Popkultur und Fernsehen: Historische und ästhetische Berührungspunkte [1. Aufl.] 9783839429037

The close interaction between the two media of television and pop aesthetics has so far been neglected by research. Even

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German Pages 322 Year 2015

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Table of contents :
Inhalt
Popkultur im Fernsehen – Fernsehen in der Popkultur. Eine Einleitung
I. POP | TV | ÄSTHETIK
›The Most Popular Art‹. Popkultur, Fernsehen und die Anfänge der Medienwissenschaft
›Cherchez la femme!‹. Anmerkungen zur literarischen Ikonografie des frühen Spiegel und zur Popularisierung literarischer Hochkultur im jungen deutschen Fernsehen
15 Minutes of Fame. Andy Warhol als Superstar seines Popkosmos
Expressive Subjekte vor der Kamera. Zur Relativität von Kunst, Ausstellung und Massenmedien um 1970
Performativität und Format. Anmerkungen zu Christoph Schlingensiefs Fernseharbeiten
TV-Marken als Strategien in der Popularkultur. Das Beispiel Berlin – Tag & Nacht
II. POP | KULTUR | AKTEURE
Autoren im Dschungelcamp oder: »Warum habe ich weniger Minuten als der Pornostar?«. Anmerkungen zur Fernsehinszenierung von Autoren
Refus aus Kalkül?! Zu Christian Krachts Fernsehauftritten
»Oder ist das Fernsehen schon wirklicher als wie die Wirklichkeit?« Rainald Goetz’ popästhetische Inszenierung im Fernsehen
Guru. Superstar. Nickelbrillen-Esoteriker. Über die Hermann-Hesse-Konstruktionen in den Fernsehportraits zum 50. Todestag
»Wegen dem sogenannten Popolare sorgen sie nichts«. Zum Mozart-Bild in der Animationsserie Little Amadeus
III. TV | GENRE |POP
»Die wirkliche Welt auf wirklichen Bildschirmen«. Fernsehen in Andreas Neumeisters Angela Davis löscht ihre Website
»TV-Glotzer«. Überlegungen zu Popfeminismus und Fernsehen
»Man füllt also irgendwie fünf Minuten Bühnenzeit« Zur Entwicklung des Poetry Slams unter dem Einfluss des Fernsehens im deutschsprachigen Raum
Popmusik und Fernsehen. Exemplarische Untersuchung öffentlich-rechtlicher Fernsehsender und popmusikalischer Inhalte
INTERVIEW
Zur Not auch die ZDF-Hitparade. Ein Gespräch über Popmusik und Fernsehen in Deutschland
Autorinnen und Autoren
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Popkultur und Fernsehen: Historische und ästhetische Berührungspunkte [1. Aufl.]
 9783839429037

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Stefan Greif, Nils Lehnert, Anna-Carina Meywirth (Hg.) Popkultur und Fernsehen

Edition Medienwissenschaft

2015-05-26 15-11-18 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 01bc399045283998|(S.

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4) TIT2903.p 399045284006

2015-05-26 15-11-18 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 01bc399045283998|(S.

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Stefan Greif, Nils Lehnert, Anna-Carina Meywirth (Hg.)

Popkultur und Fernsehen Historische und ästhetische Berührungspunkte

2015-05-26 15-11-18 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 01bc399045283998|(S.

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2015-05-26 15-11-18 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 01bc399045283998|(S.

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Inhalt

Popkultur im Fernsehen – Fernsehen in der Popkultur

Eine Einleitung Stefan Greif, Nils Lehnert und Anna-Carina Meywirth | 9

I P OP |TV|ÄSTHETIK ›The Most Popular Art‹

Popkultur, Fernsehen und die Anfänge der Medienwissenschaft Helmut Schanze | 27 ›Cherchez la femme!‹

Anmerkungen zur literarischen Ikonografie des frühen Spiegel und zur Popularisierung literarischer Hochkultur im jungen deutschen Fernsehen Ralf Schnell | 39 15 Minutes of Fame

Andy Warhol als Superstar seines Popkosmos Stefan Greif | 55 Expressive Subjekte vor der Kamera

Zur Relativität von Kunst, Ausstellung und Massenmedien um 1970 Kai-Uwe Hemken | 71 Performativität und Format

Anmerkungen zu Christoph Schlingensiefs Fernseharbeiten Bernd Maubach | 91 TV-Marken als Strategien in der Popularkultur

Das Beispiel Berlin – Tag & Nacht Achim Barsch | 107

II P OP|KULTUR|AKTEURE Autoren im Dschungelcamp oder: »Warum habe ich weniger Minuten als der Pornostar?«

Anmerkungen zur Fernsehinszenierung von Autoren Peter Seibert | 123 Refus aus Kalkül?!

Zu Christian Krachts Fernsehauftritten Nils Lehnert | 133 »Oder ist das Fernsehen schon wirklicher als wie die Wirklichkeit?«

Rainald Goetz’ popästhetische Inszenierung im Fernsehen Julia Pater | 167 Guru. Superstar. Nickelbrillen-Esoteriker.

Über die Hermann-Hesse-Konstruktionen in den Fernsehportraits zum 50. Todestag Alfonso Meoli | 189 »Wegen dem sogenannten Popolare sorgen sie nichts«

Zum Mozart-Bild in der Animationsserie Little Amadeus Andreas Wicke | 211

III TV|GENRE|P OP »Die wirkliche Welt auf wirklichen Bildschirmen«

Fernsehen in Andreas Neumeisters Angela Davis löscht ihre Website Anna-Carina Meywirth | 227 »TV-Glotzer«

Überlegungen zu Popfeminismus und Fernsehen Anna Seidel | 243 »Man füllt also irgendwie fünf Minuten Bühnenzeit«

Zur Entwicklung des Poetry Slams unter dem Einfluss des Fernsehens im deutschsprachigen Raum Max Dorn | 265

Popmusik und Fernsehen

Exemplarische Untersuchung öffentlich-rechtlicher Fernsehsender und popmusikalischer Inhalte Kristina Flieger | 283

I NTERVIEW Zur Not auch die ZDF-Hitparade

Ein Gespräch über Popmusik und Fernsehen in Deutschland Markus Kavka und Christoph Jacke | 303

Autorinnen und Autoren | 315

Popkultur im Fernsehen – Fernsehen in der Popkultur Eine Einleitung S TEFAN G REIF , N ILS L EHNERT UND A NNA -C ARINA M EYWIRTH Die stärkste aller populären Mächte aber ist der Bildschirm […]. STEENBLOCK (2010)

Abgesehen von den MTV- und VIVA-Clips gehört Popkultur im Fernsehen zu den ebenso wenig erforschten Aspekten der TV-Geschichte der letzten 60 Jahre wie die Erforschung und Reflexion des Fernsehens aus popästhetischer Perspektive. Dazu mag beigetragen haben, dass sich Fernsehen und Pop hierzulande fast zeitgleich etablieren und beide fortan als ›Billigmedien‹ gelten, die sich gegen avanciertere und (vermeintlich) ›anwenderbezogenere‹ Medien wie das Radio oder (später) das Internet nicht zu behaupten vermögen. Doch die noch heute populäre Gleichung, Pop und TV seien jeweils ›Mainstream‹, das Internet hingegen – bis NSA jedenfalls – ein avantgardistischer Freiraum, greift ebenfalls zu kurz, denn seit den 1990er Jahren nutzen mediensozialisierte und medienversierte (Pop-)Literaten und Künstler das Fernsehen vermehrt für eigene Inszenierungsstrategien, die ganz bewusst an teils bildungsaffine, teils popkulturelle Formen der Kunstvermittlung anknüpfen, diese gezielt in ihrer jeweiligen Überholtheit bloßstellen oder sie im Dienste transmedialer Verbreitungsformen weiterentwickeln. Darüber hinaus wird das TV in der Popkultur in unterschiedlichster Weise thematisiert, reflektiert und kritisiert und beispielsweise in Form von Installationen zum Gegenstand der Kunst. Während kulturkonservative Kritiker in dieser Annäherung eine Bestätigung ihrer Vorbehalte dem Pop und dem Fernsehen gegenüber sehen, verbindet sich mit ihr der Anspruch, die ohnehin marode ›Hochkultur‹ mit ihren eigenen Waffen zu schlagen und via TV durch eine Pop-

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kultur zu ersetzen. Wie das Beispiel von Andy Warhol oder Rainald Goetz dokumentiert, ist mit dieser Infragestellung tradierter Deutungshegemonien weder die Stiftung neuer kultureller Direktiven noch eine Affirmation der reinen Spaßgesellschaft intendiert. Pop, so ließe sich thesenartig zusammenfassen, erhebt hiermit den Anspruch, das TV als sinnstiftende Instanz ernster zu nehmen, solange es ein größeres, heterogeneres und bisweilen irritierend nonkonformeres Publikum erreicht als die kanonisierten Künste. Lässt man diese Überlegung gelten, mag auch das gewollt janusköpfige Konzept des Sammelbands nachvollziehbarer werden. So wird nämlich einerseits der Frage nachgegangen, wie sich das Fernsehen seit den 1960er Jahren mit der Popkultur auseinandersetzt, in welchen Genres das zunächst geschieht und mit welchen ›Spielarten‹ des Pop – Beat, Rock, Slam, Siebdrucke, die Suppendosen zeigen, usw. – sich das TV angesichts einer sich zur Eventkultur entwickelnden Gesellschaft vorzugsweise arrangiert. Andererseits ist zu fragen, seit wann das Fernsehen Stilelemente der Popkultur (Serialisierung, Oberflächenästhetik, Starkult) adaptiert oder bereits in den 1950er Jahren vorprägt, ob Pop (Pop Art, Musik, Literatur) im TV nur in ›populärer‹ Form präsentiert und rezipiert wird und schließlich, wie sich das Fernsehen mit seinen medialen Mechanismen und Formaten in der Popkultur und ihren künstlerischen Artefakten spiegelt.

I Popbegriff Um diese facettenreichen Vorhaben in einem Sammelband vereinen zu können, dessen Ziel es ist, ebenso facettenreich wahrgenommen zu werden, erscheint es widersprüchlich, einen gemeinsamen Nenner auszuformulieren, auf welchen immer wieder rekurriert werden sollte – insbesondere, wenn es dabei um Pop mit all seinen Komposita und Konnotationen geht. An die Stelle einer enggeführten Definition soll aus diesem Grund ein breit angelegtes Deutungs- und Verständnisspektrum des Wortfelds ›Pop‹ treten und auch nicht explizit zwischen Pop und dem Populären unterschieden werden, wenngleich die Herausgeber die Einschätzung teilen, dass nicht alles Populäre zum Pop gehört, aber durch eine popästhetische Rezeptionsweise sehr wohl dazu werden kann. Bewusst lässt dieser Band daher eine ›Definitionsoffenheit‹ zu, um in dem großen Rahmen ›Popkultur und Fernsehen‹ möglichst viele Perspektiven (mediale, historische, ästhetische etc.) zu versammeln. Dabei besteht das Potenzial forschungsseitig darin, der kreativen, vielschichtigen Auseinandersetzung mit Pop keinen Riegel vorzuschieben, gleichzeitig wird rezeptionsseitig die Diversität

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des Begriffs erfahrbar gemacht. Das Risiko, das mit einem solch breiten Definitionsspektrum einhergehen kann, besteht möglicherweise in dem Vorwurf der Nivellierung oder der Beliebigkeit der Begriffe. An dieser Stelle sei jedoch angemerkt, dass Offenheit nicht gleichbedeutend mit einer »willkürliche[n] Setzung« des Popbegriffs ist, sondern vielmehr »einem Gegenstand« gerecht werden soll, »der nicht als fest konturiertes materielles Ding vorliegt, sondern als Hervorbringung unterschiedlicher weltanschaulicher und ästhetischer Reden und Interessen jeweils neu oder anders gebildet wird« (Hecken 2009: 14). Die benannte Skala der möglichen Konzepte reicht dabei von Pop »give[s] the people what they want« (Harron, zit. n. Hecken 2012) bis hin zu einer dezidierten Trennung von E- und U-Kultur, von Pop ist »designed for a mass of people« (Hamilton, zit. n. Hecken 2009: 12) bis zu der Kritik an Pops Oberflächlichkeit. So erscheint die Lösung durchaus naheliegend, von Pop als ›Prinzip‹, ›System‹, ›Diskurs‹ (Goer/Greif/Jacke 2013), ›Phänomen‹, ›Konzept‹ oder ›Archiv‹ (Baßler 2002) zu sprechen. Nach Diedrich Diederichsen dürfen solche Zuschreibungen freilich nicht übersehen lassen, dass Pop selbst permanenten Transformationen, das heißt der Neukodierung von bestehendem Material, unterworfen bleibt und infolgedessen eine hohe Dynamik aufweist (vgl. Diederichsen 1996: 38f.). Das einzig Beständige an Pop ist also sein Wandel. All diesen Erklärungsansätzen muss insofern bewusst bleiben, dass Pop nicht als etwas Isoliertes oder Singuläres auftreten kann, sondern immer mit Kontexten verknüpft ist, sich dazu positioniert und gleichzeitig Stellungnahmen einfordert, sei es durch Affirmation, Subversion, Emphase oder Enthaltung. Die zwischen beiden Polen (Pop und x) entstehenden Wechselwirkungen lassen sich als ein »diskursives Feld widerstrebender Kräfte« (Goer/Greif/Jacke 2010: 212) beschreiben, das sich in der thematischen Breite der versammelten Artikel widerspiegeln soll. Pops Funktion kommt der eines gesellschaftlichen »Seismograph[en]« (Pethes 2012: 108) gleich, der Bewegungen jeglicher Art aufzeichnet, abspeichert und verwertet: Medien, Musik, Mode, Politik, Trends, Idole, Lifestyle. Das bekannte Rainald-Goetz-Zitat, welches das Definitionsproblem an den Definierenden delegiert, eignet sich in diesem Sinne, um dem antiautoritären Terminus ›Pop‹ und seiner Praxis den besagten Rahmen zu geben, ohne allzu feste Grenzen zu setzen: »Pops Glück ist, dass Pop kein Problem hat. Deshalb kann man Pop nicht denken, nicht kritisieren, nicht analytisch schreiben, sondern Pop ist Pop leben, fasziniert betrachten, besessen studieren, maximal materialreich erzählen, feiern. Es gibt keine andere vernünftige Weise über Pop zu reden, als hingerissen auf das Hinreißende zu zeigen, hey, super.

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Deshalb wirft Pop Probleme auf, für den denkenden Menschen, die aber Probleme des Denkens sind, nicht des Pop.« (Goetz 2003: 188)

Wie lässt sich diese lapidar formulierte Deskription eines Popliteraten mit einem wissenschaftlichen Bandkonzept vereinen? Obwohl oftmals die Behauptung im Raum steht, Pop als eine ›Kultur des aktiven Handelns an Kultur‹ sei nicht in ein statisches, wissenschaftliches Korsett zu zwängen und wenn doch, wäre es zugleich der Beweis dafür, dass Pop nun passé sei, können beide – Pop und Wissenschaft – produktiv zusammengebracht werden, indem das Spielerische, Schillernde, Ausufernde des Pop im theoretischen Diskurs als eben solches verhandelt und abgebildet wird. Und zwar ›maximal materialreich‹. Dazu bietet sich die Informations- und Formatfülle des Leitmediums Fernsehen (Shows, Serien, Soaps, Dokumentationen etc.) geradezu an.1 So wird es im Folgenden als wichtiger Distributionskanal der Popkultur in den Fokus gerückt, um u.a. zu erörtern, welche Strategien die Akteure der Popkultur im TV verfolgen, um massenwirksam zu agieren oder eben um subversiv festgefahrene Strukturen zu sprengen, welche Anleihen das Fernsehen selbst bei popästhetischen Verfahren tätigt, welche popkulturellen Entwicklungen im TV-Programm aktuell noch ausgespart werden oder wie das Prinzip der Serialität auf der einen Seite genutzt wird, um Zuschauer zu binden, auf der anderen Seite, um durch Brechungen oder Mehrdeutigkeiten die Eigenständigkeit des Publikums herauszufordern (vgl. Hickethier 2001: 12 u. 208). Setzt man sich mit dem Pop-Phänomen auseinander, bleiben zwei mögliche Reaktionen, zwischen denen entschieden werden muss. Erstens: vor den ausufernden Grenzen und der schweren Erfassbarkeit des Begriffs zu kapitulieren. Oder zweitens: sich auf das keineswegs immer oberflächliche Spiel mit dem Alltäglichen einzulassen. Die Herausgeber und Autoren dieses Bandes haben sich für Letzteres entschieden, um die Reflexion des Fernsehens aus popästhetischer Perspektive voranzutreiben und erste Überlegungen anzustellen, wie Pop- und Fernsehforschung zusammengedacht werden können.

II Forschungsstand Jeweils für sich genommen, ist die Forschung zu Pop und Fernsehen heutzutage kaum noch zu überblicken. Programmstrukturen, Sendeanstalten, einzelne Formate oder Möglichkeiten medialer Adressatenbindung scheinen ebenso vielfältig

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Vgl. hierzu weiterführend Hickethier (2001).

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erforscht wie die künstlerischen Ausdrucksformen des Pop, seine sozialen Facetten und historischen Dimensionen. Ein Blick auf die Publikationsgeschichte verrät indes, dass die wissenschaftliche Konjunktur beider Untersuchungsgegenstände divergiert. So erscheinen viele grundlegende Studien zum älteren Leitmedium ›Fernsehen‹ zwischen den späten 1970er Jahren und der Jahrtausendwende. Von einer akademisch breiteren Popforschung kann hierzulande dagegen erst seit wenigen Jahren gesprochen werden.2 Analog dazu stehen Untersuchungen zur Präsenz des Pop im Fernsehen oder zur Auseinandersetzung vieler PopKünstler mit dem Medium noch aus. Derzeit scheint es jedoch, als wollten die Sachwalter beider kultureller Felder keine Kenntnis voneinander nehmen. Von dieser Abstinenz ausgenommen ist jene Clipkultur, die sich beim Fernsehpublikum seit Beginn der 1980er Jahre großer Beliebtheit erfreut und die Sehgewohnheiten vieler Zuschauer ebenso nachhaltig verändert wie die Vermarktung einzelner Interpreten und Songs. Zugespitzt formuliert haben sich bislang praktisch alle kultur- und sozialwissenschaftlichen Fachdisziplinen mit dem Phänomen ›Musikvideo‹ beschäftigt und es sowohl intermedial als auch pädagogisch, wahrnehmungsästhetisch, ökonomisch oder genderrepräsentativ untersucht. Bereits die (Untertitel-)Titel einiger Abhandlungen – Musikvideos zwischen Avantgarde und Populärkultur (Hausheer/Schönholzer 1994), Videoclips und Visualisierung von E-Musik (Rötter 2000) – verraten indes, warum das Genre mehr Beachtung gefunden hat als andere Popeinflüsse auf das Fernsehen: Aufgrund seiner Formatvielfalt und schnellen Schnitte rückt man den musikalischen ›Werbefilm‹ in die Tradition internationaler Programmkunst oder reflektiert ihn als Erbe multimedialer ›Gesamtkunstwerke‹ wie Oper und Vaudeville. Im Gegenzug wird die Selbstreflexivität eines »Mediums, das die Bedingungen der eigenen Produktion ständig thematisiert«, nur am Rande als ein generell popkonstitutives Charakteristikum gewürdigt (Bergermann 2003: 478). Diese Marginalisierung einer fernsehspezifischen Popästhetik lässt sich auch in den spärlichen Untersuchungen zu Autoren wie Rainald Goetz oder Benjamin von Stuckrad-Barre beobachten, die nicht nur gelegentlich in Late-Night-Shows auftreten, sondern ihre eigenen TV-Formate entwickeln und realisieren (vgl. Binczek 2012). Eher allgemein ist hier von Literatur im Fernsehen die Rede, wohingegen die medienkritischen Ursprünge und popästhetischen Zielsetzungen beispielsweise jener drei Folgen, die Goetz 2001 für das ZDF-nachtstudio kon-

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Dass die Kunstgeschichte sehr früh schon produktiv und ohne hochkulturellen Dünkel auf die Pop Art reagiert, sei der Vollständigkeit halber an dieser Stelle erwähnt. Erinnert sei an Max Imdahls wegweisende Studie »Probleme der Pop Art«, die 1968 im Ausstellungskatalog zur vierten documenta erscheint (vgl. Imdahl 2013).

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zipierte, unerwähnt bleiben. Umgekehrt gilt seit Jahren als ausgemacht, dass sich Popliteratur bereits in den späten 1960er Jahren an Narrationstechniken und Rezeptionsweisen des Fernsehens orientiert.3 Insofern muss die Frage erlaubt sein, warum die mediale, aber eben ins Popästhetische gewendete Kompetenz im TV präsenter Autoren für die Untersuchung ihrer Selbstinszenierungen und Fernsehproduktionen unberücksichtigt bleiben soll. Dass die Popmusik im Fernsehen viel umfassender erforscht wird und hier auch richtungsweisende Theoriedebatten über die Gemeinsamkeiten respektive Unterschiede von Pop- und Popularkultur geführt werden (vgl. Jacke 2009), mag erklären, warum popaffine Spartensender wie MTV oder VIVA und ihre kaum zu unterschätzende Rolle bei der (Pop-)Sozialisierung junger Fernsehzuschauer4 eher im wissenschaftlichen Fokus standen als ihre historischen Vorläufer bei den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten. Dabei sollte nicht übersehen werden, welchen Einfluss bereits Sendungen wie der Beat Club (1965-1972) oder Ilja Richters disco (1971-1982) auf die Verbreitung popkultureller Lebensstile und Moden nehmen. Gleichzeitig lenken sie die selektive öffentliche Wahrnehmung popästhetischer Entwicklungen oder poppolitischer Widerstandspotenziale. Denn das Fernsehen rezipiert Pop traditionell als Bestandteil der Jugendkultur, doch nicht jeder Musiker, Künstler oder Literat adressiert seine Werke an ein jüngeres Publikum. Darüber hinaus setzen sich einzelne Kunstszenen (Social Beat, Poetry Slam) von Anfang an aus verschiedenen Altersklassen zusammen. Andere Gruppierungen oder Subkulturen des Pop, man denke an HipHop oder Techno, erweisen sich als erstaunlich langlebig und entwickeln sich auch deshalb weiter, weil unter sämtlichen Insidern noch immer das ›Wir-Gefühl‹ dominiert. Differenzierter betrachtet ist Pop also nicht deckungsgleich mit seiner Inszenierung im Fernsehen. Aber ihr verdankt sich die – mit Blick auf alle partizipierenden Künste und gesellschaftlich beteiligten Gruppierungen einseitige – Popularität des Pop, dessen Geschichte inzwischen auch fernsehseitig aufgearbeitet wird. Zum aktuellen Forschungstrend, dem sich auch mehrere Abhandlungen des vorliegenden Bandes anschließen, gehört die Beschäftigung mit den Selbstinszenierungen der Dichter in den Medien und die Fremdinszenierung des Autors durch Malerei, Fotografie, Radio oder das Fernsehen selbst. Erstaunlicherweise spielt das TV in den bisher vorliegenden Untersuchungen zum Thema allerdings nur eine untergeordnete Rolle – gleichsam so, als gebe es nicht die lange Tradi-

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Vgl. Ernst (2001) u. Greif (2004).

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Vgl. Neumann-Braun (1999), Fritzsche (2003) u. Kaiser (2007).

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tion der Literaturmagazine, Autorendokus oder Dichter in Talkshows.5 Kritischer mit den Rezeptionsbedingungen des Fernsehens setzt sich derzeit der fernsehmedial weitgehend ignorierte Post- und Popfeminismus auseinander. Angeregt durch die Gendertheorie Judith Butlers, wird die mediale Repräsentation von Frauen entweder zum Gegenstand politischer Diskurse, oder Popfeministinnen erörtern am Beispiel des seriellen Erzählens in amerikanischen Fernsehproduktionen eine autarke Do-it-Yourself-Kultur.6

III Artikelteaser Dass die einzelnen Artikel eines Sammelbands auch selbstständig funktionieren und überzeugen, setzt man geläufig voraus. Erst deren Konstellation generiert jedoch den ›Mehrwert‹, der im besten Fall über die Summe der einzelnen Teile hinausgeht und dem Band Kontur verleiht. Um das breite Spektrum an Sujets, Popbegriffen und Herangehensweisen rund um Popkultur und Fernsehen zu systematisieren, schien uns die folgende Dreiteilung für das skizzierte Konzept naheliegend. Pop|TV|Ästhetik Mit der Anordnung der Artikel innerhalb dieses Bedeutungshorizonts soll das Versprechen des Banduntertitels eingelöst werden: Das Kapitel gibt einen schlaglichtartigen Überblick wichtiger Pop und TV zusammenführender Traditionslinien, sodass die ästhetischen Berührungspunkte (etwa Serialisierung, mediale Oberflächen, Popularisierung, Starkult etc.) historisch lesbar werden als (sehr knappe) Pop- und TV-Geschichte von den Anfängen bis zum ›medienkonvergenten Gegenwartsfernsehen‹. Ein besonderer und immer wiederkehrender Akzent liegt dabei auf der Rolle des Rezipienten: Als Nebeneffekt lässt sich dessen Entwicklung auch als Historie der Aktivierung und Selbstbestimmung lesen, obwohl sich dieser Weg in der Gegenwart tendenziell zu gabeln scheint. HELMUT SCHANZE zeichnet in »›The Most Popular Art‹ – Popkultur, Fernsehen und die Anfänge der Medienwissenschaft« diejenigen epistemologischen Linien, die im Fluchtpunkt der 1950er Jahre zusammenlaufen, in den Popdiskurs ein. Kunst, Medien, Ästhetik und Publikum sind die Faktoren, die Schanze nicht als separate, sondern vielmehr als im Stichwort der Popularität konvergierende ver-

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Vgl. Künzel/Schönert (2007) u. Jürgensen/Kaiser (2011).

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Vgl. Lenzhofer (2006) u. Köver (2007).

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standen wissen will. Sein detailreicher und geschichtsträchtiger Beitrag, der mit besonderer Berücksichtigung der Jahre um 1970 Pop und TV zusammendenkt, datiert dabei die Wurzeln heutiger Popkultur bis ins späte achte Jahrhundert zurück. Bereits damals entbrannte nämlich der Streit um Popularität und Trivialität, um die Frage, ob die ›Vox populi‹, die Stimme des Volkes, eher ›göttlich‹ oder ›wahnsinnig‹ genannt zu werden verdiene. RALF SCHNELL lotet ganz in diesem mediengeschichtlichen Sinne diejenigen popästhetischen Mechanismen aus, mittels derer der Spiegel bereits in den 1950er Jahren Formen der textuellen und visuellen Autoreninszenierung entwickelt, die dann vom Fernsehen in einer strukturellen Analogie aufgegriffen wurden und das öffentliche ›Bild‹ des lebenden oder toten Autors nachhaltig veränderten. Sein Beitrag »›Cherchez la femme!‹ – Anmerkungen zur literarischen Ikonografie des frühen Spiegel und zur Popularisierung literarischer Hochkultur im jungen deutschen Fernsehen« unterstreicht dabei am Beispiel Ingeborg Bachmanns die Verbindung von Literaturbetrieb und Popkultur zur ›Kulturpopularisierung‹, die der Spiegel dem ›anspruchsvollen‹ jungen deutschen Fernsehen der 50er und 60er vorgelebt hatte. In den 60er, 70er und 80er Jahren ist Andy Warhol vor und hinter der Kamera tätig. STEFAN GREIF führt den Nachweis, dass Warhols popästhetische TVArtefakte zu Unrecht als Armutszeugnis eindimensionaler Egozentrik rezipiert worden sind, geben sie doch in ihrer stets metamedialen Reflektiertheit vielmehr Zeugnis davon, wie der Rezipient gerade mit den Mitteln popästhetischer Verfahren eine massive Aufwertung erfährt, die ihm die sogenannte Hochkultur versagt. Am Beispiel besagter Fernseharbeiten zeigt Greif in seinem Artikel »15 Minutes of Fame – Andy Warhol als Superstar seines Popkosmos« auf, wie der Starkult im Fernsehen und mit ihm der ›Totalitarismus‹ der Moderne vom ›Godfather of Pop‹ ad absurdum geführt und die Rezipienten medial zu ihrer eigenen ›Subjektwerdung‹ angeleitet werden. Den Versuch, die Kunst aus den ›heiligen Hallen‹ des Museums herauszuholen und die Grenzen zwischen aktivem Aktionsraum und passivem Publikum zu verwischen, treten Happening und Fluxus in den 1960er Jahren an. Die damit einhergehende Überzeugung, dass Kunst diskursiv sei, der Zuschauer, statt festgeschriebenen und unter der Deutungshoheit kleiner Eliten stehenden Kardinalinterpretationen zu gehorchen, zur Partizipation eingeladen ist, betont auch in diesem Beitrag den zentralen Stellenwert des Rezipienten. Mit einer der Wegmarken, nämlich der Ausstellung Happening & Fluxus (Köln, 1970), beschäftigt sich KAI-UWE HEMKEN in seinem Kunsthistorie, -theorie, und -ästhetik vereinenden Aufsatz »Expressive Subjekte vor der Kamera – Zur Relativität von Kunst, Ausstellung und Massenmedien um 1970«. Mit einer Fokussierung auf

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die TV-Reportage zur Ausstellung beleuchtet Hemken neben dem ›Verhältnis von Masse und Elite‹ exemplarisch die fernsehästhetische Dimension von ›Kunst und Aufmerksamkeitsregime‹ in der ›mediatisierten Öffentlichkeit‹. In zweierlei Hinsicht ist die schillernde Figur Christoph Schlingensief als ›Apologet‹ dieser Avantgarde-Entwicklung zu sehen: Einerseits gilt er selbst als Fluxuskünstler, andererseits zeichnet Schlingensief als Multiplikator dafür verantwortlich, performative Verfahrensweisen auch in die Fernsehkunst überführt zu haben. In »Performativität und Format – Anmerkungen zu Christoph Schlingensiefs Fernseharbeiten« stellt BERND MAUBACH Thesen zu dessen popästhetischen Aktionen im TV auf. Im angegriffenen Medium selbst ausgestrahlt, erregten sie als subversive Formatkritik großes Aufsehen, konnten sich doch weder Akteure noch Zuschauer ›adäquat‹ verhalten. Denn beide waren häufig gezwungen, zwischen zwei zur Auswahl stehenden Wahrnehmungs- und Deutungsrahmen zu wählen, die jeweils nicht hundertprozentig situationsangemessen sind. Dadurch entsteht der Eindruck einer Prozesskunst-Ästhetik zwischen Reizüberladung und Anarchie, welche sich als Höhepunkt der Rezipientenaktivierung, im Fall Schlingensiefs manchmal aber auch als grenzüberschreitender Schritt zur hoffnungslosen Publikumsüberforderung verstehen lässt. Als alternative Konsequenz dieser Entwicklung lässt sich etwa die heutige Scripted-Reality-Soap Berlin – Tag & Nacht, ein gerade unter Jugendlichen sehr populäres Format, werten. An deren Modell geht ACHIM BARSCH in seiner Untersuchung »TV-Marken als Strategien in der Popularkultur – Das Beispiel Berlin – Tag & Nacht« der Frage nach, wie TV-Sender verschiedene Medien in ihrer Konvergenz nutzen und diverse Instrumente entwickeln, um zu einer über den Sender hinausgehenden festen Zuschauerbindung zu gelangen. Mit den Schlagworten ›Partizipation‹, ›Transformation‹ und ›Durchdringung‹ umreißt er nicht nur Marketingstrategien und eine popkulturelle Fernsehästhetik der Jetztzeit, sondern schreibt auch die Pop- und TV-Geschichte des aktivierten und medial ausdifferenzierten, dabei in zunehmendem Maße aber gleichzeitig konfektionierten Fernsehpublikums fort. Pop|Kultur|Akteure Zusammen mit der ästhetischen Kategorie der Authentizität verabschiedete die Forschung schon vor geraumer Zeit die Vorstellung, ein medial vermitteltes Bild des Schriftstellers, Musikers oder Regisseurs könne mit der lebenden Person identisch sein. Andererseits entdeckte man den ›lebenden Menschen‹ hinter den Konstrukten der Dekonstruktivisten neu. Beides in eins nehmend, gehen die Beiträge dieses Kapitels den Aspekten von medialen Selbst- und Fremdinszenierungen einzelner Akteure der Pop- und Populärkultur im Massenmedium Fernsehen

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nach. Trotz der unterschiedlichen Gewichtung der Artikel wird als Vergleichsgrundlage immer wieder darauf rekurriert, welche Attribuierungen gewählt werden, in welchem Rahmen dies geschieht und was für ein Erfolg, gemessen an der jeweiligen Zielsetzung, solchen Konstruktionen beschieden ist. PETER SEIBERT beschäftigt sich in seinem Beitrag »Autoren im Dschungelcamp oder: ›Warum habe ich weniger Minuten als der Pornostar?‹ – Anmerkungen zur Fernsehinszenierung von Autoren« damit, wie prinzipiell das Fernsehen mit seinen medienspezifisch-popästhetischen Potenzialen für die (Selbst-)Präsentation von Autoren einerseits, für die Aushandlung verschiedener Konzepte von ›Autorschaft‹ andererseits genutzt werden kann und genutzt wird. Der Artikel untersucht aber nicht nur die affirmativen oder subversiven populären Selbstinszenierungen der Autoren im Fernsehen, sondern auch, wie und warum selbst medienkompetente Pop-Autoren der Fremdinszenierung bzw. ›Okkupation‹ durch das TV unterliegen. Damit scheinen die Spielräume, um die Muster von Autorenzuschreibungen und die diesbezügliche Deutungshoheit des Fernsehens zu unterlaufen, äußerst gering. Christian Kracht ist einer jener mediensozialisierten und medienversierten Pop-Akteure. Seine Inszenierungsstrategien im TV, die zwischen Ironie und totaler Informations- bzw. Kommunikationsverweigerung oszillieren, entdeckt NILS LEHNERT anhand der unterschiedlich gerahmten Sendeformate druckfrisch und der Harald Schmidt Show. Die These seines Aufsatzes »Refus aus Kalkül?! Zu Christian Krachts Fernsehauftritten« besagt, dass bei allem (gerade auch wissenschaftlichen) Goutieren der ›lauten‹ Selbstdarstellungsstrategien von Popautoren, die ›leisen‹, subtileren Verfahren gelegentlich ins Hintertreffen der Aufmerksamkeit geraten, obzwar gerade sie es sind, die subversiv Sand ins Getriebe der Medienmaschine streuen können. Qua höflicher Zurückhaltung, Passivität und Refus glückt Krachts ›Ästhetik des Verblassens‹, womit er sich selbst un(an)greifbar macht. JULIA PATER macht in »›Oder ist das Fernsehen schon wirklicher als wie die Wirklichkeit?‹ – Rainald Goetz’ popästhetische Inszenierung im Fernsehen« die mediale Selbstdarstellung zum Analyseobjekt ihrer Untersuchung. Insbesondere in Late-Night-Shows, aber auch in literarischen Fernsehmagazinen inszeniert sich Goetz auf irritierende und mitunter skurril anmutende Art und Weise. Obwohl die performative Komponente und das Schockante mit der Zeit abnehmen, sorgen seine Auftritte (und auch sein Wirken als Fernsehproduzent) immer wieder für Verwirrung. Ob und wie sich diese Beobachtungen mit der bewussten Subversion der vom Pop-Autor selbst missbilligten Redundanz des Massenme-

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diums TV vertragen, diskutiert der Beitrag im Kontext der Strategien medialer Autorenselbstinszenierungen. ALFONSO MEOLI richtet den Analysefokus in seinem Beitrag »Guru. Superstar. Nickelbrillen-Esoteriker. – Über die Hermann-Hesse-Konstruktionen in den Fernsehportraits zum 50. Todestag« auf die Produktionsseite, also darauf, welche Fremdinszenierungen die jeweiligen Portraits einsetzen, um zwei unterschiedliche Hesse-Bilder vorzulegen und diese für zwei unterschiedliche Publika attraktiv zu machen. Dabei wird diskutiert, ob die popkulturellen Techniken sich anverwandelnde Regiehandschrift Andreas Ammers mittels Sampling wirklich Neues schöpft oder vielmehr eine mediale Materialcollage ist. In jedem Fall weist Meoli nach, dass Hesse von ein und demselben Sender (SWR) im Gedenkjahr auf vollends unterschiedliche Weise konstruiert wird – einmal als Einsiedler verklärt, einmal als Popstar verehrt. Lässt sich auch der historische ›Star‹ Wolfgang Amadeus Mozart mit den Mitteln popästhetischer Verfahren heutigen jungen Zuschauern schmackhaft machen? Und welcher Art müsste diese mediale Fremdinszenierung dann gestaltet sein? ANDREAS WICKE wendet sich in seinem Aufsatz »›wegen dem sogenannten Popolare sorgen sie nichts‹ – Zum Mozart-Bild in der Animationsserie Little Amadeus« diesen Fragen zu und beleuchtet im Abgleich mit anderen medialen Mozart-Konstruktionen darüber hinaus, welche Rollen dabei die musikalische und historische Wissensvermittlung einnehmen und welche Berührungspunkte popkultureller und fernsehästhetischer Machart existieren. Schließlich zeigt Wicke auf, dass bereits im 18. Jahrhundert moderne popkulturelle Losungen wie ›Marktorientierung‹ und ›Mehrfachadressierung‹ keine Fremdworte gewesen sind. TV|Genre|Pop In der dreifachen Lesart ›TV-Genre: Pop‹, ›TV, Genre, Pop‹ und ›TV und Genre-Pop‹ subsumiert dieses Kapitel vier Artikel zu aktuellen Entwicklungen und Genres der Popkultur in Theorie und Fernsehpraxis sowie – andersherum gedacht – die popkulturanalytische Sicht auf das Fernsehen aus der Perspektive benachbarter Pop-Genres (Literatur, Musik, Poetry Slam). Es geht also um die Macht der Television, Genres und ganze Szenen zu formatieren, aber auch um die Macht des Pop, das Fernsehen und dessen popaffine Genres kritisch zu reflektieren. Als Gemeinsamkeit teilen die Beiträge die Einsicht, dass die dem Pop schon immer innewohnende Relativierung von unterhaltenden und ernsten Anteilen, von Mainstream und Gegenöffentlichkeit für die Verbindung von Fernsehen und Popkultur stets neu gedacht und neu geschrieben werden muss.

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Andreas Neumeister stellt, wie ANNA-CARINA MEYWIRTH in ihrem Aufsatz »›Die wirkliche Welt auf wirklichen Bildschirmen‹ – Fernsehen in Andreas Neumeisters Angela Davis löscht ihre Website« belegt, Medieninhalte und deren vermeintliche Wirklichkeitsabbildungen infrage, indem er die konstruierte Bildschirm-Realität des Fernsehens durch Montage zerstört und damit eine ganz neue Dimension der Wechselwirkung von (Pop-)Literatur und TV eröffnet. ›Fiction‹ und ›non-fiction‹, ›E und U‹, ›Realität‹ und ›Fernsehrealität‹ verlieren in Neumeisters Textcollage nämlich ihre Trennschärfe und ihre Orientierungsfunktion. Nicht linear, sondern assoziativ sind seine Textbruchstücke infolgedessen konzipiert, um den Leser durch diesen popästhetischen Komplexitätsgewinn zu ›entautomatisieren‹ (Weingart) und so einer passiven Rezeption zuvorzukommen. Dass bestimmte (gegenöffentliche) Genres popaffine Züge tragen, das Fernsehen seine (Rezeptions-)Spuren in ihnen hinterlässt und sie wiederum auf das Fernsehen abfärben, gilt als ausgemacht. Mit Ausnahme von Kulturformaten, wie der Sendung Tracks auf Arte, oder popfeministisch lesbaren Serien, wie etwa der HBO-Produktion Girls, wird indes der Popfeminismus im TV kaum repräsentiert, obwohl das Thema in Magazinen, Büchern, Podcasts und Blogs hochaktuell ist. In ihrer Analyse »›TV-Glotzer‹ – Überlegungen zu Popfeminismus und Fernsehen« benennt ANNA SEIDEL bisher verbliebene Leerstellen und untersucht neben der Präsenz des Popfeminismus in verschiedenen TV-Genres auch dessen prinzipielle Verquickung mit dem Medium Fernsehen etwa in der popfeministischen Kulturkritik. Mit einem ebenso aktuell umforschten Thema setzt sich MAX DORN auseinander: Er untersucht in seinem Beitrag »›Man füllt also irgendwie fünf Minuten Bühnenzeit‹. Zur Entwicklung des Poetry Slams unter dem Einfluss des Fernsehens im deutschsprachigen Raum« die Wechselwirkungen von Poetry Slam, Slam Poetry und TV in Zeiten, in denen ein ›alterndes‹ Medium jüngeren Popphänomenen eine neue Bühne bereitet. Im Zentrum der Aufmerksamkeit steht die veränderte Wahrnehmung des Zuschauers, sobald mediale Filter und eine Doppeladressierung auf den Plan treten. Welch einschneidende und mainstreamwirksame Folgen das Fernsehen für die zunächst wenig telegene Gattung der performativen Dichtung zeitigte, die sich als soziale und politische in den 1980er Jahren im Off konstituierte, zeigt Dorn historisch und ästhetisch gleichermaßen. Musiksender wie MTV und VIVA haben popmusikalischen Themen in Form von Videoclips, Musik-Talks oder Dokumentationen seit Anfang der 1980er Jahre einen Platz in den bewegten Bildern gesichert. Aktuell werden sie ergänzt durch Onlineformate wie PutPat.tv oder tape.tv. Aber wie ist es im öffentlichrechtlichen Fernsehen um die Popmusik bestellt? In ihrem Aufsatz »Popmusik

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und Fernsehen – Exemplarische Untersuchung öffentlich-rechtlicher Fernsehsender und popmusikalischer Inhalte« nimmt KRISTINA FLIEGER in Form von qualitativen Fallanalysen die Inhaltsprofile öffentlich-rechtlicher Fernsehsender unter die Lupe, um Quantität und Qualität popmusikalischer Formate zu bestimmen. Dadurch kann sie eindeutig nachweisen, dass die immer wieder beklagte Entwicklungsrichtung der Trivialisierung zumindest für das Genre der Popmusik in dieser Verknappung nicht haltbar ist. Abgerundet wird der Band mit dem Perspektivwechsel von der theoretischen zur produzierend-praktischen Sicht auf Pop und TV mit dem eigens für diesen Band geführten Interview »Zur Not auch die ZDF-Hitparade. Ein Gespräch über Popmusik und Fernsehen in Deutschland«. Darin erörtern MARKUS KAVKA und CHRISTOPH JACKE die Geschichte des Popmusikfernsehens seit den 1980er Jahren und gehen gleichzeitig der Frage nach, warum diese Programmsparte heute wieder zu den Nischen- oder Liebhaberformaten gehört. Darüber hinaus eröffnet Markus Kavka wertvolle Einblicke in das Selbstverständnis ehedem erfolgreicher Jugendsender wie MTV oder VIVA, denen es mit Ende der 1990er Jahre nicht gelingt, die Konkurrenz mit den Neuen Medien als Chance zu begreifen. *** Dem vorliegenden Buch voran ging die Tagung Pop- und Populärkultur im Fernsehen, die am 05. und 06. Februar 2014 anlässlich des fünfundsechzigsten Geburtstags von Peter Seibert an der Universität Kassel stattfand. Aus den anregenden Vorträgen und Diskussionen entwickelte sich die Idee, nicht nur einen Tagungsband zu veröffentlichen, sondern darüber hinaus Aufsätze aus dem interdisziplinären Mitarbeiterumfeld des Jubilars und aus dem Kreis seiner Studierenden einzuwerben, die sich aktuell mit dem breitgefächerten Thema Pop und TV beschäftigen. Besonderer Dank gebührt an dieser Stelle Katharina Zindel und Max Dorn, die in vielen Tag- und Nachtschichten die elektronische Einrichtung sämtlicher Beiträge übernommen haben.7

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Mit Nennung der weiblichen [männlichen] Funktionsbezeichnung ist in diesem Buch, sofern nicht anders gekennzeichnet, immer auch die männliche [weibliche] Form mitgemeint.

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Literatur Baßler, Moritz (2002): Der deutsche Pop-Roman. Die neuen Archivisten, München: C.H. Beck. Bergermann, Ulrike (2003): »Videoclip«, in: Hans-Otto Hügel (Hg.), Handbuch Populäre Kultur. Begriffe, Theorien und Diskussionen, Stuttgart/Weimar: Metzler, S. 478-482. Binczek, Natalie (2012): »Fernsehauftritte der Literatur: Rainald Goetz«, in: Sprache und Literatur 109, S. 73-88. Diederichsen, Diedrich (1996): »Pop – deskriptiv, normativ, emphatisch«, in: Marcel Hartges (Hg.), Pop, Technik, Poesie: Die nächste Generation (= Literaturmagazin, Band 37), Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, S. 36-44. Ernst, Thomas (2001): Popliteratur, Hamburg: Europäische Verlagsanstalt. Fritzsche, Bettina (2003): Pop-Fans. Studie einer Mädchenkultur, Opladen: VS. Goer, Charis/Greif, Stefan/Jacke, Christoph (2010): »Poptheorie, Popkulturforschung und Literaturwissenschaft«, in: Lothar van Laak (Hg.), Literaturwissenschaft – interdisziplinär, Heidelberg: Synchron, S. 211-230. Dies. (Hg.) (2013): Texte zur Theorie des Pop, Stuttgart: Reclam. Goetz, Rainald (2003): »Und Blut«, in: Ders., Hirn, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Greif, Stefan (2004): »In Video veritas. Rainald Goetz’ videographische Fernsehdokumentation 1989«, in: Felix Holtschoppen/Frank Linden/Friederike Sinning et al. (Hg.), Clips. Eine Collage, Münster: LIT, S. 115-132. Hausheer, Cecilia/Schönholzer, Annette (Hg.) (1994): Visueller Sound. Musikvideos zwischen Avantgarde und Populärkultur, Luzern: Zyklop. Hecken, Thomas (2009): Pop: Geschichte eines Konzepts 1955-2009, Bielefeld: transcript. Ders. (2012): »Pop: Aktuelle Definitionen und Sprachgebrauch«, in: PopZeitschrift vom 08.09.2012. Online unter: www.pop-zeitschrift.de/2012/09/ 09/pop-aktuelle-definitionen-und-sprachgebrauchvon-thomas-hecken/ Hickethier, Knut (2001): Film- und Fernsehanalyse, Stuttgart: Metzler. Imdahl, Max (2013): »Probleme der Pop Art«, in: Charis Goer/Stefan Greif/ Christoph Jacke (Hg.), Texte zur Theorie des Pop, Stuttgart: Reclam, S. 6175. Jacke, Christoph (2009): Einführung Populäre Musik und Medien, Münster u.a.: LIT. Jürgensen, Christoph/Kaiser, Gerhard (Hg.) (2011): Schriftstellerische Inszenierungspraktiken: Typologie und Geschichte, Heidelberg: Winter.

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Kaiser, Sabine (2007): Gespräche über Fernsehen. Die Bedeutung der nachrezeptiven Phase zur Konstitution von Geschlechtsidentität im Jugendalter, Bielefeld: Universitätsverlag. Köver, Chris (2007): »Couch-Politik. Wo bei TV-Serien in puncto Feminismus was zu holen ist«, in: Sonja Eismann (Hg.), Hot Topic. Popfeminismus heute, Mainz: Ventil, S. 134-140. Künzel, Christine/Schönert, Jörg (Hg.) (2007): Autorinszenierungen: Autorschaft und literarisches Werk im Kontext der Medien, Würzburg: Königshausen & Neumann. Lenzhofer, Karin (2006): Chicks Rule! Die schönen neuen Heldinnen in USamerikanischen Fernsehserien, Bielefeld: transcript. Neumann-Braun, Klaus (Hg.) (1999): Viva MTV! Popmusik im Fernsehen, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Pethes, Nicolas (2013): »Pop-Wissen«, in: Pop. Kultur und Kritik 3, S. 102-112. Rötter, Günther (2000): »Videoclips und Visualisierung von E-Musik«, in: Josef Kloppenburg (Hg.), Musik multimedial. Filmmusik, Videoclip, Fernsehen, Laaber: Laaber-Verlag, S. 259-294. Steenblock, Volker (2010): »Bemerkungen zur Popkultur«, in: Thomas Hecken/Marcel Wrzesinski (Hg.), Philosophie und Popkultur (= Schriften zur Popkultur, Band 5), Bochum: Posth, S. 193-202.

I Pop|TV|Ästhetik

›The Most Popular Art‹ Popkultur, Fernsehen und die Anfänge der Medienwissenschaft H ELMUT S CHANZE

Die Nobilitierung des ›Pop‹ auf dem Kunstmarkt und seine Musealisierung spielt in den 70er Jahren. Aus der Randzone des Kunstbetriebs seit Mitte der 50er bis 60er wird die dominierende Kunstrichtung der 70er bis 80er Jahre. In diesen Jahren registrieren wir aber auch, um Helmut Kreuzer zu zitieren, jene »Veränderungen des Literaturbegriffs«, die »[das] Fernsehen als Gegenstand der Literaturwissenschaft« (Kreuzer 1975: 27-40) erscheinen lassen. Damit ergibt sich eine – für Literatur- und Fernsehwissenschaftler kaum überraschende – Parallele der Entstehung der ›Pop-Art‹ mit dem Aufstieg des Fernsehens zum ›Dominanzmedium‹. Im Jahr 1963, in dem Walter Grasskamp eine Urszene des Pop ansetzt, mit den Berichten von Andy Warhol und Richard Hamilton über ihre Reisen von New York nach Los Angeles (vgl. Grasskamp 2014),1 vom Standort der großen Networks zum Standort der Produktion des ›content‹, war das große HollywoodKino längst in den Dienst der Television getreten. 15 Millionen Fernsehzuschauer konnten sich 1963 in den USA General Hospital leisten, mit der ›message‹, welche Versicherungsvorsorge die beste sei. Der fiktive Schauplatz war die Ostküste, die Produktion kam aus Hollywood. Die Daily Soaps, finanziert über die Unterbrecherwerbung, verbanden die Konsumgesellschaft mit der Mediengesellschaft; von der alteuropäischen Trennung zwischen Kultur, Konsum und Industrie konnte nicht mehr die Rede sein. 1964 erschien Marshall McLuhans Buch Understanding Media. The Extensions of Man, das dem Fernsehen eine eduka-

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Ich danke Walter Grasskamp für die Überlassung des Manuskripts und für weitere wichtige Hinweise zur Geschichte der Popkunst.

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tive Funktion zuweist. Theodor W. Adornos ideologiekritische Einsichten in das Genre der »Kleinen Fernsehspiele« (Adorno 2003: 518-532) der ›Serials‹ oder ›Fernsehserien‹ mussten neu formuliert und fortgeschrieben werden. Das regelmäßige, »werbefreie« Programm in Deutschland, beim NWDR, begann am 2. März 1951 dagegen mit einem »würdigen Auftakt«, »Goethes klassisches Vorspiel auf dem Theater« (Schanze/Zimmermann 1994: 28), wie es im Text der Eröffnungssendung heißt. Die ersten Werbespots sendete der Bayerische Rundfunk am 3. November 1956. Der Werbespot kann als Experimentierfeld für populäre Formen angesehen werden. »Amerikanische Agenturen, ihre Mitarbeiter und ihre stilistische Handschrift prägen die deutsche Fernsehwerbung der fünfziger Jahre und zeigen deutliche Parallelen zur Stilistik im Printund vor allem im Kinobereich.« (Schmidt/Spieß 1994: 197) Die Ästhetik der Werbung, untrennbar von den Inhalten kommerzialisierter Medien, wird im (deutschen bzw. europäischen) öffentlich-rechtlichen Fernsehen nur in den sogenannten Vorabendprogrammen erfahrbar, in einem abgegrenzten, hoch regulierten Programmsegment, nicht als ›Unterbrecherwerbung‹ im Hauptprogramm, sondern in ›Werbeblöcken‹. Das ›Deutsche Fernsehen‹ blieb, bis zur ›kommerziellen‹ Wende in den 70er Jahren, vergleichsweise literarisch. Es folgte den Regeln des gedruckten Worts, obwohl eine eigene, populäre Fernsehästhetik bereits sichtbar war. Mit den Vorabendprogrammen kamen auch die amerikanischen Serien ins Programm. Vergleichsweise spät, 1967, wurde in Deutschland auch das Farbfernsehen eingeführt – es kam, wie auch die Popkultur, aus den USA. Auch wenn es durch Werner Bruch entscheidend verbessert wurde: Die Rasterung der Bilder und NTSC (Never The Same Color) waren technische Effekte, die nicht zuletzt auch die Kunstszene inspirierten. Der europäische Kunstschock des Populären ist beschreibbar als die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Was in den USA als in den Bereichen der Werbung und des Fernsehens, die dort als indifferent zu sehen sind, gewöhnlich erscheint, wird im ›literarischen‹ Europa als das Ungewöhnliche erfahren. Da neue Medien immer das Ensemble auch aller alten Medien betreffen, und die Geschichte der Künste nicht ohne die jeweilig genutzten Medien zu schreiben ist, lässt sich auch eine Geschichte der Popkunst, im Sinne des »Kunstgesetzes« von Arno Holz, nur nach »Maßgabe der jeweiligen Reproduktionsbedingungen« (Holz 1925: Bd. 10) schreiben. Das Medium, so die These Paul Valérys und Walter Benjamins, greift in die »Invention selber« ein. Und um eine weitere Autorität, Elizabeth Eisenstein, aufzurufen: Das Fernsehen wurde, auf beiden Seiten des ›Atlantic Rivers‹ in den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts, wie einst die Druckerpresse, zum »Agent of Change« (Eisenstein 1979: Bd. 2).

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Dass die Kunst und die Technik, klassisch, die ›artes‹ in Wechselwirkung stehen und dass sie der ›scientia‹ vorausgehen, ist eine der Grundeinsichten der neuen Medienwissenschaft. Das Verhältnis von ›Popkultur‹ und ›Fernsehen‹ kann als paradigmatischer Fall gelten. Er kann nicht allein in den vorgegebenen Disziplinen allein, als Gegenstand der Technikwissenschaft, der Kunst-, Musikund Literaturwissenschaft, auch nicht der Sozialwissenschaften allein bearbeitet werden. Er fordert einen interdisziplinären Ansatz. Die Umwertung der Werte im wissenschaftlichen Blick auf die Populärkulturen, zuweilen als Umbruch von der klassischen Moderne zur Postmoderne ausgerufen, ist mehr als die Um- und Aufwertung eines Randphänomens. Sie erscheint, mit Thomas Kuhn, als wissenschaftshistorischer Paradigmenwechsel, als »scientific revolution« (Kuhn 1970). In ihr gewinnt die Frage des Mediums – nicht nur der Kunst – einen neuen Stellenwert. ›Pop‹ erscheint damit nicht nur als isoliertes Phänomen einer neuen Richtung der ›Bild- und Tonkünste‹, sondern im Kontext eines medialen Eingriffs der technischen Audiovisionen ins System der Künste. Die Geschichte dieser Eingriffe trägt den Titel ›Mediengeschichte‹ – auch ein neuer Begriff der 70er Jahre. Popkultur wie Fernsehen werden zu Signaturen eines Zeitalters, die, mediengeschichtlich, als ›Zeitalter des Fernsehens‹ begriffen werden können. Ist aber die Mediengeschichte selber eine Geschichte von Diskontinuitäten, von ›Umbrüchen‹, so ist auch die ›scientific Revolution‹ der 70er Jahre mehr als nur modisch, auch wenn sie in Gestalt wechselnder Moden daherkommt. Popkultur und das Medium Fernsehen also stehen nicht nur in einem beliebigen Verhältnis der bloßen Gleichzeitigkeit. Sie sind vielmehr aufs Engste aufeinander bezogen. Das verbindende Element ist die ›Popularität‹. Das Fernsehen spiegelt den Alltag und seine Wunschbilder, mit Adorno, seine Ideologien. Von der Ostküste und von der anderen Seite des Atlantik her gesehen, zerlegt die Pop-Kunst das kommerzielle Fernsehen und sein Programm in seine konstitutiven Elemente, die populären Bilder und Töne. Wie alle neuen Medien hebt das neue Medium Fernsehen die nun alten im Doppelsinn auf: Plakate, Comics, illustrierte Magazine, Filme, Schallplatten und nicht zuletzt alle Arten von ›Trivialliteratur‹. Die künstlerische Leistung des Pops kann man als analytische Rekombination der im neuen Medium versammelten Elemente beschreiben. Folgt man der Titelthese des Buchs von Harold Newcomb aus dem Jahr 1974, so ist Fernsehen nichts weniger als »The Most Popular Art« (Newcomb 1974), Populärkunst in ihrer gesteigerten Form. In drei Schritten soll in der Folge diese These plausibel gemacht werden. Der erste Schritt ist der einer Bestimmung des ›Populären‹ als mediengeschichtlicher

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Kategorie im Kontext einer ›langen Geschichte‹ des ›Populären‹, der ›Vox Populi‹. Der zweite Schritt geht auf die spezifische Frage nach dem ›Populären‹ im Kontext des Paradigmenwechsels der Literaturwissenschaft um 1970 ein. »Trivialliteratur und Medienkunde« war Rahmenthema des 6. Heftes der Zeitschrift LiLi aus dem Jahr 1972, die Helmut Kreuzer aus Saarbrücken über Bonn nach Siegen gebracht hat. Das Nebenthema waren die »Fernsehserien« (vgl. Schanze 1972: 79-94). Kernfrage dabei ist: Wie steht das ›Populäre‹ zum ›Trivialen‹? In einem dritten, abschließenden Schritt ist kurz auf eine medientheoretische Variation des Themas zu verweisen, die vom ›Zeitalter des Fernsehens‹ ins ›Zeitalter des Digitalmediums‹ führt, das, zu Recht oder zu Unrecht, als weitere Stufe der Steigerung, als ›Hypermedium‹, begriffen wird.

I ›Vox populi‹ – ›Vox Dei‹? Die lange Geschichte des ›Populären‹ ist Wertungsgeschichte. Die Kontroverse, ob man der ›Stimme des Volkes‹ folgen solle, wird explizit bereits im frühen Mittelalter geführt, und sie nimmt kein Ende. Wie steht es um die ›vox populi‹? Zum einen erhält sie die denkbar höchste Wertung: ›Vox populi, vox Dei‹. Höher kann man kaum greifen. Zum anderen eine dezidierte Abwertung: ›Vox populi, vox Rindvieh‹. Diese Variante wird regelmäßig auf Franz Josef Strauss zurückgeführt, von dem es allerdings nicht stammen soll, sondern aus einer Reichstagsrede vor nunmehr gut 100 Jahren. Genauere philologische Recherche allerdings geht gut 1200 Jahre zurück. Der Obertitel hat zwei historische Varianten. Hier der Text des ›Ratschlags‹ des Alkuin an den König der Langobarden und Franken aus dem Jahr 798, zwei Jahre vor dessen Kaiserkrönung in Rom: »VIIII. Populus iuxta sanctiones divinas ducendus est, non sequendus; et ad testimonium persone magis eliguntur honeste. Nec audiendi qui solent dicere: ›Vox populi, vox Dei‹, cum tumultiositas vulgi semper insanie proxima sit.« (Alkuin 1895: 199). In Sachen des Glaubens müsse das Volk geführt werden; man dürfe ihm nicht folgen. Zur Zeugenschaft solle man nur die Ehrenhaften aufrufen. Auf die solle man nicht hören, welche zu sagen pflegen: ›Volkes Stimme, Gottes Stimme‹, weil das laute Lärmen des Pöbels immer an den Wahnsinn grenze. Alkuin zitiert einen Gemeinsatz, und er lehnt dessen Gültigkeit für seinen Herrscher mit den harschen Worten »tumultuositas« und »insania« ab. Zugleich kreiert er eine Doppelbedeutung des Wortes »populus« – die Unterscheidung von ›Volk‹ und ›Pöbel‹.

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Deutlicher kann man den ›Hype‹ des ›Populären‹ nicht ablehnen. Die ›vox populi‹ sei nichtssagender Krach, ›Tumultsucht‹, die an den Wahnsinn grenze. Das aber ist höchst doppeldeutig: Grenzt nicht auch das dichterische Genie, die Inspiration der Kunst, der Zug des Dionysos an ›Wahnsinn‹? Ist das ›Populäre‹ nicht schon immer beides? Wer ist dieser Alkuin, der einem zukünftigen ›Charlemagne‹ einen solchen Ratschlag geben kann: »Höre nicht auf die Stimme des Volkes«? Der Versuch einer mediengeschichtlichen Lektüre dieses politischen Ratschlags muss zunächst seinen historischen Kontext näher beschreiben. Ging es dem Gelehrten um 800 nur um ›vox‹? Noch gab es keine ›Lautsprecher‹ und ›Volksempfänger‹. Der Kontext weist aus, dass es nicht allein um die ›Stimme‹ des Volkes geht, sondern auch um eine andere populäre Sucht, die Bildersucht. Konkreter Anlass ist ein politischer: In Byzanz hatte die Kaiserin Irene dem Volk nachgegeben und wieder die Bilder in der Kirche zugelassen. Alkuin war kein Bilderstürmer. Er nahm im damals hochaktuellen theologischen Bilderstreit eine kritische Position ein. Dass sein Schüler Karl diese Position in seinem Streben nach der Kaiserkrone sehr wohl auch politisch zu nutzen verstand, ist in der Karlsbiographie von Johannes Fried nachzulesen (vgl. Fried 2014). Entsprechende Beschlüsse wurden bereits auf der Synode zu Frankfurt am Main 794 gefasst. Mit seiner Kritik der ›vox populi‹, der lauten und bildersüchtigen Popularität, stellt Alkuin, so darf man den Ratschlag an den künftigen Kaiser lesen, die Töne und Bilder, die Medien der maximalen Direktheit in Gegensatz zur gültigen und verlässlichen Schrift. Nicht nur die karolingische Minuskel, das Medium der Gelehrten ist Programm, sie steht auch gegen die Bilder und Töne einer mächtigen Gegnerin, der byzantinischen Kaiserin. Der gelehrte Angelsachse, Leiter der Hofschule Karls, kannte sich bestens mit dem Trivialen aus. Er ist es, der das antike Trivium, Grammatik, Dialektik, Rhetorik, für das gesamte Mittelalter und die frühe Neuzeit neu erfand. Die Geschichte des Trivialen ist keineswegs von Anbeginn mit dem Populären verbunden. Das ist, worauf bereits Helmut Kreuzer implizit hingewiesen hat, eine Erfindung der antirhetorischen Moderne. Die Diffamierung des Populären als ›trivial‹ ist neuzeitlich; sie hat zu einer Verwechselung des diffamiert Populären mit dem Trivialen geführt, zur Entstehung einer Scheidung zwischen ›Hochliteratur‹ und ›Trivialliteratur‹.

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II Popularität, Trivialität und Geschichtlichkeit: ›The Most Popular Art‹ Wie aber steht das Populäre zum Trivialen um 1970? Ist ›Fernsehen‹ trivial, populär oder beides? Wie kann sich ein literarisch diszipliniertes Deutsches Fernsehen und eine Wissenschaft, deren Medium das stille Buch ist, zu knallbunten Bildern des avancierten Fernsehens und lauten Tönen aus den Lautsprechern des Public Viewing angemessen verhalten? Helmut Kreuzer war einer der ersten, der das kritische Zauberwort ›Trivialliteratur‹, bezogen noch auf die stillen Bücher, rigoros entzauberte. Was trivial ist, entscheidet eine ›führende Geschmackträgerschaft‹, die ehrenhaften, die ›honetten‹ Personen, nicht der ›Pöbel‹, nicht die ›Masse‹. Der Sprung vom 8. ins 20. Jahrhundert erscheint gewaltsam. Doch handelt es sich nicht um eine vorschnelle Aktualisierung des Tuns und Denkens der Karolinger. Wer sich mit dem Populären des Fernsehens und im Fernsehen auseinandersetzt, gerät in eine kunst- und literaturhistorisch uralte Debatte. Beginnt die Moderne des 20. Jahrhunderts mit dem veritablen Skandal des Sacre du Printemps und den Provokationen des Blauen Reiters, aber auch mit dem ›Theater der kleinen Leute‹ (Alfred Döblin), dem Kino, so ist der Beginn der Pop-Bewegung in den 60er Jahren ebenso laut wie schrill, grenzt an die »insania« des Klassizisten Alkuin. Das Neue ist die Provokation des Populären, die verschmierte Wand wie der laute, hämmernde Ton der elektronisch verstärkten Gitarren aus Nashville, Tennessee. Aber was, wenn die ›führenden Geschmacksträger‹ – Peter Ludwig und Karl Ströher voran – selber den ›Pop‹ zu ihrem Sammelobjekt machen, wenn sie ›alte Kunst‹ verkaufen und Flaggen-Bilder von Jasper Johns, Materialobjekte von Robert Rauschenberg, die Vorläufer der Pop Art, die Siebdrucke von Andy Warhol und die Comic-Bilder von Roy Lichtenstein, die Gegenstands-Nachbildungen aus weichen Materialien von Claes Oldenburg und Coosje van Bruggen, die großformatigen Bilder von James Rosenquist, die Love-Skulpturen von Robert Indiana und die antiseptischen Badezimmer-Szenen von Tom Wesselmann kaufen und in den heiligen Kunstanstalten platzieren? Die Kunstgeschichte gewinnt eine neue Epoche. Das Fernsehen, in dessen medialem Kontext diese Kunst entsteht, macht sie zum Gegenstand der Kunstberichterstattung, Kunst wird Event. ›Pop‹ wird zum ›kunstwissenschaftlichen Gegenstand‹, während eine Literaturwissenschaft zu einer ›Medienwissenschaft‹ mutiert, einem Prozess, dem sich die Kunstwissenschaften und die Musikwissenschaften, die traditionalen Wissenschaften der Bilder und Töne, tunlichst entzogen haben.

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Als Gesamtkunstwerk bringt die Pop-Art zugleich ihre lauten und leisen Töne mit, Minimal Music von Glass, Inszenierungen von Robert Wilson u.a. 1979 promovierte der eingangs bereits zitierte Walter Grasskamp, einer der besten Kenner der Szene, mit einer Arbeit zum Thema ›Trivialität und Geschichtlichkeit‹, welche die Linie von Baudelaires passante bis zu Udo Jürgens Songbook auszog (vgl. Grasskamp 1984). Den wertenden Begriff des ›Trivialen‹ setzte er unter der Definition »unnötige Wiederholung« erneut kritisch ein. Mit Michaela Krützen veröffentlichte er 2004 einen Sammelband zur Begriffsgeschichte der Pop-Kunst (vgl. Grasskamp/Krützen/Schmid 2004). Der Begriff der ›Wiederholung‹ und seine historischen und technischen Ausprägungen (Repetition, Iteration, Periodizität, Rekursion, Stereotypie, Wiederaufführung) sind mediengeschichtlich zu spezifizieren (vgl. Felix/Kiefer/ Marshall/Stiglegger 2001). Die Rhetorik der Wiederholung differenziert zwischen Prosa und Poesie, in letzterer ist sie formgebendes Mittel. In der Musik ist sie unabdingbar, in der bildenden Kunst ein reihenbildendes Moment, im Theater ist sie das Erfolgskriterium. Als Serialität wird sie zu einem genuinen künstlerischen Verfahren – nicht nur im ›Pop‹. Wenn der amerikanische Literatur- und Kommunikationswissenschaftler Horace Newcomb, mit guten Gründen und keineswegs zufällig 1974 die engste denkbare Beziehung zwischen den Televisionen und der ›Pop Art‹ herstellt (vgl. Newcomb 1974), so nutzt er diese Strukturparallelen ohne Ideologieverdacht. Sein Kernbegriff für die Televisionen, den er natürlich nicht erfunden hat, der Begriff der ›Serialität‹, ist – wenn auch in unterschiedlicher Weise – in beiden Bereichen zentral. Es dürfte also kein Zufall sein, wenn eine der ersten generellen Bestimmungen dessen, was ›Fernsehen‹ ist, und welche kulturelle Bedeutung es habe, mit dem Begriff einer ›Populären Kunst‹ arbeitet. Ebenfalls 1974 veröffentlichte Raymond Williams in London sein Buch Television. Technology and Cultural Form. Auch Williams (1921-1988), einer der Begründer der ›Cultural Studies‹, ist ›von Hause aus‹ Literatur- und Theaterwissenschaftler gewesen. In Deutschland ist er als Soziologe wahrgenommen worden. Der Kernbegriff seiner Theorie des Fernsehprogramms ist das Bild des ›Flow‹ – man kann das, wie dies Uwe Göttlich getan hat, mit ›strömenden Fluss‹ übersetzen. ›Flow‹ ist aber auch, sehen wir ab vom ökonomische Begriff des ›cash flow‹, terminologisch ein psycho-physischer Zustand, ein subjektives Erleben, mit einem anderen Wort, ein ›Hype‹, der Unmögliches möglich machen soll. ›Flow‹ ist aber auch ein Merkmal des Rap, wenn ›beat‹ und ›word‹ in optimaler Weise zusammenkommen und den Hörer mitreißen – letztlich die zentrale Wirkungskategorie der Rhetorik: ›raptus, captus‹ soll der Hörer sein.

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Newcomb wie Williams beschreiben das amerikanische Fernsehen durchaus kritisch. Sie nutzen aber mit dem ›Populären‹ eine Kategorie, welche das Fernsehen als Artefakt besonderer Art ausweist: Es ist nicht nur eine Kunst des Populären, sondern die Form seiner Steigerung, eine ›unendliche‹ Rhetorik, die den zuschauenden Hörer ohne Punkt und Komma festhalten soll. Das Programm, die Vor-Schrift, dient der Hörer- und Seherbindung. Und das lässt sich – so die Programmmacher – nur durch ›populäre Inhalte‹ erreichen. Die verbalen Diffamierungen des ›Seichten, in dem man nicht ertrinken kann‹, sind zahllos, sie verfehlen aber regelmäßig ihr Ziel. Fernsehen, nach Williams eine »kulturelle Form«, ist mit Newcomb »The Most Popular Art« – eine Steigerung des Populären als kulturelle Form, mit McLuhan »The Medium is the Message«. Diese Dicta von entlaufenen Literaturwissenschaftlern sind kritisch zu lesen, nicht affirmativ. Sie verstehen Fernsehen nicht als Technik der Macht, als bloß instrumentelle Ratio, sondern als Theorie im Wortsinn, als ›gehaltene Beobachtung‹, die der Schrift und der Sprache bedarf. Qualitätsfernsehen setzt auf ›Wiederholbarkeit‹, auf notwendige Wiederholung, und eben nicht auf ›unnötige Wiederholungen‹. Was in der deutschen Literaturwissenschaft zu einem ›erweiterten Literaturbegriff‹ führte, und, in der Folge, zu einem ›Sonderforschungsbereich Bildschirmmedien‹, wurde in den USA, in einer ungebremsten Umgebung des Kommerzfernsehens und zugleich im Kontext einer ebenso ungebremsten Popkultur (die als Gegenkultur) auftrat, zu einer Frage der Gesellschaftswissenschaften, die, paradoxer Weise, in der Schule der ›Cultural Studies‹, durchaus ihren Impuls aus der ›Kritischen Theorie‹ ziehen konnten. Die ›Medienkunde‹ musste die Rhetorik retten, um zur Erkenntnis ihres neuen Gegenstands »The Most Popular Art« zu kommen. Ohne hier weiter in die Einzelheiten gehen zu können, die in einer breiten wissenschaftlichen Literatur nachzulesen sind – allein der Sonderforschungsbereich 240 hat an die tausend Titel, darunter eine fünfbändige Geschichte des deutschen Fernsehens –, möchte ich den Gedanken an die ›Televisionen‹ als Steigerungsform des Populären aufnehmen. Fernsehen ist mehr als nur die Sendeform populärer und ›höherer‹ Inhalte, wie ›Literatur‹ und ›Theater‹. Fernsehen ist Popkultur und zugleich mehr als Pop. Fernsehen, beim Wort genommen, ist eine Utopie. Die entwickelte Audiovision, das ›Fernsehen‹, transformierte nicht nur die populären Bilder, sondern auch die populären Töne, die ›Voces‹, womit keine Rechtfertigung beliebiger Musikantenstadel gegeben werden sollte. Gelegentlich arrogiert sie sogar die ›vox Dei‹, ohne dass damit nur das Wort zum Sonntag gemeint ist. Fernsehen definiert das Trivium neu. Es hat eine eigene Grammatik,

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Dialektik und Rhetorik, womit nicht Dampfplaudern, Talkshows und Fensterreden gerechtfertigt sind. Fernsehen ist auch keine billigere Variante des Kinos oder Abspielstation für Filme, die vielleicht niemand mehr sehen will. Es ist eine Kunst, »Most Popular Art«. Fernsehen griff – wie heute die Digitalmedien – in alle Lebensbereiche, in den ›Alltag‹ ein.

III Vox populi – ›shit storm‹? Den Schluss soll eine medientheoretische Variation des Themas bilden. In der Diskussion um ›Kunst‹ und ›Medien‹ spielt, schon seit Valéry und Benjamin, die Frage eine Rolle, ob die Sensibilität der Kunst und deren Inventorik den mediengeschichtlich leitenden technischen Erfindungen vorausgehe oder ob es sich um ein Wechsel- oder gar ein Folgeverhältnis handele. Ist die Schrift Voraussetzung des ›wahren Bildes‹, oder erzwingt die Erfindung einer Kunstwirklichkeit deren ›Aufzeichnung‹? Im Falle der populären Bilder und Töne geht die Schrift den Audiovisionen voraus. Wenn Alkuin den Kaiser vor der ›vox populi‹ warnt und gegen die vulgäre »insania« argumentiert – im Kontext des Streits um das ›wahre Bild‹ oder die ›wahre Schrift‹, – so steht er auf der Seite der Schrift, des ›kühlen‹ Mediums – mit McLuhan, das ohnehin nur von wenigen beherrscht wird. Die Frage nach dem ›Trivialen‹, der Popkultur und dem ›Fernsehen‹ als der populärsten Kunst ist medientheoretisch weitaus komplexer, da moderner. In ihr konkurrieren alte und neue Medien. Nimmt man den Begriff des ›Mediums‹ modern als ›Massenmedium‹, so ist die Kunstrichtung des ›Pop‹ gekennzeichnet durch eine Paradoxie: Sie nimmt massenhaft verbreitete ›Gegenstände‹ – die Suppendosen – aus ihrem Kontext und versetzt sie in die Sphäre der höchst individuellen Kunstübung, gibt ihnen eine ganz persönliche Signatur. Alltägliches wird musealisiert. Aus einem Objekt für alle wird ein Objekt für wenige. Die »Most Popular Art«, das Fernsehen, ist dagegen wiederum eine Veranstaltung ›für Alle‹. Im ›Neuen Medium‹, dem vernetzten Computer, so scheint es, kommen beide Seiten zu sich selbst: die Kunst für alle ist Kunst aller, was in den Utopien der Medienkunst als ultimativer emanzipatorischer Akt gefeiert wird. Alkuins Position gegen die »insania« der Bilder, ob sie nun als Rechtfertigung brutaler, herrschaftlich ›instrumenteller Vernunft‹ interpretiert wird, oder als Kritik eines populären ›Hype‹, der notwendig in sich selbst, als ›Blase‹ zusammenfällt, steht immer noch in der Diskussion.

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Literatur Adorno, Theodor W. (2003): »Fernsehen als Ideologie«, in: Rolf Tiedemann (Hg.), Kulturkritik und Gesellschaft II (= Gesammelte Schriften, Band 10.2), Frankfurt am Main: Suhrkamp. Alkuin (1895): »Epist. 132, 9«, in: Ernst Dümmler (Hg.), Epistolae (in Quart) 4: Epistolae Karolini aevi (II), Berlin u.a.: Monumenta Germaniae Historica, Digitalisat, Gemeinschaftsprojekt von Monumenta Germaniae Historiae und Bayerischer Staatsbibliothek/Digitale Bibliothek, S. 199. Eisenstein, Elizabeth (1979): The printing press as an agent of change, Cambridge: Cambridge University Press. Felix, Jürgen/Kiefer, Bernd/Marshall, Susanne/Stiglegger, Marcus (2001): Die Wiederholung. Festschrift für Thomas Koebner zum 60. Geburtstag, Marburg: Schüren. Fried, Johannes (2014): Karl der Große. Gewalt und Glaube, München: C.H. Beck. Grasskamp, Walter (1984): Trivialität und Geschichtlichkeit. Das Motiv der Passantin, Aachen: Diss. Aachen. Ders./Krützen, Michaela/Schmid, Stefan (2004): Was ist Pop?, Frankfurt am Main: Fischer. Ders. (2014): Beitrag zum Katalog Ludwig Goes Pop, Köln: Verlag der Buchhandlung Walther König. Holz, Arno (1925): »Die Kunst, ihr Wesen und ihre Gesetze«, in: Hans W. Fischer (Hg.), Die neue Wortkunst (= Das Werk, Band 10), Berlin: J.H.W. Dietz Nachfolger. Kreuzer, Helmut (1975): Veränderungen des Literaturbegriffs, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Kuhn, Thomas S. (1970): The Structure of Scientific Revolutions, 2. erw. Aufl., Chicago: University of Chicago Press. Newcomb, Horace (1974): Television. The Most Popular Art, New York u.a.: Doubleday/Anchor. Schanze, Helmut (1972): »Fernsehserien: Ein literaturwissenschaftlicher Gegenstand?«, in: LiLi. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 2 (6), S. 79-94. Ders./Zimmermann, Bernhard (1994): »Fernsehen und Literatur«, in: Dies. (Hg.), Das Fernsehen und die Künste (= Geschichte des Fernsehens in der Bundesrepublik Deutschland, Band 2), München: Fink.

›T HE M OST P OPULAR A RT ‹

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Schmidt, Siegfried J./Spieß, Brigitte (1994): »Geschichte der Fernsehwerbung«, in: Hans-Dieter Erlinger/Hans Friedrich Foltin (Hg.), Unterhaltung, Werbung und Zielgruppenprogramme (= Geschichte des Fernsehens in der Bundesrepublik Deutschland, Band 4), München: Fink. Williams, Raymond (1974): Television. Technology and Cultural Form, London: Fontana.

›Cherchez la femme!‹ Anmerkungen zur literarischen Ikonografie des frühen Spiegel und zur Popularisierung literarischer Hochkultur im jungen deutschen Fernsehen R ALF S CHNELL

»1953« – so heißt es in einer 1986 erschienenen Geschichte der deutschsprachigen Literatur nach 1945 – »tauchte mit einemmal eine junge Autorin auf, die durch ein attraktives Äußeres, durch scharfen Verstand und stillen Charme Aufmerksamkeit zu erregen vermochte. Eine Philosophin, die über die Rezeption Martin Heideggers promoviert hatte, eine Intellektuelle, die über Ludwig Wittgenstein und Robert Musil, über Simone Weil und Marcel Proust zu schreiben wusste, eine Dichterin, die für ihren ersten Gedichtband mit 27 Jahren den Preis der Gruppe 47 erhielt – als Der Spiegel ihr im August 1954 eine ganze Story widmete, samt Titelporträt und literaturkritischer Eloge, war Ingeborg Bachmann mit einem Schlage berühmt, ein Medienereignis, ein literarischer Star, ein rares weibliches Geschöpf im Literaturbetrieb der Männer.« (Schnell 1986: 126)

Dem Autor dieses Textes – es handelt sich um ein Selbstzitat – ist die Faszination durch seinen Gegenstand auf eine Weise anzumerken, die man symptomatisch nennen kann. Die hier für Ingeborg Bachmann in Anspruch genommenen Persönlichkeitsmerkmale ›jung – attraktiv – scharfer Verstand – stiller Charme‹ und die Leitbegriffe ›Philosophin – Intellektuelle – Dichterin‹ erzeugen im Zusammenspiel mit dem seinerzeit exponiertesten aller Öffentlichkeitsräume, dem Spiegel, und dessen renommiertesten medialen Foren, dem ›Titelporträt‹ und der ›Story‹, die Atmosphäre einer Bewunderung, der man nur noch das Attribut ›vorbehaltlos‹ hinzufügen muss, um die Wiedergeburt jener einzigartigen Qualität wahrzunehmen, die Walter Benjamin drei Jahrzehnte zuvor verloren gegeben hatte: Die ›Einzigartigkeit der Aura‹.

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Tatsächlich umgab Ingeborg Bachmann seit jenem Spiegel-Titel ein Hauch von Genialität und Spiritualität, von Schönheit und Unberührbarkeit, von Rätselhaftigkeit und Verzweiflung, von Erotik und Leiden, der durch ihre Gedichte wie ihre ›Todesarten‹-Romane, durch ihre Liebesaffären wie ihre Verzweiflungsgesten, durch ihre Drogenabhängigkeit wie durch ihren grausamen Flammentod unablässig Stufen der Steigerung und Intensivierung durchlief. Mit einem Wort: Die Dichterin Ingeborg Bachmann wurde zu einer Ikone des Literaturbetriebs. Jener Spiegel-Titel vom August 1954 repräsentiert insoweit ein Stück Mediengeschichte der noch jungen Bundesrepublik Deutschland. Er bildete den Auftakt einer literarischen Ikonografie, zu deren unveräußerlichen Charakteristika klassische Attribute der Weiblichkeit zählten. Es handelt sich um ein Verfahren zur Popularisierung der Hochkultur – die folgenden Überlegungen fragen danach, mit welchen Mitteln es gelingen konnte, dieses Ziel zu erreichen und in welchem Zusammenhang sie mit der gleichzeitig aufkommenden Bilderkultur des Fernsehens stehen.

I Bildstrategie Dass die Fotografie auf der Titelseite des Nachrichtenmagazins deren Botschaft auf eine unwiderlegliche und unwiderstehliche Weise vermittelt, springt, auch sechs Jahrzehnte nach der Erstveröffentlichung, buchstäblich ins Auge (Abbildung 1). Auch wenn Bildeindrücke meist subjektiv geprägt sind, dürften die folgenden Beobachtungen kaum auf Widerspruch stoßen: Es handelt sich um eine Fotografie, die ihren Gegenstand en face wiedergibt, um eine Frontalansicht, die eine Person mit kurzem, welligem, mittelblondem Haar präsentiert, das über die Ohren fällt, mit starken Brauen und seitlich leicht versetzten Augen, mit einer durch Lichteffekte prägnant akzentuierten Nase und einem ausgeprägten Kinn. Dominant wirkt bei alledem der markante Mund, den die überschminkten Lippen betonen. Die Drehung des Kopfes erfolgt über die linke Schulter, und der Hals ist durch einen Rollkragenpullover verdeckt. Und auch zwei weitere Beobachtungen dürften unstrittig sein: Die Großaufnahme sprengt den für die Frontseiten des Spiegel vorgegebenen Rahmen, da sie partiell den Schriftzug »DER SPIEGEL« überlagert. Zudem lässt sich der Bildunterschrift entnehmen, um wen es sich handelt: Ingeborg Bachmann.

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LA FEMME!‹

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Abbildung 1: Ingeborg Bachmann

Quelle: Der Spiegel 34/1954

Soweit die Wahrnehmungen, auf die man sich rasch verständigen kann. Schwieriger ist die Antwort auf die Frage: ›Was‹ – nicht ›Wen‹! – zeigt dieses Titelbild? Handelt es sich um ein fotografisches Porträt, das die Identität eines Menschen, sein Gesicht in charakteristischen Zügen herausarbeitet? Wenn es ein Porträt sein sollte – wie ließe sich dann in der fotografisch eingefangenen Identität des ›Ingeborg Bachmann‹ genannten Referenten dessen Individualität bestimmen? Durch Haar, Augen und Blick, durch Mund und Nase, durch das Zusammenspiel all dieser Faktoren entsteht ein Bildausdruck, den man zweifellos ›attraktiv‹, also ›anziehend‹ nennen kann. Die Frage aber ist: Vermittelt dieser Ausdruck ein authentisches Bild von Substanz und Essenz, Wesen und Charakter der dargestellten Person? Auf zwei Wegen lassen sich Antworten auf diese Fragen finden: zum einen über die Story im Inneren des Spiegel-Heftes 34/1954, die sich zur Dechiffrierung des Titelbildes anbietet; zum anderen über die fotografische Tradition, die dieser literarischen Ikonografie zugrunde liegt. Beginnen wir mit dem zuletzt genannten Aspekt. Es gibt zumindest zwei Fotografien Ingeborg Bachmanns, die offenbar ein und demselben Fotoshooting entstammen. Eine dieser beiden Aufnahmen ist später für das Cover einer Audio-CD mit von Bachmann selbst gelesenen Texten aus Die gestundete Zeit verwendet worden. Auf der Rückseite dieser CD mit dem Titel ›Teil 1 der großen Bachmann-Edition‹ findet sich ein auf werbende Weise einführender Text, der seinerseits unverkennbar und sogar ausdrücklich auf den Spiegel-Titel von 1954 zurückweist:

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»Sie ist die Ikone der deutschen Dichtung, die von ihr erhaltenen Lesungen sind ein Mythos. In bizarren Bildern und kühner Sprache entfalten die Gedichte von Ingeborg Bachmann ihre tiefe Kraft. Früher publizistischer Erfolg, der Preis der Gruppe 47, ihr Foto auf dem Spiegel, ihre Beziehung zu Paul Celan – Stationen eines Lebens, das hinter den Texten aus den Jahren 1948-1956 steht.« (Bachmann 2004/2012: CD-Rückseite)

Nicht allein der semantische Konnex zwischen ›Ikone‹ und Spiegel-Foto ist hier von Belang, sondern auch der herbeizitierte Kulturkontext, der im Wort- und Begriffsfeld von ›publizistischem Erfolg‹ und Gruppe 47 anklingt, und ebenso die suggerierte Dynamik ›bizarrer Bilder‹ und ›kühner Sprache‹, die ihr intim-persönliches Korrelat in der Anspielung auf Bachmanns ›Beziehung zu Paul Celan‹ besitzt. Worauf dieser anpreisende Jargon zielt und worauf er ausdrücklich auch anspielt, das ist die textuelle Konstituierung jenes ›Mythos‹ Bachmann, den die Verdopplung des Bachmann-Fotos auf der Vorderseite der CD ikonografisch zu beglaubigen hat. Das Konterfei der Dichterin erscheint im Vordergrund in klaren Konturen, im Hintergrund aber, vergrößert, in einer Art gedämpfter Weichzeichnung – als eine Art Nachhall des Lebens in mythischer Entrückung. Der Spiegel aber verfährt anders – er bietet seinen Lesern ikonografisch klare Konturen, und dies nicht ohne einen mediengeschichtlich triftigen Grund. Denn die durch das Nachrichtenmagazin aus jenem Shooting für das Titelbild gewählte Aufnahme knüpft an eine fotografische Traditionslinie an, deren Spuren sich bis in das Jahr 1936 zurückverfolgen lassen, bis zur Gründungsphase des amerikanischen Life Magazine nämlich und seiner Bilderserie Faces. Bereits einen Monat nach dem Erscheinen der ersten Ausgabe präsentierte Life in der Edition vom 28.12.1936 eine Kolumne mit diesem Titel. Hans Belting hat den Titel für seine ›Geschichte des Gesichts‹ (Untertitel) übernommen, und dies mit Bedacht, trug dieser Begriff doch seit seiner ersten Verwendung in sich den Keim zur Begründung eines komplexen, vielgestaltigen, gleichwohl in sich konsistenten medienhistorischen Genres: »Um das Wesen der prominenten faces auf eine anschauliche Metapher zu bringen, präsentierte das Magazin einen gesichtslosen Kopf, auf den sich beliebig viele Gesichter alle auf die gleich Weise projizieren ließen. Diese Schablone ähnelt dem Ständer von Kostümpuppen, die stets neu bekleidet werden. Sie verkörpert gleichsam eine gesichtslose Medienpraxis, die sich als Matrix von all den Gesichtern eignet, die auf ihr Platz finden und sich dort den Platz ständig streitig machen. Es ist diese unbeschränkt verfügbare, aber auch gefräßige Medienpräsenz, welche Gesichter zu Mediengesichtern macht […].« (Belting 2013: 218)

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Abbildung 2: Life

Quelle: Belting (2013: 217)

Erstaunlich an dieser Matrix ist ihre medienästhetische Polyvalenz. Offenbar bietet der Modellkopf, der den wechselnden faces zugrunde liegt, eine hinreichend offene Struktur, um gänzlich unterschiedliche Persönlichkeitsbilder und Ausdrucksgesten auf sich zu vereinen. Weder die Geschlechterdifferenz noch die Kulturspezifik, weder der politische Hintergrund noch die Accessoires der Moden verweigern sich der Projektion auf eine gemeinsame Basis. Ebenso lässt sich umgekehrt feststellen, dass das Strukturmodell des Kopfes als gemeinsamer Nenner der Porträts deren Einzigartigkeit nicht in Frage stellt. Um mit Hans Belting zu sprechen: »Die Beispiele, die unterhalb des anonymen Kopfschemas nebeneinander aufgereiht sind, bieten eine handgreifliche Lektion für das Paradox, dass die Gesichter ausgewechselt wurden und doch in jedem Fall unverwechselbar waren oder unverwechselbar schienen. Die Gesichter kamen und gingen, die Medien aber blieben.« (Ebd.)

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Nach exakt diesem Muster verfuhr auch der Spiegel im Fall Ingeborg Bachmanns. Er orientierte sich an der mediengeschichtlich durch Life begründeten und seinerzeit in mehr als einem Jahrzehnt bewährten Tradition einer Galerie von ›notable and notorious faces‹, deren wöchentlicher Austausch dem gleichförmigen Takt der eingehenden ›news‹ gehorchte, deren Präsentationsrhythmus aber den Attraktionen der Aktualität folgte, dem Maß dessen also, was als ›bedeutend und bekannt‹ gelten konnte. Das Foto der Dichterin Ingeborg Bachmann wurde mithin auf das Titelblatt des Spiegel 34/1954 nach einem bestimmten, publizistisch hinlänglich bekannten Muster projiziert. Es wurde angepasst an ein invariantes Format und damit eingereiht in eine mediengeschichtlich ausgewiesene Bildertradition. Es wird auf diese Weise zum Bestandteil einer vorgefertigten, formatierten Galerie wechselnder und insoweit auch auswechselbarer faces. Dass sich in dieses Schema fotografisch differenzierte Porträts individueller Physiognomien nicht einpassen lassen, liegt auf der Hand. Gleichwohl bleibt – und hieraus entspringt die Qualität der Unverwechselbarkeit – als Referenz der Fotos das Gesicht der abgelichteten Personen erhalten. Um Missverständnissen vorzubeugen, sei betont: Die Maske repräsentiert keine Lüge. Sie lanciert keine Täuschung über den wahren Charakter einer Person. Doch nimmt sie eine Einengung und damit im Wortsinn eine Ver-Stellung jener Persönlichkeitszüge vor, die sich hinter ihr verbergen – im Unterschied zur Porträtfotografie mit ihrer Bewahrung einer möglichst großen Vielfalt charakteristischer Ausdrucksformen. Das Porträt sucht die Identität der Persönlichkeit zu wahren, um ihr Dauer zu verleihen, während bei diesem Spiegel-Cover die Akzentuierung eines bestimmten Einzelzuges der Komplexitätsreduktion dient. Man kann insoweit von der Tradition der ›Maske‹ im lateinischen Ursprungssinn des Wortes ›persona‹ sprechen, also der physischen Stellvertretung einer Person oder von Persönlichkeitsmerkmalen auf der Bühne. Sie nimmt dem Gesicht nichts weg, doch sie konturiert und akzentuiert es in spezifischer Weise.1 Die literarische Ikonografie, die auf diese Weise im Spiegel praktiziert wird, ist kein Einzel-, sondern, wie sich an zahlreichen Beispielen nachweisen ließe, der Regelfall. So wird bei einer Aufnahme Max Frischs (Der Spiegel 41/1953) – vermittelt durch eine Kameraeinstellung von unten und das von oben lachende Gesicht des Dichters und im Zusammenspiel mit der Bildunterschrift »Schweizer in dieser Zeit« und »Logenplatz im Welttheater« – der Eindruck von Heiter-

1

Zum Verhältnis von Gesicht und Maske vgl. Belting (2013: passim); Macho (2011: passim).

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keit, Überlegenheit und Kosmopolitismus geboten. Ein anderes Exempel, abermals eine literarische Maske, bietet ein Spieggel-Titel mit dem Konterfei Heinrich Bölls. Abbildung 3:Heinrich Böll B

Quelle: Der Spiegel 50/196 961

Im Unterschied zur Aufnahme von Ingeborgg Bachmann wird bei Heinrich Böll, verstärkt durch einen beengenden Bildrahmeen und den dunklen Hintergrund, ein Ausdruck von Grübelei, Düsternis und Provvinzialität hervorgerufen. Auch hier wird durch die Reduktion von Komplexitätt eine Konturierung und Akzentuierung vorgenommen, auch hier bedeutet diesees Verfahren: Maskierung. Doch die bildstrategische Differenz zum Bachmann-T Titel ist evident: Die Autorin wird zum Star gemacht, die Dichterin in den Ranng einer Ikone erhoben – eine Deutung, die sich ergänzen und fundieren lässt ddurch eine Analyse der Textstrategie innerhalb der Spiegel-Story.

