betrug menschlicher Frauen bemächtigt – darunter Leda, Europa, Danae. Die Kunst der beiden ist, wie Ovid heraushebt, ebenbürtig, dennoch wird die Göttin das Werk ihrer Herausforderin wegen ihres blasphemischen Inhalts in Stücke reißen – und sich damit selbst als unfaire Wettbewerberin brüskieren. Als Arachne, zugleich stolz auf und verdammt durch ihr Werk, sich daraufhin erhängen möchte, schreitet Minerva jedoch ein und verwandelt sie in eine Spinne. Noch ihr Abkömmling, Aragnoll, wird zum Spinnendasein verdammt, zum Weben von Netzen, in denen sich eitle Kreaturen verfangen sollen.37 Die Arachne-Episode ist in verschiedener Hinsicht wichtig, nicht nur, weil in ihr ein bis in die Moderne prägendes Bild des Künstlers bzw. der Künstlerin gezeichnet wird. Minerva ist unter anderem ja auch – in ihrer griechischen Gestalt der Ἀθηνᾶ Εργάνη – die Patronin der Künste und die Webkunst ein altes Bild der Poesie: da Textur und Textil, hier der Text. Die Weberin, die sie zum Wettkampf fordert, misst sich also zwangsläufig mit den Grenzen ihrer Kunst. Die agonale Konkurrenz sucht den Affront mit der eigenen Kunst, trotz aller Einflussangst, das wäre die Tragik der Avantgarde. Notwendig also ist der Wettbewerb verzerrt. Indem Minerva sich auf ihrem Teppich im Wettstreit mit Poseidon um die Schirmherrschaft Athens abbildet, gibt sie zwar einen Modellfall für einen fairen Wettstreit inter pares vor. Nur, wie Arachnes Schicksal belegt, erweist sich dieses neutrale Terrain als eine Fiktion, denn tatsächlich gebietet auch hier unerbittlich und trotz aller Kunst göttliche Macht, der Arachne trotz aller Kunst nichts entgegenzusetzen hat als den eigenen Tod, doch wird noch dieser ihr verweigert. Verfolgt man das Arachne-Motiv in das späte Mittelalter und die frühe Neuzeit, fällt auf, dass anders als bei Ovid die Ambivalenz zwischen selbstermächtigtem Schöpfergeist und neidischer Eitelkeit getilgt wird. Für Geoffrey Chaucer wird Arachne zur Figur der Eitelkeit und des Stolzes, nicht mehr der selbstermächtigten Künstlerin. Ebenso verfährt Spenser, der in dem Gedicht »Muipotmos, or The Fate of the Butterfly« (1591) die Kunst Arachnes bewundert. Doch statt sie dem eitlen Zorn der Göttin auszusetzen, vergiftet sie sich darin an ihrem eigenen Neid.38 Doch ebenso gern, zumal in Moderne und Nachmoderne, wird 37 Ebd.: VI, 1–145. 38 Die poetologische Dimension von Muipotmos diskutiert Rustici 1999.
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dieser Mythos umgelesen. Denn, darauf weist die amerikanische Lyrikerin A.E. Stallings in dem großartigen Gedicht »Arachne Gives Thanks to Athena« hin: »It is no punishment. They are mistaken – / […] Nothing was perfect: / What I had woven, the moths will have eaten; / At the end of my rope was a noose’s knot. / Now it’s no longer the thing, but the pattern, / And that will endure, even though webs be broken«.39 Was bleibt vom Streit, ist dieser Version nach eine Kunst, die sich von der Vergänglichkeit des Artefakts befreite. Bücherschlacht Bemerkenswert hinsichtlich des Agon ist die Arachne-Episode aber auch wegen eines Arguments, das an den scheinbaren Rändern der Handlung wuchert. In der Beschreibung des Webe-Wettstreits fällt ein für das Thema wesentliches Wort. Arachne webt unter anderem »Blumen, mit Efeugerank unterwoben«, in Latein: »nexilibus flores hederis habet intertextos«. Marko Juvan hat in seiner Geschichte der Intertextualitätstheorie eindringlich auf diese Passage hingewiesen, um die Umstellung einer intersubjektiven (phallischen) Theorie der Einflussangst zu einer (feministischen) Theorie von Beziehungen zwischen Texten unter (beispielsweise patriarchalen) Machtgefügen zu illustrieren.40 Aber wir können diesen Hinweis ebenso gut auf historische oder auf sprachpolitische Relationen anwenden. Dies wäre dann die poetische Konkurrenz der Bücherschlacht, ein Motiv, das Joachim