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German Pages 268 Year 2015
Kathrin Ackermann, Christopher F. Laferl (Hg.) Transpositionen des Televisiven
2009-02-05 15-47-51 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02d6201747386928|(S.
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Kathrin Ackermann, Christopher F. Laferl (Hg.) Transpositionen des Televisiven. Fernsehen in Literatur und Film Unter Mitarbeit von Gabriele Holzinger
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Gedruckt mit Unterstützung des Interdisziplinären Forschungszentrums Metamorphischer Wandel in den Künsten und des Fachbereichs Romanistik der Universität Salzburg
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INHALT Vorwort KATHRIN ACKERMANN UND CHRISTOPHER F. LAFERL 7
Theatralität und Intermedialität im Fernsehen VOLKER ROLOFF 17
Literarische Fernsehbeobachtung in Frankreich: Von Milan Kunderas La lenteur (1995) zu Jean-Philippe Toussaints La télévision (1997) CHRISTIAN VON TSCHILSCHKE 31
Allegorien des Televisiven bei Andrea De Carlo und Mauro Covacich KATHRIN ACKERMANN 61
Jugendkultur und Fernsehkonsum in den Romanen der spanischen Generation X DAGMAR SCHMELZER 89
Flipping, Zipping, Switching, Grazing: Gesammelte literarische Kurzgeschichten in Zapping von Didier Daeninckx (1992) JÖRG TÜRSCHMANN 119
Fernsehen – zur »Show« gestellt. TV-Quiz- und Spielshows im Kinofilm – eine Sichtung KLAUS PETER WALTER 143
Invitation to love, oder wie Fernsehserien im Autorenkino zitiert werden BIRGIT WAGNER 169
Ein Stück brasilianischer Soap-Reality - Die Bedeutung und Darstellung des Fernsehens in Fernando Meirelles’ Domésticas SANDRA STRIGL 189
Grotesk und ambivalent: Über das explizit Televisive bei Almodóvar CHRISTOPHER F. LAFERL 209
Talkshow im Theater. Botho Strauß, Hans Magnus Enzensberger und Rolf Hochhuth ARTURO LARCATI 235
Autorinnen und Autoren 263
VORWORT KATHRIN ACKERMANN UND CHRISTOPHER F. LAFERL
Auch über achtzig Jahre nach der ersten Ausstrahlung televisiver Bilder und vier Jahrzehnte seit der massiven Verbreitung des Fernsehens in allen Gesellschaftsschichten der westlichen Welt steht das Sprechen über das Fernsehen noch immer im Zeichen der Verallgemeinerung. Einerseits haben wir es bei dem Diskurs über das Fernsehen mit der Synekdoche a maiori ad minus zu tun, wenn dem Fernsehen Negativa angelastet werden, die eigentlich nur auf bestimmte Programmformate zutreffen, und andererseits mit der gleichen Trope, allerdings in gegenteiliger Ausprägung, dem locus a minore ad maius, nämlich dann, wenn zwar nur bestimmte Formate kritisch analysiert werden, die für diese gefundenen Charakteristika aber für das gesamte Medium als gültig erklärt werden. Unter diesen Vorzeichen sind dem Fernsehen von seiner Frühzeit bis in die Gegenwart gerade aus der Reihe der Intellektuellen seine schärfsten Gegner erwachsen. Sei es aus dem Munde von Roland Barthes, Gilles Deleuze oder Pierre Bourdieu, von Neil Postman, Theodor W. Adorno, Marcel Reich-Ranicki oder Botho Strauss, in allen westlichen Gesellschaften finden sich abfällige Äußerungen von mit Autorität ausgestatteten Stimmen, die vor dem Fernsehen warnen. Wenngleich von Raymond Williams ausgehend in der neueren kulturwissenschaftlichen Forschung, aber auch bei Hans Magnus Enzensberger, die Sicht weniger vorurteilsbeladen und weit differenzierter geworden ist und auch die pauschalisierende ablehnende Haltung gegenüber dem Fernsehen selbst zum Gegenstand kritischer Untersuchungen geworden ist, so stellt das TV bashing nach wie vor einen Gemeinplatz der Intellektuellen innerhalb und außerhalb der akademisch-universitären Welt dar. In dem vorliegenden Sammelband geht es nicht um eine neuerliche Aufarbeitung der verschiedenen Positionen zum Fernsehen, wie sie explizit innerhalb der philosophischen, kultur- oder medienwissenschaftlichen Diskussion geäußert werden, auch wenn diese in etlichen der Beiträge angesprochen werden mögen, sondern um eine im weitesten Sinne künstlerische Auseinandersetzung mit jenem Medium, dem nach wie vor eine zentrale Stellung zukommt. Die Frage nach der Präsenz und der Darstellung des Fernsehens in Literatur und Film zielt nicht, wie man 7
KATHRIN ACKERMANN UND CHRISTOPHER F. LAFERL
vielleicht meinen könnte, auf einen intermedialen Vergleich, sondern auf den Umgang zweier künstlerischer Ausdrucksformen mit dem Fernsehen ab. Würde es um eine intermediale Auseinandersetzung gehen, dann ließen sich dem Medium Fernsehen andere Medien wie das Radio, der Film, das Internet oder das Buch gegenüberstellen. Nimmt man den ununterbrochenen flow des Fernsehens, das unzählige Stimmen und Bilder auf verschiedenen Kanälen zur selben Zeit 24 Stunden täglich überträgt, dann müsste dies ein Buch von der Art sein, wie wir es in Borges’ Libro de arena finden, ein Buch also, das – egal auf welcher Seite man es aufschlägt – es immer erlaubt, unendlich viele Seiten nach vorn oder zurück zu blättern, und das alles Wissens- und Lesenswerte dieser Welt enthält. Uns ging es jedoch nicht um eine allumfassende Gegenüberstellung der Medien Buch oder Film mit dem Medium Fernsehen, sondern um die spezifische Auseinandersetzung mit dem Fernsehen, wie sie zwei künstlerische Ausdrucksformen zu leisten vermögen, die sich – im Modus der fiktionalen Narration – des Films und des Buchs bedienen, also des Spielfilms und des Romans. Ergänzt werden die literarischen und filmischen Narrationen über das Fernsehen durch einen Beitrag, der das Fernsehen im Theater zum Inhalt hat. Alle Beiträge dieses Bandes behandeln fiktionale »Erzählungen«, in denen auf die eine oder andere Weise Fernsehen thematisiert wird, und zwar mit einem meist relativ hohen ästhetischen und intellektuellen Anspruch. Diese Fragestellung scheint uns deshalb so interessant, weil sie die in den Humanwissenschaften und der Philosophie geführte Diskussion rund um den Wert des Fernsehens um Antworten bereichert, die aus dem Bereich des ästhetisch-fiktionalen Schaffens stammen, das eine hohe Affinität zur Welt der Philosophie und der kulturwissenschaftlichen Diskussion besitzt und dessen Aktanten bisweilen dieselben sind. Die Welt der kritischen Intellektuellen hat ja nach wie vor große Überschneidungsflächen mit jener der (intellektuellen) Autoren und Regisseure! Kurz: Welche Aussagen treffen der Spielfilm und der Roman hinsichtlich der Bedeutung und des Wertes des Fernsehens im Gegensatz zu einer großteils manichäistisch geführten philosophisch-wissenschaftlichen Diskussion? Wenn wir nun die Dichotomie Fernsehen versus fiktionale Literatur und Film mit der weiteren Dichotomie Philosophie und Wissenschaft versus künstlerisches Schaffen gepaart haben, so darf nicht vergessen werden, dass sich der wissenschaftliche Diskurs großteils jener Medien bedient, die auch die der fiktionalen Literatur sind, nämlich des Wortes, der Schrift und des Buchs, während sich Film und Fernsehen des gleichen semiotischen Werkzeugs, nämlich der bewegten Bilder und des fortlaufenden Tons, bedienen. Der Film weist daher andere Formen und
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VORWORT
Möglichkeiten der Intermedialität auf als die Literatur, die zwar die audiovisuellen Medien erwähnen und transponieren, aber nur teilweise – nämlich in ihrem sprachlichen Anteil – reproduzieren kann. Gleichzeitig entsteht durch die Mediendifferenz, genauer: das Fehlen ikonischer Zeichen in der Literatur, die Tendenz, dass das Fernsehen ein Kontinuum mit anderen visuellen Zeichensystemen bildet – seien es narrative wie Kino, Theater und Videospiele oder nichtnarrative wie Fotografie, Bildende Kunst und Architektur. Anders gesagt: das literarisch dargestellte Televisive läuft Gefahr, gewissermaßen im Fremdmedialen aufzugehen und nicht mehr in seiner Spezifizität wahrgenommen zu werden. Dennoch ist es unserer Ansicht nach auch hier berechtigt, nach der speziellen Rolle des Fernsehens zu fragen, und zwar aufgrund der Besonderheit der Medienkonkurrenz zwischen Literatur und Fernsehen. Das (›gute‹) Buch und das (›böse‹) Fernsehen werden oftmals antipodisch gegenübergestellt, nach dem Motto: Lies lieber ein Buch, als vor dem Fernseher zu verblöden. Was solchen wohlmeinenden Appellen zugrunde liegt, ist vermutlich nicht so sehr die tatsächliche Bedrohung der Lektüre durch das Fernsehen (umso mehr, als die statistischen Erhebungen bezüglich der Mediennutzung eher dafür sprechen, den Rückgang der Lektüre auf eine stärkere Zuwendung zum Internet zurückzuführen) als vielmehr ein medienkritischer Diskurs, der die Abgrenzung von der Trash-Welt des Fernsehens zu einem Akt der political correctness gemacht hat. Auch wenn die Textbasis zu schmal ist, um eindeutige Aussagen über den Einfluss des TV-Konsums auf literarisch tätige Angehörige verschiedener »Mediengenerationen« zu treffen, lässt sich doch die Hypothese aufstellen, dass die biographische Prägung durch das Fernsehen Spuren im jeweiligen Oeuvre hinterlassen müsste. Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die wenig oder keinen Umgang mit dem Medium pflegen und nur über aufgeregte Medienskandale oder sporadisch aufgeschnappte Fernsehbilder Kenntnis davon haben, was sich auf den Bildschirmen in Millionen von Haushalten abspielt, dürften kaum die geeignete Instanz sein, um ein differenziertes Bild des Fernsehens zu entwerfen. Hingegen scheint sich bei der Generation derer, die schon als Kinder mit dem Fernseher aufgewachsen sind und für die das TV-Gerät selbstverständlicher Bestandteil des Familienlebens war, eine nuanciertere Sichtweise herausgebildet zu haben, wie sie bei US-amerikanischen Autoren, die weitaus früher als die Europäer mit einem allgegenwärtigen, in das Alltagsleben integrierten Fernsehen konfrontiert wurden, zu beobachten ist, aber auch bei Angehörigen der jüngeren Schriftstellergeneration wie den sogenannten cannibali in Italien oder der Generación X in Spanien.
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In der arbeitsteiligen Produktionsweise des Films hingegen hinterlassen individualgeschichtliche Erfahrungen eine weniger tiefe Spur. Dagegen spielt die Ausrichtung an der Publikumserwartung eine größere Rolle, zu der eben auch die Vertrautheit mit dem Fernsehen gehört. Das über das Fernsehen verbreitete Alltagswissen bietet einen gemeinsamen Horizont, auf den der Film zurückgreifen kann, wobei die semiotische »Verwandtschaft« mit dem Fernsehen eine zusätzliche Erleichterung darstellt, wenn beispielsweise Fernsehnachrichten an die Stelle einer allwissenden Erzählinstanz treten, um das Geschehen vor einem bestimmten historischen Hintergrund einzuordnen. Es ist außerdem zu vermuten, dass Filmschaffende in weniger starkem Maß unter der Konkurrenz durch das Fernsehen zu leiden haben als Schriftsteller. Wenngleich auch der Film gegenüber dem Fernsehen über eigene Produktions- und Distributionsweisen verfügt, sind hier die Grenzen zum anderen Medium durchlässiger. Vor allem in jüngster Zeit verstärkt sich die wirtschaftliche, medienpolitische und produktionsästhetische Annäherung von Film und Fernsehen in dem Maß, wie die kollektive Rezeption im Kino zugunsten der individuellen Mediennutzung über DVD oder Internet abnimmt. Schriftsteller hingegen profitieren zwar durchaus von der Verfilmung ihrer Bücher, sie geben damit aber die Verfügungsgewalt über ihr Werk auf und damit ihr ureigenstes Terrain, das autonome, kraft individueller Schöpfung geborene Wort. Nach einer vergleichenden und kritischen Sicht der vorliegenden Beiträge kann eine vorläufige Tendenz beobachtet werden, dass nämlich das schriftgebundene Medium Literatur eher zur kritischen Haltung der ebenfalls hauptsächlich über Schrift kommunizierenden Systeme Philosophie und der Wissenschaft tendiert, die dem Fernsehen wenig Positives abgewinnen wollen, während im Bildmedium Film eine nicht so durchgängig abwertende Haltung gegenüber dem verwandten Medium Fernsehen zu finden ist. Wenngleich das für diesen Band analysierte Material keine letztgültigen Schlüsse zulässt, so erlaubt es zumindest die Formulierung der These, dass der Spielfilm dem Fernsehen nicht nur medial näher steht als der Roman, sondern dass er es auch differenzierter und weniger negativ sieht, als dies bei den hier analysierten literarischen Texten doch relativ deutlich der Fall ist. Genau wie der Roman neigt auch der Film zur Synekdoche, wenn es um das Fernsehen geht, aber vielleicht nicht so dezidiert und vor allem nicht so einseitig, was die Vor- und Darstellung der gewählten Fernsehformate betrifft. Hinsichtlich der behandelten Formate deckt das für diesen Band analysierte Primärmaterial fast alles ab, was das Fernsehen in den letzten zwanzig Jahren zu bieten hatte. So finden wir Interviews, Reportagen und das politische Magazin in Andrea De Carlos Macno (1984) genauso
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wie in Milan Kunderas La lenteur (1995) oder Jean-Philippe Toussaints La télévision (1997). Quiz- und Spielshows werden wiederum in Didier Daeninckx’ Zapping (1992) und in den Filmen Fahrenheit 451 (1966) von François Truffaut, Masques (1987) von Claude Chabrol, Quiz Show (1994) von Robert Redford, Mamá es boba (1997) von Santiago Lorenzo, Magnolia (1999) von Paul Thomas Anderson, Requiem for a Dream (2000) von Darren Aronofsky und Confessions of a Dangerous Mind (2002) von George Clooney behandelt. Die Realityshow spielt in Mauro Covacichs Fiona (2005) eine tragende Rolle, während sich Hans Magnus Enzensberger in Nieder mit Goethe! (1996) und Rolf Hochhuth in Das Recht auf Arbeit (1999) mit der Talkshow auseinandersetzen. All diese Fernsehformate kommen auch in den Filmen Almodóvars vor, der aber auch dem über das Fernsehen ausgestrahlten Spielfilm eine wichtige und äußerst positive Rolle einräumt. Das gleiche lässt sich nicht vom Videokonsum in José Ángel Mañas’ Roman Historias del Kronen (1994) oder der Darstellung des Fernsehens in Ray Lorigas Tokio ya no nos quiere (1999) sagen. Jacques Martineau und Olivier Ducastel setzen in dem Film Drôle de Félix (1999) eine Fernsehserie zentral in Szene, genauso wie es der brasilianische Filmemacher Fernando Meirelles in Domésticas (2000) mit der Telenovela tut oder wie es bereits der vom Autorenfilm kommende David Lynch in der Fernsehserie Twin Peaks (1990/91) vorgemacht hat. Freilich werden die eben aufgezählten Fernsehformate in diesen Werken unterschiedlich präsentiert, wie die zehn Beiträge dieses Sammelbandes deutlich machen. Während sich vier von ihnen mit dem Fernsehen im Roman beschäftigen, behandeln vier weitere dessen Darstellung im Spielfilm. Gerahmt werden die Analyse und Interpretation der literarischen und filmischen Transpositionen des Televisiven von einem Beitrag von Volker Roloff, in dem die Theatralität und Intermedialität des Fernsehens im Zentrum steht, und einem Aufsatz Arturo Larcatis, der die intellektuelle Diskussion rund um das Fernsehen mit zwei engagierten und thesenhaften Theaterstücken des deutschen Sprachraums verbindet. Roloff skizziert den mediengeschichtlichen und -theoretischen Rahmen, in den sich die Wechselbeziehungen zwischen Fernsehen, Literatur und Film einfügen. Er lenkt den Blick auf die neuen Spielformen der Theatralität, die das Fernsehen hervorgebracht hat. Diese zeichnen sich nicht nur durch das Fehlen eines privilegierten Standortes und einer hierarchischen Anordnung aus, sondern vor allem dadurch, dass sie in prononcierter Weise – und ganz im Gegensatz zu der deklarierten Abbildungsfunktion des Fernsehens – nicht das »wirkliche Leben« hervortreten lassen, sondern das kollektive Imaginäre: Das Fernsehen konfrontiert uns mit unseren Neurosen, Ängsten und Albträumen. Gleichzeitig eignet
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ihm die narkotisierende Wirkung des flow, die sich in zerstreuter Aufmerksamkeit, Flüchtigkeit und Instabilität manifestiert. Christian von Tschilschke wirft in seinen einleitenden Bemerkungen grundsätzliche Fragen in Bezug auf das Verhältnis von Literatur und Fernsehen auf. Nach einem Resümee der eher eindimensionalen Auseinandersetzung französischer Intellektueller mit dem ungeliebten elektronischen Medium formuliert er die Hypothese, dass die fiktionale Literatur über ein imaginatives Potential verfügt, das einen besonders scharfen Blick auf das Fernsehen ermöglichen und eine Form der Fernsehbeobachtung leisten könnte, welche die medialen Bedingungen des Bezugs eines Mediums auf das andere mitdenkt. Diese Hypothese bestätigt sich insofern, als die von ihm analysierten Romane, La lenteur von Kundera und La télévision von Toussaint, neue, genuin literarische Formen der Transposition des Televisiven entwerfen, welche wiederum mittels der Reflexion über das Fernsehen zu einer Selbstvergewisserung der Literatur gelangen. Die von Roloff diagnostizierte Dichotomie von Dramatisierung und Entdramatisierung, von emotionaler Anteilnahme und Indifferenz, von Faszination und Distanz findet sich in mehreren Beiträgen wieder. Kathrin Ackermann verknüpft sie mit der italienischen Fernsehgeschichte seit den 80er Jahren. Während Andrea De Carlo in seinem 1984 erschienenen Roman Macno die technisch-apparative Seite des Fernsehens und die damit korrelierte Distanzierung, die Entkoppelung von lebensweltlichen Zusammenhängen und die Entfremdung von den leiblichen Bedürfnissen hervorhebt, zeigt Mauro Covacich in Fiona (2004) die Spuren, die das Fernsehen im menschlichen Körper hinterlässt, und die religiösrituelle Dimension der televisiven Theatralität auf. Die in Covacichs Romans zutage tretende gewaltinduzierende Wirkung des Fernsehens bildet auch den Hintergrund der von Dagmar Schmelzer untersuchten Romane der spanischen Generación X, die in vielerlei Hinsicht mit den italienischen cannibali, zu denen auch Covacich gezählt wird, vergleichbar ist. Steht in José Ángel Mañas’ Historia del Kronen (1994) das Fernsehens in erster Linie für die Störung der Kommunikation innerhalb der Familie und die Stimulierung von Gewaltphantasien, so wird es in Ray Lorigas Tokio ya no nos quiere (1999) mit Gedächtnis- und Wirklichkeitsverlust, Abstumpfung und »Nichtdenken« assoziiert. Die Erzählungen hingegen, die der französische Autor Didier Daeninckx 1994 unter dem Titel Zapping versammelte, privilegieren den dramatisierenden Aspekt des Fernsehens. Sie thematisieren in vielfältiger Art und Weise die Verwundungen und Beschädigungen, die skrupellose Programmmacher, Reporter und Moderatoren ihren Opfern – TV-