II Textstrategie Die Brücke zum Text im Innern des Heftes schlägt die Bildunterschrift auf der Titelseite. Neben dem Namen ›Ingeborg Bacchmann‹ liest man dort die Hinweise »Gedichte aus dem deutschen Ghetto«, ferner »Neue römische Elegien«, schließlich »(Siehe Lyrik)« – Hinweise, diee sich im Text selbst als Leitmotive

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wiederfinden und die Wahrnehmungen der Leser über die Wertungen des (anonymen) Autors steuern. Der Artikel beginnt nach klassischem journalistischem Baumuster mit einer Straßenszene: »Im schlampigen Make up einer Anna Magnani, mit furiosen Gebärden, die sie ihrer großen Landsmännin nicht zu entlehnen braucht, überschüttet eine junge schwarze Römerin zwei Carabinieri mit wildem Wortschwall. Ein Chor kleiner Leute, die das GratisSchauspiel auf dem Frühmorgenwege zur Arbeit genießen, umsteht den Auftritt, spendet Beifall und feuert an.« (Der Spiegel 34/1954)

Die Szene wird zum Tribunal. In dessen Mittelpunkt steht die auf dem Titelbild ›Ingeborg Bachmann‹ genannte Person. Sie missversteht die Carabinieri zunächst, die ihr die Lärmbeschwerde der römischen Doppelgängerin Anna Magnanis überbringen wollen. Als sie schließlich doch versteht, holt die Signorina ihre kleine Kofferschreibmaschine hervor und erklärt den Hütern der öffentlichen Ordnung anhand eines Blattes Papier »mit ein paar Zeilen in einer barbarischen Sprache«, was sie des Nachts treibt. »Oh, poeta!« lautet der überraschte Kommentar – »So kleine Gedichte und so viel Lärm!«. Das Stichwort ›deutsches Ghetto‹ aus der Bildunterschrift des Titelblatts hat damit eine erste Dechiffrierung erfahren. Jene ›Signorina‹ genannte Dame, Ingeborg Bachmann also, ist als Angehörige einer Minderheit identifiziert, die in der italienischen Metropole einer befremdlichen, zudem ruhestörenden Tätigkeit nachgeht und dennoch – »Oh, poeta!« – die Bewunderung der uniformierten Vertreter einer Kulturnation erregt. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass die äußere Erscheinung dieser Signorina innerhalb des Textes mit erstaunlichen Zuschreibungen versehen wird: »viel blondes Haar, sanftbraune Augen, still und scheu in Ausdruck und Rede« heißt es da unter Aufbietung von einfühlsamen Attraktivitätsattributen, denen der Artikel wenig später das kennerisch genießende Resümee eines namhaften Schriftstellerkollegen hinzufügt: »ein schönes Mädchen, flirrend in der Bescheidenheit dessen, der noch nicht sehr lange schreibt« – so hat laut Spiegel (34/1954) der Dichter Wolfgang Weyrauch einst die junge Ingeborg Bachmann charakterisiert. Man kann bezweifeln, dass sich diese Urteile ohne Weiteres in Übereinstimmung mit den Ausdruckswerten des Titelfotos bringen lassen. Auch wenn die Wahrnehmung fotografischer Stimmungen und Valeurs subjektiven Deutungen Spielräume eröffnet, bleiben gegenüber den im Text vorgenommenen Zuschreibungen Zweifel. Zu sehen ist auf dem Titelblatt durchaus nicht ›viel blondes Haar‹, auch von einem ›stillen und scheuen‹ Gesichtsausdruck wird man nur mit Vorbehalten sprechen können, und ob die Augen das Epitheton ›sanftbraun‹

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verdienen, mag dahingestellt bleiben. Unzweifelhaft aber dürfte sein: Das Cover des Spiegel (34/1954) ist auf die Erregung von Aufmerksamkeit angelegt. Die Bildunterschrift bedient sich aus dem rhetorischen Arsenal der Skandalisierung – ›deutsches Ghetto‹. Sie bemüht die höchsten Höhen der Literaturgeschichte – ›römische Elegien‹. Und sie kokettiert durch den zart in Klammern gesetzten Imperativ ›(Siehe Lyrik)‹ mit dem unübersehbaren Widerspruch zum Markenkern ›Nachrichten und Politik‹, den sich der Spiegel 1954 im Laufe von sieben Jahren geschaffen hatte. Die fotografische Maske erweist sich im Zusammenspiel mit den Zuschreibungen auf dem Spiegel-Titelblatt als ein kulturelles Konstrukt, das der Formatierung von Wahrnehmung dient. Es handelt sich offenbar um Signale der Aufmerksamkeitserregung, die der Text im Innern des Heftes partiell aufnimmt, um sie auf seine Weise fortzuführen. Auf die zitierte Eingangsszene folgt eine Reihe von Stichworten, die nach Art von Thesen eine kulturelle Verortung der Dichterin Ingeborg Bachmann vornehmen, eine Kartierung ihres Geistes, ihrer Prägungen, ihrer Begabungen und Neigungen, ihres Künstlertums. Es sind Stichworte, die als Reizwörter fungieren. Sie lauten: • • •





Philosophie: »Es klingt beinahe nach lyrisch verbrämter Philosophie. Und tatsächlich ist Ingeborg Bachmann philosophisch belastet.« Rom: »Rom brachte die – vielleicht nicht ganz unbewusst angestrebte – Wendung in ihrem lyrischen Schaffen.« Generation: »Das Gedichtemachen aus dem Unbehaustsein und der Distanz ist der gesamten jungen Lyrik gemeinsam. Es ist das Kennzeichen der zwischen den beiden Weltkriegen Geborenen […].« Ausdrücklich genannt wird neben Paul Celan, Walter Höllerer und Heinz Piontek auch der angebliche Dichter George Forestier (Ich schreibe mein Herz in den Staub der Straße, 1953), der sich 1955 als frei erfundene Figur erwies. Musik: »Diese lyrische Situation ist nicht unähnlich derjenigen der jungen Musik. Die exponiertesten Neutöner in aller Welt sprechen eine fast uniformierte Tonsprache. Ihre Grammatik besteht nur noch aus Kürzeln, der Klang wird atomisiert, alle gemeinsamen Bezüge sind zerschnitten.« Inhalt-Form: »Unbestimmtheit der Thematik ist ein internationales Kennzeichen der jungen Lyriker. […] Und nicht nur inhaltlich, auch im Formalen stehen die jungen Lyriker in enger Kommunikation. Den ungeschriebenen Regen der internationalen Moderne getreu, meidet Ingeborg Bachmann in ihrem ersten Gedichtbändchen Die gestundete Zeit konventionelle Strophenformen. Sie schreibt reimlose Zeilen. Die deutsche Liedform wird nur selten und dann im Kontrast verwendet.«

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Das Explikationsmuster, dem die Entfaltung dieser Stichwörter folgt, ist vergleichsweise simpel: An den einmal gesetzten Terminus schließen sich jeweils vergleichsweise vage Ausführungen und Erläuterungen an, mit mehr oder minder konkreten Belegen, die gelegentlich widersprüchlich sind und dennoch einen Generalisierungsanspruch vertreten. Beispielhaft hierfür kann das Resümee des Artikels stehen: »Trauer und Klage um das Verlorene; das Gefühl des Absterbens; Angst vor dem Unheimlichen einer mechanisierten Welt; Feindlichkeit der Zeit und Erlösung in Schlaf und Traum – so schattenhaft und ganz ungefähr nur lassen sich die Inhalte vieler Gedichte Ingeborg Bachmanns angeben. Alles wird so andeutungsweise gesagt, dass es dem Leser freisteht, seine Empfindungen und Gedanken in diese oder jene Richtung zu lenken.« In diesem Zusammenhang könnte man, an die zitierten Beobachtungen anschließend, von einer generellen Qualität anspruchsvoller zeitgenössischer Lyrik sprechen: dass sie nämlich Assoziationsräume öffnet, in denen das Reflexionsund Phantasiepotential des Lesers sich zu bewegen vermag, frei, offen, ungelenkt. Doch gerade diese Tugend verfällt dem Verdacht fehlender Präzision: »Zumal in der vor-römischen Gestundeten Zeit mangelt es der Bachmann trotz vieler starker Einzelheiten an der Geschlossenheit des Gedichtes, es fehlt der Sinnkern, auf den eindeutig alle Zeilen, die Bilder und die mehr abstrakten Aussagen bezogen sind. Diese Gedichte sind sehr weitmaschig, der Sinn wird nicht eingefangen, sondern geht geisterhaft hindurch.«

Formuliert man diese Kritik um, indem man ihre Kriterien zusammenfasst, dann besitzt man eine gleichsam ›positive‹ Poetik zeitgenössischer Lyrik. Geschlossenheit, Sinn, Eindeutigkeit, Konkretion lauten deren Basiselemente, eine Poetik, die Bachmann in ihren in Rom entstehenden Gedichten offenbar erfüllt, denn deren ›geschlossene Formen‹ werden ausdrücklich gelobt: »Auffallend, aber nicht entscheidend, ist hier die Rückkehr zum Reim. Vielmehr werden die klar auf einen festgehaltenen Sinn bezogenen Bilder bestimmend, die nun das abstrakte Wort sicher eingrenzen, es erhellen, aber auch wiederum von ihm her Licht empfangen.«

Es kann in unserem thematischen Zusammenhang nicht darum gehen, die Triftigkeit dieser Beobachtungen und die Stichhaltigkeit der Urteile anhand der Gedichte Ingeborg Bachmanns im Einzelnen zu überprüfen. Immerhin darf man dem zitierten Spiegel-Artikel attestieren, dass er Argumente vorlegt und diese dem Leser mit Zitaten zur Nachprüfung auch im Detail anbietet. Und doch ist

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mit der hier nachgezeichneten Textstrategie eine Deutungsabsicht verbunden, die nicht auf die Entfaltung der ästhetischen Dimensionen von Gedichten angelegt ist, sondern – im Zusammenspiel mit dem Titelbild – auf die Verfügung über diese. Die oben genannten Stichworte repräsentieren hermeneutische Setzungen, denen jeweils verifizierende Präzisierungen folgen. Es handelt sich um ein Verfahren der Deduktion, das sich die kunstvolle sprachliche Immanenz der lyrischen Produktion Ingeborg Bachmann unterwirft, um seine Setzungen zu beglaubigen. Dieses Verfahren geht nicht von den Gedichten aus, um deren Formensprache und ihre Valeurs herauszuarbeiten, sondern setzt ein mit einer Beobachtung der sozialen, kulturellen und intellektuellen Umgebung, in denen die Gedichte stehen, um vor diesem Hintergrund über sie zu verfügen. Auch hier ist der vergleichende Blick auf den Spiegel-Titel (50/1961) zu Heinrich Böll aufschlussreich. Die Textstrategie dieses Beitrags exekutiert die Aussage des Titelbildes – Grübelei, Düsternis, Provinzialität – in Form einer weit ausholenden, literaturkritische wie literaturwissenschaftliche Urteile einbeziehenden Würdigung des Autors, deren Kern das Zitat eines Berichts im Berliner Tagesspiegel über eine Lesung Bölls bildet: »Dieser Vierziger […] mit dem ernst versorgten Ausdruck, dem krausen, am Scheitel sanft gelichteten Haar und der ruhigen, etwas kehligen Stimme, der vermutlich so aussieht wie die stillen Kleinbürger, die er beschreibt, ist der beste Interpret seiner eigenen Werke, er strahlt Ernst und Fassung aus, Anstand und Solidität.« (Der Spiegel 50/1961) In der Titelgeschichte des Spiegel wird dieses Urteil zum Maßstab für den literarischen Autor: Durchweg erscheint das Frühwerk Bölls – von Der Zug war pünktlich (1947) bis Billard um Halbzehn (1959) – sentimental und melancholisch, durchsetzt von einer ›allzu lustbetonten Tristesse‹, entworfen aus einem ›allzu engen Blickwinkel‹, Ausdruck einer ›penetrant-nahsichtigen Realistik‹. Selbst das Böll attestierte ›grotesksatirische Talent‹ verflüchtige sich bisweilen zu einem ›Grau-in-Grau-Realismus‹. Auch wenn der Text gegen den Schriftsteller gelegentlich den engagierten Zeitgenossen und Kirchenkritiker Heinrich Böll ins Feld führt – dem Zusammenhang zwischen gesellschaftspolitischem Kommentar, literarischer Ästhetik und öffentlichem Renommee geht der Spiegel nicht auf den Grund. Hans Magnus Enzensberger hat die Funktion dieser für den Spiegel signifikanten Form strategisch angelegter Textgenerierung bereits 1957 auf eine noch heute bedenkenswerte Weise analysiert. Seine Einsichten in »Die Sprache des Spiegel« fasste Enzensberger seinerzeit in fünf Thesen zusammen, deren prägnanteste auch in unserem Zusammenhang von Belang ist. Der Spiegel, so Enzensberger, »übt nicht Kritik, sondern deren Surrogat« – der Leser »wird nicht orientiert, sondern desorientiert« (Enzensberger 1962: 100). Eine These, die sich

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auch anhand des Bachmann-Titels unschwer belegen lässt. Der Spiegel-Text bemüht Ludwig Curtius, den einstigen Direktor des Archäologischen Instituts, um die spezifische ›deutsche‹ Schicksalsdimension der Metropole Rom zu authentifizieren, er zitiert Conrad Ferdinand Meyers Gedicht ›Der römische Brunnen‹ und ruft als Kronzeugen einer biografisch beglaubigten »geistigen Verbundenheit mit Rom« (Curtius) sogar jenes inzwischen abgerissene Haus »an der Ecke von Via del Tritone und Via delle quattro Fontane [auf], wo Nietzsche über dem Brunnen des Bernini das ›Nachtlied des Zarathustra‹ geschrieben hat«. Das Fazit dieses Abgleichs zwischen Geschichte, Biografie und Werk lautet im Blick auf Ingeborg Bachmann: »Gleichsam im deutschen Getto [sic!], in Roms Altstadt, wird nun wieder einmal deutsch gedichtet – vielleicht irgendwo unter Nietzsches Niveau, aber doch nicht ohne Repräsentanz von lyrischer Dichtung in dürftiger Zeit.« Solche jovial ausgebreiteten Gemeinplätze verdunkeln, in der Tat, wovon sie sprechen. Hinter ihnen verschwindet, worum es der Bildunterschrift zufolge eigentlich gehen soll: die Lyrik Ingeborg Bachmanns.

III Literaturbetrieb und Popkultur Welche ›historischen und ästhetischen Berührungspunkte‹ – so der Untertitel des vorliegenden Bandes – lassen sich zwischen dem Erscheinungsbild und der Textgestalt des Spiegel in den 1950er Jahren einerseits und der Semantik der Fernsehfrühzeit in der Bundesrepublik Deutschland identifizieren? Hierzu nur einige wenige Hinweise, die einer ausführlicheren Begründung und Analyse bedürften, als sie der vorgegebene Rahmen der Publikation erlaubt. Um die Antwort in einer These zusammenzufassen: Wenn es zutrifft, dass das Gesicht Ingeborg Bachmanns nicht in Form eines Porträts bewahrt, sondern in Gestalt einer Maske akzentuiert und damit reduziert wird; wenn weiter zutrifft, dass dieser Maske – ein Instrument und das Medium der Stilisierung von Persönlichkeitsmerkmalen – eine ikonische Funktion zukommt; wenn auf diese Weise einer Lyrikerin die Qualitäten und Dimensionen eines Stars zugeschrieben werden und diese ihr damit auch in der Wahrnehmung des Publikums und ihrer Leser anhaften – wenn all diese charakteristischen Merkmale einer populären Kultur auf jenes Titelbild zutreffen, dann wird man dem Nachrichtenmagazin Der Spiegel eine Vorläuferfunktion bei der Einebnung und Aufhebung traditionsreicher Schwellen zwischen Populär- und Hochkultur zuschreiben dürfen. Dabei gilt es eine entscheidende Differenz zu den geläufigen Bildstrecken der Spiegel-Titelbilder wahrzunehmen. Wo im Fall von – beispielsweise – Staatsmännern eine weitgehende Entsprechung und damit eine wechselseitige

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Erhellung von Bild und Persönlichkeit, Gesichtszügen und Geschichtsleistung, Individualität und Repräsentativität angestrebt und bisweilen auch erreicht wird, gelingt dies in der Regel bei Autoren und Künstlern nicht. Das Porträt eines Künstlers ist nicht der Ausdruck seines Werks, das Foto eines Dichters allenfalls ein Abbild, womöglich ein Abziehbild seiner biografischen Existenz. Die suggestiv hergestellte Nähe zwischen Bild und Text führt – dies gilt für den Bachmann- ebenso wie für den Frisch- und auch den Böll-Titel – zu einem durchaus gewollten Kurz-Schluss. Frischs Dramen, Bachmanns Lyrik, Bölls Romane – sie werden allesamt zu Zeugen und Zeugnissen, zum Beleg- und Anschauungsmaterial einer so nicht intendierten populären Kultur. Die Analogie zum Fernsehen der 1950er Jahre liegt auf der Hand. Der Film lieferte hier zunächst den Maßstab. Das neue Medium bediente sich der Kultfiguren vergangener Epochen wie zeitgenössischer Produktionen: »Zahlreiche Unterhaltungssendungen bezogen sich immer wieder aufs Kino, schmückten sich mit Kinostars und inszenierten Musiksendungen um populäre Filmsendungen. […] Die Fiktionsproduktion des Fernsehens orientierte sich jedoch nicht am Film und seinen ästhetischen Möglichkeiten, sondern am Theater.« (Hickethier 1998: 149)

Der Weg führte vom Volkstheater und den Dialektbühnen (Millowitsch, Ohnesorg, Komödienstadl) zur Weltliteratur und zur Hochdramatik (Goldoni, Molière, Gogol, Tschechow, Shaw). Vorbereitet wurde damit der Weg von der ästhetischen Moderne (Thornton Wilder, Tennessee Williams, Eugene O’Neill, Jean Anouilh, Jean Giraudoux) zur deutschen Dramatik der 1920er und 1930er Jahre und der Gegenwart (Georg Kaiser, Ödön von Horváth, Bertolt Brecht). Es sind mediengeschichtliche Zwischenstufen, die sich hier abzeichnen, Stadien der Vorbereitung einer eigenständigen Fernsehästhetik, die erst zu Beginn der 1960er Jahre realisiert wurde, mit dem ›Kleinen Fernsehspiel‹ des ZDF als dem exemplarischen Signal für eine medienästhetische Eigenständigkeit der TV-Kultur. Es handelt sich, wohlgemerkt, um eine strukturelle, nicht um eine inhaltliche Analogie zur Ikonografie des Spiegel. Wo dieser – stimuliert durch das jeweilige Titelfoto – eine Popularisierung literarischer Hochkultur unternahm, realisierte das deutsche Fernsehen in einer Art nachholender Bildungsbemühung eine Etablierung der Hochkultur, und zwar in zweierlei Hinsicht. Zum einen wurden – so könnte man mit Heiner Müllers scharfzüngiger Bemerkung zur DDR-Kultur sagen – die »Höhen der Kultur planiert, damit sie erstürmt werden konnten« (Müller 1992: 153). Beispielhaft hierfür kann die – auch von Hickethier zitierte – Fernsehinszenierung Ludwig Bergers von fünf der Komödien William Shakes-

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peares stehen, »in einer sehr verkürzten und bearbeiteten Form« (Hickethier 1998: 150), transponiert ins 19. Jahrhundert und damit zumindest tendenziell angenähert dem zeitgenössischen Publikumsgeschmack. Zum anderen aber vollzog sich in den Anfangsjahren des Deutschen Fernsehens eine Aufwertung des öffentlichen kulturellen Anspruchsniveaus, und zwar in Gestalt seiner gegenläufigen, gleichsam nachgeholten Rehabilitierung. Botho Strauß berichtet in seinem 2014 erschienenen autobiografischen Essay Herkunft auf eindrucksvolle Weise »von diesem oder jenem wunderbaren Schauspieler, der im ›Deutschen Fernsehen‹ zwischen 1959 und 1963 auftrat, als es nur ein Programm gab. Jene wackeren Idole, die mich über die Grenze führten der nüchternen Zeit und mir den Weg zum Theater wiesen. Schauspieler! Wer sonst« (Strauß 2014: 63). Strauß nennt in diesem Zusammenhang die Namen Ernst Fritz Fürbringer, Elfriede Kuzmany, Hermine Körber, Hartmut Reck, Horst Frank, Walter Richter, Benno Sterzenbach, Ernst Deutsch, Will Quadflieg, Max Eckhard, Heinz Reincke, Karl Wittlinger, Horst Bollmann, Ernst Schröder, Elisabeth Flickenschildt, Hans Mahnke, Hansgeorg Laubenthal, Karl Paryla, Hanns Messmer, Ernst Stankovski, Karl Schönböck – fürwahr ein deutsches Bühnenstar-Ensemble der 1950er und 1960er Jahre. Und nicht weniger eindrucksvoll die Namen der Autoren und die Titel ihrer Werke, darunter Goethe, Schiller, Dostojewski (in einer Bearbeitung von Leopold Ahlsen), Max Frisch, Friedrich Dürrenmatt, Samuel Beckett, Martin Walser, Hans Günter Michelsen, selbst der seinerzeit weithin verfemte Bertolt Brecht und nicht zuletzt Eugene O’Neill – »wie überhaupt das Gesamtwerk des Meisters gezeigt zu haben ein unschätzbares Verdienst der Dramaturgen des ›Deutschen Fernsehens‹ war« (Strauß 2014: 65). Und auch die Riege der Regisseure – darunter Kurt Wilhelm, Ernst Noelte, Gustaf Gründgens und Ettore Cella – spricht für höchste Qualität in der Frühzeit des Deutschen Fernsehens. Diese Qualität verdankte sich ohne Frage der verlässlich terminierten und medienspezifischen Einrichtung der Bühnenwerke: »Anfang der Sechziger jeden Donnerstag Theater im Fernsehen«, so Strauß. Und weiter: »Keine Aufzeichnungen, sondern ›fernsehgerecht‹ inszeniert die Stücke der Klassik und der Moderne« (Strauß 2014: 64). Nicht anders verhielt es sich mit dem Bildungsanspruch der Dritten Fernsehprogramme. Nimmt man Hans Werner Richters Tagebücher der Jahre 1966 bis 1972 zur Hand, dann kann man nachlesen, nachspüren und nachempfindend auch bedauern, was im Fernsehen einmal möglich war und heute nicht mehr vorhanden ist (Richter 2012: passim). Es war – partiell auch unter Federführung von Ernst Schnabel – das Fernsehen der Hochkultur mit Walter Jens, Hans Mayer und Marcel Reich-Ranicki. Im Mittelpunkt der Diskussionen standen Samuel Beckett, Bertolt Brecht und Fritz Kortner. Gepflegt wurde die Tradition

›C HERCHEZ

LA FEMME!‹

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der Gruppe 47 im Berliner Domizil am Hasensprung und die Aura ihrer namhaften Repräsentanten, von Günter Grass über Heinrich Böll zu Martin Walser (Hickethier 1998: 231). Alle, die seinerzeit Rang und Namen hatten und zum Teil heute noch besitzen, waren damals dabei, auch Germanisten übrigens wie Eberhard Lämmert und Peter Wapnewski. Am Anfang der populären Vermittlung von Kultur – so lässt sich unser Befund pointiert resümieren – stand im Spiegel wie in den anspruchsvollen TVProgrammen der Versuch, den sachlichen Gehalt der verhandelten Gegenstände ebenso wie deren künstlerische Substanz einem breiteren Publikum zu vermitteln. Spurenelemente hiervon – um nur einige wenige Beispiele zu nennen – bieten, nachdem Das Philosophische Quartett entfallen ist, heute allenfalls noch Formate wie ARD (zuvor: BR)-Alpha und Scobel. Schon Das literarische Quartett und vollends Titel, Thesen, Temperamente (von und mit Max Moor) oder die Sendung Aspekte des ZDF – zeigen sinnfällig, wohin der kulturpopularisierende Weg jener literarischen Ikonografie des Spiegel-Titels (34/1954) geführt hat. Es war ein langer und gewiss kein geradliniger Weg – seine Entwicklungsrichtung aber ist eindeutig. Sie lässt sich anhand des Spiegel selbst über mehr als zwei Jahrzehnte hinweg am Beispiel der ikonografischen Präsentation von Marcel Reich-Ranicki verfolgen: von der Fratze (Spiegel 40/1993) zur Karikatur (Spiegel 34/1995), vom Divertimento (Spiegel 25/2001) zur Maske (Spiegel 39/2013).

Literatur Bachmann, Ingeborg (2004/2012): Ingeborg Bachmann liest Die gestundete Zeit. Frühe Gedichte und Prosa, München: Der Hörverlag. Belting, Hans (2013): Faces. Eine Geschichte des Gesichts, München: C.H. Beck. Enzensberger, Hans Magnus (1962): Einzelheiten I. Bewußtseins-Industrie, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Hickethier, Knut (1998): Geschichte des deutschen Fernsehens, Stuttgart: J.B. Metzler. Macho, Thomas (2011): Vorbilder, München: Fink. Müller, Heiner (1992): Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen, Köln: Kiepenheuer & Witsch. Richter, Hans Werner (2012): Mittendrin. Die Tagebücher 1966-1972, Dominik Geppert (Hg.), München: C.H. Beck.

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Schnell, Ralf (1986): Die Literatur der Bundesrepublik. Autoren – Geschichte – Literaturbetrieb, Stuttgart: J.B. Metzler. Strauß, Botho (2014): Herkunft, München: Hanser. Bilder und Textzitate aus Der Spiegel sind anhand der angegebenen Zeitschriftennummern und der Jahreszahlen problemlos über das Internet zu erschließen (ohne Paginierung). Online unter: www.spiegel.de/spiegel/print/

15 Minutes of Fame Andy Warhol als Superstar seines Popkosmos S TEFAN G REIF

Andy Warhols Verhältnis zum Fernsehen scheint unverkrampft gewesen zu sein. Daraufhin befragt, wie ihm die Musikclips auf MTV gefallen, räumt er ein, regelmäßig zu den Videos der New Wave-Band Duran Duran zu masturbieren (vgl. Bockris 2003: 475). Doch es sind nicht erst Clips wie Girls on Film, die Warhols Fernsehbegeisterung wecken. Früh schon entdeckt er die strukturellen und formalästhetischen Verwandtschaften zwischen Pop- und Fernsehkultur. Über deren gemeinsame Zielsetzung heißt es in POPism. Meine 60er Jahre, jede Form der Serialisierung, also »immer wieder dieselben Plots, Einstellungen und Schnitte«, schaffe ideale Voraussetzungen, um längerfristig nur noch »dasselbe« zu sehen. Den unbestrittenen Vorzug des Fernsehens sieht Warhol allerdings in der Möglichkeit, bereits ausgestrahlte Sendungen beliebig oft zu wiederholen: »[J]e länger man sich immer wieder dasselbe ansieht, desto mehr verschwindet die Bedeutung, und desto wohler und leerer fühlt man sich.« (Warhol/Hackett 2008: 87) Mit verwandten Worten leitet Warhol in Die Philosophie des Andy Warhol von A bis B und zurück zu seinen eigenen Fernsehprojekten über. Einleitend berichtet er, welche innere Motivation ihn dabei antreibt: »Ich befinde mich in einem Konflikt, weil ich schüchtern bin und dennoch gern viel persönlichen Raum einnehme. Meine Mutter hat immer gesagt: ›Dräng dich nicht in den Vordergrund, aber laß jeden wissen, daß du da bist.‹ Ich wollte über mehr Raum verfügen, als ich hatte, aber ich wußte auch, daß ich zu schüchtern war […]. Genau aus diesem Grund glaube ich nämlich, daß das Fernsehen das Medium ist, in dem ich am liebsten glänzen würde. Ich bin wirklich auf jeden eifersüchtig, der seine eigene Show im Fernsehen hat. Wie gesagt, ich möchte meine eigene Show – unter dem Titel: Nothing Special.« (Warhol 2009: 134)

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Dreimal hat sich Andy Warhol diesen Wunsch erfüllt: 1976 strahlt Manhattan Cable zehn je 30-minütige Sendungen mit dem Titel Andy Warhol’s Fashion aus. In ihnen spricht er mit Besuchern der Factory sowie zahlreichen New Yorker Models und Künstlern über Stilfragen und Popkultur. Nur regional zu sehen ist 1980 auch Andy Warhol’s TV. Über Madison Square Garden Network verbreitet, treten nun internationale Stars wie Debbie Harry, Giorgio Armani oder Liza Minelli auf, um über Modetrends und Lifestyle zu plaudern. Einem größeren Fernsehpublikum wird Warhol schließlich bekannt, als er von 1981 bis zu seinem Tod (1987) eine der Art Breaks auf MTV übernimmt.1 Neben Andy Warhol’s 15 Minutes produziert Warhol für den Sender darüber hinaus noch verschiedene Musikclips, die auch außerhalb seiner Popshow zu sehen sind. In jüngeren Feuilletonbeiträgen werden diese drei Fernsehprojekte als Vorläufer des heutigen Reality-TV gewürdigt.2 Für diese Sichtweise könnte der serienmäßige Zuschnitt der Pop-Talks sprechen, insbesondere aber der Versuch, Menschen in ihnen vertrauten Situationen zu zeigen, um sie möglichst ›authentisch‹ über ihr Leben sprechen zu lassen. In Warhols Sendungen treten allerdings keine anonymen Zeitgenossen auf, die von ihrem Alltagsleben erzählen. Ebenso wenig lässt Warhol ausgesuchte ›Realereignisse‹ von Schauspielern nachstellen, um auf diese Weise den Eindruck zu erhöhen, er thematisiere gesellschaftlich relevante Inhalte. Ähnlich wie schon in The Chelsea Girls (1966) sind vielmehr bekannte Persönlichkeiten zu sehen, die entweder ihre ›Übergeschnapptheiten‹ zelebrieren oder »mit den strahlenden Zeichen kommender Berühmtheit« (Tyler 1971: 52) kokettieren. Dass Warhol nur bedingt das gegenwärtige Reality-TV vorwegnimmt, mag auch sein Verhalten als Moderator zeigen: Um nicht die Gesprächsbeiträge seiner Gäste mithilfe von Kommentaren zu einer (wie auch immer) aussagekräftigen Botschaft verknüpfen zu müssen, lässt er sie entweder von anderen Showbesuchern interviewen, oder Warhol ersetzt solche Überleitungen durch einmontierte Filmsequenzen, in denen sich Stars selbst spielen und dabei die Trivialität ihres Images offenbaren. So tritt Courtney Love 1987 mal als französische Kurtisane, mal als Glamourgirl oder abgerissene Loftbesitzerin

1

Einen Überblick über Warhols TV-Produktionen bietet derzeit die Internetseite www.warholstars.org/filmch/filmchro.html. Die dort zu findenden Hinweise auf die Anzahl der beispielsweise für MTV gedrehten Art Breaks weichen jedoch von Informationen des Andy Warhol Museums in Pittsburgh, das die Rechte an Warhols Filmund Fernsehwerk besitzt, einigermaßen ab. Für die folgenden Ausführungen wurde auf Material zurückgegriffen, das im Netz frei verfügbar ist. Eine pop- und fernsehästhetisch verlässliche Aufarbeitung von Warhols Fernsehschaffen steht noch aus.

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So Baracaia (2006), Dax (2008) und Uhlin (2010).

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auf, um dem Publikum knapp drei Minuten lang den Unterschied zwischen ›Boy-‹ und ›Manfriends‹ darzulegen. Oder der mit einer großen Baseball-Kappe drapierte David Hockney philosophiert über Blondinen, derweil die Kamera zunächst über einige seiner Gemälde huscht, um dann lange auf den verschiedenfarbigen Socken des britischen Malers zu verweilen. Dass Courtney Love und David Hockney während ihrer Fernsehauftritte lallen und die Kamera heftig wackelt, wirkt auffallend unprofessionell, gehört jedoch zu einer Bildästhetik, die auf subtil-ironische Weise einen Bezug zu Warhols malerischem und filmischem Œuvre herstellt. So beginnt der Musikclip zu Walter Stedings Song Secret Spy (1982) mit der gleichen Kameraeinstellung, die Warhol 1964 für seinen achtstündigen Stummfilm Empire gewählt hatte. In anderen Beiträgen werden Gesichter ähnlich überzeichnet wie auf den berühmten Star-Seriegrafien, die Marilyn Monroe, Elvis oder Mao zeigen. Der mithilfe solcher Zitate erzeugte Raum, in dem Warhol seine illustren Besucher inszeniert, ist also sein eigener Popkosmos. Nur in einem Punkt unterscheiden sich Warhols Fernsehauftritte von der Star-Ikonografie seiner bildnerischen Arbeiten: Scheint der Bildkünstler in den technisch reproduzierten Marilyns abwesend, weil es ihnen beispielsweise an einer persönlichen Pinselführung fehlt, so nimmt Warhol in seinen Fernsehauftritten die Position des international gefeierten Künstlers ein. Aufgrund seines markanten Äußeren sofort erkennbar, konfrontiert er seine Fernsehgäste mit einer »frivole[n] Pop-Gesellschaft«, die nach Warhols eigenen Worten die »offizielle«, »gewichtige« und »sinnvolle« Kultur ablehnt (Warhol/Hackett 2008: 349). Damit wird es den Eingeladenen unmöglich, auf die ›reale‹ Welt hinter ihrem Starimage zu verweisen. Sie bleiben gleichsam in einem ästhetischen System gefangen, das von einem zwar schüchternen, aber dennoch allmächtigen ›Gottvater des Pop‹ regiert wird. Jonas Mekas, zeitweilig einer seiner engsten Vertrauten, hat diese Mischung aus »ausdruckslose[m] Gesicht«, vermeintlichem Dilettantismus und streng ästhetisch erzeugter Fernseh-»Realität« folgendermaßen beschrieben: »Andy Warhols Filmarbeit ist dadurch charakterisiert, daß er eine totale Kontrolle ausübt, die sich hinter dem Alles-Zulassen verbirgt. Und eben dieses Wechselspiel […] ist der Grund dafür, daß die Film-Abteilung der Factory all die traurigen, enttäuschten, frustrierten, unerfüllten […], exzentrischen, egozentrischen etc. etc. Talente und Persönlichkeiten angezogen hat. Eine ganze Generation von Underground-Stars […] wartete darauf, benutzt zu werden. Und plötzlich war er da, der Heilige Andy, und ließ sie alle in seine Sphäre, sein Domizil ein.« (Mekas 1971: 59 u. 61)

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Popkritiker haben solche Ausführungen als ein ästhetisch eindimensionales, lediglich affirmatives Kunstprogramm gelesen. In diesem Fall stünde ausschließlich Warhols Selbstinszenierung im Mittelpunkt seines Fernsehinteresses. All seine Interviewpartner erfüllten allein den Zweck, die außergewöhnliche Begabung des Künstlers, seine dominante Stellung innerhalb der Factory und schließlich sein die Zuschauerfantasie anregendes ›Aussehen‹ zu betonen.3 Gegen solche Unterstellungen hat sich Warhol in POPism zur Wehr gesetzt und zugleich seine Verwunderung über all jene Mitarbeiter zum Ausdruck gebracht, die hinter seinem Leben und Arbeiten ein »Geheimnis« vermuten, »damit sie einen, unbehelligt von Details, bewundern [können].« (Warhol/Hackett 2008: 31) Darüber hinaus wird Pop von einem Kunstbetrieb unterschieden, der seine kommerziellen Interessen mit dem Argument kaschiert, das fremdbestimmte Publikum orientiere sich allein an »Medienpromis« (ebd.: 349). Dieser Marginalisierung der Rezipienten widerspricht Warhol in POPism energisch, und wie im Folgenden zu zeigen ist, leisten aus popästhetischer Perspektive auch seine fernsehmedialen Selbstinszenierungen dreierlei: Zum einen wird aufseiten der Showgäste die Oberflächlichkeit des Starkults offenbar – kaum jemand erhält bei Warhol die Möglichkeit, im Fernsehen sein ›wahres Gesicht‹ zu zeigen. Zum anderen verbietet es sich jedoch, die auftretenden Stars bloß als Spiel mit Oberflächen zu rezipieren. Schließlich ist der Starkult kein konstitutiver Bestandteil der Popästhetik, sondern knüpft an die Genieverehrung der Hochkultur an. Indem Warhol diese symbolische Ordnung zitiert und verfremdet, lädt er sie ästhetisch, wenn nicht gar politisch auf. Ihre kulturelle Bedeutung verliert diese symbolisch bewährte Ordnung freilich erst, wenn der Zuschauer drittens vor die Wahl gestellt wird, sich für Pop als ›Referenzhölle‹ zu entscheiden, die sich sakrosankten Deutungs- und Wahrnehmungsmustern sperrt, oder weiterhin jene devote Haltung einzunehmen, die den Starkult überhaupt erst ermöglicht. Um nun aufzeigen zu können, wie Warhol diese stets auch metamedial reflektierte Popästhetik im Fernsehen realisiert, soll in einem ersten Schritt am Beispiel von Andy Warhol’s TV und Andy Warhol’s 15 Minutes gefragt werden, warum die auftretenden Prominenten nicht mit ihrer Rolle als subjektfreie Medienpersönlichkeiten brechen dürfen. Anschließend ist dann im Rückgriff auf Slavoj Žižeks Ausführungen zum Totalitarismus der modernen Gesellschaft zu begründen, wie Warhol seine Fernsehpräsenz als Popstar konterkariert.

3

Vgl. hierzu Warhol (2008: 32).

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I Video killed the Radio Star In den 1980er Jahren meldet sich die erste Generation Popkünstler zu Wort, die mit dem Fernsehen sozialisiert wurde. Mit ihr haben sich die tradierten ästhetischen und weltanschaulichen Wertsetzungen noch nicht überholt, doch das vor allem linksintellektuelle Misstrauen in die kulturindustriellen Machenschaften verliert in gleichem Maße an Plausibilität wie die Behauptung, die neue Bilderflut untergrabe das politische Verantwortungsbewusstsein. Dass man sich nicht länger mit den 68ern und Hippies solidarisiert, die für sich allein moralische Integrität im Kampf gegen Krieg oder Umweltverschmutzung reklamieren, hat Thomas Meinecke 1981 in die programmatische Formel gekleidet: »Heute Disco – morgen Umsturz – übermorgen Landpartie.« (Meinecke 2013: 164) Hedonismus und Protest, Medienaffirmation und die Sensibilisierung für einen Pop, der dem »bürgerliche[n] Bewußtsein« eine unmissverständliche »Absage« erteilt, werden folglich nicht mehr als unvereinbare Gegensätze begriffen. Vielmehr gilt nun als ausgemacht, dass technisch produzierte Kunst und Musik, ihre »millionenhafte Reproduktion« via Fernsehen und »dessen Konsum tendenziell auf Emanzipation der Konsumenten von den gesellschaftlichen Zwängen, beispielsweise vom Zwang zum Konsum überflüssiger Waren, angelegt [sind]« (Salzinger 1982: 114 u. 228). Solchermaßen befreit von ideologischer Bevormundung, erwartet die Popgeneration den Programmstart von MTV am 1. August 1981 um 00:01 Uhr. Dass der Sender mit seinen Musikclips und Art Breaks fortan auch neue künstlerische Ausdrucksformen und intermediale Crossover fördert, soll bereits der erste ausgestrahlte Clip – Video killed the Radio Star von den Buggles – zum Ausdruck bringen. Computeranimierte Bilder, eine futuristische Narration und das Outfit der Band, das auch modisch einen neuen Zeitgeschmack verkündet, verabschieden die traditionelle Auratisierung des Kunstwerks und die Apotheose des Künstlers. Auch starästhetisch zieht diese neue Clipkultur im Fernsehen verschiedene Konsequenzen nach sich. Sinnfälligster Beleg ist jene Metaebene zahlreicher Musikvideos, auf der die technischen und medialen Voraussetzungen des Berühmtseins transparent werden. Neben Andy Warhol tragen auch experimentierfreudige Regisseure und Videokünstler wie Dara Birnbaum oder Jan Švankmajer zu dieser keineswegs nur kommerziellen Neuausrichtung des Starimages bei. Wird das Starimage produktionsästhetisch säkularisiert, so lassen sich entsprechende Videoclips von den Rezipienten als Beitrag gegen kulturindustrielle Herrschaftsverhältnisse deuten. Ob intendiert oder nicht, gehören die beispielsweise als rebellisch empfundenen Medienerzeugnisse zur »freie[n] Selbstorgani-

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sation« einer »Gegen-Öffentlichkeit«, deren kulturelle Praxis die »geforderte Konsumleistung« subvertiert (ebd.: 73f.).4 Wie die Prominenten auf solch eine rezeptionsästhetische Korrektur ihres Images reagieren, zeigen exemplarisch David Bowie und Madonna. So singt der britische Musiker in der Rolle seines Alter Egos Ziggy Stardust, er wolle ein ›Hero‹ sein, aber nur ›just for one day‹. Und Madonna hintertreibt ihren Ruf als Sexsymbol mit den Worten ›you made me feel […] shiny and new‹ – freilich nicht glänzend und neu als Jungfrau, sondern bloß ›like a virgin‹. Mit diesem nur noch ironisch gebrochenen Habitus sieht sich auch die Sängerin der Gruppe Blondie, Debbie Harry, konfrontiert, als sie 1980 in Andy Warhol’s TV auftritt. Gewollt unprofessionell setzt sich Warhol als Gastgeber neben sie und schaut gemeinsam mit der Musikerin in die Kamera. Nachdem beide über den bunten Hosenanzug Harrys geplaudert haben, soll Warhol eines ihrer Beine signieren. Mit dieser Unterschrift erhebt er Harry kurzerhand in den Rang eines Kunstwerks.5 Gleichzeitig unterläuft Warhol jenen Nimbus, den sich Harry kurz zuvor mit ihrem ersten Welthit, Heart of Glass, erworben hatte. Zumindest symbolisch gehört sie fortan zu einem Popuniversum, in dem Starkonstrukte beliebig oft vervielfältigt werden.

4

Auf die ästhetischen Implikate dieses unter den Künstlern der 1980er Jahre neuerlich verhandelten Subversionsbegriffs haben Diedrich Diederichsen (1993) und Thomas Ernst (2008) hingewiesen. Wie Kunst, Gesellschaft oder Medien auch von Rezipientenseite aus subvertiert werden können, diskutiert Helmut Salzinger bereits 1972. So heißt es in Rock Power, Subversion gehöre zu den kulturellen Praktiken einer »Gegengesellschaft«, die die ›Faszinationsstrategien‹ der »Kulturindustrie« durchschaut hat und das »System« an seiner »Basis«, also an seinem »eingeschliffenen Kategorienapparat[]« angreift (Salzinger 1982: 73f.). Um diese Gedankenführung zu stützen, weist Salzinger auf die sinnesästhetischen Wirkungen der Rockmusik hin, deren individuelle oder gruppenspezifische Effekte keineswegs mit der musikerseitig intendierten Wirkung übereinstimmen müssen. Von dieser Annahme ausgehend, arbeitet Salzinger im Rückgriff auf Walter Benjamin heraus, dass eine an Marx und Adorno geschulte Gesellschaftskritik die widerständige – mithin auch die psychologische, produktionskritische und emanzipatorisch reflektierte – Rezeptionsleistung des vermeintlich ›verblendeten‹ Publikums ebenso übergeht wie das subversive Potenzial, das beispielweise eine Rockmusik freisetzen kann, die bereits in den 1960er Jahren bildungsbürgerliche Kunstbegriffe wie den des ›Originals‹ oder des autonomen ›Künstlers‹ hinter sich lässt und damit alternative Formen der Kunstrezeption ermöglicht.

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Vgl. www.youtube.com/watch?v=2N73CPr_xOE [00:32].

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Solch eine Vereinnahmung hat Frank Zappa während seines Auftritts in Andy Warhol’s 15 Minutes nicht zu befürchten. Schon die Ausgangssituation in diesem 1983 geführten Interview scheint für den Rockstar günstiger, denn zwischen sich und Zappa hat Warhol mit Richard Berlin einen großen Bewunderer des Musikers platziert. Als dieser darzulegen beginnt, welche Verhaltensweisen er an Stars schätzt, lässt Zappa ihn kaum ausreden und gibt seinem Gegenüber zu verstehen, dass ihn die gesamte Fankultur wenig interessiere. Als Zappa schließlich noch gefragt wird, ob er das Produzieren von ›funny stuff‹ möge, lautet die süffisante Antwort, solche Arbeiten seien ›not unpleasant‹. Andy Warhol reagiert auf das Gespräch mit offenkundigem Desinteresse. Nur zweimal scheint er sich am Geschehen aktiver zu beteiligen: Zu Beginn des Clips wendet er sich einer Stimme aus dem Off zu. Etwas später schaut er dann für einen Augenblick frontal in die Kamera, wobei seine Brillengläser das Scheinwerferlicht zu reflektieren beginnen.6 Diese wiederum dilettantischen Einblendungen reißen ihn schlagartig aus seiner Rolle als Nebenfigur und konterkarieren zugleich den Ruf des ästhetischen Perfektionisten. Abbildung 1: Interview mit Frank Zappa

Quelle: YouTube

Die im Weiteren eingeschnittenen Sequenzen aus Zappas Videoclip You are what you is treten hingegen den Beweis an, dass Popkunst keineswegs ›voraussetzunglos‹ rezipiert werden kann. Immerhin hatte Zappa sowohl den Song als

6

Vgl. www.youtube.com/watch?v=mwgusiqi-vg [00:14 u. 00:49].

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auch das dazugehörige Album zwei Jahre zuvor als sein politisch und technisch avanciertestes Meisterwerk angekündigt, damit aber wenig Anklang bei seinen Fans gefunden. Bis heute verkauft sich kein Zappa-Album so schlecht wie You are what you is. Warhol indes blendet jene Szenen aus dem Clip ein, mit denen der Rockstar gegen Reaganismus und Yuppietum aufbegehrt. Da von diesem Protest im MTV-Interview zu keinem Zeitpunkt die Rede ist, bleibt es den Zuschauern überlassen, die nicht-illustrierenden Bilder aus dem Clip als Abrechnung mit Zappas Umgang mit Richard Berlin oder als ironische Attacke auf sein lässig vorgetragenes Selbstverständnis als Star zu rezipieren. Folgt man Warhol, der Zappa nach eigenem Bekunden übrigens hasste, hätte das Publikum dem Musiker in beiden Fällen eine Lektion erteilt. Über sie heißt es in Die Philosophie des Andy Warhol: »In den frühen Tagen des Films haben die Fans um den ganzen Star einen Idolkult betrieben – sie hatten ihren Star und liebten alles an diesem Star. Heute machen die Fans Unterschiede […]. Ein großer Rockstar kann durchaus Millionen und aber Millionen Schallplatten verkaufen, aber wenn er dann einen schlechten Film macht und es sich herumspricht, daß er schlecht ist, dann kannst du den Film glatt vergessen.« (Warhol 2009: 83)

II »Radikale Dinge in einer konservativen Form sagen und tun«7 Hatte Warhol in seinen berühmten Screen Tests der frühen und mittleren 1960er Jahre noch auf unpersönliche und technisch veraltete Weise die Castings der Hollywood-Filmstudios parodiert, so reicht das Spektrum seiner Clipproduktionen für MTV vom Performance Clip über den seminarrativen Clip bis hin zum Art Clip.8 Während er in den Videos für Walter Steding und Loredana Bertè eine Bildästhetik wählt, die der Forderung der Plattenlabels nachkommt, der Selbstpräsentation der Musiker mindestens 50 Prozent der Filmzeit einzuräumen, wählt Warhol in den Videos für The Cars, Curiosity killed the Cat und Miguel Bose eine filmische Narration, die den jeweiligen Liedinhalt eigenständig ausdeutet. Solche visuellen Erzählungen tragen in den MTV-Clips der 1980er Jahre vor allem dann zum Starimage zahlreicher Bands bei, wenn kreative Filmemacher eine möglichst originäre Bildsymbolik entwickeln, auf die in weiteren Musikvideos zurückgegriffen werden kann.

7

Warhol (2008: 397).

8

Zur Begrifflichkeit vgl. Springsklee (1987).

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Von solchen kommerziellen Zugeständnissen weicht Warhol in den nun vorzustellenden Clipbeispielen schon deshalb ab, weil er persönlich auftritt. Indem er sich als popästhetischer ›Herrschaftssignifikant‹ einmischt, verhindert er damit, dass angehende Idole den politischen Anspruch seines Popkosmos in Frage stellen. Diese ›Maßregelung‹ scheint auf den ersten Blick in krassem Widerspruch zu Warhols Popverständnis zu stehen. Ihm zufolge kennt die Undergroundkultur ja keine sozialen Hierarchien, ebenso wenig basiert Pop auf dem Mythos des Kunstgenies. Dennoch unterlaufen Warhols Musikvideos die ironiefreie Inszenierung des Fernsehstars. Indem er die ins Bild zu setzenden Musiker als subjektlose Wesen einführt, entlarvt Warhol das Starimage zudem als Ausdruckszeichen ohne Bedeutung. Lässt man diese Überlegungen gelten, gewinnt die wohl berühmteste Äußerung Andy Warhols – »In der Zukunft wird jeder fünfzehn Minuten lang berühmt sein« (McShine 1989: 451) – an medien- und popästhetischer Kontur. Denn mit diesen bisweilen gar zu euphorisch interpretierten Worten befördert Warhol keineswegs die Fernsehauftritte all jener, die im heutigen Reality-TV »nutzloses Sekundärwissen« zum Besten geben dürfen (Dax 2008). Vielmehr geht es ihm um eine Serialisierung des Starkults, der die massenmediale Verehrung außergewöhnlicher Menschen ad absurdum führt. Wenn nämlich jeder für 15 Minuten ein Star sein darf und danach wieder in der Bedeutungslosigkeit verschwindet, verliert die Bewunderung des Herausragenden ihren quasitheologischen Sinn. Oder anders ausgedrückt: Wenn das Gewöhnliche massenhafte mediale Aufmerksamkeit erfährt, wird der Star zu ›nothing special‹. Wie Slavoj Žižek in Denn sie wissen nicht, was sie tun darlegt, gehört es zum »pop-ideologischen Topos«, stillschweigend vorauszusetzen, dass »jeder Versuch vernünftiger Totalisierung« des Denkens und sozialen Handelns schon deshalb zum Scheitern verurteilt ist, weil es »immer irgendein Überbleibsel« gibt, »welches sich der totalisierenden Inbesitznahme entzieh[t]« (Žižek 1994: 107). Dieses ›Etwas‹ ist in der Popkultur das Künstlersubjekt. Und es ist auf der Fernsehbühne auch zu jenem Zeitpunkt präsent, als die Philosophie den Tod des Autors verkündet.9 An diesem Subjekt muss festgehalten werden, solange Pop gegen eine symbolische Ordnung aufbegehrt, die gesamtgesellschaftlich mit dem Anspruch auf ontologische Wahrheit und soziale Hegemonie durchgesetzt wird.

9

In den aktuellen Untersuchungen zur Autoren- und Künstlerinszenierung fällt auf, dass das Fernsehen trotz seiner leitmedialen Dominanz, die es gesamtgesellschaftlich zumindest bis in die 1990er Jahre hinein inne hatte und als solches auch von Dichtern, Malern oder Musikern genutzt wurde, konsequent ausgespart bleibt (vgl. Künzel/ Schönert 2007 sowie Jürgensen/Kaiser 2011).

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Dass man die soziohistorischen Entstehungsbedingungen solcher Gesellschaftsstrukturen verschweigt, verweist nach Žižek darauf, dass auch die aufgeklärte, rational organisierte Kultur auf einem Gründungsmythos basiert – einem Mythos, der die Generierung von Wahrheiten präfiguriert und jeden Zweifel an diesen Wirklichkeitsvoraussetzungen strengstens verbietet (vgl. ebd.: 216ff.). Solche Vereinbarungen nehmen dem Einzelnen die Möglichkeit, sich für grundsätzlich andere Vorstellungen von Menschsein oder Soziabilität zu entscheiden. Denn Gesellschaft als weltanschauliche Totalität betrachtet, erlaubt zunächst einmal keinen Standpunkt außerhalb des Systems. Folglich entscheidet sich der Einzelne mit seiner Integration in solch eine Kultur gegen das destabilisierende Subjektsein. In des Wortes Ursprung wird er zum ›Zugrundeliegenden‹ (zum sub-iectum) des Totalitären. Paradoxerweise wiederholt sich dieser Subjektentzug auch auf der Herrschaftsebene. Wie Žižek annimmt, besteht die »ganze Wirklichkeit« der Regierenden nur in ihrem »Namen«; ihre physische und empirische Realität sei dagegen »gänzlich arbiträr«. Allein aufgrund ihres ›Labels‹ – Bundeskanzlerin, Kardinal, Zentralbankchef – verkörpern Machthaber »folglich die Funktion des Herrensignifikanten«. Und erst wenn sie über diese Auszeichnung verfügen, können sie die »amorphe Masse des ›Volkes‹ in eine konkrete Totalität der Sitten« überführen (ebd.: 94). Die Beherrschten besitzen dagegen keinen repräsentativen Namen und müssen sich über ihre Körper definieren. Žižek veranschaulicht das Gemeinte folgendermaßen: Ob der Kaiser neue Kleider trägt oder nackt auftritt, ist solange egal, wie seine Funktion als Signifikant ohne Signifikat unangetastet bleibt und der mythische Ursprung des geltenden Herrschaftsvertrags nicht hinterfragt wird. Als Machtsignifikant ist also selbst der nackte Kaiser ein Potentat ohne eigenes Subjekt, seine Zuschauer hingegen sind körperlich signifizierte Herrschaftsobjekte ohne Macht. Dieses Autoritätsmodell wird im Starkult des Fernsehens gewöhnlich imitiert. Repräsentieren Stars ebenfalls Macht oder körperliche und geistige Vollkommenheit, muss ihr empirisches Dasein jedenfalls solange ›arbiträr‹ bleiben, wie sie mit hohem medialen Aufwand ihre »Auslöschung als Subjekt« inkarnieren (ebd.: 202). Gleichzeitig müssen Fernsehstars mindestens zwei eigentlich widersprüchliche Eigenschaften in sich vereinen. Brigitte Bardot beispielsweise war in den 1960er Jahren sowohl ›Kurvenwunder‹ als auch Ideal der sexuell selbstbestimmten Frau.10 Diese perfekt inszenierte Heterogenität macht Stars erst zu dem, was sie sind: unerreichbare Sterne!11 Zugleich ist es diese Ausnahme-

10 Dieses Beispiel führt auch Hügel (2007: 154) an. 11 Zum Starkult vgl. ausführlich Faulstich/Korte (1997).

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stellung, die Paparazzi und Klatschpresse ihre fragwürdige Berechtigung verleiht. Immerhin will das Publikum nicht nur rücksichtslos bewundern, sondern auch pünktlich über die ersten Risse im mehrschichtigen Starimage informiert werden. Subjektästhetisch betrachtet, nimmt Warhol diese philosophische Kritik an den Herrschafts- und Starmythen der bürgerlichen Gesellschaft vorweg. Allerdings, so lässt sich jetzt präziser formulieren, tritt er im Fernsehen in der Rolle des aller Popkultur ›zugrunde liegenden‹ Superstars auf. Damit gewinnt seine körperlich und künstlerisch signifikante Gegenwart im Fernsehen an Geschichtlichkeit – eine historische Perspektive, die in der bisher auf Internationalität und Fortschrittlichkeit hin angelegten Popkultur der frühen 1980er Jahre neu ist. Wie diese Subjektwerdung des Superstars ästhetisch umgesetzt und ironisch hinterfragt wird, soll nun abschließend am Beispiel zweier Musikclips gezeigt werden. So spielt Warhol im Video für den Hit Hello again der Bostoner Formation The Cars zunächst einen Barkeeper, der für die am Tresen sitzenden Bandmitglieder Drinks mixt und den Refrain ihres Liedes anfangs zögerlich, dann eher karikierend mitsingt. Angesiedelt ist der 1984 ausgestrahlte Clip in einer Szenekneipe, in der sich ein offensichtlich modisch und sexuell freizügiges Publikum trifft. Da mehrfach Autoreifen durch das Bild rollen und New Yorker Straßen eingeblendet werden, scheint die Clip-Handlung den eher flachen Inhalt eines Liedes zu visualisieren, das von einem träumerischen Mädchen erzählt, dessen Reise sich auf der Suche nach Lebensinhalt an der Seite ihres neuen Verehrers erfüllen soll. Abgesehen von der kurzen Szene, in der alle vier Musiker vor Andy Warhol sitzen, dominiert der Sänger Ric Ocasek in der Rolle des besagten Liebhabers die Bildnarration. Gerahmt wird sie von einer symbolisch verdichteten Nacktszene. Zunächst ist ein bekleideter, dann entblößter Frauentorso zu sehen, über den kleine Spielzeugautos flitzen. Zum Schluss des Videos schnippt die Darstellerin den letzten Rennwagen von ihrem Bauch. Formal fügen sich die für Warhols sonstige Filmarbeiten eher schnellen Schnitte dem Rhythmus des Liedes, allerdings setzt Warhol kameratechnisch mehrfach die Froschperspektive ein oder lässt gegen Ende die Aufnahmen der leicht dekadent wirkenden Go-Go-Tänzer stark pixeln. Mithilfe solcher Verfremdungseffekte gewinnt der Clip phasenweise an visueller Ruhe. Dies gilt auch für die mehrfach und länger eingeblendeten Kuss-Szenen. Anfangs noch farbig, wandeln sie sich schrittweise zu Schwarz-Weiß-Bildern mit grober Körnung und erinnern damit an Warhols berühmten 50-minütigen Experimentalfilm Kiss aus dem Jahr 1963. Warum es sich hier nicht nur um eine biografische Reminiszenz handelt, erklärt sich historisch aus der Tatsache, dass Kiss zu den wichtigsten Beiträgen des damaligen New Yorker Underground-Kinos gehörte

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und auf voyeuristische Weise gegen die amerikanische Prüderie und ihre heterogeschlechtliche Sexualmoral aufbegehrt. Vor diesem Hintergrund weist Warhol den Cars gegen Ende des Videos ihren Platz als körperlose ›Stars‹ an. Wiederum ist nur der Sänger zu sehen, wie er von vier herumfliegenden Buchstaben getroffen wird. Zusammengesetzt ergeben sie das Wort ›Body‹. Doch bevor Ocasek über die Subjektlosigkeit seines Images nachdenken kann, trifft ihn der zweite herannahende Buchstabe ausgerechnet am Kopf.12 Der Frontmann der Cars bleibt somit, was er ist: eine aufstrebende Berühmtheit, deren Name die »ontologische Ordnung« der bürgerlichen Gesellschaft zementieren wird (Žižek 2010: 216). Im Gegenzug unterläuft Warhol diese hierarchischen Verhältnisse: Von der nackt daliegenden Frau am Clip-Ende ist für einen kurzen Moment die untere Gesichtshälfte zu sehen, und sie beginnt zu lächeln, als sie das letzte der auf ihr herumfahrenden Autos von sich wirft.13 Scheint es nicht, als gewinne die Liegende damit an Selbstverfügungsrecht über ihren Körper? Und widerlegt der Eingriff in das ihr zugemutete Bildgeschehen nicht zugleich auch das Märchen von individueller Ohnmacht? Abbildung 2: Ausschnitt aus dem Clip Hello again

Quelle: MyVideo

Solange mit Warhols Worten gilt: »Pop kommt von außen« (Warhol/Hackett 2008: 30), solange lässt sich nur schwer der hochkulturelle Verdacht begründen, jede für ein größeres Publikum zugeschnittene Kunst arrangiere sich leichtfertig mit dem Kommerz. Mit dieser Einschätzung ist die rein unterhaltsame Rezeption 12 Vgl. www.myvideo.de/watch/6559236 [04:31]. 13 Vgl. www.myvideo.de/watch/6559236 [04:50].

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der Art Breaks nicht ausgeschlossen, doch wie das Musikvideo Misfit (1987) für die britische Popband Curiosity killed the Cat zeigt, erschließen erst die von Warhol gelegten Spuren in die Clip- und Musikgeschichte, wie Pop den Starkult unterläuft. Formal handelt es sich bei Misfit um eine kleine Parabel, die mithilfe einer Bild- und einer sehr viel kürzeren Sachhälfte den Weg zum medialen Erfolg erzählt. Auf der Bildebene sieht man die Band zunächst auf New Yorker Straßen ihren Song vortragen, gelegentlich agieren sie dabei vor übergroßen Spiegeln – in der Kunst bekanntlich das Symbol überzogener Eitelkeit. Im Verlauf der ersten anderthalb Minuten ist auch Andy Warhol zu sehen, wie er der Band einen Koffer hinterherträgt.14 Es folgt eine im Studio aufgenommene Performance, welche die tanzende und singende Band zur Boygroup stilisiert. Unterbrochen wird diese Staradaption für siebenundzwanzig Sekunden, in denen Warhol am Rand einer kleinen, schmutzigen Straße zu sehen ist. Als der Sänger mit den Worten »Too fat, too thin, you lose or you win« an ihm vorbeitanzt, beginnt Warhol, weiße Pappplakate auf den Bürgersteig zu werfen.15 Einmal mehr trägt auch diese kurze Einblendung weder inhaltlich noch thematisch zur Illustration von Misfit bei. Historisch zitiert sie indes den wohl ersten Musikclip der Popgeschichte, Bob Dylans Subterranean Homesick Blues aus dem Jahr 1964. In ihm steht der junge Rockrebell ebenfalls am Straßenrand und wirft Schilder von sich, auf denen – allerdings nicht wortgetreu – die Songlyrics zu lesen sind. Ästhetisch leistet dieses Popzitat in Misfit zweierlei: Bevor es zur kommerziellen Inszenierung von Curiosity killed the Cat überleitet, verlässt Warhol das Setting. Ohne den Sänger eines Blicks zu würdigen, nimmt er wieder seinen Platz außerhalb des Trivialen ein. Zum anderen knüpft Warhol in Misfit an das poppolitische Selbstverständnis der 1960er Jahre an. Seinerzeit hatte Dylan sein berühmtes, bis heute in der amerikanischen Umgangssprache beliebtes Wortspiel mit dem Satz eröffnet: »I’m on the pavement / Thinking of the government […] / But users, cheaters / Six time losers / Hang around the theaters«. Die Gegenwelt des Pop heißt also Politik und Hochkultur. Arrangiert sich Warhol demonstrativ nicht mit dem ›unpassenden‹ (misfit) Auftritt der britischen Band, so scheidet auch er den aktuellen Popbetrieb in zwei Sphären: Auf der einen Seite stehen all diejenigen, die sich subjektlos den Gesetzen des Musikgeschäfts unterwerfen, auf der anderen Künstler wie Warhol und Dylan, die zwar nicht gleich die ökonomischen Verhältnisse oder den Starkult abschaffen. Aber trotz ihres eigenen künstlerischen Images halten sie an der subjektiven »Entscheidung« gegen das gesellschaftlich akzeptierte

14 Vgl. www.myvideo.de/watch/7753493 [00:53ff.]. 15 Vgl. ebd.: [02:37ff.].

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»Wahrheits-Ereignis« fest (Žižek 2010: 216). Pop- und Fernsehkritikern mag diese Botschaft nicht politisch genug sein. Doch in der offiziellen Kultur ist keine Aussage politischer als die, mit welcher Wahrheiten und Stars ihrer Beliebigkeit überführt werden. Abbildung 3: Ausschnitt aus dem Clip Misfit

Quelle: MyVideo

Warhols Art Break im Musikclip Misfit ergänzt dafür kommerziell erzeugte Prominenz um pophistorische und -ästhetische Mehrdeutigkeiten, die der Zuschauer mit Sinn besetzen muss. Damit nimmt die Subjektwerdung des Publikums ihren Anfang, und aus dieser Aufwertung der Rezipienten erklärt sich auch, weshalb der Superstar als Herrscher eines komplexitätsfreudigen Popkosmos nur vorübergehend im Fernsehen in Erscheinung treten darf: Wer sich nämlich nicht länger als das dem Starkult machtlos Zugrundeliegende akzeptiert, braucht auch keinen Signifikanten mehr, der ihn an seine Passivität erinnert. Ob der Kaiser neue Kleider trägt oder nackt auftritt, ist dann nebensächlich. Mit Blick auf die Entscheidung, ob The Cars oder Curiosity killed the Cat zu MTV-Stars avancieren, sind jetzt nämlich die Zuschauer gefragt. An den auch medial verbreiteten Mythos einer uns auferlegten »objektiven Ordnung der Realität« muss nun niemand mehr glauben (ebd.).16

16 Die Paradoxie, dass wir die hier in Rede stehenden Clips wegen Andy Warhol schauen und damit nolens volens zur Popularität der beiden Bands beitragen, ist der Popkultur im Fernsehen als ihr Bedingungsgrund eingeschrieben. Soll er die sich im TV manifestierenden Totalisierungsmechanismen der Gesellschaft offenlegen, muss sich

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Pop auf die Vermarktungsstrategien des Mediums einlassen. Sich der Inbesitznahme durch das Fernsehen zu verweigern, ist dieser Bejahung immanent.

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Springsklee, Holger (1987): »Video-Clips – Typen und Auswirkungen«, in: Klaus-Ernst Behne (Hg.), Film – Musik – Video oder die Konkurrenz von Auge und Ohr, Regensburg: Bosse, S. 127-154. Tyler, Parker (1971): »Drugtime, dragtime«, in: Enno Patalas (Hg.), Andy Warhol und seine Filme, S. 39-54. Uhlin, Graig (2010): »TV, Time, and the Films of Andy Warhol«, in: Cinema Journal 49 (3), S. 1-23. Online unter: muse.jhu.edu/journals/cj/summary/v04 9/49.3.uhlin.html Warhol, Andy/Hackett, Pat (2008): POPism. Meine 60er Jahre, München: Schirmer/Mosel. Warhol, Andy (2009): Die Philosophie des Andy Warhol von A bis B und zurück, 2. Aufl., Frankfurt am Main: Fischer. Žižek, Slavoj (1994): Denn sie wissen nicht, was sie tun. Genießen als ein politischer Faktor, Wien: Passagen. Ders. (2010): Die Tücke des Subjekts, Frankfurt am Main: Suhrkamp.

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Abbildungen Abbildung 1: Interview mit Frank Zappa, Quelle: www.youtube.com/watch?v= mwgusiqi-vg Abbildung 2: Ausschnitt aus dem Clip Hello again, Quelle: www.myvideo.de/ watch/6559236 Abbildung 3: Ausschnitt aus dem Clip Misfit, Quelle: www.myvideo.de/watch/ 775349

Expressive Subjekte vor der Kamera Zur Relativität von Kunst, Ausstellung und Massenmedien um 1970 K AI -U WE H EMKEN

»[…] auf interpretierende texte wurde bewusst zugunsten der originalarbeiten der künstler verzichtet. es gibt weder hier noch in der ausstellung eine fixfertige antwort auf die fragen: was ist happening, was ist fluxus, was auch nicht im sinne dieser künstlerischen bemühungen ist. der untertitel ›materialien‹ soll andeuten, dass kommunikation und information im vordergrund stehen. immerhin kann die auswahl als eine art von interpretation angesehen werden.« (Szeemann 1970)

Geradezu proklamatorisch klingen die einleitenden Katalogvorworte der Kuratoren Harald Szeemann und Hans Sohm, die 1970 zur Ausstellung Happening & Fluxus über 45 Künstler der internationalen Aktionskunst in den Kölnischen Kunstverein eingeladen hatten, ihre avantgardistischen Konzepte und Ausdrucksformen der Öffentlichkeit vorzustellen. Keine wissenschaftlich tragfähige Deutung der noch jungen Kunstrichtung konnte der Besucher und Leser erwarten, auch wenn beide selbstkritisch die eigene Künstlerauswahl unter Interpretationsverdacht stellten. Stattdessen scheint der Besucher aufgefordert, an Kommunikationsprozessen und Informationsangeboten teilzunehmen. Zwischen den Zeilen offenbaren sich jedoch weitergehende Ansichten der Kuratoren: So wird das Original (Archivalie, Aktion) gegen die Kunstkritik/-wissenschaft ausgespielt, der Kurator nimmt sich als Interpret zurück und versteht sich stattdessen als reiner Pragmatiker, der den eingeladenen Künstlern zur Selbstdarstellung und deren Kunst (Aktionen) zum Vollzug verhilft. Es sollte offenbar ein ›direkter‹ Kontakt zwischen Künstler und Publikum initiiert werden. Diese kuratorische Selbstpositionierung ist das zeitversetzte Echo auf eine als ›performative turn‹ bekannt gewordene Entwicklung, die sich in der Avantgarde-Kunst der 1960er

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Jahre beobachten lässt und besonders mit jenen Strömungen verbunden ist, die der Alltagskultur anverwandt sind und mit Pop Art, Fluxus und Happening betitelt werden.1 Das künstlerische wie kuratorische Subjekt erfährt durch den omnipotenten Einfluss der Massenmedien in den 1960er Jahren eine Ausdifferenzierung und Potenzierung, so dass kulturtheoretisch von einer demonstrativen Expressivität gesprochen werden kann. Sichtbar wird, dass die Direktiven der Massenmedien eine Grunddisposition der Künstlerexistenz in der Moderne, die mit dem Stichwort ›autonomes Künstlerindividuum‹ formelhaft benannt sei, aufgegriffen und potenziert und schließlich in der massenmedialen Öffentlichkeit regelrecht zelebriert haben. Von dieser Entwicklung ist folgerichtig auch der Kurator betroffen, der nach einer neuen adäquaten Selbstdefinition sucht. In diesem Sinne führt die Ausstellung Happening & Fluxus die Relativität von Kunst, kuratorischem Selbstverständnis und gewandelter Subjektdefinition mustergültig vor Augen. Es scheint, als hätte man sich seitens der (Aktions-)Kunst, des Kurators und der Massenmedien angesichts der omnipotenten Vorgaben der mediatisierten Öffentlichkeit auf Frequenz gebracht. Dieses synergetische Zusammenkommen ist jedoch trügerisch.

I Die TV-Reportage Der Fernsehjournalist Peter Maenner realisierte für den Westdeutschen Rundfunk eine ausführliche Reportage der zeitgleichen Ausstellung Happening & Fluxus. Wer jedoch eine neutrale und sachliche Darstellung dieses Ereignisses erwartet, die – wie heutzutage geläufig – geradezu selbstlegitimatorisch wie werbend auf die Ausstellung aufmerksam macht, wird enttäuscht. Denn bereits in den ersten Minuten des Fernsehberichts wird angesichts des Sprachduktus, der ausgewählten abgefilmten Szenerien, des Schnitts und schließlich des Inhalts deutlich, dass man eine Interpretation wie Wertung sowohl der Ausstellung als auch der Kunstrichtung insgesamt beabsichtigte. In einer auffälligen und durchgängig elaborierten Sprache, die Bildung, Reflexionskompetenz und Vorwissen einforderte, werden informierende mit wertenden bis polemischen Texteinheiten vorgetragen, die mit Bildern untermalt werden und dabei eine stete Spiegelung

1

›Happening‹, ›Fluxus‹, ›Aktionskunst‹, ›Performance‹, ›Event‹ und ›Popkultur‹ waren Begriffe, die in der journalistischen Öffentlichkeit nur unscharf verwendet wurden, war doch der gemeinsame Nenner einerseits die Kritik an der Hochkunst mit ihrem Autonomieanspruch und andererseits die Forcierung einer Synthese von Kunst und Alltag.

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vornehmen: Abgefilmt werden die zahlreichen zum Teil extrem textlastigen Plakate der Happeningkünstler, währenddessen die Stimme aus dem Off einen Text vorträgt, der eher zum Lesen denn zum Zuhören gedacht ist. Durchgängig wechseln sich additiv folgende Einheiten ab: informierende Kamerafahrten mit und ohne Kommentar, Einblendung von historischem Filmmaterial sowie ein zeitlich ausgedehntes Standbild, das den Kurator als Interviewpartner zeigt. Dieses Wechselspiel von Authentischem und Suggestivem erweckt den Eindruck, als würde die vorgetragene Einschätzung tragfähig sein: Ganz im Sinne der Fokalisierung weiß der Journalist mehr als der Zuhörer und mehr noch als die Künstler, der Kurator und die eigenen Fernsehkollegen, die im Verlauf des Filmberichts selbst noch ins Spiel kommen. Abbildung 1: Ben Vautier an seinem Stand auf der Ausstellung

Quelle: kultur-online.net

Die Argumentation des Filmbeitrags ist, dass sich die Aktionskunst in ihrem jahrelangen Streben nach stets Neuem schlichtweg überdauert hat und dass die Kölner Ausstellung in ihrem archivalischen Teil diese zeitgenössische Kunst-

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richtung noch zu Lebzeiten bereits als historisch betrachtet und in ihrem aktualisierenden Teil, d.h. in dem dreitätigen Aktionsprogramm die Ermüdung des Provozierenden vor Augen führt. Die von Szeemann kuratierte Ausstellung diente unbeabsichtigt dazu, die einstmals radikale Happening- und Fluxus-Bewegung als bloße Inszenierung von Banalitäten zu disqualifizieren. Durch die stete Wiederholung von irritierenden künstlerischen Handlungen habe sich eine Inflation des Provokanten eingestellt, so dass alle zum Teil grenzwertigen Aktionen eher der Peinlichkeit denn einem Avantgarde-Pathos der offensiven Erneuerung zuzurechnen sind.2 Einmal derart eingestimmt, kann der Zuschauer nicht anders, als die überdies suggestiven Kameraeinstellungen entsprechend negativ zu bewerten. Die Haltung der Massenmedien irritiert, scheinen doch eigentlich beide Seiten, Kunst und Massenmedien, von demselben Geiste durchdrungen: Die Aktionskunst zielte auf eine Erregung öffentlicher Aufmerksamkeit durch die Suggestion des Einmaligen und Innovativen, die permanente Produktion von Ereignishaftigkeit und die Provokation durch Tabubruch oder Aufhebung der Affektkontrolle. Dieser Einklang von Künstlerexistenz und Massenmedien scheint jedoch nur vermeintlich seitens des öffentlich-rechtlichen Fernsehens aufgekündigt zu sein, ruft man in Erinnerung, dass – im Falle der Aktionskunst – bei aller Absurdität des künstlerischen Handelns im Grunde eine kritische Reflexion der gesellschaftlichen Verhältnisse angestrebt wurde und man damit in der Tradition eines Marcel Duchamp sowie des Dadaismus und des Surrealismus stand. Dieses

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Der Aktionskünstler konnte einen Hang zum Exhibitionismus, zur Selbstinszenierung qua Programm nicht leugnen. Wie die Aktionen während der Ausstellung zeigen, suchten sie danach, das vorhandene Guckkastenbühnen-Ambiente zu durchbrechen: Der mühselige Antransport eines Klaviers und dessen Zerstörung, die Verweigerungsaktion einer Charlotte Moorman oder die Papierbahnen von der Bühne zum Auditorium verwiesen zwar kritisch auf einen distinguierten Kunstbegriff des Wahren, Schönen und Guten, der zur Erziehung der Massen gedacht war und mit der Trennung von Bühne und Zuschauerraum rechnet, doch standen diese letztlich in der Tradition der Künstlerselbstinszenierung seit dem 18. Jahrhundert. Ein letztes Indiz war aus meiner Sicht der schon verzweifelte Versuch einer der Künstler, durch ein offensives bis aggressives Verhalten die ungeteilte Aufmerksamkeit des Publikums zu erhalten. Allein der Aufruf eines Zuschauers, der auf die Bühne sprang und das Publikum aus seiner Lethargie holen wollte, war ein buchstäblicher Blickwechsel: Nur fragte man sich dann doch, ob nicht der junge Mann selbst zum Ensemble gehört und all dies Teil des Drehbuchs war. So hatte man offenbar genügend Begründung, sich erneut im Passiven einzurichten.

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aufklärerische Ansinnen hatte sich auch das öffentlich-rechtliche Fernsehen auf seine Fahnen geschrieben, so dass eine konzeptionelle Allianz zu erwarten wäre. Doch wird eine Art Instrumentierung offenkundig: Bei aller Wissenschaftlichkeit operiert der TV-Beitrag dennoch untergründig mit der Erregung purer Aufmerksamkeit im Sinne einer Unterhaltungsindustrie. Denn die Auswahl und filmische Zusammenstellung der Handlungen gleichen einer Zirkusveranstaltung und die textliche Kommentierung einer Gerichtsverhandlung, die insgesamt den Zuschauer zugleich als Konsumenten und Schöffen definieren. Für die Massenmedien war der Künstler ein willkommenes Exerzierfeld der eigenen Arbeitskriterien, wie Andreas Reckwitz überzeugend nachweist. Demnach formiere sich in den Massenmedien seit 1900 ein sogenanntes ›Starsystem‹, das an der »visuellen und textuellen Darstellung einzelner Individuen« (Reckwitz 2012: 239) großes Interesse hegt. »›Starfähig‹ sind dabei jedoch kaum Personen, die lediglich herausgehobene berufliche Positionen innehaben, sondern vor allem jene, die sich durch einen ausgeprägten ›expressiven Individualismus‹ auszeichnen: Es handelt sich um Individuen, deren vermeintliche Einzigartigkeit und kulturelle Produktivität sich in ihren Werken und in ihrer öffentlich dargestellten Subjektivität selbst ausdrückt und verwirklicht. Die modernen Stars erweisen sich in diesem Sinne als Nachfolger der Figur des Künstlers. Sie werden zum Gegenstand eines ästhetischen Blicks von seiten des Publikums: Der Star ist gerade nicht jemand, mit dem ein Verhältnis der Kommunikation oder des Austauschs eingegangen wird. Er ist ein Subjekt, das primär als ästhetischer, als sinnlich-affektiver Gegenstand eigenen Rechts betrachtet wird.« (Ebd.: 239f.)3

II Kunst und Aufmerksamkeitsregime Tatsächlich lässt sich eine Tradition in der Moderne nachzeichnen, die den Künstler als selbstinszenierte Subjektivität mit eigener Regelhaftigkeit und Normgebung zum Gegenstand hat. In diesem Sinne lässt sich eine Traditionslinie der Künstlerselbstinszenierung der Moderne resp. seit dem 18. Jahrhundert mit wenigen Worten nachvollziehen: Die Salonausstellungen in Paris sind die zentralen Indikatoren für eine gewandelte Öffentlichkeit, die zu einer Forcierung der Künstlerselbststilisierung führte. Zunächst ist eine Zweiteilung in der Künstlerschaft festzustellen, die den renommierten Akademiekünstler von dem Laien-

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Vgl. auch Moog-Grünewald (2002) und vgl. für eine alternative Stardefinition den Artikel von Alfonso Meoli in diesem Band.

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künstler unterscheidet. Der hohe Status des Akademiekünstlers stand dem Gros der ›Nichtakademiker‹ in der Kunstszene gegenüber, die mit dem Manko der Ablehnung und nicht-empfangenen höheren Weihen der Kunstakademie nur in Zunft- und Verkaufsausstellungen an die Öffentlichkeit treten konnten.4 Diese Deklassierung, die wohl die Mehrheit der Künstlerschaft ereilt hatte, führte zugleich zu einer Selbststilisierung als Außenseiter und einer Potenzierung des Individualstils, der nicht bei dem Malstil stehen blieb, sondern die gesamte Lebensführung des Künstlers, seinen öffentlichen Habitus und seinen damit demonstrierten Existenzentwurf betraf. Diese Entwicklung war jedoch nicht monokausal etwa der Kunstakademie anzulasten, sondern war Teil einer neuen Öffentlichkeitsstruktur, von der auch der Kunstbetrieb betroffen war. Denn die Selbststilisierung des Künstlers war nicht nur als Selbstbehauptungsgeste gegenüber dem Akademiekünstler erforderlich, sondern war der Ersatz für eine Sozialkompetenz des Künstlers, die nicht mehr in einer direkten Kontaktnahme zur Geltung kommen konnte. Das vorausgehende sogenannte Patronagesystem sah einen persönlichen Kontakt von Auftraggeber und Künstler vor, der sich im Zuge solcher Begegnungen hinsichtlich seines künstlerischen Vermögens, seiner Bildung und Gesprächskompetenz zu beweisen hatte. Der Wegfall des direkten Kontaktes zwischen Patron und Künstler wurde nicht nur durch die staatliche Monopolisierung der künstlerischen Ausbildung und Präsentation in Gestalt der Abbildung 2: Fluxus-Konzert

Quelle: kultur-online.net

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Vgl. Krieger (2007), Joachimides (2008) sowie Fastert (2011).

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Kunstakademien bewirkt, sondern gleichermaßen durch eine Transformation der Wirtschaftsstruktur. An die Stelle der persönlichen Begegnung tritt in diesem Zuge eine Anonymisierung, die das betreffende Personal nunmehr als Künstler und Käufer und nicht mehr als Künstler und Auftraggeber bezeichnen lässt. Die Kaufentscheidung wurde in solcherlei ›modernisierten‹ Marktstrukturen sowohl vom individuellen Interesse und Geschmack als auch von abstrakten Qualitätskriterien getragen. Die Kriterien für Qualität wären im Sinne der Marktprinzipien der allgemeinverbindliche Kanon der Kunstakademien, die Nachfrage im Verhältnis zum Angebot und die damit zusammenhängende Selbstinszenierung des Künstlers in der Öffentlichkeit. Denn der Wegfall der Sozialkompetenz des Künstlers im Rahmen einer persönlichen Auftraggebung wurde durch einen übersteigerten Habitus in der Öffentlichkeit ersetzt. Möglichkeiten für eine öffentliche Inszenierung waren zufällige Begegnungen im städtischen Alltagsleben oder konkrete Anlässe wie Feiern und Kunstausstellungen.5 Im Falle der zufälligen Begegnungen traten offenkundig Irritationen auf, wenn der Gesprächspartner des Künstlers nicht entscheiden konnte, ob der Künstler seine eigene (personale) Identität oder lediglich eine Rolle (soziale Identität) spielt.6 Mit dieser nicht selten auftretenden Irritation wurde das Muster der Selbstinszenierung des Künstlers potenziert und zugleich der Grundstein für eine elementare Unterscheidung von individuellen Existenzentwürfen und Identitätskonstruktionen

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Auch hier scheint es eine Traditionslinie zu geben, die bis ins 18. Jahrhundert zurückreicht: Die damaligen Salonausstellungen, die zwischen 20.000 und 60.000 Besucher innerhalb von vier Wochen verzeichnen konnten, waren ein Publikumsmagnet, Events größeren Ausmaßes. Wohl auch deshalb, weil hier, unabhängig von Stand und Ansehen, der Fischhändler neben dem Großbürger stehen und frei über Kunst räsonieren durfte. Die Augenzeugenberichte sind voll von amüsanten Erzählungen. Die Präsenz und Aktivität der Masse war eigentliches Thema der Salons, wie nicht zuletzt ein nicht unwichtiges Detail belegt: Die in Grafiken wiedergegebenen Szenerien zeigen nicht nur mindestens zu einem Drittel des Bildes eine große Menschenmenge, sondern spiegeln diese motivisch in den Exponaten: Überliefert ist, dass die Bildmotive, die in den Salonausstellungen gezeigt wurden, hauptsächlich Menschen (Portraits) zeigen.

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Vgl. Quante (1999: 9). In diesem Zusammenhang werden Fragen nach den Bedingungen und Möglichkeiten der Identitätsformierung gestellt. Ein zentraler Aspekt ist hierbei die Abhängigkeit der Identität von Körper und Bewusstsein etwa bei Fragen der Wiedergeburt, des Bewusstseinstransfers oder der Gehirnverpflanzung (vgl. ebd.). Niklas Luhmann spricht von dem Individuum als einem ›Kreuzungspunkt einer Mehrheit von Systemen‹ und von der Handlung als einer ›operativen Kopplung‹.

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(nicht nur) in der Kunst der Moderne gelegt.7 Ein entscheidender Ort der künstlerischen Selbstinszenierung war die Kunstausstellung. Wie berichtet, soll sich bei Gelegenheit dieses Ereignisses die gesammelte Künstlerschaft eingefunden haben, um in Konkurrenz ein individuelles Laienschauspiel zum Besten zu geben.8 Schreiten wir entlang der zahlreichen historischen Beispiele der langen Folgezeit, so sind es schließlich in den 1960er Jahren die Aktionskünstler, die die Selbstinszenierung durch die Verschränkung von eigenem privaten und öffentlichen Leben nicht nur perfektionieren, sondern im Sinne eines Starkults zum

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Die Moderne hat die Identitätsstiftung verstärkt thematisiert, da seit ca. 1800 nicht mehr von einer Selbstverständlichkeit verbindlicher Rollenverteilungen in gesellschaftlichen Strukturen und Prozessen auszugehen ist. Zugleich wird eine synchrone und diachrone Individualität behauptet, die ein Wechselspiel zwischen Individuum (personale Identität) und Gesellschaft (soziale Identität) annimmt. Postmoderne Positionen (in Anlehnung an Ervin Goffman) verneinen die Normativität gesellschaftlicher Bedeutungssphären, die die soziale Identität ausbilden, und entwerfen stattdessen ›Identitäten im Übergang‹ (Welsch) von der Normalität zum Wahnsinn. Kategorien wie ›multiple Identitäten‹, ›psychische Labilitäten‹ oder gesellschaftliche ›Grenzüberschreitungen‹ besitzen hier Vorbildfunktion für eine zeitgemäße, (post-)moderne Form der Identitätsbildung. Vgl. u.a. Welsch (1996) und Habermas (1962). In diesem Sinne steht sie der Identitätsforschung nahe, die als Forschungszweig der Philosophie bzw. Soziologie grundsätzlich zwischen individueller und kollektiver Identität unterscheidet. Vgl. Marquard/Stierle (1979), Quante (1999) sowie Willems/Hahn (1999).

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Das Motto des Übertreffens zeigt sich auch beim Publikum der Salonausstellungen, wie zahlreiche Augenzeugenberichte dokumentieren. Offenkundig erwachsen solcherlei öffentliche Anlässe, die – wie im Falle der Theateraufführungen oder Kunstausstellungen – ohne politische Ritualstrukturen, d.h. ohne offizielles Protokoll auskommen, als Möglichkeit, Gruppenzugehörigkeit und manifeste Verschiedenheit zu demonstrieren. Im Falle solcher Kulturereignisse sind die naheliegenden Differenzierungskriterien ›Bildung‹ und ›physiologische Sensibilität‹. So ist nicht allein die Kritik an der in den Salons präsentierten Kunst und damit am Staat, der durch die Auswahl der Exponate seine monopolistische Legitimation in Sachen Kunstentwicklung erneut zu bekräftigen sucht und damit die Heterogenität des Publikums verschleiert, ausschlaggebend, sondern die Rolle solcher Veranstaltungen, die der diversiven Öffentlichkeit die Gelegenheit bieten, sich als Mitglied eines Berufszweiges, einer Bevölkerungsgruppe oder Gesellschaftsschicht in Abgrenzung zu präsentieren.

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Thema ihrer Kunst erhoben haben.9 Ein Blick auf Konzepte, Ästhetik und Handlungen der Aktionskunst mag dies verdeutlichen. Keine Ausstellung, aber eine Veranstaltung besonderer Art gibt Auskunft über die Ausdrucksformen der Aktionskünstler: Das Festival der Neuen Kunst 1964 in Aachen. Hier waren tumultartige Szenen, Körperverletzung und eine Strafanzeige die Bilanz einer der bedeutendsten Veranstaltungen in der Geschichte der Aktionskunst. Am 20. Juli 1964 hatte das Kulturreferat des Allgemeinen Studentenausschusses der Technischen Universität verschiedene, international renommierte Künstler eingeladen, an einem Performance-Festival teilzunehmen. Joseph Beuys, Bazon Brock, Robert Filliou, Ben Vautier, Wolf Vostell, Emmett Williams und andere folgten der Einladung, die auf eine Initiative des damaligen Kulturreferenten des AStA, Valdis Abolin, und des Kölner Aktionskünstlers Tomas Schmit zurückging. War die Wahl des Zeitpunktes, der Jahrestag des Widerstands deutscher Militärs gegen Adolf Hitler am 20. Juli 1944, nach Aussagen von Tomas Schmit auch zufällig, so führte sie doch unweigerlich zu einer Kontroverse zwischen politischen und künstlerischen Interessen. Denn diese Kunstform verneinte programmatisch eine Sinngebung ihres Handelns, die aber das historische Ereignis grundsätzlich einforderte. Trotz der Genehmigung der Veranstaltung durch den Rektor der TU Aachen verliefen die zum Teil parallel aufgeführten Aktionen turbulent: Beuys wurde während seiner Aufführung von einem Studenten niedergeschlagen, führte seine Aktion aber blutend fort. Ähnlich erging es Bazon Brock, der während seines Vortrags zum Widerstand des 20. Juli 1944 den Ausruf ›Wollt Ihr den totalen Krieg?‹ skandierte, als er während eines Kopfstandes

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Eine Reihe von Künstlern der Gegenwart thematisiert direkt oder indirekt die Identitätsproblematik in einer modernen Kultur, die in den vergangenen 40 Jahren eine verstärkte Mediatisierung erfahren hat. Der Ausgangspunkt ist hierbei die Erkenntnis, dass grundsätzlich eine Dualität zwischen ›Beobachter‹ und ›Akteuren‹ besteht: »Wenn wir Erfahrungen machen, verhalten wir uns wie extrinsische Beobachter, zumal wir nur so Erkenntnisse gewinnen. In unserem praktischen Lebensvollzug jedoch beobachten wir die Wirklichkeit nicht nur, sondern wir nehmen an ihr teil, wobei uns bestimmte Vorstellungen und Ideen leiten. Wir handeln als intrinsische Akteure«, schreibt Armin Zweite in der Skizzierung einer Ausstellung zur Gegenwartskunst, die sich mit der Identität befasst. Die individuelle Identität pendelt zwischen normativen Vorgaben und alltagspraktischen Belangen, so dass »Identität immer weniger monolithisch, sondern nur noch plural möglich ist.« (Zweite 2000: 50) Die individuelle Identität vereint somit eine Vielzahl von Einzelidentitäten, die sich diachron im Verlauf einer Lebensgeschichte und synchron in Bezug zu einer funktionsorientierten Partizipation an Subsystemen der Gesellschaft entwickeln.

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umgestoßen wurde. Auch Vostell wurde im Verlauf seiner Aufführung massiv gestört: Er ließ Gasmasken tragen und deutsche Schäferhunde ›patrouillieren‹, stellte Korngarben auf, verteilte Trillerpfeifen und ließ Akteure in ein gelbliches Pulver fallen. Während Brock und Vostell mit ihren Aktionen an den militärischen Widerstand gegen Hitler sowie an den Nationalsozialismus und den Zweiten Weltkrieg erinnerten, führten die anderen Akteure zuvorderst künstlerische Performances auf. Abbildung 3: Martial Raysse für die Ausstellung Dylaby

Quelle: kultur-online.net

Die Aachener Veranstaltung war einer der frühen Höhepunkte in der noch jungen Geschichte der Aktionskunst, jener künstlerischen Ausdrucksform, die in der Geschichte der modernen Kunst am radikalsten den überlieferten Kunstbegriff attackierte. Zeichnete sich die Aktionskunst in ihrer Blütezeit, in den 1960er Jahren, auch durch eine Vielfalt einzelner künstlerischer Positionen aus, so lässt sich dennoch ein gemeinsamer Nenner erkennen. Sich auf die Avantgarde der 1920er Jahre wie den Dadaismus, Surrealismus oder auf Marcel Duchamp berufend, erteilten die Aktionskünstler mit ihren seit Beginn der 1960er Jahre veranstalteten Aufführungen dem Geniekult, der besonderen Wertschätzung der ›ästhetischen‹ gegenüber der ›sozialen Erfahrung‹, dem Kunstbetrieb mit seinen ›Institutionen‹ wie Museen, Galerien, Akademien und Kunstwissenschaft und nicht zuletzt dem gesamten Regelwerk künstlerischer Produktion eine Absage. In Anlehnung an den amerikanischen Avantgardisten John Cage galt als Leitästhetik die Musik, gleichwohl auch das Theater und die Poesie bei Aktionen Pate standen. Die klassischen Felder der bildenden Kunst, das heißt deren Fixierung auf das materiale Artefakt, wurden verneint und stattdessen die Ästhetik anderer

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künstlerischer Sparten auf die bildende Kunst übertragen. ›Intermedialität‹ oder ›Mixed Media‹ waren die damaligen Stichworte, mit denen eine Erneuerung der Kunst angestrebt wurde. Diese ästhetischen Strategien waren Ausdruck eines gewandelten Selbstverständnisses des Künstlers in der gesellschaftlichen Praxis. Die Aktionen von Joseph Beuys, Bazon Brock, Wolf Vostell oder Nam June Paik galten nicht als bloße Provokationen des guten Geschmacks, wie es noch die Dadaisten im Sinn hatten, sondern waren als gezielte Irritation vorhandener Wahrnehmungs- und Denkmuster gedacht, die als Steuerungsmomente gesellschaftlicher Prozesse erkannt wurden. Die Aktionskünstler stellten im Ganzen die Formen der Erkenntnisgewinnung, der Kategorisierung und Klassifizierung infrage, indem zum Beispiel Paik und Vostell die Wahrnehmung und ihre Manipulierbarkeit durch technische Errungenschaften zum Thema erhoben. Die Aktionskunst ließe sich als eine künstlerische Strategie der Sinnentleerung bezeichnen, die eine grundsätzliche Kritik an Wissenschaft, Kunst und Politik in Hinblick auf deren Streben nach Verwertbarkeit formulierte. Das semantische Vakuum, das sich folgerichtig einstellte, wurde unversehens mit einem neuen Inhalt versehen: Letztlich ging es um einen Neuentwurf der Künstlerexistenz in einer massenmedial geprägten Öffentlichkeit. Die Massenmedien galten als Impulsgeber und kategoriale Orientierungsinstanz bei diesem Streben, das mit Andreas Reckwitz als ›neuartige Subjektorientierung‹ resp. als Hinwendung zu einem ›expressiven Subjekt‹ bezeichnet werden kann. Die Produktion von Ereignishaftigkeit und die Stimulierung von Aufmerksamkeit waren die kategorialen Anforderungen, die die mediatisierte Öffentlichkeit von der Kunst einforderte und die diese durch die Dissenspolitik des modernen Künstlers schon traditionell einzulösen vermochte: Der Anspruch der Aktionskünstler, dass – wie bereits erwähnt – die eigene neue Kunstrichtung nicht definierbar sei, auch nicht von den Urhebern selbst, und dass eine Aktion nur einmal durchführbar sei, sind nur einige Indizien für ein Bemühen, durch eine Enigmatisierung und Einmaligkeit eine erhöhte Aufmerksamkeit des Publikums zu erlangen, die sich letztlich immer wieder auf die Künstlerpersönlichkeit bezieht.