Hölter hinreichend unter diesem Titel beschrieben hat41 und das als abschließendes Beispiel für intertextuelle historische Konkurrenz kurz geschildert werden muss. Es ist tröstlich, dass die Schlacht wenigstens genau datiert ist: Sie wurde letzten Freitag in der St. James Library ausgefochten, glaubt man Jonathan Swift. Swifts satirische Fabel A Full and True Account of the Battel of Books Fought last Friday Between the Antient and the Modern Books in St. James’s Library (1704) bezieht sich auf die seinerzeit nicht mehr schwelende, sondern lodernde Querelle des Anciens et des Modernes und zeichnet moderne europäische Autoren des 17. Jahrhunderts gegen ihren antiken Hintergrund. Die Querelle ist von der Paradoxie der Neuzeit getrieben, die einerseits antike Ideale anstrebt, andererseits den Anspruch hegt, in deren Vervollkommnung die Originalität der modernen 39 Stallings 1999: 43. 40 Juvan 2008: 12 f. 41 Hölter 1995. Die Bücherschlacht Jonathan Swifts beschreibt ausführlich Hermann Josef Real (1978), dessen Ausgabe und Kommentar für die folgenden Absätze grundlegend sind.
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Autoren zu begründen. Entsprechend streiten bei Swift alte und neue Autoren um die Höhen des Parnass. Bezeichnenderweise lauert Arachne in einer Fensterecke der Bibliothek, die das Schlachtfeld abgibt. Während zwischen Alten und Neuen das Scharmützel beginnt, streitet sie am Rande des Getümmels mit einer Biene, die ihr das Netz zerrissen hatte. Erwartungsgemäß posiert die Spinne als Vertreter der Modernen, während die Biene sich als »antient« geriert. Anders als die streunende Biene, die vom »Plunder upon Nature« lebe, beansprucht die Spinne, in einer von ihr selbst errichteten, mathematisch geplanten Burg zu wohnen. Dem hält die Biene entgegen, dass sie ihre Musik wohl von den Blüten gewinnt, aber nicht zu deren Schaden. Und sie fragt, ob es nicht besser wäre, statt in der Kontemplation der eigenen, aus giftigen und schmutzigen Sekreten errichteten vier Wände, durch weite Expeditionen, Studium der Natur und geschultes Urteilsvermögen Honig und Wachs zu produzieren. Nach dieser Replik fliegt die Biene zum nächsten Honigfeld und lässt die Spinne zurück. Es ist Äsop, der in diesem Wortwechsel die Parallelen zur Querelle erkennt, und daraufhin entspinnt sich das Scharmützel zwischen den alten und neuen Autoren vollends zur Schlacht. Aristoteles schießt auf Bacon, trifft aber Descartes; Homer vernichtet die Dichter Gondibert, Denham, Wesley, Perrault und Fontenelle; Vergil möchte Dryden erschlagen, wird von diesem aber beschwatzt; und so fort mit dem Getümmel, von dem wir leider nicht wissen, wie es entschieden wurde. Jupiter, der das Treiben vom Olymp beobachtet, hat wohl im Buch des Schicksals gelesen, wie die Schlacht ausgeht, aber das Buch zugeschlagen, ehe Andere hineinschauen konnten. Auch der Erzähler gibt vor, von diesem Streit der Gegenwart mit ihrer Geschichte nur einen unvollständigen Report zu besitzen, der Kriegsbericht endet mit einer Reihe von Asterisken, die um den metatextuellen Kommentar »Desunt nonnulla« gruppiert sind – einige Teile fehlen also, der Ausgang der Schlacht bleibt offen, aber ebenso offen bleibt damit die Konkurrenz, die die Dichter und Gelehrten während des europäischen Klassizismus umtreibt.42 Noch ruht sie in der Romantik, wie die Bücherschlacht des amerikanischen Autors Washington Irvings belegt. Von ihm stammt die diesbezüglich ausgesprochen pointierte Erzählung »The Art of Book-Making«, ein Teil seines zuzeiten auch in Europa immens populären und in vielerlei Sprachen übersetzten The Sketch-Book of Geoffrey Crayon.43 Geoffrey Crayon, die von Irving erfundene 42 Zur weiteren Fortführung der Bücherschlacht siehe Hölter 1995. 43 Diese habe ich anderswo bereits detaillierter beschrieben. Siehe zu weiterführender Literatur und Diskussion Richter 2004.