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Zuschauern, Studiogästen, Teilnehmern an diversen Shows – zufügen. Dabei inszenieren sie allerdings, wie Jörg Türschmann kritisch anmerkt, den Zynismus der TV-Verantwortlichen in einer Art und Weise, die ihrerseits den Spektakularisierungsstrategien des Fernsehens folgt. Anders als der Titel Zapping erwarten lässt, geht es weniger um den freien, den Sinnhorizont erweiternden Umgang mit der Fernbedienung als um die Eindimensionalität der durch das Fernsehen vermittelten Perspektiven, die Daeninckx in den überraschenden Schlusswendungen seiner Erzählungen aufdeckt. Von den vier Beiträgen zur Darstellung des Fernsehens im Film befassen sich zwei mit spezifischen televisiven Formaten. Klaus Peter Walter analysiert die Fernseh-Spielshow in den bereits genannten sieben Filmen, die von Truffauts Fahrenheit 451 aus dem Jahr 1966 bis zu George Clooneys Confessions of a Dangerous Mind reichen, der 2002 – also 36 Jahre nach dem Klassiker des französischen Autorenfilms – in die Kinos kam. Birgit Wagner behandelt Möglichkeiten televisiven Zitierens anhand der Fernsehserie, und zwar sowohl im Medium Fernsehen selbst, nämlich in David Lynchs Kultserie der frühen 1990er Jahre Twin Peaks, als auch im Kino anhand des am Ende des 20. Jahrhunderts entstandenen französischen Films Drôle de Félix von Jacques Martineau und Olivier Ducastel. Das Bild, das von den beiden Fernsehformaten Gameshow und Serie in den genannten Werken gezeichnet wird, könnte nicht gegensätzlicher sein. Während bei Wagner die Serie durchaus positiv gesehen wird, üben die sieben von Walter untersuchten Spielfilme, die auf die eine oder andere Weise die Gameshow zum Gegenstand machen, herbe Kritik an diesem Format, das nach Walter in den ausgewählten Beispielen für das Fernsehen schlechthin steht und damit die hier eingangs erwähnte Form der Synekdoche a minori ad maius annimmt. In keinem der untersuchten Beispiele wird das doch ebenfalls denkbare positive Potential der demokratischen Teilhabe am massenmedialen Prozess auch nur angedacht, denn alle sieben Filme verurteilen die Quiz- und Spielshows, die die Menschen nur vorführen würden, um die Einschaltquoten zu erhöhen und die Zuschauer gleichzuschalten. Ganz anders sieht das Bild aus, das Birgit Wagner von der Einstellung zum Fernsehen zeichnet, so wie es sich bei David Lynch, immerhin einem der wichtigsten Vertreter des US-amerikanischen Autorenfilms, und den weniger bekannten französischen Regisseuren Jacques Martineau und Olivier Ducastel zu erkennen gibt. Allein durch die Tatsache, dass Lynch überhaupt bereit war, eine Serie für das Fernsehen zu drehen, macht deutlich, dass es ihm ungleich weniger ausmacht, mit dem Medium Fernsehen affirmativ in Verbindung gebracht zu werden, als dies
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wahrscheinlich bei vielen der bisher genannten Autoren und Regisseure der Fall ist. Hinzukommt, dass in Twin Peaks eine fiktive soap opera mit dem kitschigen Titel Invitation to love eingebettet ist, die als groteske und parodistische mise en abyme fungiert. In Drôle de Félix dienen die Zitate der reichlich trashy anmutenden Serie Luxe, gloire et volupté u. a. der Herstellung von Solidarität zwischen Sympathieträgern in der dargestellten Welt, sie vermögen es aber auch, Fernsehrezeptionsgewohnheiten eines großen Teils des Filmpublikums aufzugreifen. In den beiden Beispielen kommt es keineswegs zu einer kategorischen Verurteilung des Fernsehens, sondern in beiden Fällen leistet eine Fernsehserie eine ironische und selbstreflexive Bespiegelung der Narration der Werke selbst, und damit des Films wie des Fernsehens. In ihrem Beitrag über den brasilianischen Film Domésticas von Fernando Meirelles, der seit seinem Welterfolg Cidade de Deus (2002) auch im deutschsprachigen Raum kein Unbekannter mehr ist, kann Sandra Strigl beweisen, dass selbst in einem Land, in dem die nationale Filmproduktion gegenüber dem allmächtigen und omnipräsenten Fernsehen einen schweren Stand hat, die Antwort der Regisseure auf diese Herausforderung nicht in pauschalisierende und undifferenzierte Fernsehkritik münden muss. Der von ihr untersuchte Film über die Hausangestellten in der Megalopolis São Paulo zeigt nicht nur auf der inhaltlichen Ebene, wie sehr das Fernsehen den Alltag beeinflusst und in manchen Fällen sogar bestimmt, sondern auch, wie aus dem Fernsehen und dem Videoclip stammende formale Verfahren in den Kinofilm übernommen werden können. Christopher F. Laferl untersucht in seinem Beitrag die vielfältigen Fernsehzitate, wie sie sich im Filmschaffen Pedro Almodóvars allenthalben finden. Der spanische Regisseur scheint eine ganz besondere Affinität zur Welt des Fernsehens zu besitzen, zeigt er doch nicht nur, wie das Fernsehen von seinen Figuren rezipiert, sondern auch wie es produziert wird. Mit der Ausnahme der Fernsehserie kommen in den analysierten Filmen, die von La ley del deseo (1987) bis zu Volver (2006) reichen, praktisch alle erdenklichen Fernsehformate vor. Vielfach werden die Medienzitate bei Almodóvar ins Groteske hinein übertrieben, manchmal mit kritischer Absicht, fast immer um eine komische Wirkung zu erzielen. Im abschließenden Beitrag dieses Bandes fasst Arturo Larcati nochmals die wichtigsten gegen das Fernsehen ins Treffen geführten Kritikpunkte zusammen, wie sie v. a. im deutschen und im italienischen Sprachraum in den letzten Jahrzehnten von führenden Intellektuellen geäußert wurden. Besonderes Augenmerk schenkt er der vehementen Medienkritik Botho Strauß’, die allerdings schon in den 80er Jahren von ihm
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selbst abgeschwächt und relativiert wurde, wie auch den Positionen Thomas Enzingers und Luca Doninellis. Anhand dieser Positionen, die er mit der positiveren, wenngleich sich später abschwächenden Einschätzung von Hans Magnus Enzensberger kontrastiert, kann er zeigen, dass in der deutschsprachigen Welt die Rede über das Fernsehen ab den späten 80er Jahren zunehmend differenzierter ausfiel. An diesen Überblick über die theoretische Diskussion schließt die Analyse zweier Theaterstücke an, in deren Zentrum die Talkshow steht. An Hans Magnus Enzenbergers Satire Nieder mit Goethe! (1996) arbeitet Larcati v. a. die später vom Autor auch in Interviews vertretene These heraus, dass es für Personen des öffentlichen Lebens, Künstler wie Politiker gleichermaßen, darum gehe, gegenüber dem Medienbetrieb eine souveräne Distanz zu bewahren. Eine negative Sicht auf die Talkshow bringt auch die Salzburger Aufführung des Stückes Das Recht auf Arbeit (1999) von Rolf Hochhuth durch den Regisseur Guido Huonder, der mit seiner Inszenierung nicht nur die Kritik des Autors an den ausschließlich profitorientierten Großunternehmen drastisch zum Ausdruck bringen wollte, sondern dem es auch ein Anliegen war, die desensibilisierende Wirkung der Medien aufzudecken. Der überwiegende Teil der für diesen Band analysierten Werke bringt eine differenzierte Sicht des Mediums Fernsehen, wenngleich es auch in Literatur und Film nicht an pauschalisierenden Negativurteilen im Zeichen der Synekdoche fehlt. Was es im Film und in der Literatur nicht gibt, das sind pauschalisierende positive Einschätzungen des Fernsehens. Eine unkritisch positive Synekdoche wäre aber anspruchsvoller Film- und Wortkunst wohl auch nicht würdig…
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THEATRALITÄT UND INTERMEDIALITÄT IM FERNSEHEN VOLKER ROLOFF
Die jüngste Jahrestagung des Siegener Forschungskollegs Medienumbrüche hatte das Thema »Alte und neue Leitmedien«.1 Verschiedene Referate haben dabei das Fernsehen behandelt, mit der Tendenz, dass, so Klaus Kreimeier, das Fernsehen zwar ein so genanntes Leitmedium gewesen sei, dass es jetzt aber, in der aktuellen Situation der Digitalisierung, gar kein Leitmedium mehr geben könne.2 Die meisten Beiträge waren bei der Frage der Konkurrenz und Hierarchie der Medien darauf angelegt, intermediale Zusammenhänge und neue Zwischenformen bzw. hybride Formen zu untersuchen, etwa zwischen Literatur, Theater, Fotografie, Presse, Film, den digitalen Medien und nicht zuletzt auch dem Fernsehen. Nach wie vor wird aber das Fernsehen, wie auch diese Tagung zeigte, in der Medienforschung weniger beachtet und in seiner weitreichenden Wirkung unterschätzt. Ich werde im Folgenden versuchen, den Zusammenhang zwischen dem alten Medium Theater und dem Fernsehen in einer intermedialen und rezeptionsästhetischen Perspektive zu erläutern – und dabei vor allem auf Spielformen der Theatralität eingehen, die durch das Fernsehen modifiziert und aktualisiert werden. Meine These lautet, dass das Fernsehen ohne die permanenten, immer wieder aktualisierten Rückgriffe auf älteste Formen der Theatralität nicht angemessen beurteilt werden kann und dass das Fernsehen zugleich ständig neue Spielformen der Theatralität hervorbringt, die nicht nur das Fernsehen, sondern unsere Gesellschaft und Lebensformen maßgeblich bestimmen und alle Bereiche betreffen, von der Kultur, der Politik, dem Alltagsleben, der Unterhaltung, dem Sport bis hin zur Religion. Die Frage ist, wie das Fernsehen den Begriff der Theatralität einerseits öffnet und erweitert und andererseits, wie auch behauptet wird, auflöst. Es geht um die Spannung und Wechselwirkung zwischen Dramatisierung und 1 2
Alte und neue Leitmedien, Jahrestagung des Forschungskollegs Medienumbrüche, Nov. 2007. Klaus Kreimeier in seinem Beitrag »Invasion der Einzelhändler. Leitmedien und wie sie zerfallen«. 17
VOLKER ROLOFF
Entdramatisierung, zwischen äußerster, spektakulärer Steigerung der theatralen Effekte und der Stimulation des Zuschauers – und auf der anderen Seite dem so genannten flow, als einem Prozess, der mit dem gelangweilten, lustlosen Zappen bis zur vollkommenen Anästhesie und Indifferenz des Zuschauers führen kann. Um in dieser Frage weiterzukommen, scheint es zweckmäßig, zunächst über den Begriff der Theatralität nachzudenken, der in unserer Gesellschaft, zusammen mit dem verwandten Begriff der Inszenierung und des Spiels, zurecht eine zunehmende Beachtung findet3 – keineswegs zufällig, da die Medien selbst, insbesondere das Fernsehen, an der Entwicklung neuer Formen der Theatralität direkt beteiligt sind. Ich setze voraus, dass das Fernsehen, trotz Internet, immer noch die wichtigste Schaubühne unserer Gesellschaft darstellt. Als Spielort vielfältiger Inszenierungen unterliegt es aber selbst den Bedingungen, die das, wie ich es nenne, kollektive und individuelle Imaginäre einer Gesellschaft ausmachen und daher nicht nur von einem Medium abhängig sind. Aus diesem Grund ist es problematisch, auf substantialistische Bestimmungen des Imaginären und damit auch der Theatralität und Schaulust zurückzugreifen. Ich verwende des Begriff des Imaginären nicht im Freudschen Sinne als Ausdruck bestimmter Triebstrukturen, sondern als Strom von Vorstellungen, Affekten, Wünschen, Begehren, der im Traum, wie auch im Wachzustand, immer nur als Prozess, als Differenz und Aufschub denkbar ist, als Suche nach einem verlorenen Urzustand.4 Auffällig ist, dass auch die gegenwärtige Fernsehkritik immer noch mit Vorliebe auf substantialistische Kategorien und Wesensbestimmungen zurückgreift und dabei vor allem traditionelle Vorstellungen des Theaters gegen das angeblich oberflächliche, substanzlose Fernsehen ausspielt. Wenn man davon ausgeht, dass das Fernsehen, als Medium der »mise en scène«, eine relativ späte Station in der »Entwick-
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Vgl. z. B. Erika Fischer-Lichte: »Theatralität und Inszenierung«, in: Erika Fischer-Lichte / Isabel Pflug (Hg.), Inszenierung und Authentizität, Tübingen/Basel: Francke 2000, S. 11-30; Udo Göttlich / Jörg-Uwe Nieland / Heribert Schatz (Hg.): Kommunikation im Wandel. Zur Theatralität der Medien, Köln: Herbert von Halem 1998; Josef Früchtl / Jörg Zimmermann (Hg.): Ästhetik der Inszenierung, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2001. Vgl. Rainer Warning: Das Imaginäre der Proustschen Recherche, Konstanz: Universitätsverlag 1999, S. 20 f. mit Bezug auf Cornelius Costoriadis: L’institution imaginaire de la société, Paris: Seuil 1975. Zur Kritik substantialistischer Bestimmungen des Imaginären vgl. auch Wolfgang Iser: Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991, und Karl Ludwig Pfeiffer: Das Mediale und das Imaginäre. Dimensionen kulturanthropologischer Medientheorie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1999. 18
THEATRALITÄT UND INTERMEDIALITÄT IM FERNSEHEN
lung der Schaukünste und Darstellungsmedien« bildet, von den bildenden Künsten, dem Theater, der Fotografie, der Laterna magica bis zum Kino,5 so folgt daraus zunächst, dass zentrale Kategorien wie Schaulust, Redelust, Inszenierung, Rollenspiel nach wie vor wirksam sind, dass andererseits aber im Fernsehen (wie auch schon im Kino) neue Formen der Theatralität entwickelt werden, die das traditionelle Dispositiv Theater, das Verhältnis zwischen Bühne, Bühnenspiel und Zuschauer grundsätzlich verändern. Es ist offensichtlich, dass sowohl theaterspezifische Begriffe, wie auch Theatermetaphern, heute überall auftauchen und dass vor allem das Fernsehen an ihrer Proliferation beteiligt ist:6 Alles mögliche erscheint als Theater, Inszenierung, Show, Spiel oder auch Simulation, besonders das politische Geschehen, das mit Vorliebe als Komödie oder Trauerspiel, Farce, Groteske, Tragikkomödie usw. bezeichnet wird – sogar der Krieg erscheint, wie Virilio gezeigt hat, als eine Form der Inszenierung.7 Raymond Williams spricht in einem richtungsweisenden Essay von einer dramatisierten Gesellschaft, von einer enormen Ausdehnung der Theatralität, vor allem durch das Fernsehen: »Die meisten dramatischen Darstellungen finden nunmehr in den Film- und Fernsehstudios statt«; nie wurde »soviel geschauspielert und soviel anderen beim Schauspielen zugesehen«.8 Es handelt sich, so Williams, um ein neues Bedürfnis der Gesellschaft und um eine Ausdifferenzierung des Dramatischen, wobei »ständig unklar bleibt, ob wir Zuschauer oder Teilnehmer« der Schauspiele sind. »Das spezifische Vokabular der dramatischen Verfahrensweise – der Ausdruck »Drama« selbst, dann Tragödie, Szenario, Situation, Schauspieler, Darbietungen, Rollen, Bilder wird kontinuierlich beschlagnahmt«.9 Dabei entwickeln sich neue Formen und Spielregeln eines theatrum mundi, die aber, wie auch Williams betont, nur vor dem Hintergrund des traditionellen Theaters in ihrer Differenz durchschaubar sind. So führt z. B. die fernsehtypische Intimität des Zuschauens, im Vergleich zur öffentlichen Rezeption im Theater oder Kino, zu einer »besonderen Qualität des Fernseh-Zuschauens«, zu neuen Formen der
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Knut Hickethier: »Zwischen Einschalten und Ausschalten. Fernsehgeschichte als Geschichte des Zuschauens«, in: Werner Faulstich (Hg.), Vom »Autor« zum Nutzer. Handlungsrollen im Fernsehen, München: Fink 1994, S. 237-243, hier S. 241. Vgl. Göttlich / Nieland / Schatz (Hg.): Kommunikation im Wandel, S. 13 ff. Paul Virilio: Krieg und Fernsehen, München: Hanser 1993, S. 113 ff. Raymond Williams: »Drama in einer dramatisierten Gesellschaft«, in: Göttlich / Nieland / Schatz (Hg.), Kommunikation im Wandel, S. 238-252, hier S. 238, 239. Ebd. S. 246. 19
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Wahrnehmung, die sich in die »Strukturen des Alltaglebens der Zuschauer einschreiben und diese verändern«.10 Vor kurzem hat Constanze Bausch in einer Studie mit dem Titel Verkörperte Medien die »soziale Macht televisueller Inszenierungen« im Blick auf jugendliche Zuschauer hervorgehoben: Das Fernsehen erscheint ihr durchweg als »soziales Leitmedium, das den Übertritt vom Alltag in rituell vorgeformte Ereignisräume ermöglicht, neue Initiationsrituale und Rollenspiele produziert«. Der Umgang mit dem Fernsehen verführe zu Identifikationen, zu Mimesis und Mimikry, aber auch zu Spielformen der Parodie und ironischen Distanz.11 Fernsehen verwandelt den Zuschauer, so Winterhoff-Spurk, zu einem so genannten Histriotypen, zu einem leicht irritierten, nervösen und narzisstischen Selbstdarsteller.12 Dabei werden die gewohnten Grenzziehungen zwischen Privatem und Öffentlichem sowie zwischen Authentizität und Inszenierung, Realität und Fiktion, Aktualität und Virtualität fragwürdig und auflösbar.13 Das Fernsehen ist, als Medium der Schaulust, Redelust und Theatralität, eine Art Zauberkasten und Bilderkörper, der, wie Joachim Paech betont, sich der Körper und unserer eigenen Bilder und Phantasien bemächtigt, eine unendliche Serie von Bildern, Worten und Einbildungen produziert und inszeniert und so die Spiel-Räume des Imaginären besetzt.14 Solche Veränderungen der Wahrnehmung, Imagination und Sinnlichkeit sind aber nicht nur Folgen des Fernsehens, sondern entstehen durch die Kombination verschiedener Medien, d. h. sie sind nur in ihrem intermedialen Zusammenhang zu erfassen.15 Ich konzentriere mich zunächst auf die Wechselbeziehungen zwischen dem älteren Medium Theater und dem Fernsehen. Das Fernsehen
10 Hickethier: »Zwischen Einschalten und Ausschalten«, S. 243. 11 Constanze Bausch: Verkörperte Medien. Die soziale Macht televisueller Inszenierungen, Bielefeld: transcript 2006, S. 25, 211 ff. 12 Peter Winterhoff-Spurk: Kalte Herzen. Wie das Fernsehen unseren Charakter formt, Stuttgart: Klett-Cotta 2005, S. 165 ff. 13 Vgl. Bausch: Verkörperte Medien, S. 16. 14 Joachim Paech: »Eine Dame verschwindet. Zur dispositiven Struktur apparativen Erscheinens«, in: Hans Ulrich Gumbrecht / Karl Ludwig Pfeiffer (Hg.), Paradoxien, Dissonanzen, Zusammenbrüche, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991, S. 773-790, hier S. 788, 785 f. Vgl. auch Hans Belting: Bild-Anthropologie. Entwurf für eine Bildwissenschaft, München: Fink 2001, S. 12 ff. 15 Vgl. Roloff, Volker: »Intermedialität und Medienanthropologie. Anmerkungen zu aktuellen Problemen«, in: Joachim Paech / Jens Schröter (Hg.), Intermedialität analog / digital. Theorie – Methoden – Analysen, München: Fink 2008, S. 15-31. 20