III Künstler, Kurator und Ausstellung vor der Kamera In der Folge hatte auch das Ausstellungswesen neue Wege zu beschreiten und der Kurator sich neu zu definieren, wie es auch im Falle der Kölner Ausstellung sichtbar wird. War die Aktionskunst, d.h. Happening, Fluxus und anverwandte Positionen, zwar seit Jahren aktiv, so fehlte jedoch eine Konturierung, die entlang von Konzepten und Terminologien eine kunstwissenschaftliche Aus- und

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Eingrenzung ermöglicht hätte. Mit Blick auf die Prozessualität der neuen Kunstform, Verweigerung der konventionellen Objektfixierung (Werkbegriff), der Kritik an den herkömmlichen Ausstellungsinstitutionen und der Ununterscheidbarkeit von künstlerischer und sozialer Handlung (›Kunst = Leben‹), ging Szeemann mit seiner Ausstellung ein Wagnis ein, worüber er sich angesichts der nicht wenigen Selbstdefinitionen offenbar bewusst war. Katalog, Ausstellung und ›Begleitprogramm‹ legen hiervon ein beredtes Zeugnis ab: So folgt der Ausstellungskatalog keineswegs den Konventionen, sondern zeigt sich als dokumentarische Kompilation von Informationen und reproduzierten Archivalien. Eine umfassende, mit Text- und Bildarchivalien bestückte Chronologie (nebst ErrataListe auf dem Buchrücken) macht den Großteil des Dokumentationsreigens aus, woran sich eine Bibliografie und als Abschluss eine alphabetische Abfolge von Selbstdarstellungen der beteiligten Aktionskünstler anschließen. Der Kurator versteht sich offenbar als Dokumentarist und Chronist einer offen gestanden noch jungen Kunstrichtung, deren Augenzeuge und Zeitgenosse er ist.10 Szeemann nimmt hier reflektiert eine wissenschaftlich-distanzierte Position ein, wie nicht zuletzt an der Verwendung wertneutraler Ordnungsmuster wie Chronologie oder Alphabet als Orientierungspunkte sichtbar wird.11 In der Summe zeigt sich eine vergleichsweise unsinnliche, ästhetisch wenig ansprechende Ausstellung, da sie ganz im Sinne der Aktionskunst allein der Information (Text/Bild), der Kommunikation und Interaktion (Aktion) verpflichtet war.12 Die Kölner

10 Das Problem der Zeitgenossenschaft wird in der Kunstwissenschaft als methodischselbstreflexives Problem seit geraumer Zeit erörtert, kann jedoch an dieser Stelle nicht ausgeführt werden (vgl. Krieger 2008). 11 Szeemann hatte eine Chronologie der noch jungen Geschichte der Aktionskunst in der Ausstellung entlang von Exponaten und im Katalog nachvollzogen und somit dem enzyklopädischen Gedanken der Kunstwissenschaft entsprochen. Damit wäre eine seitens der Aktionskünstler erklärtermaßen nicht-kategorisierbare Kunstbewegung erfasst; das Experiment wird zum Kanon. Zugleich wurde in der Ausstellung wie auch im Katalog jedem Künstler Raum zur Selbstdarstellung geboten, im Falle der Aktionskunst wären dies neben Kojen und Katalogseiten auch Handlungen. Auch hier handelt es sich um ein konventionelles Vorgehen, das sich an die Künstlerviten und die Kanonbildung, an Akademien und Museen des 18. resp. 19. Jahrhunderts anschließt. 12 Diese Ausstellungsästhetik lässt an eine Vorgängerin, die Internationale Dada-Messe 1920 in Berlin, erinnern, die noch das hehre Kunstwerk mit profanen Straßenplakaten in loser Anordnung auf einer Ausstellungswand versammelte. Zielte die Dada-Messe auf eine Kritik am Expressionismus, die demonstrativ das Foto und das Plakat an die

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Ausstellung inklusive Begleitprogramm schließt sich an eine Reihe von Aktionen an, die im Verlauf des vorausgehenden Jahrzehnts in Deutschland veranstaltet wurden und einen nicht minder spektakulären Verlauf nahmen. Szeemann setzt im Kuratorischen offenkundig jenes Handlungskonzept fort, das aus der Aktionskunst-Bewegung bereits hinlänglich bekannt war. In der Ausstellung setzt sich die defensive Selbstpositionierung des Kurators gegenüber den Künstlern fort, wenn er in den Ausstellungsräumen neben Stellwänden, die eine Vielzahl von Ankündigungstexten und -plakaten von Aktionen ganz im Sinne einer Straßenreklame präsentierten, einzelne Kojen installiert hat, die jeweils einem Künstler zur eigenverantwortlichen Selbstdarstellung zur Verfügung standen: Jeder Künstler sollte als einzigartiges Subjekt (personale Identität) wahrgenommen werden und damit einen scheinbar homogenen Identitätskosmos visualisieren. Diese Externalisierung der mutmaßlich personalen Identität13 des Künstlers wurde durch verschiedene Aktionen auf und jenseits der Bühne als besonderes Ereignis inszeniert, das durch eine gezielte, provozierende Aktivierung des Publikums den Dissens zwischen sozialer Identität (Publikum) und personaler Identität (Künstler) betonte: Während der Künstler als ›wahres Ich‹ (vgl. Winnicott 1965) allein aus sich selbst heraus schöpft und sich seiner entworfenen einzigartigen Individualität verpflichtet fühlt, verkörpert das Publikum das ›falsche Ich‹, das – in bloßen Rollen verhaftet – in der Gesellschaft allein den gegebenen Normen folgt. Auch wenn der bisweilen sogar aggressive Aufruf der Aktionskünstler an das Publikum, aus der allgemeinen Lethargie und Konformität auszubrechen, nicht zu überhören ist, so hatten die Künstler letztlich keinesfalls im Sinn, den inszenierten Dissens aufzuheben. Denn erst die Unterscheidbarkeit von personaler und sozialer Identität, von Anpassung und Abgrenzung von gesellschaftlichen Normen konnte den Entwurf des Künstlers als ›expressives Subjekt‹ begründen und aufrechterhalten. Demnach entfaltet der moderne Künstler eine Art öffentliche Existenz jenseits allgemeinverbindlicher Normgebungen. Tabubruch, Radikalisierung der eigenen Interessen, Arroganz, Kompromisslosigkeit und bisweilen kultivierte soziale Inkompetenz sind Indizien für ein inszeniertes zügelloses Künstlerdasein, von dem sich das niveaugewohnte Bürgertum missbilligend abwendet. Diese Missachtung spielt sich jedoch nur vordergründig ab, dient doch die zelebrierte künstlerische Exaltiertheit

Stelle des gemalten Kunstwerks setzen wollte, den Kunsthandel und die Kunstkritik vorzuführen beabsichtigte und damit eine neue Kunstrichtung entwickeln wollte, so galt das Streben der Happeningkünstler einer optimalen Selbstdarstellungsmöglichkeit der eigenen Individualität. 13 Die nachfolgenden Ausführungen orientieren sich u.a. an Willems/Hahn (1999).

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zugleich als Bestätigung des eigenen Wertekodex und liefert die Garantie, dass Subjektivität – eine Grundkonstante der industriegeprägten Fortschrittskultur – nicht nur möglich, sondern realisierbar ist. Der Kollektivwunsch nach einer autonomen und schrankenlosen Entfaltung der eigenen Individualität wird stellvertretend für alle vom Künstler erfüllt.14 So folgt die Rezeption von Kunstwerken beispielsweise eines Warhol eher Mustern der puren Aufmerksamkeit, wie sie in den Massenmedien geläufig ist, als exklusiven Regeln der ästhetischen Betrachtung, wie Andy Warhol auf die Frage nach seinem Ich erklärt: »Wenn ihr alles über Andy Warhol wissen wollt, braucht ihr bloß auf die Oberfläche meiner Bilder und Filme und meiner Person zu sehen: das bin ich. Dahinter versteckt sich nichts.« (Zit. n. Warhol 1989: 449)15 Bei aller Kontinuität des Künstlers in der Moderne zeigt sich ein wesentlicher Unterschied: War die Öffentlichkeit im 18. Jahrhundert von vorrangig textbasierten Printmedien geprägt, so war die öffentliche Sphäre des 20. Jahrhunderts von bild- wie audiobasierten Massenmedien bestimmt. Der Künstler hatte sich diesen neuen Verhältnissen zu stellen, wollte er nicht ins Hintertreffen geraten: Die klassischen Avantgardisten taten sich durch Künstlermanifeste, Streben nach Steuerung des öffentlichen Selbstbildes und durch öffentlich wirksame Spektakel hervor. Auf den Punkt brachte es schließlich in den 1960er Jahren der englische Pop Art-Künstler Richard Hamilton, der eine Entmachtung der Kunst durch die Massenmedien gegeben sah: Diese hätten die vornehmste Aufgabe der Kunst, Mythen zu produzieren, kurzerhand übernommen. Es gelte seitens der Kunst, dieses Terrain zurückzuerobern, indem die Kunst ihrerseits die visuellen Zeugnisse der massenmedialen Mythen adaptiere. Die Ausstellung This is tomorrow, die bereits 1956 in der Whitechapel Gallery in London von der Independent Group um Richard Hamilton verwirklicht wurde, ist ein Dokument die-

14 Diese skizzierte Indifferenz der Identitätsbenennung potenziert im gleichen Atemzuge jenen Grundzug, den man mit Wolfgang Ruppert als Projektionsfläche kollektiver Wünsche bezeichnen kann: Steht der Künstler in der Moderne, d.h. in einer industriegeprägten Kultur unter einem permanenten Rechtfertigungsdruck, inwiefern die Kunst als wichtiger Bestandteil einer auf Verwertung zielenden Gesellschaft gelten kann, so begegnet ihm der Künstler sowohl mit verschiedenen Hinweisen auf die Bedeutsamkeit des eigenen Schaffens, wenn er eine Verbindung mit der Wissenschaft, dem Alltag, dem Konsum, der Psychologie oder dem Journalismus eingeht, und der Inszenierung seiner eigenen Künstlerpersönlichkeit. Die künstlerische Selbstinszenierung wird von der Gesellschaft nicht nur als buntes Treiben des Randständigen akzeptiert, sondern sogar benötigt, wie Ruppert ausführt (vgl. Ders. 2000). 15 Vgl. hierzu den Artikel von Stefan Greif in diesem Band.

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ses Strebens. Doch haben es die Künstler der Pop Art und der Aktionskunst nicht bei einem bloßen phänotypischen Reflex auf die Massenmedien belassen, sondern machten sich deren Kausal- und Wirkstrukturen zu eigen. Als Paradebeispiel gilt auch hier wiederum Warhol, der sowohl den Starkult in sein Motivrepertoire aufgenommen hat, als auch seine gesamte Künstlerexistenz in den Bannstrahl der Massenmedien verschoben hat. Seine Auftritte in der Öffentlichkeit und die Erfindung der sogenannten ›Factory‹, einem losen Zusammenschluss von ›Szenetypen‹, bekunden eine massenmediale Künstlerexistenz, die eine unauflösbare Ambivalenz zwischen personaler und sozialer Identität inszeniert: Inwiefern spielt Warhol eine Künstlerrolle und inwiefern ist er als authentisches Individuum präsent? Abbildung 4: Szeemann mit Künstlern und Kuratoren in Kassel, 1972

Quelle: documentaforum.de

IV Mediatisierte Öffentlichkeit Die Konkurrenzsituation zwischen Kunst und Massenmedien, wie sie Hamilton wahrnahm, schien sich in dem Moment aufzulösen, als beide Kontrahenten das gleiche Ziel verfolgten: Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit. Die bereits benannten Kategorien des Neuen, Einzigartigen und Einmaligen haben sich sowohl in der Kunst als auch in den Massenmedien und deren Vorformen in der Moderne in einer fortwährenden Allianz herausgebildet und wurden stets aktualisiert. Mit der Aktionskunst und der Pop Art eines Andy Warhol scheint nun eine neue Stufe dieser steten Annäherungsprozesse vorzuliegen, so dass der Tenor des journalistischen Fallbeispiels auf den ersten Blick überrascht.

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Die Filmaufnahmen der Kölner Ausstellung bringen den ›expressiven Individualismus‹, wie sie die Aktionskunst geradezu mediengerecht praktiziert, demonstrativ zur Anschauung. Man ist gewissermaßen auf Frequenz, wenn der TV-Zuschauer scheinbar live bei all den abstrusen bis risikobehafteten Künstleraktionen zugegen sein darf. Die Auswahl und Zusammenstellung der Aktionssequenzen folgen einer spannungssteigernden Dramaturgie. Der eingesprochene Text jedoch disqualifiziert die filmdokumentierten Kunsthandlungen: Die Expressivität und Einmaligkeit ermüden durch Wiederholung. Auch die minutenlange und damit vergleichweise ausdauernde Möglichkeit des Kurators, seine Einschätzung der Aktionskunst vor der Kamera darzulegen, kann die Sichtweise des Journalisten nur kaum nivellieren. Mehr noch scheint gerade das einfache, d.h. schnittarme Abfilmen des Kurators bei seinen Darlegungen ein gezieltes Verfahren: Der Kurator ist wie jeder Interviewpartner darum bemüht, auf die Frage nach Konzept und Kunstwürdigkeit der Aktionskunst und Ausstellung zu antworten. Diese komplexen Fragen bedürfen eines abwägenden Reflektierens und Formulierens, will der Kurator nicht in vorgestanzte Formeln, wie in der Politik geläufig, verfallen. Das unermüdliche Abfilmen dieser bisweilen monologischen Gesprächssituation lässt unweigerlich eine Nähe des Interviews zu Kunstaktionen entstehen. Das Fernsehpublikum findet sich letztlich in einer paradoxen Rezeptionssituation wieder: Der insgeheime Voyeurismus, etwa bei inszenierten Tabubrüchen (medial übermittelt) anwesend zu sein, wird ebenso bedient wie die unterkühlte wissenschaftliche Aufklärung über die Hinfälligkeit dieser radikalen Avantgardekunst nach nur einer Dekade des Auftritts auf dem Parkett der internationalen Kunstszene. Diese Paradoxie der filmischen Inszenierung der Aktionskunst löst sich jedoch unversehens auf, wenn man das Ideal einer gleichrangigen Partnerschaft von TV und Aktionskunst aufgibt. Denn die Verbindung zwischen beiden um Aufmerksamkeit heischenden Kooperateuren hat eine Grundierung des Konkurrierens und wird am Ende von den Massenmedien entschieden: Der Aufstieg und Fall der Aktionskunst wird in der Fernsehöffentlichkeit zwar nicht allgemeinverbindlich definiert, doch mindestens medienwirksam ausgerufen. Als symptomatisch für dieses implizit präsente Selbstverständnis der Massenmedien, als oberste Richter des öffentlichen Lebens in Erscheinung zu treten, können bestimmte Kameraeinstellungen und deren Kommentierungen gelten: das Beobachten der Partizipation: Die Kamera hält ausgiebig jene Szenerien fest, die die Künstler auf der Bühne und im Auditorium mit den zahlreich

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versammelten Zuschauern in Aktion zeigen.16 Hier wird mit konstruierter Distanz jenes Regelsystem vor Augen geführt, das auch für den Regisseur des TVBeitrags und seinen Sender gegolten hat: das bereits beschriebene ›massenmediale Aufmerksamkeitsregime‹ (Reckwitz).17 Es lässt sich pointiert ausführen, dass die kritische und versachlichte Darstellung der Aktionskunst und ihrer Ausstellung nicht eine Gegenposition zum, sondern im Verbund mit der unterschwelligen bildorientierten Sehlust eine Steigerung des Aufmerksamkeitsregimes darstellt. Denn würde der Regisseur lediglich der Expressivität der abgefilmten Aktionskünstler in ihrem Gestus nacheifern, so würde sich auch hier alsbald ein Ermüdungseffekt einstellen. Eine Distanzierung des TV-Journalismus von der filmdokumentierten Aktionskunst ist also nur folgerichtig, geht es doch um eine Vorrangstellung im Wettstreit um Aufmerksamkeitsanteile. Womöglich unbeabsichtigt symbolhaft für eine Selbstreflexion der Massenmedien sind Sequenzen, die erstaunlicherweise die TV-Kollegen bei der Arbeit in den Räumen der Ausstellung zeigen: Dort filmt unser Journalist einen Kollegen und schwenkt überdies zu einem apparativ aufwendigen Filmset, das

16 In einer bekannten architektonischen Situation sind Bühne und Auditorium deutlich voneinander getrennt. Inszenierung und Realität, Fiktion und Fakt, Schauspieler und Zuschauer werden dadurch geschieden, aktiv und passiv von vornherein zugeordnet. Es sind nun die Künstler, die darum äußerst bemüht sind, sowohl den konventionellen Kunstbegriff als die dazugehörige Kunstrezeption zu stören. Handlungen werden auf der Bühne vollzogen, die trotz Banalität oder Absurdität Alltagshandlungen darstellen können, dennoch stellen sie qua Verortung auf der Bühne und qua Setzung als Aufführung symbolische Handlungen dar, die zwar üblicherweise eine ehrfurchtsvolle Haltung einfordern, doch durch die Banalität zur kollektiven Unterhaltung dienen. Das weithin bekannte Muster von Ware und Kultobjekt, das seit dem 18. Jahrhundert diskutiert wird, wird aufgerufen. Das Kunstwerk, hier eine künstlerische Handlung, wird dem Publikum zur Bewertung übereignet. Wir kennen dies aus den Salons des 18. und 19. Jahrhunderts, in denen – zwar ist die Akademie zwischengeschaltet – die Kunstwerke der allgemeinen Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Die Reaktionen, soweit sie überliefert sind, sind genauso heterogen wie die versammelte Menschenmenge, wohl aber durchgängig negativ. Denn die Kritik an der Kunst war letztlich eine Kritik am Staat und überdies ein Einüben von freier Meinungsbildung und freiem Meinungsaustausch. Der Staat und die Künstlerschaft mussten im Verlauf des 18. Jahrhunderts das anonyme Publikum als gesellschaftliche Größe anerkennen. Diese war unberechenbar, so dass selbst die Kunstkritik nicht umhin kam, sich mit der Kunstöffentlichkeit gut zu stellen. 17 Vgl. hierzu Schmidt (2001).

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geradezu entlarvend die scheinbaren Auswüchse seiner Zunft unter die Lupe nimmt. Damit überhöht der Filmjournalist Maenner nicht nur seine eigens inszenierte Metaposition, die er auf seinesgleichen bezieht, sondern erhebt unbewusst auch seine Handlung zum Thema: Das Beobachten wird beobachtet, das Urteilen wird beurteilt. Und schließlich mehrt sich die Beobachtungsperspektive, wenn wir als Fernsehzuschauer den Ausstellungszuschauern und der zweiten Berichterstattung zuschauen, wie sie zuschauen. Diese irritierende Verschränkung von nicht wenigen Betrachterperspektiven, die der Filmbericht des WDR über die Aktionskunst entwirft, suggeriert dem Zuschauer, mit dem Journalisten eine Metaposition eingenommen zu haben. An dieser Stelle wird eine Grunddisposition der Moderne aufgerufen, die das Verhältnis von Masse und Elite und im vorliegenden Fall von Kunstkritik und TV-Publikum betrifft. War man im 18. Jahrhundert noch im Glauben, dass das Publikum kraft seiner naturgegebenen Grundausstattung18 imstande sei, ein Kunsturteil zu fällen, so war man spätestens mit der Hochtechnisierung der Massenmedien offenbar davon überzeugt, sich von solchen Idealisierungen zu verabschieden und die Deutung der Kunst im Besonderen und mithin des vor die Kamera gebrachten Alltagslebens im Allgemeinen einer geistigen Elite zu überlassen.19 Gemessen am impliziten Selbstanspruch der Massenmedien haben diese offenkundig die allgemeinverbindliche Deutung der Alltagskultur inklusive zeitgenössischer Kunst übernommen.

18 Die Kunsttheorie war ursprünglich an die Kunstakademie gebunden; dort suchte man nach einer Monopolstellung, wenn Künstler und Theoretiker, die sogenannten ›amateur‹, um eine systematische Grundlegung des künstlerischen Handelns gerungen haben. Die nicht-institutionalisierte Kunstkritik schließlich idealisierte das Publikum, wenn es diesem eine naturgegebene Fähigkeit (sentiment) zusprach, ein Kunsturteil zu fällen. In der Praxis jedoch wurde deutlich, dass man mit dem Publikum nicht das Naturale, sondern das Kulturale meinte, dass man nicht die Masse (multitude), sondern die geistige Elite (public) im Blick hatte. Denn letztlich berief man sich auf ein gebildetes Publikum, das man sich über Jahre hinweg erzogen hatte. 19 Radikal formuliert, deklassiert die beschriebene Rezeptionsparadoxie zwischen Lust und Erkenntnis das Publikum zu einem reinen Konsumenten, der offenbar in angenommener Ermangelung seiner Selbstbestimmungskompetenz dem ausgeklügelten System der TV-Stimulanzen zu folgen hat.

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Literatur Fastert, Sabine (Hg.) (2011): Die Wiederkehr des Künstlers. Themen und Positionen der aktuellen Künstler/innenforschung, Köln u.a.: Böhlau. Habermas, Jürgen (1962): Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Joachimides, Alexis (2008): Verwandlungskünstler. Der Beginn künstlerischer Selbststilisierung in den Metropolen Paris und London im 18. Jahrhundert, München u.a.: Deutscher Kunstverlag. Krieger, Verena (2007): Was ist ein Künstler? Genie – Heilsbringer – Antikünstler, eine Ideen- und Kunstgeschichte des Schöpferischen, Köln: Deubner. Dies. (Hg.) (2008): Kunstgeschichte & Gegenwartskunst. Vom Nutzen & Nachteil der Zeitgenossenschaft, Köln u.a.: Böhlau. Marquard, Odo/Stierle, Karlheinz (Hg.) (1979): Identität, München: Fink. Moog-Grünewald, Maria (Hg.) (2002): Das Neue. Eine Denkfigur der Moderne, Heidelberg: Winter. Quante, Michael (1999): »Personale Identität als Problem der analytischen Metaphysik«, in: Ders. (Hg.), Personale Identität, Paderborn u.a.: Schöningh, S. 9-30. Reckwitz, Andreas (2012): Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Ruppert, Wolfgang (2000): Der moderne Künstler. Zur Sozial- und Kulturgeschichte der kreativen Individualität in der kulturellen Moderne im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Schmidt, Siegfried J. (2001): »Aufmerksamkeit. Die Währung der Medien«, in: Aleida Assmann/Jan Assmann (Hg.), Aufmerksamkeiten (= Archäologie der literarischen Kommunikation, Band 7), München: Fink, S. 183-196. Szeemann, Harald (1970): »Vorwort«, in: Happening und Fluxus. Ausstellungskatalog, Kölnischer Kunstverein, unpag. Warhol, Andy (1989): Retrospektive. Ausstellungskatalog, Kynaston McShine (Hg.), Museum Ludwig, Köln, München. Welsch, Wolfgang (1996): Grenzgänge der Ästhetik, Stuttgart: Reclam. Willems, Herbert/Hahn, Alois (Hg.) (1999): Identität und Moderne, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Winnicott, Donald W. (1965): The Maturational Processes and the Faciliating Environment. Studies in the Theory of Emotional Development, New York: The Hogarth Press.

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Zweite, Armin (2000): »Ich ist etwas Anderes«, in: Ders. (Hg.), Ich ist etwas Anderes. Ausstellungskatalog, Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf, S. 27-50.

Abbildungen Abbildung 1: Ben Vautier an seinem Stand auf der Ausstellung, Quelle: kulturonline.net/files/exhibition/01_2618.jpg Abbildung 2: Fluxus-Konzert, Quelle: kultur-online.net/files/exhibition/02_2 598.jpg Abbildung 3: Martial Raysse für die Ausstellung Dylaby, Quelle: kultur-online. net/files/exhibition/03_2498.jpg Abbildung 4: Szeemann mit Künstlern und Kuratoren in Kassel, 1972, Quelle: documentaforum.de/wp-content/gallery/harry-szeemann/szeemann006.jpg

Performativität und Format Anmerkungen zu Christoph Schlingensiefs Fernseharbeiten B ERND M AUBACH

Wer in den letzten Jahren noch einmal Leslie A. Fiedlers einflussreichen Beitrag zu Pop und Postmoderne, Cross the Border – Close the Gap, aus dem Jahr 1968 gelesen hat, könnte dabei gleich mehrfach an die Arbeiten von Christoph Schlingensief erinnert worden sein. Fiedlers Aufforderung an die Künstler der Postmoderne, die Grenzen, die mit der bürgerlichen Kunst der Moderne entstanden seien, zu überwinden (insbesondere die Grenze zwischen hoher und niederer Kunst), ist Schlingensief – so scheint es zumindest auf den ersten Blick – mustergültig nachgegangen. Er hat sowohl für die Popmusiksender MTV und VIVA Sendungen produziert als auch in Bayreuth Wagner inszeniert; die Filmemacher Rainer Werner Fassbinder und Alexander Kluge sind für ihn ebenso wichtige Einflüsse wie die Splatterfilmregisseure Herschell Gordon Lewis (Blood Feast, 1963) und Tobe Hooper (The Texas Chain Saw Massacre, 1974). Zu seinen Mitarbeitern gehörten etablierte Schauspieler ebenso wie Laiendarsteller. Mit der Punk-Ikone Patti Smith drehte er in Afrika den Film The African Twin Towers; mit Neonazis, die an einem Resozialisierungsprogramm teilnahmen, inszenierte er am Schauspielhaus Zürich Hamlet. Grenzgänger blieb er auch medial; er machte Kinofilme, Fernsehsendungen, Radiohörspiele, Installationen, Performance-Aktionen, Theater, Oper und wurde zuletzt sogar noch zum Bestsellerautor. Auch die Grenzen von Kunst und Leben war er ständig bemüht aufzulösen, etwa mit Aktion wie der Gründung einer Bahnhofsmission in Hamburg (vgl. Schulz/Lochte 1998) oder der Partei Chance 2000 (vgl. Finke/Wulff 1999). Selbst noch die von Fiedler angeführten neuen »Pop-Formen« Western, ScienceFiction und Pornografie (Fiedler 2013: 86ff.) finden sich bei Schlingensief, der gegenüber populären oder als trivial geltenden Gattungen und Genres generell keinerlei Berührungsängste kannte. Sein Film Terror 2000 ist durchweg im trashigen Western-Stil gedreht, das Theaterspektakel Schlacht um Europa I-

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XLII / Ufokrise ’97: Raumpatrouille Schlingensief arbeitet mit Mitteln der Science-Fiction. Unter Pornografie-Verdacht standen eine ganze Reihe seiner Arbeiten, und das Busenwunder Kitten Natividad, das durch Russ-Meyer-Filme bekannt wurde und sich später zu einer Ikone der Popkultur entwickelte, konnte Schlingensief gleich für mehrere seiner Projekte gewinnen. Die Liste an Grenzüberschreitungen, für die Schlingensief stand, ließe sich erweitern. Die Nähe zu den Forderungen Fiedlers dürfte aber bereits jetzt deutlich geworden sein. »Die Überbrückung der Kluft zwischen Elite- und Massenkultur« (ebd.: 86) vollzieht Schlingensief ebenso wie die Überbrückung der »Kluft zwischen Künstler und Publikum oder […] zwischen Professionalismus und Amateurtum« (ebd.: 93). Auch das Feuilleton kennzeichnete seine Arbeiten lange Zeit mit Attributen, die Fiedler – positiv konnotiert – als Merkmale der neuen Kunst herausstellte: »anti-künstlerisch und anti-seriös« (ebd.: 84).1 Trotzdem bleibt zumindest ein Unbehagen zurück, wollte man Schlingensief zum Musterbeispiel des Grenzenwandlers und Grabenschließers im Sinne Fiedlers erheben. Denn Schlingensiefs Zusammenführen von Gegensätzen, die laut Fiedler für die Moderne charakteristisch waren, verläuft keineswegs harmonisch, sondern meist als Schock oder als Clash von U- und E-Kultur. Es ließe sich daher viel eher die These vertreten, dass Schlingensiefs Arbeiten darauf aufbauen, dass die Gegensätze der Moderne weiterhin bestehen und dass die Wirkung vieler seiner Arbeiten daraus resultiert, dass sie auf ein Publikum treffen, das die bürgerlichen Oppositionen als Orientierungsraster weiterhin für sich nutzt. Schlingensief setzte dezidiert auf Unvereinbarkeiten, nicht darauf, diese Gegensätze aufzuheben. Erika Fischer-Lichte sieht das Grundprinzip der Arbeiten Schlingensiefs in der »Methode, in ein und derselben Aufführung unterschiedliche Rahmen zu setzen und miteinander kollidieren zu lassen. […] Häufig schienen zwei oder drei verschiedene Veranstaltungstypen gleichzeitig abzulaufen« (Fischer-Lichte 2004: 74). Dabei betrafen diese verschiedenen Rahmungen Gegensätze wie hohe und niedere Kunst, die Trennung von Künstler und Publikum oder den Gegensatz von Kunst und Leben, mithin Trennungen, die Fiedler als Merkmale der Kunst der Moderne bereits für obsolet erklärt und verabschiedet hatte. Im Folgenden soll diese Arbeitsweise am Beispiel der Fernsehsendungen Schlingensiefs aufgezeigt werden. Die doppelte Rahmung im Sinne FischerLichtes lässt sich dabei an den Kategorien Performance und Format aufzeigen. Die Basis der Fernseharbeiten Schlingensiefs bilden stets bekannte Formate des Unterhaltungsfernsehens, die in mehr oder minder starkem Ausmaß durch Per-

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Titelgebend wurde diese Opposition mit Catherina Gilles’ (2009) Monografie.

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formance-Elemente aufgesprengt werden. Der Reiz dieser Fernsehproduktionen besteht in der Unvereinbarkeit der beiden Kategorien, denn während das Format nach Standardisierung drängt, gehört das Unvorhersehbare und Nichtwiederholbare zur Performance-Kunst.

I Format und Performance Fischer-Lichte bestimmt in ihrer 2004 erschienenen Schrift zur Ästhetik des Performativen die Entgrenzung der Künste seit den 1960er Jahren als Schritt vom Werk zum Ereignis. Anstelle eines von Produzent und Rezipient losgelöst existierenden Werkes bringen in der Performance-Kunst Darsteller und Publikum gemeinsam ein Ereignis hervor, das in seinem konkreten Verlauf vorab nicht festgelegt werden kann; es wird »durch die Aktion verschiedener Subjekte – der Künstler und der Zuhörer/Zuschauer – gestiftet, in Gang gehalten und beendet« (Fischer-Lichte 2004: 29). Es verläuft singulär und unterliegt damit in mehr oder minder ausgeprägter Weise der Zufälligkeit und der Unwiederholbarkeit. Elemente des Performativen sind Bestandteil sämtlicher Arbeiten Schlingensiefs, nicht nur jener Arbeiten, die sich dezidiert als Performances oder Aktionskunst bezeichnen ließen. Selbst in seinen Filmen, gewissermaßen einem Medium, das der Performance-Art eher fremd ist, weil die leibliche Kopräsenz von Akteuren und Zuschauern fehlt und es daher allenfalls zu Dokumentationszwecken dient,2 finden sich performative Elemente, etwa dann, wenn auf ein festes Drehbuch verzichtet wird, die Schauspieler spontan aufeinander reagieren und z.T. auch Zuschauer der Dreharbeiten in die Spielhandlung involviert werden. Zufälligkeit und Unwiederholbarkeit halten somit Einzug in diese Produktion, die Dreharbeiten verlaufen selbst als Ereignis.3

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Entsprechend findet sich in Fischer-Lichtes Überblick zu den Künsten, die die performative Wende seit den frühen 1960er Jahren vollzogen haben (bildende Kunst, Fluxus, Musik, Literatur und Theater) kein Hinweis auf den Film (vgl. Fischer-Lichte 2004: 22ff.).

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Exemplarisch seien hierfür einige Aussagen Schlingensiefs zu seinem Film 100 Jahre Adolf Hitler angeführt: »Gedreht haben wir alles an einem einzigen Tag, für mehr Filmmaterial war kein Geld da. Aber das machte nichts: Ich wollte sowieso, dass alle beim Dreh so langsam einen Zustand erreichen, wo Müdigkeit eintritt, wo die Leute sich langsam Richtung Tod entwickeln und vor der Kamera zerfallen. Ich wollte diesen physischen und psychischen Zerfall nicht abbilden, sondern ich wollte, dass der

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Dieser performativen Arbeitsweise steht das Format diametral entgegen. Der Begriff des Formats hat im Bereich des Fernsehens den des Genres weitgehend abgelöst. Gegenüber dem traditionellen Genre- oder auch dem eher aus der Literatur stammenden Gattungsverständnis setzt die Kategorie Format einen – wie Knut Hickethier formuliert – »radikalen Marktbegriff« voraus: »Es kennt im Gegensatz zum Genre keine historischen Formentraditionen, sondern sieht alle Elemente nur unter dem Aspekt ihrer aktuellen Verwertbarkeit. […] Das Format zielt auf eine kontinuierliche und damit serielle Produktion und eine ständige Anpassung an erkennbare Veränderungen des Publikumsgeschmacks. Formatierung bedeutet vor allem auch die Schaffung gleichbleibender Standards in einer seriellen oder sequentiellen Produktion.« (Hickethier 2007: 205)

Ebenso wie das Genre bietet das Format dem Zuschauer Orientierungsmuster auf Basis von Konventionen an. Beim Film dient das Genrewissen häufig aber gerade dazu, das jeweilige filmische Produkt auf ein Spiel mit diesen Konventionen hin zu rezipieren: Erwartet wird nicht deren vollständige Erfüllung, sondern vielfach gerade deren Erweiterung und das Spiel mit ihnen. In diesem Sinne gilt für das Genre »die Doppelbewegung von Wiederholung und Variation« (Frahm/Voßkamp 2005: 265). Das Format verhält sich hierzu insofern anders, als sich neue Fernsehproduktionen zwar einerseits als neu und als so noch nie dagewesen ausgeben müssen, um die Aufmerksamkeit des Publikums zu erlangen. Sie müssen aber andererseits dieses neue Element durch die serielle Produktion hindurch auf Dauer stellen. Formate sind daher »auf eine strikte Einhaltung der Regeln hin angelegt« (ebd.). An Comedyserien, Daily Talks, Soaps, Gerichtssendungen, Castingshows usw. lässt sich diese Tendenz zur Formatisierung deutlich erkennen. Sie führt häufig so weit, dass die einzelnen Sendungen innerhalb einer seriellen Produktion qualitativ ununterscheidbar werden. Insofern trifft Schlingensief im Fernsehen auf ein Publikum, das schon aufgrund des Mediums nicht auf Abweichung, Irritation und Innovation eingestellt ist. Zugleich rührt hierher aber auch Schlingensiefs Ablehnung dem Fernsehen gegenüber: »[I]ch kann den Fernseher nicht mehr einschalten. Das ist ein Medium, das mir im Moment völlig fremd ist, weil da wie in einer Endlosschleife immer dasselbe geredet wird.

Film selbst dieser Zerfall ist und den Zuschauer in diesen Prozess hineinzieht.« (Schlingensief 2012: 229)

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Da kann man reinschalten und wie nach einer Betäubung ohne Problem an den Satz anschließen, der vor der Betäubung gesprochen wurde.« (Schlingensief 2010: 108)

Die Ereignishaftigkeit der Performance-Kunst und die Formatisierung im Fernsehen sind somit kaum miteinander in Einklang zu bringen. Eine Anpassung an einen bestimmten Standard lässt das Ereignishafte performativer Künste in ihrer Unkontrollierbarkeit üblicherweise nicht zu.4 Genau zwischen diesen beiden sich widerstreitenden Prinzipien liegt aber zugleich das Spannungsfeld der Fernseharbeiten Schlingensiefs. Zugleich spiegelt sich darin tendenziell der Widerstreit von E- und U-Kultur. Die im Fernsehen stattfindende Formatisierung steht häufig schon allein durch die Orientierung an Massengeschmack und Quote unter Trivialitätsverdacht, sofern nicht sogar noch mit der Terminologie der Frankfurter Schule von »Kulturindustrie« die Rede ist. Demgegenüber gehört die Performance-Kunst längst zum etablierten Kulturbereich, die zudem nahezu sämtliche Konstanten des Fernsehens aufhebt: Neben dem Standardisierungsgedanken des Formats betrifft dies vor allem die Warenform der traditionellen Kunst und das Verhältnis zum Zuschauer.

II Talk 2000 Talk 2000 ist eine 1997 entstandene Sendereihe von acht Folgen, die sich als Talkshow ausgab und bei RTL und Sat.1 ausgestrahlt wurde. Verantwortlich für die Reihe waren jedoch nicht die Privatsender selbst, sondern Kanal 4, ein unabhängiger Sender, der Programme für jene Fensterplätze produzierte, die nach dem Rundfunkgesetz alle Privatsender ab einem Marktanteil von mindestens zehn Prozent bereitstellen mussten. In diesen Fensterplätzen werden auch die mangels besserer Alternativen als ›Kulturmagazine‹ bezeichneten Sendungen von Alexander Kluge ausgestrahlt (10 vor 11, Prime-Time/Spätausgabe, News & Stories sowie das Mitternachtsmagazin). Während Kluge jedoch jegliches Zugeständnis an vertraute Seh- und Hörgewohnheiten sowie an Konventionen des Interviews verweigert und auf diese Weise intellektuell anspruchsvolle und zugleich assoziativ und sprunghaft sich entwickelnde Fernsehgespräche in das

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Bezeichnenderweise hatte Umberto Eco Anfang der 1960er Jahre in der Verbindung von Ereignis und Live-Übertragung genau jenen »Kommunikationstyp [erkannt], den nur das Fernsehen kennt« (Eco 2012: 188). Die Live-Sendung sei daher die Fernsehsendung, deren Reflexion einen Beitrag zur Ästhetik liefern könne und sogar »eine Revision und Erweiterung verschiedener ästhetischer Begriffe« (ebd.: 192) erfordere.

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Nachtprogramm von RTL, Sat.1 und VOX einschleust, wodurch es zur Störung im Programmfluss und zum Clash von U- und E-Kultur kommt, wählt Schlingensief demgegenüber mit Talk 2000 ein Fernsehformat als Bezugspunkt, das gerade nicht der Hochkultur verpflichtet ist: die Unterhaltungstalkshow. Schon über das Format adressiert Schlingensief Talk 2000 nicht wie Kluge an ein bildungsaffines Minderheitenpublikum, sondern an ein Massenpublikum, das an Unterhaltung interessiert ist. Obgleich auch Schlingensiefs Talkshow für den Zuschauer mit erheblichen Irritationen verbunden ist, bedient er das Format strukturell zunächst den Konventionen gemäß. Jede Folge beginnt mit demselben Vorspann, der ein Wiedererkennen ermöglicht, Schlingensief selbst fungiert als Moderator, als Studio dient die Kantine der Berliner Volksbühne, ein Studiopublikum ist anwesend, geladen sind prominente Gesprächspartner wie Sophie Rois, Hildegard Knef, Rudolph Mooshammer, Harald Schmidt, Ingrid Steeger, Lilo Wanders, Udo Kier, Beate Uhse, Helmut Berger und Gotthilf Fischer. Jede Sendung hat ein Oberthema, etwa ›Leben und Tod‹, ›Deutscher Humor‹, ›Körperkult‹ und ›Sind Tiere die besseren Menschen?‹. Das Format wird so weit bedient, dass sich die Erwartungshaltung des Fernsehzuschauers tatsächlich auf eine typische Talkshow mit Unterhaltungsanspruch richten könnte. Genau diese Erwartungshaltung ist freilich von Schlingensief einkalkuliert, immerhin gibt sich Talk 2000 bewusst nicht zu deutlich als unabhängiges Programmangebot zu erkennen, sondern suggeriert zunächst, sich dem Programmschema von RTL und Sat.1 einzufügen. Zugleich gleitet die Talkshow aber immer wieder in eine Art Performance ab, bei der die Gäste und das Studiopublikum die Sicherheit des Formats verlieren und zu entscheiden haben, wie sie auf diese Konventionsverletzungen reagieren sollen. Dies geschieht zwischen gelungener Anpassung, verzweifeltem Mitmachen oder Verweigerung. Ingrid Steeger beispielsweise verlässt wütend und unter Tränen das Studio, Gotthilf Fischer dagegen steigert die Sendung derart ins Klamaukhafte, dass schließlich der Moderator selbst das Studio vorübergehend verlässt. Wann sich die Beteiligten im Bereich der Talkshow bewegen und wann die Performance einsetzt, ist auch für den Zuschauer am Fernseher nicht genau zu bestimmen, zumal auch zwischen absichtlicher Inszenierungsstrategie und sich zufällig ereignenden Fehlentwicklungen nicht exakt zu unterscheiden ist. Schlingensief kann zwischen den Rahmungen einer Talkshow, die zwischen Unterhaltung und Ernst frei changiert, und der Rahmung einer Kunstaktion mit hohem Performance-Anteil nach Belieben switchen. Dass ein vorrangiger Geltungsanspruch einer dieser zwei Rahmen nicht eindeutig zu erkennen ist, lässt

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sich schon an der ersten Anmoderation Schlingensiefs ablesen. Hier begrüßt er das Fernsehpublikum und erklärt seine Sendung sogleich zu einem Experiment: »Ich möchte Sie ganz herzlich begrüßen zur ersten von acht Talkshows, die ich jetzt hier mache unter dem Motto: Jeder kann in Deutschland Talkmaster werden. Ich will beweisen, daß das möglich ist. Jeder hat das Recht dazu, denn ich glaube: Jeder Mensch ist im Moment besser als alle Talkmaster, die wir in Deutschland im Fernsehen sehen.« (Schlingensief 1998: 15)

Selbst der Geltungsanspruch dieses Experiments bleibt freilich in der Schwebe, denn sollte es Schlingensief nicht gelingen, ein besonders guter Talkmaster zu sein, kann er sich jeder Zeit auf den Kunstcharakter der Sendung berufen: »So etwas habe ich […] sehr oft gemacht […]: das, was schiefgegangen ist, was nicht funktioniert hat, spontan umzudrehen und einen Erfolg auszurufen. Aus dem Flugzeugabsturz das Beste zu machen, noch kurz vor dem Aufprall zu rufen: ›Kunstaktion!‹« (Schlingensief 2012: 225) Eine Dokumentation zu Talk 2000 in Buchform versammelt auch einige Zuschauerpost, die nicht etwa an Kanal 4 adressiert war, sondern an RTL, Sat.1 und das ORF. Die Empörung, die sich in diesen Briefen ausdrückt, ist beachtlich, und zugleich wird hier deutlich, dass es zumindest einigen Zuschauern nicht gelang, mit dem Widerstreit von Talkshow-Format und PerformanceAktion umzugehen: »Hoffentlich treten Sie noch öfter in so viele Fettnäpfchen, wie in dieser Sendung, damit Sie bald weg sind vom Bildschirm«, »Diese Sendung des Moderators ›Hr. Christoph Schlingensief‹, der überhaupt nicht moderieren kann, sondern scheinbar auf Kosten der ›Rtl‹ Seher bei ›Rtl‹ seine ›Verhaltensgestörte‹, noch nicht abgeschlossene ›Vorkindheitsfase‹ bewältigen will«, »Schlingensief – a) der letzte Scheißdreck! b) der Gipfel des Dilettantismus, c) der letzte Anlaß, ab heute RTL aus dem Speicher zu drücken! Sie sind das Letzte«, »Schlingensief scheint offenbar geistig verwirrt zu sein«, »Es ist für mich das Allermieseste, was je über TV gelaufen ist«, »Wie kann ein erfolgreicher Sender wie RTL, solch einer Sendung auch nur eine Minute seiner Zeit zugestehen«, »Ich habe Euch immer für einen guten Sender gehalten, aber was ich gerade sah, hat mich total aus der Fassung gebracht.«5 Die Empörung hängt sicherlich nicht zuletzt damit zusammen, dass gerade die kommerziellen Sender üblicherweise Garanten für unterhaltsames, zugleich aber erwartbares Fernsehen sind. Der Unmut über Talk 2000 dürfte daher zu ei-

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Zitate aus Zuschauerbriefen an RTL, Sat.1 und das ORF aus: Schlingensief (1998: 188-195). Rechtschreib- und Zeichensetzungsfehler entsprechen den Quellen.

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nem großen Teil daraus resultieren, dass die Zuschauerorientierung über die Formatierung von Sendungen gerade in diesen kommerziell ausgerichteten Programmen plötzlich nicht mehr griff.

III U3000 Die zweite Sendereihe fürs Fernsehen entstand 2000 für den Musiksender MTV. Die U3000 wurde realisiert in acht Folgen von jeweils knapp 30 Minuten Länge. Auch hier befinden sich Fernsehformat und Performativität erneut im Widerstreit, allerdings zeichnet sich eine deutliche Verschiebung zugunsten der Performativität ab, denn der U3000 liegt kein einheitliches Format als zweiter Bezugsrahmen mehr zugrunde. Elemente von Talkshow und vor allem Spielshow sind bisweilen noch zu erkennen, werden aber völlig zersplittert und z.T. ohne klar erkennbare Richtung in die Sendung eingebracht, so dass die Entwicklung der einzelnen Sendungen ohnehin unvorhersehbar wird und so der performative Charakter hervortritt. Vor allem das Publikum vor Ort wird immer wieder massiv in das Geschehen hineingezerrt, bisweilen in aggressiver Weise. Dass es sich um keine gewöhnliche Show mehr handelt, ist schon daran zu erkennen, dass es kein Studio mehr gibt oder zumindest keinen Ort, der als Studio dienen könnte. U3000 findet in einer Berliner U-Bahn statt. Ohne ein planmäßiges Ziel anzusteuern, wirkt die U-Bahn wie außer Kontrolle geraten, worauf auch der ursprüngliche Sendetitel Die Todesfahrt der U3000, den die Berliner Verkehrsbetriebe abgelehnt hatten, verweist. Gedreht wird in gleich mehreren Wagons, so dass Schlingensief, seine Mitarbeiter und die eingeladenen Gäste während der Zwischenstopps über den Bahnsteig von Wagon zu Wagon hasten. Das Publikum bekommt entsprechend nur mit, was gerade in nächster Nähe geschieht. Um die Fahrgäste überhaupt als Publikum in die Sendung einzubeziehen, muss Schlingensief fast durchgehend schreien und durch die Wagen hetzen. Das Tempo der Sendung ist entsprechend hoch. Ruhige Momente gibt es fast nicht, und auch das Fernsehteam hat in den Wagons kaum die Möglichkeit, ruhige Bilder einzufangen. Der Fernsehzuschauer muss mit verwackelten Bildern vorlieb nehmen, bisweilen mit schlechter Tonqualität. Hinzu kommt eine enorm schnelle Schnittfolge, die den Sehgewohnheiten der MTV-Zuschauer freilich entgegenkommt, eine Rezeption aber trotzdem nur begrenzt begünstigt. Ohne klar erkennbares Ziel werden Versatzstücke aus Unterhaltungsshow, Popkonzert und Talkshow miteinander vermischt. Quer dazu taucht das Thema Revolution in unzusammenhängender Ausgestaltung auf. Schlingensief liest aus Texten von Herbert Marcuse zur Konterrevolution, schlüpft in die Rollen von

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Rudi Dutschke und Jesus Christus, spielt den Exorzisten, kreuzigt eine Katze, verliest das entschlüsselte Genom von Spitzenpolitikern. Im Musikwagen spielen dazu Bands, die dem MTV-Stammpublikum bekannt sind. Die U-BahnInnenwände sind behangen mit Bildern u.a. von Helmut Kohl, Jesus Christus, Che Guevara, Richard Wagner. Mit dabei sind verschiedene langjährige Wegbegleiter und Mitarbeiter wie der Schauspieler Bernhard Schütz und Behinderte, mit denen Schlingensief seit den späten 1990er Jahren zusammenarbeitete. Hinzu kommen prominente Gäste, denen es entweder gelingt, sich in der Schrillheit der Sendung irgendwie zu behaupten (z.B. Rolf Zacher), oder die in ihrer Ratlosigkeit zum skurrilen Schauobjekt für den Fernsehzuschauer werden (z.B. Roberto Blanko). Demonstrativ zur Schau gestellt wird in jeder Folge auch das Leid einer sozial bedürftigen Familie. Diese darf eine Minute lang ihr Schicksal vor dem U-Bahn- und dem Fernsehpublikum ausbreiten. In weiteren kleinen Spielen, deren Regeln oftmals undurchschaubar bleiben, kann die Familie Punkte sammeln und am Ende bis zu 1000 DM gewinnen. U3000 erzeugt einen riesigen Verweiszusammenhang, der kein Zentrum mehr hat, von dem aus sich die Elemente zu einem Ganzen zusammenfügen ließen. Kritik und Affirmation werden bisweilen ununterscheidbar. Spaßgesellschaft und Gesellschaftskritik, Revolutionsideologie und Mitleidsfernsehen können mühelos enggeführt werden, weil nichts davon mehr irgendeine Bedeutung oder irgendwelche Konsequenzen zu haben scheint. Die Bedeutungslosigkeit des Fernsehens ist total. So inszeniert Schlingensief beispielsweise »Ho-Chi Minh«Sprechchöre, um nur kurze Zeit später das Publikum in den Satz »Wir müssen unser Körbchen sauber halten« einstimmen zu lassen. Nicht nur die Folgenlosigkeit ist total, sondern auch die Haltung. Das Elend der sozial bedürftigen Familie hat in dieser Sendung denselben Showcharakter wie die Texte von Marcuse. Applaudiert wird allem, selbst noch, wenn Schlingensief Geldscheine durch das Abteil wirft, denen die Familie hinterherkriechen muss, und er dann auch noch das Publikum auffordert, beim Einsammeln des Geldes gegen die Familie anzutreten. Was die sozial bedürftige Familie an Geldscheinen einsammelt, darf sie behalten, was das Publikum erhascht, geht an die AIDS-Hilfe. Damit hält das Konkurrenzprinzip Einzug in die Spendengala. Das Höchstmaß an Affirmation gegenüber austauschbaren Inhalten lässt zumindest vermuten, dass gerade in dieser Überdrehung die für Pop typische Art der Kritik liegt, bei der sich die »Revolte […] aus einem großen Ja (zu Leben, Welt, Moderner Welt)« ergibt (Diederichsen 1996: 190). Dabei hält sich Schlingensief zugleich aber alle Optionen offen, nach Belieben aus dem Pop-Modus herauszutreten und seine Gäste oder das U-Bahn-Publikum für derlei affirmative Gesten sogleich zu schelten.

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Trotzdem geht es Schlingensief nicht darum, das junge MTV-Publikum zu provozieren, denn was bei allem Auseinanderdriften der Inhalte und der Zersplitterung der Formate doch bleibt, ist eine beeindruckende Fernsehästhetik, die sich zum großen Teil aus der Postproduktion ergibt, die bei Talk 2000 noch keine besondere Rolle gespielt hatte. Vielmehr scheint für die U3000 zu gelten, was Schlingensief noch 2006 in einer Talkrunde u.a. mit Kulturstaatsminister Bernd Neumann und Ministerpräsidenten Christian Wulff forderte: »Wir müssen junge Leute ins Kino holen und möglichst früh infizieren. […] Das passiert aber alles nicht und deshalb würde ich vorschlagen, Sie müssten jetzt ein Gesetz erlassen, Sie beide [Neumann und Wulff; Anm. v. B.M.] oder wir alle zusammen: Ab 1 Uhr wird zurückgesendet. Davor ist Quote, Quote, Quote. Und dann laufen aber plötzlich die alten Oskar Roehler-Filme, und von mir ist natürlich auch einer dabei. Da läuft dann mal anderes Material. Und wer dann bei MTV schon da rumhängt und Dudeldudel guckt, sieht plötzlich mal so einen Film und denkt: ›Was ist das?‹ Und zappt wieder weg und kommt noch mal zurück und da ist das immer noch. Das ist wichtig: Kontinuität. […] Macht die 6

Kanäle auf!«

Schlingensiefs Überlegungen zur »Infizierung« eines jungen Publikums setzen hier weit weniger an den Inhalten als vielmehr an der Form an und damit an einer Ausweitung der Seh- und Hörgewohnheiten eines Publikums, das medial mit quotenorientiertem Fernsehen sozialisiert worden ist. Dass Schlingensief gerade die Verbindung zu MTV betont und mit seiner U3000 auf diesem Populärmusiksender einen Platz suchte, dürfte der Videoclipästhetik geschuldet sein, die ohnehin eine Nähe zu experimentelleren Formen des Films aufweist. Die Videoclipästhetik von MTV und VIVA stellt somit nicht das popkulturelle Andere zur hohen Kultur dar, sondern vielmehr eine Brücke zwischen hoher und niederer Kultur.

IV Freakstars 3000 Schlingensiefs letzte Sendereihe für das Fernsehen, Freakstars 3000, entstand 2002 in sechs Folgen für den deutschen Musiksender VIVA. Freakstars ist im Kern eine mit Behinderten durchgespielte Parodie auf Castingshows wie Popstars und Deutschland sucht den Superstar. Damit liegt der Akzent diesmal stärker auf dem Format, das jedoch nicht – wie in Talk 2000 – unterwandert, son-

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3 nach 9 vom 10.02.2006 (https://www.youtube.com/watch?v=bYWx-0CpSuc).

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dern parodiert wird. Der performative Aspekt verliert insofern an Bedeutung, als es kein Publikum mehr gibt und auch keine weiteren Gäste, die zur Show beitragen. Schlingensief führt die Produktion fast ausschließlich mit Behinderten durch. Damit gibt es aber innerhalb der Sendung niemanden mehr, dem Schlingensief mittels Provokation oder Irritation in den performativen Prozess hineinziehen könnte, denn die Behinderten bleiben in allem, was sie tun, unantastbar. Damit entfällt jene Irritation, die den Fernsehzuschauer des Talk 2000 und der U3000 erfasst. Lässt man die angesichts der Bedeutung, die Behinderte in vielen Arbeiten Schlingensiefs haben, müßige Frage, ob Schlingensief hier die Behinderten vorführe und der Lächerlichkeit preisgebe, beiseite, bleibt eine Fernseharbeit übrig, die schnell zu durchschauen ist. Eine nicht nur aus dem Fernsehen weitgehend ausgegrenzte und kaum mehr sichtbare Minderheit erobert sich hier mithilfe von Schlingensief ein Format, das den Schönen, den Jungen und den Massenkompatiblen vorbehalten ist. Dass Freakstars 3000 ausgesprochen viel Komik bereithält und sicherlich zu den eigenwilligsten und bemerkenswertesten Fernsehsendungen der letzten zwei Jahrzehnte zählt, soll dabei gar nicht in Abrede gestellt werden. Angesichts von Castingshows aber, die das Versprechen, aus normalen Menschen Superstars zu machen, die von Teenagern begehrt und gefeiert, schlussendlich aber doch nur wenige Jahre später im Dschungelcamp der öffentlichen Häme preisgegeben werden, tritt die Parodie dieses Formats durch Behinderte bloß ohnehin offene Türen ein. Freakstars 3000 ergänzt das Castingshow-Format um die Parodie weiterer Fernsehsendungen und -formate. Der Presseclub wird durchgespielt, der Polittalk Friedmann (hier: Freakman), das Teleshopping und die Fernsehwerbung. Aber auch damit bleibt die Sendereihe auf der Ebene eindeutig formulierbarer Botschaften, die in den Kritiken der Zeitungen und mittlerweile auch in wissenschaftlichen Publikationen plakativ zu finden sind: »Im Kern ist die Show eine lupenreine Fernseh-Parodie. Kongenial setzt sich die Anarchie des Gastgebers Schlingensief bei seinen Mitspielern fort, und mit welcher Selbstverständlichkeit er Behinderte vor die Kamera bringt, ist ein schöner Kommentar auf all jene, die von Integration bloß reden, aber nichts tun.«7 »Den Freaks ist meiner Meinung nach eine glanzvolle Parodie auf Shows wie die von Dieter Bohlen gelungen, die auf subtile Weise die Frage aufwirft, wer denn eigentlich behindert sei. Erfrischend sind die Superstarkandidaten, in ihrer Authentizität und Glaub-

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Frank Olbert im Kölner Stadtanzeiger, zit. n. www.schlingensief.com/projekt.php?id= tv002

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würdigkeit, wie sie selten in Shows zu finden ist. Insgesamt ist das Projekt einfach eine wunderbare Provokation all jener, die unter dem Deckmäntelchen des Wohlmeinenden Behinderte gerade dadurch diskriminieren, indem sie sie – angeblich schützend – vom öffentlichen Leben fern halten wollen.« (Ort: 2004)

Was Freakstars 3000 von Schlingensiefs vorausgegangenen Fernseharbeiten unterscheidet, ist, dass die Parodie nach anderen Regeln verläuft als die von Fischer-Lichte beschriebene Überlagerung einer Inszenierung mit verschiedenen Rahmungen. Bei Talk 2000 und U3000 ergibt sich auch für den Zuschauer am Fernseher eine irritierende Rezeption, bei der ständig in der Schwebe gehalten wird, ob er sich auf die Rezeptionshaltung eines bestimmten Fernsehformats einstellen soll oder auf die Betrachtung einer Aktion der Performance-Art. Die Parodie dagegen bietet diese Sicherheit.

V Ausblick Die Medien, in und mit denen Christoph Schlingensief gearbeitet hat, sind so zahlreich, dass sie nur unzulänglich helfen, ihn eindeutig zu klassifizieren, etwa als Filmemacher, als Aktionskünstler, als Theaterregisseur, Fernsehmoderator, Autor, Hörspielmacher, politischer Aktivist usw. Dass Medienhierarchien noch immer wirksame Instrumente für Zuschreibungen sind, zeigt sich am Beispiel Schlingensiefs insofern, als Arbeiten in marginalisierten oder vom wissenschaftlichen und feuilletonistischen Diskurs wenig geschätzten Medien zum Ausschlusskriterium werden. So wird Schlingensief gerade in der Rückschau vorzugsweise zum Regisseur ernannt, meist in Verbindung mit der Erwähnung des Theaters. Umgekehrt fallen Schlingensiefs Hörspielarbeiten beispielsweise, obwohl sie vielfach bepreist wurden, fast obligatorisch heraus. Dies gilt fast ebenso für die Fernseharbeiten Talk 2000, U3000 und Freak-Stars 3000. Bezeichnenderweise übernimmt sogar das Fernsehen selbst – das sich ohnehin gerne selbst geißelt und sich vielfach nicht an seinen herausragenden Produktionen misst, sondern gerade den ›Trash‹ aufspürt, um ihn in Sendungen wie TV Total oder talk talk talk ein zweites Mal zu verwerten – dieses normative Selektionskriterium. Denn Schlingensief wurde bei seinen Gastauftritten im Fernsehen selten als Fernsehmacher angekündigt. Selbst die halbstündige Folge der im Ersten entstandenen Sendereihe Deutschland, deine Künstler zu Schlingensief (Regie: Sibylle Dahrendorf, Erstausstrahlung 09.07.2009) spart die Fernsehproduktionen vollständig aus und setzt stattdessen auf eine Dramaturgie, die eine Entwicklung Schlingensiefs vom schrillen Enfant terrible hin zu einem zutiefst bürgerlichen

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Künstler (das entsprechende Medium hierbei: das Theater) postuliert. Denn Schlingensief wird zu Beginn mit seiner Mea Culpa-Inszenierung am Wiener Burgtheater (2009) gezeigt, bei der er – wie aus dem Off vermerkt wird – »seine Krankheit auf die Bühne« bringt8 [01:00]. Zum Inbegriff des bürgerlichen Künstlertypus wird er dadurch erhoben, dass eine Einheit von Leben und Werk gleich an den Anfang der Sendung gestellt wird, eine Einheit von persönlich erfahrenem Leid und künstlerischer Verarbeitung dieses Leidens in einem Werk, dem dadurch die Aura des Authentischen verliehen wird. Damit erzählt die Fernsehdokumentation – gerade aufgrund des tragischen Endes, das hier an den Anfang gestellt wurde – die Erfolgsgeschichte Schlingensiefs, der sich mit zunächst fragwürdigen Kunstaktionen (und zum Teil in fragwürdigen Medien) vom umstrittenen Objekt journalistischer Häme zu einem der wichtigsten, vor allem aber zu einem auch international anerkannten deutschen Künstler entwickelt hat. Dass sich diese späte Einheit von Künstler und Werk (die Fragwürdigkeit dieser Annahme sei an dieser Stelle nicht diskutiert) zudem noch im Musentempel Theater vollzieht, macht das Klischee komplett. Zum etablierten Künstler gehört offenbar nicht nur die im Werk verarbeitete persönliche Erfahrung, sondern auch eine angemessene Auswahl hinsichtlich des Mediums der Kunstproduktion. Dass Schlingensief selbst in einer solchen Medienhierarchie dachte, ist allerdings stark zu bezweifeln. Im Gegenteil: Gerade im Wissen um solche Medienhierarchien ließ er sich immer wieder auf das Fernsehen ein, wobei hier nicht nur das Medium die Botschaft war, sondern auch der entsprechende Sender. Mit RTL, Sat.1 sowie den beiden Musik- bzw. Populärkultursendern MTV und VIVA setzte er dezidiert auf das Unterhaltungsfernsehen als Distributionsmedium seiner eigenen Fernsehsendungen. Auf Distanz blieb er freilich sowohl zur Unterhaltungskultur als auch zur etablierten E-Kultur. Er kritisierte das Privatfernsehen ebenso wie den Kulturkanal arte, den Mainstreamfilm ebenso wie das Programmkino.9

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Deutschland, deine Künstler – Christoph Schlingensief, Regie: Sibylle Dahrendorf, Das Erste 2008 [01:00].

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In der Talkshow 3 nach 9 (NDR) formuliert Schlingensief seine Kritik an arte folgendermaßen: »Haben Sie mal arte geguckt? Das ist ein Ausrangiersender für Redakteure, die woanders nichts geworden sind. Und die haben jetzt da einen Ton auf Lager, der irgendwie Kinderdeutsch ist. Das heißt dann: ›Heute Abend sehen Sie einen Film über ein pakistanisches Mädchen, das in einer Wohnung lebt.‹ Da möchte ich doch gar nicht zugucken.« (www.youtube.com/watch?v=bYWx-0CpSuc)

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Ob Schlingensief vor diesem Hintergrund als Künstler verstanden werden kann, der auszog, die Lücke zwischen U- und E-Kultur zu schließen, darf bezweifelt werden. Seine Arbeiten demonstrieren vielmehr immer wieder die Unvereinbarkeit von U- und E-Kultur, indem er Elemente der Hochkultur in die UKultur einschleuste und umgekehrt, ohne dass die Interaktion dieser zwei Bereiche jemals harmonisch verlaufen wäre, wie am Beispiel seiner Fernseharbeiten mit den Bezugsrahmen Performance-Art und Fernsehformat aufgezeigt wurde. Diese beiden Bereiche werden nicht harmonisch synthetisiert, sondern kollidieren vielmehr miteinander. Dass Schlingensief häufig als Provokateur bezeichnet wurde – eine Bezeichnung, die er selbst stets für unzutreffend hielt –, dürfte in hohem Maße mit diesen zwei Bezugsrahmen zu tun haben. Die Unsicherheit, die daraus entsteht, dass wir bei Schlingensief nie sicher sein können, welche Rahmung gerade gilt und wie lange noch, ist nur schwer auszuhalten.

Literatur Diederichsen, Diedrich (2013): »Pop – deskriptiv, normativ, emphatisch«, in: Goer/Greif/Jacke, Texte zur Theorie des Pop, S. 185-195. Eco, Umberto (2012): Das offene Kunstwerk, 12. Aufl., Frankfurt am Main: Suhrkamp. Fiedler, Leslie A. (2013): »Überquert die Grenze, schließt den Graben!«, in: Goer/Greif/Jacke, Texte zur Theorie des Pop, S. 79-99. Finke, Johannes/Wulff, Matthias (Hg.) (1999): Chance 2000 – Die Dokumentation. Phänomen, Materialien, Chronologie, Berlin: Lautsprecher Verlag. Fischer-Lichte, Erika (2004): Ästhetik des Performativen, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Frahm, Laura/Voßkamp, Wilhelm (2005): »Gattung/Genre/Format«, in: Liebrand et. al. (Hg.), Einführung in die Medienkulturwissenschaft, Münster: LIT, S. 257-269. Gilles, Catherina (2009): Kunst und Nichtkunst. Das Theater von Christoph Schlingensief, Würzburg: Königshausen & Neumann. Goer, Charis/Greif, Stefan/Jacke, Christoph (Hg.) (2013): Texte zur Theorie des Pop, Stuttgart: Reclam. Hickethier, Knut (2007): Film- und Fernsehanalyse, 4. Aufl., Stuttgart/Weimar: Metzler. Ort, Nina (2004): »›Ihr seid krank!‹ – ›Ihr seid schon jetzt alle Gewinner!‹«, vom 16.08.2004. Online unter: http://www.medienobservationen.lmu.de/ artikel/gesellschaft/ort_freakstars.html

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Schlingensief, Christoph (1998): Talk 2000, Wien/München: Deuticke. Ders. (2010): So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein! Tagebuch einer Krebserkrankung, 4. Aufl., München: btb. Ders. (2012): Ich weiß, ich war’s, hg. v. Aino Laberenz, 2. Aufl., Köln: Kiepenheuer & Witsch. Schulz, Wilfried/Lochte, Julia (Hg.) (1998): Schlingensief! Notruf für Deutschland. Über die Mission, das Theater und die Welt des Christoph Schlingensief, Hamburg: Rotbuch.

Medien Christoph Schlingensief (†49) @ 3 nach 9 (1997-2009 Teil 1): https://www.you tube.com/watch?v=bYWx-0CpSuc Deutschland, deine Künstler – Christoph Schlingensief (Das Erste 2008, R: Sibylle Dahrendorf), Erstausstrahlungsdatum 09.07.2009. Olbert, Frank: Kölner Stadtanzeiger, zit. n. www.schlingensief.com/projekt.php ?id=tv002

TV-Marken als Strategien in der Popularkultur Das Beispiel Berlin – Tag & Nacht A CHIM B ARSCH

Generell ermöglichen serielle Formate aufgrund ihrer Wiederholungsstruktur eine hohe Zuschauerbindung und sind deshalb erfolgversprechende Kandidaten für die Suche nach Phänomenen der Popularkultur im Fernsehen. Dass serielle Formate, die sich vorwiegend an Jugendliche richten, wie Daily Soaps, Doku Soaps oder Gerichtsshows, als Sozialisationsinstanzen zu sehen sind, ist in der einschlägigen Forschungsliteratur breit dokumentiert.1 In meinen Ausführungen wird es um einen weiteren Aspekt der Zuschauerbindung gehen, bei dem neuere technische Entwicklungen im Fokus stehen. Bevor ich auf das Beispiel Berlin – Tag & Nacht (weiterhin BTN) eingehe, werden einleitend begriffliche Klärungen vorangestellt und wird die hier vertretene Ausgangsthese kurz dargelegt. Popkultur im Sinne von Popularkultur zieht sich durch die Programmgeschichte des deutschen Fernsehens von den Anfängen bis heute: angefangen von Unsere Nachbarn heute Abend – die Familie Schölermann über die Firma Hesselbach und Der blaue Bock bis zu heutigen Gameshows, Serien und Die Hitparade der Volksmusik. Mit solchen Angeboten kommt das Fernsehen nach wie vor seinem Programmauftrag nach, nämlich neben Information und Bildung auch Unterhaltungsangebote zu präsentieren.2 Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Begriff der Unterhaltung inhaltlich offen ist und je nach Rezipientengruppe und Rezeptionssituation unterschiedlich gefüllt werden kann. Insofern ist der Pauschal-Vorwurf der Trivialität des Fern1

Beispielhaft sind hier zu nennen Winter (1995), Göttlich/Nieland (1998), Mikos/ Freise/Herzog et al. (2000), Hartung/Lauber/Reißmann (2013).

2

Dies gilt nebenbei auch für die Vollprogramme der privaten Rundfunkanbieter, die sich dadurch von Spartenkanälen unterscheiden und entsprechend von den zuständigen Landesmedienanstalten auf ihre Programmanteile hin gesichtet werden.

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sehens nur zu verstehen und zu erklären auf der Basis eines bestimmten engen oder gar engstirnigen Konzepts von Unterhaltung. Dass die meisten der älteren Generation über 50 medial anders sozialisiert sind als heutige Jugendliche, steht wohl außer Frage.3 Daher sollte man bei der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Unterhaltungsmedien vorsichtig sein und nicht vorschnell eigene Geschmacksurteile bestimmten Medienangeboten unterschieben. Damit möchte ich natürlich nicht behaupten, dass ich selbst als Rezipient keine Probleme mit bestimmten Scripted-Reality-Formaten, Doku-Soaps oder andern Formaten hätte. Aber um persönliche Geschmacksfragen und mediale Präferenzen geht es in diesem Zusammenhang nicht. Am Beispiel des gerade unter Jugendlichen sehr populären Formats BTN soll aufgezeigt werden, wie TV-Sender verschiedene Medien nutzen und auch popularästhetische Strategien entwickeln, um zu einer festen und engen Publikumsbindung zu gelangen. Diese Entwicklung, so die hier vertretene These, muss im Kontext des gegenwärtigen und zukünftigen TV-Marktes gesehen werden: Die Publikumsbindung erfolgt nicht mehr über eine Bindung zum Sender, sondern sie läuft – wie bei anderen Produkten der Konsumindustrie auch (etwa Oral-B, Braun, Gilette, Blend-a-med, Lenor und Pampers u.a. als Marken von Procter&Gamble) – über die Bindung an eine Marke. Insofern werden einzelne TV-Formate zukünftig immer mehr als Marken aufgebaut und entsprechend inszeniert sowie vermarktet. Natürlich bedeuten TV-Marken keine neue Entwicklung: Die Tagesschau, die Sportschau oder der Tatort sind seit Jahrzehnten etablierte TV-Marken. In diesem Beitrag geht es um den verstärkten Ausbau dieser Marketing-Strategie, der sich derzeit beobachten lässt. Die These, die hier vorgestellt und am Beispiel eines populären TVFormates erläutert werden soll, lautet demzufolge: Eine Senderbindung wird immer stärker über die Etablierung von TV-Formaten als publikumswirksame TV-Marken erfolgen. Diese These steht in unmittelbarem Zusammenhang mit Entwicklungen, die unter Begriffen wie Medienkonvergenz oder Crossmedia diskutiert werden. Medienkonvergenz beschränkt sich als Begriff und Phänomen dabei nicht ausschließlich auf technische Entwicklungen wie das Zusammenwachsen von TVGeräten und Internet. Denn mit den neuen Gerätegenerationen von Smart-TV und Hbb-TV werden auf dem Bildschirm nicht nur Apps und Internetzugänge angeboten und ein Leistungsstand erreicht, bei dem die Nutzer nicht mehr unterscheiden können, ob sie live fernsehen oder ein Angebot aus einer Mediathek

3

Vgl. dazu auch das Streitgespräch über BTN zwischen Vater und Tochter, Collalti/ Collalti (2013).

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nutzen. Darüber hinaus ermöglichen die Geräte über den eingebauten WLANZugang die senderunabhängige Schaltung von Werbung durch die Gerätehersteller selbst. Die rechtlichen Implikationen, die mit dieser Entwicklung einhergehen, blende ich an dieser Stelle aus, um noch auf einen anderen Punkt hinzuweisen. Der WLAN-Zugang erfolgt natürlich nicht nur in Richtung vom Gerätehersteller zum Endnutzer, sondern auch in der umgekehrten Richtung. D.h. die Gerätehersteller können Nutzerdaten zum Surfen im Internet und zur TV-Nutzung abgreifen, auswerten und auch vermarkten. Die Datenerfassung erfolgt so, dass die Nutzer nicht einmal mehr über Schutzmöglichkeiten verfügen, wie sie der normale Internetzugang über PC oder Laptop bietet. Da die internationalen Gerätehersteller in dieser Beziehung nicht deutschem Recht unterliegen, haben Nutzer somit auch keine Ansatzpunkte für rechtliche Einspruchsmöglichkeiten. Auch diese Geräteentwicklung muss im Kontext der hier vertretenen These zur verstärkten Entwicklung von TV-Marken gesehen werden; denn vor allem private Sender, die sich ausschließlich durch Werbung finanzieren, müssen sich aufgrund dieser untypischen Konkurrenz auf dem bisherigen Werbemarkt in der Medienlandschaft neu positionieren. Was ich gerade skizziert habe, ist ein aktuelles Beispiel für eine weitere Vernetzung dessen, was in einer Definition von Medienkonvergenz analytisch getrennt werden kann. Zum Konzept der Medienkonvergenz greife ich auf eine eigene Definition zurück, die sich an der Crossmedia-Definition von Wolfgang Schweiger (2002) orientiert und folgendermaßen gefasst werden kann: »Medienkonvergenz bezeichnet die (1) Verknüpfung (2) unterschiedlicher Mediengattungen mit ihren (3) spezifischen Selektionsmöglichkeiten und Darstellungsformen (4) auf unterschiedlichen Angebots- und Produktionsebenen mit (5) unterschiedlichen Funktionen für Anbieter und Publikum und (6) unterschiedlichen Prozessdimensionen (Partizipation; Transformation; Durchdringung).« (Barsch 2011: 41)

Die Konvergenz zweier massenmedialer Systeme ist ein außerordentlich vielschichtiger Prozess, der nur in einem stark vereinfachten Modell dargestellt werden kann, und von dem sicherlich nur einige wenige Bestandteile empirisch untersucht werden können. Es ist aufgrund der Programmstruktur des Fernsehens zu vermuten, dass dem gesamten Spektrum serieller Formate, fiktionalen wie referentiellen (Daily-Soap, Doku-Soap, Show-Serie usw.), eine exponierte, vorantreibende Funktion als mediales Experimentierfeld zufällt, wie am Beispiel von BTN noch zu zeigen sein wird. Mindestens drei Prozessbereiche sind in einem solchen Modell zu berücksichtigen:

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Die ökonomisch-technische Ebene als gesellschaftlicher Hintergrund: Auf dieser Ebene sind z.B. Vorgänge angesiedelt und Phänomene angesprochen wie Fusionierung von Medienkonzernen, Merchandising, ECommerce, Digitalisierung des Fernsehens, Geräteentwicklung inklusive Smart-TV und Hbb-TV sowie auch die verschiedenen Strategien der Medienkonzerne, ins Internet zu gehen. Für Serienprodukte ist etwa deren ökonomische Funktion als Umfeld für Werbung zu beachten oder deren Charakter als Schnell- und Billigproduktion. Die ökonomische und technische Ebene der Medienkonvergenz kann aus kulturwissenschaftlicher und medienwissenschaftlicher Perspektive als prozessualer Kontext oder Hintergrund verstanden werden, d.h. er kann als historisch-gesellschaftliche Rahmung für die medialen Akteure und Produkte systematisch in Rechnung gestellt werden. Die ästhetisch-kulturelle Ebene der Produkte und Formate: In diesem Bereich sind Produkte zu erfassen, vor allem diverse Serienformate, die sich im Kontext der Medienkonvergenz von TV und Internet herausbilden, z.B. Internet- bzw. TV-Soaps, YouTube-Channels und deren Repräsentanz im jeweils anderen Medium, ergänzt um einen offenen Medienmix, der weitere Bereiche wie Printmedien, Mobil-Telefon, DVD/ CD-Player, Spielkonsolen u.Ä. einschließt. Die soziale und lebensgeschichtliche Ebene der Akteure und Akteursgruppen: Getragen wird der Prozess der Medienkonvergenz von Akteuren und Akteursgruppen, denen sich in diesem offenen, innovativen Handlungsfeld faszinierende, euphorisierende, wenngleich riskante Perspektiven bieten – für berufliche Erfolge, private Lebensstile ebenso wie für Lebenssinn und biografische Zukunftserwartungen. Dabei sind sowohl die Produzenten als auch die Rezipienten der seriellen Medieninszenierungen zu berücksichtigen, weil seriellen Formaten ein besonderer Stellenwert zukommt.

Durch die Konvergenz der Leitmedien können neuartige Rollenmuster und Rollenverteilungen zwischen diversen Gruppen entstehen; zu nennen ist hier etwa die Gruppe der Produzenten, Autoren und Regisseure, die Gruppe der Darsteller und Stars und die dritte Gruppe der Rezipienten, Nutzer und Fans. Durch Rollenwechsel und intensivere Verknüpfungen zwischen den verschiedenen Rollen eröffnen sich innovative lebensgeschichtliche Horizonte, sowohl im beruflichen Laufbahnbereich wie im privaten Lebensstilbereich. Verän-

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derungen, die dabei zu beobachten sind, können in drei Prozessdimensionen erfasst werden: Partizipation, Transformation und Durchdringung. •



Die Partizipation (Interaktion) stellt die neuartige Konfigurierung und Durchdringung der ehedem bipolaren kommunikativen Rollen von Produzenten, Anbietern, Darstellern auf der einen und Rezipienten, Nutzern auf der anderen Seite dar. Die Konvergenz von TV und Internet eröffnet aktiven Fans grundsätzlich neue Handlungsmöglichkeiten auf nahezu gleicher Ebene mit professionellen Medien-Produzenten und -Anbietern. Über die bisher bekannten Aktivitäten des »produktiven Zuschauers« (Winter 1995) und des Fernsehens als Begleiter hinaus, wandeln sich einige der Nutzer durch neue Interaktionsformen quasi zum Junior-Produzenten von Medienangeboten. D.h. es erfolgt eine stärkere Einbindung der Nutzer in unterschiedlicher Weise und über verschiedene mediale Kanäle. Transformation (Ausdifferenzierung/Expansion) bezeichnet die Generierung expansiver Intermedialität bei wachsender Eigenlogik des Mediensystems. Der gegenwärtige Medienumbruch zeichnet sich durch eine beschleunigte medieninterne Ausdifferenzierung aus, die besonders in seriellen Medienangeboten einen Niederschlag findet. Auf Seite der Produzenten lassen sich sowohl Nachahmungen, Ableger (spin offs) und Weiterentwicklungen erfolgreicher Formate als auch – medienübergreifend – erweiterte Möglichkeiten des Merchandising (Medienverbund) beobachten. Darsteller probieren einen Rollenswitch, indem sie z.B. eine Gesangskarriere starten, sich als Moderatoren oder Kommentatoren versuchen und sich in unterschiedlichen Formaten mit Gastauftritten präsentieren – eine Strategie, die sich bei der TV-Prominenz generell findet (Präsenz in Talkshows, Musiksendungen, Gameshows, TV-Specials, Chatrooms). Bei den verschiedenen Produktformaten sind gegenwärtig ebenfalls Ausdifferenzierungen auf unterschiedlichen Ebenen zu erkennen. So entstehen durch die Verbindung von TV und Internet neue Produkte, wie die Webcam am Set oder die Soap im Internet als Weiterführung der TVSerie. Ästhetik und Technik der Webcam werden für TV-Produktionen eingesetzt (z.B. Dittsche im WDR). Die aus Computerspielen bekannte Egoperspektive wird für die Produktion von Action-Serien verwendet. Bisherige Crossmedia-Strategien wie der Comic oder das Beiheft zur Serie finden in diesem neuartigen Medienverbund eine entscheidende multimediale Erweiterung. Eine andere Form der Expansion zeigt sich serienintern in der Intensivierung intertextueller Bezüge, d.h. interne Verweise

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auf den vorherigen Handlungsablauf, serienextern in der medialen Rahmung des Produktes entweder als Inszenierung des Kontextes oder durch dokumentarische Informationen (The making of...). Schließlich gehört zu diesem Transformationsprozess die Vervielfachung medialer Events. Durchdringung (Medien und Alltagsleben) meint die expansive Durchmischung von Medienformaten auf der einen und ›Formaten‹ der alltäglichen Lebenswelt auf der anderen Seite. Die Durchdringung von Medienwelten und Alltagswelten wird durch Serialität, Intermedialität, Interaktivität und interne Differenzierung forciert: - Durch Serialität werden Strukturen des Alltagslebens medienspezifisch simuliert (z.B. Temporalität des Alltags) (Hickethier 1991; Giesenfeld 1994). - Durch Intermedialität und Medienverbund wird die alltägliche Präsenz der Medienwelten und der prominenten Medienfiguren über mehrere Sinneskanäle (Sehen, Hören, Tasten) nachhaltig materialisiert. - Durch Interaktivität werden die Interventionsmöglichkeiten in das je andere System und die (raumunabhängige) soziale Vernetzung innerhalb der beiden Systeme gesteigert (zum Internet als Beispiel vgl. Husmann 1998). - Durch die Ausdifferenzierung der medialen Orte (›realer Ort‹ am Set, Printmedien, AV-Medien, Internet) ergibt sich potenziell eine mehrkanalige Einbindung, die für die Nutzer sowohl eine Erlebnissteigerung als auch eine Steigerung ihrer Ich-Identität und für die Medienanbieter eine erhöhte Zuschauerbindung bedeuten könnte. Stichwort: second screen. - Durch die Ausdifferenzierung des Publikums entstehen Fangruppierungen mit starkem Wir-Gefühl und Abgrenzungen anderen Gruppen gegenüber, die durch die Medienanbieter bestärkt werden.4

I Das Beispiel Berlin – Tag & Nacht Das gerade skizzierte Modell von Medienkonvergenz soll nun im nächsten Schritt hinsichtlich der drei Prozessdimensionen Partizipation, Transformation und Durchdringung auf das Format BTN bezogen und auf die popularkulturelle Etablierung einer Marke hin geprüft werden.

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Als Stichworte sind hier zu nennen: Medienverbund, Merchandising, KULT-Marketing (vgl. Bolz/Bosshart 1995).

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Das Grundkonzept von BTN besteht aus einer klassischen Soap. Es wird eine Endlosgeschichte einer Berliner WG erzählt, deren Bewohner gelegentlich wechseln. Die Folgen werden montags bis freitags von 19 bis 20 Uhr ausgestrahlt. Wie in der klassischen Zopfstruktur der Lindenstraße werden in jeder Folge drei Erzählstränge miteinander verwoben; ein Cliffhanger findet sich am Ende jeder Folge. Gedreht wird mit einer Handkamera, um den Eindruck des unmittelbaren Dabeiseins des Rezipienten nicht zu durchbrechen. Die Authentizität der Figuren wird durch den tatsächlichen biografischen Hintergrund der Schauspieler unterstützt. So ist z.B. Joe in der Serie der Vater von Hanna und außerhalb der Serie der reale Vater eines Sohnes. Teilweise sind die Geschichten auch abgeleitet aus der Biografie der Schauspieler. So wurden beispielsweise die frühere Spielsucht eines Darstellers und frühere berufliche Tätigkeiten in die Narration eingebaut. Die Lebensgeschichte der Bewerber wird somit zu einem wichtigen Auswahlkriterium bei den Castings für neue Darsteller. Dieses Einbringen des biografischen Hintergrunds der Darsteller wird noch dadurch unterstützt, dass es keine ausformulierten Drehbücher gibt und somit Raum für eigene Rollenfüllungen der Darsteller, der nur durch im Skript festgelegte gesetzte situative O-Töne eingeschränkt wird. Die Grundelemente, die sich in jeder Folge wiederfinden und mit denen dramaturgisch gearbeitet wird, sind Emotionen, Konflikte und Comedy (auch im Sinne der Selbstironisierung der Charaktere). Die Produktionsfirma filmpool legt dabei in der Selbstdarstellung Wert darauf, auf Augenhöhe der Rezipienten (im Sinne von alltagsnah) zu erzählen, ›durchschnittliche‹ Figuren mit ihren Höhen und Tiefen zu zeigen und die Welt der Klientel von ›Elite-Partner.de‹ explizit nicht einzubeziehen.5 Mit einer Figurenbibel für jeden Charakter, die jeweils von einem Autor betreut wird, stellt die Produktionsfirma sicher, dass die einzelnen Erzählstränge insofern kohärent bleiben, als die Rollenbiografien keine Brüche aufweisen. Die herausragende Besonderheit von BTN und das Neue an diesem Format stellen die bisher nicht dagewesene Verbindung von Serienleben und real life sowie die narrative Verbindung von TV-Format und Facebook dar, auf die ich im Rahmen der Analyse gleich näher eingehen werde. Unter Rückgriff auf das oben angesprochene Modell von Medienkonvergenz lassen sich im Falle von BTN alle drei Prozessdimensionen wiederfinden: In der Prozessdimension der Partizipation geht es um die Neu-Konfigurierung ehemals stark getrennter Bereiche zwischen den Seiten von Produktion und Rezeption. Hier ist das gerade angespro-

5

Laut Angabe von Felix Wesseler im persönlichen Gespräch am 16.01.2014. Vgl. auch Wesseler (2013a u. 2013b).

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chene Casting der Darsteller zu nennen – sie bringen ihre eigene Biografie in die Rolle mit ein. Abstimmungen der Fans bilden eine weitere Partizipationsmöglichkeit: Auf Facebook werden Fragen zu bestimmten Konfliktsituationen gepostet mit vorgegebenen Antwortmöglichkeiten, wie sich ein Charakter in dieser Situation verhalten sollte (z.B. sich entschuldigen; eine Beziehung beenden oder weiterführen, oder wer wem einen Heiratsantrag machen sollte). Ebenso werden die Fans auch durch Gewinnspiele mit einbezogen. Schließlich regen Postings der Darsteller und der Redaktion die Fans zur Meinungsbildung und zur Diskussion untereinander an. In der Prozessdimension der Transformation geht es, wie oben angesprochen, um Prozesse der internen Ausdifferenzierung und medialen Vernetzung. In dieser Hinsicht bildet der Facebook-Auftritt wohl den Schlüssel zum Erfolg von BTN. Denn über dieses soziale Netzwerk erfolgt die Versorgung der Fans mit weiteren Informationen, wird die Möglichkeit der Kommunikation mit- und untereinander eröffnet und die Story der WG wird ins Internet verlängert, indem exklusives Material auf Facebook den TV-Plot ergänzt. Die Mediathek von RTL 2 (rtl2now.de) erlaubt es, verpasste Folgen zu einem späteren Zeitpunkt anzuschauen. Mittlerweile selbstverständlich geworden sind die Internetauftritte, die die TV-Formate begleiten und unterstützen. Mit Köln 50667 hat RTL 2 ein Spin-off-Format geschaffen, das sich an eine etwas andere Zielgruppe richtet und zeitlich direkt vor BTN ausgestrahlt wird, um Zuschauerbewegungen möglichst zu verhindern. Auch der Verkauf des Formates ins Ausland (Bratislava, Budapest, Wien wurden bzw. werden noch produziert) ist unter der Rubrik der Transformation zu fassen. In der Prozessdimension der Durchdringung (sowohl vonseiten der Nutzer als auch vonseiten der Darsteller) geht es um Prozesse der Durchmischung von Medien und Alltagsleben. Wie alle Fans suchen auch die von BTN die Nähe zu den Darstellern und zum Geschehen. Dies erfolgt in unterschiedlicher Weise – sowohl real als auch medial. Die Fans besuchen die mittlerweile bekannten Drehorte in Berlin, sprechen die Darsteller an, fragen nach Autogrammen oder lassen sich zusammen mit Darstellern fotografieren. Teilweise verbindet sich damit auch der Wunsch, einmal in der Serie eine Rolle als Nebendarsteller zu erhalten, was von der Seite der Produktion auch auf verschiedenen Wegen gefördert wird, um somit die Bindung der Fans zu festigen. Rund um die Uhr präsentiert sich BTN auf Facebook als Begleiter im Alltag, um das angebliche Geschehen in der WG zwischen den Ausstrahlungsterminen der Serie auf Spannung zu halten. Die Nutzerdaten belegen ganz klar, dass die FacebookAktivitäten und Postings der Fans gerade während der Ausstrahlung der Sendung ansteigen. Auch hier zeigt sich wieder, wie wichtig für die Fans die Kommunikation untereinander und erst danach die mit der Produktionsseite ist: Das

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Wir-Gefühl steht im Fokus. Weiterhin ist dieses Faktum ein deutlicher Beleg für die Nutzung des second screen bei Jugendlichen. Eine neue Dimension an Interaktion und Durchdringung erreichte RTL 2 in Zusammenhang mit der Ausstrahlung von Dirty Dancing. Parallel zur Ausstrahlung im klassischen Fernsehen war auf rtl2.de und bild.de die WG bei der Rezeption des Filmes zu sehen. Und nicht nur das: Auf Facebook wurde gepostet, welche Pizza für die WG-Bewohner bestellt werden sollte. Am Ende des Filmes wurde dann die entsprechende Pizza, die die meisten Votings erhalten hatte, von einem Boten in die WG geliefert. Abbildung 1: Musikalisches Comeback von Ole

Quelle: rtl2.de

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Eine Durchdringung von Medien und Alltagswelt ist bei BTN auch auf der Seite der Darsteller festzustellen. So finden sich auf den Internetseiten von BTN originale Kinderfotos der Darsteller. Berufliche Vorhaben wie Gesangskarrieren (vgl. Abbildung 1), Firmengründungen, Beteiligung an Wettbewerben oder politische Ambitionen unter dem Darstellernamen werden vom Sender gefördert. Schließlich liegt auch eine Durchdringung auf medialer Ebene vor. Denn einzelne Bestandteile der Geschichte finden in Facebook eine Verlängerung. Einzelne Geschichten, die in den im TV ausgestrahlten Episoden nur erwähnt werden, lassen sich auf den entsprechenden Facebook-Seiten mit den dort präsentierten Drehs nachvollziehen. Ein anderes Beispiel ist ein Camcorder-Mitschnitt Oles über einen Streit in der WG, wobei in der TV-Sendung Ole mit dem Camcorder zu sehen ist und seine Aufzeichnung dann anschließend in einem anderen Medium. Zu dieser medialen Durchdringung gehören natürlich auch die Internetseiten von RTL 2, die Seiten von BTN und Köln 50667 sowie die dazugehörigen Printangebote. Die spezielle Bedeutung von Facebook stellt sich für die Produktionsfirma filmpool wie folgt dar: »Aus regulatorischer Sicht funktionieren dabei soziale Netzwerke – vulgo Facebook – nach unserer Erfahrung übrigens wie ein selbstreinigendes System: Zu viele Posts provozieren Reaktanzen und werden als Spam empfunden, Werbebotschaften als solche erkannt und, wenn sie nicht absolut logisch zum Inhalt passen, abgelehnt. Das macht zwangläufig demütig, denn es zeigt, dass der Erfolg sehr fragil ist. Wir sind nun auch zum Gralshüter einer Marke geworden, der Marke ›BTN‹, und unsere Arbeit wird jeden Tag aufs Neue sehr genau geprüft, besonders online. Alles, was nicht authentisch ist, alles, was langweilig ist, alles, was nicht zur Marke BTN passt, wird sofort erkannt. Und sicher nicht geliked, im Gegenteil.« (Wesseler 2013a)

Abbildung 2: Die (Marken-)Logos von BTN und Köln 50667

Quellen: Wikipedia

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Die Strategie der Macher von BTN und des Senders ist offensichtlich aufgegangen. Denn die beschriebenen Ausdifferenzierungen und medienkonvergenten Phänomene korrelieren mit den Nutzungszahlen und belegen somit den Erfolg von BTN und dessen Etablierung als TV-Marke. Mit über 3,3 Mio. Fans auf Facebook handelt es sich um die erfolgreichste deutsche TV-Fanpage; die wöchentliche Reichweite liegt bei bis zu 5,5 Mio. Zuschauern; in der Spitze wird ein Marktanteil von über 16% erreicht, was ca. 1,3 Mio. Zuschauern entspricht. Auch bei den 12-19jährigen ist BTN offensichtlich sehr beliebt. Die JIM-Studie (2012: 27) ermittelte, dass ungefähr ein Drittel der befragten Jugendlichen zumindest ab und zu sich dieses Format anschauen. Auffallend dabei ist, dass die Altersunterschiede (12-13 J., 14-15 J., 16-17 J., 18-19 J.) nicht wie bei anderen Formaten, nach denen gefragt wurde, durchschlagen.