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amerikanische Erzählerfigur, beobachtet darin, wie britische Autoren im Lesesaal der British Library ihre Texte produzieren. Es sind, wie er feststellt, Jäger, die, Wilddieben gleich, sich aus den Bücherregalen versorgen, um den modernen literarischen Markt bedienen zu können. Was Harold Bloom als misreading, als kreative Fehllektüre fasst, bezeichnet Irving hier – noch unbeleckt von Sigmund Freud und ödipaler Psychoanalyse – als metempsychosis, als Wiederentstehung von Tradition in neuer Form: »What was formerly a ponderous history revives in the shape of a romance – an old legend changes into a modern play – and a sober philosophical treatise furnishes the body for a whole series of bouncing and sparkling essays«.44 Die Konkurrenz zwischen Alten und Modernen scheint in dieser organischen Metapher befriedet. Harold Bloom um 150 Jahre vorweg nehmend ist Irving klar, dass jede Generation fortwährend von ihren jeweiligen Vorläufern stiehlt, ja stehlen muss: »Thus also do authors beget authors, and having produced a numerous progeny, in a good old age they sleep with their fathers; that is to say, with the authors who preceded them – and from whom they have stolen«.45 Dies ist für Crayon der natürliche Lauf der Dinge, er vergleicht es mit der Rodung eines stattlichen Nadelwaldes, nach der schon bald kleine Eichen sprießen und aus jedem modernden Stumpf büschelweise Pilze schießen.46 Oder, mit Bloom: »Die mächtigen Toten kehren wieder, aber sie kommen in unseren Farben und sprechen mit unseren Stimmen«.47 Doch endet das Geschehen eben nicht an dieser Stelle. Sitzend in einer Ecke des Lesesaals, das emsige Treiben beobachtend, schlummert Crayon ein und beginnt zu träumen. Im Traum verwandeln sich die gestohlenen Texte in die Textilien, die die Autoren am Leibe tragen. Im Traum auch entsteigen dann die alten Autoren den Portraits, die die Wände der Galerie säumen, und beginnen sodann, sich ihre geraubten Kleider zurückzuholen. Die entblößten Leiber der Modernen lassen Crayon laut auflachen, ein Lachen, welches die Illusion und die Ruhe des Lesesaals stört. Er wird, als amerikanischer Tourist ohne Eintrittskarte von den Bibliothekaren aus dem Heiligtum der britischen Literatur hinausgeworfen. Die Querelle zwischen Moderne und Tradition wird übersetzt in eine national gefärbte literarische Auseinandersetzung, die die amerikanische Literatur des frühen 19. 44 Ebd. 45 Irving 1819/1906: 125. 46 Ebd.: 126: »Thus it is in the Clearing of our American woodlands; where we burn down a forest of stately pines, a progeny of dwarf oaks start up in their place, and we never see the prostrate trunk of a tree, mouldering into soil, but it gives birth to a whole tribe of fungi«. 47 Bloom 1995: 125.
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Jahrhunderts prägen wird. Aus der befriedeten Konkurrenz wächst eine Neue. »Sing me a song no poet yet has chanted«, singt Walt Whitman, und an diesem Zwist hat sich seither – seit Shakespeare mindestens: »So all my best is dressing old words new« – wenig geändert.