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erscheint als mächtige, faszinierende, verführerische Bild- und Wunschmaschine, die das Imaginäre der Gesellschaft in Bewegung setzt, zeigt aber auch paradoxerweise die Proliferation, die Hinfälligkeit, Auflösbarkeit der Bilder und Worte, ihr ständiges Gleiten und Entgleiten, ihre Zerstreuung und Kontingenz, ihre Bedeutungslosigkeit, Indifferenz und Scheinhaftigkeit. Der Roman La télévision von Jean-Philippe Toussaint ist, wie Kathrin Ackermann anmerkt, Ausdruck dieser Paradoxie, indem er einerseits die Bedeutungslosigkeit und Oberflächlichkeit des Fernsehens thematisiert, zugleich aber im Rahmen der Fernsehentziehungskur des Protagonisten immer wieder, ironischerweise, die Droge und Magie des Fernsehens in Erinnerung ruft,16 z. B. in der Voyeurszene, schon am Anfang des Romans. Der Erzähler beobachtet – aus dem Fenster seiner Wohnung – in einem gegenüberliegenden, hell erleuchteten Appartement ein nacktes Mädchen, das ihn an eine Figur von Cranach, an Venus oder Lucretia denken lässt; aber die Szene ähnelt zugleich einem quasitelevisionären Dispositiv (»encadrement quasiment télévisuel«), das »die weltlichen Freuden des Fernsehens« (»joies séculières de la télévision«) in Erinnerung ruft.17 Der Erzähler des Romans gehört, so scheint es, zu den Fernsehkritikern, die auf die grundsätzliche Differenz zwischen Theater- und Fernsehinszenierung Wert legen: »La télévision offre le spectacle, non pas de la réalité, quoi qu’elle en ait toutes les apparences (en plus petit dirais-je, je ne sais pas si vous avez déjà regardé de la télévision), mais de sa représentation«.18 Hinter dieser Formulierung, so scheint es auf den ersten Blick, steckt die Vorstellung, dass Realität und Repräsentation grundsätzlich unterscheidbar sind und dass nur die Kunst, hier die klassische Malerei der Renaissance, im Stande sei, die Realität zu ergreifen und das »Wesen« der Dinge zu vermitteln,19 während das Fernsehen dazu unfähig sei. Anzumerken bleibt indes, dass Toussaint damit zwar eine typische Argumentation der französischen Fernseh- und
16 Jean-Philippe Toussaint: La télévision, Paris: Les Éditions de Minuit 22002. Vgl. Kathrin Ackermann: »Fiktionen in der französischen Literatur«, in: Dirk Naguschewski / Sabine Schrader (Hg.), Film und Literatur in Frankreich nach 1945: Kontakte, Konvergenzen, Konkurrenzen, Marburg: Schüren 2008, S. 199-212. 17 Vgl. Toussaint: La télévision, S. 38. 18 Ebd. S. 12. Dt.: »Das Fernsehen bietet nicht nur das Schauspiel der Realität, obwohl es diesen Anschein erweckt, (kurz gefasst, ich weiß nicht, ob sie schon Fernsehen geschaut haben) sondern die Repräsentation der Realität«. 19 »...d’embrasser le monde et d’en saisir l’essence« (ebd., S. 13). 21
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Medienkritik (von Baudrillard bis hin zu Debray)20 aufgreift, aber mit der Ironie des Romans in Frage stellt und letztlich entwertet.21 Es geht um den Glauben, dass Realität und Repräsentation, aber auch Inszenierung und Authentizität, Illusion und Wahrheit im Prinzip klar zu unterscheiden seien bzw. unterscheidbar bleiben sollten; und damit auch den Glauben, dass das Theater als Mysterium – auf Grund seiner oft betonten religiösen, mythischen Ursprünge und seiner repräsentativen Funktion – gegenüber dem oberflächlichen Spektakel des Fernsehens wertvoller und bedeutsamer sei. Solche Einschätzungen sind fragwürdig, weil sie die besondere Theatralität des Fernsehens nicht erfassen, insbesondere die Spielformen, die durch das Fernsehen selbst geschaffen werden, und die selbst dazu beitragen, dass die Grenzen zwischen Realität und Fiktion, Aktualität und Virtualität weitgehend aufgehoben werden. Ich kann in diesem Zusammenhang nur andeuten, dass inzwischen auch viele Theaterwissenschaftler die Begriffe der Theatralität und Inszenierung neu interpretieren und in einer medien- und rezeptionsästhetischen Perspektive erweitern – im Grunde seit Sartre und Goffman, die mit unterschiedlichen Prämissen die Theatralität des Alltagslebens und des Spiels als gesellschaftliche und existentielle Domäne analysieren,22 und dabei bereits die Spielformen des Theaters, unter ihnen auch Film und Fernsehen, als Modell alltäglicher Verhaltensweisen und Rollenspiele hervorheben. Das traditionelle Paradigma des theatrum mundi wird hier medienästhetisch ausgeweitet und aktualisiert. Theatralität erscheint unter dieser Voraussetzung als Prozess, der innerhalb und außerhalb des Theaters stattfinden kann, überall dort, wo Darsteller und Zuschauer, Akteure und Schaulustige zusammentreffen, auch dort, wo ein scheinbar spontanes Verhalten als Selbstinszenierung und Spiel durchschaubar wird. Theatralität wird so zum Wahrnehmungsmodus, der die Perspektive dem Zuschauer überlässt, ob eine Situation als theatral oder nicht
20 Vgl. zuletzt Régis Debray: L’obscénité démocratique, Paris: Flammarion 2007. 21 Die Ironisierung beginnt hier schon, wie Christian von Tschilschke zu Recht betont, mit der Bemerkung »je ne sais pas si vous avez déjà regardé la télévision«; vgl. in diesem Band Christian von Tschilschke: »Literarische Fernsehbeobachtung in Frankreich: Von Milan Kunderas La lenteur (1995) bis zu Jean-Philippe Toussaints La télévision (1997)«. 22 Vgl. Michael Lommel / Volker Roloff (Hg.): Sartre und die Medien, Bielefeld: transcript 2008, S. 82 ff.; Erving Goffman: The Presentation of Self in Everyday Life, New York: Doubleday 1959; Erika Fischer-Lichte: »Theatralität und Inszenierung«, S. 18 ff. 22
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theatral, als inszeniert oder authentisch verstanden wird.23 Dabei wird auch die Frage, was einer Inszenierung vorhergeht, neu gestellt, werden die Grenzen zwischen Simulation und Wahrheit, Spiel und Authentizität, und damit auch das Prinzip dieser Oppositionen in Frage gestellt und neu reflektiert. Es ist m. E. offensichtlich, dass Überlegungen zur Theatralität und Wirkung des Fernsehens nur in diesem erweiterten, medienästhetischen und intermedialen Spektrum sinnvoll sind, in einem Zusammenhang, der das Mediale und das Imaginäre in ihrer Wechselwirkung zu erfassen sucht.24 Zu den Besonderheiten der Fernsehtheatralität gehört, wie bereits angedeutet, nicht nur die Erweiterung der Dimension des Theatralen, sondern eine, wie man es nennen könnte, Dialektik von Dramatisierung und Entdramatisierung, die ständigen Versuche der, wie Gert Hallenberger es nennt, Inszenierung von dramatischen Ereignissen »im Zeitalter ihrer eigentlichen Unmöglichkeit«25 und auf der anderen Seite die zerstreute Aufmerksamkeit, flow und Zapping, die im Grunde durch das Fernsehen selbst geschaffen wurden. So kommt es zu der künstlichen Inszenierung von Ereignissen, die strategisch und mit großem Aufwand inszeniert werden, so dass inszenierte und ›wirkliche‹ Events kaum noch zu unterscheiden sind und paradoxe Zwischenformen zwischen realer und simulierter Dramatik entstehen. Es ist klar, dass die Bewertung jeweils von der subjektiven Wahrnehmung der Zuschauer abhängt und dass das Fernsehen dazu anregt, den Zusammenhang von Faszination und Distanz, zwischen kognitiver bzw. emotionaler Anteilnahme auf der einen und Langeweile und Indifferenz auf der anderen Seite neu zu reflektieren. Aber auch bei dieser Frage erscheint es sinnvoll, an traditionelle Topoi der Rezeptionsästhetik anzuknüpfen, die, im Grunde schon seit Aristoteles, die Ambivalenz der Katharsis hervorheben, die Spannung zwischen einerseits extremer emotionaler Wirkung der Tragödie und andererseits der Möglichkeit des Zuschauers, sich von dem Schrecken, der Wirkung selbst zu befreien. Ich komme jetzt zu dem Komplex der Intermedialität des Fernsehens, wobei ich auch hier nur einige Tendenzen und neue Fragestellungen andeuten kann. Die Weiterentwicklung der Theatralitätskonzepte, das aktu23 Vgl. Elizabeth Burns: Theatricality. A Study in Convention in Theatre and in Social Life, London: Longman 1972; Fischer-Lichte: »Theatralität und Inszenierung«, S. 19. 24 Pfeiffer: Das Mediale und das Imaginäre, S. 76 ff. 25 Gert Hallenberger: »Anmerkungen zur Konstruktion von Bedeutsamkeit im deutschen Fernsehen der 90er Jahre«, in: Göttlich / Nieland / Schatz (Hg.), Kommunikation im Wandel, S. 73-82, hier S. 79; vgl. auch Gert Hallenberger / Helmut Schanze (Hg.): Live is Life. Mediale Inszenierungen des Authentischen, Baden-Baden: Nomos 2000, S. 13 ff. 23
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elle Interesse an einer medienorientierten »Ästhetik der Inszenierung«,26 korrelieren mit jenen Tendenzen der gegenwärtigen Intermedialitätsforschung, die sich von der rein formalen Analyse intermedialer Relationen lösen und, um eine Formulierung von Klaus Hickethier aufzugreifen, daran erinnern, dass in der Mitte der Medienrelationen das Subjekt steht,27 ein Subjekt allerdings, das durch die Medien selbst geprägt und manipulierbar ist, nicht ganz selbstbestimmt, sondern fragil. Das Ich wird zum Szenario, zur Bühne vielfältiger Inszenierungen, zum Schauplatz der Korrespondenz der Sinne und Rollenspiele, zu einem Ort des permanenten Austauschs kollektiver und innerer Bilder, Stimmen, Einbildungen, Wünsche und Ängste. So entsteht, wie Deleuze es nennt, ein »circuit« aktueller und virtueller Bilder, visueller und sprachlicher Figuren, aber auch innerer und äußerer Stimmen.28 Der Körper ist Ort wie Medium, »wo immer auch die Bilder herkommen, die in ihm und von ihm ›aufgeführt‹ werden«.29 In dieser Hinsicht erscheint das Fernsehen als ein Medium, das in besonderem Maße durch die Kombination und Durchdringung ganz verschiedener Medien und medialer Dispositive gekennzeichnet ist, als ein Spielort der Intermedialität, der zunehmenden Vermischung und Hybridisierung unterschiedlicher Mediensysteme, des, wie schon Siegfried Zielinski anmerkt, »sukzessiven Abbaus der Trennschärfe zwischen den dispositiven Anordnungen«.30 Umso wichtiger ist aber, an die gemeinsamen Ursprünge von Theater, Film, Malerei, Fotografie, Fernsehen und jetzt auch des Computers zu erinnern, nämlich die Faszination des Schauspiels, der Schaulust und der Redelust, der Mimesis, Mimikry und Rollenspiele. Es geht um die audiovisuelle Imagination, die Bilderwelt, das Kino und Fernsehen in unserem Kopf, die zu den Ursprüngen des Theaters zurückführen und zugleich den Erfindungen der neuesten Medien und ihren immer raffinierteren technischen Möglichkeiten immer schon voraus sind. Das gesamte Programm des Fernsehens, die Suche nach immer neuen Spielformen und Formaten ist im Grunde nichts anderes als ein Versuch, die ältesten Genres des Theaters, das historische Theaterrepertoire, den zeitbedingten Veränderungen der audiovisuellen Imagination, Schaulust und Phantasie der Zuschauer so weit wie möglich anzupassen. Ich verstehe unter dem Begriff der Spielformen des Fernsehens nicht Gestaltungen oder Gebilde, die Einheiten bzw. kon26 Früchtl / Zimmermann: Ästhetik der Inszenierung, S. 9 ff. 27 Vgl. Klaus Hickethier: Einführung in die Medienwissenschaft, Stuttgart/ Weimar: Metzler 2003, S. 237. 28 Gilles Deleuze: L’image-temps, Paris: Les Éditions de Minuit 1985, S. 112. 29 Belting: Bild-Anthropologie, S. 72. 30 Siegfried Zielinski: Audio-Visionen. Kino und Fernsehen als Zwischenspiele in der Geschichte, Reinbeck bei Hamburg: Rowohlt 1989, S. 244. 24
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stante gattungs- bzw. genrespezifische Strukturen schaffen, sondern fraktale, flexible audiovisuelle Figurationen und Konfigurationen. Es handelt sich um Faszinationstypen, die für eine Zeitlang die Sinne und Emotionen erfassen, aber ebenso schnell zerfallen, ihre Form und Suggestibilität verlieren können und sich auflösen. Dies gilt bis zu einem gewissen Grade auch für die Theater- und Filmgenres, auch wenn diese stabiler und nachhaltiger erscheinen und meist eine längere Laufzeit haben. Die Untersuchung der Transformationen und Metamorphosen der traditionellen dramatischen Genres in neue Formate und Spielformen des Fernsehens gehört zu den Aufgaben einer Intermedialitätsforschung, die bisher auf diesem Gebiet nur einzelne Ansätze bietet. Mein Beitrag kann hier nur einige Fragestellungen vermitteln und Anregungen skizzieren. Raymond Williams, der wie bereits erwähnt, als erster den Begriff einer durch das Fernsehen dramatisierten Gesellschaft ins Spiel bringt, geht davon aus, dass sich das Fernsehen weitgehend von jenen Theaterformen löst, die einen »überhöhten Standort der Bühne« voraussetzen, die das Theater als Mythos, Ritual oder Mysterium zelebrieren, jeweils mit hierarchischen Anordnungen, mit Dispositiven der Repräsentation, die aber in der Theatergeschichte auch schon spätestens seit dem 19. Jahrhundert abgelöst wurden: »Das Drama ist weder ein Ritual, das den Gott enthüllt, noch ein Mythos, der auf Wiederholung angewiesen ist«.31 Im Laufe des 19. Jahrhunderts schwindet daher schon das Interesse für die Tragödie, an ihre Stelle treten Melodram, Oper und Operette, Musiktheater, Boulevardkomödie, aber auch das realistische bzw. naturalistische Drama, das als Versuch, das Leben selbst »darzustellen«, das moderne Fernsehspiel und die verschiedenen Formen der Dokufiktion präfiguriert: Das Bedürfnis nach Darstellung dessen, was das Leben heutzutage »für diesen oder jenen in dieser Situation oder an jenem Ort ausmacht«.32 Zum Vorschein kommen dabei aber, was Williams nicht mit einbezieht, nicht etwa die so genannte Realität, sondern das Imaginäre, das Phantastische, Groteske, Surreale bzw. Hyperreale des Alltäglichen – und die schon in den scheinbar realistischen Theaterstücken, im Boulevardtheater und in Romanen des 19. Jahrhunderts erkennbare dunkle, unheimliche Seite der Gesellschaft: z. B. die Faszination der Katastrophen, die Schadenfreude, die Boshaftigkeit des Zuschauers, die Freude an den bösen Spielen, die Inszenierungen des Mitleids und der moralischen Verachtung, die im Fernsehen vor allem im Zuge der Kommerzialisierung den Alltag des Programms ausmacht. Dies betrifft Spielformen wie z. B. die Comedy, Sitcom, Talkshows, die neuen Formate des Quiz, der Realityshow und Late Night Show, vor allem das Genre der Krimis und der Horrorfilme in 31 Williams: »Dramen in einer dramatischen Gesellschaft«, S. 244. 32 Ebd. S. 243. 25
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immer neuen Varianten. Auch hier sind, wie Veit Sprenger gezeigt hat,33 ältere Genres des Theaters im Spiel, karnevaleske Formen wie die Farce, die Sottie, die Commedia dell’arte und Boulevardkomödie – und ebenso die frühen Filmgrotesken, die auch schon an den Grenzen des Darstellbaren, des Sichtbaren, des Obszönen lavieren. Das Fernsehen entwickelt – hier liegt m. E. noch ein offenes Untersuchungsfeld – spezifische Varianten zwischen Konventionen und gerade noch tolerierten Tabuverletzungen. Anzumerken bleibt, dass die Frage der Theatralisierung der Gesellschaft zwar einen Angelpunkt für die intermediale Analyse des Fernsehens bilden, aber nicht nur auf das Fernsehen begrenzt werden kann. Die Ablösung des alten ›theatralen‹ Theaters und seiner Funktion als Leitmedium beginnt, wie angedeutet, spätestens im 19. Jahrhundert und wird schon seit dieser Zeit durch das dominante Genre des Romans dargestellt und interpretiert, wie z. B. in Balzacs Comédie humaine, Goethes Wilhelm Meister, bei Stendhal und Flaubert, ebenso wie z. B. Zola, Proust, Clarín. Gemeint ist die Zwischenform des Theaterromans, der als solcher auf das ältere Theater zurückgreift und – meist kritisch, satirisch oder ironisch – bereits neue Spielformen und Strukturen der Theatralität der Gesellschaft reflektiert.34 Diese Linie führt im 20. Jahrhundert zunächst zu einer Reihe ganz ähnlich angelegter Theaterfilme,35 dann zum Fernsehen und schließlich zum Internet, das wiederum neue Formen der Theatralisierung der Alltagswelt und der Selbstdarstellung durch Rollenspiele entwickelt und Erfahrungen ermöglicht, die man, so Irmela Schneider, »seinerzeit nur exklusiv im Theater machen konnte«.36 Auch hier kann man die Entwicklung neuer theatraler Strukturen und das damit verbundene Prinzip der Hybridisierung nur durch genauere Vergleiche mit den jeweils älteren, vorhergehenden und gleichzeitigen Medien er-
33 Veit Sprenger: Despoten auf der Bühne. Die Inszenierung von Macht und ihre Abstürze, Bielefeld: transcript 2005. 34 Vgl. Roloff, Volker: »Theater und Roman. Anmerkungen zur Intermedialität im Roman des 19. Jahrhunderts«, in: Wolfram Nitsch / Bernhard Teuber (Hg.), Vom Flugblatt zum Feuilleton. Mediengebrauch und ästhetische Anthropologie in historischen Perspektiven, Tübingen: Narr 2002, S. 307326. 35 Vgl. Michael Lommel / Volker Roloff (Hg.): Jean Renoirs Theater / Filme, München: Fink 2003. 36 Irmela Schneider: »Einige Überlegungen zur Diskussion um das Internet«, in: Göttlich / Nieland / Schatz (Hg.), Kommunikation im Wandel, S. 227237, hier S. 227; vgl. auch Mike Sandbothe: »Theatrale Aspekte des Internet«, ebd., S. 209-226. 26
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kennen, d. h. durch die Analyse der Wechselbeziehungen zwischen Theater, Film, Fernsehen und Internet. Ich möchte zum Schluss noch einmal festhalten, dass insbesondere die konzeptuellen Veränderungen der Theatralität, die in unserer Mediengesellschaft so wichtig sind, nur durch intermediale, medienkomparatistische und diskursgeschichtliche Methoden durchschaubar sind und neue Wege des Zusammenwirkens verschiedener akademischer Disziplinen erfordern. Eine Theater-, Film- und Fernsehforschung, die sich um Abgrenzungen bemüht und sich jeweils nur auf das eine Medium konzentriert, führt in die Enge. Ich habe in meinen Vorüberlegungen nur einige allgemeine Zusammenhänge zwischen den älteren Theatergenres und den neueren Tendenzen des Fernsehens andeuten können; ein weiterer Schritt wäre, die intermedialen Bezüge zwischen dem Fernsehen und den Spiegelungen des Fernsehens in den anderen Medien, z. B. in der Literatur, dem literarischen Essay oder dem Film, zu beachten und auch zu prüfen, inwieweit das Fernsehen selbst im Stande ist, Formen einer kritischen Autoreflexion zu entwickeln. Sehr oft sind solche Spiegelungen als kritische, ironische oder satirische Reflexionen den akademischen Diskussionen voraus. Es ist auffällig, wie viele Romane der Gegenwart und besonders auch wie viele Filme die hier angedeuteten Spielformen der Theatralität des Fernsehens darstellen, aber oft auch steigern, karikieren und ad absurdum führen, z. B. in Filmen wie Truman Show von Peter Weir, in Chabrols Cérémonie, in Levinsons Wag the Dog, Almodóvars Kika, Nanni Morettis Caro Diario37 bis hin zu Hans Weingärtners Free Rainer. Das Fernsehen lügt (2007), ein Film, der in einer raffinierten, ironischen und sarkastischen Weise ein Beispiel für die Analyse theatraler Strukturen in Film und Fernsehen bietet und dabei zeigt, wie die Theatralität im Medium des Films zugleich gesteigert und kritisch reflektiert werden kann.