II Fazit Die in dem Modell von Medienkonvergenz angesprochenen Dimensionen der Partizipation, Transformation und der Durchdringung lassen sich nicht nur am Beispiel von BTN empirisch nachweisen. Es stellt sich auch heraus, dass durch die enorme Verdichtung und Verschränkung dieser Dimensionen die Ausbildung dieses Formats zu einer besonders erfolgreichen Marke erreicht wird und somit ein überzeugendes Beispiel für gegenwärtige popularkulturelle Marketingstrategien abgibt. Natürlich wäre die hier vorgestellte These einer zunehmenden Tendenz zur Etablierung von TV-Marken noch weiter zu prüfen, beispielsweise durch Umfragen nach Bekannheitsgrad, Wiedererkennung und Nutzung im Kontext anderer TV-Formate und durch wiederholte Erhebungen. Im Rahmen dieses Beitrages habe ich an einem ausgewählten Beispiel versucht, diese These zu plausibilisieren, was mir hoffentlich gelungen ist.

Literatur Barsch, Achim (2011): »Zum Begriff der Medienkonvergenz«, in: Gudrun Marci-Boehncke/Matthias Rath (Hg.), Medienkonvergenz im Deutschunterricht (= Jahrbuch Medien im Deutschunterricht 2010), München: Kopaed, S. 38-49. Bolz, Norbert/Bosshart, David (1995): KULT-Marketing. Die neuen Götter des Marktes, Düsseldorf: Econ.

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Collalti, Markus/Collalti, Zoé (2013): »Papa, wen stört das? – Streitgespräch zu ›Berlin – Tag & Nacht‹«, in: FAZ vom 16.02.2013. Online unter: www.faz. net/aktuell/gesellschaft/familie/streitgespraech-zu-berlin-tag-nacht-papa-wen -stoert-das-12083348-b1.html Giesenfeld, Günter (Hg.) (1994): Endlose Geschichten. Serialität in den Medien, Hildesheim u.a.: Olms-Weidmann. Göttlich, Udo/Nieland, Jörg-Uwe (1998): »Daily Soaps als Umfeld von Marken, Moden und Trends: Von Seifenopern zu Lifestyle-Inszenierungen«, in: Michael Jäckel (Hg.), Die umworbene Gesellschaft, Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 179-208. Hartung, Anja/Lauber, Achim/Reißmann, Wolfgang (Hg.) (2013): Das handelnde Subjekt und die Medienpädagogik, München: Kopaed. Hickethier, Knut (1991): Die Fernsehserie und das Serielle des Fernsehens, Lüneburg: Verlag Kultur, Medien, Kommunikation. Husmann, Heike (1998): Chatten im Internet Relay Chat (IRC). Einführung und erste Analyse, München: Kopaed. Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest (Hg.) (2012): Jugend, Information, (Multi-)Media. Basisstudie zum Medienumgang 12- bis 19-Jähriger in Deutschland, Stuttgart: mpfs. Mikos, Lothar/Freise, Patricia/Herzog, Katja et al. (2000): Im Auge der Kamera. Das Fernsehereignis Big Brother, (= Beiträge zur Film- und Fernsehwissenschaft, Band 55), Berlin: Vistas. Schweiger, Wolfgang (2002): »Crossmedia zwischen Fernsehen und Web. Versuch einer theoretischen Fundierung des Crossmedia-Konzepts«, in: Helga Theunert/Ulrike Wagner (Hg.), Medienkonvergenz: Angebot und Nutzung. Eine Fachdiskussion veranstaltet von BLM und ZDF (= BLM-Schriftenreihe, Band 70), München: Kopaed, S. 123-135. Wesseler, Felix (2013a): Facebook als Second Screen: Ein Erfolgsfaktor von »Berlin – Tag & Nacht«. Online unter: blog.schau-hin.info/2013/11/15/Face book-als-second-screen-ein-erfolgsfaktor-von-%E2%80%9Eberlin-%E2%80 %93-tag-nacht%E2%80%9C Ders. (2013b): »Unterhaltung auf allen Kanälen. Der Facebook-Erfolg von Berlin – Tag & Nacht«, in: ALM (Hg.), Programmbericht 2013, Berlin: Vistas, S. 197-201. Winter, Rainer (1995): Der produktive Zuschauer. Medienaneignung als kultureller und ästhetischer Prozeß, München: Herbert von Halem.

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Medien BTN auf facebook: de-de.Facebook.com/BerlinTN BTN auf rtl2.de: www.rtl2.de/sendung/berlin-tag-und-nacht Mediathek zu BTN auf rtl2now.de: rtl2now.rtl2.de/berlin-tag-nacht.php

Abbildungen Abbildung 1: Musikalisches Comeback von Ole, Quelle: www.rtl2.de/sendung/ berlin-tag-und-nacht/gut-zu-wissen/ole-ohne-kohle-feiert-sein-comeback Abbildung 2: Die (Marken-)Logos von BTN und Köln 50667, Quelle: de.wikipe dia.org/wiki/Berlin__Tag_%26_Nacht#mediaviewer/File:Berlin_tag_u_nach t_logo.jpg; de.wikipedia.org/wiki/Köln_50667#mediaviewer/File:2-koeln-50 667-logo-detail.png

II Pop|Kultur|Akteure

Autoren im Dschungelcamp oder: »Warum habe ich weniger Minuten als der Pornostar?« Anmerkungen zur Fernsehinszenierung von Autoren P ETER S EIBERT

I Das Fernsehen und die literarischen Autoren Der Reclam-Band Texte zur Theorie der Autorschaft (2000) von Fotis Jannidis et al. markierte bekanntlich ebenso wie der von dem Göttinger Germanisten 1999 herausgegebene Band Rückkehr des Autors eine Revalorisierung des Autors nach der langen literaturtheoretischen Debatte um Autorschaft. In deren Verlauf war auch das Forschungsinteresse an dem empirischen Autor erkennbar gesunken. Der Reclam-Band beginnt dagegen mit der axiomatisch formulierten Feststellung: »Es gibt nach dem Text kaum eine andere Größe im Gebiet der Literatur, die uns wichtiger wäre als der Autor. Dies gilt für den täglichen Umgang mit Literatur.« »Der Autor«, heißt es einige Zeilen weiter, »ist im Alltag unserer Kultur die wichtigste Größe, um literarische Äußerungen so in Kontexte einzubetten, dass sie verstehbar und handlungsrelevant werden können.« (Herv. v. P.S.) Der »Alltag unserer Kultur« wird bestimmt durch die Massenmedien, allen voran durch das über ein halbes Jahrhundert als Leitmedium fungierende Fernsehen. Und tatsächlich hat das Fernsehen, ungeachtet aller literaturwissenschaftlichen Diskussionen um Autor und Autorschaft, zeitgenössische wie historische Autoren in seinen verschiedenen Formaten präsentiert und inszeniert. In Kurzinterviews, in Befragungen zu Neuerscheinungen, in Talkshows, Features, Doku-Dramen, Biopics, um nur einige zu nennen. In einem kurzen Beitrag kann man diese Fülle und Diversität von Autoreninszenierungen im Fernsehen nur anschneiden. Ich beschränke mich auf ein paar Anmerkungen, die weder grundsätzlicher Natur noch sonderlich umfassend sein

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können. Nicht beachtet werden dabei die eigentlichen Fernsehautoren, im traditionellen Sinne ›Drehbuchautoren‹. Auch nicht die multimedialen Autoren. Es soll, um Bourdieu zu zitieren, um Personen gehen, die im aktuellen »literarischen Feld«, wie er es entwirft, den Status eines literarischen Autors (»écrivain«) zugeschrieben bekommen haben, ein Status, der jetzt im Fernsehen (das von Bourdieu allerdings bei seiner Konstruktion des »literarischen Feldes« [Bourdieu 2001] unbeachtet bleibt) bestätigt oder zumindest verhandelt wird. Obwohl das Fernsehen den empirischen Autor in den unterschiedlichsten Formaten präsentierte, bekam weder eine medienwissenschaftlich noch literaturwissenschaftlich orientierte Forschung das Fernsehen als Medium literarischer Autoren in den Blick. Die Inszenierungspotenziale des Fernsehens blieben damit weitgehend unberücksichtigt. Aus der Feststellung, dass der Autor im »Alltag unserer Kultur« eine entscheidende Größe für unsere Annäherung an Texte darstelle, folgte auch bei Jannidis eben nicht das Postulat, das Fernsehen zum Forschungsgegenstand zu machen. Selbst als in den letzten Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts Autoren auftraten, deren Verbindung zu den Massenmedien konstitutiv für ihr Autormodell war, wurde das Fernsehen auf seine Rolle bei der Autorenpräsentation allenfalls nur vereinzelt befragt.1 Dieses Desiderat ist sicherlich auch Ausdruck einer komplexen Problemlage bei der Modellierung einer entsprechenden Forschung. Selbst wenn wir uns auf den zeitgenössischen empirischen Autor im Fernsehen konzentrieren, dessen Status fernsehextern ausgewiesen ist, haben wir eine zulängliche Reduktion des Problems nicht erreicht. So bleibt etwa als eine zentrale Frage die nach dem Medium selbst. Um welches Fernsehen soll es sich dabei handeln? Geht es z.B. um die Präsentation von Autoren in einem Fernsehen, das sich seit dem Ende des 20. Jahrhunderts in einem rasanten, durch zunehmende Medienkonvergenz bestimmten Umbruch befindet, wobei noch keine Verlangsamung, eher eine Beschleunigung der Veränderungen zu erkennen ist? Diese digitalen Veränderungen, die neue Vernetzung des Fernsehens und damit die neuen Medienkonstellationen, in die es gestellt ist, sind bezogen auf die Auswirkungen auf die Autorpräsentation des Fernsehens bislang nur in Umrissen erkennbar und an Fallbeispielen von der Forschung nachvollziehbar. Aber selbst ein reduzierter, streng historischer Blick auf ein Fernsehen vor der digitalen Medienrevolution hinterließe immer noch zu viele Probleme, als dass man etwas halbwegs Verallgemeinerbares in einem kurzen Beitrag sagen kann. So bliebe auch dann das Problem der sich über die Jahrzehnte wandelnden Medienensembles und der Medienkooperationen (Hörfunk, Printmedien, Auto-

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Zu nennen ist hier Natalie Binczek (2008: 73-88).

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renlesungen, Fotografien usw.) mit ihren Folgen für die fernsehmediale Präsentation literarischer Autoren. Die unterschiedlichen Zuschreibungen an das Fernsehen, die gelungenen und die gescheiterten Bekunstungsstrategien, ebenso wie die theoretischen und praktischen Selbstbestimmungen des Fernsehens als Agent von Literatur oder als literarisches Medium müssten überdies reflektiert werden. Und selbstverständlich sind es nicht zuletzt die deutlichen Veränderungen auf der Seite der Autoren selbst, einschließlich ihrer veränderten Selbstentwürfe und Fremdzuschreibungen, die auf mögliche Auswirkungen auf fernsehmediale Präsentationen hin befragt werden müssten.

II Die literarischen Autoren und das Fernsehen Eine entscheidende Schwierigkeit, die mit diesen veränderten auktorialen Selbstentwürfen zusammenhängt, liegt nicht zuletzt in den unterschiedlichen Positionen der Autoren selbst zum Fernsehen begründet. Nur vorschnell lassen sich aus diesen heterogenen Positionsbestimmungen der Autoren gegenüber dem Medium so etwas wie die Merkmale eines Autortyps oder eines Autorselbstverständnisses ableiten. Wir treffen unter den literarischen Autoren sowohl auf solche, die sich eine hohe Souveränität und Kompetenz im Umgang mit dem Fernsehen zutrauen und es durchaus im Dienste der Propagierung eines von ihnen befürworteten Autormodells und der entsprechenden Literatur einsetzen wollen, ja, ihre Fernsehpräsenz geradezu als Epitext zu ihrer Literatur begreifen. Hier könnte z.B. Günter Grass erwähnt werden, der zu Lebzeiten in zahlreichen Fernsehporträts regelmäßig als Repräsentant einer ›littérature engagée‹ in Erscheinung trat. Wir finden aber ebenso Autoren, deren Selbstverständnis sich in einer völligen Verweigerung gegenüber dem Fernsehen äußert. Nennen wir drei Beispiele, die vom Autorschaftsmodell und dem Autorentyp her wenig miteinander zu tun haben. Da ist Walter Moers, dessen gänzliche Medienabstinenz und sein Bilderverbot ihn nicht hindern, das Fernsehen, das schließlich seine Popularität mitbegründet hat, mit Produktionen zu beliefern. Da ist Patrick Süskind, dessen Nicht-Präsenz im Fernsehen einer eher elitistischen Grundhaltung und Geringschätzung des Mediums als Massen- oder Populärmedium entspringt. Und schließlich Elfriede Jelinek als kompliziertes drittes Beispiel, deren massenmediale Verweigerung (seit der Verleihung des Nobelpreises) einer gesellschaftskritischen Haltung der Autorin und einer tiefen Skepsis gegenüber dem kapitalistisch dirigierten Buchmarkt entspringt. Sowohl über Jelinek als auch über Süskind existieren nichtsdestotrotz bemerkenswerte Fernsehfeatures, wobei das Jelinek-Porträt (noch vor ihrer großen Absage dem Fernsehen gegenüber produ-

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ziert und ausgestrahlt), ein Porträt, in dem geradezu psychoanalytisch Werk und Leben zusammengebracht sind, eine wichtige Bilderquelle und gleichzeitig einen Fernsehparatext abgibt für die Rezeption der Autorin.2 Die Fernsehsendung des Bayerischen Rundfunks zu Süskind3 gestaltet dagegen gerade die Leerstelle, die der Autor gesetzt hat, so, dass sie der Mythisierung eines zurückgezogenen, abgelöst vom Weltgetriebe wirkenden Autors und einer entsprechenden Autorschaft Vorschub leistet. Ist die Verweigerung bei diesen Autoren von Bedeutung, wenn nicht konstitutiv für die von ihnen vertretenen Autormodelle, so herrscht bei anderen Autoren eine nicht aufzulösende Widersprüchlichkeit in ihrer Haltung zur Fernsehpräsenz vor und verunklart damit auch ihr Selbstverständnis. Als eines der bekanntesten Beispiele könnte Heiner Müller angeführt werden. In seiner Hamletmaschine stellen während des Monologs des »Hamletdarstellers« Bühnenarbeiter einen »Kühlschrank und drei Fernsehgeräte auf. […΁ Drei Programme ohne Ton.« Im Monolog kommt es zu einer äußerst heftigen Kritik am Fernsehen: »Fernsehn Der tägliche Ekel Ekel Am präparierten Geschwätz Am verordneten Frohsinn Wie schreibt man GEMÜTLICHKEIT Unsern Täglichen Mord gib uns heute Denn Dein ist das Nichts Ekel An den Lügen die geglaubt werden Von den Lügnern und niemandem sonst Ekel« (Müller 1978: 89-97)

Im Verlauf dieser Kritik wird die »Fotografie des Autors« gezeigt. Es folgt die Aufforderung »Zerreißung der Fotografie des Autors« (ebd.: 95). Die nächste Anweisung lautet: »Bildschirme schwarz.« (Ebd.: 96)

So komplex der Text der Hamletmaschine auch an dieser Stelle ist, Autordarstellung und Fernsehen erscheinen hier in einem zumindest assoziativen Zusammenhang, der grundiert ist von dem Thema »Lügen«. Hinter der Rolle des Hamlet wird nur die nächste Rolle sichtbar, die des Hamletdarstellers, die Demaskierung lässt nur die nächste Maske erkennbar werden, die Antwort auf das mediale Inszenesetzen des Autors (hier in der Fotografie) kann in der Hamletmaschine

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Die gehaßte Frau Jelinek, Regie: Jochen Wolf, 3sat 1997.

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Patrick Süskind. Duft & Distanz, Regie: Julia Benckert, BR 2006.

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nur die vollkommene Zerstörung der medialen Darstellung des Autors sein, aber auch diese Zerstörung wiederum ist als Akt von Inszenesetzen zu begreifen. Eine solch vehemente Kritik am Fernsehen in Verbindung mit der geforderten Zerstörung des Autorporträts nimmt sich insofern bei Heiner Müller überraschend aus, als wir es gerade bei ihm mit einem Autor zu tun haben, der sich überaus gewandt in den visuellen und audiovisuellen Medien (von der Fotografie über den Hörfunk und nicht zuletzt bis zum Fernsehen) bewegte, die von ihm ein festes Bild lancierten, das Gesten, Stimme, Kleidung, Brille, Frisur, Zigarre umfasste und tatsächlich in die Rezeption seiner Texte hineinwirkte. Mehr noch, seine Fernsehinterviews mit Alexander Kluge gehören zur Signatur dieses Autors. Sie konnten nicht nur die Rezeptionsprozesse steuern, sondern wurden selbst spätestens als Literatur Müllers anerkannt, als sie in die gesammelten Werke des Autors aufgenommen wurden. Dass auch die Abwehr von Fernsehpräsenz, als Abwehr der ›großen Lügen‹ und als Authentizitätsgestus gleichermaßen Ausdruck eines bestimmten Autormodells wie einer Kritik am Massenmedium ist, zeigte sich auch an Rainald Goetz. Er hatte, wie ausreichend reflektiert, seine Medienkompetenz ebenso wie seine Fernsehkritik beim Bachmann-Wettbewerb 1983 durch ein Aufschlitzen der Stirn demonstriert, eine Aktion, die inzwischen nahezu den Status einer Epochenzäsur gewonnen hat, die im Grunde aber nur die Nichtaufhebbarkeit unserer medial verantworteten Erfahrungsarmut bestätigen konnte. Goetz hat sich, was ebenso bemerkenswert ist wie der Klagenfurter Eklat, danach konsequenterweise über Jahre dem Fernsehen gegenüber völlig verschlossen. Das erste Fernsehinterview, zu dem er sich 1999 wieder bereit erklärte, gab er mit einer Plastiktasche eines Mainzer Buchladens mit einem Shakespeare-Aufdruck, die er über sein Gesicht gezogen hatte, so dass ein auf dem Kopf stehender Shakespeare die Fragen des Fernsehinterviews beantwortete (vgl. Wasner 2013: 325f.).

III Popautoren im Fernsehen: Inszenierung als Subversion Eine, sagen wir vorsichtig, weniger ambivalente Haltung gegenüber einer Fernsehpräsenz von Autoren kennzeichnet eine ganze Reihe von zeitgenössischen Schriftstellern, die (wie Goetz) von Verlagen, Kritikern oder Literaturwissenschaftlern als Popautoren definiert wurden. Sie ist begründet in ihrer Bewertung des Fernsehens als Populärmedium. Auf die kulturpessimistische oder ideologieund kulturindustriekritische Haltung vieler Autoren der fünfziger und noch der sechziger Jahre antworteten Autoren der sogenannten ersten Generation von Popautoren mit einer eher fernsehaffirmativen Position. So hatte Rolf Dieter

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Brinkmann im Fernsehen durchaus ein Medium gesehen, das die hochkulturellen Setzungen des Bildungsbürgertums und dessen Vorstellungen von Autorschaft konterkarierte. Als populärkulturelle Attacke auf distanzschaffende Muster der Hochkultur räumte für ihn das Fernsehen Möglichkeiten des Freisetzens schöpferischer Produktivität ein. Diese Euphorie wurde bei Vertretern der jüngeren Pop-Generation zwar abgelöst durch eine stärkere Fernsehskepsis, die, wie Goetz mehrfach beklagt, aus den manifesten Verbürgerlichungstendenzen des Fernsehens selbst resultiere, Tendenzen, die man aber hoffte, durch Auftritte im Populärmedium ›Fernsehen‹ selbst und einen entsprechend professionellen Umgang mit diesem Medium unterlaufen zu können. Genau diese Chance zur Subversion, von der man ausging, sprach aber nicht für Fernsehenthaltsamkeit, wie sie z.B. Jelinek vertritt, sondern verlangte, um das Fernsehen als Populärmedium im Sinne Brinkmanns zu ›retten‹, geradezu nach einer vermehrten Fernsehpräsenz dieser Autoren. Als Angehörige einer medienkompetenten Autorengeneration trauten sie sich dabei zu, ihre Autorenmodelle im Fernsehen selbst behaupten zu können. Viele Beispiele, in denen Autoren wie Benjamin von StuckradBarre, wie Alexa Hennig von Lange oder Sibylle Berg, einen Autorentypus im Fernsehen ›verkörperten‹, der vom Autor als moralische oder gesellschaftliche Instanz, als kreatives Subjekt usw. grundsätzlich abweicht, sind bekannt. Ich wiederhole einige nur der Vollständigkeit halber: Abgesehen von eigenen Fernshows, zu erinnern ist an die von Stuckrad-Barre, sind es die Auftritte dieser Autoren in der stilbildenden Late-Night-Show Harald Schmidts, die als Beleg für die Destruktion des ›alten‹ Autors durch die Fernsehpräsenz der Popautoren herangezogen werden: Alexa Hennig von Lange, eingeladen, weil sie ein neues Buch vorgelegt hatte, begann bei Schmidt, statt über dieses Buch zu reden, mit Überlegungen zu ihrer Körperhaltung vor der Kamera, zur Stellung ihrer Beine, da sie ja unter ihrem Rock nackt sei, und bekannte sich zur Totalrasur ihre Körpers.4 Sibylle Berg, die mit ihrer Neuerscheinung Der Mann schläft (München 2009) angekündigt war, verzichtete auf jeden literarischen Diskurs und ließ sich stattdessen über ihre sexuellen Erfahrungen aus (»Penetration überall«).5 Rainald Goetz schließlich, der wegen seines Romans Johann Holtrup zu Harald Schmidt kam, betrat mit einem Stapel Notizen und Zeitungen das Studio, destruierte dann aber das Bild vom Autor als wissenden, informierten und reflektierten Zeitgenossen, dessen Literatur orientierende Funktion haben sollte, sondern erschien

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Harald Schmidt Show, 11.04.2011.

5

Harald Schmidt Show, 22.10.2009.

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als unorganisierter, uninformierter, sprachinkompetenter Studiogast, bei dem damit nahezu alle traditionellen Zuschreibungen an Autoren abprallten.6 Um aus solchen Fernsehauftritten die Konturen eines in der Tendenz subversiven oder gegenüber hochkulturellen Ansichten parodistischen Autormodells gewinnen zu können, genügt natürlich nicht der Blick auf ein Format, schon gar nicht auf eine Sendung, wie sie mit Harald Schmidt realisiert wurde. Da bei YouTube verschiedene Fernsehauftritte von Hennig von Lange oder Sybille Berg in anderen Fernsehanstalten, Programmen, Formaten anzusehen sind, ist ein Vergleich z.B. ihrer Autorenstilisierungen leicht möglich. Prima vista ist man überrascht: So erscheint die Autorin Sibylle Berg bei Thea Dorn7, Gert Scobel8 oder im Schweizer Fernsehen in einer jeweils anderen Inszenierung, von ihrem Outfit bis zu dem hier geführten literarischen Diskurs: Im Fernsehen kann offensichtlich ein Spiel mit ›Autoridentitäten‹ stattfinden, ein Spiel, das diese Autoren offensichtlich in der Lage sind mitzuspielen. Was in der Hamletmaschine als ›Lüge‹ deklariert wurde, erscheint hier als ›Wahrheit‹: Es gibt nur die schimmernden medialen Oberflächen und die verschiedenen Möglichkeiten, auf diese verschiedene, auch widersprüchliche Autorenbilder zu projizieren. Mit anderen Worten: Was von Heiner Müller beklagt wurde, kann – positiv gewendet – auch über das Fernsehen zu einem Markenzeichen von Autoren werden, die sich durch dieses Spiel gegen Vorstellungen von einem sich literarisch objektivierenden Autorsubjekt richten oder die an einer Autorenidentität festhalten. So wie das Dschungelcamp als eine im Augenblick Höchstquoten einfahrende populärkulturelle Veranstaltung des deutschen Fernsehens Rollenspielern wie Dragqueens, Models, Pornodarstellerinnen, Rappern und Fußballstars oder Schauspielern neue Rollen gibt, so bietet das Fernsehen sich insgesamt diesen Autoren als ein großes Dschungelcamp an, in dem es sie immer wieder und immer anders in Szene setzt. Indem sich die Autoren auf dieses Spiel in den Medien demonstrativ einlassen und alle Autorenentwürfe unterlaufen, die noch Momente einer für die literarische Produktion als essentiell erachteten Identität aufweisen, schließen sie – in der Regel reflektiert – an aktuelle Theoriebildungen zur Subjektkonstituierung9 an, Theoriebildungen, die keine subjektiven Identitätsmodelle mehr kennen, sondern diese nur als Effekt kultureller und medialer Inszenierungspraktiken be-

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Harald Schmidt Show, 09.04.2010.

7

Literatur im Foyer, SWR 12.12.2009.

8

Gert Scobel: Wer bin ich? Identitäten der Gegenwart, 3sat 22.07.2010.

9

Vgl. Keupp (2008) u. Anderson (1997).

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greifen, eine Auffassung, die nicht ohne Konsequenzen für unsere Vorstellung von Autorschaft bleiben konnte.

IV Okkupation popkultureller Autorenentwürfe durch das Fernsehen Als drängendes Forschungsproblem hatte Fotis Jannidis schon 1999 in dem eingangs zitierten Band Rückkehr des Autors die genaue Beschreibung des Verhältnisses von Selbst- und Fremdzuschreibungen an den Autor bestimmt: »Die Literaturwissenschaft«, heißt es hier, »hat gerade erst begonnen, die Probleme zu sichten, die die komplexe Interaktion zwischen den Selbstbeschreibungen der Autoren und den vielfältigen Fremdbeschreibungen, die die diversen gesellschaftlichen Praktika im Umgang mit Autorennamen und -modellen einer historischen Rekonstruktion stellen« (Jannidis 1999: 300). Genau nach dieser ›komplexen‹ Interaktion ist gerade auch bei jenen Autoren zu fragen, die nicht zuletzt durch ihre massenmediale Präsenz die auktorialen Positionen des literarischen Feldes zu verändern hofften. Mehr noch: Zu diskutieren ist, ob und inwieweit es sich tatsächlich um eine wirkliche ›Interaktion‹ handelt. Vorausgesetzt, dass auch bei den medienkompetenten Autoren jede Selbstinszenierung letztlich nur als Ergebnis eben von kulturellen und medialen Fremdinszenierungen zu begreifen ist, müsste Selbstinszenierung im Fernsehen dann verstanden werden als ein »Sichtbar-Machen einer sich abgrenzenden, wiedererkennbaren Position innerhalb des literarischen Feldes« (Jürgensen/Kaiser 2011: 10) – ein Sichtbar-Machen, das aber stets nur im Rückgriff auf medial kodierte und zugelassene Repertoires erfolgen kann. Die erwähnten Klagen der Autoren, dass popkulturelle Praktiken längst vom Fernsehen anverwandelt worden und damit in ihrer Wirkung zumindest beeinträchtigt seien, dürften also auch vor der Usurpation der popkulturellen Autorenentwürfe im Fernsehen nicht haltmachen. Indizien dafür, wie sehr Harald Schmidt in seinen Autorpräsentationen Literatur zur fernsehmedialen Spaßkultur transformiert hat, finden sich durchaus. Bezeichnend war die Sendung, in der bei ihm nach dem Pornostar Gina Wild der nicht zur Popliteratur zu rechnende Wolf Wondratschek über sein neues Buch reden wollte, das Gespräch aber, anders als das Interview mit den genannten Autoren, nach wenigen Minuten abgebrochen wurde. Die von Schmidt nicht gegebene Antwort auf Wondratscheks Frage: »Warum habe ich weniger Minuten als der Pornostar?«10 hätte genau die Fremd-

10 Harald Schmidt Show, 28.03.2001.

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bestimmung in der angestrebten Selbstinszenierung aufgezeigt: Während die Vorgaben von Schmidt von Autorinnen und Autoren wie von Lange oder Berg und Goetz von diesen sicherlich mit hoher Kompetenz erfüllt wurden und sie dementsprechend die Inszenierungsangebote in aller Breite ausschöpfen konnten, war der Autortypus, wie ihn Wondratschek im Gespräch vorführte, offensichtlich in diesem Format weniger ›telegen‹, so dass der Autor tatsächlich seine Minuten an den Pornostar abtreten musste. Der für zeitgenössische Autoren faszinierende Schein, dass der Autor im Fernsehen selbst zu Wort kommen und das Bild von sich bestimmen kann, trügt also. Die Autoren, zu deren literarischem Programm es gehört, ihr Autormodell mit und in diesem Medium durchzusetzen, die sich als starke Navigatoren oder Flaneure des Mediums sehen und über ihre fernsehmediale Autorpräsenz hochkulturelle Zuschreibungsmuster an Werk und Autor unterlaufen wollen, müssen sich insofern irren, als die Bilder, die den Autor zeigen, vor allem die Bilder sind, die das Fernsehen benötigt, produziert und verbreitet. Bei allen Fähigkeiten, sich in den Medien zu bewegen, die bei den genannten (Pop-)Autoren vorauszusetzen sind, bleibt es letztlich das Fernsehen und nicht der Autor, das Autorschaftsmodelle in Abhängigkeit von Dramaturgien, Bildästhetiken, Formaten, Programmkontexten ins Bild setzt. Dessen ungeachtet bleibt festzuhalten: Auch wenn das Fernsehen als ein nicht hintergehbares Dispositiv wirkt, gegen das auch medienkompetente Autoren, wie sie die Popautoren darstellen, im Grunde machtlos erscheinen, so haben diese dem Fernsehen doch entscheidende Gegenentwürfe zu den Autorenporträts geliefert, die die fernsehmedialen Bildungsprogramme bis dato dominierten. Entfaltet haben diese Gegenentwürfe ihre Wirksamkeit selbst über den Kreis der eigentlichen Popautoren hinaus, wenn Fernsehregisseure wie Andreas Ammer auch bei historischen und kanonisierten Autoren im Rückgriff auf popkulturelle Autorenbilder auktoriale Zuschreibungstraditionen zur Disposition stellen konnten.11 An diesem Punkt ist der von Jannidis axiomatisch vorgetragenen Bedeutungszuweisung gegenüber den Autoren zu widersprechen: Nicht der Autor ist im Alltag unserer Kultur die wichtigste Größe, um literarische Äußerungen so in Kontexte einzubetten, dass sie verstehbar und handlungsrelevant werden können, sondern Inszenierungen, Bilder und Vorstellungen, die in den Medien angefertigt werden, in unserem Alltag kursieren und unser Verstehen von Literatur steuern, sind es. Schon von daher bedürfen diese Inszenierungen auch dringend unserer Aufmerksamkeit.

11 Vgl. in diesem Band den Aufsatz von Alfonso Meoli zu Ammers Hesse-Portrait.

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Literatur Anderson, Walter Truett (1997): The Future of the Self. Inventing the Postmodern Person, New York: J. P. Tarcher. Binczek, Natalie (2008): »Fernsehauftritt der Literatur: Rainald Goetz«, in: Volker Frederking (Hg.), Schwer messbare Kompetenzen. Herausforderungen für die empirische Fachdidaktik, Hohengehren: Schneider, S. 73-88. Bourdieu, Pierre (2001): Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes, 5. Aufl., Frankfurt am Main: Suhrkamp. Jannidis, Fotis/Lauer, Gerhard/Martínez, Matías et al. (Hg.) (1999): Die Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs, Tübingen: Niemeyer. Dies. et al. (Hg.) (2000): Texte zur Theorie der Autorschaft, Stuttgart: Reclam. Jürgensen, Christoph/Kaiser, Gerhard (2011): »Schriftstellerische Inszenierungspraktiken – Heuristische Typologie und Genese«, in: Dies. (Hg.), Schriftstellerische Inszenierungspraktiken – Typologie und Geschichte, Heidelberg: Winter, S. 9-30. Keupp, Heiner (2008): Identitätskonstruktionen. Das Patchwork der Identitäten in der Spätmoderne, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Müller, Heiner (1978): »Die Hamletmaschine«, in: Ders., Mauser, Berlin: Rotbuch, S. 89-97. Wasner, Alexander (2013): »Der Autor lebt. Über den Alltag des Literaturredakteurs und -reporters«, in: Peter Seibert (Hg.), Fernsehen als Medium der Literatur, Kassel: kassel university press, S. 314-326.

Medien Die gehaßte Frau Jelinek (1997) (3sat 1997, R: Jochen Wolf). Harald Schmidt Show (Einsfestival), Ausstrahlungsdatum 11.04.2011. Harald Schmidt Show (NDR), Ausstrahlungsdatum 09.04.2010. Harald Schmidt Show (Sat.1 Comedy), Ausstrahlungsdatum 22.10.2009. Harald Schmidt Show (Sat.1 Comedy), Ausstrahlungsdatum 28.03.2001, www.youtube.com/watch?v=rqbdy4K1YUs Literatur im Foyer (SWR), Ausstrahlungsdatum 12.12.2009. Patrick Süskind. Duft & Distanz (BR 2006, R: Julia Benckert). Wer bin ich? Identitäten der Gegenwart (3sat 2010, R: Gert Scobel).

Refus aus Kalkül?! Zu Christian Krachts Fernsehauftritten N ILS L EHNERT

Große Gesten und Gebärden sind es, die bei der Beschäftigung mit medialen (Selbst-)Darstellungen respektive schriftstellerischen Inszenierungspraktiken (Jürgensen/Kaiser 2011) von Gegenwartsautoren als erstes ins Auge fallen: die das Fleisch zerschneidende ›Klagenfurter Rasierklinge‹ (Rainald Goetz)1; sexuell-pornografische Tabubrüche (etwa Charlotte Roche); sich aufgeplustert gerierende und effekthascherisch in Szene setzende Literaten, deren »Lesungen […] Popkonzerten mit kreischenden Mädchen«2 gleichen (etwa Benjamin von Stuckrad-Barre); Exzess und Exzentrik und deren Vermarktung3 oder aber auch einfach mal die »Vorliebe für extravagante Schminke, Frisuren und Designerbekleidung« (Elfriede Jelinek) (Künzel 2007: 20) – kurzum: Es sind inszenierte Stilensembles oder -arrangements, welche das Gewöhnliche sprengen, die beim Publikum haften bleiben. Bei allem (gerade auch wissenschaftlichen) Goutieren dieser ›lauten‹ Selbstdarstellungsweisen geraten – zumal dann, wenn es um sogenannte ›Popautoren‹ geht, – die ›leisen‹, subtileren Verfahren gelegentlich ins Hintertreffen der raren Ressource Aufmerksamkeit, obzwar gerade sie es sind, die dem interessierten Analyseblick interessante Beobachtungen anzustellen erlauben. Vorliegende Untersuchung spürt ebenjenen weniger enormen oder – um mit Christian Kracht zu 1

Auch Jürgensen/Kaiser (2011) wählen für ihr Cover eine die Buchdeckelepidermis blutig ritzende Klinge.

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programm.ard.de/Homepage?sendung=287225773376875

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Etwa in der Dokumentation Rausch und Ruhm, die 2004 erstausgestrahlt wurde und die Drogensucht von Benjamin von Stuckrad-Barre verhandelt (vgl. ebd.). Vgl. auch das Unterkapitel von Jürgensen/Kaiser (2014: 233-245): »Start, Absturz, Neustart« sowie Vorjans (2014).

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sprechen – ›enthusiasmierenden‹ medialen Inszenierungen nach, und tut dies just an seinem Beispiel als »Außenseiter« bzw. »Phantom des deutschen Literaturbetriebs«,4 der zugleich als ›depressiver Dandy‹ (vgl. Glawion/Nover 2009) und »Glamour-Boy« (Kedves/Schuler 2010) gehandelt wurde, Mitglied des popkulturellen Quintetts gewesen ist, und dessen Leben und Werk nie klar in einer der beiden Popsphären von (Über-)Affirmation und Subversion verortet werden konnten.5 Im Fokus stehen dabei Krachts Auftritte vor laufender Kamera in den popästhetisch gerahmten Sendeformaten druckfrisch, dem ›Büchermagazin im Ersten‹ mit Denis Scheck unter der Regie Andreas Ammers6, und der Harald Schmidt Show7. Nur auf den ersten Blick widerspricht das dekadent-altväterlich parlierende, arrogant-dandyhafte Gebaren Krachts als Studiogast bei Schmidt (2001) der in druckfrisch (2008 und 2012) zelebrierten ›Kommunikationsvermeidungskommunikation‹ (Luhmann/Fuchs 1992). Jene früher einmal sogar ›schrill‹ geartete Popfacette, die der Schweizer in den 1990er Jahren (außerhalb des TV) inkorporiert und verkörpert hatte wie kaum ein anderer, und sein Ruf, die Provokation mit Aplomb zu suchen,8 verschwinden nämlich zusehends und lassen sich vielmehr in den Dienst einer ›Ästhetik des Verblassens‹9 stellen. Diese lässt sukzessive in Schwundstufen erst Informations-, später Kommunikationsbereitschaft vermissen, zieht aus dem Misstrauen in populäre, massenmediale Kommunikationssituationen und Fernsehformate eigene Schlüsse und hält entsprechende Inszenierungsantworten parat.

4

www.spiegel.de/thema/christian_kracht/

5

Vgl. dazu etwa die Diskussion in Rauen (2010: 124ff.).

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Vgl. zur Regiearbeit Ammers den Artikel von Alfonso Meoli in diesem Band.

7

Produktion 1995-2003: Kogel & Schmidt GmbH in Zusammenarbeit mit Bonito für

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Vgl. etwa Amend/Lebert (2000) und für eine massenmediale Manifestation (Abbil-

SAT.1. dung 1). 9

Der Wunsch, Krachts (Pop-)Ästhetik einen griffigen Namen zu geben, ist in der Forschung weitverbreitet. In der Folge von Paul Virilios Titelgebung und Conters Diktum, Krachts Ästhetik lasse sich mit der Großmetapher des Verschwindens umschreiben (vgl. Ders. 2009: 24), ist einige (auch graue) Sekundärliteratur entstanden, die dementsprechend (unter-)titelt. Vgl. etwa Fischer (2014: 61ff.), Sobbe (2014) oder Glawion/Nover (2009). Obwohl das Verschwinden zunächst passend scheint, soll hier demgegenüber das Verblassen als ›Großmetapher‹ installiert werden. Mit seinem Zugriff auch auf das Metier der Fotografie legitimiert sich dieses letztlich passendere Sprachbild aus Krachts selbst postuliertem ›Bilderverbot‹ (vgl. Weidermann/Reents 2001 sowie Sack 2004).

R EFUS AUS K ALKÜL ?!

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Auf welche Art und Weise Christian Kracht mittels verschiedener Praktiken kalkuliert ein bestimmtes Bild seiner selbst in den Köpfen der Gesprächspartner und Zuschauer zu etablieren sucht, inwiefern dieses Ansinnen im größeren Kontext einer popkulturellen Inszenierungsästhetik lesbar ist und weshalb die abgegrasten Erklärungsansätze, die mit Ironie, Provokation, Dandytum, Komik etc. argumentieren, keine letztgültig befriedigenden sein können, wird in folgendem Dreischritt vorgeführt: Erstens werden die erforderlichen methodischen Grundlagen zusammengestellt, indem die Inszenierungspraktiken nach Christoph Jürgensen und Gerhard Kaiser um die sozialpsychologische Kulturtechnik der Eindruckssteuerung (Impression Management) erweitert und formatrelevante Überlegungen zur Fernseh(interview)analyse mit einbezogen werden. Nach der sich zweitens anschließenden Detailuntersuchung der Fernsehauftritte, folgt drittens die thesenhafte Verankerung von Krachts Refusstrategie, welche in der nach Selbstentblößung lechzenden popkulturellen Medienwelt mit Kalkül die Pole von Absenz und Präsenz, von Zurschaustellen und Verschweigen in der Schwebe hält.

I »Ich fürchte, man ist eigentlich immer SchriftstellerDarsteller.« Schriftstellerische Inszenierungspraktiken, Eindruckssteuerung und das Fernsehen Die »Idee einer autonomen Dichtung und eines autonomen, gleichsam interesselosen Dichtertums, das nicht nach ›weltlicher Anerkennung‹ strebe«, verabschieden Jürgensen und Kaiser (2011: 9) als lediglich »[z]u den überlebensfähigsten Selbstmystifikationen innerhalb des literarischen Feldes« gehörende. Vielmehr müsse man »davon ausgehen, dass die literarischen Akteure im Verlauf ihrer feldspezifischen Sozialisation […] einen Sinn für die je eigene Position innerhalb dieses komplexen Interaktionsgeflechts herausbilden – oder für diejenige, die sie erst erreichen wollen. Angestrebt werden diese Positionen nicht nur durch die Veröffentlichung ›eigentlicher‹, d.h. literarischer Texte, sondern darüber hinaus wesentlich auch durch grundsätzlich resonanzbezogene paratextuelle und habituelle Aktivitäten und Techniken, die sich unter dem Oberbegriff der ›Inszenierungspraktiken‹ versammeln lassen.« (Ebd.: 9f.)

Ob man so weit geht, bereits im 18. Jahrhundert oder gar noch (viel) früher Selbstinszenierungsstrategien der Literaten gelten zu lassen (vgl. Dies. 2011 u. 2014), ist umstritten; weniger diskutabel nimmt sich hingegen die Feststellung

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Christine Künzels aus, die mit Reichweite auf der Gegenwart näherliegende Jahrhunderte und Jahrzehnte und unter besonderer Akzentuierung der ›Popliteraten‹ konstatiert, es stehe »bei der jüngeren Autorengeneration die Frage nach dem ›Ob‹ kaum mehr zur Debatte, sondern es wird vielmehr nach dem ›Wie‹ gefragt. Bei Thomas Mann […] mag die Frage nach dem ›Ob‹ noch spannend sein. Bei Benjamin von Stuckrad-Barre, Rainald Goetz, Christian Kracht u.a. scheint sich die Frage dagegen zu erübrigen.« (Künzel 2007: 13)

Dass Christian Kracht seine seltenen Fernsehauftritte zum Anlass nimmt, um »öffentlichkeitsbezogen« für die »eigene Person, für ihre Tätigkeit und/oder für ihre Produkte Aufmerksamkeit [zu] erzeugen« und durch »das Sichtbar-Machen einer sich abgrenzenden, wiedererkennbaren Position innerhalb des literarischen Feldes« womöglich »Resonanzgewinne« zu erzielen (Jürgensen/Kaiser 2011: 10), steht außer Frage. Wie er allerdings das TV strategisch dafür nutzt, um dessen Formate »gezielt in ihrer jeweiligen Überholtheit bloß[zu]stellen«10, wie sich die diesbezüglichen Inszenierungspraktiken manifestieren, begrifflich fassen und motivieren lassen und wie schließlich Krachts Ästhetik des Verblassens sowohl die Erwartung als auch die ›Erwartungserwartung‹ (Luhmann) bestimmter medialer ›Autorschaftskonzepte‹11 unterläuft, ist der damit abgesteckte Rahmen. Nimmt man Notwendigkeit und Ubiquität schriftstellerischer Selbstdarstellungen als gegeben an, wie es neben der Forschungslage auch Krachts in der Kapitelüberschrift zitierte Selbstaussage nahelegt, spart man sich dadurch »die Mühen einer pauschalisierenden Kulturkritik«, die befürchtet, »dass die Medien und ihre Formate den Kern von Literatur angreifen und Tiefe, Ernsthaftigkeit, Heiligkeit oder Eigentlichkeit durch Oberflächlichkeit ersetzen.« (Porombka 2007: 228) Mit diesen Worten wendet sich Stephan Porombka etwa gegen diejenige ›pauschalisierende‹ Einschätzung Harald Martensteins, der im September 2004 im Tagesspiegel online angelegentlich des Freunds, eines kurzlebigen Zeitschriftenprojekts Krachts, geunkt hatte:

10 Einleitung im vorliegenden Band, S. 9. 11 Prinzipiell lässt sich nach Karnatz (2014) vereinfachend mit einer Skala arbeiten, die zwei ›Autorschaftskonzepte‹ als Endpunkte setzt: Das »traditionelle Konzept des autonomen Künstlers« (ebd.: 275) ließe sich demgemäß tendenziell eher mit den zurückgenommenen Strategien assoziieren, der ›Autor als Marke‹ hingegen mit den ausgefalleneren, auffallenderen.

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»Bei Kracht und seinen Popfreunden mischen sich die historischen Bezüge und die Codes, es sind Fin-de-Siècle-Dekadenz, Dandytum, Sehnsucht nach Konventionen und Spaß an der Provokation dabei. Es ist nur ansatzweise politisch, lediglich eine ästhetische Haltung, der Versuch einiger nicht mehr ganz junger, wohlhabender und ratloser Männer, mit hochgezogenen Augenbrauen und abgespreiztem kleinen Finger von ganz oben herab auf die Welt zu blicken […]. […] Sie spielen angestrengt etwas nach, die durchkoksten 20er Jahre, die Salons der Kaiserzeit, den kolonialen Lebensstil, genauso wie in den 70er Jahren die K-Gruppen den Klassenkampf nachgespielt haben. Ob Präsident Kim ein Killer ist, war den K-Gruppen auch schon egal. Es ist eine Farce, damals wie heute, weil gesellschaftlich nichts mehr dahinter steht, […] lediglich das Ego einiger Selbstdarsteller.« (Martenstein 2004)

Zu diesem Poptotschlagargument12 sind Anmerkungen vonnöten. Zunächst einmal ist der Beobachtung des popästhetischen Stileklektizismus zuzustimmen: Lediglich die Rekombination bereits vorliegender Bausteine ist noch möglich, da sogar die ›authentischste‹ aller Grenzen, die der Selbstverletzung, nun einmal schon überschritten worden ist (vgl. Jürgensen/Kaiser 2014: 220). Allerdings verstellt eine politische urteilende Messlatte13 die freie Sicht bei der Analyse des Fernsehmaterials und unterschlägt die, wie noch zu zeigen ist, durchaus anzunehmende subversive Komponente für die Causa Kracht. Abbildung 1: Kracht und Stuckrad-Barre fahren Rad für P&C

Quelle: arici-consulting.com

12 Vgl. für eine ähnlich gelagerte Kritik Broder/Mohr (1999), als Korrektiv dazu etwa Amend/Lebert (2000). 13 Dieser Sinnspur folgend müsste die Debatte um ›Taliban = camp‹ neu aufgerollt werden. Vgl. zu Krachts tatsächlichen Aussagen Weidermann/Reents (2001) und zur neutralen und kenntnisreichen Auseinandersetzung damit auf der Horst (2013).

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Hatte Kracht mit Stuckrad-Barre noch als ›junger wilder‹ Literat extrovertiert ›laut‹ für P&C geworben (vgl. Abbildung 1) und ›uneigentlich‹ auf die Frage gekontert, ob er nun auch selbst deren Kleidung trage: »Nein, bei diesem FotoShooting wurde uns ja nur Mode in Größe 52 zur Verfügung gestellt. Wir selbst tragen Größe 46« (Philippi/Schmidt 1999), so konnte man, wenn man wollte, dort tatsächlich die geballte komisch-ironische Arroganz anklingen hören, die ihn im gleichen Interview bemüßigt hatte, seine weitgehende Medienabstinenz darauf zurückzuführen, dass Interviews ihn einerseits langweilten, er andererseits »ja sehr reich« (ebd.) sei. Damit macht man es sich aber ein wenig zu einfach. Man wird nämlich Leben und Werk nicht (mehr) gerecht, wenn man, wie Martenstein, die prozessuale Dimension seiner Inszenierungsstrategie und seiner Texte unterschlägt, man verkennt den »kontinuierlich weitergeschriebene[n] Topos […]: das Verschwinden in der Stille.« (Schüller 2010: 32) Dadurch befreit sich Kracht »vom Zwang zur unausweichlichen Positionierung und Kommunikation und dem Fassbarmachen seiner Person« (Fischer 2014: 36), womit der Analyseblick freigegeben wird auf bei weitem subtilere Schachzüge als ein wohlfeiles ›Von-oben-herab‹: »Denn der Analogieschluß zwischen Popkultur, Dandyismus und Oberflächlichkeit stimmt zumindest dann nicht, wenn man ihn auf Kracht anwendet.« (Schüller 2010: 32)

Spätestens dieser Befund wirft die Frage auf, mittels welcher analytischen Instrumentarien sich Krachts komplexe Selbstdarstellung im TV fassen lässt? Obwohl Jürgensen und Kaiser verdienstvolle Typologiearbeit leisten, die darauf abzielt, verschiedene Dimensionen und Facetten schriftstellerischer Inszenierungspraktiken heuristisch von einander zu scheiden, und obwohl sie mit ihren habituell-performativen Aspekten14 durchaus auch Beobachtungskategorien für be-

14 Diese hier im Fokus stehenden Beobachtungskategorien »erweiter[n] Genettes sprachund literaturwissenschaftlich orientierten ›Paratext‹-Begriff« und referieren weder auf den ›eigentlichen‹ literarischen Text noch auf die Ko- und Kontexte, die ihn umgeben. »Referenzraum der Inszenierung ist vielmehr ein spezifischer, mit philologischen Mitteln allein nicht mehr rekonstruierbarer ›Lebensstil‹«, der sich »vor allem auch auf Bild- und Tondokumente (z.B. Fotografien, Zeichnungen, Schallplattenaufnahmen, Rundfunkbeiträge, Fernseh- oder Internetauftritte)« erstreckt. Denn obzwar Krachts Texte stets der Anlass gewesen sind, ihn in die zu analysierenden Shows einzuladen, spielen sie in den jeweiligen Interviewsituationen (und mithin für die Dauer dieses Beitrags) kaum eine Rolle. Innerhalb der habituellen Dimension ist das Analyseobjekt ›Lebensstil‹ etwa »ablesbar an Praxisformen, deren Komponenten als Verweisungs-

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wegte Bilder anbieten, eignet sich das gut abgestimmte Analysebesteck nur für die Deskription. Da das Modell nämlich ›lediglich‹ Rubriken (Habitus, Körper, Stimme etc.)15 liefert, mithin der externen interesseleitenden Fragestellung wie des Zuschnitts auf das zu analysierende mediale Material bedarf, und zudem in einer recht allgemeinen These die ›öffentliche Aufmerksamkeitserzeugung‹ als Zweck aller Selbst-Inszenesetzungen angibt,16 muss methodologisch nachgebessert werden. Gerade auch, um Krachts ›Sonderweg‹ plausibel zu machen, ist es für den erforderlichen Brückenschlag zu einer popästhetischen Fernsehanalyse unumgänglich, die Leerstellen des Modells passgenau zu füllen und so die an der Oberfläche beobachtbaren Praktiken mit der Theoriebildung zu übergeordneten Kommunikations- und Handlungszielen in Bezug zu setzen. Um fündig zu werden, lohnt es sich, die theoretischen Quellen aufwärts zu verfolgen, aus denen sich die aktuelle Forschung zur Selbstdarstellung von Dichtern speist. Denn dann treten mit Erving Goffman und Pierre Bourdieu zwei ideengebende Soziologen auf den Plan, die sich neben der Beschreibung dezidiert auch mit der Erklärung zwischenmenschlichen (kommunikativen) Verhaltens befasst haben. Im Gegensatz zur eher holzschnitthaft wirkenden Adaption der Literaturwissenschaften, liefert die sozialpsychologische Forschung zur Eindruckssteuerung (Impression Management), die Goffmans und Bourdieus präzise Alltagsbeobachtungen empirisch erhärtet hat, gewissermaßen eine erste Interpretationshypothese gleich mit, die über ›Resonanzgewinne‹ weit hinausgreift. Indem die Ein-

muster, Symbole, Zeichen im Hinblick auf soziale Positionierung und Orientierung gelesen werden können« und in performativer Ausprägung »Aspekte der Körperlichkeit, Kleidung, Stimme […] umfassen.« (Jürgensen/Kaiser 2014: 221f.) 15 Als spezifische Manifestationen habituell-performativer Inszenierungspraktiken nennen Jürgensen/Kaiser (2011: 13f.) in der Langform: »Haartracht und Kleidung, signifikante körperliche Selbstdarstellungsformen (etwa in Mimik und/oder Gestik), diverse Formen der Diätetik und der Sorge um den Körper, (Verweigerung von) Sportausübung, Sexualität, Stimme oder Formen der öffentlichkeitsbezogenen ›Alltags‹Darstellung: etwa Schreibwerkzeuge, Genuss- und Rauschmittel, Automobile […], Lebensführung und Geselligkeit, Mediengebrauch, aber auch Räume und topographische Symbole […].« 16 Das Modell erweist sich – die Crux vieler möglichst vollständiger Systematiken – in der konkreten Analysepraxis als wenig flexibel, unzulänglich was die Medienspezifizität angeht und wirkt zudem überladen. Die jüngst im von Kyora herausgegebenen Sammelband Subjektform Autor veröffentlichte Koproduktion von Jürgensen/Kaiser (2014: 217-245, hier: 219-222) bietet eine übersichtlichere Kurzform.

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flussnahme auf das im Entstehen befindliche Fremdbild einer Person in den Fokus rückt, gewinnt die strategische Ausrichtung der Inszenierung an Bedeutung: »People have an ongoing interest in how others perceive and evaluate them. […] Because the impressions people make on others have implications for how others perceive, evaluate, and treat them, as well as for their own views of themselves, people sometimes behave in ways that will create certain impressions in others’ eyes.« (Leary/Kowalski 1990: 34)

Um ein bestimmtes Image in der Wahrnehmung anderer zu lancieren und diese in der Folge zu einem bestimmten Verhalten zu veranlassen, existiert ein umfangreiches Repertoire. Dabei dienen unterschiedliche Techniken und Taktiken je bestimmten Zielen, was die Eindruckssteuerung als Kulturtechnik ausweist, die evolutionäre Vorteile versprach und verspricht,17 und die in ihrer Eigenschaft, einzelne Inszenierungspraktiken zu größeren und zielgerichteten Handlungsschemata zusammenzufassen, geeignet scheint, auch finale Fragen nach Krachts inszenatorischen Plänen stellen und beantworten zu helfen. Astrid Schütz, ihres Zeichens Sozialpsychologin, gruppiert 1998 in einer Metaanalyse das Impression Management zu vier schlüssigen Taktiken, also Bündeln von Techniken, die entweder darauf abzielen, ›gut‹ oder aber wenigstens ›nicht schlecht dastehen‹ zu wollen. Deren eine scheint für die popästhetischen Selbstpräsentationen Christian Krachts im Fernsehen Pate gestanden zu haben: protektive Eindruckssteuerung18. Durch freundliche, zurückhaltende Passivität wird dabei versucht, »die Wahrscheinlichkeit unerwünschter Zuschreibungsund Bewertungsprozesse durch die Vermeidung kritischer Situationen und erklärungsbedürftiger Ereignisse zu reduzieren« (Solga 2007). Zahlreiche Erkennungsmerkmale während Krachts TV-Auftritten illustrieren diese Taktik und geben sich auf unterschiedlichen Ebenen als ihr zugehörig zu erkennen: neben verbal-inhaltlichen Äußerungen hauptsächlich durch performativ-habituelle Praktiken (ablesbar etwa an ›protektiver‹ Prosodie, Mimik, Gestik oder durch in Farb- und Auswahl unaufdringliche Kleidung, häufige, affirmative Hörersignale u.v.m.), namentlich aber auch durch den Refus selbst, durch Unterlassung, durch Informations- und Kommunikationsverweigerung (die öffentliche Aufmerksamkeit wird gemieden, Selbstbeschreibungen zurückhaltend bis abwertend vorge-

17 Vgl. dazu auch Lehnert (2014). 18 Vgl. dazu Schütz (1998), insbesondere die Seiten 617f. u. 628. Es ist der integralen Anlage dieses Beitrags geschuldet, dass detailliertere Erläuterungen zu dieser Taktik erst unter II.2 gegeben werden.

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nommen, Selbstauskünfte minimiert usw.). Rückschlüsse von derartigem manifesten Verhalten auf Impression-Management-Konzepte und Impetus der jeweiligen Strategie zu ziehen, ist nicht unproblematisch, sind doch beobachtbare Phänomene durchaus mehreren Inszenierungsstilen bzw. -absichten zuzuordnen oder sogar un(ter)bewusst gewählt. Diesem Vorwurf lässt sich dadurch begegnen, dass menschlichem Verhalten rezeptionsseitig generell – zumal in exponierten Situationen wie einem Fernsehauftritt – wohlerwogene Intentionalität unterstellt wird (vgl. Lehnert 2014: 180). Ferner scheint es fraglich, »ob heutige Autoren im Hinblick auf ihre Selbstinszenierung überhaupt ›hinterfragt‹ werden können«, da sie »mit den Regeln der Medien und Märkte vertraut sind«, mithin »professionell und souverän damit umgehen. Sie operieren – so Stephan Porombka – im ›Modus der ironischen Uneigentlichkeit‹« (Künzel 2007: 20f.). Zugegeben »bestehen wenige Zweifel, dass Kracht sich zu diesem ›Pop-Prinzip‹ einer Dissoziation von Wesen und Erscheinung bekennt, wenn er in einem Interview aus dem Jahr 2000 sagt: ›Vortäuschen, verstecken, Unsinn erzählen, das sind alles Mechanismen, die noch gut funktionieren.‹« (Rauen 2007: 116)19 Obendrein handelt es sich bei fernsehmedialen Artefakten nicht um eine Beobachtung aus erster Hand. Das Fernsehbild ist sekundäre, ist tertiäre Realitätsdokumentation. Nein, nicht einmal das. Fernsehen dokumentiert nicht (zumal in seiner formatgebundenen Ausprägung nicht), sondern (ver-)formt mit Methode und Ziel.20 Somit obliegt es einer Untersuchung, die an einzelnen Beobachtungen des Fernsehbildes ansetzt, um sie schließlich zu einer plausiblen popästhetischen Strategie zusammenzufügen, die multimodalen medialen Filter, Ausschnitte und Rahmenbedingungen ernst zu nehmen: Ein vorhandenes oder eben nicht vorhandenes Showpublikum etwa vermag die Vorzeichen bereits zu präformieren, unter denen die künftige Kommunikation stehen wird (vgl. Karnatz 2014: 272). Allerdings existiert bei aller Situationsspezifik und Inkommensurabilität der untersuchten Formate auch ein universelles Setting, das sich – mit Blick auf Krachts Auftritte – als ›Interview mit Autor, der ein neues Buch geschrieben hat‹, angeben lässt. Der Zuschauer interessiert sich üblicherweise sowohl für

19 Das Zitat entstammt dem Interview von Amend/Lebert (2000); Rauen (2010: 116124) stellt es in einen größeren Kontext. 20 Damit soll freilich nicht einem überkommenen Argwohn der ›Manipulation‹ gegenüber, welcher der Zuschauer hilflos ausgeliefert scheint, das Wort geredet werden. Vielmehr ist davon auszugehen, »dass Medienproduktionen generell inszeniert und arrangiert werden und dass diese Inszenierung Folgen für die Erfahrung von Welt durch die Medien hat.« (Hickethier 2001: 17f.)

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dieses als auch für jenen, möchte – oder ist wenigstens darauf eingestellt – auf unterhaltsame Weise relevante oder zumindest nützliche, ›sachdienliche‹ Informationen zu beidem erhalten. Was tut aber Kracht wie und wozu, um seinen in diesem Geflecht (begrenzten) Eindruck zu managen?

II »Neinnein, wirklich; also jaja.« Christian Krachts Inszenierungsstrategien im TV: von ironischer Distanz über Informations- hin zur Kommunikationsverweigerung »Gebe Daumen runter, denn dies ist kein Interview, sondern eine Zuschauerverarschung von 21

vorne bis hinten.«

»Krachts Ironie, gepaart dessen [!] stilisierter 22

Gleichgültigkeit, ist wirklich erheiternd.«

Die Datenbasis von ›Kracht im TV‹23 ist so klein, dass die folgende Zusammenschau zwar nicht statistisch repräsentativ, aber vielleicht gerade aufgrund des Seltenheitswerts besonders prominent und vielsagend ist.24 In der Tat lässt sich die Absenz in Mediendingen sogar nahtlos in Krachts Refus aus Kalkül einreihen. Alle drei nachfolgend dekomponierten Auftritte sind als Videos bei YouTube zugänglich und dort zahlreich rezipiert und mehr oder weniger wortge-

21 YouTube-Nutzerkommentar (www.youtube.com/watch?v=cjewDAQdoB0). 22 YouTube-Nutzerkommentar (www.youtube.com/watch?v=GUJypXBsJJQ). 23 Krachts Inszenierungsstrategien unter den Vorzeichen der Internetkultur zu betrachten, wäre quantitativ ergiebiger gewesen. Vgl. dazu Künzel (2007: 21), Segeberg (2007) sowie Fischer (2007). Allerdings sprechen gerade bewegte Bilder eine Sprache, die noch reicher im Ausdruck ist als Verbalsprache und Fotografie. Das TVAnschauungsmaterial liefern Krachts Auftritt in der Harald Schmidt Show (2001) sowie druckfrisch mit zwei Interviews (2008 und 2012). Der Vollständigkeit halber müssen der Auftritt im russischen Fernsehen (November 2006), Ausschnitte aus nur fragmentarisch dokumentierten Lesungen (etwa auf der Leipziger Buchmesse 2012) sowie das ARD-Gespräch zum Film Finsterworld (Oktober 2013) erwähnt werden. Bei allen hier ausgesparten Fernsehauftritten lässt sich indessen thesengeleitet durchaus ähnliches Belegmaterial finden. 24 Ein geringes Angebot schürt die Aufmerksamkeit. Vgl. etwa Trust (2014).

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wandt von Nutzern kommentiert, gemocht oder abgelehnt worden.25 Gespiegelt findet sich diese Ambivalenz auch auf der professionelleren Ebene der Auseinandersetzung, namentlich im ersten Autor und Werk in den Blick nehmenden Sammelband von Johannes Birgfeld und Claude D. Conter: »Christian Kracht fasziniert, begeistert – und irritiert. Seit der Publikation seines ersten Romans Faserland 1995 gilt er als ebenso originelle wie rätselhafte Schriftstellerpersönlichkeit. Kracht wird verehrt und verdammt, gepriesen und gescholten, verklärt und missverstanden – und, nicht selten, vereinnahmt für Bewegungen, Ideen und Generationen, zu 26

denen er sich nicht bekannt hat.« (Birgfeld/Conter 2009: 9)

Dass sich diese ›Lektüren‹ an den Schweizer Schriftsteller (und seine Texte) koppeln, verdankt sich allerdings nicht (nur) einer popästhetischen oder kultursemiotischen Legasthenie einiger Rezipienten. Irritationsmomente und Missverständnisse sind vielmehr notwendiges Resultat des absichtlich Unfasslichen seiner Inszenierungsstrategien (auch) im TV. Justiert man diese Einsicht mit ihren Implikationen in der je konkreten Kommunikationssituation, muss der Einfluss, der qua Format, Person, Anmoderation, Studio/Raum, Musik, Stimmung, Publikum etc. auf Kracht ausgeübt wird und selbstredend nicht spurlos an seiner Inszenierung vorbeigeht, in der Rückkopplung mit seinem Verhalten reflektiert werden. Reziprok zu den Rahmenbedingungen variieren nämlich auch Krachts kommunikatives Angebot und sein patchworkartiges Spiel mit unterschiedlichen Autorschaftskonzepten,27 je nachdem, ob er bei druckfrisch oder in der Harald Schmidt Show zu Gast ist. Einer selbststilisierenden Aussage zufolge präsentiere sich druckfrisch28 »im temporeichen Reportage-Format, das Regisseur Andreas Ammer mit Kameramann Thomas Morgott-Carqueville schräg und unkonventionell ins Bild setzt. Und für den unwiderstehlichen Rhythmus beim Bildschnitt sorgt jedes Mal Cut-

25 Dabei ist es nicht unerheblich, dass die Zielgruppe der Sendeformate durch die Online-Verfügbarkeit und den Filter YouTube nicht genau adressiert werden kann. 26 Dieses Zitat aus dem Vorwort legt übrigens beredt Zeugnis darüber ab, was Jürgensen/Kaiser (2011: 10f.) unter dem »Autorbild, wie es durch die ›Legendenbildungen‹ bzw. durch Fremdinszenierungen der Literaturgeschichtsschreibung […] oder anderer Akteure […] des literarischen Feldes entsteht«, verstehen. 27 Vgl. Anmerkung 11 sowie generell Karnatz (2014). 28 Vgl. zum Format druckfrisch Mühlfeld (2006: 268-281).

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ter Norik Stepanjan.«29 Genaugenommen handelt es sich indessen um ein erz(kultur)konservatives Magazin (2013 Bayerischer Fernsehpreis in der Kategorie ›Kultur- und Bildungsprogramm‹), das sich nur oberflächlich den ästhetischen Anstrich der ›Modernität‹ verpasst hat, um konkurrenzfähig zu bleiben. Denis Schecks Habitus und Duktus, seine Gesprächsführung sowie seine Gästeliste entlarven eine strikte Trennung von E und U, obwohl vorderhand mit deren Durchmischung geliebäugelt wird.30 Dieses Formatkonzept zu unterminieren scheint Kracht anzutreten: Vermittels variantenreicher Störgeräusche torpediert er sowohl die Interviewsituation als auch jene Zuschauererwartung, die bei ›leiser‹ Selbstinszenierung auf Informationsbereitschaft abonniert ist.31 In die Harald Schmidt Show32 werden – late-night-typisch – »vor allem diese Autorinnen und Autoren eingeladen, deren persönlicher Auftritt oder deren Themen versprechen ›spannend, amüsant und interessant‹ zu sein.« (Karnatz 2014: 270) Als Studiogäste sind somit popaffine oder telegene Selbstdarsteller eher Regel denn Ausnahme; das erwartete Konzept heißt eindeutig ›Autor als Marke‹33. Über mangelnde ›harte Fakten‹ würde das konfektioniert gedachte Publikum geflissentlich hinwegsehen – Helge Schneider und andere Aussageverweigerungskünstler leisteten Vorarbeit –, Züge einer ›lauten‹ Inszenierungsstrategie allerdings als Conditio sine qua non erwarten. Live-on-Tape ausgestrahlt und mit Showpublikum und -band sowie einem schlagfertigen, popbeflissenen Talkmaster eventisiert, scheint dieses Format, das Rainald Goetz »›die maßgebliche Stelle, die spricht‹« (Rosenfelder 2012), genannt hatte, Kracht eher entgegenzukommen. Indem er sich einmalig sogar eigeninitiativ verhält und als Stichwortgeber auftritt, ›honoriert‹ er dies.

29 www.daserste.de/information/wissen-kultur/druckfrisch/wir-ueber-uns/index.html. Diese ›Gemachtheit‹ der Interviewsituation reflektiert druckfrisch im Vergleich zur Harald Schmidt Show metamedial-selbstreferenziell: Man sieht im Vorlauf zur Sendung (2012) eine Kameradrohne am Hallendach des Lagers schwirren, man sieht die Scheinwerfer, die sich anschicken, die Interviewpartner anzustrahlen, man sieht (und hört) Scheck und Kracht vor und nach dem Interview über selbiges sprechen. 30 Vgl. ebd. 31 Diese Einschätzung basiert auf den eklatanten Abweichungen von der ›Blaupause druckfrisch‹, die sich induktiv aus den Autoreninterviews zahlloser Sendungen aufleiten lässt. 32 Vgl. zu »[s]chriftstellerischen Inszenierungen in deutschen Late-Night-Shows« besonders Karnatz (2014). 33 Vgl. ebd. sowie Anmerkung 11.

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Sowohl Schmidts generöse Sympathie für die Popkultur und Schecks offenkundig im bildungsbürgerlichen Milieu wurzelnde Jovialität als auch die formatspezifische Ausgestaltung des Gesprächsrahmens schlagen sich in Krachts Verhalten nieder: Obwohl er beiden Formaten in Ansätzen je das bietet, was sie fordern, enthält er beiden etwas Essentielles vor. Denn selbst wenn Kracht sich bei Schmidt mitunter plauderlustig gibt, wird der ›Modellzuschauer‹ Extraversion und Selbstvermarktung vermissen; selbst wenn jener bei Scheck Anleihen macht beim ›seriösen‹, zurückhaltenden Autorschaftskonzept, erhält dieser über Krachts Person und Bücher kaum nennenswerte Informationen – aufgrund der Sendung allein ließen sich mit ach und krach die Plots rekonstruieren. So vielzählig die Faktoren sind, hinsichtlich derer beide Formate divergieren, so strukturähnlich bedienen sie sich der Vorlage ›Autoreninterview‹. Im Gegensatz zu Poetry Clips scheint es dem Autor dabei stets »verboten, Kontakt mit der Kamera aufzunehmen.« Dadurch »wird literarische Innigkeit, das Bei-sich-Sein und Beim-Text-Sein des Autors inszeniert.« (Porombka 2007: 232) Sowohl Schmidt als auch Scheck – über deren nicht-schriftstellerische Inszenierungspraktiken ein gesonderter Artikel Auskunft geben müsste – variieren in diesem Setting zwar ihr Gesprächsverhalten, greifen aber beide mehrmals auf den ›Prototyp‹ einer Interviewfrage zurück. Dieser lässt gewöhnlich eine Ja/NeinAlternative zu, doch ist üblicherweise intendiert, den Impuls für dankbar bis begierig genutzte längere Monologe seitens des so in Szene gesetzten Autors zu geben, der mehr weiß als Frager und Zuschauer. Bierernst nimmt Kracht in allen drei Sendungen indes diese äußere Form und führt sie ad absurdum. Denn eine Frage, die ein ›Ja‹ nicht will, aber möglich macht, mit einem ›Ja‹ zu beantworten, verletzt nach den Griceschen ›Konversationsmaximen‹ die Spielregeln und wird als unkooperativ wahrgenommen. Wohlwollender könnte man dagegen vom stillen Protest, vom Refus sprechen und den ehedem ›lauten‹ Affront Krachts palimpsestartig durchschimmern sehen – nur eben nicht mehr in seiner auf Effekt, sondern auf Vermeidung zielenden Eigenart. Die chronologische Betrachtung von Krachts Selbstdarstellungspraktiken im TV (II.1) und die systematische (II.2) ergänzen sich insofern, als in der doppelten Perspektive einerseits diejenigen Schnittmengen sichtbar werden, die seine Inszenierungsästhetik situationsübergreifend zu jeder Zeit bestimmen, andererseits die vorgeführten chronologischen Schwundstufen von Kommunikationsbereitschaft in den Blick rücken, die die Gewichte der einzelnen Techniken in der übergeordneten Taktik (auch aufgrund des Formatunterschieds) verschieben.

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II.1 Das Medienmaterial, chronologisch Harald Schmidt Show vom 12. Oktober 2001, anlässlich 197934 Es zeichnet sich bei Schmidt das Bild eines ironisch distanzierten, ambivalenten Krachts ab, dessen Gesichtszüge teilweise sogar in ein ›richtiges‹ Lächeln verfallen [HSS: 00:35ff.] (vgl. Abbildung 2), der auf Schmidt reagiert und zumindest ab und zu das Gespräch nicht nur nicht behindert, sondern mit Ergänzungen und Bestätigungen befördert [HSS: 00:43ff. u. 02:08]. Zwar sind bereits diejenigen Züge einer protektiven Grundtaktik angelegt [HSS: 07:05], die dann bei Scheck zur vollen Blüte gereift sind, aber Krachts Verweigerungshaltung ist häufig noch komisch-ironisch gebrochen, wird mit einem süffisanten Lächeln garniert, was es als So-tun-als-ob demaskiert und vom Publikum als solches erkannt und mit Beifall goutiert wird. Es gibt sie, die Interaktion mit dem Interviewer, das Sendekonzept wird nicht vor die Wand gefahren. Die Gesprächsanteile sind fraglos ungleich verteilt, aber Kracht sagt etwas mit Kohärenz, das dem Anschein des Infotainments gerecht wird. So vermeint der Zuschauer mit (zumindest irrelevanten) Informationen versorgt zu werden. Alle generös erteilten Auskünfte informieren jedoch nicht in einem herkömmlichen Verständnis, sondern desinformieren spielerisch, lenken ab vom ›Eigentlichen‹ (Autor und Buch) und legen Spuren, die zu keinem Ziel oder Kern führen. Uneinigkeit oder Disput sucht man darüber hinaus vergeblich: Sobald Widerspruch in der Luft liegt, glättet Kracht schützend die Wogen; sofort ironisiert er oder gibt klein bei [HSS: 04:28ff.]. Auch die Captatio Benevolentiae Schmidts [HSS: 00:07-00:26] zu Beginn der Interviewsituation perlt im Kontrast zu den späteren Auftritten bei druckfrisch wirkungslos an Kracht ab. Die emotionalste Reaktion darauf ist ein langgezogenes, nach hinten anhebendes »jaaa«, das eher fragt als dankt. Damit wählt Kracht für den Auftritt bei Schmidt just diejenigen Elemente aus dem Autorenkonzeptbaukasten, die nicht erwartet werden: Selbstbescheidung und Zurücknahme. Insgesamt lässt sich behaupten, dass Schmidts Duktus Kracht – zumindest der Ausformung seiner Inszenierungsstrategie – gelegener kommt: Dessen Buch »verweiger[e] sich der Spaßgesellschaft«, wobei Schmidt das letzte Wort schreit und wie im Vorbeigehen einen Kardinalvorwurf an die Popkultur zugleich benennt und ironisierend entkräftet [HSS: 03:24ff.]. Außerdem persifliert Harald Schmidt in Gestik und Paraverbalem unverkennbar Marcel Reich-Ranicki [HSS: 03:39ff.], als er ›literaturkritisch‹ »unter Vorbehalt« »etwas Visionäres« in 1979

34 Das Video (www.youtube.com/watch?v=GUJypXBsJJQ) wird im Folgenden mit der Sigle [HSS] zitiert.

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erkennen zu können glaubt. Schmidts Aussage schließlich, Kracht könne wohl »vieles formulieren, was ich nur dumpf empfinde« [HSS: 07:16ff.], und sei deshalb herzlich erneut in die Sendung eingeladen, um »Gefühle und Befindlichkeiten aus[zu]tauschen« [HSS: 07:11ff.], die seitens des Publikums mit lautem Gelächter quittiert wird, lässt ihn endgültig auf Augenhöhe mit dem un(an)greifbaren Dichter erscheinen. Denn Harald Schmidt zeigt sich nicht – wie Scheck – angesichts des Kommunikationsminimalismus in Ansätzen resigniert, sondern nimmt den Auftritt Krachts dankbar zum Anlass, um sich selbst gut bzw. sogar ›besser als‹ dieser zu präsentieren, indem er ihn auf offensive Selbstpräsentation zurückgreifend ansatzweise lächerlich macht.35 Auch auf Seiten Krachts finden sich tendenziell Praktiken, die mit dessen früherer konfrontativer Haltung vereinbar sind und anecken sollen: Durch einen ›abwärtsgerichteten Vergleich‹36 etwa setzt er Nick Hornby aggressiv herab-, sich selbst zugleich herauf, als er anmerkt, dieser sehe aus »wie ein Penis« [HSS: 04:22ff.].37 Alludiert wird zudem die Arroganz, die den »parfümierte[n] Popschnösel[n]« (Broder/Mohr 1999) angelastet wurde und in einer überaffirmativen Konsumhaltung gipfelte, wenn es um Berluti-Schuhe und Krug-Champagner geht, welch letzterer laut Kracht Dom-Perignon-Jahrgangschampagner geschmacklich vorzuziehen sei [HSS: 07:42-08:13]. Als bewusst inszenierter Überheblichkeitsgestus muss der Widerspruch verstanden werden, wenn Kracht einerseits sagt, er sei weder ein Dandy [HSS: 04:34] noch von Haus aus reich [HSS: 06:49], sodass sich ein finanzieller Erfolg von 1979 lohne, andererseits äußerlich vollkommen emotionslos von »sieben oder acht tausend Mark« teuren Maß-Schuhen spricht [HSS: 07:56], welche in erlesenen Kreisen in Paris mit Schampus geputzt werden [HSS: 08:06ff.]. Für diese ostentative Bekundung des ›feinen Unterschieds‹ wird Krachts Selbstentwurf vom Publikum dafür gefeiert, dass er zumindest stellenweise dasjenige Popetikett/Autorkonzept bedient, welches das Sendekonzept bzw. die Live-Publikumsreaktionen bzw. Schmidts Sympathiebekundungen für alle Pop(literatur)klischees ihm andienen [HSS: 00:00-00:37].

35 »By attacking others and presenting themselves as superior, they try to convey desired impressions of themselves« (Schütz 1998: 615). 36 Vgl. ebd.: 615f. 37 Dass damit eine deutliche Distinktion gegenüber der Popliteratur stattfindet, sei nur beiläufig erwähnt.

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druckfrisch vom 02. November 2008, anlässlich Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten38 Ein ›interviewfeindlicherer‹ Interviewbeginn findet sich Ende 2008 im Kontext zu Krachts soeben erschienenem Roman Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten: Drei Dinge, Scheck zählt mit, seien es, die die Schweiz laut Roman ausmache: »ein Jude, eine Frau und ein Schwarzer« [df 2008: 01:19ff.]. »Und ein Zwerg« [df 2008: 01:27] unterminiert Kracht Frage und Interviewkonvention zugleich, bleibt damit die Antwort zunächst schuldig und flüchtet sich durch Einsilbigkeit ins formgewandte Verschweigen. Seine dabei auf dem Rücken zusammengeführten Hände, die seiner Erscheinung eine nahezu militärische Note verleihen und die sonst offene, zugewandte Mimik Krachts konterkarieren, könnte man als körpersprachliches Sinnbild für diejenige Strategie lesen, die sich als übergeordnete ausmachen lässt. Ob er tatsächlich etwas verheimlicht oder nicht: Kracht erweckt permanent den Anschein, mit etwas ›hinterm Berg‹ zu halten, eher lieber zu wenig als zu viel preiszugeben, und sei es unter Inkaufnahme einer Abfuhrerteilung. Mit der die Sendung einleitenden Hymne Here’s to You sowie dem Setting in den Katakomben war kurz zuvor der Versuch unternommen worden, eine vielschichtige, bedeutungsschwangere Verbindung zu Romantext und Autor herzustellen, die Schecks selbstgefällig einführenden Worte untermauern sollte. Ähnlich des TV-Auftritts von 2012 wird im weiteren Verlauf allerdings nicht in dem Sinn über das Buch gesprochen, wie der Zuschauer es von einem Büchermagazin im Allgemeinen und nach diesem Intro im Speziellen erwarten würde. Mit spielerisch leichter Blockierung nimmt Kracht dem Interviewpartner allenthalben den Wind aus den Segeln, für sich und das Publikum ›Insiderwissen‹ in Erfahrung zu bringen; er lässt Scheck immer wieder auflaufen. Beherrscht, relativ emotionslos steht Kracht für die Dauer des gesamten Interviews stoisch da; es ist der vergleichsweise ›glatteste‹ Kracht, gestyled und sonnengebräunt, den man zu sehen bekommt (vgl. Abbildung 2). Ein permanent zustimmendes Nicken muss die Funktion übernehmen, prinzipielles Wohlwollen zu signalisieren, die Antwortfreudigkeit tut dies nämlich nicht. Aussagen zum Plot bindet Kracht stets an die Realität zurück, wiederholt lange Passagen Schecks wortwörtlich oder pickt sich – rhetorisch geschult – nur diejenigen Schnipsel aus den Fragen heraus, die unverfänglich beantwortet werden können. Hier ein Auszug maximalmöglicher Wortkargheit [df 2008: 04:35ff.]:

38 Das Video (www.youtube.com/watch?v=p9qy1HlmPJw) wird im Folgenden mit der Sigle [df 2008] zitiert.

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»Scheck: ›Ist die ganze Moderne ein Irrtum?‹ – Kracht: ›Ähhh, ja!‹ Scheck: ›Technik?‹ – Kracht: ›Äh, Technik – äh, gut!‹«

Auch bei Schmidt beantwortete Kracht analog dazu dessen Fragen kurz und bündig mit ›ja, ja, ja‹, allerdings enthusiastischer und – sich auf Schmidt einlassend – deutlich eher selbst auf eine Pointe bedacht (vgl. Karnatz 2014: 272) als in druckfrisch. Indem das syntaktische Konstrukt 2001 einige Sekunden bestehen blieb, war Berlin von Schmidt als die »grässlichste«, »schrecklichste«, »entsetzlichste«, »widerwärtigste«, »ekelerregendste« aller Städte attribuiert worden [HSS: 06:11-06:21]. In Form einer Klimax bedachte Kracht jeden Vorschlag mit immer emphatischeren ›Jas‹. Bei Scheck (2008) sind nur noch die ›Jas‹ geblieben – alles ›Laute‹ wurde getilgt. Der Auftritt lässt sich als Etappe, als informationsverweigernder Zwischenstopp auf dem Weg von der desinformierenden Distanz bzw. ironischen Apodiktik (2001) zur kompletten Kommunikationsverweigerung (2012) klassifizieren. druckfrisch vom 25. März 2012, anlässlich Imperium39 Der Fächer an für die Selbst-Inszenesetzung Krachts relevanten Verhaltensweisen als Gast in druckfrisch im Frühjahr 2012 lässt sich in etwa wie folgt paraphrasieren: Kracht kokettiert mit der übertriebenen Selbstsorge beim Haare richten und dem Posieren vor der Kamera [df 2012: 00:22-00:31], trägt casual wear, dazu Dreitagebart, präsentiert sich in höchst kontrollierter, zugleich distanzierter Haltung, die sich im überaus aufrechten Gang und selbst auf dem Fahrrad geraden Rücken äußert, legt etwas hölzerne Bewegungen an den Tag, die eine gewisse Unsicherheit suggerieren könnten, lässt als häufigste Aussage im nichtfachlichen Gespräch regelmäßig: »jaja« oder »neinnein« vernehmen und paart insgesamt Bescheidenheit mit letzten Anflügen von Arroganz und einem freundlichen, zurückhaltenden Lächeln. Auf die Frage Denis Schecks, was ihn an der »historisch verbürgten Romanfigur, August Englhardt, der den Kokovorismus erfand […], gereizt« [df 2012: 01:35ff.] habe, lässt Kracht vage und sonor verlauten, neben dem »Gesamtpanorama«, der »Südsee« und dem »pazifischen Raum« – ein ohnehin schon ausweichendes Statement – seien dies »das Meer und der Sand« [df 2012: 01:4902:04]. Der Interviewer und mit ihm der Zuschauer könnte sich für nicht ganz

39 Das

Video

(www.ardmediathek.de/tv/Druckfrisch/Denis-Scheck-spricht-mit-Chris

tian-Krach/Das-Erste/Video-Podcast?documentId=16176408&bcastId=339944) wird im Folgenden mit der Sigle [df 2012] zitiert.

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ernstgenommen halten, wie es exemplarisch auch das vorangestellte Motto desjenigen YouTube-Nutzers nahelegt, der den Dislike-Button betätigt hatte. In jedem Fall handelt es sich um eine formatspezifisch unbefriedigende Antwort und verbürgt für die künftige Kommunikation nicht unbedingt Präzision und Plauderlaune. Die aller Wahrscheinlichkeit nach als Analepse in die ›schrillere‹ Pop-Vergangenheit gemeinte Anspielung auf Krachts Dasein als Markenmensch und Werbeträger (vgl. Abbildung 1) wirkt in diesem Setting deplaziert und ›angestrengt‹; der Mann, der da etwas linkisch neben Scheck radfährt, des ›unkonventionellen‹ Sendekonzepts halber radfahren muss, ist ganz offensichtlich nicht mehr der, der er mal war. Bereits 2008 distanzierte sich Kracht expressis verbis: »Aber ich fühle mich […] zu alt, um Konsumgüter und Markennamen in meinen Büchern zu erwähnen. […] Zuerst dachte ich, eine leichte Verneigung vor dem medialen Konstrukt der Popliteratur hineinschreiben zu wollen, ein letztes Aufbäumen durch die Erwähnung der Parisienne-Zigarette, aber was soll’s? Ich habe es zum Glück herausgestrichen« (Mocek 2008).

Auf seiner langen Suche nach Möglichkeiten, den Massenmedien zu begegnen, hat sich Kracht mittlerweile abgewendet von seiner inszenierten ›Kritik durch Konsum‹ als ›Popschnösel‹. An die Stelle von Arroganz ist höfliche Diskretion getreten – Kracht signalisiert verbal wie nonverbal, wann man es als Interviewer mit einer neuen Frage versuchen darf, aber auch, wann nichts Substanzielles mehr zu erwarten ist: »Das ist eine schöne Frage, die ich überhaupt nicht beantworten kann – ähh, i don’t know« lautet seine Replik auf Schecks tiefschürfenden Versuch, in Erfahrung zu bringen, warum es Diskriminierung, Mord und Totschlag in der Welt gebe [df 2012: 07:16-07:35]. Die Klaviatur der Kommunikationsverweigerung reicht dabei von absichtlichem Nichtverstehen und gespielter Verblüffung [df 2012: 09:20-09:36] über häufige Reformulierungen bis hin zu Einwortsätzen. Den Refus als Strategie aufrecht zu erhalten, scheint Kracht einiges abzuverlangen: Emotionen müssen merklich unterdrückt werden [df 2012: 04:33f.]; gelegentlich auch übertüncht von übertriebener Ernsthaftigkeit oder inszenierter Ahnungslosigkeit.

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Abbildung 2: Die Ironie verblasst und weicht der Verweigerung

Quelle: daserste.de und YouTube.de

Diesen kurzen Einzelbeschreibungen liegt eine Ästhetik des Verblassens (chronologisch), des Blass-Bleibens (vgl. II.2), eine Strategie des Refus zugrunde, wie es im Folgenden noch deutlicher in den Vordergrund rücken wird. Und obwohl es eine Binsenweisheit ist, in letzter Konsequenz ›nicht nicht kommunizieren‹ (Watzlawick) zu können, handelt es sich um eine inszenatorische Spielart der kalkulierten Informations- bzw. Kommunikationsverweigerung, Kommunikationsvermeidungskommunikation, wenn man so möchte.

II.2 Protektives Impression Management und habituell-performative Aspekte Als Inszenierungspraktik blickt der Refus – also das Vorenthalten, das vorsichtige Ablehnen, die Verwehrung – auf eine lange Ahnengalerie menschlichen Verhaltens. Zurückgreifend auf neuere sozialpsychologische Forschung kann man ihn umtaufen und dergleichen refüsierendes Verhalten protektives Impression Management nennen. Wobei die Besonderheit des protektiven Selbstdarstellungsstils wie gesagt nicht darin liegt, aktiv ›gut dastehen zu wollen‹, wie es über die ›assertiven‹ Mechanismen Eigenwerbung, Stärkezeigen, Schmeichelei etc. (vgl. Schütz 1998: 614f.) geschehen könnte, sondern lediglich ›nicht schlecht‹. Das zentrale Alleinstellungsmerkmal der Strategie lautet: passives Nicht-auffallen-Wollen: »People engaging in protective self-presentation often avoid situations that could be embarrassing or humiliating and thus forgo certain opportunities to convey favorable impressions and enhance their self-esteem (Schlenker, 1987). They try not to stand out and do not engage in risky positive self-presentation (Baumeister et al., 1989). Typically, they also limit interactions and behave pleasantly when interaction is necessary (Arkin, 1981).« (Schütz 1998: 617)

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Eigentlich ein offener Affront gegen die vom Format einkalkulierte und den Fernsehpräsentationen zumal der Popliteraten üblicherweise nachgesagte Vorgehensweise. Und trotzdem lassen sich die von Schütz unter die protektive Taktik subsumierten Techniken in unzähligen Interview-Samples identifizieren und wie ein ›Handbuch‹ zu Krachts Inszenierungspraktiken lesen. Allesamt sind sie bereits bei Schmidt angelegt, gelangen aber erst schrittweise zur vollen Entfaltung. Die weitgehende Nicht-Präsenz Krachts in den audiovisuellen Medien ist zuvorderst anzuführen, wenn es darum geht, die öffentliche Aufmerksamkeit mit dem Ziel zu meiden, gar nicht erst eine kritisierbare Darbietung zur Disposition zu stellen.40 Sein wenig eklatantes In-Erscheinung-Treten in denjenigen Fällen, in denen er sich tatsächlich dem Blick der Öffentlichkeit aussetzt, rundet die Einschätzung ab, seine die Studiobühne kalkuliert scheuende Strategie arbeite mit dem Prinzip der Aufmerksamkeitsvermeidung. Als Variante lässt sich auch die Tendenz beobachten, soziale Interaktionen zu minimieren.41 Für das ZeitInterview zur Kathmandu Library42 war Kracht nicht zu haben, wohingegen Eckhart Nickel vor Mitteilungsdrang nur so strotzt (vgl. Flamm 2013). Für den Fall, dass er tatsächlich selbstbezogen Stellung zu beziehen sich veranlasst sieht, so sucht man Selbstenthüllungen bei Kracht vergeblich: Auf seine Person angesprochen und zugleich genötigt, etwas zu sagen, wird er wortarm: »einfach nur so« sei er nach Argentinien gezogen; »aus mir noch nicht weiter erfindlichen Gründen« [df 2008: 05:48ff.]. Noch sinnfälliger findet sich seine protektive Strategie der minimalen Selbstoffenbarung am Beispiel zweier Fragen nach Krachts schulischer Vergangenheit.43 Ob Krachts andeutungshafter Verschlossenheit muss Denis Scheck sogar direkt mit einer zweiten Frage nachlegen, da die erste, offenbar als Aufforderung zur weiteren Ausführung intendierte – »Sie gingen ja in Amerika auch unter anderem auch zur Schule?« –, statt mit einer anekdotischen Selbstoffenbarung nur schlicht-affirmativ mit »stimmt« beantwortet wird [df 2012: 05:10ff.]. Bei Schmidt hingegen war die Bereitschaft zur Selbstpreisgabe noch anders geartet: Die Anekdote, wie er angeblich vom damaligen Chefredakteur der BZ, Franz Josef Wagner, auf seine Aussage hin, er könne »nicht auf Klopapier schreiben«, gewürgt worden sei [HSS: 04:36-05:37], bedient zumindest die Erwartungshaltung, die man an eine Smalltalk-Selbstaus-

40 »Avoiding public attention.« (Schütz 1998: 617) 41 »Minimizing social interaction.« (Ebd.: 617f.) 42 »Zwei Jahre lang lebten die Autoren Eckhart Nickel und Christian Kracht in Nepal und kauften täglich gebrauchte Bücher anderer Reisender.« (Flamm 2013) 43 »Minimal self-disclosure.« (Schütz 1998: 617)

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kunft richtet. Allerdings herrschen auch 2001 bereits die verschleiernden und verschweigenden Praktiken: Gefragt, ob Kracht ein »nächstes Buch in Arbeit« habe [HSS: 06:57ff.], entgegnet dieser: »Nein, noch nicht, aber äähm, nee, eigentlich nee, gar nich«. Obwohl noch geneigt, selbstpreisgebend zu antworten, versteckt er sich zusehends hinter abwiegelnden Worten. Seine zurückhaltenden Selbstbeschreibungen stechen in allen drei Auftritten ins Auge.44 Nach dem ›offiziellen‹ Interview mit Scheck selbststilisiert er sich als »so nervös« [df 2012: 11:20ff.] gewesen und lässt sich nach diesem self-handicapping (vgl. Schütz 1998: 617) vom großväterlichen Scheck mit dessen Worten aufrichten: »weniger als beim ersten Mal« (2008). Bei Schmidt entgleitet ihm ein doppeldeutiges »Danke«, welches er para- und nonverbal in der Schwebe zwischen protektiver Devotion – schließlich untertreibt er bereits, indem er die Tatsache, dass sein Buch den 11. September 2001 vorweggenommen habe, als lediglich »komisch« bezeichnet – und wortwörtlich herabblickender Geringschätzung zu halten weiß. Höchstwahrscheinlich allerdings – und das ist das entscheidende – zeitigt es protektive Wirkung: Nur schwerlich wird sich jemand dieses Lobs in Zukunft als eines erinnern, das er für sich selbst in Anspruch genommen hätte, kaum jemand es als ›echtes‹, sondern als selbstironisches verbuchen. Auch eine Schecksche Steilvorlage zum Selbstlob schlägt Kracht bedingungslos aus, wenn er sich vordergründig mit dem Statement, er sei »völlig ahnungslos«, selbst (fraglos vorhandene) Kompetenzen abspricht und einmal mehr der Aufforderung zu hohlen Worten einen Korb gibt. Ebenfalls bei Schmidt macht sich Kracht wortwörtlich kleiner als er ist, dadurch dass er nicht nur Franz Josef Wagner als »sehr groß und muskulös und stark« [HSS: 05:28ff.] beschreibt, sondern auch in Richtung Schmidt hinzusetzt: »noch größer als Sie«. Nicht nur verbal, sondern insbesondere auch auf den performativ-habituellen Kanälen inszeniert er sich schüchtern-protektiv (vgl. Abbildung 3), etwa indem er in vollends schützender und Schuld von sich weisender Manier auf eine vermutete Unterstellung Schecks reagiert [df 2012: 06:36-06:48]. So kurz, so banal: Wenn man nicht viel sagt, sagt man auch nicht viel Falsches – eine Komponente der protektiven Eindruckssteuerung umfasst also das Schweigen.45 Dieses kommunikative Machtinstrument des Nichtssagens lässt sich in besonders amüsanter Ausgestaltung im bereits (unter II.1) transkribierten Auszug, ob die Moderne ein Irrtum sei [df 2008: 04:35ff.], beobachten. Der Interviewer selbst spiegelt dort die Einsilbigkeit Krachts – wie ehedem Kracht diejenige Schmidts – und beugt sich damit der oktroyierten Unausführlichkeit:

44 »Cautious self-description.« (Ebd.) 45 »Remaining silent.« (Ebd.: 618)

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Scheck wirkt beinahe konditioniert. Schweigsam gibt sich Kracht außerdem im Interview »Wir tragen Größe 46« (Philippi/Schmidt 1999). Abgesehen vom krassen Missverhältnis der Redebeiträge – auf der ersten Seite der Onlineausgabe entfallen zwölf Zeilen auf den Interviewer, achtzehn auf Stuckrad-Barre und lediglich fünf auf Kracht – findet sich ein Zeugnis sehr beredten Schweigens. Nach dem Doppelpunkt hinter dem Autornamen »Kracht« folgt: nichts. (Ebd.) Als letzte Nuance des protektiven Impression Managements nach Schütz ist die passive, aber freundliche Interaktion zu nennen.46 Schmidts und Schecks Ausführungen werden nie in Frage gestellt. Ganz im Gegenteil: Kracht wendet sich sogar ›untertänig‹ mit der Frage nach einer korrekten Formulierung an Scheck, an den er dadurch ostentativ die Deutungshoheit delegiert: »Kann man das so sagen?« ist die Floskel, die Autorität antwortet – wenngleich zögerlich ob der zwar stets gespielten aber nie explizierten Rolle als ›Besserwisser‹ – »Ja klar« [df 2012: 08:18-08:25]. Als Gebot der inszenierten Höflichkeit wird allenthalben Zustimmung gewährt, was nur in einem einzigen Fall von Schmidt dekuvriert wird: »Finden Sie so etwas [nicht altern wollende Stars; N.L.] abstoßend?« lautet eine nebensächliche Frage im Gespräch, die Kracht – gestisch, mimisch und prosodisch pathetisiert – mit langgezogenem »Nein!« quittiert. Der Platzhirsch und toughe Talkmaster setzt nach: »Eigentlich schon, aber Sie geben es jetzt nicht zu – – ja?« Kracht: »Mhh, jaa, das stimmt.« [HSS: 01:48-01:57] Damit grenzt die verbale Kommunikation schon fast an inhaltliche Kommunikationsverweigerung qua Harmoniezwang. Hinter passiver, aber höflicher Fassade verbirgt sich Kracht allerdings auch dann, wenn es ums Ganze geht, sprich: wenn er sich nach der Diez-Debatte (vgl. Diez 2012) um rechtes Gedankengut in Imperium mit der als Feststellung getarnten Frage Schecks konfrontiert sieht, die Hauptfigur »an einer Stelle mal mit einem anderen gescheiterten Künstler, der besser bei seiner Staffelei geblieben wäre, parallel [geführt habe]: mit Adolf Hitler.« Die nonchalante Replik: »Das stimmt.« [df 2012: 03:51-04:02] Ohne sich zum Körpersprachexperten aufschwingen zu müssen, legt die non- und paraverbal hochfrequente Kombination aus Blickrichtung, Minenspiel, Bartstreichen, Händereiben, Positionswechseln, Gesichtsmuskelzucken, Augenaufreißen und Fußwippen, die sein verbales Beipflichten merkwürdig konterkariert, in dieser Interviewsituation die Konstruktion von Fluchtreflex und Falschaussage nahe. In puncto Blickregie ist desgleichen bei Schmidt der leicht verschämte Blick der Regelfall, erinnert das ausweichende Niederschlagen der Augen an eine merkwürdige Hybridität von Hybris und Geniertsein.