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Autorinnen und Autoren
TOBIAS TEN BRINK, PD Dr., Studium der Politologie an der Goethe-Universität Frankfurt. Von 2003 bis 2007 Doktorand am Institut für Sozialforschung in Frankfurt/M. 2007 an der Goethe-Universität promoviert mit einer Arbeit über das internationale Staatensystem. Von 2009 bis 2012 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung. 2012 an der GoetheUniversität habilitiert mit einer Arbeit über den chinesischen Kapitalismus. Gastaufenthalte unter anderem am MIT in Cambridge und als Theodor Heuss Lecturer an der New School for Social Research in New York. Forschungsschwerpunkte: Vergleichende und Internationale Politische Ökonomie; Vergleichende Schwellenländerforschung; China und Ostasien; Staat, Governance und Staatensystem; Kritische Theorie. HANS DIEFENBACHER, Prof. Dr., Studium der Volkswirtschaftslehre in Heidelberg und Freiburg, Promotion und Habilitation in Kassel. Stellvertretender Leiter der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft e.V. in Heidelberg, apl. Prof. für Volkswirtschaftslehre am Alfred-Weber-Institut der Universität Heidelberg. Forschungsschwerpunkt: Verhältnis von Ökonomie und Ökologie, Indikatoren nachhaltiger Entwicklung und alternative Wohlfahrtsmessung, Globalisierung und lokale/regionale Ökonomie. HANS-MICHAEL EMPELL, Dr., 1963–1966 Ausbildung zum Diplom-Bibliothekar für den Dienst an wissenschaftlichen Bibliotheken an der Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, danach Studium der Rechtswissenschaft an der GeorgAugust-Universität Göttingen. 1987 Promotion über ein völkerrechtliches Thema (»Die Kompetenzen des UN-Menschenrechtsauschusses im Staatenberichtsverfahren«). Seit 1987 Tätigkeit als Bibliothekar, später auch als Mitglied des Arbeitsbereichs Frieden und Nachhaltige Entwicklung an der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft e.V. in Heidelberg. Arbeitsschwerpunkte: Inter-
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nationaler Menschenrechtsschutz und Humanitäres Völkerrecht. Seit einigen Jahren auch Publikationen zur Rechtsgeschichte, insbesondere zum Römischen Recht. PETER IMBUSCH, Prof. Dr., seit 2010 Professor für Politische Soziologie an der Bergischen Universität Wuppertal. Studium der Soziologie, Politikwissenschaft, Volkswirtschaftslehre und Sozial- und Wirtschaftsgeschichte an der PhilippsUniversität Marburg. Promotion mit einer Arbeit über die Auswirkungen der Verschuldungskrise auf die Sozialstrukturen in Lateinamerika (1990). Wissenschaftliche Tätigkeit an den Universitäten Mainz und Marburg. Habilitation über das Thema »Moderne und Gewalt« (2000). Professuren und Gastdozenturen an den Universitäten Marburg, Bielefeld und Fribourg. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Macht und Herrschaft, Konflikt- und Gewaltforschung, Sozialstrukturanalyse und soziale Ungleichheit, soziologische Theorie, Entwicklungssoziologie. THOMAS KIRCHHOFF, Dr., Studium der Landschaftsplanung und Philosophie an der Technischen Universität Berlin. Von 2000 bis 2010 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Landschaftsökologie der Technischen Universität München. Dort 2006 promoviert mit einer Arbeit über konkurrierende Theorien ökologischer Gesellschaften und über den Einfluss von Konzeptionen menschlicher Individualität bzw. Vergesellschaftung auf die Theoriebildung in der Ökologie. Seit 2010 wissenschaftlicher Mitarbeiter im Arbeitsbereich Theologie und Naturwissenschaft an der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft e.V. in Heidelberg. Dort Leitung einer naturphilosophischen Arbeitsgruppe. Forschungsschwerpunkt: lebensweltliche und wissenschaftliche Naturauffassungen, insbesondere Theorie der Ökologie, Theorie der Landschaft und Wildnis, Biodiversitätskonzepte, Theorie des Umwelt- und Naturschutzes, Theorien des Mensch-Natur-Verhältnisses, Naturethik. THORSTEN MOOS, Dr., Studium der Theoretischen Physik und der Evangelischen Theologie an der Universität Regensburg, der Freien und der HumboldtUniversität Berlin sowie der Martin-Luther-Universität Halle (Saale). Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Sonderforschungsbereich »Institutionalität und Geschichtlichkeit« (Dresden). Promoviert zum Dr. theol. mit einer Arbeit zu Staatszweck und Staatsaufgaben in protestantischen Ethiken des 19. Jahrhunderts (2006). 2005 bis 2010 Studienleiter an der Evangelischen Akademie SachsenAnhalt; seit 2010 Leiter des Arbeitsbereichs Religion, Recht und Kultur an der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft e.V. in Heidelberg. Forschungsschwerpunkte: Bio- und Medizinethik; Grundfragen theologischer Ethik; der Krankheitsbegriff als Thema der Theologie; Theologie und Recht.