L i t e r at u r Ackermann, Kathrin: »Fiktionen in der französischen Literatur«, in: Dirk Naguschewski / Sabine Schrader (Hg.), Film und Literatur in Frankreich nach 1945: Kontakte, Konvergenzen, Konkurrenzen, Marburg: Schüren 2008, S. 199-212.
37 Vgl. zu diesen Filmen: Volker Roloff / Helmut Schanze / Dietrich Scheunemann (Hg.): Europäische Kinokunst im Zeitalter des Fernsehens, München: Fink 1998, dort die Beiträge von Uta Felten, Martin Ross, Susanne Schlünder, S. 363 ff. 27
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Bausch, Constanze: Verkörperte Medien. Die soziale Macht televisueller Inszenierungen, Bielefeld: transcript 2006. Belting, Hans: Bild-Anthropologie. Entwurf für eine Bildwissenschaft, München: Fink 2001. Burns, Elizabeth: Theatricality. A Study in Convention in Theatre and in Social Life, London: Longman 1972. Costoriadis, Cornelius: L’institution imaginaire de la société, Paris: Seuil 1975. Debray, Régis: L’obscénité démocratique, Paris: Flammarion 2007. Deleuze, Gilles: L’image-temps, Paris: Les Éditions de Minuit 1985. Fischer-Lichte, Erika: »Theatralität und Inszenierung«, in: Erika FischerLichte / Isabel Pflug (Hg.), Inszenierung und Authentizität, Tübingen/Basel: Francke 2000, S. 11-30. Früchtl, Josef / Zimmermann, Jörg (Hg.): Ästhetik der Inszenierung, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2001. Goffman, Erving: The Presentation of Self in Everyday Life, New York: Doubleday 1959. Göttlich, Udo / Nieland, Jörg-Uwe / Schatz, Heribert (Hg.): Kommunikation im Wandel. Zur Theatralität der Medien, Köln: Herbert von Halem 1998. Hallenberger, Gert: »Anmerkungen zur Konstruktion von Bedeutsamkeit im deutschen Fernsehen der 90er Jahre«, in: Udo Göttlich / Jörg-Uwe Nieland / Heribert Schatz (Hg.), Kommunikation im Wandel. Zur Theatralität der Medien, Köln: Herbert von Halem 1998, S. 73-82. Hallenberger, Gert / Schanze, Helmut (Hg.): Live is Life. Mediale Inszenierungen des Authentischen, Baden-Baden: Nomos 2000. Hickethier, Klaus: Einführung in die Medienwissenschaft, Stuttgart/Weimar: Metzler 2003. Hickethier, Knut: »Zwischen Einschalten und Ausschalten. Fernsehgeschichte als Geschichte des Zuschauens«, in: Werner Faulstich (Hg.), Vom »Autor« zum Nutzer. Handlungsrollen im Fernsehen, München: Fink 1994, S. 237-243. Iser, Wolfgang: Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991. Lommel, Michael / Roloff, Volker (Hg.): Jean Renoirs Theater / Filme, München: Fink 2003. Lommel, Michael / Roloff, Volker (Hg.): Sartre und die Medien, Bielefeld: transcript 2008. Paech, Joachim: »Eine Dame verschwindet. Zur dispositiven Struktur apparativen Erscheinens«, in: Hans Ulrich Gumbrecht / Karl Ludwig Pfeiffer (Hg.), Paradoxien, Dissonanzen, Zusammenbrüche, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991, S. 773-790.
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Pfeiffer, Karl Ludwig: Das Mediale und das Imaginäre. Dimensionen kulturanthropologischer Medientheorie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1999. Roloff, Volker / Schanze, Helmut / Scheunemann, Dietrich (Hg.): Europäische Kinokunst im Zeitalter des Fernsehens, München: Fink 1998. Roloff, Volker: »Theater und Roman. Anmerkungen zur Intermedialität im Roman des 19. Jahrhunderts«, in: Wolfram Nitsch / Bernhard Teuber (Hg.), Vom Flugblatt zum Feuilleton. Mediengebrauch und ästhetische Anthropologie in historischen Perspektiven, Tübingen: Narr 2002, S. 307-326. Roloff, Volker: »Intermedialität und Medienanthropologie. Anmerkungen zu aktuellen Problemen«, in: Joachim Paech / Jens Schröter (Hg.), Intermedialität analog / digital. Theorie – Methoden – Analysen, München: Fink 2008, S. 15-31. Sandbothe, Mike: »Theatrale Aspekte des Internet«, in: Udo Göttlich / Jörg-Uwe Nieland / Heribert Schatz (Hg.), Kommunikation im Wandel. Zur Theatralität der Medien, Köln: Herbert von Halem 1998, S. 209-226. Schneider, Irmela: »Einige Überlegungen zur Diskussion um das Internet«, in: Udo Göttlich / Jörg-Uwe Nieland / Heribert Schatz (Hg.), Kommunikation im Wandel. Zur Theatralität der Medien, Köln: Herbert von Halem 1998, S. 227-237. Sprenger, Veit: Despoten auf der Bühne. Die Inszenierung von Macht und ihre Abstürze, Bielefeld: transcript 2005. Toussaint, Jean-Philippe: La télévision, Paris: Les Éditions de Minuit 2 2002. Virilio, Paul: Krieg und Fernsehen, München: Hanser 1993. Warning, Rainer: Das Imaginäre der Proustschen Recherche, Konstanz: Universitätsverlag 1999. Williams, Raymond: »Drama in einer dramatisierten Gesellschaft«, in: Udo Göttlich / Jörg-Uwe Nieland / Heribert Schatz (Hg.), Kommunikation im Wandel. Zur Theatralität der Medien, Köln: Herbert von Halem 1998, S. 238-252. Winterhoff-Spurk, Peter: Kalte Herzen. Wie das Fernsehen unseren Charakter formt, Stuttgart: Klett-Cotta 2005. Zielinski, Siegfried: Audio-Visionen. Kino und Fernsehen als Zwischenspiele in der Geschichte, Reinbeck bei Hamburg: Rowohlt 1989.
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LITERARISCHE FERNSEHBEOBACHTUNG I N F R A N K R E I C H : V O N M I L A N K UN D E R A S L A L E N T E U R (1995) Z U J E A N -P H I L I P P E T O U S S A I N T S L A T É L É V I S I O N (1997) CHRISTIAN VON TSCHILSCHKE 1 . D a s F e r n s e h e n ( i n ) d e r L i t e r at u r Die mehr als 500 Seiten starke, von Helmut Schanze im Jahr 1996 herausgegebene Fernsehgeschichte der Literatur beginnt mit den Worten: »Die Fragen nach dem Stellenwert der Literatur für das Fernsehen und umgekehrt, nach dem Stellenwert des Fernsehens für die Literatur, gehören zu den meistbearbeiteten Fragestellungen im Rahmen einer qualitativ orientierten Medienwissenschaft«.1 Auf einen Teilbereich dieses Themenspektrums, der seit Anfang der 1990er Jahre immer mehr an Bedeutung gewinnt, trifft diese Aussage allerdings nur sehr eingeschränkt zu: das Fernsehen (in) der Literatur. Gemeint ist damit die motivischthematisch und / oder formal-strukturelle Bezugnahme der Literatur auf das Fernsehen bzw. die ›Fernsehbeobachtung‹ als Funktion und Aufgabe der Literatur. Es scheint für eine von den neuen Medien faszinierte und dem Wunsch nach Selbsterneuerung durchdrungene Literaturwissenschaft symptomatisch gewesen zu sein, dass sie sich zunächst und nahezu ausschließlich für die Aneignung und Verarbeitung literarischer Texte durch das Fernsehen interessierte – oder gleich für die Betrachtung des Fernsehens selbst, vor allem soweit sich an ihm ästhetisch-literarische Qualitäten nachweisen ließen.2 Dabei wurden die Erfahrungen der Litera-
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Helmut Schanze: »Einleitung«, in: Helmut Schanze (Hg.), Fernsehgeschichte der Literatur. Voraussetzungen – Fallstudien – Kanon, München: Fink 1996, S. 7-13, hier: S. 7. Vgl. z. B. Knut Hickethier: »Fernsehästhetik. Kunst im Programm oder Programmkunst?«, in: Joachim Paech (Hg.), Film, Fernsehen, Video und die Künste: Strategien der Intermedialität, Stuttgart: Metzler 1994, S. 190213 und Volker Roloff: »Probleme der Fernsehästhetik. Zur Intermedialität 31
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tur mit dem Fernsehen und seine Reaktionen auf das neue Medium zwar gelegentlich auch zur Sprache gebracht,3 von einer angemessenen Beschäftigung mit diesem Phänomen oder gar einer ›Literaturgeschichte des Fernsehens‹, die etwa den Projekten Franz-Josef Albersmeiers zu einer ›Literaturgeschichte des Films‹ oder einer ›integrierten Mediengeschichte‹ an die Seite zu stellen wäre, sind wir bis heute jedoch weit entfernt.4 Dies gilt für die deutsche Literatur ebenso wie für die romanischen Literaturen, und aus Gründen, die noch zur Sprache kommen werden, in ganz besonderem Maße für die französische.5
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und Theatralität des Fernsehens«, in: Peter Gendolla u. a. (Hg.), Bildschirm – Medien – Theorien, München: Fink 2002, S. 45-62. Der eingangs erwähnte Band enthält dazu einen einzigen Beitrag, den aus dem Jahr 1988 stammenden Wiederabdruck von Uwe Japp: »Das Fernsehen als Gegenstand der Literatur und der Literaturwissenschaft«, in: Schanze, Fernsehgeschichte, S. 17-28. Franz-Josef Albersmeier: Die Herausforderung des Films an die französische Literatur. Entwurf einer »›Literaturgeschichte‹ des Films«, Band I: Die Epoche des Stummfilms (1895-1930), Heidelberg: Winter 1985; FranzJosef Albersmeier: Theater, Film und Literatur in Frankreich. Medienwechsel und Intermedialität, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1992 und Franz-Josef Albersmeier: Theater, Film, Literatur in Spanien. Literaturgeschichte als integrierte Mediengeschichte, Berlin: Schmidt 2001. Vgl. zum Themenkomplex allgemein Eckart Voigts-Virchow: »Fernsehen und Literatur«, in: Ansgar Nünning (Hg.), Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe, Stuttgart/Weimar: Metzler 32004, S. 176-178; zur deutschen Literatur Irmela Schneider: »Fernsehen in der zeitgenössischen Literatur«, in: Norbert Oellers (Hg.), Neue Technologien und Medien in Germanistik und Deutschunterricht, Tübingen: Niemeyer 1988, S. 158-168; Hubert Winkels: Leselust und Bildermacht. Literatur, Fernsehen und Neue Medien, Köln: Kiepenheuer & Witsch 1997; Jochen Hörisch: Ende der Vorstellung. Die Poesie der Medien, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1999; Volker Wehdeking: Generationenwechsel. Intermedialität in der deutschen Gegenwartsliteratur, Berlin: Schmidt 2007; zur französischen Literatur Alain-Philippe Durand: Un monde techno. Nouveaux espaces électroniques dans le roman français des années 1980 et 1990, Berlin: Weidler 2004 sowie die Pionierarbeit von Kathrin Ackermann: »Televisive Fiktionen in der französischen Literatur«, in: Dirk Naguschewski und Sabine Schrader (Hg.), Film und Literatur in Frankreich nach 1945: Kontakte, Konvergenzen, Konkurrenzen, Marburg: Schüren 2008, S. 199-212. Besser erforscht ist in dieser Hinsicht die amerikanische Literatur, vgl. u. a. Cecelia Tichi: »Television and Recent American Fiction«, in: American Literary History 1 (1989), S. 110-130; David Foster Wallace: »E Unibus Pluram: Television and U. S. Fiction«, in: Re32
LITERARISCHE FERNSEHBEOBACHTUNG IN FRANKREICH
Die Aufgabe einer solchen ›Literaturgeschichte des Fernsehens‹ bestünde, so schon Uwe Japp, darin zu zeigen, dass »die Erfahrungen mit dem Medium Fernsehen für die Literaten und für die Literatur selbst nicht ohne Folgen geblieben sind«.6 Zu diesen Folgen gehört beispielsweise, dass nun auch von der Literatur Aussagen zum Fernsehen zu erwarten sind, und dies umso mehr, als sie, wie Jochen Hörisch in Erinnerung an die horazische Funktionsbestimmung der Dichtung »aut prodesse volunt aut delectare poetae« bekräftigt, »nicht nur schön ist und erfreut, sondern gerade auch in medialer Hinsicht sachlich relevante Einsichten bereithält und also belehrt«.7 Die Tatsache, dass sich Fernseherfahrungen immer häufiger in der Literatur niederschlagen, hat außerdem zur Folge, dass sich das Interesse wieder und in neuer Weise der Literatur selbst zuwendet, insofern sich nun nicht nur die Frage stellt, welche Aussagen über die Literatur sich auf dem Umweg über das Fernsehen ergeben, sondern auch, ob es ein spezifisch literarisches Wissen vom Fernsehen gibt, das auf den medialen und diskursiven Status der Literatur zurückzuführen wäre. Denn es ist ja durchaus plausibel anzunehmen, dass aus dem Spannungsverhältnis zwischen zwei so inkommensurablen Medien wie Literatur und Fernsehen zumindest auf Seiten der Literatur eine besonders scharfe, kritische oder faszinierte Aufmerksamkeit für das elektronisch-audiovisuelle Konkurrenzmedium erwächst. Verspricht nicht gerade die materielle Abstraktheit der Literatur, die Abstand zu den Phänomenen wahrt und genuine, imaginative Freiräume eröffnet, auch eine Erkenntnisleistung eigener Art? Zu den weiteren Folgen des Spannungsverhältnisses zwischen Literatur und Fernsehen ist ferner die Frage zu rechnen, ob die Literatur aus ihren medienanalytischen und medienhistorischen Einsichten auch ästhetische Konsequenzen für sich selbst zieht, und wenn ja, welche das sind. Es bietet sich an, den hier skizzierten Problemkomplex metaphorisch als »literarische Fernsehbeobachtung« zu bezeichnen. Auch wenn es nicht darum gehen kann, den systemtheoretischen Beobachtungsbegriff (definiert als »Einsetzen einer Unterscheidung«)8 mit allen seinen Voraussetzungen zu übernehmen, erweist er sich doch als geeignet, um für
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view of Contemporary Fiction 13, 2 (1993), S. 151-194; Julika Griem: »Screening America: Representations of Television in Contemporary American Literature«, in: Amerikastudien / American Studies 3 (1996), S. 465481. Japp: »Fernsehen«, S. 17. Jochen Hörisch: Der Sinn und die Sinne. Eine Geschichte der Medien, Frankfurt am Main: Eichborn 2001, S. 10. Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 21996, S. 92. 33
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eine Reihe elementarer Sachverhalte zu sensibilisieren: Ein literarisches Werk ist, wie jedes Kunstwerk, zunächst einmal eine Beobachtung der Welt, und wie bei jeder Beobachtung ist damit immer schon ein Rückverweis auf die Position des Beobachters gegeben. Die Möglichkeit, das Beobachten seinerseits zu beobachten, bleibt allerdings einem Beobachter zweiter Ordnung vorbehalten. Nun zeichnen sich Kunstwerke, Niklas Luhmann zufolge, gerade dadurch aus, »spezifische Formen für ein Beobachten von Beobachtungen in die Welt zu setzen«9 und damit eine »strukturelle Kopplung des Beobachtens erster und zweiter Ordnung«10 zu leisten. Von ›literarischer Fernsehbeobachtung‹ zu sprechen, impliziert demnach, bei jeder Bezugnahme der Literatur auf das Fernsehen immer auch die medialen Bedingungen dieser Referenz mit zu bedenken bzw. das Reflexivwerden des Beobachtens als Zusammenspiel von medialer Fremd- und Selbstbeobachtung ins Auge zu fassen. Die Analyse dieses Zusammenspiels kann wiederum nur durch einen Beobachter dritter Ordnung erfolgen, beispielsweise im Rahmen einer ›Literaturgeschichte des Fernsehens‹.11 Aus der Privilegierung der Beobachtungsfunktion der Literatur ergibt sich zugleich eine Wiederaufwertung der inhaltlichen, motivisch-thematischen Bezugnahmen auf das Fremdmedium gegenüber den in den letzten Jahren unter den Oberbegriffen ›Intermedialität‹ bzw. ›filmische‹ oder ›televisuelle‹ Schreibweise bevorzugt behandelten formal-strukturellen Bezügen.12 9 Ebd., S. 115. 10 Ebd. 11 Luhmann selbst blendet allerdings »jede Referenz auf die materiellen Bedingungen der Möglichkeit von Beobachtung« aus. Ebd., S. 99. Vgl. zur Anwendung des Beobachterbegriffs auf die ›Materialität der Kommunikation‹ und intermediale Beziehungen: Natalie Binczek / Nicolas Pethes: »Mediengeschichte der Literatur«, in: Helmut Schanze (Hg.), Handbuch der Mediengeschichte, Stuttgart: Kröner 2001, S. 282-315, bes. »Medienbeobachtung«, S. 298-309 und Natalie Binczek / Nicolas Pethes: »Seeing / Reading. Forms of Observation in Literature and Cinema«, in: Arcadia 37, 1 (2002), S. 26-41, bes. S. 29-31. 12 Vgl. etwa Jochen Hörischs Plädoyer für eine »themen- und problembezogene Literaturwissenschaft«, Jochen Hörisch: Das Wissen der Literatur, München: Fink 2007, S. 35, oder auch Claudia Schmitt: Der Held als Filmsehender. Filmerleben in der Gegenwartsliteratur, Würzburg: Königshausen & Neumann 2007. Mit der Relevanz solcher Ansätze für die Intermedialitätsforschung hat sich Irina O. Rajewsky beschäftigt. Irina O. Rajewsky: »Intermedialität ›light‹? Intermediale Bezüge und die ›bloße Thematisierung‹ des Altermedialen«, in: Roger Lüdeke / Erika Greber (Hg.), Intermedium Literatur. Beiträge zu einer Medientheorie der Literaturwissenschaft, Göttingen: Wallstein 2004, S. 27-77, insbesondere S. 46 ff. Vgl. 34
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Um die Funktionsweise literarischer Fernsehbeobachtung in Frankreich näher zu untersuchen, erscheinen zwei Romane aus den 1990er Jahren besonders geeignet, nämlich Milan Kunderas La lenteur (1995) und Jean-Philippe Toussaints La télévision (1997), weil sie das Fernsehen nicht nur beiläufig thematisieren, sondern, was wesentlich seltener vorkommt, ins Zentrum rücken, und das auf sehr unterschiedliche Weise. Obwohl die Publikationsdaten beider Texte eng beieinander liegen, scheinen sie doch in Bezug auf die Darstellung des Fernsehens Welten zu trennen. Das hängt zweifellos damit zusammen, dass die Verfasser unterschiedlichen ›Mediengenerationen‹ angehören.13 Kundera, geboren 1929, ist ein Vertreter der älteren, noch ganz ohne Fernsehen aufgewachsenen Generation, ein Kind der Avantgarden und des Kinos. Jean-Philippe Toussaint, geboren 1957, entstammt der mittleren Generation, die zwar schon mit dem Fernsehen groß geworden ist, aber noch nicht vom Privatfernsehen geprägt wurde.14 Entscheidender noch als dieser »generation-gap«15 ist jedoch der Umstand, dass Kunderas und Toussaints jeweiliges Verhältnis zum Fernsehen eine genuin moderne bzw. postmoderne Einstellung offenbart. Umgekehrt lässt sich aus ihrer Haltung zum Fernsehen ein Kriterium für ihre Zuordnung zu den Paradigmen der Moderne und der Postmoderne gewinnen, gilt doch das Fernsehen geradezu als Emblem und »locus classicus der Postmoderne«.16 Während Kundera zu den »letzten großen Autoren der europäischen klassischen Moderne«17 zu rechnen ist, darf Toussaint als einer der führenden Protagonisten der postmodernen bzw. postavantgardistischen Wende in der französischen Literatur betrachtet
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zum filmischen / televisuellen Schreiben Irina O. Rajewsky: Intermediales Erzählen in der italienischen Literatur der Postmoderne. Von den ›giovani scrittori‹ der 80er zum ›pulp‹ der 90er Jahre, Tübingen: Narr 2003; Christian von Tschilschke: Roman und Film. Filmisches Schreiben im französischen Roman der Postavantgarde, Tübingen: Narr 2000. Vgl. zum Kriterium der Generationalität in medienhistorischen und intermedialen Zusammenhängen Jochen Hörisch (Hg.): Mediengenerationen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997 sowie Wehdeking: Generationenwechsel. Auch ihr Verhältnis zur Öffentlichkeit ist unterschiedlich: Kundera verweigert sich dem Literaturbetrieb konsequent und gibt seit Mitte der 1980er Jahre nur noch schriftliche Interviews. Toussaint dagegen unterwirft sich bereitwillig den üblichen Formen des Verlags- und Selbstmarketings. Foster Wallace: »E Unibus Pluram«, S. 167. Voigts-Virchow: »Fernsehen und Literatur«, S. 177. KvČtoslav Chvatík: Die Fallen der Welt. Der Romancier Milan Kundera, übers. von Susanna Roth, München: Hanser 1994, S. 35. 35
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werden.18 Man kann sich daher kaum zwei Texte vorstellen, die in Bezug auf die Unterscheidung moderne / postmoderne Sichtweise des Fernsehens repräsentativer wären als La lenteur und La télévision. Doch es kommt noch etwas anderes hinzu: Gerade weil beide Autoren nicht-französischer (d. h. tschechischer bzw. belgischer) Herkunft sind und weil sie von sich aus interkulturelle Aspekte thematisieren, bieten sich ihre Romane auch dazu an, nach der Existenz besonderer nationaler Gemeinsamkeiten televisueller Bezüge, also nach kulturspezifischen Sichtweisen des Fernsehens in der Literatur zu fragen – jenseits poetologischer, ästhetischer und generationsbedingter Unterschiede.