46 »Passive but friendly interaction.« (Ebd.)

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Abbildung 3: Kracht: provokativ? Protektiv!

Quelle: spiegel.de

II.3 »Kommen Sie sich manchmal vor wie ein Ovid im augusteischen Zeitalter?« – »Ich komme mir manchmal vor wie ein Amerikaner, im, äh, äh, im – ja, äh, doch.« Christian Kracht und die Aposiopese Ein Gesichtspunkt, der sich nicht explizit in Schütz’ Taxonomie wiederfinden lässt, aber vielleicht sogar eine gewisse Quintessenz der fünf genannten Aspekte bildet, soll als Abschluss der Arbeit am Material angeführt werden: Kracht und die Aposiopese. Rhetorische Figur und Denkfigur zur Beschreibung der Inszenierungspraktiken Christian Krachts zugleich, bietet sie, die Aposiopese, effektvolle Wirkung bei minimaler Effekthascherei.47 Im alltäglichen Sprachgebrauch versteht man darunter näherungsweise den »bewusste[n] Abbruch der Rede oder 47 Kracht selbst hat sich in dieser ästhetisierten Eigenart mit der Figur Mynheer Pieter Peeperkorn aus Thomas Manns Zauberberg verglichen (vgl. Heger 2010: 174).

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eines begonnenen Gedankens vor der entscheidenden Aussage«.48 Dabei wird »der letzte Teil durch eine Pause ersetzt«.49 Dafür lassen sich verschiedene Gründe benennen: »Der Abbruch kann z.B. emotionale Überwältigung […] oder eine unausgesprochene Drohung zum Ausdruck bringen. Manchmal kann man auch den Faden verloren haben, oder nach einem Wort suchen. Dann ist es eine Aufforderung zur Hilfe. Oft ist es auch ein Abbruch, der auf gemeinsames Wissen und die Unnötigkeit der Fortsetzung des Satzes hinweisen soll. Der Dialogpartner soll den Satz in Gedanken oder laut ergänzen.«

50

All dies scheint bei der Kommunikation Krachts nie in Reinform der Fall zu sein. Vielmehr entdeckt er die Aposiopese für sich und zweckentfremdet sie für seine protektive Strategie, nichts preisgeben zu müssen, nichts Verfängliches, nichts Falsches zu sagen. In den Worten von Schütz: Wenn man sich der Kommunikation verweigert, hinterlässt man – wenn schon keinen guten – wenigstens keinen schlechten Eindruck. In der zitierten Frage Schecks, ob Kracht sich »wie ein Ovid im augusteischen Zeitalter« [df 2012: 05:00ff.] empfinde, versteckt sich eine höchst delikate und gleichermaßen private Angelegenheit, zielt sie doch darauf, ob Kracht sich – insbesondere nach der Unterstellung rechtsgerichteter Tendenzen von Autor und Werk – seitens der Medienwelt missverstanden und à la Ovid ›verbannt‹ fühle. Dass Kracht – entgegen seiner sonstigen Attitüde – wie aus der Pistole geschossen repliziert, lässt zwei Schlüsse zu. Entweder reizt ihn die Frage, wiewohl in der ›unliebsameren‹ druckfrisch-Umgebung geäußert, als intelligente und persönliche erstmals und er vergisst den Refus für kurze Zeit, bis er sich aposiopetisch wieder besinnt. Damit hielte er es wie Ovid selbst, der in seinen »zahlreichen, aber stets verschleierten Äußerungen« (Schmitzer 1994) als Gründe für Augustus’ Bannspruch angibt: »carmen et error« – »ein Gedicht und Irrtum« (ebd.). Oder aber es handelt sich um die bereits angerissene Tendenz, die eigenen Sätze mit Versatzstücken aus dem Mund des Interviewers zu beginnen und den gedanklichen Anstoß erst allmählich beim Reden zu verfertigen – oder eben nicht. In diesem Fall wäre die ultimative Frage, was die Gleichung ›Ein Amerikaner im ?-Zeitalter‹ exakt hätte aufgehen lassen, ohnehin eine falsch gestellte, da es schlicht keine Antwort darauf gibt. Der Dialogpartner denke sich bitte seinen Teil. Das für eine Interviewsituation, die im Fernsehen im Rahmen eines Literaturmagazins gesendet wird, besonders Per-

48 www.duden.de/rechtschreibung/Aposiopese 49 de.wikipedia.org/wiki/Aposiopese 50 Ebd.

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fide daran: Als unbedarfter Rezipient wäre man schlechterdings überhaupt nicht in der Lage, diese Inferenz zu leisten! Selbst wenn der Zuschauer Scheck (bei Variante zwei: fälschlicherweise) zutraute, das geteilte Wissen stumm zu ergänzen – er selbst würde sich im Endeffekt beidenfalls auf gut Deutsch ›verarscht‹ vorkommen.

III »Zurückhaltung, / Sich-in-den-Kegel-des-Lichts-Wagen / und trotzdem nichts sagen.« Der Refus als popkulturelle Ästhetik des Verblassens Insbesondere in den ausgewählten Video-Snippets wirken die Ausprägungen der protektiven Selbstpräsentation wie der insgeheim zugrunde liegende ›Metaplan‹: Verweigerung sowie Zurückhaltung gepaart mit freundlicher, aber passiver Zustimmung bilden die Formel der Kracht-Kommunikation.51 Mittels dieser Praktiken, die an vielen Stellen das Konzept eines Interviews aushöhlen und den Interviewer mitunter in Verlegenheit bringen, sowie seiner aposiopetischen Versagung zelebriert Kracht den Refus. Chronologisch betrachtet lassen sich dabei drei Selbstdarstellungsstile unterscheiden: Ein früher, der sich mit »Vortäuschen, verstecken, Unsinn erzählen« (Amend/Lebert 2000)52 umschreiben lässt, den Plauderton der Uneigentlichkeit aus Krachts Print-Interviews aufgreift und sich beim Auftritt in der Harald Schmidt Show ausmachen lässt. Der popkulturellen Schattierung des medialen Rummels um (Pop-)Autoren bewusst, werden (ungefragt) Anekdoten ausgepackt, Nonsens erzählt usw. Eine gewisse Interaktionsbereitschaft ist zu erkennen, die formatierte Gesprächssituation wird als Bühne für gezielte Desinformation, »Verstellung, Dissimulation und Ästhetisierung der Kommunikation« (Rauen 2010: 124) ausgekostet. Damit trifft Kracht den Ton seiner ehemaligen Kollegen und fügt sich der Medienmaschine einstweilen, macht sich allerdings hochironisch-distanziert mit ins Komische kippenden Untertönen un(an)greifbar. Ein späterer, welcher die Form des Interviews nur noch als leeren Rahmen nutzt, wahrt zwar durch die Beantwortung einzelner Fragen den Schein der Kommunikativität, bleibt aber letztlich nichtssagend unverbindlich: alles unter Vorbehalt. Nicht die über alles hinwegredende und abqualifizierende Überheblichkeit eines postmodernen Dandys ist mehr am Werk, nicht die

51 Mit Schütz (1998: 620) muss eingeräumt werden, dass es kaum möglich sei, einer Person nur einen speziellen Inszenierungsstil zuzuordnen; bestimmte »habitual trends« einer Person ließen sich allerdings ausmachen. 52 Zit. n. Rauen (2010: 124).

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letztgültige Fixierung von Geschmacksurteilen und Lifestyleaxiomen sind Anspruch – interessant bleibt es eben nur angedeutet, im »Spiel der Uneindeutigkeit, der Flüchtigkeit vor dem Konkreten« (Weidermann 2012). Und schließlich ein dritter: die Verweigerungshaltung durch und durch. Nicht mehr durch Ironie oder Informationsminimierung wird hintertrieben, sondern durch fehlende Aussagebereitschaft, Satzabbrüche, extreme Wortkargheit.53 Das Dritte des Vergleichs findet sich in der Überzeugung, dass ein (zumal gestelltes) Gespräch kein befriedigendes Setting ist, um Informationen zu vermitteln. Gespräche eigneten sich nicht, um sich zu verstehen, sondern um aneinander vorbeizureden, sagt Kracht: »Das Sprechen über Inhalte ist zum Scheitern verurteilt. Man produziert immer nur Missverständnisse.« (Amend/Lebert 2000)54 Die Konsequenz, die er – allem medialen Anschein nach – für sein TVAlter-Ego daraus zieht, und zwar in progressiver Radikalität, ist eine Ästhetik des Verblassens. Ihr eignet das Grundprinzip, die Deutungsoffenheit als notwendige Leerstelle des Sinngebungsprozesses aufrechtzuerhalten – notfalls auch mit dem Holzhammer der Kommunikationsverweigerung. Beobachten und belegen lässt sich das zum einen an den untersuchten TV-Auftritten. Doch auch darüber hinaus finden sich in der zeitgenössischen Popkultur Sammelstätten dieser ästhetischen Inszenierungsvariante, die nun abschließend collagiert werden, wobei über den ›Einzelfall‹ Kracht tentativ hinausgegriffen wird.55 Conter (2009: 24) hält hinsichtlich Krachts fest: »Das Verschwinden ist in allen Fällen ein transitorischer Prozess, in dem etwas Vorhandenes in einen neuen Zustand übergeht, an dessen Ende jedoch weder das Verschwundene noch das im Verschwinden neu Entstehende sichtbar werden. Genau diese Vorstellung kann als Großmetapher zur Umschreibung von Krachts Ästhetik verstanden werden.« Und zwar nicht nur der Text-Ästhetik, sondern auch der medialen Selbstdarstellungspraktik im Real Life. Dabei diktiert das selbst- wie fremdinszenierte und als Erwartungsnorm tradierte Idealbild eines Popakteurs doch etwas anderes: »Ständige Veränderung! So lautet der Imperativ der Gegenwart. Die klügere Option des Abwartens wird ausgeblendet. […] Nicht-Handeln ist die mit Abstand erfolgreichste Stra-

53 Ein bübisches Lächeln der Uneigentlichkeit umspielt freilich weiterhin die Mundwinkel auch dieser Form. 54 Zit. n. Rauen (2010: 124). 55 Daher werden Doppelungen, die sich sowohl in II als auch in III finden, nicht nur billigend in Kauf genommen, sondern bewusst belassen, um die Tragweite dieser popästhetischen Inszenierungsstrategie zu illustrieren.

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tegie: ob an der Börse […], in der Politik […] oder in der Kommunikation, wo Schweigen 56

die mächtigste Waffe ist.«

Holm Friebe, ehemals MTV-Autor, nunmehr Zentrale-Intelligenz-Agentur-Stratege,57 setze damit in der Stein-Strategie – Von der Kunst, nicht zu handeln (2013) laut Tobias Becker »[d]em herrschenden Ideal des charismatischen Machers […] das des postheroischen Managers entgegen.« Dieser »hat verstanden, dass die Steuerbarkeit komplexer sozialer Systeme gemeinhin überschätzt wird. Sie mögen es nicht, wenn an ihnen herumgebastelt wird. Der postheroische Manager regiert mit ruhiger Hand und vertraut darauf, dass Systeme schon wissen, was sie tun und was gut für sie ist.« Kurz: »Die zweite Maus bekommt den Käse.« (Becker 2013) Gewendet auf den ›Postheroen‹ Kracht sind damit keine wichtigtuerischen oder gewagten Impression-Management-Strategien mehr en vogue, sowohl Ironie als auch Prätention sind abgetragen, ›rechnen‹ sich nicht mehr. In diesem Sinne sagt die kompilierte These, die abseits der monolithischen Blöcke Komik, Ironie, Provokation, Dandytum Sinn sucht,58 dass diese Form der Eindruckssteuerung (nicht nur Krachts) ein der Großspurigkeit, Selbstüberschätzung und dem Geltungsdrang anderer ›Medienjongleure‹ (vgl. Fischer 2007) bewusst entgegengesetztes Instrument der (inszenierten) Bescheidung, der SelbstZurücknahme, des selbstauferlegten Passivitätsgestus sei. Vielleicht zu benennen mit: »Flucht vor der Ironie« (Weidermann 2012).59 Sehr wahrscheinlich mit: Zurückziehen-ins-Vage, Nichts-Sagen-Wollen und Nicht-immer-was-sagen-Müssen als popästhetische Parolen – Aposiopese. »Kann sein, dass er das einmal selbst über sich geschrieben hat: ›Seine Art zu sprechen, schüchtern und arrogant zugleich zu sein, dabei möglichst wenig preiszugeben, all das lässt ihn so irreal erscheinen wie eine Hauswand aus Tau.‹« (Weidermann 2012)

Volker Weidermann bilanziert 2012 in der FAZ: »Christian Kracht ist nicht zu fassen« (ebd.). Wie schafft er das? Indem er die Taktik des protektiven Impres-

56 So der Klappentext von Friebes Stein-Strategie: www.hanser-literaturverlage.de/bue cher/buch.html?isbn=978-3-446-43677-0 57 Vgl. www.holmfriebe.de/biografie/ 58 Obwohl fraglos einige Körnchen von alledem als Ingredienzien in Krachts Texten sowohl als auch in seinen Inszenierungspraktiken stecken. 59 Vgl. zum Verhältnis von Pop und Ironie Rauen (2010).

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sion Managements und deren inszenierungspraktische Techniken progressiv perfektioniert hat: »Adopting this self-presentational style, one risks leaving only a faint impression, being considered uninteresting or unimportant, or even being totally overlooked.« (Schütz 1998: 621)

»A faint impression« – lichtschwach, blass, leise, undeutlich. Genau. Warum? Weidermann referiert folgende Erklärung: »Ingo Niermann betreibt seit Jahren ein Projekt. Er will im Osten Deutschlands eine riesige Pyramide errichten, in der sich Menschen – als Teil eines gigantischen Kunstwerks – bestatten lassen können. Kracht unterstützte am Anfang begeistert das Projekt. Doch als aus der bloßen Idee plötzlich Wirklichkeit zu werden drohte, zog er sich zurück. Und Niermann weiß auch, warum: ›Das Projekt wurde ihm zu eindeutig.‹« (Weidermann 2012) Damit ist Niermann der aufmerksamkeitsscheuenden, konsequenzfürchtenden Strategie Krachts hart auf der Spur: Die Bemühung, Dinge in der Schwebe zu halten, zu zögern, Fragen auszusitzen, ausweichend zu antworten, zu schweigen machen Krachts Selbst-Inszenierung in der jüngsten Vergangenheit aus; nicht popästhetische Oberflächlichkeit, die ab und zu als Signum der und Vorwurf an Popkultur per se in Anschlag gebracht wird.60 Das mag vom Standpunkt manches Betrachters aus eventuell auf das Gleiche hinauslaufen, ist es aber nicht. Johannes Schüller (2010: 33) bringt diesen Gedanken auf folgenden Nenner und damit auf den Punkt: »Kracht nähert sich der Bestimmung radikaler Abkehr an, die Rainald Goetz vornahm: ›Das Gespräch gilt es zu meiden. Denn das Gespräch macht dumm.‹« Unabhängig davon, ob die ausgefaltete These für den Inszenierungsstrategen Kracht in allen Punkten trägt – es handelt sich wie gesagt um eine jüngst auch in anderen popkulturellen Kreisen61 mit frappierender Übereinstimmung immer wieder diskutierte, erprobte, geschätzte Strategie, die in ihrer der Medien- und Konsumgesellschaft zuwiderlaufenden Stoßrichtung durchaus mit subversivem Potenzial bestückt ist: nämlich um Refus aus Kalkül, getragen von der Vermeidung (inhaltsbezogener) Kommunikation überhaupt, wodurch keine klare Fixie-

60 Vgl. Broder/Mohr (1999), Martenstein (2004) u.a. 61 Etwa auch thematisiert im Text der Kölner Rapformation Retrogott und Hulk Hodn (ehemals: Huss & Hodn) »[Die Wahrheit] lehrt mich die Sitten / des Universums: Zurückhaltung, / Sich-in-den-Kegel-des-Lichts-Wagen / und trotzdem nichts sagen. / Das sind meine mentalen Pilgerstätten.« (Der Stoff, aus dem die Regenschirme sind, 2009).

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rung im literarischen Feld mehr zugelassen und mithin eine traditionelle Autorenkonzept-Vorstellung obsolet wird:62 »Auf das Konzept von Autorschaft übertragen bedeutet eine solche ›Beduinisierung‹, dass auch die physische Existenz und damit verbunden auch der marktbezogene Ort (›Sitzplatz‹) des Autors/der Autorin vollständig in den Hintergrund treten« (Künzel 2007: 22). Christian Krachts Ästhetik des Verblassens (chronologisch) bzw. BlassBleibens (systematisch) vollzieht sich temporal-schrittweise: Er verbirgt sich im audiovisuellen Medium erst hinter ironischer Distanz, dann hinter leeren Worten, dann hinter Schweigen. Dadurch wird er »nicht identifizierbar, nicht festlegbar in seinem So-sein, hat Raum, sich permanent neu zu erfinden oder ganz hinter und in seinen Texten sowie deren Verweis- und Zitatcharakter zu verschwinden.« (Kleiner 2013: 17) So führt Kracht exemplarisch den eindrucksstarken Beweis, wie man auch als Person des öffentlichen Interesses der Unterhaltungsmaschinerie des Format-Fernsehens, die (verbale) exhibitionistische Selbstentblößungen erzwingen möchte (um rentabel zu sein: erzwingen muss), den giftigen Zahn zieht und gerade vermittels einer weniger skandalös wirksamen eindruckssteuernden Selbstinszenierung Wirkmacht zurückkauft.63 Über die Stationen Desinformation (2001), Informationsverweigerung (2008), Kommunikationsverweigerung (2012) entgleitet die Autorfigur Kracht und entzieht sich der Öffentlichkeit, wie sie dem Format ›Autorinterview‹ damit sukzessive die Daseinsberechtigung entzieht. »Gebe Daumen runter« ist eine mögliche Rezipienten-Reaktion darauf. Allerdings verdeutlicht sie letztlich nur, dass ganz offenkundig kommunikativer Sand seitens der Akteure ins medial reibungslose Fernsehgetriebe gestreut werden kann, gerade wenn man sich in den Kegel des Lichts wagt und trotzdem nichts sagt. Im Sinne eines bestmöglichen Pop bietet sich daher diese Lesart an: als deutliches Votum gegen die Autoren-Typus-SchubladenVorstellung, gegen die Formatschablonisierung, gegen die Zuschauerkonfektionierung, gegen dumme Gespräche und leeres Geschwätz, gegen pseudobildungsbürgerliches Fernsehen. Zwar stehen die Maschinen der Kulturindustrie niemals still, aber sie knirschen gewaltig.

62 Vgl. dazu auch Jürgensen/Kaiser (2014). 63 Vgl. zu einer abweichenden und also weniger optimistischen Einschätzung den Beitrag von Peter Seibert in diesem Band.

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Abbildungen Abbildung 1: Kracht und Stuckrad-Barre fahren Rad für P&C, Quelle: www.ari ci-consulting.com/22/benjamin-von-stuckrad-barre-christian-kracht-autorenmehmet-arici/ Abbildung 2: Die Ironie verblasst und weicht der Verweigerung, Quellen: www.daserste.de/information/wissen-kultur/druckfrisch/videos/imperiumvon-christian-kracht-102.html; www.youtube.com/watch?v=p9qy1HlmPJw; www.youtube.com/watch?v=cjewDAQdoB0 Abbildung 3: Kracht: provokativ? Protektiv!, Quelle: magazin.spiegel.de/Epub Delivery/spiegel/pdf/84162363

»Oder ist das Fernsehen schon wirklicher als wie die Wirklichkeit?« Rainald Goetz’ popästhetische Inszenierung im Fernsehen J ULIA P ATER

Wer sich mit Rainald Goetz und seinen Auftritten im deutschen Fernsehen beschäftigt, stößt wohl auch nach über 30 Jahren unweigerlich auf den vieldiskutierten Stirnschnitt während des Ingeborg-Bachmann-Wettbewerbs 1983. Damals gelingt es dem Autor durch diese provozierende Geste mediales Interesse auf sich zu ziehen und sich über die Grenzen des Literaturbetriebes hinaus einen Namen zu machen. Viele Gründe werden Goetz seither für seinen Auftritt unterstellt, allen voran ›Aufmerksamkeitshascherei‹ oder der Start einer Karriere dank eines Skandals (vgl. Wegmann 2009: 214). Allerdings hat der Autor schon vor seinem ersten TV-Auftritt einige Texte veröffentlicht – unter anderem in der Süddeutschen Zeitung und der Musikzeitschrift Spex. Ebenso ist bereits ein Vertrag mit dem Suhrkamp-Verlag unterschrieben. Literarisch muss Goetz folglich keinen Verleger mehr von sich überzeugen (vgl. Feulner 2010: 297). Trotzdem wird im Vorfeld des Ingeborg-Bachmann-Preises medial die Neugierde auf den Autor gelenkt. So berichtet der Spiegel in seinem nach dem Wettbewerb erscheinenden Artikel, vor Klagenfurt sei das Gerücht umgegangen, »es befinde sich unter den eingeladenen Autoren ein ›Genie‹, ›einer der‹ – mehr wollten Verleger und Lektor nicht verraten.« (Schultz-Gerstein 1983) Obwohl ihm seine Performance beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb reichlich Beachtung zuteilwerden lässt, sträubt sich der als Gegenwartschronist angesehene Goetz in den nächsten Jahren gegen erneute Fernsehauftritte. Den Gang ins Massenmedium wagt er erst wieder 2001; bis heute folgen 2010 und 2011 zwei weitere Auftritte. Damit drängt sich die Frage auf, welche speziellen Sendeformate Rainald Goetz für seine seltenen Auftritte wählt und wie er sich als Popautor medial inszeniert bzw. wie er seitens des Fernsehens inszeniert

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wird. Dabei wird davon ausgegangen, dass Goetz einerseits habituell popästhetische Akzente in die Fernsehsendungen einbringt. Denn nach Gabriele Klein ist »die theatrale Inszenierung des Pop […] immer auch eine Selbstinszenierung der Akteure, die sich am und über den Körper vollzieht.« (Klein 2004: 23) Zu solch einer performativen Inszenierung gehören »neben dem Bekleidungscode vor allem Körperhaltungen, Bewegungsabläufe sowie das Beherrschen szenespezifischer Techniken und eines entsprechenden Sprachcodes.« (Ebd.: 24f.) Doch Pop, so ergänzt Klein andererseits, ist »immer auch ein Medium ideologischer Kämpfe« (ebd.: 19), weshalb Goetz, der in seinen Texten wiederholt das Fernsehen attackiert, unterstellt werden darf, dass sich hinter seinen TV-Auftritten auch soziales und politisches Kalkül verbirgt.1 Die Frage nach den Inszenierungsmöglichkeiten des Popautors im Fernsehen beantwortet sich allerdings nur einseitig, wenn jene mediale Tradition übersehen wird, in der man für gewöhnlich den ›Prototyp‹ eines Autors inszeniert. Ein gutes Beispiel hierfür sind Dokumentationen über oder Interviews mit Günter Grass, der regelmäßig im Fernsehen präsent war und vom Publikum als ethische und politisch wachsame Instanz geschätzt wird. Ein bekanntes Requisit, das Grass als Schriftsteller ausweist, ist seine Schreibmaschine. Dass Grass sie gerne als »seine alte Olivetti« personifiziert, eröffnet zugleich Einblicke in den ästhetischen Schaffensprozess: Der hier dichtet, gebraucht zwar nicht mehr Feder und Tinte, wohl aber scheint die Treue zu einem bewährten Schreibgerät wichtig für literarische Konstanz und Qualität. Bei Grass’ allgegenwärtiger Pfeife oder eingespielten Schwarzweiß-Filmen und -Fotos handelt es sich dagegen um ein häufig genutztes Stilmittel, das dem Autor neben ›Authentizität‹ auch langfristige Präsenz im öffentlichen Leben und ein publikumswirksames Wesen attestiert. Ebenso verhält es sich mit kamerabegleiteten Besuchen bei Grass’ Familie und mit verwackelten Bildaufnahmen, die Privatheit suggerieren und den Schriftsteller als nahbar darstellen sollen. Dass sich diese Inszenierungsstrategie mit dem literarischen und sozialen Selbstverständnis des Dichters deckt, zeigt die Regelmäßigkeit, mit der seit Jahren ›typische‹ Grass-Motive gezeigt werden. Häufig thematisierte Aspekte seines Lebens oder Stellungnahmen zu gesellschaftlich als besonders dringlich gewichteten Fragestellungen werden meist sogar mithilfe des identischen Bild- und Archivmaterials inszeniert. Um nun darlegen zu können, wie Goetz sich von solchen medialen Schablonen distanziert, sei auf die Typologie schriftstellerischer Inszenierungspraktiken

1

Vgl. von Goetz: Abfall für alle (1999), Dekonspiratione (2000) und 1989. Material IIII (2003). Zur Auseinandersetzung mit dem Fernsehen vgl. Greif (2004 u. 2013).

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nach Christoph Jürgensen und Gerhard Kaiser zurückgegriffen. Unter Inszenierungspraktiken verstehen sie »zunächst jene textuellen, paratextuellen und habituellen Techniken und Aktivitäten von SchriftstellerInnen, in oder mit denen sie öffentlichkeitsbezogen für ihre eigene Person, für ihre Tätigkeit und/oder für ihre Produkte Aufmerksamkeit erzeugen. […] Ziel solcher Inszenierungspraktiken […] ist die Markierung und das Sichtbar-Machen einer sich abgrenzenden, wieder erkennbaren Position innerhalb des literarischen Feldes. Eine solche Markierung, ein solches Sichtbar-Machen wiederum kann Resonanzgewinne in der literarischen Öffentlichkeit ermöglichen.« (Jürgensen/Kaiser 2011: 10)

Jürgensen und Kaiser geben dabei für alle Untersuchungen schriftstellerischer Inszenierungspraktiken zu bedenken, dass zwischen Selbst- und Fremdinszenierungen unterschieden werden muss und dass diese sich gegenseitig beeinflussen und überlagern können. Um Inszenierungspraktiken »in zwei […] Hinsichten beschreibbar zu machen« (ebd.: 11), widmen sich Jürgensen und Kaiser auf der einen Seite der lokalen Dimension, bei der die Frage im Vordergrund steht, wo Inszenierungspraktiken angesiedelt sind. Dadurch werden die Genettschen Kategorien von Text und Paratext, die bei Jürgensen und Kaiser unter der lokalen Dimension subsumiert werden, in den Mittelpunkt gestellt – also etwa: »Sujetwahl, Formgebung oder Stil«, »Widmungen, Motti, Titel« bzw. »Selbstoder Fremdrezensionen, […] Debatten, (Vor-)Lesungen« etc. (ebd.: 11f.). Auf der anderen Seite wird mit der habituellen Dimension nach dem Wie gefragt, nach der hauptsächlich an auditiven und visuellen Elementen – »Fotografien, Zeichnungen, Schallplattenaufnahmen, Rundfunktbeiträge, Fernseh- oder Internetauftritte« (ebd.: 13) – festzumachenden Beschaffenheit einer medialen Inszenierung. Ein vom Autor selbst präsentierter »Lebensstil« (ebd.: 13), der allerdings nicht immer seinen ›realen‹ Geschmacksvorlieben und modischen Attitüden entsprechen muss, ist hier von Relevanz. Bei diesem ›Stil‹ handelt es sich um »eine für das Publikum inszenierte Interpretationsanleitung«, also um ein »Produkt sozialer Interaktion, Beobachtung und Interpretation«, und um eine »Darstellungsform sozialer Abgrenzung« (Soeffner, zit. n. Jürgensen/Kaiser 2011: 13). Darüber hinaus sind habituelle Inszenierungspraktiken ›sprachunabhängig‹. Sie können demnach losgelöst vom Referenzobjekt Text auch rein visuell vermittelt werden. In Anbetracht der Tatsache, dass bei den folgenden Ausführungen das Augenmerk auf Goetz’ fernsehmedialer Inszenierung und nicht auf seinen literarischen Texten liegt, ist allein die habituelle Dimension von Interesse. Jürgensen und Kaiser fassen darunter drei Aspekte zusammen:

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• • •

die performativen Inszenierungspraktiken die sozialen und politischen Inszenierungspraktiken die ästhetischen Inszenierungspraktiken

Dabei wird über Jürgensens und Kaisers Inszenierungsmodell insoweit hinausgegangen, als sie unter performativen Praktiken lediglich die körperliche Erscheinung und alles mit dieser Korrelierende – bspw. »Haartracht und Kleidung, signifikante körperliche Selbstdarstellungsformen (etwa Mimik und/oder Gestik), diverse Formen der Diätetik« – verstehen sowie »Formen der öffentlichkeitsbezogenen ›Alltags‹-Darstellung« (ebd.: 13f.). Doch die mediale Performance umfasst darüber hinaus einen bestimmten Sprachgebrauch und -gestus sowie eine eigene Wortwahl und Ausdrucksweise. Mithin wird unter performativer Inszenierungsstrategie auch der sich im öffentlichen Sprechen inszenierende Habitus eines Autors verstanden (vgl. Klein 2004). Die sozialen und politischen Inszenierungspraktiken umfassen demgegenüber die »Herstellung bzw. Verweigerung von Publizität«, die nach außen sichtbare Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen wie auch politisches Handeln (vgl. Jürgensen/Kaiser 2011: 14). Sie korrelieren bisweilen mit den ästhetischen Inszenierungspraktiken, die sich auf die Inszenierung der künstlerischen Tätigkeit beziehen. Dabei spielt eine Rolle, ob sich ein Autor als ›Dichtertypus‹ in vorhandene Traditionslinien einreiht. Ebenso ist die Inszenierung seiner Glaubhaftigkeit von Bedeutung (vgl. ebd.).2 In einem chronologischen Dreischritt werden nun die multi- und massenmedialen popästhetischen Auftritte von Rainald Goetz im TV zum Untersuchungsgegenstand erhoben und mittels der skizzierten Analysekategorien sowie unter Berücksichtigung der durch das jeweilige Sendungsformat mitbedingten Erwartungshaltungen beleuchtet. Einleitend soll Goetz’ Performance seines Textes Subito beim IngeborgBachmann-Wettbewerb 1983, über den das Fernsehen in eben jenem Jahr erstmalig berichtet, genauer betrachtet werden. Der Preis, der seit 1977 vergeben wird, hatte bereits damals hohes Ansehen erlangt und sorgt alljährlich für Diskussionen in der breiten Öffentlichkeit. Die bis heute gültigen Regularien sehen vor, dass sich nur Autoren bewerben können, denen eine schriftliche Empfehlung eines Verlags oder einer Literaturzeitschrift vorliegt. Ferner muss es sich um deutschsprachige und unveröffentlichte Texte handeln, deren Vortrag nicht mehr als 25 Minuten in Anspruch nimmt. Die Jury des Jahres 1983 besteht aus

2

Wie sich im Weiteren zeigen wird, lässt sich im Fall von Rainald Goetz’ Fernsehauftritten nicht immer exakt zwischen sozialen und politischen Inszenierungspraktiken einerseits und ästhetischen Inszenierungspraktiken andererseits unterscheiden.

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Rolf Becker, Humbert Fink, Martin Gregor-Dellin, Walter Hinck, Walter Jens, Klara Obermüller, Sylvia Pasch, Gert Ueding, Heinrich Vormweg, Ulrich Weinzierl und Marcel Reich-Ranicki – allesamt im literarischen Feld etablierte Persönlichkeiten. Einen Zusammenschnitt des Ingeborg-Bachmann-Preises 1983, in dem die Lesung von Goetz und die daran anschließende Bewertung der Jury insgesamt siebeneinhalb Minuten umfassen, zeigt der ORF. Goetz ist der erste Teilnehmer des dritten Wettbewerbstages. Seine äußere Erscheinung, die er für seinen Auftritt wählt, lässt sich anhand der habituell-performativen Inszenierungspraktiken betrachten. Vom Moderator mit den Worten »begann der dritte Tag pünktlich mit Punk«3 eingeführt, trägt er, für eine Lesung vermeintlich passend, einen grauen Anzug mit weißem Hemd und eine schwarze Krawatte. Goetz’ blond-zerzauste Haare mit schwarzem Ansatz, sein weißes Nietenarmband und die weißen Turnschuhe brechen jedoch mit der bis dahin geltenden visuellen Norm in Kulturbeiträgen. Denn als Dichter vereint Goetz offenkundig zwei Welten in sich: die des gesellschaftskonformen Schriftstellers und die des ablehnenden Punkers – oder wie Thomas Wegmann ausführt: »Insofern inszeniert Goetz in seinen Autorinszenierungen wie in seinen Texten tatsächlich immer wieder Grenzüberschreitungen zwischen Hoch- und Alltagskultur« (Wegmann 2009: 217). Der Stilbruch wird fernsehmedial hervorgehoben, indem eine Detailaufnahme von Goetz’ linker Hand eingeblendet wird, an der das Nietenarmband prangt. Passenderweise hat der Autor in dieser Aufnahme seine Hand zu einer Faust geballt und schlägt mit ihr in der Luft auf und ab, während er liest: »Nein, nein, nein! Immer alles zerschlagen, sagte ich!« Durch diese Einstellung sollen auf auditiver wie visueller Ebene das die (zumindest fernsehmediale) Ordnung erschütternde Verhalten und das außergewöhnliche Auftreten des Autors in den Mittelpunkt gerückt werden, was zweifelsohne auch von ihm selbst beabsichtigt scheint. Goetz’ ausgeprägte Gestik und Mimik unterstützen jedenfalls das in Teilen unangepasste Äußere. Zu seinen hastigen Wipp- und Körperbewegungen bildet die ruhige Kameraführung einen Kontrast, der darin gipfelt, dass sie während einer Großeinstellung vom Kopf des Autors nicht in der Lage ist, dessen Bewegungen zu folgen. Ihren Höhepunkt erreicht Goetz’ Inszenierung aber, als er die Stelle des Textes erreicht, an der es heißt: »Ihr könnt’s mein Hirn haben. Ich schneide ein Loch in meinen Kopf.« Hier kommt es zum berüchtigten Schnitt in die Stirn mit einer Rasierklinge. Währenddessen hält die Kamera das Bild von Goetz in Halbtotale von leicht rechts fest und zoomt kurz darauf langsam heran. Die ›blutige Szene‹ wird also be-

3

Hier und im Folgenden eigene Transkription des Ingeborg-Bachmann-Wettbewerbs nach: www.youtube.com/watch?v=_BEjgp9MAEY [00:49], [01:55], [02:41], [03:57].

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wusst gesendet und nicht nachträglich herausgeschnitten. Statt eines, seitens des unbedarfteren Zuschauers vermutlich als erlösend wahrgenommenen, Kameraschwenks ins Publikum, wird Goetz’ blutendes Gesicht zudem aus unterschiedlichen Perspektiven gefilmt. Es folgen Betrachtungen des Autors in Großeinstellung, Halbnahaufnahme, Detailaufnahme und erneut in Halbtotale. Hinzu kommt eine Detailaufnahme des Manuskripts, auf welches unaufhörlich Blut tropft. Abbildung 1: Goetz beim Bachmann-Preis

Quelle: YouTube.de

Auch aus der sozialen und politischen Inszenierungsperspektive betrachtet, weist Goetz’ Lesung auf eine vollkommene Verweigerung gegenüber der Veranstaltung bzw. deren massenmedialer Multiplikation hin. Bereits der Umstand, dass Goetz während der gesamten Lesung auf seine Aufzeichnungen schaut und den Blick nicht einmal ins Publikum hebt – selbst als das Manuskript vom Blut unleserlich geworden ist –, spricht für diese Einschätzung. Aufgehoben wird dieses Selbstversunkensein erst zum Ende des Auftritts. Abrupt wendet sich Goetz dem Publikum zu, schlägt mit der Faust auf den Tisch und liest die Worte vor: »Und jetzt los ihr Ärsche, ab ins Subito!« Nach dieser Provokation fährt Goetz mit seiner Hand über die Wunde, so dass sich das Blut über seine Stirn verteilt, lehnt sich locker zurück und wendet seinen Blick in Richtung Jury. Anschließend hört er mit ungerührter Miene und sich ein Tuch auf die Stirn drückend Marcel Reich-Ranickis Bewertung zu. Auch diese ›abgebrühte‹ Art und Weise wirkt neuerlich aufsässig. Nicht von ungefähr bezeichnet der Journalist Christian Schultz-Gerstein den Stirnschnitt als

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»telegene[] Wunde« (Schultz-Gerstein 1983). Des Weiteren heißt es bei ihm: »Natürlich war Rainald Goetz, ohne einen Preis bekommen zu haben, der mediale Sieger von Klagenfurt: Blut und Literatur, das konnten sich die blutleeren Feuilletons nicht entgehen lassen.« (Ebd.) Ebenso wenig die Kameras, die medialen Nutzen aus dem blutbeschmierten Schriftsteller ziehen: »Für das Fernsehen heißt das konkret, dass das Bild der blutenden Stirn des lesenden Rainald Goetz eben geeignet war, über das reguläre mediale Subsystem hinaus bis in die Tagesthemen weiter verwendet und gesendet zu werden. Darin liegt der ›Skandal‹ von Klagenfurt begründet! ›Der Schnittwundensturm im Wasserglas‹ hat die Tischplatte sozusagen mitgenässt.« (Doktor/Spies 1997: 103)

Insgesamt sind dem Schnitt in die Stirn viele verschiedene Deutungen zugekommen, wie Wegmann in seinem Aufsatz Stigma und Skandal oder ›The making of Rainald Goetz‹ zusammenfassend darlegt. Er selbst interpretiert den Skandal folgendermaßen: »Warum aber sind der wortreiche Protest von Delius[4] wie die generöse Geste von Nadolny[5] beinahe vergessen, und warum hat sich dagegen Goetz’ Auftritt in Klagenfurt so entschieden in das kulturelle Gedächtnis eingeschrieben? Weil, so meine These, seine offenbar nachhaltig wirksame, skandalästhetische wie übercodierte Performance weder eindeutige Gesten wie Nadolny noch diskursive Antworten wie Delius gibt, sondern Fragen aufwirft und diese weitergibt: Ist der Schnitt in die eigene Stirn noch Teil der Kunst, oder ist es ein Bruch mit der Kunst? Die Antwort darauf wird wohl stets strittig bleiben, und genau diese polarisierende Irritation ist beabsichtigt.« (Wegmann 2009: 214)

Sowohl sozial und politisch als auch ästhetisch – lässt sich doch für Goetz schwerlich nur eine »Charakterisierung[] der eigenen Arbeitsweise« (Jürgensen/ Kaiser 2011: 14) verantworten – läuft Goetz’ Auftritt beim Bachmann-Wettbewerb demnach auf eine Verunsicherung des Zuschauers hinaus, die der Autor performativ durch seine äußere Erscheinung und sein Handeln unterstreicht. Hinzu kommt, dass Text und Performance zwar zusammengehören, Goetz’ Mimik, Gestik und das Zufügen der Wunde jedoch von der Leseprobe, dem eigentlichen Gegenstand des Literaturwettbewerbs, ablenken, wodurch die Veranstal-

4

F.C. Delius reiste 1983 erst gar nicht nach Klagenfurt und legte in einem langen Text

5

Sten Nadolny teilte 1980 sein gewonnenes Preisgeld mit den anderen Teilnehmern

in der Frankfurter Rundschau seine Gründe dafür dar. des Bachmann-Preises.

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tung untergraben wird. In Bezug auf die Herstellung bzw. Verweigerung von Publizität lässt sich damit herausstellen, dass Goetz auch hier ein ambivalentes Verhalten zeigt. Einerseits nimmt der Autor freiwillig an einem Wettbewerb teil, von dem er weiß, dass dieser erstmalig im Fernsehen ausgestrahlt und somit über die Grenzen des Klagenfurter Veranstaltungsortes hinaus wahrgenommen wird. Goetz nutzt den medialen Auftritt dementsprechend bewusst, um sich durch seine außergewöhnliche Darbietung auch außerhalb des Literaturbetriebes einen Namen zu machen. Auf der anderen Seite aber lehnt er die Veranstaltung offensichtlich ebenso vehement ab wie die dem Dichter landläufig angetragene Funktion als gesellschaftliche Instanz. Insofern kritisiert Goetz »auf provozierende Weise die Institution«, indem er deren »›Konsekrationsmacht‹« nutzt und sie im Dienste eigener Aufmerksamkeit instrumentalisiert (Feulner 2010: 297): »Das Ergebnis ist ein Konnotat des Skandalösen, das an die Person Rainald Goetz anknüpft.« (Doktor/Spies 1997: 107) Diese unterstellte Absicht relativiert sich allerdings insofern, als schon für die beim Bachmann-Wettbewerb vorgetragene Erzählung Subito gilt, dass hier »kein naiver Abbildungsrealismus verfolgt, sondern die kategoriale Unterscheidung von ›Wirklichkeit‹ und ›Fiktion‹ grundsätzlich in Frage gestellt« wird (Jürgensen 2011: 412). Denn der Autor holt mit seiner Performance den Text während der Lesung schonungslos in die Realität. Er spricht in Klagenfurt über Klagenfurt – »›Oder von was ist jetzt gleich die Zukunft wieder so bedroht?‹, fragte er. ›Ich glaube am meisten von der Zukunft‹, sagte ich, ›oder vielleicht vom Fernsehen.‹ Darauf er: ›Genau, vielleicht gibt es das gar nicht in Wirklichkeit das Klagenfurt. Das gibt es doch bloß im Fernsehen! Oder ist das Fernsehen schon wirklicher als wie die Wirklichkeit? Oder ist die Wirklichkeit wirklicher als wie das Fernsehen?‹« [00:01:03] – und wettert nicht nur auf der Textebene gegen den moralischen »Big Sinn« [00:02:38] der »Chef-Peinsäcke Böll und Grass« [00:02:23], sondern widersetzt sich ihnen auch mittels seines Äußeren und seiner Sprechweise. Zu guter Letzt verschont er seinen realen Körper nicht, als es auf Textbasis zu dem Schnitt in die Stirn kommt. Die popistische Geste des Widerstands wird damit Teil einer – medial mitgeschnittenen – Realität. Zum besseren Textverständnis dürfte diese Entfiktionalisierung des Lesebeitrags jedoch kaum beitragen. Erst 18 Jahre später zeigt sich Goetz erneut im Fernsehen, diesmal im ZDFnachtstudio. In der Talkshow, die von 1997-2002 einen zentralen Platz im Nachtprogramm des Senders hatte, diskutieren wechselnde Gäste über fachübergreifende Themen eine Stunde lang mit dem Kulturjournalisten Volker Panzer. Im September 2001 weicht das ZDF von dieser bewährten Struktur ab: Basierend auf der Idee einer Fernsehshow, die Goetz in seiner Erzählung Dekonspira-

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tione entwickelt hatte, wird das ZDF-nachtstudio dreimal unter dem Titel Fernsehen ausgestrahlt, und in allen drei Folgen wird das Medium selbst zum Gegenstand kritischer Diskussionen. Denn diesmal sollen sich die Gäste zu Sendungen und TV-Formaten äußern, die sie sich in den vorangegangenen sieben Tagen gezielt ausgesucht und angeschaut haben. Exemplarisch wird im Folgenden die erste der drei Fernsehen-Ausgaben des ZDF-nachtstudio analysiert. Das von Goetz entwickelte Konzept stellt der Moderator zu Beginn der Sendung vor: »Eine wöchentliche Talkshow übers Fernsehen. Drei feste Leute, ein Gast, fünf vorher festgelegte Sendungen der vergangenen Woche, die dann nach Art des literarischen Quartetts diskutiert werden«.6 Performativ zeigt sich, dass Goetz’ Outfit dezenter ist als beim IngeborgBachmann-Wettbewerb. Die Haare sind mittlerweile ergraut und kurz geschnitten, an Kleidung trägt er einen weißen Pullover, Turnschuhe und eine beige Hose, ein auf den ersten Blick eher unaufgeregtes Outfit also. Einige Utensilien und Kleidungsstücke unterlaufen jedoch die Vorstellung eines Modellzuschauers von einem ›etablierten Autor‹ – wie ihn bspw. Günter Grass verkörpert – in einer um Seriosität bemühten Fernsehsendung. So werden mit der grauen Bomberjacke, die Goetz übergezogen hat, Jugendlichkeit, Aufsässigkeit und Alltagsgebrauch assoziiert. Auch seine sportliche Umhängetasche unterstützt diesen Stilbruch. Sie ist gut sichtbar neben dem Sessel des Schriftstellers platziert und verrät optisch ihren Gebrauchscharakter. Vollends gestört wird die herkömmliche Bildordnung, als Goetz schließlich seine Jacke auszieht und sie neben den Sessel auf den Boden legt. Auch bei seinem zweiten TV-Auftritt spielt Goetz also mit den Erwartungen an einen Schriftstellertypus, indem er diese nicht erfüllt; ein Skandal wie in Klagenfurt wird allerdings nicht forciert. Umso auffälliger und eigentümlicher setzt Goetz im ZDF-nachtstudio seine Mimik und Gestik während der Sendung ein. Zunächst ruhig und gelassen, blickt er schon nach kurzer Zeit beim Sprechen nicht beständig zu einer der ihm gegenüber sitzenden Talkgäste, sondern schaut zwischen seinen Gesprächspartnern, Moritz von Uslar, Volker Panzer und Alexa Hennig von Lange, hin und her oder lässt die Augen fahrig nach oben und unten schweifen. Hinzu kommt, dass der Autor stark mit seinen Armen gestikuliert, sie in die Luft reißt oder sich auf seinem Stuhl zurücklehnt, um schließlich wie in Ekstase wieder nach vorne zu schnellen. Insgesamt erzeugt Goetz durch seine größtenteils sehr unruhige Art eine Hektik, die mit seinen selten ausformulierten, meist emphatisch vorgetragenen Aussagen korrespondiert. Ob es dem Schriftsteller tatsächlich misslingt, sei-

6

Hier und im Folgenden eigene Transkription des ZDF-nachtstudio nach www.you tube.com/watch?v=XuL0Z7ZGkp4, hier: [01:04].

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ne Gedanken in Worte zu fassen (wie es den Anschein hat) oder ob dies Teil seiner Inszenierung ist, bleibt offen. Äußerungen wie »Ich mein, so ein Horror dieser totale und so…oder?«7 machen es dem Zuschauer jedenfalls schwer, den oft konfusen Stellungnahmen zu folgen. Das gilt auch für die Einschätzung der von Goetz ausgewählten Sendung Abenteuer Wissen. Trotz der Formulierungshilfen seiner Kollegen fällt sie insgesamt chaotisch aus, was Goetz auf die vermeintliche Wirrheit der Sendung schiebt. Kommentare wie »Ich halt’s kaum aus…der Typ…wie der Typ da rumgast«8 oder »Ich fand sozusagen diese Fragepolitik so prall«9 scheinen indes jeder reflektierten Urteilsfindung zu widersprechen. Auf der sozialen und politischen Inszenierungsebene spielt Goetz konkret mit den Vorbehalten gegen eine Popkultur, der vonseiten kritischer Intellektueller traditionell Oberflächlichkeit und eine gar zu affirmative Haltung zur Gegenwart unterstellt wird. Diese Skepsis bedient Goetz, solange er die Jugendsprache gebraucht oder diverse Fernsehpersönlichkeiten mit summarischen Urteilen abkanzelt: »Weil ich sozusagen diesen Menschen [gemeint ist Stefan Raab, J.P.] so widerlich finde«.10 Doch in solchen Momenten setzt sich der Autor nur scheinbar dem Verdacht aus, im Fernsehen unpräzise einen Metadiskurs über das Medium führen zu können. Faktisch nämlich parodiert sein Sprachgestus das Nichtssagende jener Prominenten oder Kritiker, die ansonsten im nachtstudio hochkulturelle Angelegenheiten kommentieren. Gleichzeitig pointieren die zahlreichen Invektiven das eben auch dem ›Sensationellen‹ verpflichtete Sendekonzept des kulturbeflissenen nachtstudio. Diese Überbietung der Fernsehkonventionen nimmt in der exemplarisch gewählten Ausstrahlung immer drastischere Form an, als Goetz und seine Mitstreiter eine ›Lästerrunde‹ über die neue Kulturzeit-Moderatorin Tina Mendelsohn einläuten. Dabei wird nicht nur ihre Art des Moderierens kritisiert, auch Eigentümlichkeiten wie die Aussprache des Wortes ›Feuilleton‹ werden der Lächerlichkeit preisgegeben. Der schließlich im wirren Dialog gefundene Konsens lässt dementsprechend an sozialverträglicher Plausibilität vermissen: »MvU: Ganz viel entscheidet sich, ob man die Sendung mag, ob man die Moderatorin sympathisch findet oder nicht. RG: Wie fandest du die?

7

Ebd. [10:22].

8

www.youtube.com/watch?v=LkdL5UJlpx0 [06:21].

9

www.youtube.com/watch?v=XuL0Z7ZGkp4 [05:09].

10 www.youtube.com/watch?v=K08lI-F47tw [03:47].

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MvU: Extrem unsympathisch. 11

RG (lachend): Top!«

Die Perfidie solcher Aussagen wird in der nachtstudio-Sendung fernsehwirksam unterstrichen durch einen mitten im Studio platzierten Bildschirm, auf dem Ausschnitte der jeweils besprochenen TV-Formate zu sehen sind. Auditiv und visuell unterläuft diese Art der Diskussion insofern nicht nur jeden Anspruch auf gesellschaftsverträgliche Meinungsbildung, vielmehr scheinen die in Rede stehenden Moderatoren und Berichterstatter am öffentlichen Pranger zu stehen, um sich dort Diffamierungen und persönliche Beleidigungen anhören zu müssen. Entsprechend herausgefordert sieht sich der Moderator Volker Panzer. Während die locker gestaltete Gesprächsrunde eine Normverletzung nach der anderen zelebriert, versucht er mehrfach, Ordnung in die aus dem Ruder laufende Diskussion zu bringen und beispielweise den Anwesenden das Wort zu erteilen. Doch schon früh fällt er aus seiner Vermittlerrolle heraus und muss sich mit den Worten »Ne, ich bin jetzt auch mal dran«,12 das Recht, mitzudiskutieren, förmlich erstreiten. Heike Rung meint dazu: »Hier wird Wortfernsehen veranstaltet, Wissen verhandelt, Kultur produziert, aber es gibt nicht diesen geschmeidigen Redefluss wie im Kluge-TV, wo die Gesprächspartner von zwei Seiten ohne Unterlass an derselben Erzählung arbeiten. Nein, ›nachtstudio‹-Betreiber Volker Panzer und seine Gäste ringen um Sprache, Bedeutung, Verständigung und Intellektualität. Dass Panzer, dem edel-engagierten Fürsprecher des Niveaus auf allen Gebieten, die Anstrengung des Moderierens anzumerken ist, dass er sich aussetzt, manchmal ausliefert und oft hartnäckig auf verlorenem Posten steht, macht die Sendung sympathisch. Das eigentlich Spannende sind oft nicht die Themen, die umständlich besprochen werden, sondern die soziale Interaktion.« (Rung 2001)

Wie Popautoren im Fernsehen sozial gegen hochkulturelle Standards aufbegehren, zeigt sich auch in solchen Szenen, in denen sich Rainald Goetz und Moritz von Uslar in bürgerlichen Höflichkeitsritualen versuchen. Als von Uslar sein Gegenüber angelegentlich unterbricht, entschuldigt er sich umgehend. Goetz jedoch reagiert mit einem Lachen und gespielter Empörung: »Also Moritz!«, worauf von Uslar mit trockener Ironie kontert: »Das darf man doch nicht«.13 Besonders in solchen Momenten zeigt sich, warum der »Nervfaktor dieser Sendung

11 www.youtube.com/watch?v=XuL0Z7ZGkp4 [05:32]. 12 www.youtube.com/watch?v=K08lI-F47tw [00:54]. 13 www.youtube.com/watch?v=LkdL5UJlpx0 [00:43].

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[…] hoch« (ebd.) ist: Indem beide popaffinen Dialogpartner die geltenden Gesprächskonventionen verletzen, entlarven sie das Höflich-Konventionelle im Fernsehen als habituellen Ballast, der eine engagierte, tiefschürfendere Diskussion über Medien verhindert. Pop im Fernsehen basiert demgegenüber auf ungebärdigen Formen des kommunikativen Austauschs. Statt zu einer kritischen Meinungsbildung anzuregen und damit das Modell bürgerlicher Öffentlichkeit zu tradieren, führt er die sozialen und kommunikativen Verhaltensstandards ad absurdum. Welche Schlussfolgerungen aus dieser Ohnmachtserklärung einer Kultur des ›Loslaberns‹ zu ziehen sind, diese Frage müssen sich die Zuschauer selbst beantworten. In der ZDF-nachtstudio-Reihe mit dem Titel Fernsehen stellt aber auch das Medium selbst Publizität im Sinne öffentlicher und literarästhetischer Aufmerksamkeitslenkung her. Immerhin handelt es sich um eine seit 1997 laufende Sendung, in der nun ein Popautor Gelegenheit erhält, eine führende Rolle zu spielen: »Ausgerechnet jener umstrittene Schriftsteller, der Medienauftritte meidet wie der Teufel das Weihwasser.« (Kron 2001) Folgt man Norbert Kron, eröffnet das Fernsehen dem Dichter hiermit eine Gelegenheit, neue Lesarten für seine Dichtungen zu entwickeln. Denn »Goetz’ erster Talkshow-Auftritt ist Teil seines Werks und sucht eine Antwort auf die krisenhafte mediale Situation. Der Autor, der keine Distanz mehr zum Medium einnehmen konnte, geht ins Fernsehen, um die Bilder wieder zum Sprechen zubringen.« (Ebd.) Dies schafft Publizität, der sich Goetz sogleich allerdings widersetzt. Auch hinsichtlich dieser ästhetischen Inszenierungspraktiken lassen sich weitere Möglichkeiten des Spiels mit Rollenzuschreibungen feststellen. So moderiert Rainald Goetz die Sendung zwar nicht, wird von Panzer aber explizit als Erfinder der drei nachtstudio-Ausgaben vorgestellt, »womit er ihm die Autorschaft an diesem Fernsehprojekt zueignet. Diese auktoriale Zuschreibung bzw. Zueignung der Sendung schlägt sich auch in der Studiokulisse nieder« (Binczek 2012: 80). Wie Natalie Binczek ergänzt, signalisiert etwa die Aufteilung des Studios – z.B. die Anordnung der Stühle und des Bildschirms, auf dem meist ein Kamin zu sehen ist –, dass es sich um eine Produktion des ZDF-nachtstudio handelt. Die auf dem Boden verteilten Zeitungen und Zeitschriften gehören jedoch nicht zum üblichen Setting, vielmehr versuchen sie »Goetz’ Durchquerungen des Sekundären in die Studiokulisse zu überführen. Ausgestellt wird somit, woraus die Talkshow besteht: Aus Ferngeschautem – das bei jeder Kurzpräsentation der je besprochenen Sendung auf dem vorderen, rechts von der Diskussionsrunde platzierten Monitor erscheint – und aus Gelesenem. Sowohl auf der Konsole über dem als Kamin inszenierten als auch um den zweiten Bildschirm herum sind kleine Handbi-

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bliotheken aufgebaut […], die neben Werken der Diskutanten, vor allem aber des ›Erfinders‹ der Sendung, Rainald Goetz’, nämlich Kronos, Rave, Jeff Koons, Abfall für alle und, wie es scheint Dekonspiratione auch Niklas Luhmanns Die Realität der Massenmedien und seine zweibändige Gesellschaft der Gesellschaft enthalten.« (Ebd.: 80f.)

Schon die Aufreihung der von Goetz geschriebenen Bücher weist ihm, neben der Rolle des Erfinders der drei Einzelsendungen, die Rolle eines Schriftstellers zu. Diese von ihm selbst geschaffene Rollenzuweisung, – schließlich war Goetz an der Gestaltung der Sendung und des Settings beteiligt – bedient der Popautor durch seine jugendsprachliche Ausdrucksform und seine Verhaltensweisen jedoch gerade nicht. Vielmehr hat er sich mit den nachtstudio-Sendungen aktiv eine Vorlage geschaffen, die er unterlaufen kann. Doch auch Panzer führt ihn als Dichter und als Zeitdiagnostiker ein, was im Kontext einer Fernsehsendung über das Fernsehen des Jahres 2001 ein hohes Maß medialer Kompetenz beansprucht. Diese Erweiterung des Intellektuellen um die Rolle des kritischen Fernsehnutzers fordert Goetz zwar auch für sich selbst ein, zum Beispiel, wenn er einen kurzen, selbstgeschriebenen Text am Ende der Sendung vorliest. Aber er unterläuft zugleich die ihm gestellte Aufgabe mit dem Eingeständnis, er sehe sich selbst nicht als geeigneten Diskutanten über das Fernsehen.14 Er, der in der vorhergehenden Stunde rege mitdiskutiert und sich dabei mimisch wie gestisch verausgabt hat, spricht sich nun selbst das Vermögen dazu ab. Gleichwohl attestiert er dem Fernsehen mit wiederum pauschalen Ausführungen, Literatur, Musik oder Malerei ästhetisch nur unangemessen in Szene setzen zu können. So heißt es beispielsweise: »Ich bin so abgeturnt von der Schlechtheit dieser Kunst«15 oder: »Das ist wirklich […] das ist ein Problem, dass alle Schauspielerinnen so dumm sind. Das ist unerträglich!«16 Gemeinsam mit den verstreut herumliegenden Zeitungen inszeniert Goetz mit solch oberflächlichen Einwänden ein mediales Chaos, angesichts dessen er die visuelle und habituelle Kontrolle über die mitgebrachten Printmedien aus dem Blick zu verlieren droht. Als solchermaßen derangierter Autor wirken seine ästhetischen Urteile nicht nur unprofessionell. Sie stellen auch alle Bemühungen in Frage, mit fernsehmedialen Mitteln einleuchtende Zugänge zu seinen popliterarisch komplexen und anspruchsvollen Texten zu eröffnen. Im Gegenzug überführt sich das Fernsehen als ein zwanghaft kulturerzeugendes Medium.

14 www.youtube.com/watch?v=8lPJOUo4VIg [07:15]. 15 www.youtube.com/watch?v=7Wn-De9uIPI [01:11]. 16 www.youtube.com/watch?v=XuL0Z7ZGkp4 [11:23].

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Für diese Einschätzung spricht neben dem Setting auch die Bildregie. Zu Beginn der Sendung folgt die Kamera noch den ansonsten üblichen Abläufen: Im Anzug gekleidet begrüßt Panzer die Zuschauer und erklärt die Spielregeln der Gesprächsrunde. Dabei wird er in amerikanischer Einstellung gefilmt und schaut in die Kamera, so dass der Zuschauer sich direkt angesprochen fühlen kann. Nach dieser Einstellung geht Panzer hinüber zu seinen Diskussionspartnern, während er weiter spricht. Ein kurzer Schnitt folgt und es wird auf eine andere Kamera gewechselt, die den Blick auf das Studio und die Beteiligten der Sendung in Totale freigibt. Hier zeichnet sich langsam der Bruch mit der vertrauten Bildordnung ab, denn während die Kamera auf Halbtotale heran zoomt, wird man der auf dem Boden verteilten Zeitungen gewahr. Fortan werden die Gesprächsteilnehmer wiederholt vor dem im Studio seitlich von ihnen stehenden Bildschirm abgefilmt – eine eher untypische Kameraeinstellung, die man aber noch zu steigern weiß: Ein Buch, welches unter dem Fernseher steht, wird im Laufe der Sendung in Detailaufnahme gezeigt. Langsam fährt die Kamera schließlich nach hinten weg, um daraufhin einen Schwenk nach links zu machen und so die gesamte Diskussionsrunde und den an der Seite stehenden Fernseher, auf welchem die Gesprächsteilnehmer zusätzlich zu sehen sind, in einer Totalen zu zeigen. In dieser Position verweilt die Kamera einige Zeit, während am unteren Bildschirmrand das Thema der nachtstudio-Sendung und deren Internetadresse, Faxnummer und E-Mail-Account eingeblendet werden. Abbildung 2: Goetz im nachtstudio

Quelle: YouTube.de

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Im Verlauf dieser Kamerafahrt diskutieren Panzer und die anderen über das Fernsehen. Durch die dauerhafte Fokussierung des Bücherregals und die daran anschließende Einblendung der Adressen, rücken die Gesprächsteilnehmer allerdings mehrfach in den Hintergrund. Bildästhetisch scheint ihr Gespräch damit nebensächlich. Erst gegen Ende der Sendung leitet die Kamera wieder zur der vom nachtstudio bekannten Bildordnung über: Panzer bedankt sich artig bei Hennig von Lange für ihr Kommen, kündigt das Programm der nächsten Sendung an und verliest ein Zitat von Niklas Luhmann. Nachdem er sich auch von den Zuschauern verabschiedet hat, wird die nachtstudio-Musik eingespielt, die Kamera fährt nach hinten, also von den Diskussionsteilnehmern weg, und am unteren Bildschirmrand laufen die Namen der an der Talkshow beteiligten Personen entlang. Anfang und Ende der nachtstudio-Sondersendung bilden insofern einen ›Scheinrahmen‹, für den der Autor nach eigenen Worten ebenso verantwortlich zeichnet wie für die optischen ›Stilbrüche‹ im Verlauf der Sendung: »Doch wer Goetz dieser Tage in der ZDF-Redaktion erlebt, scheint es selbst mit einem besessenen Fernsehmacher zu tun haben [sic]. Er führt das Wort, rauft sich die Haare und rennt auf und ab, wenn Panzer und sein fünfköpfiges Team im fensterlosen Sitzungszimmer tagen. Er zerbricht sich den Kopf über den Sendeablauf und erteilt Anweisungen für die Kameraführung, ein TV-Visionär, der sich nur durch sein ›Chance-2000‹-T-Shirt von den schwarzgewandteten [sic] ZDF-Redakteuren unterscheidet.« (Kron 2001)

Neun Jahre später stellt sich der kamerascheue Rainald Goetz schließlich einem etwa 10-minütigen Auftritt bei Harald Schmidt. In die Show, die am 08.04.2010 in der ARD auf Sendung geht, wird er anlässlich der Veröffentlichung seines ›Berichts‹ loslabern eingeladen. Ausgesprochen unauffällig erscheinen diesmal Haartracht und Kleidung: schwarzer Pullover, weißes Hemd, graue Hose und eine kurze, gepflegte Frisur. Goetz’ Mimik und Gestik im Verlauf seines Auftritts – die Arme werden beim Reden in die Luft gerissen und es scheint ihm unmöglich, zurückgelehnt und entspannt im Stuhl zu sitzen – erinnern allerdings als Konstante an seinen Auftritt von 1983 und stehen im Kontrast zu seinem ansonsten ruhig wirkenden Äußeren. Gleichwohl passiert sehr viel im Gesicht des Autors. Wirkt Goetz einerseits offen, locker, aufgeweckt und interessiert, vermittelt er andererseits den Eindruck, als reagiere er verwirrt auf die Gesprächssituation. Zu diesem Eindruck trägt auch die Art seines Sprechens bei. Oftmals enden Goetz’ Sätze, analog zum Auftritt im nachtstudio, abrupt und ohne richtige Aussage: »Nein. Ich hatte die Einladung und dann hab ich die rausgezogen und dann war er…war er ganz…auf sehr…äh öh…auf sehr nette Art war er dann irgend-

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wie verwirrt davon, dass ich…so.«17 Auch im weiteren Verlauf scheint Goetz vieles auf einmal sagen zu wollen, wobei er sich im Sprachfluss überschlägt und die Themen blitzartig wechselt: »Es ist einer dieser Sätze, der während des Sprechens mehrmals das Thema ändert« (Fischer 2010). Ähnlich wie vormals Volker Panzer sieht sich Harald Schmidt durch diese hyperaktive Performance in einer schwierigen Situation. Wiederholt versucht er Goetz’ konfuse Aussagen zu erläutern, sie für den Zuschauer nachvollziehbar zu machen oder das Gespräch auf eine für das Publikum verständliche Ebene zu hieven. So möchte Schmidt beispielsweise den Kerngedanken des FAZ-Artikels von Thomas Hettche, über den Goetz und er zu Beginn sprechen, wiedergeben. Allerdings weigert sich Goetz, auf irgendwelche Deutungsangebote seitens des Talkmasters einzugehen: »Während Schmidt sich um eine Zusammenfassung der zentralen Argumente Hettches bemüht, relativiert Goetz diesen Versuch, indem er ihm attestiert, das Wesentliche nicht erfasst zu haben. Als Schmidt darauf hin insistiert: ›Was ist es tatsächlich?‹, ›Die Aussage?‹, vermag sie Goetz jedoch nicht auf den Punkt zubringen, als entzöge sie sich ihm.« (Binczek 2012: 88)

Mehr noch: Goetz »ergänzt mit herrlicher Unspezifischkeit« (Fischer 2010): »Ich kann’s…Es ist mehr«. Wer jedoch solche intellektuellen Ansprüche an das Lesen eines Zeitungsartikels stellt, sollte als Literaturinsider und Showteilnehmer eigentlich in der Lage sein, eine überzeugendere Erklärung als die von Schmidt vorgeschlagene abzugeben. Goetz jedoch beschränkt sich auf lapidare Worte. So kommentiert er das Bild neben dem Hettche-Artikel mit: »›Ich finde das schaut super aus irgendwie‹. Eine Kaffeehausaussage vom Feinsten« (ebd.). Darauf folgt die unspezifische Ergänzung: »Da ist dieser Mensch hier so. Dieser Traurige.« [00:01:27]

17 Hier und im Folgenden eigene Transkription nach: www.youtube.com/watch?v=Bq Dv6F9eTHA [05:59], [01:53], [01:27].

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Abbildung 3: Goetz bei Harald Schmidt

Quelle: YouTube.de

Dass in solchen Situationen die dem Autor angetragene Rolle der sozialen Instanz unterlaufen wird, darauf wurde bereits mehrfach hingewiesen. Bei Harald Schmidt unternimmt es Goetz diesmal jedoch, mit einiger medialer Kompetenz ein Sendeformat in die Schranken zu weisen, das längstens seit Bekanntwerden der Tatsache, dass Benjamin von Stuckrad-Barre lange Zeit als Gagschreiber das Gesicht der Late Night Show geprägt hat, vor allem bei jüngeren Zuschauern popästhetischen Kultstatus genießt (vgl. Rauen 2010: 185ff.). Indem sich Goetz nun sprachlich und performativ den zwar ironischen, aber zugleich kompetenzheischenden Fragen verweigert, demonstriert er bei Harald Schmidt, was Pop fundamental von hochkulturellen Autoreninszenierungen auch im Fernsehen unterscheidet: der Verzicht auf Bevormundung und soziale Hierarchien. Entsprechend oft muss sich Schmidt mit unzureichenden Antworten seitens des Schriftstellers zufrieden geben, sich dessen raschen Themenwechseln anpassen oder auf einmal selbst die Funktion des Befragten einnehmen. Goetz ist Schmidt, der die Sendung und ihren Verlauf eigentlich in der Hand haben sollte, also nicht nur im Gespräch voraus. Er schlüpft selbst in die Rolle des Moderators und erteilt dem ansonsten für seine Schlagfertigkeit bekannten Talkmaster damit kurzerhand eine Lektion in Sachen Pop und Subversion.18 Dass der zehnminütige

18 Auch Fischer deutet Goetz’ Lachen als Infragestellung medial erzeugter Hierarchien. Über das Verabschiedungsritual (vgl. [09:54]) und die obligatorisch ausgesprochene Wiedereinladung heißt es: »Goetz lacht sich kaputt über diese in der Tat furchtbare ›Kommen Sie mal wieder‹-Rhetorik, auch das ja eine Herrschaftsmethode.« (Fischer 2010) Kurz nach dieser misslungenen Einladung antwortet Goetz zudem auf Schmidts

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Auftritt keinerlei Sinn zu stiften scheint, dass Goetz ferner keine Leseperspektiven auf sein neuestes Buch eröffnet, gehört dabei zur Verweigerungshaltung des Pop etablierten Konsensmechanismen gegenüber. Sollte sich Harald Schmidt auf diese eher unspektakulär vorgetragene, aber politisch deshalb keineswegs nur oberflächliche Kritik an den bestehenden Gesellschaftsverhältnissen und ihren medialen Reproduktionsmechanismen eingelassen haben (was zu prüfen dem Zuschauer kaum möglich sein dürfte), hätte er in der in Rede stehenden Show freilich seine popaffinen Ambitionen unterstrichen. Dass sich Goetz bei Harald Schmidt als Dichter und Popliterat einführt, lässt sich auch an seiner inszenierten ›Alltags‹-Darstellung ablesen. So bringt er sein Schreibwerkzeug – zerfledderte Blöcke und Notizbücher – in die Sendung mit, was ihn, wie früher Feder und Tinte, als Autor markiert. Auch die aktuelle Ausgabe der FAZ, die Goetz unter den Arm geklemmt hat, unterstreicht auf den ersten Blick sein intellektuelles Selbstverständnis. Neuerlich hintertrieben wird diese Anspruchshaltung durch popkonstitutive Zitate, mithin »eine stilistische Anspielung« (Fischer 2010), auf die bereits Frank Fischer hingewiesen hat, und die sich nicht allen Fernsehzuschauern sogleich erschließen dürfte. Gemeint ist der Auftritt von Christian Kracht in einer Harald Schmidt Show, die 2001 noch auf Sat.1 gesendet wurde. Seinerzeit hatte der bekannteste Repräsentant jener Popgeneration der 1990er Jahre auf mehrere von Schmidt gestellte Fragen immer bloß mit »Ja« geantwortet. Greift Goetz diese Sinnverweigerung neun Jahre später »als sozang [sic] Klangzitat« (ebd.) auf und beantwortet Schmidts Ausführungen ebenfalls einige Male nacheinander nur mit »Ja«19, so weist er sich damit als fernsehhistorisch geschulter Zuschauer aus, der die Unpässlichkeiten des Mediums im Umgang mit ›Non-Sense‹ in eine Endlosschleife überführt. Mit Goetz’ eigenen Worten entlarvt er damit das Beharren des Mediums auf permanente Kulturerzeugung als »Abfall«: »Dass man so tut, als würde hier, und so wurde es von manchen wahrgenommen, Abfall entsorgt; dass man so tut, als schütte man da irgend etwas irgendwie aus sich heraus. Die Wahrheit ist natürlich, dass es ein geschriebener Text hoch zehn ist. […] Dieses Zwischending zwischen Rausgasen und hemmungslosem Schreiben und dann immer noch mal Gucken und Streichen und noch mal Streichen; das war schon sehr scharf kontrolliert.« (Goetz, zit. n. Jürgensen/Kaiser 2011: 411)

Frage, ob er noch auf das Buch des Autors hinweisen solle, lediglich mit einem Schulterzucken und einem: »Wie Sie wollen« [10:09]. 19 www.youtube.com/watch?v=BqDv6F9eTHA [04:52]

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Angesichts dieser Überforderung der Fernsehzuschauer und Harald Schmidts wird der aktivierte Zuschauer zu größter Konzentration genötigt, will er alle Aspekte des Gesprächs mitbekommen und verstehen. Selbst die Kamera muss sich auf den schnellen Schlagabtausch zwischen Goetz und Schmidt einstellen. Analog zu der rasanten Konversation lassen oft und zügig wechselnde Bildeinstellungen eine visuelle Dynamik entstehen, die im Zuge von Goetz’ drittem Fernsehbesuch inzwischen freilich den Raum des in die Jahre gekommenen Mediums überschreitet. Denn zumindest die mit seinen literarischen TV-Sottisen vertrauten Leser und aufmerksamen Zuschauer seiner seltenen Fernsehauftritte wissen längst, worauf das ›große Spiel‹ mit dem Publikum hinausläuft: »Das Schlimme am Goetz-Effekt ist ja nun, dass man jetzt sofort lesen will, wie Goetz selber diesen Auftritt fand, sein eigenes Rüberkommen, das Gespräch mit Schmidt davor, dabei, danach, die YouTube-Kommentare und so weiter, und die GROSSE ERKENNTNIS, die daraus folgt.« (Fischer 2010)

In der Summe lässt sich festhalten, dass sich Goetz’ Fernsehauftritte seit seiner Lesung in Klagenfurt performativ immer verhaltener gestalten. Wirkt der Schnitt mit einer Rasierklinge in die eigene Stirn noch wie ein Skandal, provoziert Goetz im nachtstudio oder bei Harald Schmidt die Verwirrung aufseiten des Publikums eher subtil und anspielungsreich. Zwar ist eine konstant ausgeprägte mimische und gestische Ausdrucksweise bei Goetz’ zu beobachten, offensichtliche Provokationen durch den Kleidungsstil oder körperliche Schädigungen bleiben jedoch aus. Vielmehr nutzt Goetz die Sendungen, um im Sinne der ästhetischen Inszenierungspraktiken einen ›neuen Dichtertypus‹ zu etablieren. Die Inszenierung als ›verwirrter Intellektueller‹, als welcher er nach Klagenfurt auftritt, führt dazu, dass ebendiese Verhaltensweisen mittlerweile vom Zuschauer vielleicht sogar erwartet werden. Zudem fördert Goetz’ Arbeit hinter den Kulissen die versteckte Irritation des Zuschauers sowie den Aufbau eines konfusen Charakterbildes. Die Mitgestaltung der nachtstudio-Sendungen gibt Goetz den Raum, über seinen Körper hinaus eine irritierende Inszenierung zu betreiben. So lässt sich hinsichtlich der politischen und sozialen Praktiken von einer Entwicklung von fernsehmedialer Verweigerung hin zu aktiver Gestaltung und Fernsehkritik sprechen. In diesem Sinne gilt mit Ulf Poschardt, dass Pop auch im Massenmedium »immer beides« ist: »Versprechen und Verrat« – Versprechen, weil sich Pop nur oberflächlich mit der medialen Ordnungsmacht arrangiert, und ›Verrat‹, weil Goetz nicht die fernsehmediale Selbstdarstellung um ihrer selbst willen sucht, sondern TV-Schauende wie TV-Machende zum Denken und Hinterfragen anre-

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gen will. Dass sich Pop inszenierungsästhetisch schneller als das Fernsehen neue technische Kommunikationsräume wie das Internet erschließt, mag dem gesellschaftlichen Konformismus selbst der ironischsten oder populärsten Sendeformate geschuldet sein.

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Abbildungen Abbildung 1: Goetz beim Bachmann-Preis, Quelle: www.youtube.com/watch ?v=_BEjgp9MAEY Abbildung 2: Goetz im nachtstudio, Quelle: www.youtube.com/watch?v=Xu L0Z7ZGkp4 Abbildung 3: Goetz bei Harald Schmidt, Quelle: www.youtube.com/watch?v= BqDv6F9eTHA

Guru. Superstar. Nickelbrillen-Esoteriker. Über die Hermann-Hesse-Konstruktionen in den Fernsehportraits zum 50. Todestag A LFONSO M EOLI

I Das Hesse-Gedenkjahr 2012. Mediale Reaktionen »Es gibt nach dem Text kaum eine andere Größe im Gebiet der Literatur, die uns wichtiger wäre als der Autor.« Mit diesem Satz eröffnen Fotis Jannidis, Gerhard Lauer, Matías Martínez und Simone Winko (2000: 7) ihren Band Texte zur Theorie der Autorschaft. Sie konstatieren in ihrer Einleitung, dass sich das Interesse an dieser ›Größe‹ seit geraumer Zeit nicht ausschließlich durch den anhaltenden theoretischen Diskurs über ›Autorschaft‹ bemerkbar macht. Sogar bis in den Sprachgebrauch hinein – so die Herausgeber – nutzen wir ihn, um über Literatur zu kommunizieren. Kein bestimmtes Buch wird mehr gekauft, sondern der ›neue Grass‹, kein bestimmter Text wird mehr vorgelesen, sondern Martin Walser, der Autor, liest vor – aus welchem Buch, ist sekundär. Das Interesse an der Person des Dichters steht bei Lesungen dezidiert im Vordergrund (vgl. ebd.). Auch im Bereich audiovisueller Adaptionen stülpt sich der Autor über sein literarisches Werk. Nicht diese spezielle Novelle oder jenes spezielle Drama ist verfilmt worden, hingegen reden wir über eine Shakespeare-, Goethe- oder Kleist-Verfilmung. Das von Roland Barthes Ende der 1960er Jahre postulierte Diktum vom ›Tod des Autors‹ scheint insofern nur für den Bereich der Literaturwissenschaft obsolet geworden zu sein,1 ansonsten aber macht es den Eindruck, als sei ›der Autor‹

1

Davon zeugen zahlreiche Publikationen zu diesem Thema, die verteilt über die letzten 20 Jahre erschienen sind. Im Folgenden eine Auswahl: Jannidis/Lauer/Martínez et al.

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für den alltäglichen Umgang mit Literatur und innerhalb des Literaturbetriebes niemals für tot erklärt worden. Ganz besonders die ›runden‹ Geburts- oder Todestage von Dichtern zeugen davon, indem sie schon seit geraumer Zeit die Höhepunkte eines jeden literarischen Kalenderjahres markieren. Nicht selten wird das Gedenken an Werk und Wirkung dieser Persönlichkeiten vom eigentlichen Jubiläumstag gleich auf ein ganzes Themenjahr ausgeweitet. Die wohl größte Auswirkung eines Dichterjubiläums auf den Literaturbetrieb in den letzten Jahren hatte 2011 das Heinrich-von-Kleist-Jahr. Der 200. Todestag des Dichters bot Anlass zu den verschiedensten Projekten, Veranstaltungen und Aktionen – u.a. zu einem neuen Kleist-Museum in Frankfurt an der Oder, wobei der erste Spatenstich für dieses neue Gebäude durch die Anwesenheit der brandenburgischen Kultusministerin zu einem Ereignis wurde, welches einem offiziellen Staatsakt in kaum etwas nachstand (vgl. Seibert 2013b: 192f.). In nahezu ähnlicher Bandbreite reagierte der Literaturbetrieb direkt im Folgejahr auf den 50. Todestag von Hermann Hesse. Allein die Geburtsstadt des Dichters, das baden-württembergische Calw, organisierte im Zeitraum von seinem Geburtstag (am 2. Juli) bis zu seinem Todestag (am 9. August) 50 Veranstaltungen und Aktionen, die sich mit dem Leben und Werk des Literaturnobelpreisträgers von 1946 befassten. Neben zahlreichen Lesungen, Konzerten und einem ›Public Viewing‹ der Verfilmung von Hesses Erzählung Die Heimkehr auf dem Marktplatz der Stadt bildete das Kernstück des Gedenkjahres in Calw die Ausstellung Licht und Farbe. Hermann Hesse als Maler (eröffnet am 19. Mai 2012). Auch die ›Casa Hesse‹ in der Tessiner Ortschaft Montagnola beteiligte sich am Jubiläumsjahr. Der Beitrag dieser Institution wurde – wohl wegen des öffentlichkeitswirksameren Standortes – allerdings in das deutschsprachige Bern verlagert. In Zusammenarbeit mit dem dortigen Kunstmuseum entstand die Ausstellung «… die Grenzen überfliegen» – Der Maler Hermann Hesse (eröffnet am 28. März 2012). Diese beiden großen Ausstellungen zum Gedenkjahr machen bereits deutlich, dass es einen gewissen Konsens unter den Organisatoren des Jubiläums gab, was das Bild betrifft, welches von Hermann Hesse vermittelt werden sollte. Den Dichter als Maler zu lancieren wirft nicht nur Fragen zur wechselseitigen Beziehung seiner beiden Ausdrucksformen auf, sondern bedeutet auch, den Autor Hermann Hesse als doppelbegabte Persönlichkeit vorzustellen; folglich seine Nebenarbeiten aus dem langen Schatten seiner Literatur zu holen und diese als bedeutendes Äquivalent öffentlich zu präsentieren und zu würdigen.

(1999), Detering (2002), Bein/Nutt-Kofoth/Plachta (2004), Künzel/Schönert (2007), Schärf/Grimm (2008), Jürgensen/Kaiser (2011).

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Neben diesen Museumsinstitutionen, die sich ihrer eher traditionellen Präsentationsmodi verpflichtet sahen und sich stark auf den bildenden Künstler Hermann Hesse fokussierten, finden sich zum Gedenkjahr 2012 auch Reaktionen in den ›Neuen‹ Medien. Zum Beispiel erstellte der Suhrkamp-Verlag auf seiner Homepage nicht nur eine Sonderseite zum Jubiläum, auf der sich User noch heute ausgiebig über Leben und Werk des Dichters informieren können,2 sondern veröffentlichte am 30. Juli 2012 auch die Smartphone-App Mit Hesse durch das Jahr,3 mit der man Gedichte Hesses an Freunde verschicken, Tondokumente abrufen und eine Stichwortsuche in den digitalisierten Texten des Dichters betreiben kann. Auch im Medium Fernsehen – um das es im Folgenden gehen soll – fand das Hesse-Jahr 2012 seinen Niederschlag. Jedoch lässt sich das seit den 1990er Jahren wiedergekehrte Interesse an der Autorpersönlichkeit im Bereich der Literaturwissenschaft nicht für das wissenschaftliche Interesse an Autoren im Fernsehen feststellen. Trotz der »literarischen Funktionen und Leistungen« (Seibert 2013a: 13) wurde dieses Medium »literaturwissenschaftlich allenfalls am Rande wahrgenommen« (ebd.). Dabei überrascht dieser Befund insofern, als das Fernsehen, trotz der kontinuierlichen Weiterentwicklung anderer digitaler Medien wie dem Internet,4 noch immer seine Stellung als eines der aktuellen Leitmedien behauptet (vgl. ebd.). Zum Hesse-Jahr 2012 wurden im Fernsehen zahlreiche Sendungen ausgestrahlt. Neben Wiederholungen älterer Produktionen und kleineren Kulturmagazin-Beiträgen, die meist als audiovisuelle Ankündigungen für die beiden großen Ausstellungen in Bern und Calw fungierten, widmete zum Beispiel das renommierte SWR-Format Literatur im Foyer am 26. April 2012 dem Dichter gleich eine ganze Sondersendung. Hesse wurde zu seinem 50. Todestag im Fernsehen jedoch nicht nur als ›Thema‹ in bereits bestehende Sendeformate übertragen, sondern bot den Rundfunkanstalten auch Anlass, neue Fernsehproduktionen in Auftrag zu geben. So sendete am 2. Mai 2012 das Erste Deutsche Fernsehen die ›Dichter-Doku‹ Hermann Hesse – Superstar, eine Gemeinschaftsproduktion von ARD und SWR-Fernsehen, für dessen Regie und Konzeption Andreas Ammer, der kreative Kopf hinter der Literatursendung druckfrisch, verantwortlich zeichnete. Ein zweites Fernsehportrait über den Dichter wurde am 8. August 2012

2

Vgl. www.suhrkamp.de/hermann_hesse_928.html

3

itunes.apple.com/de/app/mit-hesse-durch-das-jahr/id526722442

4

An dieser Stelle sei auf die aktuell stattfindende Konvergenz von Internet und Fernsehen verwiesen, die durch erste Smart-TV-Modelle ein gemeinsames Endgerät erhalten.

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ausgestrahlt.5 Die arte-Produktion Hermann Hesse – Der Weg nach innen ist ebenfalls im Auftrag des SWR-Fernsehen entstanden und mit der Umsetzung wurde der Dokumentarfilmer Andreas Christoph Schmidt – verantwortlich für Buch, Regie und Kamera – beauftragt. Welche Bilder und Eindrücke von Hermann Hesse die oben genannten Fernsehproduktionen präsentieren, soll im Folgenden analysiert werden. Seit den Anfängen der Literaturgeschichte bestehen die Versuche, »typenhafte Formen« (Hoffmann/Langer 2007: 139) von Autoren und Autorschaft in Kategorien einzuteilen. Sie sollen »das Rollenverständnis des Autors in Bezug auf seine Tätigkeit des Schreibens einerseits und sein Verhältnis zur Gesellschaft andererseits umreißen.« (Ebd.) Es stellt sich nun die Frage, ob und welche dieser ›typenhaften Formen‹ vom Fernsehen im Rahmen des Jubiläums auf den Autor Hermann Hesse projiziert wurden. Die Portraits sollen hierfür auf folgende Aspekte hin analysiert werden: Welche Bild- oder Bewegtbilddokumente werden aufgegriffen? Welche filmtechnischen/-ästhetischen Gestaltungsmittel kommen zum Einsatz? Welche biografischen Aspekte werden besonders hervorgehoben? Wie verhält sich die eingespielte Musik bzw. der gesprochene Kommentartext zu den Bildern und welche ›Experten‹ werden hinzugezogen? Als übergeordnete These dieses Beitrags lässt sich die Beobachtung anführen, dass das SWR-Fernsehen – als federführende Kraft hinter beiden HessePortraits zum 50. Todestag – zwei divergente Bilder des Autors konstruiert. Dadurch, dass der Sender sich mit gleich zwei Produktionen am Gedenkjahr beteiligt hat, soll einerseits ein bereits tradiertes fernsehmediales Bild des Dichters affirmiert und andererseits ein öffentlichkeitswirksames Image entworfen werden, welches Hesse als ›Superstar‹ in einen popkulturellen Kontext einbindet und somit neue, der Thematik ›fernere‹ Zuschauergruppen ansprechen soll.

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Alle Ausstrahlungstermine im Jahr 2012, die in diesem Beitrag aufgeführt werden, sind bei den jeweiligen Sendern erfragt worden. Ausstrahlungen in den nachfolgenden Jahren werden hier nicht berücksichtigt.

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II Hermann Hesse – Der Weg nach innen (2012)6 Kaum eine Bezeichnung spielt sowohl für das Leben als auch für das literarische Werk von Hermann Hesse eine größere Bedeutung als ›der Weg nach innen‹. Oftmals wurde die Biografie des Autors als lange Reise der Selbstfindung, als ein Rückzug ins ›Innere‹, bezeichnet. Dieses Motiv passt zu dem Bild des Dichters als ›Innerlichkeitsautor‹ und trägt maßgeblich zu seinem Image als introvertierter, naturverbundener Esoteriker bei. Für sein literarisches Werk hat ›der Weg nach innen‹ gleich mehrere Bedeutungen. Zum einen verweist diese Bezeichnung auf das gleichnamige Gedicht, dessen Titel sich in der Forschung auch als feststehender Terminus für ein Zentralmotiv in Hesses Lyrik etabliert hat (vgl. Šafránková 2002). Zum anderen wählte der Dichter diesen Titel ein weiteres Mal für eine Zusammenstellung von vier Erzählungen, die 1931 als »billige Volksausgabe«7 im S. Fischer-Verlag erschien. Geprägt von seinem Amt in der Berner Kriegsgefangenenfürsorge, welches ihn während des Ersten Weltkrieges literarisch nahezu unproduktiv machte, beschreibt Hesse in einem späteren, persönlichen Nachwort zu dieser Publikation, was ›der Weg nach innen‹ für seine eigene Biografie bedeutet: »Nach den Leiden und Behinderungen durch den Krieg, nach dem Zusammenbruch, den auch mein persönliches Leben damals erfahren hatte, war diese erste Nachkriegszeit für mich eine sehr fruchtbare, denn ich konnte nach den Jahren der Entfremdung zum ersten Mal wieder völlig frei meiner eigenen Arbeit leben, allein, ohne Amt, ohne Familie.« (Hesse, zit. n. Below 2012: 156)

Hesses Selbstdarstellung zeugt davon, wie verwoben seine Lebensumstände mit seinem literarischen Schaffen sind. Der ›Weg nach innen‹ ist demnach die Befreiung von jeglicher Verantwortung und Verpflichtung, die ihn bei seiner schriftstellerischen Tätigkeit hätten ›einschränken‹ können. Der Beitrag von Andreas Christoph Schmidt zum Hesse-Jahr 2012 verweist somit bereits durch die Verwendung dieses mehrdeutigen Titels darauf, dass der

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Der Fernsehfilm Hermann Hesse – Der Weg nach innen wurde im Gedenkjahr auf arte dreimal ausgestrahlt. Darunter auch die Premiere für das deutsche Fernsehen am 08. August, gefolgt von Wiederholungen am 20. und 27. August 2012. Zudem wurde dieses Portrait ein weiteres Mal am eigentlichen Todestag, am 09. August, im SWRFernsehen gesendet.