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JULIA PFITZNER, M.P.H., hat Nonprofit-, Sozial- und Gesundheitsmanagement am Management Center Innsbruck (B.A.), Medizinisches Prozessmanagement an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (M.Sc.) und Public Health an der Charité Berlin (M.P.H) studiert. Seit 2012 ist sie in verschiedenen Beratungsfirmen im Medizinsektor tätig. Ihr Schwerpunkt liegt auf öffentlichprivaten Kooperationsmodellen im Gesundheitswesen. TILMAN REITZ, Prof. Dr., Studium der Philosophie, Soziologie und Kunstgeschichte in Berlin und Heidelberg. Promotion 2001 in Heidelberg mit einer Arbeit über »Bürgerlichkeit als Haltung. Zur Politik des privaten Weltverhältnisses«. 2002 bis 2007 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie der Universität Jena, seit 2009 Juniorprofessor für Wissenssoziologie am Jenaer Institut für Soziologie. 2013 Habilitation in Jena, Venia Legendi für Philosophie und Soziologie. Forschungsschwerpunkte: Soziologie der Geistes- und Sozialwissenschaften, Politische Philosophie und Ideologiekritik, Ästhetik und Kultursoziologie. JÖRG THOMAS RICHTER, Dr., studierte Amerikanistik, Anglistik und Philosophie in Dresden und Columbus, Ohio. 2003 Promotion in Dresden mit einer Arbeit zum amerikanischen Roman in der Frühen Republik. Von 1998 bis 2002 war er wissenschaftliche Hilfskraft in der Amerikanistik der Technischen Universität Dresden, von 2004 bis 2007 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der FriedrichSchiller-Universität Jena. 2008 wechselte er an das Zentrum für Literatur- und Kulturforschung Berlin, wo er bis 2014 in kulturwissenschaftlichen Projekten zum demografischen Wandel und zur Molekularbiologie arbeitete. Sein wissenschaftliches Interesse galt hier wie da den in Neuzeit, Romantik, Moderne und Gegenwart ersonnenen Fügungen zwischen Leib, Körper und Kultur vor allem im angel-sächsischen Schreibraum. Gegenwärtig unterrichtet er englische Sprache als Oberschullehrer in der Sächsischen Schweiz und dem Osterzgebirge. DOROTHEE RODENHÄUSER, M.A., Studium der Politikwissenschaft und Volkswirtschaftslehre an den Universitäten Heidelberg und Lausanne. Seit 2010 wissenschaftliche Mitarbeiterin im Arbeitsbereich Frieden und Nachhaltige Entwicklung der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft e.V. in Heidelberg. Forschungsschwerpunkte: Indikatoren nachhaltiger Entwicklung und alternative Wohlfahrtsmessung, Informationssysteme zur Unterstützung sozial-ökologischer Transformationsansätze, Klimaschutz. ROLF SCHIEDER, Prof. Dr., Studium der evangelischen Theologie in Neuendettelsau, Göttingen und München. 1986 promoviert an der Ludwig-Maximilians-
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Universität München. 1992 bis 1994 DFG-Habilitationsstipendiat und 1994 Habilitation im Fach evangelische Theologie in München. Berufung auf die Professur für Religionspädagogik und Religionsdidaktik an der Universität KoblenzLandau, die er von 1994 bis 2002 innehatte. Seit 2002 Professor für Praktische Theologie und Religionspädagogik an der Humboldt-Universität zu Berlin. Forschungsschwerpunkte: Religionspolitik; religiöse Bildung. MAGNUS SCHLETTE, PD Dr., Studium der Philosophie und Soziologie an der Freien Universität Berlin, in Kiel und in Frankfurt/M. Promotion 2003 in Philosophie an der Goethe-Universität in Frankfurt/M. mit einer historisch-systematischen Arbeit zu Entstehungsbedingungen und Struktur narrativer Selbstverhältnisse. Habilitation 2010 am Max-Weber-Kolleg für kultur- und sozialwissenschaftliche Studien der Universität Erfurt mit einer Arbeit zur Idee der Selbstverwirklichung. 2012/13 Professurvertretung für Philosophische Anthropologie an der HumboldtUniversität zu Berlin, 2013/14 Fellow für Religionsphilosophie am Käte-Hamburger-Kolleg »Dynamics in the History of Religions« der Ruhr-Universität Bochum, 2014/15 Fellow am Marsilius-Kolleg der Universität Heidelberg. Magnus Schlette ist Referent für Philosophie und Leiter des Arbeitsbereichs Theologie und Naturwissenschaft an der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft e.V. in Heidelberg und Privatdozent für Philosophie am Philosophischen Seminar der Universität Erfurt. Forschungsschwerpunkte: Philosophische Anthropologie und Sozialphilosophie, Hermeneutik und Ästhetik, Kultur- und Religionsphilosophie. REINHARD SCHULZ, Prof. Dr., Studium der Biologie, Philosophie und Soziologie an der Universität Bielefeld. 