2. Der intellektuelle Diskurs ü b e r d a s F e r n se h e n Die zögerliche Beschäftigung insbesondere der französischen Literatur mit dem Fernsehen, aber auch das bisher weitgehend ausgebliebene Interesse der romanistischen Literaturwissenschaft für dieses Thema, sind nicht abzutrennen von traditionellen, bis heute nachwirkenden Vorbehalten gegenüber dem Fernsehen innerhalb des intellektuellen Feldes. Wie tief diese Vorbehalte in Frankreich tatsächlich noch in den 1970er und 1980er Jahren verwurzelt sind, zeigen exemplarisch die bekannten Stellungnahmen von Roland Barthes und Gilles Deleuze zum Fernsehen – zweier Intellektueller, die wir allgemein eher mit der Überwindung traditioneller Denkweisen und der Hinwendung zu neuen Gegenständen identifizieren.19 So kontrastiert Barthes in seinem Artikel »En sortant du cinéma« von 1975 die gleichsam erotische Faszination des Kinobesuchs mit der unsinnlichen Alltäglichkeit der Fernseherfahrung,20 und in seinen autobiographischen Notizen aus demselben Jahr bemerkt er nebenbei und in Klammern: »wenn eine wissenschaftliche Analyse der Dummheit 18 Vgl. u. a. Tschilschke: Roman und Film, S. 12 f., 149-169, 221-241. 19 So bemerkt schon Japp zu Barthes: »Daß es der Literaturwissenschaft ebenfalls freisteht, das Fernsehen als einen nicht ernstzunehmenden Gegenstand zu behandeln, hat dagegen Roland Barthes demonstriert. Barthes hat in mehreren Publikationen den traditionellen Kanon literaturwissenschaftlicher Gegenstände überschritten, indem er sich den Mythen des Alltags zuwandte, dem System der Mode, der Sprache der Liebe oder dem Phänomen der Photographie. Das Fernsehen gehört nicht zu diesen mehr oder weniger systematisch abgehandelten Gegenständen«. Japp: »Fernsehen«, S. 19. 20 Roland Barthes: »En sortant du cinéma«, in: Communications 23 (1975), S. 104-108, hier: S. 105. 36
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möglich wäre, dann würde das Fernsehen zusammenbrechen«.21 Die Haltung von Gilles Deleuze ist ähnlich. Für ihn besitzt allein das Kino philosophische und ästhetische Dignität. Im Fernsehen dagegen falle die technisch-soziale Perfektion »mit seiner völligen ästhetischen und noetischen Bedeutungslosigkeit«22 zusammen. Weil das Fernsehen »die Form ist, in der die neuen ›Kontroll‹-Mächte unmittelbar und direkt werden«,23 sei ihm ein subversiver Widerstand entgegenzusetzen.24 Die ablehnende Haltung von Barthes und Deleuze gegenüber dem Fernsehen bei gleichzeitig höchster Wertschätzung des Kinos belegt zunächst eine bekannte medienhistorische Gesetzmäßigkeit: In den 50er und 60er Jahren des 20. Jahrhunderts, in denen sich das Fernsehen als neues Massenmedium durchsetzt und gleichzeitig der Film im europä-
21 Roland Barthes: Roland Barthes. Über mich selbst, übers. von Jürgen Hoch, München: Matthes & Seitz 1978 [Roland Barthes par Roland Barthes, 1975], S. 56. 22 Gilles Deleuze: »Brief an Serge Daney: Optimismus, Pessimismus und Reisen«, in: Gilles Deleuze, Unterhandlungen 1972-1990, übers. von Gustav Roßler, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1993 [Pourparlers 1972-1990, 1990], S. 101-118, hier: S. 111. 23 Ebd. 24 Lorenz Engell charakterisiert Deleuzes Einstellung zum Fernsehen folgendermaßen: »Zwar ist mit Deleuze dem elektronischen Bild als solchem, etwa als Substrat von Kunstwerken, durchaus ästhetische, kreative und denkerische Potenz zuzubilligen, die zu befragen sich lohnen kann. Das Fernsehen aber gilt im Gegensatz etwa zur Video- und Computerkunst nicht als lebendige, sondern als tote Erscheinungsform des elektronischen Bildes. Es sei ein triviales, ein bösartiges, ein rein technisches Medium, eine Sozialtechnologie, ein Kontrollmechanismus«. Lorenz Engell: »Fernsehen mit Gilles Deleuze«, in: Oliver Fahle / Lorenz Engell (Hg.), Der Film bei Deleuze / Le cinéma selon Deleuze, Weimar: Verlag der Bauhaus-Universität Weimar/Paris: Presses de la Sorbonne Nouvelle 1997, S. 468-481, hier: S. 469. Davon unberührt bleibe, so Engell, die Möglichkeit, gewissermaßen mit Deleuze gegen Deleuze zu denken und aus dessen Überlegungen grundlegende Erkenntnisse für eine Theorie des Fernsehens zu gewinnen. Ähnlich argumentiert Volker Roloff in Bezug auf Barthes’ Beitrag zur Analyse des ›televisionären Dispositivs‹. Vgl. Volker Roloff: »Zur Theorie und Praxis der Intermedialität bei Godard. Heterotopien, Passagen, Zwischenräume«, in: Volker Roloff / Scarlett Winter (Hg.), Godard intermedial, Tübingen: Stauffenburg 1997, S. 3-24, hier: S. 7 sowie Volker Roloff: »Film und Fernsehen in der Zeit der Nouvelle Vague: Differenzen, Zwischenräume und Kombinationen«, in: Volker Roloff u. a. (Hg.), Europäische Kinokunst im Zeitalter des Fernsehens, München: Fink 1998, S. 4159, hier: S. 48 f. 37
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ischen Autorenkino seine endgültige Anerkennung als Kunstform erfährt, wird das Fernsehen gegenüber dem Kino zu dem, was der Film zuvor gegenüber der Literatur war: ein triviales Medium der Unterhaltung, das primär eine kritische und / oder komische Darstellungsweise nahezulegen scheint.25 Der tiefere Grund für die intellektuelle Verachtung, die Barthes und Deleuze dem Fernsehen entgegenbringen und mit der sie sich in die kritische Tradition von Horkheimer / Adorno (Dialektik der Aufklärung, 1944) und Günther Anders (Die Antiquiertheit des Menschen, 1956) einreihen, liegt aber darin, dass sich das Fernsehen, im Gegensatz zum Film, nicht ohne Weiteres in einen künstlerisch-literarischhermeneutischen Diskurs integrieren lässt, der auf den traditionellen Vorstellungen von Autor und Werk, Bedeutung und Interpretation, Originalität und Autonomie beruht. Ungeachtet ihrer bei anderen Gelegenheiten vorgebrachten Fundamentalkritik an diesem Diskurs, bleiben ihm Barthes und Deleuze jedoch zumindest in Bezug auf Film und Fernsehen weiterhin verhaftet. So zeigt etwa der Umstand, dass Deleuze dem Kunstcharakter des Films so große Bedeutung beimisst und er den »Autor als zentrierte Instanz, das Werk als abgegrenztes, seinerseits zeitresistentes Objekt«26 versteht, unübersehbar, dass er »in der Tradition einer literarisch verfassten Filmwissenschaft«27 argumentiert. Barthes’ Fasziniertsein von der Dummheit (bêtise) verweist wiederum auf eine entsprechende Obsession Flauberts und damit auf die für die literarische Moderne zentrale, von Flaubert in Madame Bovary (1856) und Bouvard et Pécuchet (1881) verhandelte Frage, inwieweit sich ein Kunstwerk in Abgrenzung gegen den von ihm kritisierten Gegenstand konstituieren kann und muss.28 25 Umgekehrt wird der Film wiederum, so könnte man sagen, zur Literatur des Fernsehens. Vgl. zum Prozess der Übertragung literarischer Konzepte und Strukturen auf das Kino im Zuge der Nouvelle Vague Jochen Mecke: »Im Zeichen der Literatur: Literarische Transformationen des Films«, in: Jochen Mecke / Volker Roloff (Hg.), Kino- / (Ro)Mania. Intermedialität zwischen Film und Literatur, Tübingen: Stauffenburg 1999, S. 97-123. 26 Engell: »Fernsehen«, S. 480. 27 Ebd. Vgl. auch Richard Dienst: Still Life in Real Time. Theory after Television, Durham u. a.: Duke University Press 21995, S. 146: »After all, ›cinema‹ has been for a long time more a category of taste, evaluation, and marketing than a term designating distinct practices or operations. Even in Deleuze’s usage, ›cinema‹ designates a radical program of ›aesthetic research‹ carried out by a small fraction of filmmakers«. 28 Vgl. zu dieser den Hintergrund der weiteren Ausführungen zu Kundera und Toussaint bildenden Problematik Jochen Mecke: »Der Prozeß der Authentizität. Strukturen, Paradoxien und Funktion einer zentralen Kategorie moderner Literatur«, in: Susanne Knaller / Harro Müller (Hg.), Authentizität. 38
LITERARISCHE FERNSEHBEOBACHTUNG IN FRANKREICH
Erklären lässt sich Barthes’ und Deleuzes negative Einstellung zum Fernsehen damit, dass sie – wie Milan Kundera – einer noch weitgehend traditionell literarisch sozialisierten Generation angehören, die insgesamt wenig Gelegenheit und Interesse hatte, sich umfassend der Erfahrung des Fernsehens auszusetzen.29 Zu diesem generationellen Merkmal kommt verstärkend ein für Frankreich typischer kultur- bzw. mentalitätsgeschichtlicher Aspekt hinzu: die große, identitätsstiftende Bedeutung der Literatur als Institution und Wert, das Fortwirken aristokratisch-elitärer Geschmacksnormen, von denen die französische Kultur seit dem Grand Siècle geprägt ist, und nicht zuletzt ein besonders hoher Begriff von ästhetischer Autonomie, der für die relativ starke Abgrenzung zwischen Popular- und Hochkultur verantwortlich ist.30
Diskussion eines ästhetischen Begriffs, München: Fink 2006, S. 82-114. Mecke bringt die ästhetische Praxis der Moderne und den Diskurs ihrer Selbstbeschreibung auf den Begriff einer »Ästhetik der Authentizität« (S. 106), der zufolge sich das moderne Kunstwerk in ästhetischer Differenz zu Formen dargestellter Inauthentizität bzw. zu inauthentisch gewordenen Darstellungsformen konstituiert. In der Postmoderne verabschiedet sich die Literatur von der Ästhetik der Authentizität und betont stattdessen die »Inauthentizität des eigenen Schreibens« (S. 114) und der Literatur insgesamt. 29 Lorenz Engell zum Beispiel führt Deleuzes Verdikt letztlich auf dessen mangelhafte Kenntnis des Mediums zurück: »So bleibt die Frage, ob Deleuze nicht vielleicht mehr über das Fernsehen gelesen als gesehen und erfahren hat«. Engell: »Fernsehen«, S. 481. 30 Vgl. u. a. Hans-Jürgen Lüsebrink: »Französische Kultur- und Medienwissenschaft: Systematische und historische Dimensionen«, in: Hans-Jürgen Lüsebrink u. a. (Hg.), Französische Kultur- und Medienwissenschaft, Tübingen: Narr 2004, S. 9-38, hier S. 14 sowie ausführlicher zur Genese der kulturellen Bedeutung der Literatur in Frankreich Priscilla Parkhurst Clark: Literary France. The Making of a Culture, Berkeley u. a.: University of California Press 1987. Zum Verhältnis zwischen Literatur und Fernsehen in Frankreich merkt Kathrin Ackermann an: »[…] la televisione occupa un ruolo secondario nella letteratura francofona euopea. Mentre le immagini del cinema hanno influenzato notevolmente la scrittura letteraria in Francia, gli scrittori sembrano ignorare, se non trattare con disprezzo, il diluvio di immagini trasmesse dalla televisione«. (Dt.: »das Fernsehen nimmt in der frankophonen Literatur Europas eine marginale Rolle ein. Während die Bilder des Kinos die literarische Schreibweise in Frankreich nachhaltig beeinflusst haben, scheinen die Autoren die Bilderflut des Fernsehens mit Verachtung zu strafen«. Kathrin Ackermann: »Guardare la tv con gli occhi chiusi: La televisione di Jean-Philippe Toussaint«, in: Antonelle d’Amelia u. a. (Hg.), Scritture dell’imagine. Percorsi figurativi della parola, Neapel: Liguori 2007, S. 363-383, hier: S. 364. Vor diesem Hintergrund ist auch 39
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Indessen hat sich der Diskurs über das Fernsehen seit den 1990er Jahren auch in Frankreich differenziert und versachlicht. Das ist etwa an den zahlreichen Publikationen des Film- und Fernsehwissenschaftlers François Jost31 oder an einer Studie wie der des Philosophen JeanJacques Wunenberger, L’homme à l’âge de la télévision (2000), abzulesen. Neben unbeirrt polemisch-kritischen Darstellungen wie Pierre Bourdieus Abhandlung Sur la télévision (1996) existieren längst auch entsprechende Lobreden und Gegenbekenntnisse. Ein Beispiel für eine tendenziell positive, die emanzipatorischen Eigenschaften des Mediums betonende Darstellung aus soziologischer Perspektive ist Dominique Woltons Éloge du grand public, der im Vorwort beteuert: »J’aime la télévision« (»Ich liebe das Fernsehen«).32
der ›heroische‹ Selbstversuch des Filmkritikers Serge Daney: Le salaire du zappeur, Paris: P. O. L. 1993 zu lesen, der hundert Tage hindurch sechs Fernsehprogramme betrachtete und seine Überlegungen dazu protokollierte. 31 François Jost: Le temps d’un regard. De l’image au spectateur, Paris: Méridiens Klincksieck 1993; François Jost / Gérard Leblanc: La télévision française au jour le jour, Paris: INA-Anthropos 1994; François Jost / Jérôme Bourdon: Penser la télévision, Paris: INA-Nathan 1998; François Jost: Introduction à l’analyse de la télévision, Paris: Ellipses 22004 [1999]; François Jost: La télévision du quotidien. Entre réalité et fiction, Brüssel: De Boeck & Larcier 2001. 32 Dominique Wolton: Éloge du grand public. Une théorie critique de la télévision, Paris: Flammarion 1990, S. 10. Vgl. allgemein Klaus-Peter Walter: »TV in Frankreich«, in: Hans-Jürgen Lüsebrink u. a. (Hg.), Französische Kultur- und Medienwissenschaft. Eine Einführung, Tübingen: Narr 2004, S. 155-187. Walter verweist ebenfalls in diesem Sinne auf Wolton (S. 170 f.). Doch auch in Deutschland scheiden sich, insbesondere auf populärwissenschaftlichem Gebiet, weiterhin die Geister: Während der Medienwissenschaftler Klaus Kreimeier schon im Titel ein Lob des Fernsehens (1995) verspricht, warnt der Psychiater Manfred Spitzer: Vorsicht Bildschirm (2005). Kreimeiers Titel ist allerdings, wie Hubert Winkels zu Recht moniert, »eine trojanische Mogelei. Tatsächlich finden sich darunter so ziemlich alle fernsehkritischen Motive, die in den letzten Jahren diskutiert worden sind«. Winkels: Leselust, S. 33. Selbst in der Einleitung zur jüngst erschienenen Philosophie des Fernsehens (München: Fink 2006) propagieren die Herausgeber Oliver Fahle und Lorenz Engell zwar »Fernsehen als Denkform« (S. 7), beeilen sich aber gleichzeitig, eventuellen Einwänden gleich zu Beginn die Spitze zu nehmen: »Muß es ausgerechnet das armselige und arme Fernsehen sein, dessen Rest-Charme, wenn überhaupt, doch vielleicht gerade in seiner kompromißlosen Billigkeit liegt, an 40
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Für einen Vergleich von Kunderas La lenteur (1995) und Toussaints La télévision (1997) darf Pierre Bourdieus Sur la télévision (1996) allein schon aufgrund seines Erscheinungsdatums besondere Aufmerksamkeit beanspruchen. Bourdieus Analyse fällt aber nicht nur zufällig chronologisch zwischen diese beiden Romane, sondern nimmt auch systematisch einen Platz in ihrem Verhältnis zueinander ein: In seiner satirischen Darstellung der Beziehung von Fernsehen und intellektueller Öffentlichkeit wirkt Kunderas Roman wie eine literarische Vorwegnahme der diskursiven Medienkritik Bourdieus. Demgegenüber erscheint Toussaints Roman als eine literarische Antwort auf Bourdieu. Während Bourdieu vor dem Fernsehen als einer »Gefahr für das politische und demokratische Leben«33 warnt, hält Toussaint eine Medienkritik im Stil des kritischen Rationalismus eines Karl Popper, wie sie letztlich auch Bourdieu praktiziert, offensichtlich für nicht mehr zeit- und – in ihrem moralisierenden Gestus – erst recht nicht für literaturgemäß.34
der letztlich alle Begrifflichkeit sich bricht, schon gar eine philosophische?« (Ebd.). 33 Pierre Bourdieu: Über das Fernsehen, übers. von Achim Russer, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1998 [Sur la télévision, 1996], S. 9. 34 Toussaint bekennt, sich auch mit theoretischen Texten zum Fernsehen beschäftigt zu haben, besteht aber (nicht ohne Ironie) darauf, sich dem Phänomen als Romancier und als genauer Beobachter des Alltags zu nähern: »j’ai lu des textes sur ce phénomène, en particulier un texte de Karl Popper sur la télé comme ›danger pour la démocratie‹ [Karl Popper / John Condry: La télévision: un danger pour la démocratie, Paris: Anatolia 1994]. Je ne voulais pas écrire un essai ni même un pamphlet, je voulais juste parler de mon époque«. (Dt.: »ich habe Texte über dieses Phänomen gelesen, insbesondere einen Text von Karl Popper über das Fernsehen wie ›Gefahr für die Demokratie‹. Ich wollte aber weder einen Essay noch ein Pamphlet schreiben, sondern einfach nur von meiner Zeit erzählen«). Antoine de Gaudemar: »›On arrête de la regarder comme on arrête de fumer‹«, in: Libération (16.01.1997). Ein anderer Rezensent, Jean-François Josselin: »Un roman de Jean-Philippe Toussaint. La télé nous regarde«, in: Le Nouvel Observateur (23-29.01.1997), stellte ausdrücklich einen Bezug zum Erscheinen von Bourdieus Sur la télévision her. Vgl. auch Leo H. Hoek: »La télévision regardée par P. Bourdieu et J.-P. Toussaint«, in: Communications et langages 128 (2001), S. 5-14. 41
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3 . M i l a n K u n d e r a s L a le n t e u r ( 1 9 9 5 ) : K u l tu r k r i t i k a l s l i t e r a r i s c h e F e r n s e h k r i t i k Milan Kunderas La lenteur als Roman über das Fernsehen zu bezeichnen, ist keineswegs übertrieben, wenn man sich vor Augen führt, unter wie vielen Gesichtspunkten das elektronische Medium bei ihm thematisiert wird: als Kommunikationstechnik, als gesellschaftliche Institution, als ›Ding‹, als Verhalten und als Milieu. Kunderas Hauptinteresse gilt jedoch dem Agieren vor und hinter der Kamera. Dabei erscheint das Fernsehen nur als symbolische Zuspitzung und zeittypische Konkretisierung eines allgemeinen Zustandes des Unter-Beobachtung-Stehens durch eine ebenso reale wie imaginäre Öffentlichkeit, die alle, die an ihr teilhaben, unweigerlich zu Gesten des Exhibitionismus und Voyeurismus verleitet. Der für Kundera typische polemisch-thesenhafte Charakter des Romans35 ergibt sich zum einen aus den räsonierenden Kommentaren des Erzählers und der Figuren und zum anderen aus der Tatsache, dass Kundera drei verschiedene Handlungsstränge kontrastiv miteinander verknüpft (und am Ende in Form einer Metalepse zusammenführt), die zwar auf verschiedenen Zeitebenen angesiedelt sind, aber alle in ein- und demselben Schauplatz konvergieren: einem Schloss in der Nähe von Paris. In diesem Schloss, das zu einem Hotel umgebaut wurde – so der erste, in der Gegenwart angesiedelte Handlungsstrang –, verbringt der Erzähler, der Schriftsteller Milan, das Alter Ego des Autors, ein Wochenende mit seiner Frau Vera. An demselben Ort hat vor nicht allzu langer Zeit auch ein Entomologenkongress stattgefunden, dessen Vergegenwärtigung den zweiten Handlungsstrang bildet. Und im 18. Jahrhundert, so wird weiter suggeriert, war dieses Schloss Schauplatz der (tatsächlich existierenden) erotischen Novelle Point de lendemain (1777) von Vivant Denon (17471825), deren kommentierte Nacherzählung den dritten Handlungsstrang konstituiert.36 Im Zentrum der Medienkritik des Romans steht das satirische Porträt des französischen Intellektuellen Jacques-Alain Berck, der eine unverkennbare Ähnlichkeit mit realen Vorbildern wie Bernard Kouchner, André Glucksmann oder Bernard Henry-Lévy aufweist. Am Beispiel Bercks zeichnet Kundera das Psychogramm solcher »bis in die Intimität fernsehöffentlicher Figuren«,37 die er »Tänzer« nennt.38 Der »Tänzer« lässt 35 So wirft etwa Maurice Nadeau Kundera vor, mit seiner Medienkritik offene Türen einzurennen. Maurice Nadeau: »Un mini-roman de Kundera«, in: La Quinzaine littéraire 662 (1995), S. 7 f. 36 Vgl. Catherine Cusset: »La leçon de décence de Vivant Denon«, in: Critique 53 (1997), S. 757-772. 37 Winkels: Leselust, S. 111. 42