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So bezeichnete Hesse die Zusammenstellung seiner Erzählungen in einem Brief an Helene Welti vom 11. Juli 1931 (Below 2012: 156).

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Fokus dieser Fernsehproduktion sowohl auf die Vita als auch auf das Werk des Dichters gerichtet ist. Der Regisseur thematisiert in seinem Portrait Hesses Biografie anhand einzelner Stationen, die trotz der frühen literarischen Erfolge eine Lebensreise voller privater Niederlagen aufzeigen. Begonnen wird mit einer Reihe langsam nacheinander geschnittener Panoramaaufnahmen von in Nebel gehüllten Bergen und Tälern im schweizerischen Engadin. Akustisch werden sie mit langsamen, schweren Klavierklängen unterlegt und eine sonore Stimme aus dem Off rezitiert als ›Voice-Reenactment‹ thematisch passende Landschaftsbeschreibungen des Dichters. Bereits der Anfang des Fernsehportraits vermittelt damit eine melancholische Stimmung. Den schwermütigen Grundton dieser ersten Bilder beschreibt Christopher Schmidt in seiner Rezension mit den treffenden Worten: »Alles ist hier, wie so oft in Dokumentationen über tote Dichter, auf Abschied gestimmt, im Ton piano, in der Anmutung sepia.«8 Der weitere Filmverlauf führt den Zuschauer nach Calw in Hermann Hesses pietistisches Elternhaus, das als elitär vorgestellt wird. Die Familie erscheint als Verbund »hochbegabter, zu großer Entsagung bereiter, unermüdlich fleißiger Gottesknechte«.9 Durch ein Found-Footage-Verfahren werden aktuelle Bilder der Stadt Calw um historische Fotografien der Familienangehörigen des Dichters ergänzt. Der Sprecher betont unterdessen die Mehrsprachigkeit der Großeltern Hesses, die als Missionare die ganze Welt bereisten. Das Image einer gebildeten und weltbewanderten Familie wird an dieser Stelle vermittelt, einer Familie, die in der Fachwerkkulisse von Calw eher fremd als heimisch wirkt. Die eigentliche Kindheit von Hesse wird in dieser Sequenz nur marginal behandelt, der Fokus ist vielmehr auf das intellektuelle Umfeld gerichtet, in dem der Dichter aufwuchs. Nach dieser Sequenz, die eine ›privilegierte‹ Herkunft des Autors betont, wird sein Zusammenbruch während der Jugendjahre in der Klosterschule Maulbronn thematisiert. Als einstige Ausbildungsstätte zukünftiger Eliten werden die zahlreichen Einmeißelungen von ehemaligen Schülern im Kreuzgang der mittelalterlichen Klosteranlage gefilmt. Neben dem Schriftzug ›Holder‹, der für Friedrich Hölderlin steht, wird auch der Name von Hermann Gundert, Hesses Großvater, gezeigt, der sich ebenfalls als ehemaliger Seminarist auf den Mauern der Schule verewigte. Die Signatur von Hermann Hesse findet sich jedoch nicht, da er selbst in Maulbronn scheiterte. Die Repressionen durch die strenge Eliteschule und die unerwiderte Liebe zu einer 36-Jährigen führten den Dichter zu seinem

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www.sueddeutsche.de/medien/hesse-doku-zum-todestag-die-guru-slideshow-1.143 6866

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Hermann Hesse – Der Weg nach innen [06:20-06:50] [Transkription v. A.M.].

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ersten Suizidversuch. Daraufhin zeigt Schmidts Autorenportrait eine Odyssee durch zahlreiche Kurhäuser und Nervenkliniken, in die Hesses Eltern ihn nach seinem fehlgeschlagenen Selbstmord eingewiesen hatten. Die heutigen Aufnahmen dieser Orte vermitteln jedoch ein harmonisches Bild dieser eher schwierigen Lebensphase des Dichters: Leise vor sich hinplätschernde Brunnen und die in warmes Licht getauchten Gebäude bilden einen starken Kontrast zu einem wütenden Brief des Autors an seinen Vater, der simultan zu diesen Bildern auf der Tonebene rezitiert wird. Der Inhalt des Briefes besteht u.a. aus dem Vorwurf Hesses an seinen Vater, ihm durch seine repressive und bevormundende Erziehung die Freude am Leben genommen zu haben. Auch für den weiteren Verlauf des Portraits verwendet der Regisseur ausschließlich aktuelle Filmaufnahmen der historischen Lebensorte des Dichters. Insbesondere seine Wohnhäuser stehen hierbei im Mittelpunkt, deren Gärten, Fassaden und Mobiliar fast schon wie gemalte Stillleben eingefangen werden. Diesen Eindruck erweckt Schmidt durch die Verwendung von unbewegten Standbildern, die sich teils kaum von Fotografien unterscheiden. Dadurch wirkt das Portrait stellenweise wie eine Dia-Slideshow, die durch eine Abfolge zahlreicher Close-Up-Einstellungen von tickenden Uhren, verblassten Gebäudefassaden und welkenden Pflanzen ein verstärkt melancholisches Bild des Dichters vermittelt (siehe Abbildung 1). Durch ihre Ästhetik unterstützen die Aufnahmen der Wohnhäuser aber nicht nur den schwermütigen Grundton des Portraits, sie fungieren stellenweise auch als Anknüpfungspunkte, um die Nähe zwischen literarischer Fiktion und biografischer Wirklichkeit aufzuzeigen. Beispielsweise wird das ehemalige Wohnhaus in Bern mit dem Scheitern von Hesses erster Ehe in Verbindung gebracht. Das Gebäude wird aber nicht als Kulisse dieses privaten ›Misserfolges‹ vorgestellt, sondern als Schauplatz des Romans Roßhalde (1914), der ebenfalls von einer gescheiterten Ehe handelt. Diese Verbindung von Autorenvita, Wohnhaus und literarischem Stoff vermittelt an dieser Stelle den Eindruck, dass es sich bei Roßhalde nicht um einen fiktiven Roman handelt, sondern um die privaten Memoiren des Dichters.

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Abbildung 1: Close-up-Einstellungen

Quelle: Hermann Hesse – Der Weg nach innen (2012)

Diese Herangehensweise des Regisseurs, die Leben und Werk von Hesse nicht nur verbindet, sondern gleichsetzt, wird am deutlichsten in einer späteren Sequenz formuliert, in der auf den Umzug des Dichters nach Montagnola eingegangen wird. Hesse bewohnte dort eine Wohnung in der spätbarocken Villa Camuzzi, die kurzerhand ebenfalls zum Schauplatz eines literarischen Stoffes gemacht wird. Eine Aufnahme im Inneren der Wohnung zeigt einen hellen Raum, in den Tageslicht durch eine offene Balkontür einfällt. Kommentiert wird dieses Standbild mit den Worten: »Der Balkon ist noch da, auf dem der Maler Klingsor am Anfang von Hesses Erzählung Klingsors letzter Sommer stand. Hier war Hesse Klingsor«.10 Andreas Christoph Schmidts Filmportrait bestätigt mit solchen Passagen die These von Hannelore Schlaffer, die im alltäglichen Umgang mit Literatur eine deutliche Nähe zum Biografismus feststellt. Im Zuge ihrer Argumentation konstatiert die Germanistin: »Im Fernsehen interessiert das Werk als Bekenntnis seines Autors und verschwindet hinter der beichtenden Person.« (Schlaffer 2013) Schmidts Fernsehportrait lässt Hesses Literatur zwar nicht hinter seiner Biografie ›verschwinden‹, jedoch wird sie funktionalisiert, indem sie auf reale

10 Ebd. [37:50-38:00].

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Orte und Erlebnisse zurückgeführt wird.11 Indem der Regisseur Hesses Werke ausschließlich als autobiografische Quellentexte für das Leben des Dichters begreift, lässt er keine Spielräume für die Fiktionalität der in Rede stehenden Dichtungen. Somit steht die »Authentizität des Lebens« gegen die »Fiktion der Literatur« (Schlaffer 2013). Der Anspruch des Portraits, ein authentisches Bild von Hesses Biografie zu vermitteln, spiegelt sich auch in der Auswahl der hinzugezogenen Interviewpartner wider. Für die Gliederung seines Fernsehfilms setzt Schmidt auf ausgewiesene Hesse-Experten, die über ihre fachliche Reputation hinaus auch anderweitig mit dem Autor in Verbindung stehen. Neben dem Schriftsteller Adolf Muschg und dem Biografen Heimo Schwilk kommen zudem der Herausgeber Volker Michels und der Enkel des Dichters, Silver Hesse, zu Wort. Jede dieser Personen kannte Hermann Hesse entweder noch persönlich oder teilt mit ihm eine biografische Gemeinsamkeit. Adolf Muschg zum Beispiel stammt ebenfalls aus einer pietistischen Familie und Heimo Schwilk gehört zu einer der letzten Generationen, die ihre Schulzeit in der Klosterschule Maulbronn verbrachten. Somit treten die von Schmidt aufgeführten Personen weniger durch ihre fachliche Kompetenz in Erscheinung, sie fungieren vielmehr als ›Bürgen‹, welche die Lebensumstände des Autors vermeintlich verifizieren können. Zudem filmt Andreas Christoph Schmidt die aufgeführten Experten teilweise an Orten, die zusätzlich ihre Nähe zu Hermann Hesse unterstreichen. Der Enkel des Dichters wird zum Beispiel im Hotel Waldhaus Sils interviewt, in einem Zimmer, das einige Szenen zuvor als jenes vorgestellt wurde, in dem Hermann Hesse oft während seiner Aufenthalte im Engadin logierte. Somit kommt an dieser Stelle zur ›Authentizität‹ des Kommentars eines Familienangehörigen noch die spezifische ›Aura‹ des Ortes hinzu. Auch der Schriftsteller Adolf Muschg wird im edel-nostalgischen Ambiente des Hotels interviewt, er jedoch im Rahmen eines jährlich dort stattfindenden Hesse-Kongresses. Muschg in diesem Kontext zu interviewen, signalisiert somit auch die Nähe der Fernsehproduktion zur aktuellen Hesse-Forschung. Abschließend thematisiert das Autorenportrait die Hesse-Rezeption der 1960er Jahre. In einer Sequenz von nicht einmal zwei Minuten wird die Begeisterung der damaligen Jugend für die Bücher Siddhartha (1922) oder Der Steppenwolf (1927) als »kulturelles Missverständnis« abgehandelt.12 In einem Kommentar erläutert Adolf Muschg, dass die Hippie-Szene »eine Empfindlichkeit

11 Gemeint ist an dieser Stelle der ›Erlebnis‹-Begriff nach Wilhelm Dilthey (1906) (vgl. Jannidis/Lauer/Martínez et al. 2000: 11). 12 Vgl. Hermann Hesse – Der Weg nach innen [43:33-44:40].

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aus dem Steppenwolf […] zu einem epochalen Tableau vergrößert«13 hat und somit der ›Hype‹ um den Autor lediglich auf einer Fehlinterpretation seiner Werke beruhe. Auf die Bedeutung dieses Rezeptionszeitraumes für die internationale Popularität und den daraus resultierenden Kultstatus des Dichters geht das Portrait nicht weiter ein. Somit wird Hermann Hesse als Blumenkinder-Guru und Ersatzgott eher von dem Hermann Hesse-Bild überschattet, das ihn als melancholischen Außenseiter und »prüden Gärtner« vorstellt (Laszlo 2012). Dass sich Schmidt mit seiner Produktion nicht nur geläufige fernsehmediale Konstruktionen von Hermann Hesse zu eigen macht, sondern auch tradierte Gestaltungsprinzipien übernimmt, wird durch einen Blick auf ältere Fernsehportraits deutlich. Bereits zum 120. Geburtstag des Dichters im Jahr 1997 produzierte das SWR-Fernsehen unter der Regie von Sarah Palmer ein Portrait mit dem Titel Der Weg zu sich selbst. Nicht nur der Titel dieses Portraits weist eine Ähnlichkeit zu Schmidts Produktion von 2012 auf, auch inhaltlich lassen sich zahlreiche Parallelen ausmachen. Denn Palmer richtet ihren Fokus ebenfalls auf die Biografie des Autors und zeichnet die »Lebensstationen Hesses von Calw bis Montagnola« (Below 2012: 462) nach. Auch was die Auswahl der Experten angeht, lassen sich Ähnlichkeiten feststellen. Die Regisseurin setzte 1997 ebenfalls auf Familienangehörige des Dichters – in ihrem Fall auf Hesses Sohn Heiner – und der Herausgeber Volker Michels gehörte bereits bei ihr zum festen Inventar. Auch der Schweizer Schriftsteller Adolf Muschg ist von Andreas Christoph Schmidt ›übernommen‹ worden. So äußert er sich als Kommentator bereits 2002 in einer 3sat-Produktion zum 125. Geburtstag, welche mit dem Titel Hermann Hesse. Seelenarbeiter ebenfalls auf das Bild des ›Innerlichkeitsautors‹ abzielt (vgl. ebd.).

III Hermann Hesse – Superstar (2012)14 Hermann Hesse – ein Superstar? Wohl keine Bezeichnung findet sich in der aktuellen Fernsehlandschaft häufiger als die des ›Stars‹. Insbesondere die zahlreichen Casting-Formate, wie zum Beispiel Deutschland sucht den Superstar (RTL) oder Popstars (Pro7), nutzen diesen Begriff ebenso wie die Sendung

13 Ebd. 14 Der Fernsehfilm Hermann Hesse – Superstar wurde allein im Gedenkjahr drei Mal ausgestrahlt. Zunächst am 2. Mai 2012 als Erstausstrahlung im Ersten Deutschen Fernsehen, gefolgt von Wiederholungen am 16 Juli 2012 im SWR-Fernsehen und am eigentlichen Todestag, am 9. August 2012, auf 3sat.

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Let’s Dance (RTL), welche diesen Begriff zwar nicht in ihrem Namen führt, jedoch auch darauf ausgerichtet ist, den ›Dancing Star‹ unter den Kandidatinnen und Kandidaten auszumachen. Es scheint so, als sei der Begriff ›Star‹ nie inflationärer verwendet worden als in der heutigen Zeit. Dies spiegelt zum einen das aktuelle gesellschaftliche Bedürfnis wider, Identifikationsfiguren hervorzubringen, zum anderen fällt durch die Überzahl an Stars die Konturierung des ›Starphänomens‹ an sich immer schwerer. Bereits in der 1997 veröffentlichten Publikation Der Star. Geschichte – Rezeption – Bedeutung konstatieren die Herausgeber, dass sich die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Medienstars als äußerst ›sperrig‹ erweist, da sich »je nach historischem, medienspezifischem oder gesellschaftlichem Kontext […] unterschiedliche Erscheinungsformen« (Faulstich/Korte/Lowry et al. 1997: 11) ergeben. Die Relevanz dieser kontextuellen Faktoren wird auch bei der Übertragung des ›Starphänomens‹ auf Schriftsteller bestätigt. Als Beispiele für die Vielfalt der Erscheinungsformen könnten an dieser Stelle Goethe und Schiller aufgeführt werden, die sich im Zuge des Autorschaftsverständnisses des ausgehenden 18. Jahrhunderts zu ›Genies‹ stilisierten, oder einige der heutigen Popliteraten, die in ähnlicher Weise wie Popmusiker durch ihre strategische Nutzung der Medien versuchen, sich zu vermarkten und den Kult um die eigene Person zu etablieren oder zu steigern.15 Bereits der Titel von Andreas Ammers Fernsehproduktion zum Hesse-Jahr 2012 evoziert durch die Nutzung des Wortes ›Superstar‹ ein Autorenbild, das im Gegensatz zur Lebensweise des Dichters steht. Hermann Hesse wollte stets ›in Ruhe‹ gelassen werden, brachte an seinem Wohnhaus in Montangnola ein Schild an, auf dem »Bitte keine Besuche« zu lesen war.16 Wenn der Autor nicht reiste oder an seinem Schreibtisch arbeitete, verbrachte er die meiste Zeit damit, in seinem Garten Rosen zu züchten. Sogar bedeutende Auszeichnungen wie den Literaturnobelpreis vermied er stets persönlich entgegen zu nehmen, kurz: Er führte in der Schweiz ein zurückgezogenes Leben, fern von den Medien, zeitweise fast schon wie ein Einsiedler. Verglichen mit diesen überlieferten biografischen Fakten von Hesse scheint es so, als gebe es kaum einen ungeeigneteren deutschen Schriftsteller, den man im Fernsehen als Superstar präsentieren könnte. Es drängt sich also die Frage auf, wie Hermann Hesse medial mit einem solchen Image zu vereinbaren ist. Die Diskrepanz, die zwischen dem tradierten ›Habitus‹ des Dichters und dem Status eines Superstars besteht, löst Andreas Ammer, indem er den inhaltlichen

15 Mehr zu den Vermarktungsstrategien der Popliteraten bei Degler/Paulokat (2008). 16 Vgl. Hermann Hesse – Superstar [26:38] [Transkription v. A.M.].

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Fokus seines Fernsehfilms verlagert. Nicht in der Biografie von Hermann Hesse wird nach entsprechenden Star-Attributen gesucht, sondern in seiner Rezeptionsgeschichte. Damit deckt sich der inhaltliche Schwerpunkt von Ammers Autorenportrait mit der Feststellung u.a. von Werner Faulstich, der die schwammige Definition eines Stars »in der Rezeption durch das Publikum« begründet sieht (ebd.). Demnach spielt es keine Rolle, ob sich Hermann Hesse selbst, zum Beispiel durch seinen Lebensstil oder durch seine Medienpräsenz, als Superstar eignet, vielmehr geht es darum, ob er von seinen Rezipienten zu einem ›gemacht‹ wird. Zudem stellt diese Rezipientenschaft keine ›homogene Masse‹ dar, sondern sie besteht aus einer Vielzahl von Fan- und Lesergruppen, die in ihrem jeweiligen gesellschaftlichen oder historischen Kontext dem Autor Hesse jeweils einen anderen Status verleihen (vgl. ebd.). Die Vielzahl von Faktoren, die letztendlich aus einer Person einen ›Star‹ machen, wächst somit exponentiell. Nicht ohne Grund fokussiert Andreas Ammer in seiner Fernsehproduktion einen bestimmten historischen Abschnitt innerhalb der Hesse-Rezeptionsgeschichte: Der ›Hype‹ um den Autor am Ende der 1960er Jahre – als die USamerikanische Hippie-Szene sich den deutschen Dichter als ›Ersatzgott‹ erkor – bildet den historischen Referenzzeitpunkt für den ihm von Ammer medial noch einmal anverwandelten Starstatus. Gleich zu Beginn des Autorenportraits wird auf diesen verwiesen: Während als Eingangssequenz historische Aufnahmen von Hesse und seiner dritten Frau Ninon Dolbin-Ausländer gezeigt werden, kommentiert eine Erzählerstimme aus dem Off die Bilder mit den Worten: »Hesses Lebensstationen: Selbstmörder, Schriftsteller, Nobelpreisträger, Ersatzgott.«17 Bezeichnen die ersten drei Schlagworte noch Stationen aus der Biografie Hesses, so verweist bereits der letzte Punkt auf die Imagefundierung durch die HippieRezeption der 1960er Jahre. Im weiteren Verlauf des Autorenportraits stellt Ammer durch ein FoundFootage-Verfahren Hermann Hesse immer wieder in den Kontext dieses Rezeptionszeitraumes. Neben Aufzeichnungen von offensichtlich drogenberauschten ›Hippies‹, die von der bewusstseinserweiternden Wirkung ihrer Hesse-Lektüre berichten, ist auch eine Aufnahme von Siegfried Unseld aus dem Jahr 1971 Bestandteil dieser Materialcollage. Als eine der herausragenden Autoritäten des damaligen Literaturbetriebs attestiert er Hesse, dass er »von seinem Frühwerk bis in seine praktisch letzte Zeile einer Rebellion, einer Revolte, Ausdruck gegeben hat.«18 Die Auswirkungen dieser ›Rebellion‹ auf die damalige Populärkultur werden im Anschluss an diese Passage wieder mithilfe von Filmmaterial aus den

17 Ebd. [00:09-00:16]. 18 Ebd. [04:35-05:02].

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1970er Jahren durch die Thematisierung der Rockband Steppenwolf aufgezeigt, welche sich nach dem berühmten Roman des Dichters benannte. Für das gesamte Autorenportrait lässt sich feststellen, dass der Umgang mit Found-Footage weniger davon motiviert scheint an bestimmten Passagen die ›Historizität‹ der dargebotenen Hesse-Rezeption zu betonen, sondern die ständige Einbindung älterer Fernsehaufnahmen ein grundlegendes Kompositionsprinzip des Regisseurs darstellt. Die Produktion besteht, abgesehen von einigen Luftaufnahmen und den Einschüben der Kommentatoren, größtenteils aus Ausschnitten vorangegangener Fernsehproduktionen über den Dichter. So sind zum Beispiel die oben erwähnten Aufnahmen der drogenberauschten ›Hippies‹ oder die Passage mit dem Verweis auf die Rockband Steppenwolf aus dem Portrait Hermann Hesse – Heiliger der Hippies? (1971) von Jochen Richter entnommen19 und einige Kommentare von Siegfried Unseld entstammen Klaus Liebes Produktion »Tapferkeit, Eigensinn und Geduld.« Hermann Hesse ausgezeichnet 1946 (1981).20 Durch diese Kompositionstechnik schöpft Andreas Ammer insofern die Möglichkeiten eines Found-Footage-Verfahrens in voller Gänze aus, als es nicht wie in Doku-Formaten üblich nur stellenweise zum Einsatz kommt, sondern die gesamte Produktion ein einziges dreißigminütiges Konglomerat aus intramedialen Zitaten ist. Dadurch erweitert sich auch Ammers Funktion als Regisseur. Er fungiert nicht mehr nur im klassischen Sinne als ›Spielleiter‹, der über die ästhetische Art und Weise der ohnehin wenigen selbstgedrehten Passagen entscheidet, sondern nimmt darüber hinaus in Analogie zu einem DJ die Funktion eines Videojockeys ein, der das Originalmaterial durch die beispielweise in der Popliteratur und -musik gängige Praktik des ›Samplings‹ »im neuen Kontext weiterleb[en]« (Poschardt 1997: 283) lässt. Nicht nur auf der visuellen Ebene versteht es Ammer den Autor mit dem Rummel um seine Person in den 1960er Jahren in Verbindung zu bringen. Auch die eingespielte Musik nutzt er, um Hermann Hesses Starimage zu fundieren. Wichtige thematische Abschnitte des Autorenportraits werden mit unterschiedlichen Songs der britisch-amerikanischen Rockband Eric Burdon & The Animals hinterlegt, die in den 1960er Jahren insbesondere in den USA ihre größten Erfolge feierte. Die Songs spiegeln jedoch nicht nur den ›Zeitgeist‹ wider, auf der visuellen Ebene nehmen sie stellenweise auch eine Kommentarfunktion zu dem gesampelten Film- und Fotomaterial ein. Beispielsweise werden die Aufnahmen, mit denen die Anhänger der Hippie-Bewegung als die ›Kinder‹ der Hesseschen

19 Vgl. Hermann Hesse – Heiliger der Hippies? [03:07-04:07] und [11:05-11:20]. 20 Vgl. »Tapferkeit, Eigensinn und Geduld« Hermann Hesse ausgezeichnet 1946 z.B. bei [04:40-05:30].

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Rebellion vorgestellt werden sollen, akustisch mit dem Song San Francisco Nights hinterlegt.21 Dadurch werden die Bilder auf der Tonebene mit der USamerikanischen Großstadt in Verbindung gebracht, die das Zentrum der friedlichen ›Flowerpower-Bewegung‹ bildete. Aufgrund der Kombination von Ton und Bild findet sich eine ähnliche Anspielung nach einer kurzen Zwischensequenz, in der auf die bürgerliche Enge von Hesses Elternhaus in Calw und auf die Repressionen während seiner Schulzeit im Kloster Maulbronn eingegangen wird. Die persönliche Entwicklung und der neue Lebensstil des Autors, insbesondere geprägt durch seinen Umzug in die Schweiz und seine ersten literarischen Erfolge, werden auf der visuellen Ebene anhand von eingeblendeten Fotografien aufgezeigt. Eine Fotografie, die den jungen Hesse mit einer Zigarre zeigt, erscheint genau zu dem Zeitpunkt, als die Zeile »I smoked my first cigarette at ten« (ebd.) aus dem Song When I Was Young zu hören ist. Die Behauptung der Liedzeile, die erste Zigarette bereits im Alter von zehn Jahren geraucht zu haben, projiziert in Kombination mit der Fotografie ein gewisses ›Bad-Boy-Image‹ auf den Autor, das üblicherweise eher bei Rockstars als beim ›Innerlichkeitsschriftsteller‹ zu finden ist (Abbildung 2). Abbildung 2: »I smoked my first cigarette at ten«

Quelle: Hermann Hesse – Superstar (2012)

Die ständigen Verweise auf die Hesse-Rezeption der 1960er Jahre bilden jedoch nicht den einzigen Referenzzeitraum für den Starstatus des Autors. Der Fernsehfilm stellt Hesse auch in den Kontext der heutigen Populärkultur. Ammer setzt zum Beispiel für die Gliederung seines Autorenportraits nicht auf elaborierte Kommentare von Experten aus Verlagskreisen, Literaturwissenschaft oder Feuilletonistik, sondern führt Personen auf, die man auf den ersten Blick nicht unbe21 Vgl. Hermann Hesse – Superstar [05:03-06:40].

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dingt als ›Literaturkenner‹ konsultieren würde. Es sind Stars aus den verschiedensten Bereichen des öffentlichen Lebens, darunter zum Beispiel Altrocker Udo Lindenberg, Sternekoch Vincent Klink und Fußballkaiser Franz Beckenbauer. Diese ›Expertenbesetzung‹ tritt nicht durch hochdifferenzierte Kommentare zu Hesses Werk oder Persönlichkeit in Erscheinung, sondern schildert lediglich ihre subjektiven Eindrücke zu diesen Themen. Als Stars der heutigen Populärkultur stellen sie gewissermaßen Multiplikatoren dar,22 die durch ihre Meinungen ein ›Star-Bild‹ des Autors in die Öffentlichkeit transportieren sollen. Besonders deutlich wird dies bei Udo Lindenberg: Davon abgesehen, dass der Musiker als einzige der interviewten Personen die Distanz zum Dichter ablegt, indem er wie über einen befreundeten Kollegen nur noch von ›Hermann‹ spricht, werden die fachlichen Verbindungen zwischen dem Musiker und dem Dichter nicht thematisiert. Lindenberg gründete am 10. Dezember 2006 nämlich die Udo-Lindenberg-Stiftung, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, »den Steppenwölfen unter den MusikerInnen und SongtexterInnen eine neue Plattform zu schaffen und Hermann Hesses Dichtung mit Musik zu verbinden.«23 Zudem verleiht die Stiftung jährlich den Hermann-Hesse-Sonderpreis für die beste Vertonung von Texten des Dichters.24 Dass Udo Lindenberg neben seiner Musikerkarriere auch Förderer von musikalischen Hesse-Adaptionen ist und somit nicht nur ein privates Interesse an dem Dichter pflegt, wird in Ammers Fernsehproduktion allerdings an keiner Stelle erwähnt. Neben dieser Multiplikatoren-Funktion der Stars, die Hesses Image in der heutigen Populärkultur festigen soll, stellt diese ungewöhnliche Besetzung von ausgerechnet den Kommentatorenposten, auf denen üblicherweise Kandidaten wie zum Beispiel Hellmuth Karasek oder Marcel Reich-Ranicki zu Wort kommen, auch eine parodistische Auseinandersetzung mit dem Sendeformat an sich dar. Insbesondere durch die Mise en Scène wird die Auswahl der dargebotenen Gesprächspartner als Bruch mit den ›konventionellen‹ Gestaltungsmethoden von Autorenportraits im Fernsehen markiert. Udo Lindenberg wird zum Beispiel nicht – wie so oft bei ›Literaturexperten‹ – vor einer Bücherwand gefilmt, sondern vor einem düsteren, braunen Hintergrund – meist in Nahaufnahme, so dass seine Rockstar-Markenzeichen (Hut, Brille, stellenweise auch Zigarre) fast das gesamte Bild ausfüllen. Die Interviewsituation bei Sternekoch Vincent Klink findet offensichtlich in einem Restaurant statt und eine ähnlich plakative Anspie-

22 Mehr zur Bildung der öffentlichen Meinung durch Stars und Medien bei: Faulstich/Korte/Lowry et al. (1997: 11-28), Maurer (2010: 65f.) sowie Donges (2010: 7). 23 www.udo-lindenberg-stiftung.de/stiftungszweck.33039.htm 24 Vgl. www.udo-lindenberg-stiftung.de/sonderpreis-hermann-hesse.144240.htm

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lung findet sich auch bei Franz Beckenbauer, bei dem unscharf ein Fernseher im Hintergrund zu sehen ist, auf dem während des Interviews ein Fußballspiel läuft (siehe Abbildung 3). Abbildung 3: Mise en Scène der Gesprächspartner

Quelle: Hermann Hesse – Superstar (2012)

In seinem 2012 erschienenen Aufsatz Pop, Parodie und Profanierung bezeichnet Robert Fajen die Parodie als ein Alleinstellungsmerkmal der Popkultur. Sie ist »eine kulturelle Praktik, die andere kulturelle Praktiken in polemischer Weise zitiert, nachahmt und verformt« (Fajen 2012: 137). Zudem sieht Fajen die Parodie als ein »Instrument der Beobachtung« (ebd.: 138), welches trotz einer amüsierenden und humoristischen Funktion auch eine kritische Analyse von domi-

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nanten Mechanismen der Kulturlandschaft möglich macht. Übertragen auf das Hesse-Portrait von Ammer stellen beispielsweise der von Comedians schon oft parodierte bayrische Akzent von Franz Beckenbauer oder die eigenwillige Sprechweise von Udo Lindenberg ein humoristisches Element dar; gleichzeitig unterstreichen die Locations, vor denen man die Stars inszeniert, deren Laienhaftigkeit. Kurz: Sie werden eindeutig einem anderen Metier als der ›Literatur‹ zugeordnet. Diese parodistischen Zitate einer geläufigen Gestaltungspraktik ›traditioneller‹ Dichterportraits im Fernsehen – zu der zweifelsfrei auch eine Gliederung durch eingeschobene Kommentare von ausgewiesenem Fachpersonal zählt – entlarven somit, wie »verbraucht und erneuerungsbedürftig« (ebd.) dieses geläufige dramaturgische Element geworden ist. Nicht zuletzt wirft Andreas Ammers Fernsehfilm einen neuen und unkonventionellen Blick auf Hermann Hesse und seine Rezeptionsgeschichte. Darüber hinaus trägt Ammers Produktion aber auch dazu bei, die Kluft zu überbrücken, welche zwischen der bildungsbürgerlichen Elite- und der massenorientierten Populärkultur in der bisherigen fernsehmedialen Auseinandersetzung mit dem Dichter bestand (vgl. ebd.: 137ff.).

IV Vergleichendes Fazit Abschließend lässt sich feststellen, dass das SWR-Fernsehen in seinen beiden Portraits zum Hesse-Gedenkjahr 2012 – beispielsweise im Gegensatz zu den eingangs erwähnten Ausstellungen – ein sehr unterschiedliches Bild des Autors vermittelt. Während die Produktion von Andreas Christoph Schmidt auf die Affirmation traditioneller Fernsehkonstruktionen von Hermann Hesse setzt und zudem sogar versucht, neue Ansätze (als ›kulturelle Missverständnisse‹25) zu revidieren, reanimiert Andreas Ammer durch sein Portrait die Autorenkonstruktionen der 1960er Jahre durch eine Aktualisierung im heutigen Fernsehen. Davon abgesehen, dass Schmidts Portrait ästhetisch in einer deutlichen Traditionslinie der bisherigen Hesse-Fernsehproduktionen steht, vermittelt der fünfzigminütige Film das Bild eines melancholischen, fast schon depressiven Dichters. Dies zeichnet sich auch durch die Zeit ab, die das Portrait den Repressionen in der Jugend und den beiden fehlgeschlagenen Selbstmordversuchen des Autors einräumt. Schmidt verzichtet zwar darauf, Hesse durch ein Reenactment darzustellen, jedoch charakterisieren die zahlreichen Close-Up-Einstellungen in der

25 Vgl. Hermann Hesse – Der Weg nach innen [43:33-44:40].

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Tradition barocker Vanitassymbolik den Autor als sensible und zerbrechliche Person. Demgegenüber greift Andreas Ammers Portrait Hermann Hesse – Superstar durch seinen auf die Rezeption gerichteten Fokus weniger ein eigenständiges Bild vom Autor als vielmehr ein Image auf, das von der 68er-›Hessemania‹ bereits (vor-)konstruiert wurde. Solch eine Thematisierung der Rezeptionsgeschichte ist in den Hermann Hesse gewidmeten Fernsehproduktionen kein Novum. Schon im Jahr 1971, also als unmittelbare Reaktion auf die euphorische US-amerikanische Hesserezeption, entstand unter der Regie von Jochen Richter das bereits weiter oben erwähnte Autorenportrait Hermann Hesse – Heiliger der Hippies?26 Fast wie eine Antwort auf den Titel dieses Portraits – welcher durch seine interrogative Form impliziert, den Kult um Hermann Hesse kritisch hinterfragen zu wollen – wirkt allerdings die Namensgebung von Andreas Ammer. Die damaligen Bezeichnungen ›Prophet‹, ›Guru‹ und ›Ersatzgott‹, die alle auf das historische Autorschaftsmodell des poeta vates rekurrieren (vgl. Hoffmann/Langer 2007: 140), greift der Regisseur in affirmativer Weise auf, um seinen gewählten Titel Hermann Hesse – Superstar zu legitimieren. Dieses vermittelte Starbild des Autors deckt sich außerdem mit der Feststellung von Ute Paulokat und Frank Degler, die in der Popkultur neben dem Künstler und seinem Werk vor allem den ›Darsteller‹ im Mittelpunkt sehen, der durch den öffentlichen Diskurs überhaupt erst konstruiert wird (vgl. Degler/Paulokat 2008: 22). So beansprucht Andreas Ammers Portrait nicht, eine tiefgründige ›Innenperspektive‹ von der Person Hermann Hesse zu liefern (wie zum Beispiel die Produktion von Andreas Christoph Schmidt), sondern es thematisiert den literarischen Superstar der Popkultur, sprich: die öffentliche Projektionsfläche dieser empirischen Autorpersönlichkeit,27 die sich selbst jedoch zeitlebens den Medien verweigerte. Besonders deutlich manifestiert sich dieser Fokus auf den fernsehmedialen ›Darsteller‹ Hermann Hesse durch Ammers grundlegendes Kompositionsprinzip des Samplings.

26 Dieses Portrait wurde im Jahr 1972 mit dem Grimme-Sonderpreis des Kultusministers von Nordrhein-Westfalen ausgezeichnet (vgl. www.grimmepreisarchiv.de/#id_752). 27 Christiane Künzel schreibt in der Einleitung zu ihrem 2007 zusammen mit Jörg Schönert herausgegebenen Band Autoreninszenierungen. Autorschaft und literarisches Werk im Kontext der Medien von den ›zwei Körpern‹ des Autors. Damit ist zum einen der empirische Autor ›aus Fleisch und Blut‹ gemeint, zum anderen die von Michel Foucault eingeführte diskursive Funktionsweise ›Autor‹. Ausschließlich Letztere ist an dieser Stelle gemeint (vgl. Künzel/Schönert 2007: 10-13).

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Neben diesem besonderen Umgang mit Found-Footage zeichnet sich die Produktion außerdem noch durch weitere ästhetische Innovationen aus, die Hesse zusätzlich in einem popkulturellen Kontext darbieten. In anderen Sendeformaten zählen Kommentare von ausgefallenen oder eigentlich fachfremden Personen zwar bereits zum parodistischen Standardinventar, jedoch findet sich dieses Prinzip im Sendeformat des fernsehmedialen Dichterportraits weitestgehend noch nicht. Diese Übertragung von Gestaltungsparadigmen populärer Fernsehsendungen in ein Format, das dezidiert den Bildungssparten der öffentlichrechtlichen Sendeanstalten zuzurechnen ist, verdeutlicht zudem Ammers unterhaltungsorientierte Ausrichtung,28 die der Regisseur bereits regelmäßig in der Literatursendung druckfrisch29 zum Ausdruck bringt. Im Jahr 2017 findet das nächste Hesse-Großevent statt. Der 130. Geburtstag des Dichters wird mit Sicherheit wieder Anstoß für neue Fernsehproduktionen geben. Ob das Fernsehen jedoch den von Ammer eingeschlagenen Weg einer neuen, unterhaltungsorientierten Konzeption dieses Sendeformats weiter beschreiten wird – bleibt abzuwarten.

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28 Mehr zum Fernsehen als Unterhaltungsmedium bei Hickethier (2006: 91-108). 29 Vgl. dazu den Beitrag von Nils Lehnert in diesem Band, der druckfrisch im Zuge von Christian Krachts medialen Inszenierungsstrategien reflektiert.

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Abbildungen Abbildung 1: Close-up-Einstellungen, Quelle: Hermann Hesse – Der Weg nach innen (D 2012, R: Andreas Christoph Schmidt). Abbildung 2: »I smoked my first cigarette at ten«, Quelle: Hermann Hesse – Superstar (D 2012, R: Andreas Ammer). Abbildung 3: Mise en Scène der Gesprächspartner, Quelle: Hermann Hesse – Superstar (D 2012, R: Andreas Ammer).

»Wegen dem sogenannten Popolare sorgen sie nichts« Zum Mozart-Bild in der Animationsserie Little Amadeus A NDREAS W ICKE

»Er war populär«, singt Falco in Rock Me Amadeus 1985 und legt die Folie modernen Starkults über die Biografie Wolfgang Amadeus Mozarts. Lifestyle, Frauen und Alkohol stehen im Mittelpunkt der Darstellung, die künstlerische Seite wird mit Begriffen wie »Superstar«, »Virtuose« oder »Rockidol« verhüllt, was sein »Flair« ausmacht, erfährt man nicht. Mozart als Popstar, Punker oder obszönen Clown zu zeigen, ist nicht grundsätzlich neu. Wolfgang Hildesheimers Mozart-Buch (1977) und Peter Shaffers Theaterstück Amadeus (1979) bzw. dessen filmische Adaption durch den Regisseur Miloš Forman (1984) haben diesen neuen Blick initiiert. Vorher dominiert das Bild des göttlichen Mozart, das beispielsweise der Film Wen die Götter lieben (1942) oder die Kinderhörkassette Wolfgang – von Gott geliebt (1958) transportieren. In literarischen und filmischen Mozart-Adaptionen ab den 1970er Jahren geht es dann ausdrücklich nicht mehr um die hagiografische Verehrung des göttlichen Genius, stattdessen um ironische Brechungen, Bezüge zur aktuellen Popkultur und in der Kinderliteratur um Begegnungen auf Augenhöhe sowie um Zeitreisen ins 18. Jahrhundert. Hier wird das Wunderkind nicht mehr verklärt, sondern erklärt (vgl. Wicke 2014). Eine Flut von Mozart-Ereignissen bringt das Jubiläumsjahr 2006 hervor, in dem Mozarts 250. Geburtstag gefeiert wird. Dazu zählt auch die Animationsserie Little Amadeus – in zwei Staffeln und 26 Folgen. Hier wird der junge Mozart einerseits als quirliges Wunderkind, häufiger jedoch als eine Art Held des Alltags dargestellt, der mühelos und nicht ohne Überheblichkeit jedes Problem löst. Die Serie kann als populär bezeichnet werden, ohne im engeren Sinne Pop zu sein. Populär ist sie, weil Kinder hier über das Massenmedium Fernsehen einen klassischen Komponisten auf unterhaltsame Art und Weise kennenlernen,

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dabei kommt es jedoch auch zu einer Trivialisierung des Mythos Mozart. Das Wunderkind wird entzaubert und für das kindliche Publikum reduziert und konfektioniert. »Popkultur« hingegen definiert Ulf Poschardt (1997: 412) in DJCulture als »Bastard«. »Pop kann sich nicht entscheiden, ob er Gegenkultur oder herrschende Kultur ist.« Diesem subversiven und ambivalenten Anspruch von Pop wird Little Amadeus nicht gerecht. Das liegt nicht primär daran, dass die Serie sich an ein sehr junges Publikum wendet, sondern resultiert vielmehr aus der Tatsache, dass sich Kultur für Kinder (zu) oft auf Merkmale wie »Einfachheit, Linearität, Regelhaftigkeit, Handlungsdominanz, typisierende[] Figurengestaltung« (Gansel 2010: 12) etc. verpflichtet glaubt.

I Handlungsentwicklung und Figurenzeichnung Bereits am Titelsong der Serie lassen sich zwei Tendenzen ablesen: Dass der historische Mozart bzw. seine Musik in den Hintergrund treten, soll an späterer Stelle gezeigt werden, zunächst geht es um die Schematisierung der Handlung, die der Serie jegliche Entfaltungsmöglichkeit nimmt: »Du bist genial, das weiß auch dein Neider, Der dir leider Beine stellt. Doch du bringst immer Licht ins Dunkel, Kannst so viel mehr, als was gefällt, Denn fängst du an Musik zu spielen, Leuchtet die ganze Welt.«

Diese redundante Konfliktstruktur mit garantiertem Happy-End prägt die Handlung praktisch aller Episoden. Wie im Märchen gibt es die Guten und die Bösen: Die Guten sind alle Gestalten im direkten Umfeld Mozarts, seine Eltern und die Schwester Nannerl, sein Freund Kajetan Hagenauer und dessen Familie, darüber hinaus der Fürsterzbischof Sigismund von Schrattenbach. Diese Figuren existieren auch im Leben des historischen Mozart. Auf eine kuriose Änderung sei hingewiesen, da sie bereits – wie auch der englischsprachige Titel der Serie (vgl. Buck 2006: 74) – eine Ausrichtung auf den internationalen Markt zeigt. In Briefen lässt der historische Mozart immer wieder seinen Hund Pimperl grüßen, lässt ihn küssen oder ihm Schnupftabak verabreichen. Auch in der Serie taucht ein Hund an Mozarts Seite auf, der heißt aber Pumperl, da pimp das englische Wort für Zuhälter ist.

»W EGEN

DEM SOGENANNTEN

P OPOLARE SORGEN

SIE NICHTS«

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Auf der anderen Seite stehen – ebenfalls eindimensional gezeichnet – die Bösen: Lorenzo Devilius, Hofmarschall und Privatsekretär des Erzbischofs, ist jener Intrigant, der Mozart seine Erfolge nicht gönnt und stets neue Kabalen gegen den Titelhelden ausheckt. In seinem steten Gefolge sind sein Neffe Mario, musikalisch völlig unbegabt und leicht debil, sowie – als Gegenfigur zu Mozarts Hund – die sprechende Ratte Monti, hier handelt es sich durchweg um historisch nicht existierende Figuren. Die Handlung entwickelt sich nach einem vorhersehbaren und gleichförmigen Modell: Ein Problem taucht auf, Mozart weiß schlagartig eine – oftmals musikalische – Lösung, und obwohl Devilius intrigiert und versucht, seinem Neffen Mario musikalischen Ruhm zu verschaffen, siegt am Schluss der pfiffige kleine Amadeus. Diese Struktur lässt sich bereits an der ersten Folge der ersten Staffel – Solo für Amadeus – belegen: Am Namenstag von Erzbischof Sigismund soll Mozart ein Solo im Kinderchor singen, außerdem müssen die Hagenauers, das sind die Vermieter der Mozarts und Hoflieferanten des Erzbischofs, Schokoladenkipferl produzieren. Devilius versucht das zu verhindern, indem er die Schokoladenlieferung aus Linz zurückhält, aber Mozart schafft es mit seinem Freund Kajetan, sowohl die Schokolade rechtzeitig zu den Hagenauers zu bringen als auch in allerletzter Sekunde zu seinem Solo im Dom zu erscheinen und somit Mario den Auftritt zu nehmen. Betrachtet man die Animationsserie im Kontext der literarischen MozartBiografik für Kinder, so fällt auf, dass es dort sonst keine so ausgeprägten Feindschaften oder Intrigen gibt, wie sie durch die Figur des Devilius in Little Amadeus allgegenwärtig sind. Im Gegenteil sind es in den etwa gleichzeitig erschienenen fantastischen Zeitreisen – etwa Doris Dörries Mimi und Mozart (2006) oder Herbert Rosendorfers Amadeus und Pauline (2006) – eher Freundschaften zwischen Kindern aus der Jetztzeit und dem Wunderkind Mozart. Die ausgeprägte Rivalität bzw. das Verhältnis zwischen dem Genie Mozart und einem mediokren Konkurrenten ist hingegen eine Traditionslinie, die sich eher in dramatischen bzw. filmischen Formen findet, hier muss dem Protagonisten ein Antagonist an die Seite gestellt werden, der den dramatischen Konflikt auslöst. Die Behauptung, Antonio Salieri habe Mozart aus Neid vergiftet, taucht bereits in Puschkins Kurzdrama Mozart und Salieri (1832) auf und zieht sich über Peter Shaffers Amadeus bis zu Little Amadeus. Volkmar Braunbehrens (1989: 11-23) skizziert in seiner Salieri-Biografie, wie es bereits kurz nach Mozarts Tod zu dem Gerücht des Giftmordes kommt und inwiefern auch Salieri hier im Gespräch war, allerdings handelt es sich um Insinuationen, die längst widerlegt sind. Gleichwohl gehört der Konflikt zu den immer wieder reproduzierten Narrativen der Mozart-Literatur.

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In Little Amadeus wird auf diese Traditionslinie deutlich angespielt, der ewige Neider und Widersacher Lorenzo Devilius erinnert durch seinen italienischen Namen an Antonio Salieri und wird darüber hinaus onomastisch zum Teufel stilisiert. Während Salieri Hofmusiker unter Josef II. ist, arbeitet Devilius als Hofmarschall in den Diensten des Fürsterzbischofs von Salzburg. Aber Devilius‫ ތ‬italienische Nationalität ist mehr als eine Anspielung auf Salieri. Bereits in der 1803 erschienenen Mozart-Biografie von Ignaz Ferdinand Cajetan Arnold heißt es: »Mozart hatte freilich – wie jeder große Künstler – eine Menge Feinde, zumal unter den italienischen Operisten, die freilich sehen mußten, daß mit Mozarts Emporkeimen, ihr welscher Singsang zu Grabe gehen mußte« (Arnold 1803: 70).

Wird hier aufgrund einer operngeschichtlichen Entwicklung argumentiert, so geht es bei Puschkin ebenso wie bei Shaffer um die Gegenüberstellung zweier Künstlertypen: gottbegnadetes Genie und handwerkliches Mittelmaß. Für Puschkins Salieri steht das Moment der Gerechtigkeit im Vordergrund: »Gerechtigkeit gibt‫ތ‬s nicht auf Erden« (Puschkin 1985: 5), mit diesen Worten beginnt der Einakter. Salieri bezeichnet sich als »Neider«, der Mozart seinen Ruhm nicht gönnt, weil dieser sein »unsterbliches Genie[] nicht als Belohnung für heiße Liebe und für Selbstaufgabe, für Fleiß und Arbeit und Gebet« (ebd.: 9) empfangen habe. Gleichwohl erkennt er dessen göttliche Begabung. Ebenso lässt Peter Shaffer (1982: 96) seinen Salieri über Mozart sagen: »[E]r schuf aus Alltäglichkeit Legende – und ich aus der Legende nur Alltäglichkeit«. 2004 schließlich tritt Mozart bei den Simpsons auf, Margical History Tour heißt die Geschichtsstunde, die Mutter Marge erteilt. Auch hier geht es um den Konflikt zwischen Mozart, der von Bart Simpson, und Salieri, der hier von seiner Schwester Lisa gespielt wird (vgl. Burton 2013). Hendrikje Mautner-Obst (2013: 162) kommentiert: »In nur wenigen Minuten entfaltet die Simpsons-Episode ein Geflecht von Bezügen: Sie verweist auf Magical Mystery Tour von den Beatles, auf einen James Dean-Film mit dem Untertitel Live Fast, Die Young, auf Meat Loafs Bat Out of Hell und auf The Jackson Five. Der Aufführungsrahmen bei Leopolds Präsentation des Wunderkindes verweist ebenso auf kulturelle Praktiken der Rock- und Popmusik wie der Verkauf von FanArtikeln. Im Hinblick auf die Mozart-Biographik sind ebenfalls mehrere der zentralen Narrative verarbeitet: das Wunderkind, die Geschwisterkonstellation Wolfgang – Nannerl, die Rivalität Mozart – Salieri, der berühmte Fußtritt bei Mozarts Abschied aus Salzburg, die Vermarktung Mozarts durch seinen Vater und der frühe Tod.«

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Auch in Little Amadeus fließen natürlich Fakten aus dem Leben des jungen Mozart ein, so wird beispielsweise in Folge 6 die Konzertreise nach München thematisiert, in Folge 7 geht es um den Vorwurf, Vater Leopold Mozart komponiere in Wirklichkeit die Werke, die dann als Musik des Sohnes ausgegeben werden, und in Folge 13 wird der Kuss für Kaiserin Maria Theresia zum Aufhänger einer Episode. Während bei den Simpsons jedoch lustvoll und intelligent mit den Motiven jongliert, auf die Rezeptionsgeschichte angespielt und der Mythos Mozart ironisiert und dekonstruiert wird, dienen historische Begebenheiten bei Little Amadeus lediglich dazu, das immer gleiche Handlungsmodell schematisch zu reduplizieren. Kann man die Simpsons auf ganz unterschiedlichen IronieNiveaus lesen, etwa wenn Lisa am Schluss der Mozart-Episode behauptet, all das erinnere sie eher an den Film Amadeus als an die historische Person, so bleibt Little Amadeus dagegen eindimensional. Natürlich muss man bei solchen Vergleichen berücksichtigen, dass sich die Mozart-Folge der Simpsons oder Formans Amadeus an ein jugendliches bzw. erwachsenes Publikum richten, dennoch zeigen andere kinderliterarische Texte über Mozart, dass eine vielschichtige Herangehensweise durchaus auch für kindliche Rezipienten möglich ist. In Will Gmehlings Kinderroman Herrn Mozarts Hund (2004) etwa wird ein solch offenes, changierendes Mozart-Bild entworfen, das raffiniert mit historischen Dokumenten umgeht und daraus ein Spiel mit verschiedenen Zeit- und Allusionsebenen entwirft. So erzählt dort ein Mozart-Spezialist den beiden Hauptfiguren, »dass Herr Mozart ganz verschieden war. Er war niemals immer gleich« (Gmehling 2004: 65). Nach einer Zeitreise zu Mozart antwortet Sophia auf die Frage des Bruders, wie sie ihn finde: »Eigentlich … ganz anders, als ich ihn mir vorgestellt habe, aber auch wieder genau so« (ebd.: 159). Der Erzähler weist schließlich darauf hin, »dass sich Herrn Mozarts Gesicht immer wieder veränderte, ständig nahm es neue Formen an« (ebd.: 173). Ein solch offenes und changierendes Mozart-Bild findet sich in Little Amadeus nicht. Vielmehr wird er hier zu einer klar konturierten Zeichentrickfigur, die jeweils vorhersehbar agiert und reagiert. Alles Rätselhafte, alles Numinose, was eine historische Figur, was aber vor allem eine kindliche Ausnahmeerscheinung wie Mozart bietet, wird hier verengt auf einen austauschbaren und stets gut gelaunten Kinderserienhelden. Sicher ist das Prädikat ›wertvoll‹ der deutschen Film- und Medienbewertung ein Lob, das nicht vielen Zeichentrickserien für Kinder zuteilwird, euphorisch jedoch klingt die Begründung der Jury nicht: »All dies ist gewiss nicht die schlechteste Art, klassischer Musik zu begegnen. Allerhöchster Filmkunst wie etwa Disneys Fantasia kommt die sympathische Mozart-Serie

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nicht gleich, aber sie ist alltagstauglich – auch ästhetisch. Und sie ist eine Zierde für jedes Kinderprogramm« (Jurybegründung der deutschen Film- und Medienbewertung).

Noch bedenklicher ist allerdings eine andere Formulierung: »Die in sich abgerundeten neuen Episoden fügen Begebenheiten aus dem Leben des jungen Genies Johann Wolfgang zu einer Art ›sanfter‹ musikalischer Früherziehung« (ebd.). Es mag beckmesserisch klingen, darauf zu insistieren, dass Mozart, der hier offenbar mit Goethe verwechselt wird, nicht Johann Wolfgang, sondern Wolfgang Amadeus respektive Amadé hieß, aber der Fehler ist insofern symptomatisch, als in Little Amadeus wirklich eine eher austauschbare Kinderfigur konstruiert wird.

II Mozarts Musik in Little Amadeus Mit Mozarts Musik wird in der Zeichentrickserie ausgiebig experimentiert, dabei wird auf musikhistorische Aspekte keine Rücksicht genommen. In MozartKinderbüchern wird bisweilen mit dem Anachronismus gespielt, dass der junge Wolfgang Amadeus sein eigenes Spätwerk noch nicht kennt, was bei Zeitreisen in die Gegenwart zu ironischen Konflikten führt. So hört er in dem Bilderbuch Die magische Mozartkugel von Sabine Carbon und Barbara Lücker (2005) das Anfangsmotiv aus Eine kleine Nachtmusik (KV 525) als Handyklingelton und erkennt darin nicht die eigene Komposition, die ja erst 1787, also vier Jahre vor seinem Tod, entsteht, stattdessen sieht er eine thematische Anregung, die man aufnehmen könnte. Solche historischen Chronologien spielen in Little Amadeus keine Rolle. Es werden im Gegenteil bevorzugt die populären Kompositionen der späten Jahre gespielt, also etwa die Sonata facile (KV 545) im Titelsong oder Eine kleine Nachtmusik als Leitmotiv des Titelhelden. Insgesamt jedoch zeigt die Playlist der 26 Folgen, dass über 30 Werke, vom Menuett (KV 1) bis zu Arien aus der Zauberflöte (KV 620) und dem Klarinettenkonzert (KV 622) gespielt werden. Der Titelsong der Serie belegt auch am deutlichsten die usurpatorischen Tendenzen der Arrangements, mit Mozarts Musik wird hier sehr frei umgegangen, dabei findet eine Annäherung an heutige Hörgewohnheiten statt. Die ersten drei Takte entstammen der Sonata facile, also der C-Dur-Sonate für Klavier, dann setzen Streicher ein, schließlich kommen Schlagzeug und der Gesang Heinz Rudolf Kunzes hinzu. Das Ergebnis ist im typischen Musical-Stil gehalten, für den Mozarts Sonate lediglich das Gerüst liefert.

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Der weitere Umgang mit Mozarts Musik soll an der ersten Episode Solo für Amadeus gezeigt werden: Im Vergleich zu anderen Animationsserien hat Little Amadeus einen ungewöhnlich hohen Anteil von On-Screen- oder diegetischer Musik. Immer wenn Amadeus Klavier oder Geige spielt, wenn er singt oder pfeift, aber auch wenn auf der Straße oder in der Kirche gesungen oder musiziert wird, ertönt – von wenigen Ausnahmen abgesehen – Musik Mozarts. Gleich zu Beginn der ersten Episode spielt Amadeus den 3. Satz der bereits im Titelsong verwendeten Sonate in einem Arrangement mit Streichern. Im Gespräch mit seinem Vater karikiert er das Anfangsthema aus dem Dona nobis pacem der Krönungsmesse (KV 317). Dieser Satz steht im Zentrum der Folge, da es, wie gesagt, um den Namenstag des Erzbischofs geht; statt des lateinischen Messetextes wird ein Text gesungen, der sich auf Sigismund von Schrattenbach bezieht. Als Amadeus anschließend das Haus verlässt, singt und flötet er – von Topfdeckeln rhythmisch untermalt – den am Klavier begonnenen 3. Satz der Sonata facile weiter, die Frauen auf dem Marktplatz stimmen ein, der Text bezieht sich ebenfalls auf den Namenstag des Erzbischofs. Neben der On-Screen-Musik wird im Off-Screen-Bereich stark mit Leitmotiven gearbeitet, die in allen Episoden wieder auftauchen. So wird dem Titelhelden das Anfangsmotiv aus dem ersten Satz der Kleinen Nachtmusik zugeordnet. Die musikalische Figur des im Tempo Allegro aufwärts geführten, gebrochenen Akkordes, die gleich im zweiten Takt erklingt, wird in der Musikwissenschaft als ›Mannheimer Rakete‹ bezeichnet und charakterisiert den forschen Protagonisten trefflich. Bei Kutschfahrten erklingt das erste Thema der g-Moll Sinfonie (KV 550), wobei der auf die Halbtonschritte folgende Sextsprung aufwärts die unwegsame Straßenführung anschaulich nachzeichnet. Auftritte von Devilius werden leitmotivisch von der Orgelfantasie in f-Moll (KV 608) begleitet, während Erzbischof Sigismund das Menuett in D-Dur (KV 94) zugeordnet ist. Der gutmütige Bischof wird also mit einem leichten und tänzerischen CembaloStück in Dur, der intrigante Devilius hingegen mit schweren Orgelklängen in Moll charakterisiert. Mit diesen Leitmotiven wird jedoch auch produktiv gespielt. Treffen beispielsweise der Erzbischof und sein Sekretär wie Engel und Teufel aufeinander, erklingt kurz das Bischofs-Motiv in Moll, es wird also die Motivik des einen mit dem Tongeschlecht des anderen kontaminiert. Zwar sind das alles sehr plakative Effekte, dennoch lässt sich ein kreativer Umgang mit dem musikalischen Material, noch dazu im Rahmen einer Serie, die sich nicht an ein Fachpublikum, sondern an Kinder richtet, nicht leugnen. Auch wenn Amadeus vor sich hin singt oder pfeift, erklingt Mozart. Den Text »Oh welches Glück, ich bin zurück« singt er auf die Melodie der Arie Papagenos aus der Zauberflöte, und mit diesem Motiv pfeift er auch ein Pferd

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zurück, während Papageno im originalen Kontext bekanntlich Vogelfänger ist. Solche Anspielungen führen bisweilen zu einer komischen Wirkung, die sich nicht beim ersten Hören – und nicht unbedingt bei Kindern – erschließt. »Mozart sollte wieder lebendig werden«, sagt Adrian Askew, der für die Arrangements verantwortlich ist, »insofern muss man ihn heute in diese Zeit mit ihren Mitteln und Möglichkeiten transportieren« (zit. n. Unseld 2007: 40). Dieser Umgang mit Mozarts Musik in Little Amadeus ist sehr unterschiedlich bewertet worden: »Ein besonderes Lob verdient die Aufbereitung des musikalischen Mozart-Schatzes in originalen Anklängen wie auch in reizvoll verfremdeten Variationen. Der Geist und die Musikalität Mozarts transportiert sich in dieser Animations-Serie«, heißt es in der Jurybegründung der deutschen Film- und Medienbewertung. Diesen Reiz vermag die Musikwissenschaftlerin Melanie Unseld (2007: 40) nicht nachzuvollziehen: »Anstatt die Rezipienten auf den Weg des Entdeckens einer anderen Zeit (und deren Musik) zu schicken«, so opponiert sie, »wird ihnen die Mühe – aber auch das Vergnügen – des Kennenlernens erspart«. Zwischen diesen beiden Positionen kann man nur schwer vermitteln. Die Film- und Medienbewertung goutiert den Versuch des Brückenbauens, um kindliche Rezipienten behutsam an einen Bereich der Hochkultur heranzuführen, Unseld hingegen fordert historische Werktreue, die sie in Little Amadeus nicht erfüllt sieht. Ein zentraler Aspekt geht in dieser eher didaktisch geführten Argumentation allerdings verloren, es ist der des Spiels. Die Ebene der Musik hat freilich in einer Serie über den vielleicht bekanntesten Komponisten der europäischen Musikgeschichte eine exponierte Bedeutung. Dass über die Musik jenseits der Handlungsführung eine Anspielungs- und Reflexionsebene eröffnet wird, dass der Graben zwischen Hochkultur und Kinderserie hier spielerisch überwunden wird, dass zwischen dem ursprünglichen Kontext der Musik und ihrer Verwendung in Little Amadeus bisweilen eine ironische Kluft klafft, kann aus popkultureller oder postmoderner Perspektive kaum ernsthaft kritisiert werden. Kritisiert werden müsste vielmehr, dass sich die Vielschichtigkeit und das Raffinement der musikalischen Ebene nicht auf der Figuren- und Handlungsebene wiederholen.

III Amadeus und Little Amadeus Durch den Titel Little Amadeus wird der kindliche Serienheld in Beziehung zu jenem Amadeus gesetzt, den Miloš Forman 1984 nach Peter Shaffers Drama so wirkungsvoll inszeniert. Nina Finkernagel weist nach, wie viele Elemente eines

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romantischen Künstlerbildes in Amadeus noch vorhanden sind, Momente des Göttlichen, Genialen, Wahnsinnigen, Inkommensurablen und gesellschaftlich nicht Integrierbaren. Besonders hebt Finkernagel (2007: 169) den spielerischen Ansatz Shaffers und Formans hervor, der »den Komponisten samt höfischem Kostüm und Rokokokulisse in die Popkultur des 20. Jahrhunderts transportiert« (ebd.: 159): »Es gibt eine postmoderne Affinität zu einem Geniekult, der keineswegs mit der romantischen Tradition der emphatischen Künstlerbilder bricht, sondern diese forciert, indem er typisierte Charakteristika des romantischen Genies auf die Spitze treibt« (ebd.).

Über Little Amadeus hingegen sagt die Film- und Medienbewertung, man habe in der »kindgerecht erzählten Serie […] den jungen Wolfgang Amadeus Mozart als Zeichentrickfigur zu einem Sympathieträger« gemacht. Das ist vordergründig sicher richtig, allerdings kippt das sympathische Wesen des kleinen Amadeus nicht selten in hybride Selbstgefälligkeit um, wobei das Wunderbare des Wunderkindes durchaus zu verschwinden droht. Während das Künstler- respektive Mozart-Bild in Amadeus, bei den Simpsons, aber auch in der neueren Kinderliteratur als individuell und facettenreich bezeichnet werden kann, wirkt der Umgang mit der Figur des Musikers und Komponisten in Little Amadeus zu sehr auf ein vermeintlich kindliches Maß reduziert. Die Kritik an der Vermarktung durch einen überambitionierten Vater, die Peter Härtling in Das ausgestellte Kind (2007) übt, die Schattenseiten einer Ausnahmebegabung, die Edith SchreiberAbbildung 1: Wolfgang Amadeus Mozart und Little Amadeus

Quellen: wikimedia und moviepilot

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Wicke in Amadeus Wunderkind (1991) aufspürt, die Veränderbarkeit des Mozart-Bildes, die Will Gmehling in Herrn Mozarts Hund (2004) darstellt, das alles fehlt in Little Amadeus. Dieser Zeichentrick-Musikus hat keinen individuellinteressanten Charakter, ist immer glatt, nie rätselhaft, sein Genie ist immer sozial kompatibel. Über die Simpsons-Episode urteilt Mautner-Obst (2013: 163) mit Blick auf Hans-Otto Hügels Popularitätsbegriff: »Die Offenheit populärkultureller Texte eröffnet dem Rezipienten Wahlmöglichkeiten durch ein vielfältiges Angebot an semiotischem Material. Plurale Deutungsmöglichkeiten lassen dem Rezipienten einen Spielraum, um aus dem vieldeutigen Spektrum eine Lesart auszuwählen.«

Das lässt sich auf Little Amadeus nicht übertragen. Zwar gibt es spielerische und offene Deutungsangebote im filmmusikalischen Bereich, insgesamt wirkt der Serien-Mozart jedoch flach und trivial. Das liegt zum einen sicher an einer massenmedialen Verbreitung, die auf Akzeptanz bei einem großen Publikum setzt und durch einen entsprechenden Internet-Auftritt unterstützt wird, zusätzlich aber auch an einer umfangreichen Vermarktung. So umfasst das MerchandisingAngebot neben DVDs, Hörspielen, Büchern und Noten auch die zweiteilige »Lizenzbettwäsche« im Design »Schlafwandler«.

IV »Vergiß also das so genannte populare nicht« Dass Mozart populär war und ist, kann man als Plattitüde hinnehmen. Nicht nur Falco hat diese Popularität besungen, auch der Musikwissenschaftler Peter Wicke nennt seine Kulturgeschichte der Popularmusik – nicht ausschließlich wegen der Alliteration – Von Mozart zu Madonna. Aber bereits Vater und Sohn Mozart führen im 18. Jahrhundert eine Debatte über das Populäre. Im Kontext der Entstehung der Oper Idomeneo (KV 366) schreibt Leopold Mozart 1780: »Ich empfehle dir Bey deiner Arbeit nicht einzig und allein für das musikalische, sondern auch für das ohnmusikalische Publikum zu denken, – du weist es sind 100 ohnwissende gegen 10 wahre Kenner, – vergiß also das so genannte populare nicht, das auch die langen Ohren Kitzelt« (Mozart 2005: 53).

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Der Sohn antwortet darauf: »wegen dem sogenannten Popolare sorgen sie nichts, denn, in meiner Oper ist Musick für aller Gattung leute; – ausgenommen für lange ohren nicht« (ebd.: 60). Zunächst müsste man die beiden Popularitätsbegriffe von Vater und Sohn näher definieren (vgl. Wicke 2001: 7). Während der Vater zu einer Orientierung am Markt, mithin an den Erwartungen eines bürgerlichen Publikums rät, scheint die Antwort des Sohnes eher der Idee einer fast schon postmodernen Mehrfachadressierung zu folgen. Mozart komponiert Musik, so mag man sein Selbstbild übersetzen, die höchsten kompositorischen Ansprüchen – nämlich seinen eigenen – genügt und dennoch nicht nur ein Fachpublikum überzeugt, sondern auch Zuhörer ohne eine spezifisch musikalische Bildung begeistert. Lediglich die ›langen Ohren‹ werden nicht berücksichtigt. Indem Mozart eine solche Doppelstrategie fährt, ist seine Musik gleichermaßen publikumsnah und subversiv. Damit entspricht sie – überspitzt formuliert – der Idee von Popkultur, die Ulf Poschardt, wie eingangs zitiert, mit dem Bild des »Bastards« beschreibt. Es dürfte keinen Komponisten der sogenannten Hochkultur geben, dessen Bild so stark über literarische Adaptionen geprägt ist wie Mozart, das belegen exemplarisch die Bände Mozart – eine Herausforderung für Literatur und Denken (Görner 2007) oder Mozarts literarische Spuren (Puchalski 2008). Krenn (2005) zeigt darüber hinaus unter dem Titel Mozart im Kino, wie medial präsent die Marke Mozart im Film, aber auch im Fernsehen ist. Und auch Little Amadeus könnte für lange Zeit das Mozart-Bild vieler Kinder und ihrer Eltern prägen. Welchem Konzept von Popularität man die Zeichentrickserie zuzurechnen hat, kann hier nicht endgültig beurteilt werden, vor allem wird die Verbindung von Kinderfernsehen und Poptheorie nie bruchlos aufgehen. »Um seine Klugheit und Komplexität zu tarnen«, sagt Poschardt (1997: 402) über Pop, »vermeidet er den Intellektualismus.« In diesem Sinne ließe sich die musikalische Faktur von Little Amadeus durchaus popkulturell fassen. Zwar ist die Verfremdung von Mozarts Musik eher brav – die Kritik seitens der Musikwissenschaft ist durchaus nachvollziehbar und eine Orientierung an easylistening-Erwartungen lässt sich nicht leugnen –, die Auswahl der Motive und Themen erinnert hingegen sehr wohl an die Arbeit eines DJs, der das Gesamtwerk Mozarts in seinem Plattenkoffer hat und ohne historische Skrupel, stattdessen nach eigenen künstlerischen Gesetzen und nicht ohne ironisierendes Spiel auswählt. Während die Musik in Little Amadeus also einer mehrfachen Adressierung folgt, die man mit der Popolare-Idee Wolfgang Amadeus Mozarts – in aller gebotener Vorsicht – zumindest vergleichen könnte, folgen Handlung und Figu-

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renzeichnung bzw. Künstlerbild eher dem populare-Begriff Leopold Mozarts und sind somit für die ›langen Ohren‹ bestimmt.

Literatur Arnold, Ignaz Ferdinand Cajetan (1803): Mozarts Geist. Seine kurze Biographie und ästhetische Darstellung seiner Werke. Ein Bildungsbuch für junge Tonkünstler, Erfurt: Johann Karl Müller. Braunbehrens, Volkmar (1989): Salieri. Ein Musiker im Schatten Mozarts, München: Piper. Buck, Petra (2006): »›Happy Birthday Amadeus‹. Zeichentrickserie soll Kinder im Mozartjahr für die Klassik begeistern«, in: merz 50 (1), S. 73-74. Burton, Justin D. (2013): »From Barthes to Bart: The Simpsons vs. Amadeus«, in: The Journal of Popular Culture 46 (3), S. 481-500. Carbon, Sabine/Lücker, Barbara (2005): Die magische Mozartkugel, Berlin: edition.SABA. Dörrie, Doris (2006): Mimi und Mozart, Zürich: Diogenes. Finkernagel, Nina (2007): »›God needed Mozart to let himself into the world.‹ Mozart als romantische Künstlergestalt in Drama und Film«, in: literatur für leser 30 (3), S. 159-171. Gansel, Carsten (2010): Moderne Kinder- und Jugendliteratur. Vorschläge für einen kompetenzorientierten Unterricht, 4., überarb. Aufl., Berlin: Cornelsen. Gmehling, Will (2004): Herrn Mozarts Hund, Düsseldorf: Sauerländer. Görner, Rüdiger (Hg.) (2007): Mozart – eine Herausforderung für Literatur und Denken, Bern: Peter Lang. Härtling, Peter (2007): Das ausgestellte Kind, Köln: Kiepenheuer & Witsch. Krenn, Günter (Hg.) (2005): Mozart im Kino. Betrachtungen zur kinematographischen Karriere des Johannes Chrysostomus Wolfgangus Theophilus Mozart, Wien: filmarchiv austria. Mautner-Obst, Hendrikje (2013): »Mozart populär. (Intra-)Kulturelle Grenzüberschreitungen in Marge Simpsons Geschichtsstunde«, in: Jens Knigge/Dies. (Hg.), Responses to Diversity. Musikunterricht und -vermittlung im Spannungsfeld globaler und lokaler Veränderungen, Stuttgart: peDOCS, S. 158-170. Mozart, Wolfgang Amadeus (2005): Briefe und Aufzeichnungen. Gesamtausgabe, hg. v. Ulrich Konrad, Kassel u.a.: Bärenreiter.

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Poschardt, Ulf (1997): DJ-Culture. Diskjockeys und Popkultur, Reinbek: Rowohlt. Puchalski, Lucjan (Hg.) (2008): Mozarts literarische Spuren. Werk und Leben des Komponisten im literarischen Diskurs vom späten 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Wien: Praesens. Puschkin, Alexander (1985): Mozart und Salieri. Russisch/Deutsch, übers. v. Kay Borowsky, Stuttgart: Reclam. Rosendorfer, Herbert (2006): Amadeus und Pauline, München: arsEdition. Schreiber-Wicke, Edith (1991): Amadeus Wunderkind, Stuttgart, Wien: Thienemann. Shaffer, Peter (1982): Amadeus, übers. v. Nina Adler, Frankfurt am Main: Fischer. Unseld, Melanie (2007): »Alle (Mozart-)Jahre wieder? Gedanken über das Gedenken«, in: Birgit Kiupel (Hg.), Mozart im Blick. Inszenierungen, Bilder und Diskurse, Köln u.a.: Böhlau, S. 33-46. Wicke, Andreas (2014): »… dass sich Herrn Mozarts Gesicht immer wieder veränderte«. Zum Mozart-Bild in Kinderliteratur und -medien, in: interjuli 6 (1), S. 6-26. Wicke, Peter (2001): Von Mozart zu Madonna. Eine Kulturgeschichte der Popmusik, Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Medien Jurybegründung der deutschen Film- und Medienbewertung: www.fbw-filmbe wertung.com Little Amadeus. Die komplette 1. Staffel auf 2 DVDs (DE 2006) Gateway4M more fine music & media GmbH 2007.

Abbildungen Abbildung 1: Wolfgang Amadeus Mozart und Little Amadeus, Quelle: up load.wikimedia.org/wikipedia/commons/3/3f/Wolfgang-amadeus-mozart_2. jpg; www.moviepilot.de/files/images/0761/3454/Little_Amadeus.jpg

III TV|Genre|Pop

»Die wirkliche Welt auf wirklichen Bildschirmen« Fernsehen in Andreas Neumeisters Angela Davis löscht ihre Website A NNA -C ARINA M EYWIRTH

2002 veröffentlicht der ›Suhrkamp-Autor‹ Andreas Neumeister Angela Davis löscht ihre Website. Nicht beispielsweise als Roman, sondern als »Listen, Abbildungen [und] Refrains« wird das Buch im Untertitel angekündigt.1 Mit Fragmenten aus u.a. Fernsehshows, Nachrichtensendungen, Liedtexten und Werbeslogans spielt der Autor auf 121 Seiten und gibt einen Rückblick in die Programmgestaltung um das Jahr 2000 (Big Brother, Zlatkos Welt, Veronas Welt und Peep!). Das gesammelte Fernsehmaterial, popästhetisch verarbeitet und kommentiert, offenbart Neumeisters politische Auseinandersetzung mit scheinbaren (Fernseh-)Banalitäten und kippt die ebenso scheinbar klar definierte Trennung von »fiction« und »non-fiction« (AD: 45). Auf welche höchst implizite Weise dies in Angela Davis geschieht, wird im Folgenden dargelegt.

I »Täuschend falsch wirkt einleuchtend echt ist aber falsch«2 »Kameras filmen Kameras, wie sie Kameras filmen Schlafzimmer der Frauen Dusche Tagebuchzimmer

1

Neumeisters Angela Davis löscht ihre Website (2002) wird im Folgenden mit AD ab-

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AD: 37.

gekürzt.

228 | A NNA-C ARINA M EYWIRTH Versorgungsschleuse Schlafzimmer der Männer Hühnerstall« (AD: 20)

Neumeister nimmt mit diesem Zitat Rekurs auf die zwischen den Jahren 2000 und 2011 in Deutschland ausgestrahlte Reality-Show Big Brother, die aufgrund ihres großen Publikumserfolgs in zahlreichen Ländern der Welt produziert wurde. War die ursprünglich niederländische Sendung in den ersten Produktionsjahren quasi omnipräsent in den Medien, so schien sie zuletzt umso rapider in Vergessenheit geraten zu sein. Die Kritik gegen die durch das Sendeformat vorangetriebene Enttabuisierung3 des Fernsehens (vorwiegend aufgrund der uneingeschränkten Kameraüberwachung der Containerbewohner) war zwar laut, die Einschaltquoten aber übertrafen diese Empörung um ein Vielfaches: Big Brother, welches jeweils 100 Tage das alltägliche Leben der Container-Bewohner zeigte, war ein Kassenschlager, der in vielerlei Hinsicht bisherige Grenzen überschritt. Die Bezeichnung der Rezipienten als »Schaulustige« (AD: 20) könnte in Angela Davis insofern nicht besser gewählt sein. Spätestens mit dieser voyeuristischen Produktion kann Postmans Zuschreibung, dass das Fernsehen ein Medium der totalen Enthüllung sei (vgl. Postman 1996), – so scheint es zunächst – nicht mehr negiert werden. Die Show löste nicht nur die Trennung von Privatheit und Öffentlichkeit auf (vgl. Schwering/Stäheli 2000: 11f.), sondern simulierte zudem, die Unterscheidung von Realität und medial inszenierter Wirklichkeit aufzuheben (vgl. Stäheli 2000: 67-70). Versuche, das Sendeformat aufgrund menschenunwürdiger Zustände abzusetzen, scheiterten an der Popularität und dem immensen Medienecho (vgl. Goldbeck/Kassel 2000: 234f.). Dass Kritik an der Sendung und Fragen zu dem Konzept erfolgreich mit Gegenfragen abgewehrt wurden, wird von Neumeister als zweifelhaftes Vorgehen des Senders mehrfach kritisiert: »Gegenfrage: zwingen wir die Kandidaten etwa an der Show teilzunehmen? we know, how to entertain you six billion humans can’t be wrong« (AD: 27)

Neumeisters Collage, welche diese vor nunmehr 15 Jahren geführte, hochbrisante Diskussion verarbeitet, ist keine simple Zitat-Kompilation, vielmehr tritt mit-

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Dieser Begriff wurde laut Duden erst aufgrund der Diskussion um Big Brother populär (vgl. Wills 2001: 177).

»DIE WIRKLICHE W ELT

AUF WIRKLICHEN

B ILDSCHIRMEN «

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tels Permutation und minimalistisch formulierter Gedankenfetzen eine Medienkritik zutage, die insbesondere Machtverhältnisse, Boulevardisierungen und Realitätskonstruktionen des Fernsehens in den Fokus rückt. Für letztere wird Big Brother zum Exempel: Welche ›Reality‹ wird dem Zuschauer angeboten? »[D]a real world« (AD: 15) oder nur eine »vermeintlich tatsächlich[e]« (AD: 17)? Ist es »fiction, non-fiction, non-fictive fiction?« (AD: 20) Das unauffällige und gleichzeitig refrainartig wiederkehrende »you decide« zwischen den Textblöcken ermuntert dazu, die medial dargebotene Wirklichkeit zu reflektieren und Position zu beziehen. An die Stelle von TV-Berieselung tritt im Text eine aktive Rezeption. Abbildung 1: Kameralinse mit Big Brother-Logo

Quelle: YouTube

Selbst wenn der Sender vorgab, ausschließlich das ›wahre‹ Big-Brother-Leben der Containerbewohner zu zeigen und dies mit den 24-stündigen Liveübertragungen zu ›beweisen‹ versuchte, ist diese Aussage selbstredend absurd. Denn schon mit der Auswahl der Kameraperspektive und dem zusammengeschnittenen Tagesrückblick hat der Rezipient es mit einer mittelbaren Darstellung zu tun, die Meinungsbildungen lenken und Inszenierungsarbeit leisten kann (vgl. Hickethier/Bleicher 1998: 371f.). Suggerieren Werbeslogans oder gar Genrebezeichnungen im Fernsehen die Reproduktion von ›wirklicher Realität‹, so war diese in der Fernsehgeschichte nie das primäre Ziel. Von Beginn an, folglich ab den 1950er Jahren in Deutschland, standen die Popularisierung bedeutender Ereignisse, der Gewinn eines möglichst breiten Publikums und damit einhergehend möglichst hohe Einschaltquoten im Vordergrund. So trugen 1953 die Krönung

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von Königin Elisabeth II. und 1954 die Fußballweltmeisterschaft in hohem Maße dazu bei, diese Vorhaben innerhalb kurzer Zeit weitgehend zu realisieren (vgl. Böhn/Seidler 2014: 129). Mit der Inszenierung alltäglicher Sujets, welche ein weitaus höheres Identifikationspotenzial aufweisen als singuläre Massenereignisse, ließ sich die Film- und Fernsehlust der Bevölkerung weiter stimulieren. Ab den 1960er Jahren konnte sich nicht einmal mehr der ›Underground‹ mit seinen alternativen Themen und Filmproduktionen von den Projekten der Filmindustrie abgrenzen, da dieser gewahr wurde, dass sich mit subkulturellen Themen der Profit steigern ließ. Gerade der Underground gehörte zuvor, wie Andy Warhol in POPism berichtet, »zu den ganz wenigen Orten, wo man etwas über verbotene Sujets und realistische Szenen des modernen Lebens sehen konnte. Doch jetzt, wo sich Hollywood […] mit den denselben Themen befasste, wurde die Sache unübersichtlich.« (Warhol/Hackett 2013: 154) Alle wesentlichen Merkmale des Undergroundfilms – neue, freie, ›reale‹ Inhalte – wurden in der Folge von großen Kinoproduktionen adaptiert und nahmen »dem Underground die Attraktivität« aufgrund der »optisch bessere[n] Version« (ebd.). Um mit dieser Qualität konkurrieren zu können, bedurfte es einer modernen technischen Ausstattung, die beispielsweise Warhols Factory nicht zur Verfügung stand. Das Publikum aber, versichert Warhol, würde diese optisch bessere Version der Filmindustrie in jedem Fall bevorzugen. Denn: »Sie war weniger bedrohlich.« (Ebd.) Auf Kosten der ›schockierenden Realität‹ wird ein Film dementsprechend solange ästhetisch aufbereitet, bis er massentauglich ist und damit einhergehend eine entfremdete, weniger ›bedrohliche‹ Realität präsentiert. Dass subversives Potenzial dadurch gänzlich verloren geht und dass Warhol sich womöglich gerade aus diesem Grund für die Nutzung älterer Technik – und daher für einen bewussten ästhetischen Bruch – entschied, sei nur der Vollständigkeit halber erwähnt. »Wir hätten ihnen den Film ganz real gemacht«, kommentiert Warhol abschließend, »[d]amals begriff ich noch nicht, dass sie mit Realität die Kinorealität meinten!« (Ebd.: 155) Popularität und Alltäglichkeit, so ist in diesem Fall zu schlussfolgern, bedingen sich gegenseitig. Also ›reality sells‹? Zumindest lässt sich diese These durch den Boom des Reality-TV (Reality Soaps, Reality Shows) in den 1990ern stützen und auch im letzten Jahrzehnt entstanden weitere Reality-Formate wie die Scripted Reality, deren Name bereits darauf hinweist, dass es sich um eine konstruierte, eine Realität ›nach Skript‹ handelt.4 Besonders betont wird dadurch die Tatsache, dass der Terminus ›Reality-TV‹ ein widersinniger ist, denn Wirklichkeit und Fernsehen zusammen zu denken erscheint schon von vornherein para-

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Vgl. zur Scripted Reality auch Achim Barschs Artikel in diesem Band.

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dox (vgl. Engell 2012: 63ff.). Neumeister weist in Angela Davis auf eben diese Kontradiktion hin und rollt den medialen Wirklichkeitsbegriff, der in eine Medienkritik mündet, neu auf. Die Andeutung von Bildmaterial, das letztlich aber gar nicht vorhanden ist, nimmt dabei eine zentrale Funktion ein. Durch Bilder werde nämlich die Realitätskonstruktion und die emotionale Einbindung der Zuschauer verstärkt. Nicht mehr die Information steht somit im Vordergrund, vielmehr wird diese permanent mit Unterhaltungselementen gekoppelt, um den Rezipienten zufriedenzustellen: »I’m informed. I’m entertained. I’m infotained. I’m okay.« (AD: 40) Gleich auf zwei Buchseiten flimmert diese Aussage dem Leser entgegen und erinnert dabei an das Intro der populären Zeichentricksrie Die Simpsons, in welcher Bart Simpson als Strafarbeit die Tafel mit dem immer gleichen Merksatz beschreibt. »I’m informed, I’m entertained, I’m infotained, I’m okay I’m informed, I’m entertained, I’m infotained, I’m okay I’m informed, I’m entertained, I’m infotained, I’m okay I’m informed, I’m entertained, I’m infotained, I’m okay I’m informed, I’m entertained, I’m infotained, I’m okay I’m informed, I’m entertained, I’m infotained, I’m okay I’m informed, I’m entertained, I’m infotained, I’m okay I’m informed, I’m entertained, I’m infotained, I’m okay« (AD: 40)

Visuelle Auffälligkeiten wie diese illustrieren das aufwändige Arrangement des Textes, in welchem sich zentrale popästhetische Verfahren ausmachen lassen: Copy and Paste, Sampling, Collage/Montage, Serialisierung, Cut up. Dazwischen: Leerzeilen, die zugleich als Leerstellen mitgedacht werden können und es Neumeisters präzise konzipiertem Erzähler erlauben über längere Passagen ohne vollständige Sätze oder Überleitungen auszukommen. Infolgedessen stellt sich eine Art Textrhythmus ein, der sowohl klanglich durch wiederholte oder leicht veränderte Phrasen entsteht als auch optisch durch die eben erwähnte, spezielle Anordnung der Textbruchstücke. Was daraus resultiert, ist ein deutungsoffener, »produzierbarer Text« mit »losen Enden«, dessen Lücken im wahrsten Sinne des Wortes »groß genug [sind], um ganze neue Texte in diesen entstehen zu lassen« (Fiske 2008: 42). Inhaltliche Zusammenhänge ergeben sich folglich nicht ausschließlich durch das, was gesagt wird, sondern ebenso durch die intertextuellen Verweise aus dem Text hinaus. Die krasse sprachliche Reduktion ist neben der Absenz von Handlung und Figuren sicherlich ein Grund dafür, warum sich der Erzähler so mühsam konturieren lässt. Zu erkennen gibt er sich zwischen den Zitaten nämlich primär durch seine Fragen, die ebenso banal (»do you like

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horses?« [AD: 69]) wie philosophisch (»gibt es die neue Weltordnung schon?« [AD: 16]) sein können. Ob die regelmäßig auftauchenden Fragen, durch welche der Leser sich automatisch angesprochen fühlt, ganz gleich ob er der intendierte Adressat ist oder nicht, das Ergebnis von verarbeiteten Medienzitaten oder aber tatsächlich ernst gemeinten Äußerungen der textinternen Stimme selbst sind, kann nicht abschließend beantwortet werden. Dessen ungeachtet stechen die Fragezeichen optisch wie Warnsignale aus dem übrigen Text heraus – wie es scheint, um den Leser von Zeit zu Zeit wachzurütteln und ihn mit jener Uneindeutigkeit zu konfrontieren. »where do you want to go today?« (AD: 15) »gibt es Jugoslawien völkerrechtlich überhaupt noch?« (AD: 16) »how did you enjoy the war?« (AD: 19) »what are you waiting for?« (AD: 119)

Es ist offensichtlich, dass der Erzähler sich somit keinesfalls als moralische Autorität präsentiert, wohl aber als Sortierender, Aussuchender, Kommentierender eine nicht unwichtige Position im Text einnimmt, denn durch die kurzen und gleichermaßen pointierten Unterbrechungen der Zitatblöcke zeichnet sich eine vage Positionierung des Ich zur massenmedialen Wirklichkeit ab. »die Vortäuschung falscher Tatsachen kann eindeutig kein Straftatbestand sein, allenfalls das Vortäuschen richtiger Tatsachen, was eben dem Vortäuschen von Tatsachen entspricht, kann unter Umständen ein Straftatbestand sein you decide« (AD: 22)

So diagnostiziert der Erzähler folgerichtig: »die Bilder müssen scharf sein, die Wahrheit nur plausibel: stets kreisen fremde Weltbilder getarnt als die eigenen Weltbilder um eine unsichtbare Achse, Zeitmaschinen, Geschichtskompressoren, ein wesentlicher Unterschied zu 1960 ist die massenhafte Verfügbarkeit an Informationen, die in ihrer Fülle jede Zensur überflüssig machen // die eigene Bildwelt formt sich in einer spiralförmigen Drehbewegung aus allen verfügbaren Weltbildern zum eigenen Weltbild […]« (AD: 18)

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An dieser Stelle wird eine Hierarchisierung von Bild und Wahrheit offengelegt, die ebenso plausibel wie frappierend ist. Nicht die Reliabilität des Gesagten ist von primärer Bedeutung, sondern einzig die Qualität der visuellen Inszenierung. Bilder können somit das Gesagte um weitere Deutungsebenen ergänzen, was Chance und Risiko zugleich bedeutet: »[I]mmer hat es mehrere Kommunikationsebenen gegeben / […] immer hat es mehr als eine Verständnisebene gegeben.« (AD: 22) Das eigene »Weltbild« entsteht dem Text folgend als Resultat einer massenhaft rezipierten, strudelartigen Bilderflut. Im Sinne Umberto Ecos und Jean Baudrillards hat der Zuschauer es mit einer »Hyperrealität« zu tun, der Simulation einer in dieser Form nicht existierenden Wirklichkeit. Ereignisse werden mithilfe filmischer Mittel verkettet, um Sinn und Kohärenz zu stiften (Baudrillard 1994: 30). Die Nachahmung der Wirklichkeit ist dabei so exakt, dass die Unterscheidbarkeit von virtueller Realität und ›wirklicher‹ Realität verschwimmt und der Zuschauer dem (Irr-)Glauben an eine tatsächliche Realität aufsitzt. Bestärkt wird diese Annahme dadurch, dass nicht wie zu Beginn der Fernsehgeschichte über unabhängige Ereignisse im TV berichtet wird, hingegen aber Events gezielt darauf ausgerichtet sind, um im Fernsehen übertragen zu werden (vgl. Hickethier/Bleicher 1998: 381f.). Die Unterscheidungen von Signifikat und Signifikant oder Kopie und Original werden damit obsolet, denn sobald Bild und Realität »[i]neinanderstürzen«, verschmelzen sie »in einem gemeinsamen Bereich der Simulation« (Engell 2012: 79). Neumeisters Text illustriert dies deutlich, indem das Gesehene permanent angezweifelt wird. Dieses unablässige ›Infragestellen‹ kann infolgedessen als Programmatik des Textes gelesen werden. »wenn alles wirklich ist, dann besteht die wirkliche Welt aus wirklichen Bildpunkten auf wirklichen Bildschirmen in wirklichen Räumen Vortäuschung falscher Tatsachen oder Vortäuschung richtiger Tatsachen? believe the hype!« (AD: 22)

Der Textausschnitt erinnert an eine Gleichung, aus welcher sich der Begriff Wirklichkeit ›wegkürzen‹ lässt. Übrig bleibt schließlich die »Vortäuschung«, die Inszenierung, die Show. In Angela Davis findet daher eine literarische Übersetzung der Baudrillardschen Simulationsthese statt: »alles echt / alles relativ / alles relativ falsch // alles falsch / alles relativ / alles relativ echt« (AD: 22). Es

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ist ein »System, in dem wir leben«, ein »Sendegebiet, in dem wir leben« (AD: 14). Der durch Montage erreichten Kohärenz und Logik der BildschirmWirklichkeit kann dabei nicht mehr vertraut werden, vielmehr tritt an diese Stelle des Vertrauens ein Realitätsglaube, mit welchem sich die unaufhörliche Frage, ob nun ›falsche oder richtige Tatsachen‹ vorgetäuscht wurden, erübrigt. Subjektive Realität, so lautet die naheliegende Schlussfolgerung, ist eng mit dem Massenmedium Fernsehen verknüpft und abhängig von demselben.

II »More information? Click here!« 5 Die Diskussion um die antithetischen Begriffe ›wirkliche Realität‹ und ›virtuelle Realität‹ ist alles andere als ein Novum, aber dennoch ein Feld, das an Aktualität und Diskussionspotenzial nicht eingebüßt hat. 2008 veröffentlicht Rainald Goetz in Klage seine harsche Kritik an TV-Inhalten und indiziert, dass jede Vorenthaltung von Informationen für den Rezipienten eine Verfälschung der Wirklichkeit bedeute und eine Form von Macht demonstriere (vgl. Greif 2004: 269f.). Die komplexe Realität würde dabei zugunsten der Massen auf ein Minimum reduziert (vgl. Fiske 2005) und permanent repetiert, sodass jegliches Irritationspotenzial verloren gehe und das »hochagile Sehen« in eine »lethargische Kurzsichtigkeit« und Apathie umschlage (Greif 2004: 259). Goetz’ Gegenvorschlag lautet: Uneindeutigkeit! Denn genau diese setze den Rezipienten frei und sei gleichsam das Synonym für das »Interesse an Wahrheit« (Goetz 2008: 86 u. 75). Allein mit dieser Wahrheit ließen sich ästhetische Ergebnisse hervorbringen, ohne dass eine Beschönigung notwendig wäre, wie sie vom Fernsehen permanent vorgenommen wird (vgl. ebd.: 86). Dieses offenbare Desinteresse der Medien an Authentizität zeigt, dass reale Ereignisse nicht im Fokus stehen, sondern lediglich eine weniger schockierende, flachere Variation derselben; »für die Leute geht es vor allem darum, sich in angenehmer Atmosphäre zu entspannen« (AD: 25). Diese daraus resultierende Simplizität medialer Darstellungen beanstanden die Linguisten Edward Sapir und Benjamin Whorf (vgl. Kloock/Spahr 2012: 114), indem sie reklamieren, dass die visuelle Aufbereitung und Vereinfachung von (insbesondere politischen) Texten eine gezielte Beeinflussung der Meinungsbildung zur Folge haben könne. Sie sprechen sich somit für eine Schriftkultur aus, welche die Wahrnehmung konzentriere und nicht durch Bilder ablenke, um zu emotionalisieren und zu banalisieren. Politik – und demzufolge auch

5

AD: 56.