1984 Promotion in Molekularbiologie an der Universität Bremen; 1985 zweites Staatsexamen für das Gymnasiallehramt; seit 1997 Geschäftsführer der »Karl Jaspers Vorlesungen zu Fragen der Zeit« an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg; 2000 Habilitation in Philosophie; seit 2006 apl. Prof. am Institut für Philosophie für die Fachdidaktik der Philosophie sowie Werte und Normen; seit 2010 Antragsteller und Mitglied des DFG-Graduiertenkollegs »Selbst-Bildungen. Praktiken der Subjektivierung in historischer und interdisziplinärer Perspektive«; seit 2012 Mitherausgeber einer von der Heidelberger Akademie der Wissenschaften initiierten Karl Jaspers Gesamtausgabe (KJG) im Schwabe Verlag und seit 2015 Arbeitsstellenleiter der Kommission »Jaspers Edition« der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen; seit 2014 Direktor des Didaktischen Zentrums der Universität Oldenburg, seit 2015 Mitwirkung im VW-Nachhaltigkeitsprojekt »Reflexive Responsibilisierung«. Forschungsschwerpunkte: Naturphilosophie, Hermeneutik, Anthropologie, Subjektivierungs-, Bildungs- und Jaspersforschung.
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GEORG TOEPFER, PD Dr., Studium der Biologie (Diplom) in Würzburg und Buenos Aires sowie der Philosophie in Würzburg und Hamburg. In Hamburg 2002 Promotion in Philosophie mit einer Arbeit über Naturteleologie: »Zweckbegriff und Organismus. Über die teleologische Beurteilung biologischer Systeme« (publiziert Würzburg 2004). Anschließend Lehrbeauftragter am Philosophischen Seminar der Universität Hamburg sowie am Kulturwissenschaftlichen Seminar und am Institut für Philosophie der Humboldt-Universität zu Berlin. Von 2005 bis 2011 wissenschaftlicher Mitarbeiter des Berliner Sonderforschungsbereichs 644 »Transformationen der Antike«. Seit 2012 Leiter des Forschungsbereichs »LebensWissen« am Berliner Zentrum für Literatur- und Kulturforschung (ZfL). 2014 Habilitation in Philosophie in Bamberg (Habilitationsschrift: »Historisches Wörterbuch der Biologie«). Forschungsschwerpunkte: Wissenschaftsgeschichte und Philosophie der Biologie. MARKUS VOGT, Prof. Dr., Studium der Theologie und Philosophie in München, Jerusalem und Luzern, 1992 bis 1995 wissenschaftlicher Mitarbeiter im Sachverständigenrat für Umweltfragen der Bundesregierung, 1997 bis 2007 Lehrstuhl Christliche Sozialethik und Leitung der Clearingstelle Kirche und Umwelt in Benediktbeuern, seit 2007 Lehrstuhl für Christliche Sozialethik der LudwigMaximilians-Universität München, seit 2009 Sprecher der Arbeitsgemeinschaft Sozialethik im deutschsprachigen Raum, seit 2010 Permanent Fellow am Rachel Carson Center for Environment and Society, seit 2013 Prodekan der KatholischTheologischen Fakultät der LMU. Forschungsschwerpunkte: Ethische Grundlegung (Gerechtigkeit, Verantwortung, »Theologie der Sozialethik«), Umweltethik (Nachhaltigkeit, Klimawandel, Technikfolgenabschätzung), Wirtschaftsethik (Globalisierung, Soziale Marktwirtschaft, Sozialstaat). A. KATARINA WEILERT, Dr., Studium der Rechtswissenschaft an der Freien Universität Berlin sowie Masterstudiengang am University College in London. Rechtsreferendariat in Berlin und wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bundestag. Promotion an der Freien Universität Berlin (»Grundlagen und Grenzen des Folterverbotes in verschiedenen Rechtskreisen«). Seit 2007 wissenschaftliche Mitarbeiterin im Arbeitsbereich Religion, Recht und Kultur an der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft e.V. in Heidelberg. Dort Leitung einer Arbeitsgruppe zur Gesundheitsfürsorge (2011–2014). Weitere Forschungsschwerpunkte: Verfassungsrecht, Völkerrecht, Menschenrechte, Fragen an der Schnittstelle zwischen Recht und Ethik sowie Politikberatung.