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keine Gelegenheit aus, um sich vor einem unsichtbaren Publikum in Szene zu setzen und an seiner eigenen Bedeutung zu berauschen. Eitel und effektsüchtig verführt er die Kamera und wird zugleich von ihr selbst verführt. Als öffentliche Figur zeichnet sich der »Tänzer« vor allem dadurch aus, dass er sich als »moralischer (mutiger, anständiger, aufrichtiger, opferwilliger, wahrheitsliebender)«39 darstellt als alle anderen. So ist Berck unschlagbar in einer Technik, die Kundera »moralisches Judo«40 nennt. Wie diese Form der moralischen Erpressung funktioniert, zeigt eine Szene, in der Berck vor laufenden Kameras anbietet, zugunsten der hungernden Kinder in Somalia einen Monat lang auf sein Gehalt zu verzichten, womit er alle anderen Gesprächsteilnehmer dem Druck aussetzt, ihn entweder nachahmen zu müssen oder als herzlos dazustehen und vom Publikum ausgepfiffen zu werden. Das Aufbegehren gegen die vermeintliche political correctness des massenmedialen Diskurses ist kein Einzelmotiv: Als in den Nachrichten auf dem Bildschirm des Hotelfernsehers zum wiederholten Mal verhungernde afrikanische Kinder gezeigt werden, bringt Vera, die Frau des Schriftstellers, ihren Überdruss an dieser medialen Dauerrepräsentation fernen Leidens mit den Worten zum Ausdruck: »Gibt es in diesem Land auch Alte, die sterben?«41 Kunderas Kritik des Fernsehens, die in Intention und Ausdruck an manche Äußerungen von Botho Strauß und Martin Walser aus den 1990er Jahren erinnert,42 ist Teil einer umfassenden, radikalen, bewusst anachronistischen Kulturkritik, die sich im Wesentlichen auf drei Befunde konzentriert: die Einebnung der Grenze zwischen Intimität und Öffentlichkeit, die öffentliche Instrumentalisierung und Ästhetisierung der Moral und die allgemeine, Genuss- und Glücksfähigkeit zerstörende Beschleunigung der Lebensverhältnisse. Die Gegenwart, das ›moderne Leben‹, steht bei Kundera im Zeichen der Geschwindigkeit, des Vergessens, der Unerfülltheit, des Selbstverlusts, der Lustfeindschaft und der 38 Milan Kundera: Die Langsamkeit, übers. von Susanna Roth, München: Hanser 1995 [La lenteur, 1995], S. 21-25. 39 Ebd., S. 22. 40 Ebd. 41 Ebd., S. 16. 42 Vgl. Botho Strauß: »Anschwellender Bocksgesang« [1993], in: Heimo Schwilk / Ulrich Schacht (Hg.), Die selbstbewusste Nation. »Anschwellender Bocksgesang« und weitere Beiträge zu einer deutschen Debatte, Frankfurt am Main/Berlin: Ullstein 1994, S. 19-40, und Martin Walser: »Erfahrungen beim Verfassen einer Sonntagsrede« [1998], in: Frank Schirrmacher (Hg.), Die Walser-Bubis-Debatte. Eine Dokumentation, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1999, S. 7-17. 43
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Simulation, für die das Fernsehen als allumfassende Chiffre dient. Zu ihrem witzig-plakativen Höhepunkt gelangt diese Kritik in einer Szene, in der Vincent und die Stenotypistin Julie, die sich auf dem Entomologenkongress kennengelernt haben, in der Schwimmhalle des Schlosshotels, und damit gleichsam unter den Augen der Öffentlichkeit, einen Geschlechtsverkehr vortäuschen. Bemerkenswert ist, dass der Erzähler seine ethisch-philosophisch motivierte Kulturkritik mit einer medienhistorischen Begründung versieht: Der entscheidende Wendepunkt ist für ihn die Erfindung der Fotografie, die sich als Ursprung einer Medienöffentlichkeit darstellt, die Phänomene wie den »Tänzer« und andere aktuelle Formen des Ruhms erst hervorgebracht hat.43 Der Gegenwart setzt Kunderas Erzähler nostalgisch die rückwärtsgewandte Utopie der elitären französischen Adels- und Salonkultur des 18. Jahrhunderts entgegen, deren Fähigkeit zum reflektierten Genuss er in literarischen Werken wie Sades La philosophie dans le boudoir, Choderlos de Laclos’ Les liaisons dangereuses oder Vivant Denons – wie er mehrfach betont: anonym veröffentlichten – Novelle Point de lendemain repräsentiert sieht. In dieser Kultur herrscht noch, um die vom Erzähler propagierte epikureische Philosophie der Lebenskunst mit einer Formulierung Nietzsches zusammenzufassen, »das Gefühl für die Form selber«,44 ein Gefühl, das in der Wertschätzung der Langsamkeit, der Kontrolle der Affekte und der Kunst der Konversation zum Ausdruck kommt und das als Voraussetzung für das Zustandekommen erfüllter Augenblicke angesehen wird. Es ist nun bezeichnend für Kunderas Auffassung des Verhältnisses von Literatur und Fernsehen, dass er zwar seinen Figuren, die den Blick der Fernsehkamera längst verinnerlicht haben und sich immer so benehmen, als ob sie ›auf Sendung‹ seien, das Erleben epiphanischer Momente
43 Vgl. Kundera: La lenteur, S. 53: »Il y a la gloire d’avant l’invention de la photographie et celle d’après«. (Dt.: »Es gibt den Ruhm vor und nach der Erfindung der Fotografie« [S. 42]) und S. 65: »C’est là que l’époque fondée sur l’invention de la photographie lui vient en aide avec ses stars, ses danseurs, ses célébrités dont l’image, projetée sur un immense écran, est visible de loin par tous, admirée par tous et à tous inaccessible«. (Dt.: »Hier kommt die Epoche, die sich auf der Erfindung der Fotografie gründet, zu Hilfe, mit ihren Stars, ihren Tänzern, ihren Berühmtheiten, deren Bilder, auf eine riesige Leinwand projiziert, von allen bewundert werden, für alle von weitem sichtbar sind und dennoch unerreichbar bleiben«. [S. 51]). 44 Friedrich Nietzsche: »Die fröhliche Wissenschaft«, in: Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden, Bd. 2, hrsg. von Karl Schlechta, Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft 1997, S. 7-274, hier: S. 191. 44
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konsequent verweigert, seinem allwissenden, ›transzendentalen‹ Erzähler jedoch (und damit der ›Literatur‹ selbst), einen solchen magischen Augenblick – den Anblick der nackt ins Schwimmbecken eintauchenden Julie – zugesteht: »C’est vraiment beau de l’observer. Le candide Vincent ne se doute de rien mais moi je vois enfin une nudité qui ne représente rien […]«.45 Generell ist festzuhalten, dass in La lenteur die Primärmedien Körper und Stimme gegenüber dem Tertiärmedium Fernsehen eine programmatische Aufwertung als sinnliche Garanten für Wahrheit und Präsenz erfahren. Darüber hinaus klingt in den tragikomischen Bemühungen des tschechischen Entomologen ýechoĜipský um die korrekte Schreibung und Aussprache seines Namens auch eine unverbrüchliche Wertschätzung des Sekundärmediums Schrift an.46 Am deutlichsten zeigt sich die konstante literarische Rückkopplung der Aussagen über das Fernsehen indessen an den Referenzen auf die Literatur der Aufklärung, die ja nicht nur im Roman zur Sprache kommt, sondern der Kunderas Roman auch selbst folgt, indem er sich an Erzählformen des 18. Jahrhunderts, insbesondere an den Vorbildern Voltaire und Diderot, orientiert. Auf diese Tradition verweisen auch die zahlreichen selbstreflexiven Elemente von La lenteur. Es wird nicht nur mehrfach hervorgehoben, dass sich die Erzählung einem Akt schriftstellerischer Einbildungskraft verdankt, auch der Gestus selbstgerechter Medienkritik wird innerfiktional relativiert. So sieht sich etwa Vincent, der sich über das Verhalten des Tänzers Berck erhaben glaubt, von einem Unbekannten mit den Worten zurechtgewiesen: »Cher monsieur, nous ne pouvons pas choisir l’époque où nous sommes nés. Et nous vivons tous sous le regard des caméras. Cela fait désormais partie de la condition humaine«.47 Bezeichnend ist jedoch, dass diese Kritik nicht auf Kunderas Roman selbst durchschlägt, sondern gerade durch ihren selbstreflexiven Charakter die Authentizität der literarischen Form und die Existenz einer ästhetischen Gegenwelt beglaubigt. Indem Kundera seinen Roman und die literarische Form so dezidiert auf die ästhetische Differenz zum Fernsehen gründet, erweist er sich eindeutig als Epigone der Moderne. 45 Kundera: La lenteur, S. 139 (Dt.: »Es ist wirklich sehr schön, sie zu beobachten. Der arglose Vincent ahnt davon nichts, ich aber sehe endlich eine Nacktheit, die nichts darstellt […]«. [S. 113]). 46 »ýechoĜipský« – in dieser, der korrekten tschechischen Schreibweise taucht der Name im Roman selbst jedoch nie auf. 47 Ebd., 102 (Dt.: »Mein Herr, wir können die Epoche, in der wir geboren werden, nicht auswählen. Und wir leben alle unter dem Blick der Kameras. Das ist mittlerweile ein Bestandteil der Conditio humana geworden«. [S. 82 f.]); siehe auch die Wiederholung auf S. 97. 45
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4. Jean-Philippe Toussaints L a t é lé v i s i o n ( 1 9 9 7 ) : P e r si f l a g e l i t e r a r i s c h e r M e d i e n r e f l e x i o n Jean-Philippe Toussaints nur zwei Jahre später erschienener Roman La télévision steht Kunderas La lenteur hinsichtlich seiner fernsehanalytischen Einsichten in nichts nach – und unterscheidet sich doch grundsätzlich von ihm. Vom ersten Satz an, »Ich habe aufgehört fernzusehen«,48 versorgt Toussaint den Leser mit einer Reihe intellektueller Schlüsselreize, die von den meisten Interpreten bereitwillig aufgenommen werden. Auch wenn in der Forschung gelegentlich Zweifel an der Originalität der vom Erzähler angestellten theoretischen Überlegungen zum Fernsehen aufkommen,49 herrscht doch vorbehaltlose Anerkennung für das mediale Reflexionspotenzial des Romans, der regelrecht dazu herausfordert, den Verweis auf jene Autoren – McLuhan, Virilio, Baudrillard, Postman, Bourdieu etc. – explizit nachzuliefern, deren medientheoretische Positionen implizit zitiert zu werden scheinen.50 In vielen Fällen fehlt es auch nicht an Hinweisen darauf, dass Toussaint mit Humor und Ironie den moralisierenden Gestus der ›Apokalyptiker‹ des Fernsehens konsequent
48 Jean-Philippe Toussaint: Fernsehen, übers. von Bernd Schwibs, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2001 [La télévision, 1997], S. 7. Warren Motte spricht diesbezüglich von »one of the most radical gestures of renunciation one can make in our culture«. Warren Motte: »TV Guide«, in: Neophilologus 83 (1999), S. 529-542, hier: S. 529. 49 So bemerkt Michael Einfalt in Bezug auf die von Toussaints Erzähler konstatierte defiziente Erkenntnisleistung des Fernsehens im Vergleich zur bildenden Kunst: »Als medientheoretische Erkenntnis ist das nicht ganz neu«. Michael Einfalt: »Zeitformung, Kunst und Medienwelt in Jean-Philippe Toussaints La Télévision«, in: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte 28, 1 / 2 (2004), S. 145-162, hier: S. 156 f. 50 Vgl. z. B. Kathrin Ackermann: »Nonostante la citazione indiretta di posizioni note di critici come Virilio, McLuhan, Postman ed altri, La télévision non è un’invettiva contro la televisione«. (Dt.: »Trotz indirekter Zitate bekannter Positionen von Kritikern wie Virilio, McLuhan, Postman u. a. ist La télévision keine Medienschelte«. Ackermann: »Guardare la tv«, S. 366 f.; Maryse Fauvel: »Narcissisme et esthétique de la disparition chez Jean-Philippe Toussaint«, in: Romanic Review 89, 4 (1998), S. 609-620; Susanne Schlünder: »Fern-Seherfahrungen und Wahrnehmungsparameter – Écriture und Medienreflexion bei Jean-Philippe Toussaint: La télévision«, in: Andreas Gelz / Ottmar Ette (Hg.), Der französischsprachige Roman der Theorie in Frankreich und der Frankophonie, Tübingen: Stauffenburg 2002, S. 213-227. 46
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ad absurdum führe.51 Dies alles ist richtig und verdient deshalb auch unter den Gesichtspunkten literarischer Fernsehbeobachtung gewürdigt zu werden. Der in literarästhetischer Hinsicht entscheidende Aspekt bleibt dabei jedoch ausgeblendet. Denn es kommt darauf an, zu erkennen – und das eingangs erläuterte Konzept der literarischen Fernsehbeobachtung schärft gerade dafür den Blick –, dass in Toussaints Roman nicht nur die übliche kulturpessimistische Haltung gegenüber dem Fernsehen, wie sie in der Literatur generell und auch in Kunderas Roman trotz aller relativierenden Kunstgriffe dominiert, der Lächerlichkeit preisgegeben wird. Vielmehr werden auch der Roman und die literarische Form in ihrem – bei Kundera noch unangetasteten – Anspruch auf authentische Weltdarstellung ästhetisch nicht mehr ernstgenommen. Mit anderen Worten: Was Toussaint persifliert, indem er die Inauthentizität seiner eigenen Ästhetik hervorhebt, ist die literarische Medienreflexion selbst.52 Nachdem der namenlose Ich-Erzähler von La télévision im ersten Satz mitgeteilt hat, dass er aufgehört habe, fernzusehen, widmet er sich gleich im nächsten Absatz der ausführlichen Beschreibung des ausgeschalteten Apparates. In der Art, wie dies geschieht, offenbart sich in nuce Toussaints ästhetisches Programm: Die Beschreibung beginnt ganz neutral, erlaubt sich dann den maliziösen Hinweis, dass der Untersatz, auf dem der Fernseher ruhe, »die Form eines winzigen, senkrecht geöffneten Buches«53 habe, und endet mit der absurd-albernen Vorstellung, dass man den Fernseher wie eine Languste an seiner V-förmigen Antenne packen und in einen Topf mit kochendem Wasser schmeißen könne, »um ihn noch radikaler loszuwerden«.54 Toussaint persifliert damit gleich mehrere Topoi literarischer Fernsehbeobachtung: die kulturprägende Funktion des Fernsehers, der als Möbelstück Teil unserer Einrichtung geworden ist, den Fetischcharakter des Fernsehers, von dessen magischer Anziehungskraft man sich nur durch einen Akt des Exorzismus befreien kann, und die beklagenswerte kulturelle Unterlegenheit des Buchs, die sich in der buchähnlichen Form des Fernsehständers in komischer Weise vergegenständlicht. Doch zielt Toussaints Ironie auch auf 51 Vgl. z. B. ebd., S. 221. 52 Jochen Mecke spricht in diesem Zusammenhang allgemein von einer »Entliterarisierung als Entwertung des symbolischen Werts von ›Literatur‹«. Jochen Mecke: »Le degré moins deux de l’écriture. Zur postliterarischen Ästhetik des französischen Romans der Postmoderne«, in: Vittoria Borsò / Björn Goldammer (Hg.), Moderne(n) der Jahrhundertwenden. Spuren der Moderne(n) in Kunst, Literatur und Philosophie auf dem Weg ins 21. Jahrhundert, Baden-Baden: Nomos 2000, S. 402-438, hier: S. 433. 53 Toussaint: Fernsehen, S. 7. 54 Ebd., S. 8. 47
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die ästhetischen Verfahren der Literatur selbst, und zwar nicht nur die minutiösen Dingbeschreibungen des Nouveau Roman, sondern auch auf die poietisch-verfremdende Kraft der modernen Kunst überhaupt, ihre von Arthur C. Danto treffend als »transfiguration of the commonplace«55 bezeichnete Kulturleistung. In der unernsten Weise, in der Toussaint den Fernseher als Mediending beschreibt, werden also nicht nur Positionen der Medienkritik, sondern auch Funktionen der modernen Literatur selbst unterlaufen. Damit wird symbolisch wieder die Differenz zwischen Literatur und Fernsehen kassiert, auf der Kunderas Roman noch unmissverständlich besteht. Toussaint verlässt die melancholische Kundera- und »HabermasWelt«,56 die den Leser ständig kritisch mit seinem eigenen Niveauverlust konfrontiert. Denn es zeigt sich sehr bald, dass der moralische Rigorismus des Ich-Erzählers nicht ganz so groß ist, wie es zunächst scheint. Den Leser zur Identifikation einladend, entlarvt Toussaint vielmehr im charmanten Selbstbetrug seines Protagonisten die Selbstgerechtigkeit aller fernsehkritischen Haltungen, die behaupten, eine Außenposition gegenüber den von ihnen kritisierten Phänomenen einnehmen zu können.57 Natürlich erlaubt der Verzicht auf das Fernsehen dem Erzähler, andere Dimensionen des Lebens zu entdecken: Er geht schwimmen, einkaufen, spazieren. Aber es ist unübersehbar, dass sich diese banal-alltäglichen Beschäftigungen in ihrer Anspruchslosigkeit nicht wesentlich vom Fernsehen unterscheiden. Jedenfalls sind sie von den hochkulturellen Angeboten weit entfernt, die ansonsten gerne als pädagogische Alternative zum Fernsehkonsum ins Spiel gebracht werden. Indessen treibt Toussaint die Dekonstruktion kulturkritischer Hierarchien noch weiter, denn auch
55 Arthur C. Danto: The Transfiguration of the Commonplace. A Philosophy of Art, Cambridge/Mass.: Harvard University Press 1981. 56 Norbert Bolz: »Der Sinn des Unsinns: Comedy im Fernsehen«, in: Die Zeit 23 (30.5.1997), S. 43. 57 Vgl. zu den Aporien des Fernsehens Hans Magnus Enzensberger: »Offen muß […] die Frage bleiben, auf welcher Seite der jeweilige Theoretiker zu suchen ist. Entweder er macht von den Medien keinerlei Gebrauch, dann weiß er nicht, wovon er spricht; oder aber er setzt sich ihnen aus, dann stellt sich die Frage, durch welches Wunder er ihrer Wirkung entgangen ist; denn im Gegensatz zu allen andern ist er moralisch völlig intakt geblieben, kann souverän zwischen Blendwerk und Realität unterscheiden und erfreut sich völliger Immunität gegenüber der Idiotie, die er bei jenen kummervoll attestiert«. Hans Magnus Enzensberger: »Das Nullmedium oder Warum alle Klagen über das Fernsehen gegenstandslos sind«, in: Hans Magnus Enzensberger, Mittelmaß und Wahn. Gesammelte Zerstreuungen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1988, S. 89-103, hier: S. 91. 48