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andere medial inszenierte Texte – seien »unter dem Leitmedium Fernsehen […] nicht mehr logisch, sondern psychologisch« (ebd.: 115). Während Goetz diese extreme Positionierung teilt, indem er ebenfalls der Schrift mehr Reliabilität zuschreibt als manipulierten Text-Bild-Kombinationen ›irgendwelcher Fernsehleute‹ und somit der Banalitätskultur eine Absage erteilt, kommt Neumeisters Text auf den ersten Blick vergleichsweise pädagogisch daher. Jeder Lesende oder Fernsehende ist auf das eigene Kontrollieren angewiesen, da keine konkrete Regieanweisung aus dem Off existiert, die Informationen filtert, zensiert oder bebildert. Obwohl in Angela Davis einerseits allein durch die Textauswahl eine Art ›Vorzensur‹ des Erzählers stattfindet, die Positionen oder Lösungen andeutet, wartet man andererseits vergebens auf ein endgültiges Urteil. Dieses ›Sich-selbst-überlassen-Werden‹ zeugt einmal mehr von dem »emanzipatorisch-antitotalitären Kern« (Rüdenauer 2001), den Pop hat. Obwohl Neumeister in Angela Davis löscht ihre Website weniger in die Offensive geht als Goetz, stehen beide sich in nichts nach und verschreiben sich der Uneindeutigkeit. Anstelle reiner Zitate aus den von Goetz verunglimpften Sendungen, deren Inhalte bis zur Substanzlosigkeit für ein Massenpublikum ›aufbereitet‹ werden, findet der Leser bei Angela Davis weder kausal-logische Verknüpfungen noch weitestgehend eindeutige Lesarten. Infolgedessen kann er – im Gegensatz zum Fernsehzuschauer – nicht alle Informationen sortiert und bebildert auf sich wirken und sich sozusagen ›entertainen‹ lassen. Vielmehr wird der Rezipient durch die Collagenhaftigkeit von Neumeisters Text »entautomatisiert« (Weingart 2005: 246) und in seiner Passivität gestört. Textbruchstücke müssen geordnet werden, was die ›Produzierbarkeit‹ des Textes demonstriert und den Leser als »zentralen Bezugspunkt« (Mikos 2001: 365) definiert. Dem Rezipienten bleibt also die Entscheidung überlassen, ob er sich der Simulation hingibt oder ob er das Spiel entlarvt und wie der Erzähler zu dem Ergebnis kommt: »täuschend falsch wirkt einleuchtend echt ist aber falsch« (AD: 37). Die Erzählinstanz in Angela Davis scheint dem Leser die Kontrolle zu entziehen und das Hin- und Herschalten zwischen Textelementen zu übernehmen. Der dadurch entstehende Effekt des abrupten Themenwechsels ist gleichzusetzen mit dem des Zappens, des Umschaltens von einem Programm zum nächsten: »Bohlen rettet Berliner Polizeipferde vor Todesspritze Bohlen sagt: sind super Tiere stimmen Sie ab: dürfen Politiker ihre Haare färben? schreiben Sie ihre Meinung ans Board!« (AD: 98)

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Nicht nur dieses Zapping, auch der zu Beginn auftauchende Text »ein/aus« (AD: 10) auf einer ansonsten leeren Seite in Angela Davis vermittelt dem Rezipienten eher das Gefühl des Fernsehens als das des Lesens. Er sieht sozusagen fern, indem er liest oder um es mit den Worten Fiskes zu formulieren: He is »reading television«.6 Im Gegensatz zum tatsächlichen Fernsehen existieren bei Neumeister allerdings einige zentrale Unterschiede: Erstens findet eine bewusst skurrile Kompilation der Fernsehtexte statt, die nicht ›weggeschaltet‹, also ausgeblendet, werden können. Die zuvor erläuterte, konstruierte Kohärenz des Fernsehprogramms wird somit wieder aufgehoben. Zweitens verschwindet der ephemere Charakter des Fernsehens durch die visuelle Abbildung des Fernsehtextes, denn der Rezipient hat die Möglichkeit vor- und zurückzublättern. Drittens hat ›Neumeisters Fernsehen‹ keine bardische Funktion7, wie sie in Reading television beschrieben wird: Zwar reduziert Neumeister die Quantität des Gesagten, jedoch verlieren die Inhalte dadurch nicht an Komplexität. Dies führt automatisch dazu, dass die ›Bedürfnisse‹ der Rezipienten, nämlich »emotional wirksame kulturelle Mythen und Stereotypen« (Renger 2009: 229), keine Priorität darstellen und nicht bedient werden, so wie es laut Fiske eigentlich sein müsste (vgl. Fiske 2005: 85-100). Viertens eliminiert Neumeister den visuellen Kanal vollständig. Während sich alle Medien zu einer immer höheren Bildkonzentration bewegen, verweigert sich Neumeister ihr. Anstatt visuelles Material in seinen Text zu integrieren, beschränkt er sich auf dessen Beschreibung bzw. auf die schlichte Nennung der Untertitel, die jeweils durch »Abb.« gekennzeichnet werden. Jene Bilder, auf die mit dem Kürzel referiert wird, sind dabei tatsächlich teilweise im Internet zu finden. Mit diesen Abbildungskürzeln evoziert Neumeister geradezu ein Bedürfnis, das zugehörige Bild zu sehen, beispielsweise eine TomahawkRakete, die »direkt aus dem All in den Lichtschacht eines Luftfahrtministeriums« (AD: 45) stürzt. Dieses Verlangen nach spektakulären Bildern bewirkt, dass »gerade vom Allerhäßlichsten […] nur die allerschönsten Bilder gezeigt werden« (ebd.) dürfen und verpönt somit die »[s]chaulustigen[n]« (AD: 43) Zuschauer, deren Sensationslust stets vom Medium Fernsehen gestillt wird. Die Absenz der Abbildungen in Angela Davis hingegen deutet an, dass es eines emanzipierten Lesers bedarf: Ohne navigiert, wenn nicht gar manipuliert zu

6

In Anlehnung an den Titel von John Fiske (2005).

7

Wie der Barde in früheren Jahrhunderten hat das Fernsehen laut Fiske und Hartley heute die Funktion Informationen auszuwählen, zu reduzieren und gemäß den jeweiligen kulturellen Bedürfnissen an die audience zu übermitteln. Dies geschieht jeweils mündlich. Da sich sowohl der Barde als auch das Fernsehen an den Kodes der audience orientieren, wird diese zur Autorität (vgl. Fiske 2005: 65).

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werden durch bewusst herbeigeführte Emotionen muss er sich autonom im Textgeflecht orientieren. Wenn laut Weingart (Fernseh-)Bilder als »Garant für Massentauglichkeit« (Weingart 2005: 218) gelten und damit zu den zentralen Strategien des (Boulevard-)Fernsehens gehören, um eine möglichst hohe Zuschauerbindung zu erreichen (vgl. Brichta 2010: 213), dann ist daraus abzuleiten, dass ›Neumeisters bilderloses Fernsehen‹ nicht für Massen zugeschnitten ist, wohl aber seine Inhalte daraus bezieht und sie transformiert. Sein Text ist insofern das »kritische[] Korrektiv« des Mediums Fernsehen (Schuhmacher 2003: 163). Ein von Eckhart Schumacher formuliertes Resümee beschreibt Andreas Neumeisters Poetik sehr treffend: »[E]s werden auch Schreibverfahren entwickelt, die sich auf andere Weise dem annähern, was ›für alle‹ zugänglich ist. Gesten hedonistischer Affirmation finden sich in diesem Zusammenhang ebenso wie subversive Umfunktionierungen und ideologiekritische Entlarvungen, aber fast nie wird ›das Populäre‹ über Schlagworte wie Simplifizierung oder Verflachung einfach abgetan. […] Trivialmythen werden […] in neue Zusammenhänge überführt […], so dass sich […] ein Irritationspotenzial aufbaut, das an die Stelle von didaktisch aufbereiteten Meinungsbekundungen und vorgefassten Urteilen die Produktion von Ambivalenz und Strategien der Verunsicherung setzt.« (Ebd.)

Was den Rezipienten an möglichen, aber nicht notwendigen tools bleibt, um Sinn zu konstruieren, sind Recherchen oder aber das Erkennen intertextueller Bezüge. Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass dabei nicht auf nur eine Deutung hin gelesen werden sollte. Gerade die Deutungsoffenheit ist maßgeblich, damit »aktiv gelesen« werden kann und Bedeutungen gesellschaftlich ausgehandelt werden können (Goer 2003: 172). Diese entsteht nicht nur durch die bereits zu Beginn erwähnten popästhetischen Verfahren, sondern ebenso durch Wortspiele, die verstanden werden können als »Weigerung[en], sich einer sprachlichen Ordnung zu unterwerfen, eine momentane Taktik, durch die das sprachliche System geplündert und auf respektlose, listige Weise ausgenutzt wird. […] Geschriebene Sprache ist linear, ihre Beziehungen sind logisch und verbunden durch die Gesetze von Ursache und Wirkung. Wortspiele sind assoziativ, sie entkommen diesen Gesetzen, denn assoziative Beziehungen sind wesentlich freier als logische. […] Vielmehr beziehen sie parallele Prozesse ein, die Fähigkeit, simultan verschiedene Informationsflüsse zu verarbeiten. […] Sie erfordern produktives Lesen […].« (Fiske 2008: 46)

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Das Wortspiel nutzt Neumeister somit als eine weitere Methode, um die Linearität des Textes zu stören (»Darstellung // Gegendarstellung // […] // Darstellung gegen Darstellung« [AD: 24]). Der Leser muss hierbei ›mitspielen‹, d.h. produktiv lesen, und sich auf die assoziative, teils willkürlich anmutende Reihenfolge der Sätze einlassen. Wie folgendes Zitat demonstriert, lässt sich zwar oftmals kein inhaltlicher Zusammenhang erkennen, doch könnte dies ein Hinweis darauf sein, dass der Erzähler auf diese Weise die von Fiske erwähnte Simultaneität herzustellen versucht, die sich aus der gleichzeitigen Verarbeitung verschiedener Informationsflüsse (Fernsehen, Printmedien, Internet) ergibt (vgl. Fiske 2008: 46). »automatische Kameras ferngesteuerte Kameras // mobile Kameras immobile Kameras die Würde des Menschen ist unfaßbar // Abb.: Andrew WK beim Interviewtermin in der Ritze // (this site is so sick the government wants so ban it)« (AD: 73)

Aufgrund der Aneinanderreihung unterschiedlicher Themen aus verschiedenen Medien – in dieser Passage wären dies das Fernsehen (angedeutet durch die »Kameras«), Printmedien (angedeutet durch das Kürzel »Abb.«) und Internetseiten (angedeutet durch das englische Wort ›site‹) – entsteht der Eindruck, dass diese drei Medien gleichzeitig rezipiert werden. Den Lesern wird mit dieser Vorgehensweise ein Höchstmaß an Konzentration abverlangt, die jederzeit in Resignation kippen kann. An anderer Stelle in Angela Davis löscht ihre Website werden Songlyrics in den Text integriert und mit TV-Slogans kompiliert, um den Eindruck der Gleichzeitigkeit entstehen zu lassen: »we know how to entertain you! we have ways of making you dance! we know how to entertain you! we have ways of making you dance! we know how to entertain you! we have ways of making you dance! we know how to entertain you! we have ways of making you dance!« (AD: 30)

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Der Liedtext Unite von den Tiger Tunes, einer Band, die 2001 durch ihre im Internet verbreitete Musik bekannt wurde (»we have ways of making you dance!«), wird mit dem Werbeslogan der Mediengruppe Kirch (»we know how to entertain you!«) vermischt und eröffnet infolgedessen eine Reihe von Deutungspotenzialen. Die zahlreichen Grenzüberschreitungen in Angela Davis lassen sich anhand der vorangegangenen Beispiele besonders anschaulich nachvollziehen. Nicht nur wird die Unterscheidung von realer Wirklichkeit und Fernsehwirklichkeit, von Genrebezeichnungen und von Boulevard- und Qualitätsjournalismus abgeschafft, ebenso wenig werden medienspezifische Eigenschaften berücksichtigt. Internet, Printmedien, Fernsehen, Musik – alle werden im Medium Buch gesammelt und zu einer – der Popliteratur gern attestierten – ‚Oberfläche‘ zusammengefasst. Was jedoch nach Simplifizierung klingt, erwirkt einen gegenteiligen Effekt. Die vereinfachten und logisch angeordneten Medieninhalte werden vermischt und in einen uneindeutigen Text übersetzt, der dementsprechend ein produktives Lesen einfordert. Die zentrale Rolle der Rezipienten liegt somit auf der Hand. Ebenso wie das »Fernsehen als ein ganzheitliches System von Sprache und Kommunikation im Zusammenspiel mit seinem Publikum« (Renger 2009: 228) gesehen werden muss, kann auch Neumeisters Text als ein solches System bezeichnet werden. Im Gegensatz zu Sapir und Whorf entwirft Neumeister keine Hierarchie im Sinne von ›geeigneteren‹ oder ›ungeeigneteren‹ Medien, weder bestimmte Text- noch Bildformen lehnt er ab. Dafür sprechen auch andere Texte des Autors wie bspw. der 1998 erschienene Roman Gut laut sowie der Aufbau seiner Homepage, die ausschließlich aus scheinbar willkürlich verlinkten (italienischen) Pressefotos und Bilduntertiteln besteht.8

III Im Zweifelsfall immer Musik hören? Schlussendlich zeigt Neumeister mit seiner Collage, dass die Bezeichnung derjenigen Reality-Formate, die in den 1990ern boomten, ebenso obsolet ist wie die Differenzierung zwischen »fiction« und »non-fiction« (AD: 45). Mit dem Vorschlag des Erzählers, die Fernsehrealität als »non-fictive fiction« (AD: 20) zu definieren, führt er diese Genreeinteilung ad absurdum. Betont wird folglich zunächst, was jeder reflektierte Rezipient weiß, nämlich dass jede Medien-Realität eine konstruierte ist. Die Aussage, dass das Fernsehen mit Big Brother zum Medium der totalen Enthüllung (vgl. Postman 1996) geworden sei, da der wirkliche

8

Vgl. www.andreas-neumeister.de/pages/presse_terrazzo.html

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Alltag der Container-Bewohner über millionen Bildschirme zu verfolgen war, erfährt somit eine Entdramatisierung. Nichtsdestoweniger hat das polarisierende Format Big Brother die Medienlandschaft nachhaltig geprägt und unter Beweis gestellt, dass Fernsehen einen nennenswerten Einfluss auf kulturelle Prozesse hat. Der Simulationsmaschine Fernsehen wird insofern ein Machtpotenzial zugeschrieben, als sie mittels Bildmontage und eigens für das TV produzierten Sendungen zum Mitveranstalter ihrer eigenen Realität wird. Diese wiederum bedingt das Entstehen einer populären Realität. Neumeister fokussiert sich – vielleicht sogar aus eben diesem Grunde – umso stärker auf den Appell zur Reflexion: »you decide!« Dieser Ausruf, der als Schlüsselstelle des Textes bezeichnet werden kann, erinnert an John Hartleys »[t]he outcome is up to you« (Hartley 1996: 251), mit dem bekräftigt wird, dass Realität nicht ›von Medien gemacht‹ wird, sondern das Resultat dessen ist, was der Rezipient aufnimmt, reflektiert und weitergibt respektive gesellschaftlich aushandelt. Vor dieser Folie kann Angela Davis löscht ihre Website trotz kritischer Erzähler-Kommentare weder eine kulturpessimistische Lesart attribuiert werden noch erfährt das Fernsehen als popkulturelles und Populärkultur stiftendes Medium eine Ablehnung. Vielmehr verweist der Erzähler permanent auf dessen Unterhaltungs- und Popularisierungsfunktion, denn diese – und nicht die exakte Darstellung der Wirklichkeit – sind die primären Ziele des TV. Jeder kritischen Infragestellung folgt somit eine affirmative Stellungnahme, der durch das wiederholte »I’m okay« immer wieder Nachdruck verliehen wird. Diese zunächst paradox erscheinenden Positionen unterstreichen auf der einen Seite, dass Popliteratur nicht immer in einem Extrem zu verorten ist, sondern Subversion und Affirmation gleichermaßen bestehen lässt. Auf der anderen Seite können nur auf diese Weise konträre Stellungnahmen wie beispielsweise »Musik ist besser als Fernsehen, im Zweifelsfall immer Musik hören« und »noch nie liefen so viele klasse Filme im Fernsehn [sic!] wie heute […]« nebeneinander funktionieren, »die Frage ist« lediglich, so konstatiert der Erzähler, »ob man gerade das richtige Programm eingeschaltet hat« (Neumeister 2001: 118 u. 178).

Literatur Arnold, Heinz L./Schäfer, Jörgen (Hg.) (2003): Pop-Literatur, München: Text+Kritik. Balke, Friedrich/Schwering, Gregor/Stäheli, Urs (Hg.) (2000): Big Brother. Beobachtungen (= Masse und Medium, Band 1), Bielefeld: transcript.

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Medien Andreas Neumeisters Homepage: www.andreas-neumeister.de/pages/presse_ terrazzo.html

Abbildungen Abbildung 1: Kameralinse mit Big Brother-Logo, Quelle: www.youtube.com/ watch?v=WTmbCKsVi90

»TV-Glotzer« Überlegungen zu Popfeminismus und Fernsehen A NNA S EIDEL Took my money and bought a TV TV brings me closer to the world SLEATER-KINNEY (2005) Ich schalt’ die Glotze an Happiness, Flutsch-Flutsch! Fun fun! NINA HAGEN BAND (1978)

Die Frage nach dem Beziehungsstatus von Popfeminismus und Fernsehen muss mit einem eindeutig-uneindeutigen ›it’s complicated‹ beantwortet werden. Feministische Themen stehen in der Öffentlichkeit und ihren Mainstream-Medien selten auf der Agenda und feministische Kulturkritik findet vor allem gegenöffentlich statt. Aber es gibt sie, die popfeministischen TV-Formate (vor allem US-amerikanische Serienproduktionen) und TV-Momente, die für Irritation sorgen. Auch eine popfeministische Kulturkritik hat sich inzwischen etabliert. Es gilt allerdings, die Entwicklungen im anglofonen Sprachraum von denen im deutschen zu unterscheiden. In diesem Beitrag möchte ich einige Überlegungen zum Themenkomplex Popfeminismus und Fernsehen anstellen, die sich auf den deutschsprachigen Raum konzentrieren, die Entwicklungen der feministischen Third Wave in den USA aber als Folie mitdenken. Die zentrale These des Beitrags lautet: Pop sells, Sex sells, Popfeminism doesn’t – Unterhaltungswert scheint sich noch am ehesten aus den feministischen Skandalen ableiten zu lassen. Ansonsten wird Feminismus nach wie vor selten als markt- und medienkompatibel wahrgenommen – und es ist zu fragen, ob das überhaupt das Bestreben der Popfeminismus-Protagonist_innen ist.

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Vorläuferin: The Godmother of Popfeminism? Einen der frühen popfeministischen Momente im deutschsprachigen Fernsehen verdanken wir Nina Hagen. Als Diskursteilnehmerin wird sie 1979 in die österreichische Fernsehsendung Club 2 eingeladen und diskutiert etwa über Frauen im Musikgeschäft und Homosexualität. Darüber hinaus ist sie es, die für einen Skandal sorgt, als sie in der Sendung live (und angezogen) demonstriert, wie Frauen zum Orgasmus kommen können – und zwar gegen den Einspruch des ebenfalls in die Sendung eingeladenen Journalisten Humbert Fink, er könne das »Gejeiere der Damen« nicht mehr hören: »Sie reckte den Po, stramm in Rockerleder, und demonstrierte Bekanntes: Frauen müßten, wenn sie ›mit Boys schlafen‹, hier und da selbst Hand an sich legen, um auch in die Zielgerade einzulaufen.« (O.A. 1979: 175) Nina Hagen, deutsche Godmother of Punk und Popstar gleichermaßen, die sich immer schon (massen-)medialer Wirkungen bewusst ist – vom »Farbfilm« singt sie ein Lied (1974), der »TV-Glotzer« (1978) ist bereits im Titel erwähnt –, bringt hier wichtige Aspekte der feministischen Agenda in einem populären Medium unter und löst damit einen Skandal aus. Nina Hagens Auftritt und ihr aktives Werben für weibliche Sexualität werden als »[g]rößter Skandal in der Geschichte des ORF«, als »[s]ittliche wie geistige Bankrotterklärung« verbucht (ebd.). Hier bringt ein Popstar den feministischen Zeitgeist1 in eine populäre Fernsehsendung und ist simultan ihrer Zeit weit voraus. Obgleich der zitierte Spiegel vergleichsweise cool über Hagens Auftritt berichtet, eckt sie auch in der Bundesrepublik an: »Die eingängigen Songs und sprachprägenden Texte des Albums Nina Hagen Band sprechen in nie dagewesener Direktheit alle möglichen Tabus der bundesrepublikanischen Gesellschaft an: Sex, homosexuelle Liebe, Liebe zu dritt und mit Minderjährigen, Masturbation, Verhütung, Abtreibung und vor allem die Verweigerung überkommener Frauenrollen.« (Baßler 2011: 70)

Nina Hagen widmet sich in ihren Songs auf der Nina-Hagen-Band-LP zeitgenössisch kontroversen Themen, die sich zu einem großen Teil mit der feministi-

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Die sogenannte ›zweite Welle‹ der Frauenbewegung ist 1979 in Deutschland in vollem Gange: Schon 1971 titelt der Stern mit dem mythisch gewordenen »Wir haben abgetrieben!«-Cover, 1974 wird schließlich Paragraf 218 reformiert und Abtreibungen werden unter bestimmten Umständen straffrei, 1978 setzt sich auch Nina Hagen mit dem induzierten Abort im Song »Unbeschreiblich weiblich« auseinander, im gleichen Jahr wird die feministische Zeitschrift Emma gegründet usw. usf.

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schen Agenda decken. Hagen opponiert gegen die durch Fink vertretene hegemoniale Männlichkeit (auch in der Sexualität) und verkörpert im Club 2 Pop und Feminismus in Personalunion. Abbildung 1: Nina Hagen im Club 2 am 09.08.1979

Quelle: ORF-Mediathek

I Intro: »Ich schalt’ die Glotze an« Wie sieht es mehr als drei Dekaden nach Nina Hagens Skandal-Auftritt aus? Wie verhält es sich heute mit den popfeministischen Setzungen im popkulturellen Medium Fernsehen? Reichen die inzwischen historisch gewordenen Auftritte einer Nina Hagen – oder die Kontroversen um Lady Bitch Ray oder Charlotte Roche, um aktuellere Beispiele für feministische Pop-Erscheinungen zu bemühen2 – aus, um von Popfeminismus im TV zu sprechen und was sagt uns die Skandalisierung dieser Frauen über den Status von Popfeminismus im TV?

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Genaue Beobachtungen finden sich bei Maria Stehle, die u.a. die medialen Performanzen von Lady Bitch Ray und Charlotte Roche mithilfe der ExcitableSpeech-Überlegungen von Judith Butler untersucht (Stehle 2012). Paula-Irene Villa analysiert die Medienauftritte von Lady Bitch Ray und Charlotte Roche kritisch unter dem Stichwort »Pornofeminismus« (Villa 2012).

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Frauen, die selbstbestimmt über Sexualität sprechen, selbstbestimmt agieren und sich einem sexpositiven Feminismus3 verschreiben, gelten nach wie vor als skandalös. Und was skandalös ist, entspricht nicht dem Mainstream. Feminismus hat hierzulande im Fernsehen nach wie vor keinen festen Sendeplatz, ist nicht institutionalisiert, auch nicht in seiner (sexpositiven) Spielart des Popfeminismus. Und das, obwohl er mit seinem populärkulturellen Fokus auf den ersten Blick vieles mitbringt, das medial goutiert werden müsste. Die Prämisse des Beitrags lautet: Es gibt im deutschen Sprachraum (noch immer) keine popfeministische Kulturindustrie. Feministische Ideen scheinen zu widerständig, die Kritik scheint zu radikal zu sein, um der Vermarktungslogik von Pop zu folgen. Aber die Exklusion aus dem Mainstream findet nicht einseitig, sondern reziprok statt: Popfeminist_innen werden in Funk und Fernsehen nicht repräsentiert. Es sind höchstens popfeministische Irritationsmomente auszumachen. Gleichermaßen richten sich die Aktivist_innen im Außen bürgerlicher Öffentlichkeit ein. Explizit feministische Medien und Formate, also Blogs und Magazine etwa, sind nach wie vor in einer Gegenöffentlichkeit zu verorten, innerhalb derer sich die Bewegung stärken kann, um von dort zu agieren.4 Sukzessive gelingt es, die ursprünglich gegenöffentlichen Themen in den öffentlichen Diskurs einzugliedern.5 Wenn auch immer wieder Popfeministisches wahr-

3

Körper, Sexualität und Begehren spielen eine wichtige Rolle im Popfeminismus. Eine rigorose Ablehnung von Pornografie und Prostitution etwa findet nicht statt. Frauen sollen selbstbestimmt über ihre Sexualität bestimmen können. Popfeminist_innen nehmen damit u.a. eine Gegenposition zu der 1987 von Alice Schwarzer lancierten PorNo-Kampagne ein, die 2013 eine Aktualisierung erfährt.

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Sonja Eismann verweist bereits 2007 in der Einleitung zur von ihr herausgegebenen Anthologie Hot Topic – Popfeminismus heute darauf, dass Popfeminismus im Mainstream praktisch nicht vorkommt: »Im deutschen Sprachraum hingegen wird Feminismus im öffentlichen Bewusstsein seit ca. 30 Jahren fast exklusiv mit der Figur Alice Schwarzer […] in Verbindung gebracht. […] Diese [popfeministische; Anm. v. A.S.] Community braucht […] ein Forum […]. Trotz des Austauschs mit anderen an Feminismus interessierten Frauen kam es nie zur Bildung eines größeren, handlungsfähigen Netzwerks, und der ›Malestream‹ blieb feindlich.« (Eismann 2007: 11) Innerhalb der letzten Jahre hat sich das gewandelt und es gibt inzwischen zahlreiche Blogprojekte, Podcasts, Fanzines etc., die sich einer popfeministischen Agenda verschrieben haben.

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Vgl. zu feministischer Öffentlichkeit als Gegenöffentlichkeit Dackweiler/HollandCunz (1991) und Klaus (2001).

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genommen wird, eine permanente Integration popfeministischer Perspektiven ist im öffentlichen deutschsprachigen Diskurs bislang nicht zu beobachten. Von der popfeministischen Kulturkritik werden vor allem anglofone und von vornherein popfeministisch codierte Medien und Formate konsumiert und besprochen.6 Auch nicht dezidiert popfeministisch codierte Medien halten bisweilen im Subtext das Angebot zu einer feministischen Lesart bereit. Eine Zusammenführung der »Themenstränge Feminismus und Pop« hat zwar innerhalb verschiedener Printmagazinprojekte stattgefunden, von einer »Entwicklung oder Tradierung feministischer Popkritik in den Medien« (Yun 2008: 162) – vor allem im Fernsehen – kann aber nicht die Rede sein. Dieser Beitrag untersucht die Relation zwischen Popfeminismus und TV von zwei Seiten: Einerseits wird den wenigen Spuren gefolgt, die Popfeminismus im deutschsprachigen Fernsehen hinterlässt, etwa wenn Popfeminist_innen als Interviewpartner_innen und Expert_innen präsentiert werden. Der Fokus liegt hier auf der Produktionsseite. Andererseits soll der Diskurs um eine popfeministische Lesart als Kulturkritik – rezeptionsseitig eben – ausgebreitet werden. Um die Überlegungen zu Popfeminismus und TV zu stützen, ist zunächst eine Historisierung hilfreich. Kulturelle Kontexte müssen geklärt, kulturelle Energie, also die reziproke Beziehung des Untersuchungsgegenstandes mit der Kultur, die ihn umgibt, muss rekonstruiert werden.7 Ausgangspunkt ist die Genese des Phänomens Popfeminismus im deutschen Sprachraum in Abgrenzung zum anglofonen Raum.

II Popfeminismus als Hot Topic Pop und Feminismus ergeben Popfeminismus? So einfach ist es nicht. Der »bewusst offen gehaltene[] Terminus« (Eismann/Köver/Lohaus 2012: 44) wird seit seiner Setzung in den Nuller Jahren unterschiedlich ausgehandelt, mit Bedeutung aufgeladen, affirmiert und kritisiert.

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In den USA hat sich im Laufe der 1990er Jahre und folgend sehr wohl so etwas wie eine popfeministische Kulturindustrie etabliert (vgl. Eismann 2007: 10f.). Einige der TV-Formate, wie etwa die Serie Girls, werden auch im deutschsprachigen Fernsehen ausgestrahlt.

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Moritz Baßler spricht mit Bezug auf Stephen Greenblatt (»social energy«; Greenblatt 1988) von »kultureller Energie« und meint damit die wechselseitige Beziehung eines Textes mit seinen Kontexten, die in der kulturpoetischen Analyse von historischen Texten zu rekonstruieren sind (vgl. Baßler 2005).

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Die Kritik entzündet sich etwa immer wieder an der Tatsache, dass die Popkultur als Teil der Massenkultur gilt und damit Teil eines kapitalistischen, hegemonialen Zusammenhangs ist. So weit, so bekannt. Es heißt: »Als Spartenphänomen innerhalb der kapitalistischen Welt hat Pop keinen an sich progressiven Charakter« (Raether/Stakemeier 2008), es stellt sich für die PopfeminismusKritiker_innen die Frage nach dem ›Richtigen im Falschen‹ (Adorno). Berechtigung hat Popfeminismus nach Raether und Stakemeier, wenn seine Verfechter_innen Pop »als selbst gewählten Ausgangspunkt der eigenen Praxis« und nicht als »coolsten Platz im Kapitalismus« begreifen. Polemisch heißt es dann: »Wie allem im kapitalistischen Reproduktionszusammenhang kann man auch dem Pop nur seine Abschaffung von Herzen wünschen.« (Ebd.) Eine emanzipatorische Praxis innerhalb eines restriktiven Systems ist für die Kritiker_innen nicht denkbar. Anstatt aber Pop rigoros abzulehnen, geht es dem popfeministischen Ansatz um fundierte Kritik des Bestehenden, um eine im doppelten Wortsinn feministische Popkulturkritik. »Die Überlegung […] ist logischerweise nicht, wie feministische Prinzipien ins hegemoniale Feld Pop zu zwängen seien, sondern wie man Pop für feministische Zwecke urbar macht.« (Eismann 2008) Neben fundierter Kritik geht es auch um feministische Setzungen innerhalb der Popkultur. Ziel ist es, »ein eigenes Instrumentarium [zu] entwickeln, um die Lebensrealität, die von popkulturellen Faktoren bestimmt wird, angemessen darstellen und durchque(e)ren zu können.« (Ebd.) Affirmation und Emphase für Pop wird nicht geleugnet. Anstatt also die kulturpessimistische Sichtweise auf Pop zu pflegen, glauben Popfeminist_innen an die Dynamik und das Transformationspotenzial, die Pop innewohnen. Gepaart mit dem Bewegungscharakter einer feministischen Gegenöffentlichkeit ergibt sich die Hoffnung, in der öffentlichen Sphäre Verschiebungen zugunsten popfeministischer Anliegen zu bewirken. Der deutschsprachige Popfeminismus-Diskurs ist vom englischsprachigen, vor allem US-amerikanischen zu unterscheiden. Während die dritte Welle in den USA mit der Riot-Grrrl-Bewegung8 bereits in den 1990ern beginnt, zahlreiche Magazingründungen und »kontinuierliche[] Buchveröffentlichungen« (Eismann 2007: 11) nach sich zieht und mit dem Auftritt von Weltstar Beyoncé bei den

8

Anfang der 1990er wird in Olympia, Washington, das Riot-Grrrl-Movement ausgerufen, eine feministische Bewegung, die ihre Heimat in der Punk- und Hardcoreszene hat. Sie gilt als »Startschuss der sogenannten Dritten Welle, eines neuen Feminismus, der die Zweite Welle einer notwendigen Verjüngungskur unterzog und die feministischen Debatten der Mütter auf einmal wieder für die Töchter interessanter machte« (Peglow/Engelmann 2011: 12).

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MTV Video Music Awards 2014 vor einem gigantischen »Feminist«-Schriftzug den vorläufigen Höhepunkt erreicht (vgl. Abbildung 2), breitet sich ein popfeministischer Diskurs im deutschsprachigen Raum erst in den Nuller Jahren aus.9 Abbildung 2: Beyoncé bei den MTV Video Music Awards am 24.08.2014

Quelle: mtv.com

Ganz klar feministisch Intendiertes im Pop wird präsenter, wie etwa in den Projekten der in Berlin lebenden Musikerin Peaches, die mit ihrem Album Fatherfucker im Feuilleton breit besprochen wird, oder die Performances und Musik des Münchner Kunstkollektivs Chicks On Speed, das ebenso gern mit Genderklischees spielt wie Peaches und dessen Musikvideos ebenfalls auf VIVA und MTV laufen. Mit Kerstin Grether und Jenni Zylka veröffentlichen Popjournalistinnen feministische Popromane (vgl. hierzu Volkmann 2011) und von Lady Bitch Ray und Charlotte Roche war bereits die Rede.10 2002 wird in Wien das

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Die Geschichte von Neuen Deutschen Mädchen, Alphamädchen und Top Girls sowie der Postfeminismus-Diskurs mit all seinen Irrungen und Wirrungen sind bereits ausgeführt worden (vgl. etwa Haas 2006 u. Hanafi El Siofi/Moos/Muth 2010). Dieser Beitrag konzentriert sich explizit auf Popfeminismus als einen Strang der sogenannten dritten feministischen Welle im deutschsprachigen Raum.

10 Auch die Popliteratinnen der 1990er Jahre sind präsent. Man denke etwa an die Auftritte von Alexa Hennig von Lange im Nachtstudio (Ausstrahlung: 05.09.2001) oder bei Harald Schmidt (Ausstrahlung: 20.04.2001), wo sie gekonnt mit den medialen Ansprüchen an Weiblichkeit spielt, wenn sie selbst permanent den eigenen Körper thematisiert. Der Skandal-Auftritt von Lady Bitch Ray bei Schmidt und Pocher könnte im Übrigen als Zitat eben dieses Auftritts gelesen werden.

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popfeministische Magazin fiber erstmals herausgegeben, 2008 folgt der Launch des Missy Magazine, das inzwischen in Berlin beheimatet ist. Mitte der Nuller Jahre wird die Verbindung von Pop und Feminismus evident. Neben zahlreichen popfeministischen Publikationen, seien sie musikalischer oder literarischer Natur, ist auch ein neuer Aktivismus auszumachen, der an US-amerikanische Entwicklungen anknüpft. 2003 finden die ersten Ladyfeste in Deutschland statt, also feministische Kulturfestivals, die sich dezidiert der »(Re-)Präsentation des Kunstschaffens von Frauen, Lesben und Transgenderpersonen« verschrieben haben und »nach dem Do-It-Yourself-Prinzip organisiert« werden (Mooshammer/Trimmel 2007: 184).11 Zwar sind die Ladyfeste in Hamburg, Leipzig und Berlin keine Mainstream-Veranstaltungen, allerdings markieren sie doch einen Startpunkt zur Bündelung feministischer Ideen und Praxen, die in den Nuller Jahren und folgend unter dem Label ›Popfeminismus‹ verhandelt werden. Im Popfeminismus werden die Problematiken vorangegangener oder parallel laufender feministischer Strömungen nicht verschwiegen. Durch »die Einbettung in die popkulturelle Sozialisation« (Eismann 2007: 10), durch die Pop-Affirmation der Feminist_innen ergeben sich aber auch neue Interessensschwerpunkte wie etwa Musik, Fernsehen und das Netz. »Popfeminism in its broadcast sense playfully approaches traditional feminist interests by uniting gender issues, women’s rights, and body politics with elements of popular culture inspired in particular by music, new media, and fashion. Popfeminism utilizes the symbols of global pop culture in order to create a critical, local, and individual subculture, a new public and visible space of resistance defined, not constrained, by gender.« (Smith-Prei 2011: 20)

In ihren Überlegungen zum »new German feminism« stellt Smith-Prei den Körper in den Fokus (ebd.: 18). Der mindestens seit der sogenannten zweiten feministischen Welle relevante Blick auf den eigenen Körper wird mit der wichtigen Rolle, die der Körper im Pop einnimmt, verschränkt. Diese Verschränkung muss allerdings von innen kommen. »Und wenn an verschiedenen Stellen immer wieder gefordert wird, Feminismus müsse glamourös werden, dann gilt es auch innerhalb des hegemonialen Systems Pop zu korri-

11 Das erste Ladyfest überhaupt findet bereits im Jahr 2000 in Olympia statt, wo zehn Jahre zuvor die Riot-Grrrl-Bewegung ihren Ausgangspunkt genommen hatte. Ladyfeste sind als Weiterentwicklung der Riot-Grrrl-Kultur zu sehen. Do It Yourself wird im Folgenden mit »DIY« abgekürzt.

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gieren: Er muss dürfen, aber er darf nicht müssen. Nicht die viel strapazierte weibliche Haut muss wieder zu Markte getragen werden, um der Oberfläche Pop mit einer adäquat zugerichteten femininen Oberfläche das Prinzip Feminismus schmackhaft zu machen, sondern umgekehrt sollte Popkultur durch feministische Strategien perforiert und erschüttert werden.« (Eismann 2007: 10)

Wie Eismann hier darlegt, ist der Forderung nach einem ›attraktiven‹ Feminismus ein Dämpfer zu erteilen. Sie fordert feministische Irritationsmomente, sowohl auf Künstler_innenseite als auch auf Kritiker_innenseite.12 Zwar hat Pop immer mit Begehren zu tun, Third Wave Feminism will aber mehr vom Pop: Das Begehren soll mit Empowerment, Ermächtigung also, gekoppelt werden. Statt um eine rein konsumistische Haltung geht es um eigenes Schaffen, um produktive Rezeption und um kritische Kontemplation. Popfeminismus bemüht sich dafür um Anschlussfähigkeit an Cultural und Gender Studies, an Queer und Postcolonial Theory. In der Praxis bewegt sich Popfeministisches im deutschen Sprachraum meist in gegenöffentlichen Sphären, präsentiert sich vor allem bei Ladyfesten, in Blogs und Podcasts, in eigenen Magazinen, seltener in Mainstream-Medien.

II.1 Popfeminismus im Fernsehen Es gibt im deutschen Sprachraum vereinzelt Fernsehformate, die sich weiblicher Lebenswirklichkeit widmen, wie etwa das TV-Magazin mit dem bezeichnenden Titel FrauTV im WDR. Allerdings verschreibt sich das Format dezidiert nicht einem feministischen Agenda Setting. Im Selbstverständnis des FrauTV-Teams ist von »frauenrelevanten Themen« die Rede, von »Lebenswirklichkeit von Frauen«13, aber nicht von ›Feminismus‹.14 Von Pop ganz zu schweigen. Es gibt

12 Sie löst diese Forderung in Kooperation mit den Journalistinnen Chris Köver und Stefanie Lohaus mit dem Launch des Missy Magazine 2008 selbst ein. Das Magazin, das zunächst den Untertitel »Popkultur für Frauen« trägt und sowohl feministische Künstler_innen präsentiert als auch feministische Kritik äußert, wird zum prominenten Popfeminismus-Vertreter. 13 www1.wdr.de/fernsehen/information/frautv/ueberuns/ueberunssendungsendung100. html 14 Im Gegenteil: Indirekt wird sich vom Feminismus abgegrenzt, indem Stereotype eines militanten Feminismus reproduziert und negiert werden: »Mit einem Augenzwinkern

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im deutschsprachigen Fernsehen keinen institutionalisierten Ort für feministische Themen.15 Auch popfeministische Themen haben keinen festen Ausstrahlungstermin. Was ›Pop‹ heißt, muss nicht gleich populär sein. Aber die popfeministischen Momente im TV häufen sich in der jüngsten Vergangenheit. Eine Auswahl: Sonja Eismann demonstriert ihre popfeministische Expertise in der Dokumentationsreihe Queen of Pop (Arte 2011); über Pussy Riot wird mehrfach in den Tagesthemen berichtet (ARD 2012); Femen protestieren bei einer GermanyҲs-Next-Topmodel-Live-Show (Pro7 2013); die feministische Rapperin Sookee ist zu Gast in der Kultursendung Aspekte (ZDF 2014); die Journalistin Julia Korbik stellt ihr Buch Stand Up! Feminismus für Anfänger und Fortgeschrittene bei WestArt vor (WDR 2014); die Kulturzeit Kompakt berichtet über eine vom Missy Magazine organisierte Konferenz Fantasies that matter. Images of Sexwork in Media and Art (3Sat 2014); die Popkultursendung Tracks widmet von Zeit zu Zeit popfeministischen Themen ganze Episoden, wie zuletzt im Spezial »Coole Frauen« (Arte 2014).16 Vor allem in Kulturmagazinen findet Popfeministisches Raum. Der eher gegenöffentliche, einer DIY-Sphäre entstammende Impetus popfeministischer Künstler_innen und Projekte, der in der Tradition der Riot-GrrrlKultur der 1990er Jahre steht, kann zum Teil in der Berichterstattung beobachtet werden. Sookees Auftritt in der Sendung Aspekte17 ist dafür ein gutes Beispiel: Das Selbstgemachte an ihrer Performance repräsentiert sich metonymisch in Form der CD-Hülle, die gezeigt wird, als von ihrem neuen Album die Rede ist. Es handelt sich nicht um das fertig produzierte CD-Cover, sondern um eine Art

– nicht mit dem Holzhammer!« »Ein heutiges Frauenmagazin braucht keine Kampfansagen«, heißt es weiter (WDR Online). 15 Die einzige Ausnahme ist wahrscheinlich das österreichische Projekt an.schläge tv, eine Fernsehsendung, die von 2005 bis 2012 von den Macher_innen der feministischen Zeitschrift an.schläge produziert und in einem Wiener-Community-Sender ausgestrahlt wurde (vgl. Susemichel 2008). Wobei sich die Frage stellt, inwiefern bei einem partizipativen TV-Sender überhaupt von Öffentlichkeit die Rede sein kann. Zudem wurde die Ausstrahlung inzwischen eingestellt. Andere Projekte werden direkt in der Anlage als Utopie gedacht, sind also von vornherein eher als Gedankenexperiment angelegt, das nicht auf Realisierung abzielt, wie das unit.Frau.tv-Projekt, das Brigitte Weich beschreibt (2004). 16 Weitere Tracks-Sendungen, die popfeministisch codiert sind: Tracks »Special Girls« (09. Juni 2011), Tracks »Popfeminismus« (25.06.2008; es handelt sich hierbei nur um einen Beitrag, nicht um eine ganze Sendung), Tracks »Rude Girls« (16.10.2005). 17 Ausstrahlungsdatum 28.03.2014.

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Platzhalter, der das Layout der kommenden Veröffentlichung zwar erahnen lässt, jedoch erkennbar gebastelt ist und selbstgemacht aussieht.18 Am eingespielten Musikvideo zu einem ihrer Songs lässt sich ebenfalls eine DIY-Ästhetik erkennen. Im Clipausschnitt ist unter anderem eine Partyszene mit queer codierten Menschen zu sehen. Sookee tanzt mit ihnen, während sie rappend Homophobie im HipHop kritisiert. Auf Ebene des Discours ist für die DIY-These vor allem eine eingeblendete Kamera tragend, die metaleptisch auf die Gemachtheit des Videoclips verweist (vgl. Abbildung 3). 19 Noch mal potenziert wird dieser Eindruck des Selbstgemachten im Vergleich mit den ebenfalls eingespielten Musikvideos männlicher Rap-Kollegen, die sich einer Mainstream-, zum Teil fast Kino-Ästhetik bedienen und dem Video der Rapperin dementsprechend antithetisch gegenüberstehen. Abbildung 3: Sookee in der Kultursendung Aspekte am 28.03.2014

Quelle: ZDF.de

18 Noch deutlicher ist die Eigenproduktion, als Lady Bitch Ray bei Harald Schmidt und Oliver Pocher zu Gast ist. Hier wird eine gebrannte und handbeschriftete CD in die Kamera gehalten, die direkt mit mangelnder Professionalität assoziiert wird (ARD, Ausstrahlungsdatum 24.04.2008). 19 Im vollständigen Video ist diese Gemachtheit geframed von einer komplexeren Histoire, die von einer Intervention in das Mainstream-TV-Programm handelt. Diese Komplexität, die im Übrigen wiederum auf die Gegenöffentlichkeit pop- und queerfeministischer Kulturprodukte sowie die entsprechenden Irritationsmomente beim Auftauchen in den Mainstream-Medien verweist, ist im von der AspekteRedaktion ausgewählten Ausschnitt allerdings nicht zu erkennen.

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Neben die von Sookee repräsentierte DIY-Ästhetik, die bereits als popfeministisches Charakteristikum herausgestellt wurde, tritt die Markierung ihrer Person als gegenöffentlich und damit eine weitere Zuordnung zum Popfeminismus. Zwar wird die feministische Künstlerin in die Kultursendung eingeladen und ist Gesprächspartnerin zu den Themenkomplexen Sprachwandel und Genderperformanzen im deutschsprachigen HipHop. Auftreten darf sie am Ende aber nicht. Stattdessen wird ein männlicher Kollege auf die Bühne gebeten und die im Gespräch kritisierte Männer-Dominierung der Szene, das Fehlen weiblicher Stimmen im Rap wird nur gestärkt. Die Backgroundtänzerinnen und -sängerinnen des Rappers werden als ›schmückendes Beiwerk‹ präsentiert und manifestieren zuvor im Gespräch kritisierte Normen. Den sozialkritischen, antisexistischen, antirassistischen, antihomophoben Botschaften der Berliner Rapperin wird keine dem männlichen Kollegen äquivalente Öffentlichkeit ermöglicht. Auch dort, wo den Popfeminist_innen auf Augenhöhe begegnet wird, zeigt sich, dass Popfeministisches gegenöffentlich gerahmt wird. In einer Ausgabe der Sendung Kulturzeit Kompakt wird von einer vom popfeministischen Missy Magazine ausgerichteten Konferenz zum Thema Sexarbeit berichtet.20 Die Veranstaltung schließt an ein Print-Dossier der Zeitschrift an und will der in Deutschland geführten Debatte um eine Modifikation des Prostitutionsgesetzes neue Impulse geben und das gesellschaftliche Bild der Sexarbeit hinterfragen.21 Kulturzeit Kompakt berichtet in einem dreieinhalbminütigen Beitrag über Diskussionsbeiträge sowie Performances während der Konferenz und interviewt die Veranstalterin und Missy Magazine-Mitherausgeberin Margarita Tsomou sowie einige Aktivist_innen. Der informative Beitrag schließt im Voice-over mit der Aussage: »Die Konferenz hätte noch mehr Aufmerksamkeit verdient«, also mit dem Eindruck, dass die Veranstaltung nicht ausreichend Wertschätzung und mediale Repräsentation erfahren hat. Im Fernsehen wird dieser Beitrag der einzige zur Konferenz bleiben. Zum Vergleich: Der von Alice Schwarzer angeführte »Appell gegen Prostitution« (Emma 2013) im Herbst 2013 erfährt innerhalb kürzester Zeit breite TVRezeption. Im Fernsehen laufen innerhalb von drei Wochen fünf Fernsehsendungen zum Thema (Günther Jauch, Menschen bei Maischberger, ZDF log in, Kulturzeit, Stern TV), davon vier mit Beteiligung der Emma-Redaktion. Popfeministische Stimmen bleiben ungehört. Dass Popfeminismus aber unterhaltsam sein kann, und zwar jenseits von Skandalisierungen und inklusive deutlichem Bekenntnis zu einer feministischen

20 Ausstrahlungsdatum 11.08.2014. 21 Dossier »Kein Beruf wie jeder andere« in: Missy Magazine 1/2014, S. 52-71.

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Agenda, dass es auch jenseits des ›Alice-Schwarzer-Feminismus‹ eine »Community [gibt], die sich nicht den Kopf darüber zerbricht, ob Feminismus bedeutet, dass man sich leider nicht die Beine rasieren ›dürfe‹, sondern lieber darüber, wie man effektiv netzwerken, feministische Veränderung bewirken und dabei möglichst noch Spaß haben kann« (Eismann 2007: 11), dass Popfeminismus (im Gegensatz zu FrauTV) im Fernsehen wirklich mit einem Augenzwinkern agieren kann, beweist die Tracks-Folge mit dem Titel »Starke Frauen«: »FeminismusOster-Sondersendung – garantiert ohne Eier«, wie es in der Ankündigung heißt.22 In knapp 43 Minuten wird ausgebreitet, wie divers sich Popfeminismus gestaltet und dass die bewusste Offenheit und Heterogenität produktiv verstanden wird: Es wird von Künstlerinnen und Popmusiker_innen berichtet und in diesem Zusammenhang über Elternschaft, Queerness, Körperlichkeit oder Design reflektiert. Mit Skateboarderinnen und Soldatinnen werden Frauen in männlich dominierten Räumen vorgestellt. Final wird ein Interview mit der britischen Journalistin Laurie Penny gezeigt, in dem sie mit einem feministischen Blick aktuelle Pop-Phänomene wie die Performances von Miley Cyrus oder Beyoncé analysiert und damit beispielhaft eine popfeministische Kulturkritik vorführt. Der Sendung gelingt damit der Spagat zwischen der Repräsentation weiblicher, von Popkultur beeinflusster Lebensrealität auf der einen und einer Kritik an eben dieser Popkultur auf der anderen Seite. Da es sich bei Tracks um ein Programm handelt, dass sich der Gegenkultur verpflichtet sieht und sich selbst als »radikales und avantgardistisches Magazin«23 versteht, ist die Platzierung popfeministischer Phänomene allerdings nicht weiter verwunderlich. Popfeminismus steht hier in einer Äquivalenzbeziehung mit in den Medien ähnlich marginalen PopThemenschwerpunkten bei Tracks wie dem »Iran spezial« (2006) oder »Return of the Geeks« (2014). Produktionsseitig wird wenig angeboten – Popfeminismus im Fernsehen bleibt die Ausnahme.24 Von einer popfeministischen Kulturindustrie kann folglich im deutschsprachigen Raum nicht die Rede sein. Stattdessen wird Popfeminismus, wie die Beispiele gezeigt haben, als gegenöffentlich markiert. Das bedeutet einerseits, dass der Vorwurf der Anbiederung, den Kritiker_innen an das Phänomen des Popfeminismus herangetragen haben, sich bisher als haltlos her-

22 Ausstrahlungsdatum: 19. April 2014. 23 www.arte.tv/guide/de/sendungen/TRA/tracks 24 Eine Tatsache, die auch professionelle Fernsehmacher_innen beklagen: »Wir […] finden, dass im Fernsehen viel zu wenig Frauen und Feminismus stattfinden. Na, dann halt so!« (Here She Is [o.J.]: Online), heißt es zum Beispiel auf der Homepage der Webshow Here She Is, die statt im Fernsehen online ausgestrahlt wird.

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ausgestellt hat. Andererseits bedeutet es aber auch, dass es den Popfeminist_innen, die diesem Vorwurf gegenüber ohnehin entspannt eingestellt waren, bis dato nicht gelungen ist, ihre popsozialisierte, feministische Agenda in eine breite Öffentlichkeit zu tragen. Statt sich aber kulturpessimistisch vom Massenmedium Fernsehen abzuwenden, wird nach wie vor der Versuch unternommen, Pop »für feministische Zwecke urbar« (Eismann 2008) zu machen.

II.2 Popfeminismus und TV Eine popfeministische Kulturkritik etabliert sich im deutschen Sprachraum versetzt zur Kritik im anglofonen Raum.25 Ab Mitte der 1990er erscheinen in den USA Essays zur popfeministischen Sozialisation, Anthologien mit medienwissenschaftlichen Analysen werden veröffentlicht (vgl. etwa Dow 1996, Brunsdon/ Spigel 1997/2008, Bernold 2004, Johnson 2007a) und mit den Feminist Media Studies konstituiert sich 2001 eine wissenschaftliche Zeitschrift, die Raum für feministische Beobachtungen und Analysen popkultureller Phänomene bietet. Ein Feminist Television Criticism etabliert sich in der Wissenschaft, aber auch jenseits davon, zum Beispiel in Fanzines und den popfeministischen Magazinen Bust (seit 1993) und Bitch (seit 1996). Auch TV-Phänomene, die nicht dominant-feministisch codiert sind, werden auf ihren feministischen Gehalt hin untersucht, wie zum Beispiel das QualityTV-Format The Sopranos (Johnson 2007c) oder die Fernsehshow Bachelor in ihrer amerikanischen Version (Frank 2007). »[A]ll the shows on television today contain a mixture of feminist, post-feminist, antifeminist, and pseudofeminist motifs« (Johnson 2007b: 19), dementsprechend kann jedes TV-Format mit feministisch-geschultem Analysewerkzeug untersucht werden, so die Annahme der Autor_innen. Die Rezeptionsgegenstände deutschsprachiger Popfeminist_innen rekrutieren sich weitestgehend aus dem US-amerikanischen Raum. Ganze Studien widmen sich Serienheldinnen und untersuchen deren Subversionspotenzial stereotyper Genderrollen (vgl. Lenzhofer 2006). In biografischen Bezugnahmen werden beispielsweise Serien wie Gilmore Girls, Sex and the City und Buffy – The Vampire Slayer (Köver 2007) auf ihren feministischen Gehalt hin betrachtet. Andere Untersuchungen fokussieren Entwürfe von Weiblichkeit und Agency (also

25 Die Kulturkritik einer Tine Plesch in den 1990ern (vgl. Plesch 2013) oder die Anthologie Lips Tits Hits Power? Popkultur und Feminismus (Baldauf/Weingartner 1998) können als Avantgarde klassifiziert werden, nicht als Diskurs.

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Handlungsmacht) in Serien mit starken Frauenfiguren, wie sie zum Beispiel in True Blood augenscheinlich sind (Jäckel 2012). Auch deutschsprachige popfeministische Medien reflektieren TV-Produktionen. Das Begehren nach Popkultur wird dabei mit kritischer Kontemplation gekoppelt. Eine feministische Gegenöffentlichkeit äußert etwa in Blogprojekten wie Fernseher kaputt26 oder queer_sehen27 Kritik, die jeweils vor allem TVSerien – im Fall von Fernseher kaputt aber auch andere Formate – mit intersektionaler Perspektive untersuchen. In der popfeministischen Zeitschrift Missy Magazine gibt es von der ersten bis zur 22. Ausgabe eine Rubrik, die sich mit TV-Serien auseinandersetzt, genannt »TV-Dinner«. An die inhaltliche Beschreibung und Kritik der jeweiligen Serie schließt sich ein Kochrezept an, das mit der Story unmittelbar in Verbindung steht. So ergibt sich über die verschiedenen Ausgaben hinweg ein panoramatischer Überblick. An der Reihe lässt sich eine Opposition zum Stereotyp der Feministin als Genussfeindin ablesen. Im Titel wird spielerisch mit Kulturindustrie umgegangen: »TV-Dinner« verweist auf Mikrowellen-Fertiggerichte, die einfach zuzubereiten und zu konsumieren sind und den Verbraucher_innen nicht viel abverlangen. Die Texte mit Titeln wie »Nummer 6 vom guten Thailänder aus ›Borgen‹«, »Weiße Frauen Sushi aus ›Orange Is The New Black‹« oder »Süßkartoffel Pekannusstarte aus ›Tremé‹« verweigern sich aber der Annahme, die besprochenen Serien seien leicht zu konsumieren. Vielmehr regen sie zu einer produktiven Rezeption an, wenn sie die Leser_innen und Zuschauer_innen – ganz dem popfeministischen DIY-Ethos verpflichtet – zum Nachkochen serienspezifischer Kochrezepte animieren.

26 »Fernseher kaputt ist ein gesellschaftskritisches (Micro-)Blogging-Projekt, das sich unter anderem mit Fernsehserien, Reality-TV, Talkshows, Castingshows und Nachrichten befasst. Hier erscheinen Kommentare zur meistens tristen, manchmal verstörenden und viel zu oft empörenden Programmgestaltung vieler Fernsehsender. Daneben gibt es regelmäßig Rezensionen zu sehenswerten – zumeist nicht im deutschsprachigen Raum entstandenen – TV-Formaten.« (fernseherkaputt.blogspot.de/p/uber-die sen-blog.html) 27 Das Blog-Projekt von Steffi Achilles widmet sich »[q]ueere*[n] Identitäten in USamerikanischen Fernsehserien« (queersehen.de/?page_id=16) und ist Teil eines Dissertationsprojektes zum Thema.

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Abbildung 4: »TV-Dinner«

Quelle: Missy Magazine 2/13

Ohne dass die besprochenen Serien durchweg dominant-feministisch codiert wären, werden die feministisch lesbaren Angebote debattiert, welche die Serien an einigen Stellen durchaus machen. Verschiedene Bedeutungsebenen offerieren Kopplungsmöglichkeiten für unterschiedliche Publika, mit dem richtigen Analysewerkzeug ausgestattet eben auch für feministische Zuschauer_innen. Im Missy Magazine wird dementsprechend ein »TV-Dinner«-Panorama ausgebreitet, das aus insgesamt 22 Serienbesprechungen besteht und popfeministische (Sub-) Texte sichtbar macht. So werden beispielsweise das Familienmodell des alleinerziehenden Vaters und Kritik an Lookism in der US-amerikanischen ComedySerie Suburgatory (ABC, 2011-2014), der von zwei Lesben betriebene, feministische Buchladen in der die Indie-Szene von Portland karikierenden Serie Portlandia (IFC, seit 2010) oder intersektionale Diskriminierung und weibliche Sexualität im recht neuen Dramedy-Format Orange Is The New Black (Netflix, seit

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2013) hervorgehoben, also Themenfelder von feministischem Interesse ausgebreitet. Popkulturelle Produkte sind Orte für Bedeutungsaushandlungen von Kategorien wie Race, Class, Gender und Sexualität. Auffällig ist, dass im Missy Magazine nur Serienformate aus dem anglofonen Raum (mit Ausnahme von Borgen, einer dänischen Produktion) besprochen wurden (die Reihe wird nicht fortgesetzt). Deutschsprachige Produktionen finden in den erwähnten gegenöffentlichen Medien generell kaum Erwähnung. »Avancierte kulturindustrielle Produkte […] zeichnet seit den späten achtziger Jahren der Umstand aus, dass sie gezielt für mehrere Zuschauerperspektiven gemacht sind, für verschiedene Zugänge gebaut. Dies ist wahrscheinlich der Punkt, wo die viel beschworene deutsche und europäische Provinzialität am gravierendsten ist.« (Diederichsen 2012: 29)

Deutschsprachige TV-Formate scheinen nicht dazu angelegt zu sein, ein (pop-) feministisch lesbares Angebot zu machen. Nur selten sind die für Populärkultur eigentlich so typischen Aushandlungen evidenter Teil der Codierung, nur selten findet »man patchworkartig verschiedene gesellschaftliche Perspektiven vernäht.« (Ebd.: 30) Während sich in der von Diederichsen besprochenen amerikanischen HBO-Serie Sopranos zahlreiche Angebote, darunter auch für ein popfeministisches Publikum, ergeben,28 bieten viele deutschsprachige Produktionen hier keine Kopplungsmöglichkeiten an. Meistens wird hierzulande auf der populären Fläche des TV-Formats dominant-hegemonial codiert. Der Versuch, feministische Subtexte herauszulesen, mündet in das Dilemma der Beliebigkeit. Es reicht beispielsweise nicht aus, dass in der Sat.1-Comedy-Serie Danni Lowinski (2010-2014) lesbische Elternschaft verhandelt wird. Innerhalb der sonst auf Klischees und Plattitüden bauenden Serie geht dieser Teilaspekt nahezu unter. Und derartige Minimalbeobachtungen rechtfertigen es nicht, von einem kulturellen Text als ›feministisch‹ zu sprechen. US-amerikanische Produktionen beschwören das Lesen feministischer Subtexte dagegen geradezu herauf, wenn wie etwa in der Drama-Serie Masters

28 Wie bereits angedeutet analysiert etwa Merri Lisa Johnson eine Episode der Sopranos und arbeitet heraus, dass hier unter der hegemonial anmutenden Oberfläche durchaus alternative Angebote, etwa von verschiedenen Männlichkeiten auch jenseits des machistischen Mafiosi und selbstbestimmter, weiblicher Sexualität in Opposition zur Opferrolle, die die weiblichen Figuren der Serie sonst häufig einnehmen, gemacht werden (vgl. Johnson 2007c).

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of Sex (Showtime, seit 2013) Nebenfiguren dabei gezeigt werden, wie sie Simone De Beauvoirs Deuxième Sexe diskutieren.

III Outro: »Happiness, Flutsch-Flutsch! Fun fun«? Feminismus ist eine Seltenheit in der deutschsprachigen TV-Landschaft, auch in seiner die Popkultur umarmenden Ausprägung. Popfeministische Sendungen und Beiträge werden im populären Medium Fernsehen entweder als Skandal oder als gegenöffentliches Phänomen markiert. Zwar gibt es eine deutschsprachige feministische Kulturkritik; diese findet indes nicht im TV, sondern in eher gegenöffentlichen Medien, wie Magazinen, Blogs und Podcasts, statt. Die Gegenstände speisen sich hauptsächlich aus der US-amerikanischen Fernsehlandschaft, da es an relevanten deutschsprachigen Produktionen mangelt. Das hat einerseits mit der – im Vergleich zur Third Wave im anglofonen Raum – späten Entwicklung des Popfeminismus zu tun und ist andererseits mit dem vergleichsweise zaghaften Innovationswillen der TV-Verantwortlichen zu begründen. Von Zeit zu Zeit gelingt es, popfeministische Perspektiven in öffentliche Debatten zu integrieren. Von einer Institutionalisierung des Popfeminismus im deutschsprachigen TV kann trotz einer wahrnehmbaren Popularisierung einhergehend mit dem vermeintlich attraktiven Look nicht die Rede sein. Und es stellt sich die Frage, ob sich das überhaupt noch ändern wird in Zeiten, in denen linearer TV-Konsum immer mehr zur Ausnahme und die Online-Rezeption internationaler Serien- und Show-Formate zur Regel wird. Auch Popfeminist_innen können sich schließlich ihr Programm heute schon selbst machen.

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Abbildungen Abbildung 1: Nina Hagen im Club 2 am 09.08.1979, Quelle: tvthek.orf.at/pro gram/Club-2-Best-of/5144257/Skandal-Club-mit-Nina-Hagen/5312275 Abbildung 2: Beyoncé bei den MTV Video Music Awards am 24.08.2014, Quelle: www.mtv.com/ontv/vma/videos/mtv-vma-video-vanguard-medley/1066 933/ Abbildung 3: Sookee im Kulturmagazin Aspekte am 28.03.2014, Quelle: www. zdf.de/ZDFmediathek/beitrag/video/2121960/aspekte-vom-28.-Maerz-2014# /beitrag/video/2121960/aspekte-vom-28.-Maerz-2014/dialog/einstellungen Abbildung 4: Balzer, Anne-Sophie/Sharmila Banerjee: »TV-Dinner #19: Nudelauflauf aus ›Suburgatory‹«, in: Missy Magazine 2/13, S. 16.

»Man füllt also irgendwie fünf Minuten Bühnenzeit« Zur Entwicklung des Poetry Slams unter dem Einfluss des Fernsehens im deutschsprachigen Raum M AX D ORN

Als Marc Smith 1986 den Begriff und die Bewegung ›Poetry Slam‹ in der Green Mill Lounge, Chicago, ins Leben ruft, ist an arte noch kaum zu denken. Wöchentlich stehen sich dort Poeten im Wettstreit um Applaus und zehn Dollar Preisgeld gegenüber. Während sich der Tagessieger mit seinem Preisgeld lediglich den Heimweg zu finanzieren vermag, begibt sich das Phänomen und die Bewegung Poetry Slam jedoch auf eine weitaus längere, noch immer andauernde Reise um den Globus. Über die erste nationale Meisterschaft 1990 in San Francisco führt der Weg bis nach Deutschland (vgl. Felis 2013: 19). Während der Erfolg der amerikanischen Poetry-Slam-Szene unter anderem darin begründet zu sein scheint, dass den Minderheiten und der Unterschicht ein sicherer Veranstaltungsort und eine Stimme zur Konstruktion ihrer eigenen Identität geboten wird (vgl. Somers-Willett 2009: 97), hält sich der Vorwurf, es ziehe den deutschsprachigen Poetry-Slam-Nachwuchs hauptsächlich aus Interesse am literarischen Schreiben und Vortragen in die mittlerweile zahlreich angebotenen Workshops und weniger aus politischem Interesse (vgl. Anders 2009: 91). Ob deutschsprachige Slam Poetry tatsächlich zumeist von »Alltagssituationen« (Felis 2013: 101) handelt und ob der Einfluss des Fernsehens die Poetry-Slam-Szene weiter verwässert (vgl. Yussuf M, zit. n. Ullmaier 2006: 148), soll im Folgenden untersucht werden.

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I Entstehung Macht man sich auf die Suche nach einer vergleichbaren Szene wie der amerikanischen, findet man Parallelen zu der im deutschen Untergrund verhafteten Social-Beat-Szene. In ähnlichem Maße, wie sich amerikanische Minderheiten eine Art waffenfreie Zone schaffen, in der lediglich mit der Sprachgewalt der Poeten eine eigene Identität formuliert und Tabuthemen angesprochen werden können, sucht die studentisch geprägte Social-Beat-Untergrundszene alternative Vertriebs- und Publikationswege und stellt sich Ende der 1980er gegen den etablierten Literaturbetrieb (vgl. Ullmaier 2006: 142). Inhaltlich stehen sich die Szenen also nahe. »Vor allem wütend und dagegen. Poesie in Punk und Rap. Asphaltlyrik und Untergrundprosa. Die Literatur bebt!« (Anonym 1995, zit. n. Ullmaier 2006: 142), so sendet der SDR über Social Beat. Johannes Ullmaier trägt verschiedene ›Brennpunkte‹ der Entstehung für Social Beat zusammen. Im Westen formen sich die 60/90er um Hadayatullah Hübsch und Wolfgang Rüger; die bereits ins bürgerliche Feuilleton aufgestiegenen Autoren sehnen sich nach einer Rückkehr zu ihren Wurzeln und treffen nach dem Mauerfall auf Schriftsteller wie Bert Papenfuß und Matthias BAADER Holst, Köpfe der jungen Szene des Prenzlauer Bergs und formieren sich unter dem Schlagwort Social Beat: »Social Beat bedient sich nicht abstrakter Definitionen, vielmehr ist es KUNST aus dem gesellschaftlichen Leben, VolXkunst – also ein soziales Produkt.« (Yussuf M 1995, zit. n. Ullmaier 2006: 143)

Anfangs gibt es in der ›Ursuppe‹ des Social Beat jedoch noch »keine klare Linie« (Henze 1995, zit. n. Ullmaier 2006: 141), die Szene ist »diffus und zum Teil zerstritten« (Ploog 1995, zit. n. Ullmaier 2006: 156).1 1994 fasst Slam

1

Die wesentlichsten Gegensätze der Strömungen im Social Beat lassen sich mit folgendem Zitat zusammenfassen: »[…] die Szene [war] aber alles andere als die frühe Ost-Sektion des Social Beat. Denn trotz manch struktureller und später auch personeller Überschneidung infolge geteilter Counterculture- und (teils) Punk-Affinität klaff(t)en die Richtungen doch […] kulturgeographisch, […] underground-politisch und […] ästhetisch deutlich auseinander – namentlich in puncto: […] relativer Ostberlin-Metropolismus innerhalb der popkulturell relativ provinziellen DDR versus relativer BRD-Zugereisten-Provinzialismus im relativ metropolischen Gesamt-Berlin, […] überwiegend institutionell versus überwiegend kulturindustriell bedingter Off-Status, sowie: […] vor oder neben der anglo-amerikanischen Beat-/Pop-Tradition ansetzende Neo-Avantgarde versus rootfixierte Beat-Orthodoxie.« Ullmaier (2006: 135ff.).

»M AN FÜLLT

ALSO IRGENDWIE FÜNF

M INUTEN B ÜHNENZEIT «

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Poetry Fuß in Deutschland. Wolf Hogekamp organisiert Slams nach amerikanischem Vorbild in Berlin, wo sich Slam Poetry mit Social Beat vermischt. Zunächst wird »in irgendwelchen Undergroundkneipen gelesen […]. Das haben wir auch mit den Beatniks gemeinsam. Es geht um das Hier und das Jetzt. […] Dieses Poetry-Slam war ja so ein Aufbegehren gegen die Wasserglaslesungen in irgendwelchen Literaturhäusern.«2 Verglichen mit den exzessartigen Performances des Social Beat, ist Poetry Slam dennoch etwas braver. Anders als auf Veranstaltungen der Beatgeneration, wo »zu viele lange Haare, zu viele kaputte Jeans, zuviel Saufen, zu wenig netter Pop [und] [z]uviel Vermarktungsfeindlichkeit« (Franz Dobler 1995, zit. n. Ullmaier 2006: 144) bildbestimmend sind, drängen nun auch Frauen auf die Bühnen des »jungmännerbündischen SocialBeat-Bereich[s]« (Halberstedt 2000, zit. n. Ernst 2013: 246). Zwei weitere Einflüsse sind entscheidend für die weitere Entwicklung der Szene. Mit dem gängigen Kofferwort Slamily soll eine freundschaftliche, familiäre Verbundenheit innerhalb der Szene zum Ausdruck gebracht werden. »Es war früher […] aggressiver. Da war viel disrespect.« Nun heißt es: »respect the poet.«3 Tom de Toys beschreibt den damaligen Umgang in der Szene als locker und liberal, weil die Szenemitglieder als Repräsentanten des literarischen Außenseitertums sich nicht als Konkurrenten, sondern vielmehr als Kollegen mit individuellen Ansätzen verstehen (vgl. Tom de Toys 2000, zit. n. Ernst: 147). So bildet Poetry Slam einen Kompromiss zwischen herkömmlichen Lesungen (Michael Ring 1996, zit. n. Ullmaier 2006: 145) und Social-Beat-Aufführungen mit auf die Bühne fliegenden Farbbeuteln. Eine zweite wichtige Neuerung ist das mittlerweile größtenteils etablierte Regelwerk. Die ausschließlich selbstverfassten Texte müssen innerhalb eines Zeitlimits, welches meist eine Länge von fünf Minuten nicht überschreitet, und ohne Zuhilfenahme von Requisiten oder Kostümen dem Publikum vorgetragen werden. Ein im Poetry Slam sogenannter Master of Ceremonies moderiert die Show und nominiert je nach Format entweder eine Jury oder entnimmt dem Applaus des Publikums selbst, welche SlamPoeten im Wettkampf verbleiben.4 Mitunter heizt entweder er oder ein außer Konkurrenz auftretendes, sogenanntes ›Opferlamm‹ den Zuschauern ein, um den Slammern ein gut aufgelegtes Publikum und damit einen gelungenen Abend zu garantieren. In der langen Tradition antiker Dichterwettbewerbe spannt dabei der Wettkampfgedanke den Bogen über die Veranstaltung.

2

Wolf Hogekamp 2010 im Deutschlandradio Kultur (www.deutschlandradiokultur.de/ zack-auf-die-buhne-txt.media.26613656538d4e24c835095679c78080.txt).

3

Ebd.

4

Vgl. www.slam2014.de/regeln/

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Bevor erste Fernsehsendungen für Poetry Slam entwickelt werden, finden vereinzelte Slams etwa in der Münchener Kneipe Substanz oder im Ex’n’Pop in Berlin, wo an gleicher Stelle 1997 auch die ersten Deutschen Meisterschaften ausgetragen werden, statt (vgl. Anders 2009: 21). Zunächst jedoch bleiben Poetry Slams lokale Veranstaltungen. Slammer lassen sich nach ihrer Bereitschaft, als Reisepoet von Slam zu Slam zu ziehen oder sich als Lokalmatador auf einen Homeslam zu beschränken, kategorisieren. In seinem Text Warum ich schreibe greift Bo Wimmer dieses Thema humorvoll auf: »Statt in Kneipen verbringt man ganze Wochen auf Bahnhöfen und fährt als Reisepoet von Slam zu Slam. Ich fühle mich inzwischen kompetent genug, um eindeutig klarstellen zu können, dass auf Bahnhöfen absolut rein gar nichts passiert. Bahnhofsromantik gibt es nur in Filmen und in Stuttgart, aber ich verliere mich. Man füllt also irgendwie fünf Minuten Bühnenzeit – und sich danach im Backstage ab. Dieses Konzept ist absolut bahnbrechend und am nächsten Tag sitzt man in der Bahn – brechend. Dank dir, Johnnie Walker. An dir kommt man nicht vorbei, aber selbst auf dem Boden liegend, kommst du immer wieder hoch. […] Am Morgen nach dem Slam wache ich auf: mit Glück in weichen Federn, mit Pech im abgeranzten Festivalschlafsack des Veranstalters, auf einer WG-Couch im Flur eines Studentenwohnheims. Hinter einer Pappwand wird Chinesisch gekocht. Ich wache auf und wundere mich, wo ich bin und was passierte – gestern Nacht, in dieser mir so fremden Stadt. Frage mich, wohin ich fahre: heute, morgen, nächstes Jahr. Schlummere weiter, träume von einer Profikarriere beim FC Barcelona und einem Mädchen, das mich endlich sesshaft werden lässt. Tagein, tagaus. Schlaf’ ein, schlaf’ aus. […] Ich bin reisender Kneipenschreiber. Ich mache das nicht wegen des Schreibens, ich bin hier zum trinken. […] Bier und Johnnie Walker – ihr füllt mich ab, aber Tinte füllt mich aus.«5

Weiterhin bewegte sich die Szene abseits des Mainstreams, aufgrund des geringen finanziellen Anreizes gibt es nur wenige Reisepoeten, die sich vor unterschiedlichem Publikum erproben. So erschöpfen sich beispielsweise die ersten Versuche, Poetry Slam in Schleswig-Holstein zu etablieren, aufgrund des immer gleichen Teilnehmerfelds.6 Dennoch vernetzt sich die Szene durch jene Reisepoeten und das Internet zunehmend auch überregional. 2000 finden die deutschsprachigen Meisterschaften erstmals mit deutschlandweiten Vorentscheiden statt, darüber hinaus beteiligen sich auch Künstler aus Österreich und der

5

www.youtube.com/watch?v=e3yWGuEYwtE [Transkription v. M.D.]

6

Vgl. www.assembleart.com/index.php?sektion=8

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Schweiz. Als Reaktion darauf werden im Folgejahr die Deutschen Meisterschaften in German International Poetry Slam umbenannt.7 Stilistisch ist Poetry Slam breit aufgestellt, zu den Anfangszeiten werden sogar die Rückseiten von Chipstüten vorgelesen.8 Laut Bas Böttcher, dem Gewinner der ersten Deutschen Poetry-Slam-Meisterschaften, existieren beim Slam heute »alle Textgattungen. Slam Poetry ist neben Kurzgeschichte, Satire und klassischer Lyrik nur eine der vielen Gattungen, die man bei Poetry Slam hört.« (Bas Böttcher, zit. n. Felis 2013: 60) Deutschsprachige Slam Poetry ist eher studentisch geprägt und entwickelt sich nicht aus gesellschaftlichen Problemvierteln heraus. Damit unterscheidet sie sich von Gangsta Rap oder Slam Poetry in Übersee, »wo die Kindheitseindrücke darin bestehen, daß mein Kumpel aus dem fahrenden Auto erschossen wird […]. Hier ist es eher: Kindergarten, Schule, wahrscheinlich Gymnasium, und die Hälfte hat sowieso Hochschulabschluss. Das ist […] deutscher Slam […].« (Boris Kerenski, zit. n. Ullmaier 2006: 150) »Aber wir haben hier halt keine Ghettos, und hier fällt man auch nicht ganz so schnell durch das soziale Netz – und dementsprechend sehen auch die Texte aus. […] [A]lles andere [klänge] hier wohl viel zu manieriert und einfach unsinnig und aufgesetzt.« (Boris Kerenski, zit. n. Ullmaier 2006: 149) Vielmehr wendet sich deutschsprachige Slam Poetry anderen Themen und Problemen zu und ist dabei zu vielfältig, um wie nach Rieber auf die drei Hauptthemen der »alltägliche[n] […] kollektiven Erfahrung«, »des Auf-der-Bühne-Stehen[s] und der konkrete[n] Slam-Situation« sowie auf »das Operieren mit absurden Sachverhalten« (Rieber 2006: 54) heruntergebrochen werden zu können. Inhaltlich reicht das Spektrum dabei beispielsweise von Bas Böttchers Wortspielakrobatik zu Flirtversuchen an Imbissbuden in Snex bis hin zu Kapitalismuskritik wie von Hadayatullah Hübsch: »Gib mir dein Geld! Geld! Geld! Gib mir Geld! Geld! Geld! Gib mir Geld! Ich hab nichts mehr verloren. Ich bin noch nicht geboren. Ich will nur Geld, eine Welt voller Geld, Und keinen, der Versprechen hält! Ich will Geld fressen, bis ich kotze. […]« (1994: 21)

7

Vgl. zakk.de/~poesieschlacht/geschichte.php?a=meister

8

Vgl. Wolf Hogekamp 2010 (wie Anmerkung 2).

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So zeigt sich, »wie vielfältig das Panorama der Szene ist: Es gibt Gesellschaftskritisches, Ironisches, Existenzielles, Komisches, Verspieltes – aber auch vermehrt Autoreflexion.« (Ullmaier 2006: 157) Deutscher Poetry Slam bewegt sich zwischen deutschem Hip Hop, wo beispielsweise Bas Böttchers Wurzeln liegen oder auch der Rapper Taktloss auf einige Slam Performances zurückblicken kann, und dem bedingungslos Alternativen des Social Beat; dort können Künstler wie Jan Off oder Hadayatullah Hübsch stellvertretend genannt werden. Dagegen weisen sprachlich anspruchsvolle Texte Berührungspunkte mit herkömmlichen Lesungen auf. Bei Performances, die wie Theresa Hahls Mein Herz vor allem das dichterische Können in den Vordergrund stellen, entwickelt sich durch das zumeist ruhig lauschende Publikum eine lesungsähnliche Atmosphäre. Einige Dichter wie Theresa Hahl empfinden die bei anderen Slammern durchaus üblichen und mitunter auch spielerisch in die Performance eingebauten Zwischenrufe sogar als »unglaublich respektlos«.9 »[…] und es dauert nicht lang, dann mach’ ich wieder Achterbahnfahrten in meinem Kardiogramm und hoff ganz vergeblich: Ich komm’ dabei dann auch mal irgendwo an, denn schon seit der ersten Reanimation steht das Mikrofon meines Trommeltongrammophon unter Starkstrom und auf Destillation aller Sorgen, einer um mich platzierten Person, weil ich meine Doppelherznaht schon im Ärmelaufschlag des nächstbesten Mannes trag’ und mit so ein bisschen Herzharakiri gepaart, macht es dann Kamikazekunst im Kardioquadrat. Und ist mein Rippenbogen auch erst mal gespannt um Fantasieflügelpfeile abzuschießen, hab’ ich den Schlüssel gerade dann verlegt, wenn es darum geht, Herzkammern abzuschließen […].«10

Auch Kabarett und Comedy haben großen Einfluss auf Slam Poetry. Nach Timo Brunke lassen sich beide Genres zwar voneinander abgrenzen, da Kabarett bzw. Comedy austauschbare Inhalte nutzen, um Pointen hervorzubringen, Slam

9

www.slam2012-film.de/

10 www.youtube.com/watch?v=jcshaLYYiE8 [01:57ff.], [Transkription v. M.D.]

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Poetry Pointen jedoch gezielt verwende, um die wohlüberlegte Aussage eines Textes zu verstärken.11 Exemplarisch ist dies in Auf der anderen Seite von Sulaiman Masomi zu beobachten: »[…] Ich würde so gern ein richtiger Deutscher sein: groß gewachsen mit blonden Haaren und blauen Augen. Ich hätte gern mal gewusst, wie das ist. Einfach mal nicht den Zug verpassen, einfach mal ein Auto bauen, einfach mal in eine Disco gehen, ohne von schönen Frauen belästigt zu werden. Naja, fürs erste wäre es mal cool, überhaupt mal in eine Disco reinzukommen. Einfach nur um zu wissen wie es ist, wenn man sich drinnen prügelt und nicht draußen mit dem Türsteher. Ich hab’s vor einem Jahr versucht, aber es klappt einfach nicht. […] Was soll ich jetzt tun? Es machte kein Sinn für mich, ein Deutscher in Deutschland zu sein. Ich hatte nur Nachteile und für die anderen Ausländer war ich immer noch ein Ausländer. So macht es dann auch keinen Spaß, sie von oben herab spöttisch zu behandeln. Ich konnte mich aber auch nie richtig entscheiden. Wenn ich sage: ›Wir Deutschen bauen gute Autos‹, dann fühle ich mich integriert. Aber wenn ich sage: ›Ihr Deutschen habt richtig Scheiße gebaut, im Zweiten Weltkrieg‹, dann bin ich keiner von uns. Aber wir müssen die Vergangenheit endlich Hitler uns lassen und nach vorne schauen. […]«12

Dennoch verläuft der Übergang mitunter fließend, wie beispielsweise die Texte von Torsten Sträter zeigen. »Ich komme ja aus Dortmund, bin aber trotzdem einer, der sich so gar nicht mit Fußball auskennt. Oder Frauen. Bis jetzt bin auch immer ich derjenige gewesen, der verlassen wurde. Keine Ahnung, warum. Frauen sind ein Rätsel, dabei bin ich ein guter Typ. Meine Interessensgebiete lauten Philosophie und Ballerspiele. Meine Freundin findet beides scheiße. Na gut, okay, eines davon ist erwiesenermaßen verstörend, macht auf Dauer aggressiv und dumm im Kopf. Aber was ist das Problem mit Ballerspielen? […]«13

Kabarettistische oder komödiantische Einflüsse auf die Slam-Texte werden in der Szene allerdings kritisch betrachtet, da eine amüsante Performance dem Poeten vermeintlich größere Siegeschancen einzuräumen scheint. So findet sich Hadayatullah Hübsch auf dem nationalen Slam 1999 in Weimar als einziger gesellschaftskritischer Act auf dem letzten Platz wieder (vgl. Ullmaier 2006: 147). Übereinstimmend mit Hadayatullah Hübsch beobachtet Marguerite Meyer einen

11 Vgl. www.basboettcher.de/eigene2.html 12 www.youtube.com/watch?v=iE9P8IFyQpM 13 www.youtube.com/watch?v=Gm30zNcAn7Q

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Trend, wonach Texte sich vermehrt nach dem Geschmack des Publikums richten, da die Wettstreiter wüssten, welche Textsorten erfolgsversprechender seien (vgl. Felis 2013: 61). Wie im Folgenden gezeigt werden soll, betrifft diese Tendenz jedoch nicht die gesamte Szene, sondern ist in erster Linie ein Phänomen der TV-Slams.

II Fernsehen Ab 2007 finden sich erste Sendungen, die Slam Poetry ins Fernsehen bringen. Zwar werden zuvor bereits Zusammenfassungen sowie Dokumentationen zu verschiedenen Events wie den Deutschen Meisterschaften 2002 vom arteKulturmagazin metropolis begleitet und auch vereinzelt Auftritte von Künstlern der Szene (u.a. Bas Böttcher, Michael Lentz) in Sendungen wie der Lyriknacht auf ZDF im nachtstudio ausgestrahlt, allerdings fehlt stets das konstitutive Element des Wettbewerbs (vgl. Westermayr 2004: 95f.). Während in den Vereinigten Staaten auf großen Privatsendern wie MTV und HBO Stars wie Rapper Mos Def Pate für Slam Poetry stehen, wird in Deutschland hauptsächlich im öffentlich-rechtlichen Fernsehen geslammt (vgl. ebd.). Zwar gibt es eine schwer zu überblickende Anzahl von Fernsehauftritten unter anderem im Quatsch Comedy Club oder TV Total, die von Poetry Slammern bestritten werden, jedoch ohne Regelmäßigkeit oder in anderer Funktion wie bei Julia Engelmanns Rolle als Eishockeyspielerin in der RTL-Soap Alles was zählt.14 Eine Ausnahme stellt die Sendung Slam Tour mit Kuttner dar. Im Jahr 2008 sendet Sat.1 Comedy zwölf Folgen, in denen die Moderatorin Sarah Kuttner lokale Slams besucht, einzelne Texte vorstellt und Interviews mit Teilnehmern und Veranstaltern führt.15 Mittlerweile taucht Poetry Slam immer wieder in vielen verschiedenen Kontexten im Fernsehen auf. Der WDR beispielsweise berichtet 2013 darüber, wie mithilfe von Poetry Slam Alzheimerpatienten behandelt werden können.16 Die bedeutendsten Sendungen sind – neben dem jährlichen Bericht über die deutschsprachigen Meisterschaften auf arte – der WDR Poetry Slam und die auf zdf.kultur ausgestrahlte Reihe POETRY SLAM. Da die beiden letztgenannten Formate nicht nur eine Plattform bieten, um Texte zu präsentieren, sondern diese auch inner-

14 Vgl. www.spiegel.de/kultur/literatur/massenerfolg-poetry-slam-dichter-dran-am-kom merz-a-602670.html 15 Vgl. www.fernsehserien.de/slam-tour-mit-kuttner 16 Vgl. www1.wdr.de/mediathek/video/sendungen/lokalzeit/lokalzeit-owl/videopoetry slamfuerdemenzkranke100.html

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halb der Sendung in Konkurrenz zueinander stellen, sollen sie im Folgenden genauer besprochen werden. Den ersten Versuch, einen Poetry Slam im Fernsehen authentisch wiederzugeben, unternimmt 2007 der WDR. Bis 2009 moderiert Joerg Thadeusz die 30minütige Sendung WDR Poetry Slam und erhält hierfür eine Nominierung für den Adolf-Grimme-Preis.17 Die Sendung, die jeweils sonntags um 0.00 Uhr ausgestrahlt wird, rekurriert auf berühmte Slams wie dem Uptown Poetry Slam in der Chicagoer Green Mill Lounge: Das Publikum sitzt auf dem Boden und es werden kurze Interviews mit den auftretenden Künstlern vor ihren Performances geführt. Pro Runde wird den Slammern drei Minuten Zeit zugestanden, um ihre Performance abzuliefern, und bei Zeitüberschreitung übertönt eine Jazzband den Poeten. Dennoch fehlen beim WDR Poetry Slam zentrale Elemente eines herkömmlichen Poetry Slams. Auffällig ist, dass mit Joerg Thadeusz ein Fernsehmoderator durch das Programm führt und kein Master of Ceremonies aus der Slam-Szene. Durch diese Besetzung wird deutlich, dass der WDR hier nicht als stiller Beobachter einen für die Szene repräsentativen Poetry Slam aufzeichnet, sondern selbst gestaltend eingreift. Einen weiteren Aspekt stellen die verschiedenen Kameraperspektiven und Schnitte dar, welche im WDR zum Einsatz kommen. Ruhige Performances werden, in geflüsterten Passagen sogar ausnahmslos, durch Nahaufnahmen betont und nach Pointen wird das amüsierte Studiopublikum von den Fernsehkameras eingefangen. Eindrucksvollstes Beispiel hierbei ist die Performance von Christian Ritter. In Abzweigung links ist das Schlüsselmoment die fiktive Betätigung der ›Rückspultaste‹, womit er in seiner Performance die Zeit um mehrere Jahrzehnte zurückdreht; dieser erzählte Vorgang wird vom tatsächlichen Rückspulen der Bildspur begleitet.18 Es ist fraglich, ob ein solcher Effekt nicht gegen das Regelwerk, also die Verwendung von Hilfsmitteln, verstößt. Dennoch kann mithilfe solcher Stilmittel, wenn sie in Symbiose mit der Performance des Slammers eingesetzt werden, eine intensivere Atmosphäre erzeugt und in vielen Fällen auch die Botschaft eines Textes sogar besser übermittelt werden. Allerdings verliert der auftretende Künstler hierbei an Einfluss auf die Wirkung seiner Performance, zumal auch Studiopublikum und Fernsehzuschauer verschiedene Inszenierungsebenen einer Performance erleben. Somit können zwar die Konturen der noch jungen Textgattungen im Poetry Slam weiter geschärft werden, andererseits kann es auch dazu führen, dass die Intention des Künstlers von Stereotypen überstülpt wird, was es ihm er-

17 Vgl. www1.wdr.de/fernsehen/unterhaltung/comedy/sendungen/slamgeschichteindex 102.html 18 Vgl. www.youtube.com/watch?v=f-2F9nOQNqI

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schwert, seine Botschaft durch die Performance präzise zu entfalten, da er gegen eine Fremdinszenierung ankämpfen muss. Welche Auswirkung bereits die gewählten Kameraperspektiven auf die Poetry Slam-Szene haben, lässt sich besonders gut in den von Wolf Hogekamp und Bas Böttcher entwickelten Poetry Clips beobachten. Hier performen Slammer in zumeist selbstgedrehten Videos ihre Texte, wobei nun Requisiten und Kostüme verwendet werden können. Die Clips werden in der Regel als DVD oder über Plattformen wie YouTube veröffentlicht. Um einen Vergleich zwischen Poetry Clips vor und nach dem Beginn der Einflussnahme des Fernsehens auf die Szene zu ermöglichen, lassen sich exemplarisch Poetry Clips von Timo Brunke und der Deutschen Poetry Slam-Meisterin von 1999, Tracy Splinter, heranziehen. Timo Brunke liegt in seinem Clip Ich hätte einen Vogel19 von 2002 auf dem Rücken und schaut direkt in die Kamera. Als einzige Schnitttechnik wird der Jump Cut verwendet. Auch Tracy Splinter blickt in ihrem Poetry Clip Word Poem20 direkt in die Kamera, verwendet ebenfalls Jump Cuts und geht sogar noch einen Schritt weiter als Timo Brunke, indem sie ihre Performance mit dem Wort »Cut« beendet, was dem Zuschauer deutlich macht, dass die Poetin sich bewusst ist, gefilmt zu werden. Abbildung 1: Tracy Splinter, Word Poem

Quelle: YouTube.de

Durch diese minimalistische Herangehensweise stehen vor allem die gesprochenen Worte der Künstler im Vordergrund. Während in den ersten Poetry Clips also eine direkte Interaktion mit der Kamera stattfindet, lehnen sich jüngere Poetry 19 Vgl. www.youtube.com/watch?v=8Gzb_sTVykI 20 Vgl. www.youtube.com/watch?v=Y8L9Dbw9hh8

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Clips wie beispielsweise Tic Tac Toe21 von Dalibor Markovic aus dem Jahr 2012, der auch auf zdf.kultur an Slams teilnimmt, deutlich an die Ästhetik von Poetry Slam-Fernsehproduktionen an. Indem der Künstler keinen Kontakt zu der Kamera herstellt, wird hier der Eindruck von Authentizität vermittelt, so als ob der Autor sich nicht bewusst sei, gefilmt zu werden, wodurch das Inszenieren selbst inszeniert wird (vgl. Porombka 2006: 232). Abbildung 2: Dalibor Markovic, Tic Tac Toe

Quelle: YouTube.de

Eben dieses Verhalten findet sich bereits zuvor auch bei den Auftritten der Poetry-Slammer beim WDR Poetry Slam: Auch dort interagieren die Poeten vornehmlich mit dem Publikum und ignorieren die vorhandenen Fernsehkameras. Einzig der Slammer Andy Strauß beendet seine Performance Redefreiheit, indem er auf die Fernsehkameras zeigt und ihnen befiehlt, damit aufzuhören, ihn zu filmen.22 Ansonsten hat sich das direkte Spiel mit der Kamera, wie es sonst beispielsweise bei Musikern oder im Comedybereich zu beobachten ist, in der Poetry-Slam-Szene nicht durchgesetzt. Fünf Jahre nach dem WDR Poetry Slam startet 2012 auf zdf.kultur die Sendereihe POETRY SLAM und wird bis Dezember 2013 ausgestrahlt.23 Die Sendung moderieren Nina Sonnenberg, Jo Schück und Rainer Maria Jilg, wobei hier mit Nina Sonnenberg eine erfahrene Slammerin engagiert wird. 2002 belegt sie den dritten Platz beim National Slam in Bern und gewinnt als Mitglied von Da

21 Vgl. www.youtube.com/watch?v=rbNrLq96pQQ 22 Vgl. www.youtube.com/watch?v=kK0Y72BErCw 23 Vgl. www.fernsehserien.de/poetry-slam-2011/sendetermine/-1#jahr-2013

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Boyz with da Girlz in Tha Back im Rahmen des National Slam 2005 in Leipzig den Teamwettbewerb.24 Die Zuschauer sitzen ebenfalls auf dem Boden, vor der Bühne oder stehen in dem mit Graffitis besprühten Studio. Eine Jazzband überbrückt die Pausen zwischen den Performances. Das Publikum fungiert als Jury, wobei fünf zufällig ausgewählte Zuschauer stellvertretend für das gesamte Publikum eine Wertung zwischen einem und zehn Punkten für jeden Text abgeben können. Die bedeutendste Neuerung gegenüber anderen Formaten ist jedoch, dass der Poetry Slam live ausgestrahlt wird und damit dem Momenthaften des Mündlichen Rechenschaft trägt. Dass trotzdem auch hier Poetry Slam nur als Fernsehinszenierung stattfindet, wird unter anderem durch die Moderationen nach den jeweiligen Slam-Performances deutlich. Hier positioniert sich Jo Schück mit dem Rücken zum Studiopublikum, um dann die Überleitung für den folgenden Slammer in die Kamera zu sprechen, während im Hintergrund die Atmosphäre im Publikum eingefangen werden kann. Abbildung 3: Jo Schück, zdf.kultur Poetry

Quelle: YouTube.de

Wieder wird das Studiopublikum selbst Teil der Inszenierung, welche für den Fernsehzuschauer stattfindet. Obwohl das Publikum im Studio vielmehr an der Aufzeichnung einer Fernsehsendung teilnimmt, bewertet es die Auftritte der Slammer, als wäre es auf einem ›klassischen‹ Poetry Slam. Der Fernsehzuschauer zuhause jedoch ist nur ein ohnmächtiger Beobachter des Geschehens, er kann weder seine Meinung zum Ausdruck bringen noch für seinen favorisierten Text abstimmen oder in irgendeiner anderen Form Einfluss auf den Slam nehmen. Durch diesen Umstand wird ein zentraler Aspekt des Poetry Slams ausgehebelt.