Edition Kulturwissenschaft Kathrin Ackermann, Christopher F. Laferl (Hg.) Kitsch und Nation Zur kulturellen Modellierung eines polemischen Begriffs August 2015, ca. 230 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2947-7
Gabriele Brandstetter, Bettina Brandl-Risi, Kai van Eikels Szenen des Virtuosen August 2015, ca. 328 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1703-0
Gabriele Brandstetter, Maren Butte, Kirsten Maar (Hg.) Topographien des Flüchtigen: Choreographie als Verfahren Juli 2015, ca. 340 Seiten, kart., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2943-9
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Edition Kulturwissenschaft Werner Hennings, Uwe Horst, Jürgen Kramer Die Stadt als Bühne Macht und Herrschaft im öffentlichen Raum von Rom, Paris und London im 17. Jahrhundert September 2015, ca. 270 Seiten, kart., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2951-4
Gudrun M. König, Gabriele Mentges, Michael R. Müller (Hg.) Die Wissenschaften der Mode Mai 2015, 224 Seiten, kart., 24,99 €, ISBN 978-3-8376-2200-3
Elisabeth Mixa, Sarah Miriam Pritz, Markus Tumeltshammer, Monica Greco (Hg.) Un-Wohl-Gefühle Eine Kulturanalyse gegenwärtiger Befindlichkeiten Oktober 2015, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2630-8
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Edition Kulturwissenschaft Michael Bachmann, Asta Vonderau (Hg.) Europa – Spiel ohne Grenzen? Zur künstlerischen und kulturellen Praxis eines politischen Projekts August 2015, ca. 270 Seiten, kart., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2737-4
Andreas Bihrer, Anja Franke-Schwenk, Tine Stein (Hg.) Endlichkeit Zur Vergänglichkeit und Begrenztheit von Mensch, Natur und Gesellschaft Juli 2015, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2945-3
Insa Härtel Kinder der Erregung »Übergriffe« und »Objekte« in kulturellen Konstellationen kindlich-jugendlicher Sexualität (unter Mitarbeit von Sonja Witte)
Yuichi Kimura, Thomas Pekar (Hg.) Kulturkontakte Szenen und Modelle in deutsch-japanischen Kontexten (unter Mitarbeit von Mechthild Duppel-Takayama) Januar 2015, 372 Seiten, kart., zahlr. Abb., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-2739-8
Alfrun Kliems Der Underground, die Wende und die Stadt Poetiken des Urbanen in Ostmitteleuropa Januar 2015, 380 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2574-5
Heike Klussmann, Nicolai Kudielka, Lessano Negussie, Andre May (Hg.) MS IM-PORT//EX-PORT – Ein Schiff für Kunst und Wissenschaft in Kassel Eine Dokumentation
Januar 2015, 338 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2884-5
Februar 2015, 286 Seiten, kart., zahlr. farb. Abb., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2934-7
Andreas Hartmann, Oliwia Murawska (Hg.) Representing the Future: Zur kulturellen Logik der Zukunft
Elke Schumann, Elisabeth Gülich, Gabriele Lucius-Hoene, Stefan Pfänder (Hg.) Wiedererzählen Formen und Funktionen einer kulturellen Praxis
April 2015, 238 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3015-2
Ralf Junkerjürgen, Isabella von Treskow (Hg.) Amok und Schulmassaker Kultur- und medienwissenschaftliche Annäherungen April 2015, 258 Seiten, kart., 27,99 €, ISBN 978-3-8376-2788-6
Juli 2015, ca. 300 Seiten, kart., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2851-7
Kirsten Staudt Strategien des Gehörtwerdens Der Völkermord an den Armeniern als Politikum: ein deutschfranzösischer Vergleich Juni 2015, ca. 360 Seiten, kart., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3075-6
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