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die schriftstellerische Tätigkeit des Erzählers, der eine Studie über Tizian vorbereitet, und sein Besuch einer Gemäldegalerie werden in einer Weise ironisiert, dass sie als seriöse Gegenentwürfe zum Fernsehen nicht mehr in Frage kommen: Während die wissenschaftliche Betätigung in der Erkenntnis gipfelt, dass die Initialen Tizians »T. V.« lauten, beschäftigt sich der Erzähler bei seinem Museumsbesuch wesentlich intensiver mit dem mitgebrachten Sandwich als den ausgestellten Bildern. Um die sympathische Inkonsequenz seines Erzählers und damit die Aporien einer radikalen Medienkritik zu verdeutlichen, lässt Toussaint seinen Protagonisten gleichsam mit einem ›angewachsenen Fernseher‹ durch die Welt laufen.58 Der Verzicht auf das Fernsehen führt zu einer Obsession für alles, was mit dem Fernsehen zu tun hat oder im Alltag in irgendeiner Weise dem vertrauten televisuellen Dispositiv entspricht. Mit Hilfe der bereits in der Beschreibung des ausgeschalteten Fernsehapparates zu Beginn des Romans angewendeten Technik der komischen Vergegenständlichung kehrt Toussaint die geläufige Metapher vom ›Fernsehen als Fenster zur Welt‹ einfach um und zeigt, wie das Fenster zur Welt zum Fernsehersatz werden kann.59 So beobachtet der fernsehabstinente Erzähler durch das Fenster seiner Wohnung nicht nur seine Nachbarn beim Fernsehen, sondern auch eine junge Frau, die sich nackt »im gleichsam fernsehförmigen Rahmen ihres nächtens erleuchteten Fensters«60 zeigt. In ihrem epiphanischen Charakter und hinsichtlich der Grundkonstellation der voyeuristischen Beobachtung sich unbeobachtet wähnender weiblicher Nacktheit gleicht diese Szene dem bereits zitierten magischen Moment in Kunderas La lenteur. Dadurch treten die elementaren Unterschiede zwischen Toussaints und Kunderas Ästhetik jedoch nur umso deutlicher hervor. Toussaints autodiegetischer Erzähler ist in die Situation, die er beschreibt, involviert, er hebt die Vermitteltheit seiner Wahrnehmung selbstironisch hervor und benennt ausdrücklich den epiphanischen Charakter seines Erlebnisses, wodurch er ihm die Qualität eines Zitats verleiht – die junge Frau erscheint ihm als »Abgesandte des 58 Die Metapher des ›angewachsenen Fernsehers‹ verweist auf das »Phänomen einer ›harmonischen‹ und deshalb nicht mehr ›spürbaren‹ Kopplung zwischen kognitivem Apparat des Menschen und Fernsehen«. Monika Elsner / Thomas Müller: »Der angewachsene Fernseher«, in: Hans Ulrich Gumbrecht / Karl Ludwig Pfeiffer (Hg.), Materialität der Kommunikation, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1988, S. 392-415, hier: S. 393. 59 Vgl. zu den Begriffen ›Fenster zur Welt‹ und ›Fernsehwirklichkeit‹ Hans Ulrich Gumbrecht: »›Ihr Fenster zur Welt‹ oder Wie aus dem Medium ›Fernsehen‹ die ›Fernsehwirklichkeit‹ wurde«, in: Hans-Georg Soeffner (Hg.), Kultur und Alltag, Göttingen: Schwartz 1988, S. 243-250. 60 Toussaint: Fernsehen, S. 34. 49
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Himmels«.61 Bei Kundera steht dagegen genau umgekehrt die Unmittelbarkeit der Beobachtung im Vordergrund, die formal durch den heterodiegetischen Erzähler als unsichtbaren Stellvertreter des Autors garantiert wird. Toussaint spielt aber nicht nur mit dem Topos, dass das Fernsehen zur Habitualisierung einer nicht mehr abschaltbaren fernsehförmigen Wahrnehmung führe. Die Art, wie sich der Text aus dem titelgebenden Ursprungselement ›Fernsehen‹ zu entwickeln scheint und durch proliferierende Fernsehassoziationen sprachlich zusammengehalten wird, lässt vielmehr auch wieder eine Parodie moderner literarischer Techniken erkennen, erinnert Toussaints Vorgehen doch deutlich an die Theorie der générateurs des Nouveau (Nouveau) Roman (Ricardou, Robbe-Grillet, Simon).62 Medientheoretische und im engeren Sinne fernsehkritische Positionen werden aber nicht nur implizit, im Verhalten des Protagonisten, persifliert, sondern auch explizit, zum Beispiel in den ebenso prätentiösen wie trivialen Überlegungen des Erzählers zur unterschiedlichen Kodierung von Referenz in Malerei und Fernsehen – und es ist bezeichnenderweise der Erzähler selbst, der sich als erster darüber lustig macht: »La télévision offre le spectacle, non pas de la réalité, quoiqu’elle en ait toutes les apparences (en plus petit, dirais-je, je ne sais pas si vous avez déjà regardé la télévision), mais de sa représentation«.63 Ohne den Einschub liest sich der Satz als durchaus ernsthafte, wenn auch nicht sonderlich originelle Beobachtung über das Fernsehen. Durch die Verwendung des Ausdrucks »Schauspiel« (frz.: »spectacle«), der an Guy Debords berühmte medienkritische Studie La société du spectacle (1967) denken lässt, klingt ein leicht kennerischer Ton an. Doch erst der alberne Kommentar in Klammern macht Toussaints Roman zu dem, was er ist, denn dieser Kommentar signalisiert dem Leser unmissverständlich, dass die vormals durch die Literatur von sicherer Warte aus kritisierte Inauthentizität des Fernsehens längst auch von der literarischen Ästhetik Besitz er61 Ebd., S. 33. 62 Vgl. die Andeutung bei Susanne Schlünder im Zusammenhang mit der Fernsehobsession des Erzählers: »Das Objekt seiner ambivalenten Begierde fungiert dabei ähnlich wie der Fotoapparat in L’appareil-photo auf narrativer Ebene als générateur, dessen bisweilen unvermutetes Auftauchen verschiedene Erzählfragmente stiftet, strukturiert und – der Zirkelschluß des Romans deutet dies an – miteinander vernetzt«. Susanne Schlünder: »Fern-Seherfahrungen«, S. 214. 63 Ebd., S. 13 (Dt.: »Das Fernsehen bietet das Schauspiel nicht der Realität, auch wenn es sich diesen Anschein gibt (in Miniformat, möchte ich mal sagen, ich weiß nicht, ob Sie schon mal ferngesehen haben), sondern ihrer Darstellung«. [S. 11]). 50
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griffen hat.64 Indem Toussaint dieser Erkenntnis literarischen Ausdruck verleiht, erweist er sich als Vertreter einer genuin postmodernen Ästhetik.
5 . G i b t e s k u l tu r sp e z i f i sc he S i c h tw e i s e n des Fernsehens in der Literatur? Der paradigmatische Gegensatz zwischen einer modernen und einer postmodernen Variante literarischer Fernsehbeobachung, wie er sich in Gestalt der Romane Kunderas und Toussaints darbietet, fällt so deutlich aus, dass sich die Frage aufdrängt, ob nicht gerade in der Entschiedenheit, mit der in beiden Romanen unter Einbeziehung des Fremdmediums Fernsehen die Eigenschaften einer zeitgenössischen literarischen Ästhetik verhandelt werden, nicht auch wieder eine Gemeinsamkeit liegt – eine Gemeinsamkeit, die zudem nicht zufällig ist, sondern kulturspezifische Merkmale trägt. Es deutet in der Tat einiges darauf hin, dass die beiderseitige Neigung zur literarischen Selbstreflexion auch mit einem kulturbzw. mentalitätsgeschichtlichen Aspekt in Verbindung gebracht werden kann, der bereits für Barthes’ und Deleuzes ablehnende Haltung gegenüber dem Fernsehen geltend gemacht wurde: die für die französische Kultur charakteristische und trotz, oder besser gerade wegen ihres faktischen Hegemonieverlustes bis in die Gegenwart fortdauernde Bedeutung der Literatur als Institution und Wert, die auch noch in Teilaspekten wie der besonderen intellektuellen Aufgeschlossenheit gegenüber dem Kino zum Tragen kommt.65 Gerade der Umstand, dass es sich bei Kundera und Toussaint zwar um auf Französisch schreibende – La lenteur ist Kunderas erster direkt auf Französisch verfasster Roman –, aber nicht in Frankreich geborene Autoren handelt, unterstreicht, dass die hier angesprochene kulturelle Dimension nicht deterministisch aufgefasst werden darf. Es sind zunächst die Texte selbst, die auf diese Dimension aufmerksam machen, indem sie interkulturelle Unterschiede offen thematisieren: Bei Kundera 64 Es ist symptomatisch für einen Teil der Literaturkritik, dass sie, wie etwa Motte: »TV Guide«, S. 530, bei einem Zitat dieser Textstelle den entscheidenden Klammereinschub auslässt und deswegen Toussaints Ästhetik notwendigerweise verfehlen muss. 65 Vgl. zur Frage nach der kulturspezifischen Ausprägung intermedialer Bezüge am Beispiel des Verhältnisses von Literatur und Film in Frankreich, Italien und Deutschland Tschilschke: »Gibt es kulturspezifische Funktionen intermedialer Bezüge?«, in: Naguschewski / Schrader, Film und Literatur, S. 13-33. 51
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ist es der Unterschied zwischen Tschechen, Franzosen und Amerikanern, bei Toussaint vor allem der zwischen den Deutschen – Fernsehen spielt in Berlin – und dem französisch sozialisierten und innerfiktional als »Franzose« apostrophierten Erzähler. Über die allgemeine Relevanz kultureller Besonderheiten hinaus zeigt sich jedoch auch, dass die Beobachtung des Fernsehens in beiden Romanen an eine Auseinandersetzung mit der französischen Literatur- und Schrifttradition geknüpft ist – als identitätsstiftendem lieu de mémoire. Im Fall Kunderas ist das offensichtlich, speist sich doch seine Fernsehkritik ausdrücklich aus dem Bezug auf das französische Zivilisationsideal und die Tradition der Literatur der Aufklärung, denen er zusätzlich mittels seiner Erzählstruktur und seiner analytischen Sprache ein Denkmal setzt.66 Aber auch bei Toussaint ist die ständig mitlaufende, allerdings vom Gestus der fröhlichen Verabschiedung geprägte Auseinandersetzung mit dem Status und der Leistung von Literatur an sich zurückgebunden an die französische Kultur – durch die kulturelle Prägung des Ich-Erzählers, aber auch durch implizite diskursive Bezüge wie die zum Nouveau (Nouveau) Roman.
6 . W a s l i te r ar i s c he F e r n se hb e o b ac h t u n g l e i s t e t Jenseits der Bewertungen, die das Fernsehen vor dem Hintergrund unterschiedlicher ästhetischer Einstellungen in Kunderas La lenteur und Toussaints La télévision erfährt, und auch über ihre kulturspezifischen Gemeinsamkeiten hinaus, bieten beide Romane zusammen eine geeignete Grundlage, um noch einmal auf die zu Beginn aufgeworfene Frage nach der Leistung literarischer Fernsehbeobachtung allgemein zurückzukommen. Zunächst fallen die vielfachen Überschneidungen zwischen den von literarischen und nicht-literarischen (wissenschaftlichen) Diskursen generierten Beobachtungen über das Fernsehen ins Auge. Exemplarisch lässt sich das in Bezug auf soziale Sachverhalte an Kundera und Bourdieu verdeutlichen. So kehrt der Typus des Medienintellektuellen, den Kunde-
66 Guy Scarpetta zieht in diesem Zusammenhang einen überraschenden, aber einleuchtenden Vergleich zwischen Kunderas Roman und Jean Renoirs Film La règle du jeu (1939). Ein Element ihrer Ähnlichkeit sei es, dass sich der an Renoirs Film häufig gerühmte esprit français auch in Kunderas Roman wiederfinde. Guy Scarpetta: »Divertimento à la française«, in: Guy Scarpetta: L’âge d’or du roman, Paris: Grasset 1996, S. 253-270, hier: S. 270. 52
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ra als »Tänzer« beschreibt, bei Bourdieu in Gestalt der »fast-thinkers«67 wieder. Und ebenso wie Kundera beschäftigt sich Bourdieu eingehend mit dem Moralismus des Fernsehens, das mit seiner »›Aktion Sorgenkind‹-Mentalität«68 und »spontaneistischer Demagogie«69 an elementare Instinkte appelliere und dabei »Formen rein sentimentaler und karitativer Mobilisierung«70 auslöse – nichts anderes hatte auf seine Weise auch Kundera gezeigt.71 Wenn wir jedoch nach der genuin literarischen Leistung der Fernsehbeobachtung fragen, gelangen wir schnell zu elementaren Funktionsbestimmungen der Literatur überhaupt. Dazu zählt etwa die Verfremdung und Sichtbarmachung des Alltäglichen, die Entselbstverständlichung des Vertrauten, wie sie Toussaint, wenn auch gleichsam im Modus des Zitats, mit der detaillierten Beschreibung des ausgeschalteten Fernsehgeräts zu Beginn seines Romans beispielhaft vor Augen führt. Auch die ausgeprägte Neigung zur Satire als traditionelles Verfahren mimetischer Medienkritik, wie sie uns bei Kundera begegnet, gehört in diesen Zusammenhang.72 67 Bourdieu: Fernsehen, S. 39. In ihrem Interesse für das Kino gleichen sich Kundera und Toussaint: Kundera war Student und Dozent der Filmwissenschaft in Prag, Toussaint ist als Regisseur seiner eigenen Drehbücher hervorgetreten. 68 Ebd., S. 64. 69 Ebd., S. 67. 70 Ebd., S. 74. 71 Überschneidungen dieser Art verweisen auf ein verwandtes Phänomen: die Beobachtung, dass sich Medienreflexion generell häufig im Modus essayistischer Schreibweisen vollzieht. Vgl. dazu Christoph Ernst: Essayistische Medienreflexion. Die Idee des Essayismus und die Frage nach den Medien, Bielefeld: transcript 2005. Allerdings unterstreicht Wehdeking im Hinblick auf die jüngste Entwicklung in der deutschen Gegenwartsliteratur die Historizität dieses Phänomens, wenn er bemerkt: »Die rasch zunehmende Selbstverständlichkeit im Gebrauch der neuen, digitalen und elektronischen Medien im Alltag löst kaum mehr Medienreflexion, etwa als interpolierte Essayistik, in der unmittelbaren deutschen Gegenwartsliteratur aus, auch wenn deren Allgegenwart im Umfeld der Protagonisten spürbar zunimmt und in der Erzählprosa mimetisch eingesetzt wird«. Wehdeking: Generationenwechsel, S. 8. 72 Allerdings ist auch eine ausführliche Beschreibung des Fernsehgerätes, wie sie Toussaint liefert, kein Privileg der Literatur. Vgl. etwa Vilém Flusser: »Unter den Möbeln eines Wohnraums steht eine Kiste. Sie hat ein fensterähnliches Glas [usw.]«. Vilém Flusser: »Für eine Phänomenologie des Fernsehens« [1974], in: Vilém Flusser: Medienkultur, hrsg. von Stefan Bollmann, Frankfurt am Main: Fischer 1997, S. 103-123, hier: S. 106. 53
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Betrachten wir die Literatur hingegen als ›Interdiskurs‹ (Jürgen Link), dann akzentuieren wir den Umstand, dass sie medienrelevante Sachprobleme in partikularer (am Einzelfall orientierter), konkretisierter, personalisierter, verdichteter und zugleich mehrdeutiger (metaphorischer, symbolischer, allegorischer) Form präsentiert, wofür etwa die ›Voyeurszenen‹ bei Kundera und Toussaint ein hervorragendes Beispiel darstellen. Das soll aber nicht nur heißen, dass Literatur komplexe mediale Sachverhalte in Anschauung zu übersetzen vermag, sondern dass sie es sich umgekehrt auch erlauben kann, alltagsphilosophische Einsichten und theoretisch bzw. argumentativ unterkomplexe Ansichten zum Fernsehen zu vermitteln, ohne damit diskursive Normen zu verletzen. Eine weitere Leistung der Literatur besteht darin, dass sie das Fernsehen aus seinen angestammten Kontexten (der Lebenswelt oder bestimmter Fachdiskurse) herauslöst und in ihre eigenen literarischen Kontexte integriert. Wenn Kundera schildert, wie der Intellektuelle Berck vor Kameras und Mikrofonen Dinge sagt, von denen er Sekunden vorher noch nicht geahnt hat, dass er sie sagen würde, dann greift er damit das Phänomen der außengesteuerten Persönlichkeit auf, das ihn schon seit seinem ersten Roman Der Scherz (1965) beschäftigt, und aktualisiert damit zugleich einen überindividuellen literarischen Problemzusammenhang, wie ihn beispielsweise René Girard in Mensonge romantique et vérité romanesque (1961) für den Roman des 19. Jahrhunderts beschrieben hat. Was für die thematische Ebene gilt, lässt sich auch für die diskursive Ebene zeigen. Das Phänomen, das formal bisher die größte Faszination auf die Literatur ausgeübt hat, ist wahrscheinlich der unaufhörliche Bildund Tonfluss mit seiner Bedeutung nivellierenden Heterogenität, sei sie durch den Programmablauf vorgegeben oder durch Zappen erzeugt. Es überrascht deshalb nicht, dass sich sowohl bei Kundera als auch bei Toussaint entsprechende Nachahmungsversuche finden – und damit Ansätze zu einer genuin ›televisuellen Schreibweise‹. Indem sich die Literatur, die durch Abgeschlossenheit, schriftimmanenten Logos und den Zwang zu Form und Bedeutung gekennzeichnet ist, in dieser Weise vom Unabgeschlossenen, Unsinnigen und Ungeordneten, kurz gesagt, dem Rauschen faszinieren lässt, schließt sie aber zugleich auch an eine lange literarische Tradition an, die von den Fatrasien des Mittelalters über das
Bourdieu hebt hervor, dass hier auch die Soziologie von der Literatur lernen könne (er bezieht sich dabei konkret auf Flaubert): »Darin besteht das Problem des Soziologen: das Gewöhnliche ungewohnt zu machen; es so zu schildern, dass sichtbar wird, wie außergewöhnlich es ist«. Bourdieu: Fernsehen, S. 27. 54
LITERARISCHE FERNSEHBEOBACHTUNG IN FRANKREICH
Interesse an Katalogen und Worthäufungen bis zu den Sprachexperimenten des Dadaismus reicht.73 Je nach Standpunkt, so lässt sich nun knapp resümieren, stellt sich die Leistung der Literatur bei der Beobachtung des Fernsehens unterschiedlich dar: aus ästhetischer Perspektive ist es die Verfremdung des Gewohnten, diskurshistorisch gesehen die Transformation von Wissen und gattungstheoretisch dessen De- und Rekontextualisierung. Gleichwohl bleibt die Frage, welchen Gewinn die Literatur aus der Beobachtung des anderen Mediums zu ziehen vermag. Auch hier bieten sich mehrere Antworten an: Sie erschließt sich neue Darstellungsmöglichkeiten auf allen Ebenen, sie bringt sich als Medium gesellschaftlicher Selbstreflexion ins Spiel – ob ernsthaft wie bei Kundera oder spöttisch wie bei Toussaint –, und sie profitiert nicht zuletzt von der Gelegenheit, ihren eigenen medialen Vorteil als Literatur wirkungsvoll zur Geltung zu bringen – und sei es dadurch, sich mit einem Titel wie La télévision ironisch in ein Wirtsverhältnis zu ihrem allergrößten Konkurrenten zu setzen.