24 Vgl. www.ninafivasonnenberg.de/poetry

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Nach Marc Smith ist das Publikum aufgefordert, mit dem Poeten zu interagieren. Es soll Freude oder Unmut gegenüber der Darbietung zum Beispiel durch Zwischenrufe, Fingerschnippen, Applaus oder Fußgetrampel zum Ausdruck bringen (vgl. Felis 2013: 17f.). Hier setzt also ein Kampf um die Deutungshoheit der Veranstaltung im Allgemeinen ein. Die Fernsehmoderatoren sprechen direkt in die Studiokameras und vernachlässigen hierfür das Studiopublikum, die Slammer jedoch weichen dem Blick in die Kamera regelrecht aus und interagieren, anstatt sich an den Fernsehzuschauer zu richten, mit dem Studiopublikum. So nimmt weder das Studiopublikum noch der Fernsehzuschauer zuhause an einem Poetry Slam teil. Ein weiterer Unterschied zum herkömmlichen Poetry Slam ist, dass die Fernsehpoeten geladene Gäste sind. Dies geht so weit, dass Jo Schück und Rainer Maria Jilg in einem Teaser von der »Crème de la Crème der deutschsprachigen zdf.kultur Poetry Slam-Szene«25 sprechen. Hier bricht das Fernsehen mit der Tradition des Poetry Slams als Open-Mic-Veranstaltung, wonach Slammer sich für ihren Auftritt nur in eine offene Liste eintragen müssen und sich so ein jeder mit selbstgeschriebenem Text auf der Bühne versuchen kann.26 Auf zdf.kultur lesen Künstler wie beispielsweise Franziska Holzheimer mit Früchtetee oder Sebastian23 mit Schwerkraft und Leichtsinn Texte, die sie zuvor bereits an anderer Stelle vorgetragen haben.27 Die Äußerung, »ja, vielen Dank, das ehrt mich sehr, das dieser Text gewünscht wurde von der Produktion«28, von Felix Römer im Paratext bei seinem WDR Poetry Slam-Auftritt legt sogar eine noch tiefergehende Kontrollübernahme durch den Sender nahe. Poetry Slam im Fernsehen funktioniert also als ein Best-of-Event. Das Fernsehen produziert eine für sich stehende Elite, und damit »›[…] rückt die Szene an sich in den Hintergrund. Der einzelne Künstler wird wichtiger‹«, beschreibt [Jan Egge] Sedelis […]. ›[…] [G]erade die Künstler, die Literatur mit anderen Medien wie Musik und Videos vermischen, sind momentan sehr erfolgreich.‹«29 Laut Oliver Domzalski, Programmleiter für Humor- und Geschenkbücher des Carlsen Verlags, erscheinen

25 www.facebook.com/video.php?v=3332460570634 26 Nach dem Prinzip der Open-Mic-Veranstaltung wurden die ersten Slams veranstaltet und auch in den Vorentscheiden der deutschsprachigen Poetry Slam Meisterschaft findet es Anwendung (vgl. www.slam2014.de/nominierung/). 27 Vgl. www.youtube.com/watch?v=TaWI4uXWklk und www.youtube.com/watch?v= sQxPq9m_HKM 28 www.youtube.com/watch?v=0BqPbDNbnj0 29 www.spiegel.de/kultur/literatur/massenerfolg-poetry-slam-dichter-dran-am-kommerza-602670.html

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Poetry Slammer mit der Branche besonders kompatibel, da sie, anders als andere Autoren, ihre Texte direkt durch Auftritte bewerben können.30 Insofern öffnen sich die bekanntesten Gesichter nun auch dem herkömmlichen Literaturbetrieb. Slammer wie Torsten Sträter oder Marc-Uwe Kling stehen bei großen Verlagshäusern wie Carlsen und Ullstein unter Vertrag.31 Darüber hinaus ist Torsten Sträter »Pressesprecher für alles«32 bei extra 3 im NDR und Dauergast bei Dieter Nuhrs Satire Gipfel in der ARD. Um weiterhin eine hohe Medienpräsenz zu erreichen, entfernt sich diese Elite zunehmend von eigentlicher Slam Poetry und bedient stattdessen die Nachfrage der Fernsehsender, wo Poetry Slam nicht als Kultursendung, sondern als Unterhaltungsshow aufgefasst wird. So lief beispielsweise die Slam Tour mit Kuttner auf Sat.1 Comedy und der WDR führt Poetry Slam auf der eigenen Homepage nicht in der Rubrik ›Kultur‹, sondern in ›Unterhaltung‹.33 Das ZDF gibt in der Selbstverpflichtungserklärung des Senders an, dass der Sender zdf.kultur das »[…] ZDF als Marke in der Zielgruppe der Unter-30-Jährigen stärker […] etablieren[]«34 soll. Dafür berufen sich die Sender hauptsächlich auf junge Autoren.35 Während die deutschsprachige Szene 2015 mittlerweile ihre 19. Meisterschaft austrägt, wird die erste Generation von Slammern im Fernsehen kaum berücksichtigt und es entsteht das Trugbild einer durchweg jugendlichen Szene. Und tatsächlich ist bei den Poetry Slams von zdf.kultur vom 08.05.2011 und vom 23.02.2012 Volker Strübing als einziger von 15 Teilnehmern vor 1975 geboren und nur drei von 20 Performances beschäftigen sich mit gesellschaftskritischen Themen. ›Prototyp‹ solch eines ›Medienslammers‹ ist Julia Engelmann. Nachdem sie auf dem 5. Bielefelder Hörsaal-Slam 2013 ihren Text One Day vorträgt, avanciert sie zur Protagonistin eines Internethypes. Das YouTube-Video des Auftrittes zählt im Oktober 2014 fast sieben Millionen Aufrufe.36 Infolgedessen wird Julia Engelmann als Gast in die NDR Talk Show eingeladen, um ihren Text vor

30 Vgl. www.buchreport.de/nachrichten/verlage/verlage nachricht/datum/2014/03/07/ _ von-der-buehne-ins-buch.htm?no_cache=1 31 Vgl. ebd. 32 www.daserste.ndr.de/extra3/rubriken/Torsten-Straeter-Pressesprecher-fuer-alles, torstenstraeter104.html 33 Vgl. www1.wdr.de/fernsehen/unterhaltung/comedy/sendungen/uebersicht_slam102. html 34 www.zdf.de/ZDF/zdfportal/blob/25758980/2/data.pdf 35 Vgl. programm.ard.de/TV/3sat/poetry-slam/eid_280077167925292 und www.grimme -institut.de/html/index.php?id=657 36 Vgl. www.youtube.com/watch?v=DoxqZWvt7g8

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der Talkrunde, bestehend aus Fernsehprominenten wie Til Schweiger oder einem zu Tränen gerührten Jörg Pilawa, vorzutragen.37 Bei einem anderen Fernsehauftritt im ZDF morgenmagazin stellt sie ihren Text in einer Kurzfassung erneut vor.38 Darüber hinaus veröffentlicht sie das Buch Eines Tages, Baby und wird neben Hape Kerkeling in der Verfilmung von Ich bin dann mal weg spielen.39 Petra Anders spricht von einer Tendenz der Szene in Richtung einfacher Unterhaltung, da humorvolle Texte im Wettbewerb überlegen scheinen, wobei jedoch nicht abzusehen sei, ob eine endgültige Entwicklung zum Unterhaltungsbereich stattfinde (vgl. Anders 2009: 25). Dieser Wettbewerb wird jedoch nur auf der Ebene des Fernsehslams ausgetragen, dort kämpfen einige wenige um eine Nische in der Branche. Dieser Anpassungsprozess scheint bisher gesellschaftskritische Slammer zu verdrängen und prägt nebenbei das Bild von Poetry Slam in der Öffentlichkeit. Es ist jedoch zu allgemein gefasst, von einem Trend in der gesamten Szene auszugehen. Vielmehr scheint sich eine kleine Gruppe abzusondern, welche den Hype um die Szene, der sie entstammt, als Sprungbrett nutzt. Lokaler Poetry Slam steht weiterhin seinen Wurzeln im Social Beat näher als dem Fernsehslam. Die als Open-Mic-Veranstaltung angelegten lokalen Slams weisen durch eben dieses Prinzip eine enorm hohe Vielfalt an Stilrichtungen und Themen auf, dazu führt die freie Bühne zu einer starken, vermarktungsfeindlichen Qualitätsschwankung der auftretenden Poeten und wirkt somit als eine Art ›Schutzmechanismus‹. Innerhalb der Slamily dient der Wettbewerbscharakter nur als dramaturgisches Mittel. Höhere Preisgelder wie z.B. insgesamt 6200 Euro beim von 3sat begleiteten Stuttgarter Besen oder eine anschließende Weitervermarktung der Poeten gibt es nicht. Somit setzt hier auch keine Verdrängung von Texten mit politischen oder gesellschaftskritischen Inhalten durch vermeintlich erfolgversprechendere Texte mit trivialen Themen ein. Stattdessen stehen die verschiedenen Genres und Themen weiterhin gleichberechtigt nebeneinander.

37 Vgl. www.youtube.com/watch?v=fma__yBZRIY vom 10.10.2014. 38 www.zdf.de/ZDFmediathek/beitrag/video/2211640/Julia-Engelmann-will-ehrlicherzaehlen#/beitrag/video/2211640/Julia-Engelmann-will-ehrlich-erzaehlen 39 www.einsfestival.de/mediathek/player.jsp?vid=639515

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Literatur Anders, Petra (2009): Poetry Slam im Deutschunterricht, Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren. Ernst, Thomas (2013): Literatur und Subversion. Politisches Schreiben in der Gegenwart, Bielefeld: transcript. Felis, Clara (2013): Auf den Spuren der Lyrik beim Poetry Slam: Ein Vergleich der US-amerikanischen und der deutschsprachigen Poetry-Slam-Szenen, Paderborn: Lectora. Hübsch, Hadayatullah (1994): Bewege deinen Kopf. Neue Batschkapp Gedichte, Hanau: Richter. Porombka, Stephan (2007): »Clip-Art, literarisch. Erkundungen eines neuen Formats (nebst einiger Gedanken zur so genannten ›angewandten Literaturwissenschaft‹)«, in: Christine Künzel/Jörg Schönert (Hg.), Autorinszenierungen. Autorschaft und literarisches Werk im Kontext der Medien, Würzburg: Königshausen & Neumann, S. 223-243. Rieber, Charlotte (2006): Slam Poetry als literarisches Genre. Versuch einer Klassifizierung der beim Poetry Slam vorgetragenen Texte, Konstanz: unveröffentlichte Diplomarbeit. Somers-Willett, Susan B.A. (2009): The Cultural Politics of Poetry Slam, Ann Arbor: University of Michigan Press. Ullmaier, Johannes (2006): Von Acid nach Adlon und zurück. Eine Reise durch die deutschsprachige Popliteratur, Mainz: Ventil. Westermayr, Stefanie (2004): Poetry Slam in Deutschland. Theorie und Praxis einer multimedialen Kunstform, Marburg: Tectum.

Medien ARD – Poetry Slam: programm.ard.de/TV/3sat/poetry-slam/eid_280077167925 292 Andy Strauß – Redefreiheit (Poetry Slam): www.youtube.com/watch?v=kK0Y7 2BErCw assemble ART – Alles über Poetry Slam: www.assembleart.com/index.php?sek tion=8 Bas Böttcher – Poetry Slam FAQs: www.basboettcher.de/eigene2.html buchreport – Wie Verlage mit Poetry Slammern Erfolge feiern: www.buchre port.de/nachrichten/verlage/verlage_nachricht/datum/2014/03/07/von-derbuehne-ins-buch.htm?no_cache=1

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Campus TV 2013 – 5. Bielefelder Hörsaal-Slam – Julia Engelmann: www.you tube.com/watch?v=DoxqZWvt7g8 EINSWEITERgefragt mit Julia Engelmann: www.einsfestival.de/mediathek/ player.jsp?vid=639515 facebook – 4. ZDFkultur Poetry Slam: www.facebook.com/video.php?v=333246 0570634 fernsehsehrien.de – Sendetermine Poetry Slam: www.fernsehserien.de/poetryslam-2011/sendetermine/-1#jahr-2013 fernsehserien.de – Slam Tour mit Kuttner: www.fernsehserien.de/slam-tour-mitkuttner Grimme-Preis: www.grimme-institut.de/html/index.php?id=657 Julia Engelmann im NDR: www.youtube.com/watch?v=fma__yBZRIY Julia Engelmann will »ehrlich erzählen«: www.zdf.de/ZDFmediathek/beitrag/ video/2211640/Julia-Engelmann-will-ehrlich-erzaehlen#/beitrag/video/2211 640/Julia-Engelmann-will-ehrlich-erzaehlen Nina Fiva Sonnenberg: www.ninafivasonnenberg.de/poetry poesieschlacht – Die Deutschsprachigen Poetry Slam Meisterschaften: zakk.de/ ~poesieschlacht/geschichte.php?a=meister Poetry Clip – Timo Brunke – Ich hätte einen Vogel: www.youtube.com/watch?v =8Gzb_sTVykI Poetry Slam Meisterschaften 2014 – Nominierung: www.slam2014.de/nomi nierung/ Poetry Slam Meisterschaften 2014 – Regeln: www.slam2014.de/regeln/ Poetry Slam für Demenzkranke: www1.wdr.de/mediathek/video/sendungen/lo kalzeit/lokalzeit-owl/videopoetryslamfuerdemenzkranke100.html Poetry Slam Ulm: Franziska Holzheimer: www.youtube.com/watch?v=TaWI4 uXWklk Sebastian 23 – Schwerkraft und Leichtsinn: www.youtube.com/watch?v=sQxP q9m_HKM Slam 2012 – Der Film: www.slam2012-film.de/ Slammer Filet 06.07.2012 OPEN AIR Torsten Sträter Zugabe: www. youtube.com/watch?v=Gm30zNcAn7Q Slammer Filet 25.01.2013 Bo Wimmer Finaltext: www.youtube.com/watch?v= e3yWGuEYwtE SPIEGEL ONLINE – Massenerfolg Poetry Slam: www.spiegel.de/kultur/litera tur/massenerfolg-poetry-slam-dichter-dran-am-kommerz-a-602670.html [Poetry Slam Ulm] Sulaiman Masomi: Auf der anderen Seite: www.youtube .com/watch?v=iE9P8IFyQpM Theresa Hahl – Mein Herz: www.youtube.com/watch?v=jcshaLYYiE8

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WDR – Historie. Die Erfolgsgeschichte des Poetry Slam: www1.wdr.de/fern sehen/unterhaltung/comedy/sendungen/slamgeschichteindex102.html WDR – Poetry Slam in der Rubrik ›Unterhaltung‹: www1.wdr.de/fernsehen/ unterhaltung/comedy/sendungen/uebersicht_slam102.html WDR Poetry Slam – Felix Römer – Ich war einmal ein Kind: www.youtube .com/watch?v=0BqPbDNbnj0 WDR Poetry Slam (Runde 2) – Christian Ritter – Abzweigung links: www.you tube.com/watch?v=f-2F9nOQNqI Wolf Hogekamp 2010 im Deutschlandradio Kultur: www.deutschlandradiokul tur.de/zack-auf-die-buhne-txt.media.26613656538d4e24c835095679c 78080.txt ZDF – Selbstverpflichtungserklärung des ZDF 2013-2014: www.zdf.de/ZDF/zdf portal/blob/25758980/2/data.pdf

Abbildungen Abbildung 1: Poetry Clip – Tracy Splinter – Word Poem: www.youtube.com/ watch?v=Y8L9Dbw9hh8 [00:05] Abbildung 2: Dalibor: Tic Tac Toe (Poetry Clip): www.youtube.com/watch?v= rbNrLq96pQQ [01:00] Abbildung 3: 1. Poetry Slam Berlin @ ZDF.Kultur: www.youtube.com/watch? v=C3MKkCfbFB4 [49:07]

Popmusik und Fernsehen Exemplarische Untersuchung öffentlich-rechtlicher Fernsehsender und popmusikalischer Inhalte K RISTINA F LIEGER

Die Dimensionen der Allianz von Popmusik und Fernsehen sind auf diversen Ebenen zu verstehen: auf einer ersten Ebene die Verflechtungen und Wechselwirkungen des ästhetischen Materials (Ton und Bild) bzw. von musikalischem Werk und audiovisueller (Re-)Produktion in Form etwa von Konzertmitschnitten oder Videoclips1; auf einer zweiten Ebene die wirtschaftlichen und soziotechnischen Elemente, die den Prozess der Distribution von Popmusik über den Kanal bzw. das Medium Fernsehen steuern; und schließlich auf einer dritten kulturpolitischen Ebene, die Popmusik als Kulturgut (und weniger als Ware) im Massenmedium Fernsehen resorbiert, analysiert und für den Rezipienten bzw. den Zuschauer präpariert. Die ersten beiden Ebenen haben in der Wissenschaft bis dato viel Zuwendung erfahren. Dieser Artikel fasst in Kürze die Bedeutung und Strategien der drei Analyseebenen zusammen und untersucht schließlich die dritte Ebene, den aktuellen Stand von kultur- und bildungstheoretischen Aspekten im ›System Popmusik und Fernsehen‹ mithilfe einer exemplarischen Betrachtung von popmusikalischen Formaten bzw. Inhalten und deren Aufarbeitung durch die öffentlich-rechtlichen Sender des deutschen Fernsehens. Dies vor dem Hintergrund, dass seit den 1960er Jahren eine Öffnung einiger Sendeformate für popmusikalische Inhalte stattgefunden hat, das Medium jedoch durch musikalische Internetangebote unter Zugzwang geraten ist und sich diesem Trend anpassen muss. Es entstanden Produktionen, die via Medienarchiv abrufbar sind, jedoch nur zeitlich

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Wobei sich diese Verknüpfung nicht direkt auf das Medium Fernsehen, sondern im Allgemeinen auf audiovisuelle Wiedergabemedien bezieht.

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begrenzt. Dieser Wandel musste schließlich zu einem Umdenken führen, das zwischen Hoch- und Popkultur keinen Unterschied mehr machte und popmusikalische Inhalte gleichbedeutend neben hochkulturelle Angebote im Fernsehen stellte. Die nun folgende Untersuchung zeigt das Verständnis von Popmusik als Teil von Popkultur bzw. die Verortung popmusikalischer Formate und Darbietungsformen im öffentlich-rechtlichen Fernsehen neben den hochkulturellen Angeboten, wobei der Fokus auf Formaten liegt, die sich in Form von Magazinsendungen oder Dokumentationen der inhaltlich-analytischen, erklärenden bzw. aufklärenden Auseinandersetzung mit Popmusik verschrieben haben. Formate, die die reine Wiedergabe von Aufführungssituationen fokussieren, finden Erwähnung, stehen aber nicht im Zentrum des vorliegenden Beitrags.

I Populäre Musik: Definitionen und Eingrenzungen Besteht viel zu oft die Tendenz mit einer intuitiven Selbstverständlichkeit über Populäre Musik oder Popmusik, die in diesem Aufsatz synonym verwendet werden,2 zu sprechen, wird an dieser Stelle vorab ein Einblick in aktuelle Definitionsversuche und -debatten gegeben, um die Komplexität dessen, was unter Popmusik verstanden werden kann oder muss, zu verdeutlichen. Eine Form der Eingrenzung kann über die Trennung von Volksmusik, Kunstmusik und dem, was übrig zu bleiben scheint, nämlich Pop, erfolgen. Dass Volksmusik aber einen populären Charakter besitzt und dass Popmusik auch als Kunstform verstanden werden muss bzw. Kategorien wie ›triviale, einfache Musik‹ und ›ernste Musik‹ dem, was Popmusik ist und was sie nicht ist, nicht gerecht werden, erklärt diesen Ansatz für wenig überzeugend. Historische Versuche der Eingrenzung zeigen ebenfalls diverse Vor- und Nachteile. Peter Wicke (2001) beschreibt die Kulturgeschichte der Popmusik Von Mozart zu Madonna. Christofer Jost (2014) verknüpft die Entwicklung der Popmusik mit den nach Land und Region unterschiedlichen Industrialisierungsschüben vom 18. bis ins 20. Jahrhundert. Wolfgang Rumpf (2011) stellt medientechnische Entwicklungen in den Vordergrund seiner Überlegungen und benennt den Beginn der Popmusik-Ära mit der Erfindung der Schellackplatte (um 1896). Einen weiteren Ansatz bietet die Summierung von Musikgenres unter den Oberbegriff ›Pop‹. In der Alltagssprache wird Popmusik oft synonym mit Musik aus dem kulturellen, gesellschaftlichen und medialen Mainstream verwendet, also zum Beispiel Musik, die sich in den Airplay- oder Verkaufscharts befindet. Im Gegen-

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Ebenso wie ›Popularmusik‹.

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satz dazu stehen Musikstile oder Genres, die in subkulturellen Lebenswelten von Bedeutung sind, zum Beispiel Punk, Metal oder Trance. Doch im Laufe der Entwicklung des Phänomens Popmusik haben sich diese musikalischen Stile, Genres bzw. Lebenswelten, die in ihrer Entstehung dem sogenannten musikalischen Underground angehörten, in den medialen Mainstream verschoben. Damit können mittlerweile im allgemeinen Sprachgebrauch also auch Genres wie NuMetal (der mit Vertretern wie Linkin Park unter den Top 10 der deutschen Airplaycharts gelistet wird) oder Punk (mit mainstreamkundigen Vertretern wie Die Ärzte oder Die Toten Hosen) als Popmusik bezeichnet werden. Im musikwissenschaftlichen Diskurs, besonders in der musikpsychologischen Forschung und in der Popmusikforschung, finden sich diverse Kategoriensysteme, in denen die Genres, welche in ihrer Gesamtheit das Spektrum der Populären Musik bilden, zusammengefasst werden. Die Allensbach Studien und das Musikinformationszentrum (MIZ) schlagen eine generelle Einteilung aller Musikrichtungen in folgende Genres vor: Oldies/Evergreens; Deutsche Schlager; Volksmusik/Blasmusik; Tanzmusik; Rock- und Popmusik (deutschsprachig); Rock- und Popmusik (englischsprachig); Dance/Hip Hop/Rap; Techno/House; Hardrock/Heavy Metal; Blues/Spirituals/Gospels; Chansons; Musicals; Oper/ Operette/Gesang; Klassik/Konzerte/Sinfonien (vgl. MIZ 2014). Es gibt eigene Kategorien für deutschsprachige und englischsprachige Rock- und Popmusik, wobei nicht eindeutig ist, was an dieser Stelle mit Popmusik gemeint ist. Auch welche der übrigen Genres unter der Kategorie Popmusik zu fassen sind, findet weder in den Allensbach Studien noch aufseiten des MIZ Aufmerksamkeit. Überlegungen, ob Vertreter wie David Garrett, Vanessa Mae, André Rieu und das Trans-Siberian Orchestra Klassik mittlerweile (wieder) zum Pop gehören, sind nicht abwegig, führen aber noch nicht zu einer eindeutigen Definition von Popmusik. Jost (2014) stellt fest, dass sich vor allem ein Kriterium für die Definition von Popmusik durchgesetzt hat, und zwar, dass Populäre Musik »vor allem Musik in den Massenmedien« (ebd.: 9) ist. Neben der Live-Performance ist die mediale Verbreitung von Populärer Musik im marktwirtschaftlichen System ausschlaggebend für den Grad der Popularität bzw. für die Reichweite, die Populäre Musik besitzen kann. Reinhard Flender und Hermann Rauhe beschreiben in diesem Kontext Populäre Musik als »eine spezifisch eigenständige Musikkultur auf der Grundlage industrieller Produktion und Distribution. Ihre sozialen und psychologischen Funktionen sind bestimmt durch die emotionalen und körperlichen Bedürfnisse, die in verstärktem Maße durch die rationalisierte Lebens- und Arbeitsform in der industrialisierten Gesellschaft erzeugt werden. Ihre

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Ästhetik wird bestimmt durch die Bedingungen und Möglichkeiten der Massenkommunikationsmittel, ihre Semantik erwächst aus den Topoi moderner Mythologien, ihre Struktur aus der Akkulturation von ethnischen (insbesondere der afroamerikanischen) mit popularisierten oder trivialen europäischen Musiktraditionen.« (Flender/Rauhe 1989: 17)

Nach Wicke kann Popmusik über dies hinaus als kulturelle Praxis oder als Medium verstanden werden (vgl. Wicke 1992), Musik also als ein ästhetisches Produkt, das man interpretieren oder an dem man sich erfreuen kann. Christoph Jacke fasst Popmusik zusammen als »kommerzialisierten, gesellschaftlichen Bereich, der Themen industriell produziert und massenmedial vermittelt, die durch zahlenmäßig überwiegende Bevölkerungsgruppen mit Vergnügen genutzt und weiterverarbeitet werden« (Jacke 2009: 24f.), wobei unter ›massenmedial‹ auch das Leitmedium Fernsehen gefasst wird. Aufgrund der Einbeziehung von Massenmedien und des Fokus auf die Verbreitung von Popmusik über eben diese, wird im Rahmen der vorliegenden Betrachtung Jackes Definition von Popmusik als Arbeitsdefinition verstanden. Um einen Überblick zu geben, welche Felder Popmusikforschung beinhaltet bzw. beinhalten kann, vgl. hier Abbildung 1. Abbildung 1: Mindmap Themenfelder der Popmusikforschung

Quelle: Eigene Darstellung

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II Populäre Musik und Fernsehen: Prozess- und Analyseebenen Die Annahme, dass »Populäre Musik, wie wir sie heute kennen, […] ohne das Fernsehen nicht denkbar [ist]« (Jost 2014: 141), liegt zum einen in der visuellen und akustischen Symbiose begründet, welche die Popmusik dominiert, zum anderen aber auch in der Fähigkeit des (Massen-)Mediums, Pop populär zu machen. Bevor man also die Protokooperation3 von Popmusik und Fernsehen näher identifizieren und analysieren kann, ist es ratsam, sich der Bedeutung des Audiovisuellen für die Popmusik bewusst zu werden. Das ästhetische und akustische Material kann für sich allein mithilfe unterschiedlicher Methoden der wissenschaftlichen Betrachtung unterzogen werden. Dietmar Elflein zeigt dies eindrucksvoll in seiner Monografie Schwermetallanalysen: Die musikalische Sprache des Heavy Metal (2010) am Beispiel akkurater musikalischer Liedanalysen diverser Spielarten des Hard Rock und Heavy Metal. Die Deutungsmöglichkeiten eines Songs in Kombination mit dem visuellen Material, zum Beispiel Videoclips oder Livemitschnitte, potenzieren sich mithin um ein Vielfaches. Videoclips können ergänzend die Geschichte eines Liedes auf Bildebene erzählen, sollte der Songtext dies nicht tun. Das Verständnis eines Künstlers bzw. das Image des Stars wird durch die Präsenz in den Medien bzw. im Fernsehen geprägt und den Rezipienten vermittelt. Miley Cyrus’ Video zu dem Titel Wrecking Ball (2013, RCA Records), in dem die Musikerin nur mit einem Paar Stiefeln bekleidet auf einer Abrisskugel durch das Bild schwingt, verhalf ihr in Verbindung mit den im selben Jahr inszenierten Auftritten zu einem kompletten Imagewechsel vom Teenie-Idol zum rebellierenden Rockstar. Popmusik zu analysieren kann also bedeuten, nicht nur das Songmaterial, sondern ganze Produktionsketten und deren einzelne Segmente (darunter auch das Audiovisuelle) zu untersuchen, wie es Reinhard Kopiez und Andreas Lehmann (2013: 36f.) in dem »Modell für die iterative, multiple, optimierte Passung in den Produktionsketten der Popmusik« veranschaulicht haben. Um die Musik oder den Künstler in seiner Gänze zu begreifen, können oder müssen alle Segmente vom Musikstück über den Songtext, das Klangbild, das Live-Konzept, die Distribution und schließlich die Rezeption untersucht werden. Konzertmitschnitte vermitteln zum Beispiel die ersten drei genannten Punkte, wohingegen Videoclips zwar künstlerischer Ausdruck des Musizierenden sind, aber ebenso unter

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Eine Form der Symbiose, bei der beide Arten zwar ihren Vorteil aus dem Zusammenleben ziehen, jedoch ohne einander gleichwohl lebensfähig sind.

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die Distribution fallen und damit zu den Promotion- und Marketing-Tools gezählt werden und in diesem Kontext analysiert werden können. Die besondere Rolle des Fernsehens für die Popmusik erklärt sich dann auf einer übergeordneten Ebene: Fernsehen verstanden als soziotechnischer Komplex, der Organisationen (Sender) und Produktions-, Sende- und Empfangstechniken vereint, durchzieht in seiner Funktion als Massenmedium die Produktionsketten der einzelnen Segmente der Popmusik, und dies auf diversen Ebenen bzw. in Form verschiedener Formate. Beginnend mit den ersten Spielshows wie Einer wird gewinnen (ab 1964), in denen Popmusikkünstlern Slots für Performances eröffnet wurden, über die Entstehung des Musikfernsehens (MTV 1981 in den USA) und der damit beginnenden Entwicklung des Videoclips bis hin zu aktuellen Musikformaten wie Castingshows oder dem Einsatz von Musik in Serien und Filmen: Das Fernsehen diente und dient Populärer Musik als Wiedergabemedium unterschiedlichster audiovisueller Produktionen, als Plattform für die Generierung von Aufmerksamkeit, und es produziert schließlich Kontexte, in denen Popmusik unterschiedliche Bedeutungen erlangen kann. Von hier ausgehend erschließt sich eine weitere Möglichkeit, den Mutualismus von Popmusik und Fernsehen zu begreifen bzw. eine weitere Analyseebene der Komplizen aufzuzeigen, und zwar eine kultur- und bildungstheoretische Ebene. Bevor sie mithilfe einer exemplarischen Betrachtung popmusikalischer Formate bzw. Inhalte und deren Aufarbeitung durch die öffentlich-rechtlichen Sender des deutschen Fernsehens diskutiert wird, ist ein Blick auf die geschichtliche Entwicklung von Popmusik im Fernsehen und Musikfernsehen substanziell.

III Musikfernsehen und Popmusik im deutschen Fernsehen: historischer Überblick4 Musik und Fernsehen sind seit jeher auf diversen Format- und PerformanceEbenen miteinander verbunden bzw. sind in diversen Format- und Sendetypen musikalische Werke oder Musiker ein tragendes Element.

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Alle Daten zu den Fernsehsendern, Formaten, Sendungen, Inhalten etc. stammen (soweit nicht anders angegeben) von den Internetpräsenzen der jeweiligen Sender. Auf den Internetseiten des MIZ (Musikinformationszentrum) findet sich eine aktuelle Übersicht aller Webseiten und Kontaktadressen der Sender: www.miz.org/en/suche_ 54.html

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Mit dem Beginn der Ausstrahlung von Fernsehprogrammen in der BRD und der DDR im Jahr 1952 begann auch die Musik ihren Vormarsch in das neue Medium in Form vom musikalischen Heimatfilmen oder Mitschnitten von Opern oder Musicaldarbietungen. Doch es sollte noch knapp ein Jahrzehnt dauern, bis eigens für das Fernsehen inszenierte und produzierte Musikformate Einzug in das deutsche Fernsehen hielten. Von den Berichterstattungen über innen- und außenpolitische Themen dominiert begann die Synthese von Populärer Musik und Fernsehen mit Fernsehshows (besonders Spielshows) in den 1960er Jahren, in denen die Performance von Künstlern etabliert wurde und die für die Künstler als Promotion- bzw. Werbeplattform diente. Eine der ersten Shows, in denen nur die Auftrittssituation in den Fokus gesetzt wurde, war der Eurovision Songcontest (1956). Musik aus Studio B (1961) mit dem gebürtigen Briten Chris Howland war die erste moderierte Musiksendung, die über den NDR ausgestrahlt wurde. Abbildung 2: Fernsehtipp: Musik aus Studio B (1968)

Quelle: zuschauerpost.de

Es folgten weitere rein musikbezogene Formate wie die ZDF-Hitparade (19692000), der Beat-Club (1965-1972) und der Rockpalast (seit 1974). Mit MTV (1981) und VIVA (1993) wurden die Grundlagen des Musikfernsehens in Deutschland gelegt, womit dem Videoclip als Promotiontool und als Kunstform eine Plattform geboten wurde. In der Folge stellt Jacke (2007) fest, dass »nachweislich die Musik aus dem Musikfernsehen verschwindet« (Jacke 2007: 74). Dies mag für VIVA und MTV gelten. MTV ist seit 2009 nur noch im

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PayTV zu empfangen und zeigt wie VIVA primär amerikanische Dokusoaps oder Comicserien (z.B. South Park, Family Guy, Drawn Together, Futurama). VIVA strahlt neben den genannten Sendeformaten regelmäßig die sogenannten Chart-Sendungen (z.B. VIVA Top 100 oder VIVA Wecker) aus, die Raum für Videoclips im Fernsehen geben, aber sehr wenig auf inhaltlicher oder (pop)journalistischer Ebene agieren. Doch die Schnelllebigkeit und Dynamik von Medienentwicklungen zeigt sich an dieser Stelle besonders prägnant, da Sender wie Deluxe Music (2005) und Imusic One (2006) das Musikfernsehen inzwischen neu belebt haben. Die Behauptung, das Musikfernsehen hätte eine Abwanderung in das Internet vollzogen, muss damit also relativiert werden. Vielmehr hat sich ein neues Musikfernsehen etabliert. Als weitere Entwicklung lässt sich der explosionsartige Anstieg der Castingshow-Formate in Deutschland festhalten. Popstars, Deutschland sucht den Superstar oder The Voice of Germany gehören zu den bekanntesten Vertretern im Bereich Musik. Der Kanonisierung der Popmusik liefern sogenannte Chart- oder Countdownshows neues bzw. bekanntes Material. Die ›top‹ oder die ›besten‹, ›beliebtesten‹, ›bewegendsten‹ Musiktitel, Künstler, Videoclips etc. werden in diesen Formaten abgehandelt. Des Weiteren etablieren sich popmusikalische Inhalte immer weiter als Bestandteile von Kultur- und Informationsformaten. Besonders im öffentlichrechtlichen Fernsehen ist dieser Trend zu vermerken, wie im Folgenden noch ausführlich beschrieben wird. Nicht zu vergessen bleibt abschließend die steigende Zahl von Musikdokumentationen sowie der Einsatz von Popmusik in Filmen und Fernsehserien (vgl. Tabelle 1).

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Tabelle 1: Die Entwicklung von Popmusik im Fernsehen und Musikfernsehen Beschreibung

Beispiele

Jahreszahlen

Einer wird gewinnen

1964

ZDF-Hitparade

1969

Musikladen

1972

Rockpalast

1974

FormelEins

1983

MTV

1987

VIVA

1993

VH1 Europe

1994

YouTube MyVideo Tape.tv Putpat.tv

2005 2006 2008 2008

»neues Musikfernsehen«

Deluxe Music Imusic1 Flux TV Jukebox Joiz

2005 2006-2014 2006 2007 2011

Castingshows und Chartshows

Popstars Die Ultimative Chartshow

2000 2003

Musik als Bestandteil von Kultur- und Informationsformaten

Pop Around The Clock POPXPORT NumberOne! zdf.kulturpalast

2002 2004 seit 2011 auf zdf.kultur 2011

Musik in Fernsehshows (z.B. Spielshows) Musikshows/Musikformate

Musikfernsehen

Musikfernsehen im Internet

Außerdem: Musik in Film und Serien Musikdokumentationen

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IV Popmusik und Fernsehen im kultur- und bildungspolitischen Diskurs Die fünf Säulen aktuelle Berichterstattung, Information, Bildung, Kultur und Unterhaltung gelten als die festen Bestandteile des Grundversorgungsauftrags des öffentlich-rechtlichen Fernsehens. Kultur5 und Unterhaltung werden laut Christian Lewke (2007) jedoch in der Diskussion oft ausgeblendet, da dem Grundgesetz und den Rundfunkurteilen des Bundesverfassungsgerichts oft eindeutige, operationalisierbare Aussagen zum Kulturauftrag fehlen. Im Bereich des öffentlich-rechtlichen Fernsehens sind es eher die Informationsformate, die der Herstellung einer politischen Öffentlichkeit dienen und in einer demokratischen Gesellschaft im Fokus des Interesses stehen. Zwar nicht mit direktem Bezug auf das Fernsehen, jedoch in einem generellen kulturpolitischen Kontext beschreiben André Doehring und Ralph von Appen in ihrer Kritik an dem Schlussbericht der Enquete-Kommission Kultur in Deutschland 2009 treffend, dass

»Kultur nicht nur Künstler und Publika braucht, sondern auch vermittelnde Experten, die sich fundiert mit Produktion, Distribution und Rezeption kultureller Produkte auseinandersetzen, um zum einen gelingende kulturelle Kommunikation wahrscheinlicher zu machen, und zum anderen, um im allgegenwärtigen Gezerre um Bedeutungen als weitgehend unabhängige Instanz zu fungieren.« (Ebd.: 3)

Dieser Aufgabe muss sich das Fernsehen bewusst sein. Für den Mutualismus von Popmusik und Fernsehen erfolgte 2013 ein spannender Denkanstoß, als Dieter Gorny, stellvertretend für die deutsche Musikindustrie, einen von Rundfunkgebühren finanzierten Musiksender forderte. Gorny argumentierte: »Wenn ARD und ZDF den weiteren Generationenabriss stoppen wollen, brauchen Sie mehr Musik mit spannenden Formaten, innovativ und bimedial. Kurzum: einen eigenen Musiksender. […] Die Diskussion um einen Jugendkanal führt in die Irre. Was ARD und

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Kultur wird hier verstanden nach der Definition des Deutschen Bundestags (aufbauend auf der UNESCO-Erklärung von 1982) als »Gesamtheit der unverwechselbaren geistigen, materiellen, intellektuellen und emotionalen Eigenschaften […], die eine Gesellschaft oder eine soziale Gruppe kennzeichnen, und dass sie über Kunst und Literatur hinaus auch Lebensformen, Formen des Zusammenlebens, Wertesysteme, Traditionen und Überzeugungen umfasst« (www.unesco.de/kultur/kulturelle-vielfalt/konvention/genese-der-konvention/allgemeine-erklaerung-zur-kulturellen-viel falt.html).

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ZDF brauchen, ist ein musikalischer TV-Sender mit Anspruch, zumal ehemals erfolgreiche Formate und Trendsetter wie MTV und VIVA keinerlei mediale Relevanz mehr haben.« (Gorny 2013)

Der Rundfunkvertrag verpflichtet ARD und ZDF zu Kultur und Bildung, und wenn es nach Gorny gegangen wäre, wäre ein Musikkanal eine ideale Erfüllung dieses Auftrags, von dem sich die Musikindustrie eine Stärkung der Kreativszene in Deutschland versprochen hätte. Die Behauptung Gornys, MTV und VIVA hätten keinerlei Relevanz mehr, mag sich indes relativieren, betrachtet man den bereits erwähnten Aspekt, dass sich seit Mitte der Nullerjahre neue Musikfernsehsender etabliert haben. Seine Forderungen nach einer adäquaten Auseinandersetzung mit Musik bzw. nach einer Plattform für die mediale Präsentation von Musik sind dennoch nachvollziehbar.

V Populäre Musik und die öffentlich-rechtlichen Fernsehsender Die primären Aufgaben des öffentlich-rechtlichen Rundfunks6 bestehen neben einem Grundversorgungsauftrag und einem gesetzlich festgelegten Programmauftrag in der Wahrung der politischen und wirtschaftlichen Unabhängigkeit. Der Grundversorgungsauftrag wird über Radio und Fernsehen abgedeckt. Um aber gegenüber den internetbasierten Angeboten der Privatsender und den dadurch veränderten Konsumgewohnheiten der Rezipienten (TV bzw. Music on Demand) konkurrenzfähig zu bleiben, spielt das Onlineangebot der öffentlichrechtlichen Sender eine zunehmend wichtigere Rolle. Hierzu sei gesagt, dass jeder Fernsehsender und jede Hörfunkwelle unter der entsprechenden Domain zu

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Der öffentlich rechtliche Rundfunk setzt sich zusammen aus den Rundfunkanstalten der ARD (Arbeitsgemeinschaft der öffentlich rechtlichen Rundfunkanstalten der Bundesrepublik Deutschland), dem ZDF und dem Deutschlandradio. Zu den öffentlichrechtlichen Fernsehsendern in Deutschland gehören auf bundesweiter Ebene: Das Erste mit seinen neun Landesrundfunkanstalten, EinsPlus, Einsfestival und tagesschau24, das ZDF inklusive zdf.kultur und zdf_neo, sowie die Gemeinschaftskanäle bzw. Spartenkanäle arte, Phoenix, 3sat und KiKA. Zu den Landesrundfunkanstalten zählen die folgenden Sender: Bayerischer Rundfunk (BR), München; Hessischer Rundfunk (hr), Frankfurt; Mitteldeutscher Rundfunk (MDR), Leipzig; Norddeutscher Rundfunk (NDR), Hamburg; Radio Bremen (RB); Rundfunk Berlin-Brandenburg (RBB), Berlin und Potsdam; Saarländischer Rundfunk (SR), Saarbrücken; Südwestrundfunk (SWR), Stuttgart; Westdeutscher Rundfunk (WDR), Köln.

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finden ist. Rechtliche Grundlage hierfür ist der 12. Rundfunkänderungsstaatsvertrag (RÄStV) von 2009. Diesem zufolge sind Telemedienangebote der öffentlich-rechtlichen Sender nur zulässig, wenn sie eng programmbegleitend und maximal sieben Tage online verfügbar sind oder durch ein Telemedienkonzept (TMK) gedeckt werden, welches wiederum an ein Verweildauerkonzept geknüpft ist. Die aktuellen Verweildauerkonzepte von ARD und ZDF sehen unter anderem folgende Fristen vor: Themen und Dokumente von zeitgeschichtlicher Bedeutung werden unbegrenzt vorgehalten. Bildungsbezogene Sendungen oder Angebote können maximal fünf Jahre online verfügbar sein. Reportagen, Verbraucherinformationen usw. können bis zu einem Jahr abrufbar sein, unterhaltende Programme ein halbes Jahr und Sportsendungen und -beiträge 24 Stunden. Für popmusikalische Formate und Sendungen bedeutet dies, dass es für das öffentlich-rechtliche Fernsehen mit einem relativ hohen Aufwand verbunden ist, den Onlineangeboten von Sendern wie etwa tape.tv oder putpat.tv oder gar einer unerschöpflichen Quelle wie YouTube entgegenzuwirken, da Produktionen, die nur für den Onlinebereich bestimmt sind, an die im Fernsehen ausgestrahlten Sendungen angelehnt sein müssen oder aber eine begrenzte Verweildauer haben, was sie auf lange Sicht weniger rentabel macht. Mit Bezug auf das Angebot der einzelnen Fernsehsender stellt sich nun die Frage, wo sich popmusikalische Inhalte lokalisieren lassen. Zu Beginn ist festzuhalten, dass sich der ZDF-Spartenkanal zdf.kultur (bis zur Umstrukturierung im Mai 2011: Theaterkanal) selbst als »Spiegelbild eines veränderten Lebensgefühls und Kulturverständnisses, das die Trennung zwischen Hoch- und Popkultur aufhebt«7, beschreibt. Dass nicht nur zdf.kultur, sondern auch die übrigen Spartensender diese Zielsetzung anvisiert haben, zeigt die folgende Aufstellung von popmusikalischen Inhalten im öffentlich-rechtlichen Fernsehen:

7

Der Hinweis ist auf der Internetpräsenz des Senders zu finden: www.zdfkultur.de

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Tabelle 2: Übersicht Popmusik im öffentlich-rechtlichen Fernsehen Format Wiedergabe von Aufführungssituationen (Konzertund Festivalmitschnitte)

Clip- und Chartformate

Musikbezogene Magazinsendungen und Informationsformate

Sendung

Sender

Rockpalast

WDR

BEATZZ in Concert

EinsPlus

ZDF in Concert

ZDF

EinsPlus Charts

EinsPlus

Clipster

Einsfestival

POPXPORT

Einsfestival

Hits a Gogo

Einsfestival

Startrampe

Einsfestival

My Hometown

EinsPlus

Number One!

zdf.kultur

On tape

zdf.kultur in Kooperation mit tape.tv

RockPop

Erstausstrahlung 19781982, Wiederholung der Sendung in zdf.kultur 2012

Rockpalast, BEATZZ in Concert und ZDF in Concert senden die Mitschnitte von Konzerten oder Festivals wie Rock am Ring oder Hurricane. EinsPlus Charts und Clipster sind reine Chart-Formate, die die aktuellen deutschen Charthits (bzw. die zu den Songs produzierten Videoclips) zeigen. POPXPORT, Hits a Gogo, My Hometown, Startrampe, Number One!, On tape und RockPop sind die etablierten Musikmagazine und Informationsformate, in denen popmusikalische Themen journalistisch aufgearbeitet werden. My Hometown stellt zum Beispiel deutsche Künstler und deren Heimatstädte vor, Startrampe präsentiert junge Nachwuchskünstler und Hits a Gogo arbeitet popmusikalische Phänomene historisch auf.

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Zu diesen in regelmäßigen Frequenzen ausgestrahlten Musiksendungen addiert sich eine Vielzahl von Berichten und Dokumentationen mit popmusikalischen Inhalten in diversen Kultursendungen und Informationsformaten wie zum Beispiel dem zdf.kulturpalast auf zdf.kultur. Im Kulturmagazin Stilbruch auf Einsfestival finden sich ebenfalls popmusikalische Themen wie Künstlerportraits oder Tonträgerrezensionen. Ein weiteres Beispiel ist die Dokumentationsreihe Deutschland, deine Künstler (ARD), in der Künstler aus den Bereichen (Pop-)Musik, Literatur, Theater, Film und Bildender Kunst porträtiert werden. Weitere exemplarisch hervorzuhebende Dokumentationen und Dokumentationsreihen sind Deutschland, deine Popmusik (Sendung: ZDFhistory. Sender: Phoenix) und die Musikdokumentationen der Sendung Pop Art auf arte (zum Beispiel zu avantgardistischen Künstlern wie Kraftwerk). Zum Abschluss bleiben noch zwei popmusikalisch sehr spezielle fernsehtechnisch aufbereitete ›Events‹ zu nennen: Der NDR sendet den Full Metal Talk zum alljährlichen Wacken Open Air. In diesem Spezialformat werden ca. vierbis fünfminütige Interviews mit den Künstlern des Heavy Metal Musikfestivals ausgestrahlt. Wurde in den 90er Jahren noch in Form von kurzen ›SchockMeldungen‹ beinahe verhöhnend über das Metal Open Air und seine biertrinkenden, schwarz gekleideten Besucher berichtet, setzt sich der NDR nun mit journalistischer Präzision und Ernsthaftigkeit mit der Kulturform Heavy Metal auseinander. In der Wacken-Dokumentation Alles auf Schwarz (NDR 2013) beschäftigen sich die Schauspieler Anneke Kim Sarnau und Charly Hübner (bekannt aus der ARD-Serie Polizeiruf 110) in der Rolle der Reporter mit Phänomenen aus der Heavy-Metal-Szene. 2013 sorgte besonders der Schlagersänger Heino mit seinem Cover-Album, auf dem er auch Lieder von Künstlern wie Rammstein oder Die Ärzte spielte, für Kontroversen. Abbildung 3: Heino und Rammstein auf dem Wacken Open Air 2013

Quelle: sueddeutsche.de

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Schließlich veranstaltet der SWR3 ein eigenes Popmusikfestival, das SWR3 New Pop Festival. Seit 1998 findet es alljährlich im September in Baden-Baden statt und wird sowohl vom SWR-Fernsehen als auch von der ZDF-Sendereihe ZDF in Concert, ferner auf 3sat (Pop Around the Clock) und auf arte übertragen. Die Liste der popmusikalischen Inhalte im öffentlich-rechtlichen Fernsehen ließe sich noch erweitern, soll an dieser Stelle aber aus pragmatischen Gründen beendet werden.

VI Fazit Die oben genannten Formate und Sendungen spiegeln einen großen Teil des ausgestrahlten popmusikalischen Materials wider und zeigen die differenzierte, mannigfaltige Auseinandersetzung des öffentlich-rechtlichen Fernsehens mit der Popmusik. Die Betrachtung der Programm- bzw. Formatinhalte der Sender des öffentlich-rechtlichen Fernsehens hat gezeigt, dass popmusikalischen Inhalten eine kulturelle Vermittlung zuteilwird, wie sie von Experten aus der Musikwirtschaft, aus der Wissenschaft und von der Politik gewünscht wird. Sowohl die inhaltliche Auseinandersetzung und die journalistische, dokumentarische Aufarbeitung popmusikalischer Phänomene ist in unterschiedlichsten Formen gegeben als auch die Plattform für die Ausstrahlung von Performances (Konzerte, Festivals etc.) und Videoclips – und dies fest etabliert im Fernsehprogramm, aber auch im Onlinebereich, womit der Spagat zwischen beiden Medienformen erfolgreich geglückt ist. Auch wenn Dieter Gornys Wunsch nach einem eigenen, aus Rundfunkgebühren finanzierten Musiksender der Öffentlich-Rechtlichen (bis dato) nicht in Erfüllung gegangen ist, so ist nicht nur der Sender zdf.kultur »Spiegelbild eines veränderten Lebensgefühls und Kulturverständnisses, das die Trennung zwischen Hoch- und Popkultur aufhebt«. Die neuen Sender wie zdf.kultur und Einsfestival, wie auch die ursprünglichen Sender ARD, ZDF, WDR, NRD etc. senden qualitativ hochwertige und inhaltlich fundiert gestaltete Produktionen mit popmusikalischen Inhalten und präsentieren diese gleichwertig mit den sogenannten hochkulturellen Themen.

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Literatur Deutsche UNESCO-Kommission e.V. (2001): Allgemeine Erklärung zur kulturellen Vielfalt, vom 31.11.2001. Online unter: www.unesco.de/kultur/kul turelle-vielfalt/konvention/genese-der-konvention/allgemeine-erklaerungzur-kulturellen-vielfalt.html Doehring, André/Appen, Ralf von (2009): »Kultur versteht sich nicht von selbst. Eine elementare Kritik am Schlussbericht der Enquette-Kommission Kultur in Deutschland«, in: Samples (8). Online unter: www.aspm-samples.de/Sam ples8/doehringappen.pdf Elflein, Dietmar (2010): Schwermetallanalysen: Die musikalische Sprache des Heavy Metal, Bielefeld: transcript. Flender, Reinhard/Rauhe, Hermann (1989): Popmusik. Geschichte, Funktion, Wirkung und Ästhetik, Darmstadt: WBG. Gorny, Dieter (2013): »ARD/ZDF: Musikindustrie fordert Musiksender statt Jugendkanal«, Interview vom 14.01.2013. Online unter: www.digitalfernsehen .de/ARD-ZDF-Musikindustrie-fordert-Musiksender-statt-Jugendkanal.9702 5.0.html Jacke, Christoph (2007): »Seeing is believing. Zur Rolle von Musik in den Medien«, in: Thomas Krettenauer/Michael Ahlers (Hg.), Pop Insights. Bestandsaufnahmen aktueller Pop- und Medienkultur, Bielefeld: transcript, S. 63-80. Ders. (2009): Einführung in Populäre Musik und Medien, Münster: LIT. Jost, Christofer (2014): »Videoclip und Musik im Fernsehen.« in: Ralf von Appen/Nils Grosch/Martin Pfleiderer (Hg.), Populäre Musik: Geschichte, Kontexte, Forschungsperspektiven (= Kompendien Musik, Band 14), Laaber: Laaber-Verlag, S. 141-154. Lehmann, Andreas C./Kopiez, Reinhard (2013): »Entwurf eines Forschungsparadigmas für die empirische Erforschung Populärer Musik: Multiple optimierte Passung in den Produktionsketten der Popmusik«, in: Wolfgang Auhagen/Claudia Bullerjahn/Holger Höge (Hg.), Musikpsychologie – Interdisziplinäre Ansätze, Göttingen u.a.: Hogrefe, S. 25-44. Lewke, Christian (2007): Der verfassungsrechtliche Kulturauftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, Frankfurt am Main u.a.: Peter Lang. Rumpf, Wolfgang (2011): Popmusik und Medien, Münster: LIT.

P OPMUSIK UND FERNSEHEN

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Wicke, Peter (1992): »Populäre Musik als theoretisches Konzept«, in: PopScriptum (1). Online unter: www2.hu-berlin.de/fpm/popscrip/themen/pst01/pst01 _wicke.htm Ders. (2001): Von Mozart zu Madonna: Eine Kulturgeschichte der Popmusik, Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Medien MIZ (Musikinformationszentrum), online verfügbar unter: www.miz.org/institu tionen/hoerfunk-fernsehen

Abbildungen Abbildung 1: Mindmap Themenfelder der Popmusikforschung, Quelle: Eigene Darstellung. Abbildung 2: Fernsehtipp: Musik aus Studio B (1968), Quelle: www.zuschauer post.de/zupo/images60/68-studiob.jpg Abbildung 3: Heino und Rammstein auf dem Wacken Open Air 2013, Quelle: polpix.sueddeutsche.com/bild/1.1736962.1375459496/900x600/heavy-metal -festival-wacken-open-air-heino-rammstein.jpg

Interview

Zur Not auch die ZDF-Hitparade Ein Gespräch über Popmusik und Fernsehen in Deutschland M ARKUS K AVKA UND C HRISTOPH J ACKE

I Einleitung Zunächst waren da die inneren und äußeren Cover der Langspielplatten, später die Booklets der CDs, die Poster bei den großen Schwestern von Schulfreunden, die Aufnäher auf den Jeans-Westen der älteren Mitschüler und die Konzertplakate an den Wänden in der Stadt: Visualisierungen von Popmusikerinnen und -musikern spielten sich für ältere Generationen, die mit ihren Idolen vorrangig über Tonträger und aus dem öffentlich-rechtlichen Radio aufwuchsen, in einem ausgesprochen engen Rahmen und auf wenigen Formaten ab. Als Fan von Popmusik wurde noch Ende der siebziger und Anfang der achtziger Jahre auf die großen Stars der Popmusik1 im deutschen Fernsehen oftmals vergeblich gewartet. Erst nach und nach öffneten sich Sender und Formate der Popmusik im weiten Sinn. Musikbegeisterte Rezipienten schauten sich ›zur Not‹ dann auch mal die ZDF-Hitparade an, um überhaupt einen Zugang zur Musik über dieses Medium zu bekommen. Bevor das duale Rundfunksystem im Fernsehsektor für eine Revolution des Angebots und eine Ausweitung der Formate sorgte, waren Performances von Kiss bei Disco (ZDF), Trio in der genannten ZDF-Hitparade oder The Sisters of Mercy bei Formel Eins (ARD) popmusikalische Sensationen. Nicht nur Markus Kavka2 und Christoph Jacke, beide Ende der sechziger Jahre geboren, warteten oftmals tage- oder sogar wochenlang auf solche Auftritte. 1

Vgl. zu Stars in Popmusik und Musikfernsehen Jacke (2013a: 146-164 u. 2013b) u. Mießgang (2007).

2

Markus Kavka, geb. 27. Juni 1967 in Ingolstadt. Journalist, TV-Moderator und -Produzent, Radiomoderator, Autor, DJ. Studium der Theater-, Kommunikationswissenschaften und Amerikanistik (Universität Nürnberg-Erlangen) mit Abschluss M.A.

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Christoph Jacke sprach mit Markus Kavka im Februar 2015 anlässlich der ersten Paderborner Pop-Dozentur im Wintersemester 2014/15 und erhielt so über ihn als ›Gatekeeper‹ und ›Key Informant‹ (vgl. O’Reilly 2009: 132-137) Zugang zur Black Box der Musikfernsehproduktionskultur.

II Aus Geschichten wird Geschichte CJ: Könntest Du aus Deiner Perspektive eine kurze Geschichte des Musikfernsehens im deutschen Fernsehen skizzieren? Gibt es besondere Einschnitte? MK: Ich kann mich noch dunkel daran erinnern, dass es bereits Anfang der achtziger Jahre im Bayerischen Fernsehen mit Pop Stop eine Sendung gab, in der Musikvideos liefen. Den ersten Einschnitt gab es dann definitiv im April 1983, als in allen dritten Programmen Formel Eins auf Sendung ging. Anfang 1988 wechselte die Show dann ins Erste. Der zweite Einschnitt erfolgte ab 1. August 1987, als MTV Europe den Betrieb aufnahm.3 Es sollte aber noch ein paar Jahre dauern, bis die Verbreitung in Deutschland ausreichend war, um Notiz davon zu nehmen. Ich konnte MTV erst ab 1993 über Kabel empfangen. Da war das Programm ja noch in englischer Sprache. In dem Jahr erfolgte ab 1. Dezember mit dem Sendestart von VIVA der nächste Einschnitt. Als Konkurrenz zu MTV wurde ein Programm in deutscher Sprache mit einem größeren Fokus auf deutschen Künstlern etabliert. Die Zeit zwischen 1995 und 2005 sehe ich persönlich als die ›fetten Jahre‹ des Musikfernsehens, danach ging es dann durch die zunehmenden Alternativangebote im Internet sowie Missmanagement seitens der Konzernspitze in den USA, Quotendruck und allgemeiner programmlicher Desorientierung langsam bergab. Ab 2011 war MTV dann nicht mehr frei zu emp-

1993. 1988-1993 Moderator bei Radio Downtown in Erlangen, 1994-1998 Printredakteur beim Metal Hammer, 1995-2000 Moderator und Produzent bei VIVA und VIVA Zwei, 2000-2010, Moderator und Produzent bei MTV, 2009-2014 Moderator bei Number One auf Kabel Eins und zdf.kultur, seit 2014 Moderator beim MDR für Unicato. 2005-2009 Autor der Kolumne »Die elektrische Zahnbürste« bei zeit.de. Wintersemester 2014/15: Erste Popdozentur der Universität Paderborn im Studiengang ›Populäre Musik und Medien‹ inklusive Lehrauftrag I want my MTV: Produktion und Reflexion einer Musikfernsehsendung. 3

Vgl. zum internationalen Musikfernsehen mit Fokus auf den anglo-amerikanischen Medienraum Goodwin (1992), Kaplan (1987), Mundy (1999) und die Beiträge in Frith/Goodwin/Grossberg (1993).

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fangen, ab 2014 sendete VIVA nur noch elf Stunden am Tag, spätestens seitdem ist lineares Musik-TV in seiner klassischen Form in Deutschland nicht mehr relevant. Jetzt gibt es neue Angebote in Form von Vevo, Putpat, tape.tv, Deluxe Music und anderen.4 CJ: Was genau ist für Dich der Pop im Popmusikfernsehen und woran kannst Du den im deutschen Fernsehen ablesen? MK: Lange Zeit war das Popmusikfernsehen stilprägend. Es etablierte eine neue Bildsprache, eine neue Art der Moderation, insgesamt eine ganz neue Ästhetik. Das erste Mal überhaupt wurde Fernsehen für eine neue Zielgruppe, nämlich die der 14-29jährigen gemacht. Sämtliche Casting-Formate sowie Entertainmentshows bei Pro7 oder komplette Sender wie zdf_neo oder zdf.kultur würde es ohne die Vorreiterrolle von MTV und VIVA in der Form vermutlich nicht geben. Pop war für mich auch immer das Zusammenspiel aus Zeitgeist und Emotionen, und auf diesem Prinzip basieren auch heute noch zahlreiche erfolgreiche Formate.5 CJ: Wie hast Du versucht, Emotionen zu vermitteln? Gehen diese nicht – im Gegensatz zur Körperlichkeit eines Konzert- oder Club-Besuchs, des Tanzens etc. – in ihrer Medialisierung, Visualisierung und Kommentierung beim Fernsehen nahezu automatisch verloren? MK: In erster Linie habe ich versucht, Emotionen durch Authentizität zu vermitteln. Meine Moderationen sind niemals abgelesen, sondern immer frei gesprochen. Das führt dann auch zu einem natürlichen Beibehalten der Gestik und Mimik, der Körperlichkeit generell. Ich spreche mit dem Zuschauer wie mit einem Freund, also komplett unverstellt. Im Idealfall erzeugen meine echten Emotionen beim Zuschauer genauso echte. CJ: Welche Rolle spielt Popmusik im Fernsehen?

4

Vgl. zur Entwicklung und Geschichte des Musikfernsehens in Deutschland einführend Hachmeister/Lingemann (1999), Schmidt (1999), Wolther (2009) sowie grundlegend Kurp/Hauschild/Wiese (2002), Neumann-Braun/Mikos (2006), Schmidt/NeumannBraun/Autenrieth (2009) und die Beiträge in Moormann (2010) u. Neumann-Braun (1999).

5

Vgl. zu den Formaten auch Wolther (2009).

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MK: Sicherlich eine deutlich geringere als noch vor zehn, zwanzig oder dreißig Jahren, als man mit Popmusik noch richtig Quote machen oder zumindest etwas fürs Image tun konnte. Popmusik funktioniert im TV von wenigen Ausnahmen abgesehen nicht mehr für sich, sondern nur noch als Transportvehikel für die Emotionen und Erinnerungen, die damit in Verbindung stehen, sei es in CastingShows oder Formaten wie Die ultimative Chart-Show. CJ: Wie siehst Du die Bedeutung von Popmusik in nicht-musikjournalistischen Formaten wie etwa Spielfilm, Serie, Doku, Nachrichten oder der Werbung? Das sind ja auch große Berufsfelder für an Popmusik interessierte Menschen neben dem ›klassischen‹ Musikjournalismus oder der Musikindustrie. MK: Nachrichten würde ich mal ausklammern, aber in allen anderen genannten Formaten spielt Musik seit jeher eine große Rolle. Die Bedeutung von Soundtracks für Filme und Serien ist unbestritten, nicht selten sind sie dem Visuellen fast gleichgestellt. Auch viele Werbespots werden erst durch die Verbindung mit Musik zu einem schlüssigen Gesamtprodukt, weil die Bilder allein oft kaum eine Aussage haben. Auch in nicht-journalistischen Formaten funktioniert Musik demnach als Transportvehikel für Emotionen. CJ: Internet- und Computertechnologien: Konkurrenz oder Chance?6 MK: Sie hätten eine Chance sein können, wurden aber, als es darauf ankam, zu lange als Konkurrenz missverstanden. Wenn MTV sich Ende der neunziger Jahre nicht so krampfhaft ans lineare TV geklammert, sondern sich dem Internet im Allgemeinen und Social Networks im Speziellen geöffnet hätte, könnte die Marke heute so etwas wie Facebook, YouTube, Spotify und klassisches Jugend- und Musik-TV unter einem Dach sein. CJ: Wo steht das deutsche Popmusikfernsehen heute?7 MK: Dort, wo es mal herkam, nämlich in einer Nische. In den achtziger und neunziger Jahren waren Musik und vor allem Musikvideos optisch etwas Neues und Aufregendes im Fernsehen, das deswegen auch den Weg ins MainstreamProgramm fand. Auch haptisch hatte die Musik in Form von Schallplatten und

6

Vgl. einführend Ahlers/Jacke (2012), Jacke (2013a: 73-81) u. grundlegend Vernallis (2013).

7

Vgl. auch die Studien von Kleiner/Jacke (2009) u. Vernallis (2013).

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CDs einen Wert. Die uneingeschränkte Verfügbarkeit von Videoclips im Internet einerseits sowie die Digitalisierung andererseits führte unweigerlich zum Reizverlust des Kulturguts Musik, der sich folgerichtig im sukzessiven Verschwinden aus dem linearen Fernsehen niederschlug. Abgesehen von Mainstream- und Casting-Shows ist Musik im TV mittlerweile wieder ein LiebhaberThema.

III Zwischen Ausprobieren, Kunst und doppelter Ökonomie CJ: Welche Möglichkeiten bieten neue Medien und Formate für Dich? MK: Die neuen Medien bieten für mich zunächst mal die Möglichkeit, Formate umzusetzen, die fürs Fernsehen zu speziell bzw. in kommerzieller Hinsicht nicht interessant sind. Darüber hinaus lassen sich Formate eigens für neue Medien entwickeln, die es so nicht im TV geben würde. CJ: An was für ein Format denkst Du dabei und wodurch zeichnet sich das aus? MK: Wenn ich es mir recht überlege, wären mit Ausnahme von Number One nahezu alle Formate, die ich jemals im Musikfernsehen moderiert habe, mittlerweile in gestraffter Form ein Fall fürs Netz. Vor allem ein Kurzformat wie die MTV News wäre sehr geeignet. Aber auch inhaltlich bieten sich in puncto Zuspitzung und Themenwahl vielfältigere Möglichkeiten als im TV. CJ: Wie haben sich die eher ›nischigen‹ Inhalte und Formate entwickelt? MK: Vereinzelt mit großem Erfolg, wenn man sich überlegt, dass ein Format wie Circus Halligalli als Nischenformat bei MTV seinen Anfang nahm (damals als MTV Home). Ansonsten passiert alles ›Nischige‹ nahezu ausnahmslos im Internet, wo sich mit YouTube ein komplett neues Universum aufgetan hat, das an die Stelle des klassischen Jugend- und Musikfernsehens getreten ist. CJ: Inwiefern hat sich da die Rezeption heutiger junger Menschen gegenüber den achtziger und neunziger Jahren Deines Erachtens verändert? MK: Man sitzt nicht mehr vor der Glotze und schaltet gezielt ein Programm ein oder wartet einfach, was kommt. Stattdessen werden bestimmte YouTubeChannels abonniert oder individualisierte Profile bei Internet-Musik-Anbietern

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erstellt. Die Zufälligkeit und Beliebigkeit – und damit ein Stückweit auch die Offenheit – werden aus Gründen der grenzenlosen Verfügbarkeit zwangsweise eingeschränkt. CJ: Wo wird was ausprobiert? MK: Fast nur noch im Netz, nachdem zdf.kultur Geschichte ist und zdf_neo sich in puncto Musik komplett zurück hält. CJ: Was würdest Du gerne im Popmusikfernsehen ausprobieren? MK: Musikfernsehen mit fundierter journalistischer Aufbereitung und Informationsvermittlung. Gab es ja schon mal. Bei MTV und VIVA(zwei) hatten GenreFormate wie Headbanger’s Ball, Alternative Nation, MTV Masters, Wah Wah, Yo...MTV Raps etc. eine große journalistische Relevanz. Der geneigte Fan erfuhr einiges über die Künstler und kaufte auf die Empfehlung des Moderators hin Platten. Ich würde gerne herausfinden, ob dafür noch bzw. wieder Bedarf ist. CJ: Wie schätzt Du die doppelte Ökonomie, also Sendeplatz gegen Werbung, Inhalt wird zu Werbung, Werbung wird zum Inhalt (vgl. Neumann-Braun/ Schmidt 1999: 11-12) ein? Oder anders: Wie kann sich Popmusikfernsehen heute finanzieren, ohne auf der einen Seite ein Liebhaber-Blog oder auf der anderen ein Mainstream-Vollprogramm sein zu müssen? MK: Eigentlich gar nicht. Man muss einen guten Weg finden, wie man Sponsoren so einbindet, dass die inhaltliche Freiheit rundum gegeben bleibt. Viele Firmen haben mittlerweile auch erkannt, dass weniger mehr ist, wenn es darum geht, als Sponsor in Erscheinung zu treten. CJ: Was antwortest Du einem jungen, interessierten Studierenden, der Dir sagt, dass Popmusikfernsehen im Zeitalter der allgemeinen Verfügbarkeit über z.B. YouTube langweilig und überholt ist? MK: Dass er Recht hat. Oberflächlich betrachtet. Popmusikfernsehen in seiner klassischen Form aus den neunziger und frühen nuller Jahren ist tatsächlich überholt, trotzdem gibt es nach wie vor nicht wenige Sendungen im Popmusikfernsehen, die in der Form niemals bei YouTube umgesetzt werden könnten (The Voice Of Germany, Sing meinen Song, Number One etc.).

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CJ: Ist Popmusikfernsehen zu einem jugendkulturellen Vollprogramm geworden? Kann ein Popmusikvollsender funktionieren?8 MK: MTV wollte sich Anfang der nuller Jahre zu einem jugendkulturellen Vollprogramm entwickeln. Was aber aus mehreren Gründen scheiterte. Zum einen hat man sich zu sehr auf die ›coole‹ Strahlkraft der Marke verlassen, ohne diese grundlegend neu und moderner zu definieren. Desweiteren hat man übersehen, dass in der Welt junger Menschen auch andere Dinge als Musik und Entertainment eine Rolle spielen. Zudem hat man es versäumt, rechtzeitig das Internet bzw. Social Media als mindestens gleichrangig zum linearen TV zu betrachten. Mal sehen, wie sich dieser gemeinsame ›Jugendkanal‹ von ARD und ZDF in der Praxis darstellt. Dass er jetzt nur online und nicht wie ursprünglich geplant trimedial verbreitet wird, ist durchaus ein Statement.

IV Zwischen Aufklärer und Promoter: Zur Rolle des Popmusikjournalisten CJ: Wenn Du zurück blickst, welche Rollen hast Du als Popmusikjournalist bereits eingenommen? MK: Ich würde sagen die klassischen Rollen, also Interviewer, Kritiker, Filter, Entertainer und Erklärbär. CJ: Es wird viel diskutiert über die Bedeutung von Journalisten heute, auch in ihrer Tragweite für eine Popmusikreflexion. Haben Journalisten heute noch eine Bedeutung für junge Mediennutzer? MK: Ich hoffe doch. Gerade in Zeiten des Überangebots im Netz ist es vielleicht gefragter denn je, dass Musikjournalisten eine Art Filterfunktion erfüllen, mittels derer sie die Spreu vom Weizen trennen. Das setzt Erfahrung und Wissen voraus, und das gibt es nicht an jeder Ecke. CJ: Was erwartest Du von Popmusikjournalisten (insbesondere in TV-Formaten)?

8

Vgl. die Studie von Kleiner/Jacke (2009).

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MK: Fundiertes Wissen, Herzblut, Unabhängigkeit, Distanz und eine gewisse Demut. CJ: Demut was oder wem gegenüber? MK: Bei mir persönlich war es stets so, dass ich sogar dafür bezahlt hätte, diesen Beruf machen zu können. Stattdessen gab es Leute, die verrückt genug waren, mir dafür Geld zu geben, womit sie nicht nur meine Leidenschaft, sondern auch mein Leben finanzierten. Das ist ein unfassbares Privileg, dessen man sich immer bewusst sein sollte. Weswegen man sich auch stets Mühe geben sollte, weil das alles eben nicht selbstverständlich ist. Das meine ich mit Demut. CJ: Wie kann man derartig gut qualifizierte Journalistinnen und Journalisten angemessen honorieren und nicht im Amateur- oder Prekariatsjournalismus versumpfen lassen? MK: Die Nachfrage regelt das Angebot und damit auch eine angemessene Honorierung. Und wenn die Nachfrage nach qualifizierten Musikjournalistinnen und journalisten gering bzw. deren Betätigungsfeld zu wenig Mainstream-tauglich ist, ist eher Idealismus und Durchhaltevermögen als alles andere gefragt. CJ: Wieso gibt es (immer noch) relativ wenige Popmusikjournalistinnen? MK: Die komplette Musikbranche ist nach wie vor eine Männerdomäne, leider auch noch eine traditionell latent sexistische obendrein. Frauen müssen sich im Popmusikjournalismus noch viel mehr beweisen als in den meisten anderen journalistischen Betätigungsfeldern. Und solange Typen eine Gitarre als Penisverlängerung betrachten und die Typen, die darüber berichten, ihre Erfüllungsgehilfen sind, wird sich das vermutlich auch grundlegend nicht ändern, fürchte ich. Zudem wird jegliches Nerdtum nach wie vor eher Männern zugeschrieben, und diese grundsätzliche »Männer-kennen-sich-einfach-besser-mit-Musik-aus«Attitüde verbaut vielen Frauen von vorneherein den Zugang in den Popmusikjournalismus.9

9

Vgl. zu Frauen und Popmusik auch die Beiträge in Mania/Eismann/Jacke et al. (2013).

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V Zur Not auch die ZDF-Hitparade? CJ: Deine erste Begegnung mit Popmusikfernsehen als Rezipient? MK: Etwa zeitgleich Ende der siebziger Jahre Musikladen mit Manfred Sexauer, Disco mit Ilja Richter und manchmal auch die ZDF-Hitparade mit Dieter Thomas Heck. CJ: Deine erste Begegnung mit Popmusikfernsehen als Produzent oder Journalist? MK: Mein Einstieg bei VIVA im August 1995 als Moderator der Sendung Metalla. CJ: Gibt es ein popmusikalisches Fernsehschlüsselerlebnis? MK: Da gibt es zwei: Das erste Mal 1983 Formel Eins zu sehen und das erste Mal 1990 in den USA MTV zu sehen. CJ: Inwiefern waren diese Erlebnisse so prägend? Und wie fühlten die sich an? MK: Formel Eins war prägend, weil die Musik, die ich liebte, das erste Mal so richtig greifbar wurde. Vorher kannte man seine Idole nur von Fotos und aus Interviews in Magazinen, jetzt bekam das Ganze plötzlich eine bis dato verborgene Körperlichkeit, zudem etablierten sich Musikvideos als eine komplett neue, faszinierende Kunstform. Bei MTV war einer meiner ersten Gedanken: »Das will ich auch mal machen, wenn ich groß bin.« Gleichwohl hätte ich damals nie gedacht, dass es ein paar Jahre später dazu kommen sollte.

VI Abspann »Alles, was zuviel Macht hat, kotzt einen an. Heute die Wirtschaft, früher die Kirche, früher die Hochkultur, heute die Unterhaltungsindustrie, heute die Kinder, früher die Eltern, die Männer, die Frauen, der Narrationsschund, früher der Underground, heute die Bestsellerbullshit, früher die Abstraktion, heute die Frechheit, die Kollektive, die Nackten und Qualli, die Trompete der Macht.« (Goetz 2008: 398)

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Literatur Ahlers, Michael/Jacke, Christoph (2012): »Musik im Internet. Entwicklungen, Trends und Perspektiven«, in: Deutscher Musikrat/Deutsches Musikinformationszentrum. Online unter: www.miz.org/static_de/themenportale/einfuehr ungstexte_pdf/08_MedienRecherche/jacke_ahlers.pdf Frith, Simon/Goodwin, Andrew/Grossberg, Lawrence (Hg.) (1993): Sound and Vision. The Music Video Reader, London/New York: Routledge. Goetz, Rainald (2008): Klage, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Goodwin, Andrew (1992): Dancing in the Distraction Factory. Music Television and Popular Culture, Minneapolis: University of Minnesota Press. Hachmeister, Lutz/Lingemann, Jan (1999): »Das Gefühl VIVA. Deutsches Musikfernsehen und die neue Sozialdemokratie«, in: Neumann-Braun, Viva MTV!, S. 132-172. Jacke, Christoph (2013a): Einführung Populäre Musik und Medien, 2. Auflage, Münster u.a.: LIT. Ders. (2013b): »Meta-Stars: Ausdifferenzierung und Reflexivierung von prominenten Medienfiguren als Stars in der Popmusik«, in: Caroline Y. Robertsonvon Trotha (Hg.), Celebrity Culture. Stars in der Mediengesellschaft, BadenBaden: Nomos, S. 73-101. Kaplan, E. Ann (1987): Rocking Around the Clock. Music Television, Postmodernism, and Consumer Culture, New York/London: Methuen. Kleiner, Marcus S./Jacke, Christoph (2009): »Auf der Suche nach Musik! Zur Bedeutung von populärer Musik bei MTV Germany und VIVA«, in: Christofer Jost/Klaus Neumann-Braun/Daniel Klug et al. (Hg.), Die Bedeutung populärer Musik in audiovisuellen Formaten, Baden-Baden: Nomos, S. 145173. Kurp, Matthias/Hauschild, Claudia/Wiese, Klemens (2002): Musikfernsehen in Deutschland. Politische, soziologische und medienökonomische Aspekte, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag. Mania, Thomas/Eismann, Sonja/Jacke, Christoph et al. (Hg.) (2013): ShePOP. Frauen. Macht. Musik!, Münster: Telos. Mießgang, Thomas (2007): »Super – Mega – Giga. Über die Hypostasierung traditioneller Star-Konzepte in der medialen Epoche des Musikfernsehens«, in: Margrit Frölich/Klaus Gronenborn/Karsten Visarius (Hg.), A Star Is Born. Ruhm im Kino, Marburg: Schüren, S. 47-61. Moormann, Peter (Hg.) (2010): Musik im Fernsehen. Sendeformen und Gestaltungsprinzipien, Wiesbaden: VS.

Z UR NOT

AUCH DIE

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Mundy, John (1999): Popular music on screen. From Hollywood musical to music video, London: Helen Skelton. Neumann-Braun, Klaus (Hg.) (1999): Viva MTV! Popmusik im Fernsehen, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Ders./Schmidt, Axel (1999): »McMusic. Einführung«, in: Neumann-Braun, Viva MTV!, S. 7-42. Ders./Mikos, Lothar (2006): Videoclips und Musikfernsehen. Eine problemorientierte Kommentierung der aktuellen Forschungsliteratur, Berlin: Vistas. O’Reilly, Karen (2009): Key Concepts in Ethnography, Los Angeles u.a.: Sage. Schmidt, Axel (1999): »Sound and Vision go MTV – die Geschichte des Musiksenders bis heute«, in: Neumann-Braun, Viva MTV!, S. 93-131. Ders./Neumann-Braun, Klaus/Autenrieth, Ulla (Hg.) (2009): Viva MTV! Reloaded. Musikfernsehen und Videoclips crossmedial, Baden-Baden: Nomos. Vernallis, Carol (2013): Unruly Media. YouTube, Music Video, and the New Digital Cinema, Oxford/New York: Oxford University Press. Wolther, Irving (2009): »Musikformate im Fernsehen«, in: Holger Schramm (Hg.), Handbuch Musik und Medien, Konstanz: UVK, S. 177-207.

Autorinnen und Autoren

Barsch, Achim, ist Professor für Literaturwissenschaft und Literaturdidaktik an der Universität Kassel. Veröffentlichungen in Auswahl: • Barsch, Achim/Seibert, Peter (Hg.) (2007): Märchen und Medien, Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren. • Barsch, Achim (Hg.) (1998): Medien und Unterhaltung, Sonderheft SPIEL 17 (1), Frankfurt am Main: Peter Lang. • Barsch, Achim (1991): »›Populäre Literatur‹ als Forschungsproblem einer empirischen Literaturwissenschaft«, in: Wirkendes Wort 1, Bonn: Bouvier, S. 101-119. Dorn, Max, ist seit 2014 studentische Hilfskraft und Tutor am Institut für Germanistik der Universität Kassel. Flieger, Kristina, ist seit 2014 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Begabungsforschung in der Musik und Lehrbeauftragte im Studiengang Populäre Musik und Medien an der Universität Paderborn. Veröffentlichungen in Auswahl: • Treczokat, Stefanie/Flieger, Kristina (2012): »Forever Young? Alter(n) bei Musikern der Rock- und Popmusik« in: Das Orchester 60, S. 22-24. • Flieger, Kristina (2014): Altern in Subkulturen. Warum man Heavy Metal Fan bleibt, oder auch nicht. Eine explorative Studie, Paderborn: Masterarbeit. Greif, Stefan, ist seit 2007 Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Kassel. Veröffentlichungen in Auswahl: • Goer, Charis/Greif, Stefan/Jacke, Christoph (Hg.) (2013): Texte zur Theorie des Pop, Stuttgart: Reclam.

316 | POPKULTUR UND F ERNSEHEN

• Goer, Charis/Greif, Stefan (Hg.) (2011): Rainald Goetz (= text+kritik, Heft

190), München: text+kritik. • Greif, Stefan (2004): »In Video veritas. Rainald Goetz’ videographische Fern-

sehdokumentation 1989«, in: Felix Holtschoppen/Frank Linden/Friederike Sinning et al. (Hg.), Clips. Eine Collage, Münster: LIT, S. 115-132. Hemken, Kai-Uwe, ist Kurator und (seit 2005) Professor für Kunstwissenschaft an der Kunsthochschule Kassel in der Universität Kassel. Veröffentlichungen in Auswahl: • Hemken, Kai-Uwe (Hg.) (2000): Bilder in Bewegung. Traditionen digitaler Ästhetik, Köln: DuMont. • Hemken, Kai-Uwe (2008): »Theorie der Oberfläche. Mediales Sehen bei Andy Warhol«, in: Matthias Bruhn/Ders. (Hg.): Modernisierung des Sehens, Bielefeld: transcript. • Hemken, Kai-Uwe (Hg.) (2015): Kritische Szenografie. Kunstausstellung im 21. Jahrhundert, Bielefeld: transcript. Jacke, Christoph, ist Professor für Theorie, Ästhetik und Geschichte der Populären Musik im Fach Musik der Universität Paderborn. Veröffentlichungen in Auswahl: • Jacke, Christoph (2013): Einführung in Populäre Musik und Medien, 2. Aufl., Münster u.a.: LIT. • Goer, Charis/Greif, Stefan/Jacke, Christoph (Hg.) (2013): Texte zur Theorie des Pop, Stuttgart: Reclam. • Mania, Thomas/Eismann, Sonja/Jacke, Christoph/Bloss, Monika/Binas-Preisendörfer, Susanne (Hg.) (2013): ShePop. Frauen. Macht. Musik!, Münster: Telos. Kavka, Markus, ist Journalist, TV-Moderator und -Produzent, Radiomoderator, Autor und DJ. Veröffentlichungen in Auswahl: • Kavka, Markus (2007): Elektrische Zahnbürsten: Die Zeitzünder-Kolumnen, Berlin: Berlin Verlag. • Kavka, Markus (2008): Hamma wieder was gelernt: über das Erwachsenwerden, Reinbek: rororo. • Kavka, Markus (2011): Rottenegg, Reinbek: Rowohlt Polaris.

A UTORINNEN

UND

A UTOREN

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Lehnert, Nils, ist seit 2011 Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Lehrbeauftragter am Institut für Germanistik der Universität Kassel. Veröffentlichungen in Auswahl: • Lehnert, Nils (2012): Oberfläche – Hallraum – Referenzhölle. Postdramatische Diskurse um Text, Theater und zeitgenössische Ästhetik am Beispiel von Rainald Goetz’ Jeff Koons (= SchriftBilder. Studien zur Medien- und Kulturwissenschaft, Band 3), Hamburg: Igel. • Lehnert, Nils/Schul, Susanne (2014): »Gefühlvoll oder voller Gefühl? Literarische Liebesentwürfe und deren Sprachgewand aus einer diachronen Perspektive«, in: Miriam Langlotz/Ders./Susanne Schul/Matthias Weßel (Hg.), SprachGefühl. Interdisziplinäre Perspektiven auf einen nur scheinbar altbekannten Begriff (= MeLiS. Medien – Literaturen – Sprachen in Anglistik/ Amerikanistik, Germanistik und Romanistik, Band 17), Frankfurt am Main: Peter Lang, S. 191-252. • Lehnert, Nils (2014): »›Sehe ich nun gnädig aus?‹ – Eindruckssteuerndes Verhalten, Selbst- und Fremdbilder literarischer Figuren als mögliche transepochale ›Universalien‹ der Literatur«, in: Endre Hárs/Márta Horváth/Erzsébet Szabó (Hg.), Universalien? Über die Natur der Literatur, Trier: wvt, S. 179-199. Maubach, Bernd, ist seit 2014 Akademischer Rat a.Z. für Didaktik der deutschen Literatur an der Universität Paderborn. Veröffentlichungen in Auswahl: • Maubach, Bernd (2012): Auskältung. Zur Hörspielästhetik Heiner Müllers, Frankfurt am Main: Peter Lang. • Maubach, Bernd (2013): »Blackbox Fernsehen. Benjamin von StuckradBarres TV-Formate«, in: Peter Seibert (Hg.), Fernsehen als Medium der Literatur, Kassel: kassel university press, S. 213-242. Meoli, Alfonso, ist seit 2012 wissenschaftliche Hilfskraft am Institut für Germanistik der Universität Kassel im Fachgebiet Literatur- und Medienwissenschaft. Meywirth, Anna-Carina, ist seit 2013 Wissenschaftliche Mitarbeiterin und Lehrbeauftragte am Institut für Germanistik der Universität Kassel. Veröffentlichungen in Auswahl: • Meywirth, Anna-Carina (2014): »So oder so ähnlich. Begründungen, warum es notwendig ist, Literatur zu verstehen, wie sie so oder so ähnlich einmal geäußert wurden«, in: Nikola Roßbach (Hg.), Literatur verstehen – wozu eigentlich? 55 Antworten, Hamburg: Igel, S. 215-218.

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• Meywirth, Anna-Carina (2014): »Neue Literatur zu Georg Forster«, in: Stefan

Greif/Michael Ewert (Hg.), Georg Forster als interkultureller Autor (= GeorgForster-Studien XIX), Kassel: kassel university press, S. 233-235. • Meywirth, Anna-Carina (2013): »Neue Literatur zu Georg Forster«, in: Stefan Greif/Michael Ewert (Hg.), Georg Forster und die Berliner Aufklärung (= Georg-Forster-Studien XVIII), Kassel: kassel university press, S. 259-262. Pater, Julia, studierte von 2008-2014 germanistische Sprach-, Kultur- und Literaturwissenschaft an der Universität Kassel. Seit 2014 arbeitet sie als Volontärin im Bereich Marketing und Kommunikation in Bonn. Schanze, Helmut, war seit 1972 Professor für Neuere deutsche Literaturgeschichte in Aachen und Siegen, emeritiert 2004. Veröffentlichungen in Auswahl: • Schanze, Helmut (1972): »Fernsehserien: Ein literaturwissenschaftlicher Gegenstand?«, in: LiLi 2 (6), S. 79-94. • Schanze, Helmut/Zimmermann, Bernhard (Hg.) (1994): Das Fernsehen und die Künste (= Geschichte des Fernsehens in der Bundesrepublik Deutschland, Band 2), München: Fink. • Schanze, Helmut (Hg.) (2001): Handbuch der Mediengeschichte, Stuttgart: Kröner, darin: Einleitung, S. 1-12; Integrale Mediengeschichte, S. 207-280; Mediengeschichte der Bildkünste, S. 373-383. Schnell, Ralf, ist emeritierter Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Siegen. Veröffentlichungen in Auswahl: • Schnell, Ralf (2000): Medienästhetik. Zu Geschichte und Theorie audiovisueller Wahrnehmungsformen, Stuttgart: J.B. Metzler. • Schnell, Ralf (2003): Geschichte der deutschsprachigen Literatur seit 1945, 2. Aufl., Stuttgart: J.B. Metzler. • Schnell, Ralf (Hg.) (2006): MedienRevolutionen. Beiträge zur Mediengeschichte der Wahrnehmung, Bielefeld: transcript. Seibert, Peter, Professuren an der Universität Siegen und der Universität Kassel (2001-2013) für ›Literatur und Medien‹. Veröffentlichungen in Auswahl: • Seibert, Peter (2012): »›Unmittelbarster Zugang zu Goethes Leben und Schaffen‹. Goethe-Häuser und Goethe-Ausstellungen zwischen 1945 und 1951«, in:

A UTORINNEN

UND

A UTOREN

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Hellmut Th. Seemann/Thorsten Valk (Hg.), Literatur ausstellen. Museale Inszenierungen der Weimarer Klassik, Göttingen: Wallstein, S. 187-206. • Seibert, Peter (2013): »Kleist zum Zweihundertsten. Das Fernsehen als Medium literarischer Erinnerung«, in: Ders. (Hg.), Fernsehen als Medium der Literatur, Kassel: kassel university press, S. 191-210. • Seibert, Peter (2014): »Heterogenität der Erinnerungszeichen und -topografien. Mahn- und Denkmäler Anne Franks«, in: Ders./Jana Piper/Alfonso Meoli (Hg.), Anne Frank. Mediengeschichten, Berlin: Metropol, 173-203. Seidel, Anna, ist seit 2014 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl von Prof. Dr. Moritz Baßler am Germanistischen Institut der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Veröffentlichungen in Auswahl: • Seidel, Anna (2012): »Meating Lady Gaga. Eine Text-Kontext-Analyse zu Lady Gagas Fleischkleid«, in: testcard. Beiträge zur Popgeschichte 22, S. 114119. • Seidel, Anna (2014): »›Wollita‹ – eine Häkelpuppe und ihre Kontexte. Einladung zum Pakt mit dem Spiel«, in: Insa Fooken/Jana Mikota (Hg.), Puppen – Menschheitsbegleiter in Kinderwelten und imaginären Räumen?, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, S. 264-275. • Gerdes, Gesche/Seidel, Anna (2015): »Männlichkeiten in queer-feministischen Blogs«, in: Andreas Heilmann/Gabriele Jähnert/Falko Schnicke et al. (Hg.), Männlichkeit und Reproduktion. Zum gesellschaftlichen Ort historischer und aktueller Männlichkeitsproduktionen, Wiesbaden: VS, S. 309-328. Wicke, Andreas, unterrichtet seit 2008 Literaturwissenschaft und -didaktik am Institut für Germanistik der Universität Kassel. Veröffentlichungen in Auswahl: • Wicke, Andreas (2014): »›... dass sich Herrn Mozarts Gesicht immer wieder veränderte‹. Zum Mozart-Bild in Kinderliteratur und -medien«, in: interjuli 6 (1), S. 6-26. • Wicke, Andreas (2011): »›Wo die himmlischen Zauber der Töne wohnen‹. Musik in E.T.A. Hoffmanns Erzählung ›Don Juan‹«, in: Der Deutschunterricht 63 (3), S. 20-31. • Wicke, Andreas (2011): »›Brüllaut, hyperklar‹. Rainald Goetz’ Techno-Erzählung Rave«, in: text+kritik, Heft 190, S. 41-51.

Edition Medienwissenschaft Gundolf S. Freyermuth Games | Game Design | Game Studies Eine Einführung Februar 2015, 280 Seiten, kart., 17,99 €, ISBN 978-3-8376-2982-8

Dennis Göttel, Florian Krautkrämer (Hg.) Scheiben Medien der Durchsicht und Speicherung März 2016, ca. 200 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3117-3

Sven Grampp, Jens Ruchatz Die Fernsehserie Eine medienwissenschaftliche Einführung Oktober 2015, ca. 200 Seiten, kart., ca. 16,99 €, ISBN 978-3-8376-1755-9

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

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Edition Medienwissenschaft Jonas Nesselhauf, Markus Schleich (Hg.) Das andere Fernsehen?! Eine Bestandsaufnahme des »Quality Television« November 2015, ca. 300 Seiten, kart., ca. 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3187-6

Beate Ochsner, Robert Stock (Hg.) senseAbility – Mediale Praktiken des Sehens und Hörens November 2015, ca. 500 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3064-0

Christer Petersen Terror und Propaganda Prolegomena zu einer Analytischen Medienwissenschaft Oktober 2015, ca. 290 Seiten, kart., ca. 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2243-0

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Edition Medienwissenschaft Martin Eckert Werbung mit Behinderung Eine umstrittene Kommunikationsstrategie zwischen Provokation und Desensibilisierung 2014, 356 Seiten, kart., 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2537-0

Sarah Ertl Protest als Ereignis Zur medialen Inszenierung von Bürgerpartizipation Juni 2015, 372 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3067-1

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Anne Ulrich, Joachim Knape Medienrhetorik des Fernsehens Begriffe und Konzepte 2014, 286 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2587-5

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Thomas Waitz Bilder des Verkehrs Repräsentationspolitiken der Gegenwart 2014, 244 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2599-8

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