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73 Hierin liegt auch der tiefere Grund, warum Barthes das Fernsehen mit der Dummheit assoziiert und warum Bourdieu gleich zweimal auf Flaubert, den großen Analytiker der bêtise, rekurriert. Bourdieu: Fernsehen, S. 27 u. 39. 55
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A L L E G O R I E N D ES T E L E V I S I V E N BE I A N D R E A DE CARLO UND MAURO COVACICH KATHRIN ACKERMANN
In Italien war das staatliche Fernsehen gegenüber anderen europäischen Ländern lange Zeit im Rückstand.1 Mitte der 70er Jahre kam es jedoch zu einem beispiellosen Aufschwung der privaten Sender,2 welcher den Fernsehkonsum der Italiener auf einen Spitzenrang in Europa ansteigen ließ.3 Die in den 60er und frühen 70er Jahren geborenen Schriftstellerinnen und Schriftsteller waren somit die erste Generation von Autoren, die schon früh von dem immer invasiver werdenen Medium Fernsehen geprägt wurde. Die Bücher, die Autoren wie Aldo Nove, Niccolò Ammaniti, Isabella Santacroce, Tiziano Scarpa u. a. in den 90er Jahren zu publizieren begannen, bekamen rasch Kultstatus und wurden dank einer wirkungsvollen Vermarktungsstrategie unter dem Label letteratura cannibale oder pulp fiction italian style bekannt.4 Mit ihnen fanden in massivem 1 2
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So wurde z. B. das Farbfernsehen erst 1977 eingeführt. In Italien geht der erste landesweit zu empfangene private Kanal 1976 auf Sendung, in Frankreich wird das Privatfernsehen 1982 eingeführt, in Deutschland 1984, in Spanien 1990, in Portugal 1992 und in Österreich 1997. Nach den Eurostat-Daten von 2002 sehen Italiener im Durchschnitt knapp 4 Stunden täglich fern. Richard Deiss: »Der europäische Fernsehmarkt«, in: Statistik kurz gefasst 24 (2002), S. 3; http://www.eds-destatis.de/de/ downloads/sif/np_02_24.pdf . Vgl. Fulvio Panzeri: »Variazioni da un’anticamera postmoderna. Scenari & trend della narrativa italiana tra anni Ottanta e Novanta«, in: Raffaele Cardone u. a. (Hg.)., Altre storie. Inventario della nuova narrativa italiana fra anni ’80 e ’90, Milano: Marcos y Marcos 1996, S.15-52; Filippo La Porta: La nuova narrativa italiana. Travestimenti e stile di fine secolo, Torino: Bollati Boringhieri 1999; Gianni Turchetta: »I cannibali non mordono più«, in: Tirature 2005, Milano: Il Saggiatore / Fondazione Arnoldo e Alberto Mondadori 2005, S. 10-17; Alexandra Hofmeister: »›Dentro la televisione, ci siamo noi‹. Zur Intermedialität der ›letteratura cannibale‹: Fernsehen und Pop-Musik in Aldo Noves Puerto Plata Market«, in: Horizonte 6 (2001), S. 63-91, hier S. 63 f. 61
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Umfang Elemente des Pop, Trash und Splatter Eingang in die Literatur, unter denen das Fernsehen nicht länger ein Fremdkörper war, sondern ein geradezu privilegierter intertextueller Referenzpunkt. Überträgt man Manfred Pfisters Skalierung von Intertextualität5 auf den Umgang der cannibali mit dem Fernsehen, dann kann man ihnen in den Kategorien Referentialität, Kommunikativität, Autoreflexivität, Strukturalität und Selektivität auf Anhieb jeweils eine intensive Intertextualität attestieren: Die Protagonisten sehen ausgiebig fern; die Texte setzen einschlägige Genrekenntnisse beim Leser voraus, sie thematisieren das Fernsehen, ahmen fernsehspezifische Organisationsformen nach und zitieren zum Teil ausführlich aus bestimmten Fernsehprogrammen. In Hinblick auf das Kriterium der Dialogizität (die bei Pfister die semantische oder ideologische Spannung zum Prä-Text meint) ist das Ergebnis hingegen nicht in gleicher Weise evident: Auf den ersten Blick scheint durch die enge Imitation des Televisiven auf allen Ebenen des Textes die Distanz zum Medium völlig aufgehoben zu sein. Dies unterscheidet die ›Kannibalen‹ von anderen Autoren, die sich kritisch mit dem Fernsehen auseinandergesetzt haben, wie z. B. Italo Calvino in der Erzählung »L’ultimo canale« (1984),6 Nico Orengo in Ribes (1988) oder Luca Doninelli in Talk Show (1996).7 Die beiden Autoren, die Gegenstand dieses Beitrags sind, könnte man als prä- bzw. post- (oder para-)›kannibalistisch‹ bezeichnen: Andrea De Carlo, geboren 1952, wird zu den sogenannten »giovani scrittori« der 80er Jahre gezählt8 und gehört nach Pier Vittorio Tondelli zu den am häufigsten genannten Vorbildern der cannibali.9 Der Triestiner Mauro Covacich, Jahrgang 1965, gehörte – obwohl er häufig gemeinsam mit
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Manfred Pfister: »Konzepte der Intertextualität«, in: Ulrich Broich / Manfred Pfister (Hg.), Intertextualität, Tübingen: Niemeyer 1985, S. 1-30. In: Italo Calvino: Prima che tu dica »Pronto«, Milano: Mondadori 1993, S. 294-302. Einen Überblick über die Darstellung des Fernsehens in der italienischen Literatur gibt Paolo Giovannetti: Retorica dei media. Elettrico, elettronico, digitale nella letteratura italiana, Milano: UNICOPLI 2004, S. 139-181. Zur Thematisierung der neuen Medien in der jüngsten italienischen Erzählliteratur siehe Elisabetta Mondello: In principio fu Tondelli. Letteratura, merci, televisione nella narrativa degli anni novanta, Milano: Il Saggiatore 2007, zum Fernsehen bes. S. 123-129. Vgl. Stefano Tani: »La giovane narrativa: emerging Italian novelists in the eighties«, in: Theo D’Haen / Hans Bertens (Hg.), Postmodern Fiction in Europe and the Americas, Amsterdam: Rodopi, S. 161-192. Vgl. Luca Gervasutti: Dannati e sognatori. Guida alla nuova narrativa italiana, Pasian di Prato: Campanotto 1998, S. 44, 55. 62
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den ›Kannibalen‹ genannt wird –, nie dem ›harten Kern‹ der Gruppe an. Beide sind nicht in der von Daniele Brolli herausgegebenen Anthologie Gioventú cannibale (1996) vertreten. Gemeinsam ist ihnen ein Umgang mit dem Televisiven, der sie einerseits von der pseudoaffirmativen Nachahmung der Fernsehästhetik z. B. bei Aldo Nove unterscheidet, sie andererseits aber durch die Ausschließlichkeit, mit der das Fernsehen zur realitätsvermittelnden Instanz wird, zu repräsentativen Vertretern der Literatur im televisiven Zeitalter macht. Ziel des Beitrags ist es herauszuarbeiten, welche Bilder des Fernsehens in den Romanen Macno (1984) von De Carlo und Fiona (2005) von Covacich in Abhängigkeit vom jeweiligen mediengeschichtlichen Kontext entworfen werden. Handlungskern beider Werke ist eine Fernsehsendung, die einen anderen Verlauf nimmt als geplant; beide Male kommt es am Ende zu einem Sprengstoffattentat, wobei jeweils die Titelfigur das anvisierte Opfer ist. Es wird zu zeigen sein, mit welch unterschiedlichen Schreibweisen die Autoren der allgegenwärtigen Präsenz des Fernsehens begegnen; dabei soll eine allegorische Lektüre unternommen werden, die in beiden Fällen durch die Textstrategie nahegelegt wird.
Andrea De Carlo: Macno Andrea De Carlo veröffentlichte seinen Roman Macno 1984, 30 Jahre nach dem Beginn des Fernsehens in Italien, 10 Jahre nach der Einführung des ersten privaten Fernsehsenders, Telemilanocavo, der zwei Jahre später von Silvio Berlusconi aufgekauft wurde, und 10 Jahre bevor Berlusconi italienischer Ministerpräsident wurde – eine Vorstellung, die man 1984 eher für ein Menetekel als eine realistische Möglichkeit gehalten hätte. In Macno zeichnet De Carlo in geradezu prophetischer Manier das Porträt eines dank seiner telegenen Wirkung an die Macht gekommenen Diktators in einem fiktiven Land, hinter dem unschwer Italien zu erkennen ist. Die mehrere Wochen umfassende Handlung spielt zu einem Zeitpunkt, da Macno im Begriff ist, diese Macht zu verlieren, weil es ihm nicht mehr gelingt, seine ursprüngliche Anziehungskraft auf die Massen durch effektvolle Bild-Ton-Montagen zurückzugewinnen. Erzählt wird größtenteils aus der Perspektive der deutschen Journalistin Liza Förster, der es gemeinsam mit einem amerikanischen Kameramann gelungen ist, in den Park von Macnos »Palast« einzudringen. Entgegen ihrer Erwartung lässt der Diktator sie nicht festnehmen, sondern lädt sie als seine Gäste ein. Das von ihm in Aussicht gestellte Exklusivinterview findet jedoch nie statt. Stattdessen beginnt Liza eine flüchtige Liebesbeziehung
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mit dem Diktator. Als sie ahnt, dass sein PR-Berater Ottavio Larici gegen ihn intrigiert, will sie ihn warnen, doch sie kann nicht mehr verhindern, dass Macno einem Bombenanschlag zum Opfer fällt. Nach De Carlos Anfangserfolgen Treno di panna (1981) und Uccelli da gabbia e da voliera (1982) gingen die Kritiker hart mit seinem neuen Roman ins Gericht. Ihm wurden Trivialität und modische Gefälligkeit vorgeworfen, das Fehlen von Tiefgang und persönlichem Engagement. Die Quintessenz der Verrisse war, dass es De Carlo versäumt habe, das Fernsehen zu kritisieren; stattdessen sei er selbst zum Opfer televisiver Verführungsstrategien geworden.10 Immerhin wurde die allegorische Anlage des Romans gelobt, die auf eine banale Entschlüsselung verzichte, es also nicht erlaube, hinter den Figuren des Romans bestimmte Protagonisten der italienischen Politik zu erkennen.11 Diese und andere Reaktionen zeigen, dass Macno, gemäß der in Italien geläufigen Metapher vom ›Palast der Politik‹, vor allem als politischer Roman gelesen wurde. Aus diesem Grund fühlte sich De Carlo veranlasst, der im Jahr 2000 gedruckten Neuauflage des Romans ein Vorwort vorauszuschicken, in dem er betonte: Questa è una storia sul potere della televisione, e la mia idea era di scriverla come se fosse la televisione a raccontarla: con lo stesso genere di illusoria, manipolata neutralità, che dà uguale risalto e valore a qualunque cosa entri o passi nell’inquadratura. [...] Liza e Macno sono la televisione.12
Damit deutet er an, dass der Palast nicht so sehr als Allegorie der politischen Macht zu lesen ist, die sich des Fernsehens bedient, sondern dass 10 Vgl. die Zusammenfassung der Kritik an Macno bei Bernard Huß: »›Non c’è nessuna storia dietro nessuno degli elementi della scena‹. Zu ›postmodernen‹ Mustern im Erzählwerk Andrea De Carlos«, in: Horizonte 5 (2000), S. 79-106, hier S. 79-81. 11 Roberto Carnero: »Dal romanzo ›superficiale‹ al romanzo ›generazionale‹: Andrea De Carlo negli anni Ottanta«, in: Il Ponte 53, 11 (1997), S. 67-90, hier S. 80. Remo Ceserani dagegen bezeichnet die Allegorie von Macno als zu durchsichtig. Remo Ceserani: Il romanzo sui pattini, Ancona: Transeuropa 1990, S. 70. 12 Herv. im Original. Dt.: »Dies ist eine Geschichte über die Macht des Fernsehens, und meine Idee war sie zu schreiben, als würde das Fernsehen sie erzählen: mit derselben illusorischen, manipulierten Neutralität, die allem, was in seinen Bildausschnitt gerät, die gleiche Beachtung und den gleichen Wert verleiht. […] Liza und Macno sind das Fernsehen«. Andrea De Carlo: »Introduzione«, in: Andrea De Carlo, Macno, nuova edizione, Torino: Einaudi 2000, S. IX-X. Alle Seitenangaben zu Macno beziehen sich auf diese Ausgabe (abgekürzt: M). 64
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umgekehrt das Fernsehen selbst eine Macht darstellt, die sich die Politik einverleibt. Das bedeutet, dass sich die Allegorie auf die Gleichung Palast = Fernsehen verschiebt. Der Roman wäre weniger als eine Warnung vor möglichen Gefahren durch das Fernsehen zu lesen denn als Versuch, die Eigentümlichkeiten des Mediums durch allegorische Verfahren narrativ umzusetzen.13 Der Vorrang des medialen gegenüber dem politischen Aspekt zeigt sich u. a. in einer signifikanten Ellipse auf der Ebene der histoire: Wie Macno zum Diktator wurde, bleibt ausgespart. Zwar besteht kein Zweifel, dass Macno nur dank der Übertragung seiner Reden im Fernsehen an der Macht ist (M 90); seine mediale Wirkung in der Öffentlichkeit ist unbestritten, ebenso wie die Tatsache, dass ihm der Machterhalt nur gelingen wird, wenn er weiterhin ein positives Image von sich vermitteln kann. Ob aber der Wechsel von der parlamentarischen Demokratie zur Diktatur auf einen Staatsstreich zurückgeht oder gar Ergebnis einer demokratischen Wahl ist, wird nicht gesagt. Auch scheint das von Macno regierte Land keinen unterdrückten Eindruck zu machen. Es fehlen jegliche Merkmale der negativen Utopie wie Freiheitseinschränkung, Gleichschaltung oder gar Gewalt gegen die Menschen.14 Dass Macno das Fernsehen selbst verkörpert, lässt sich bereits an seinem Namen ablesen, der sowohl als Anspielung auf ein gleichlautendes Marktforschungsinstitut – das erste in Italien, das auf dem Fernsehmarkt tätig war15 – als auch, rückwärts gelesen, als »on cam« gedeutet werden könnte. Die Metaphern für die Charakterisierung seiner Wirkung auf andere Menschen sind vornehmlich dem semantischen Feld der elektrischen Spannung und der Funkübertragung entnommen (M 21, 73). Auffallend häufig werden Personen dargestellt, die durch dicke Glasscheiben schauen. Die in seinem Palast überall angebrachten Monitore, auf denen die am selben Ort produzierten Bilder vervielfältigt werden,
13 Diese Verschiebung des thematischen Schwerpunkts macht auch die Kritik von Joachim Meinert hinfällig, der De Carlo vorwarf, in Macno eine »schöne romantische Seele« dargestellt zu haben, die mit »einfühlsamer Sympathie« gezeichnet sei. Joachim Meinert: »Von Aussteigern und Aufsteigern: Leseeindrücke von drei jungen italienischen Erzählern: Pier Vittorio Tondelli, Andrea De Carlo, Daniele Del Giudice«, in: Weimarer Beiträge 33, 2 (1987), S. 236-255, hier S. 247-249. Nach meiner Lesart ist Macno selbst ein Produkt des televisiven Zeitalters und keineswegs die »Sprachröhre« (sic) des Autors. 14 Aus diesem Grund distanzierte sich De Carlo auch von denjenigen Kritikern, die sich zu dem Fehlschluss verleiten ließen, der Autor habe eine südamerikanische Diktatur darstellen wollen (Macno, S. VIII). 15 http://www.makno.it . 65
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bewirken eine beiläufige, zerstreute, passive Rezeption ohne größere affektive Beteiligung. Lizas Wahrnehmungsperspektive wandelt ihre Umgebung in einen Videofilm um (M 157), den sie vor- oder zurückspulen kann. Charakteristisch für ihre televisiv modellierte Perzeption sind generell die Nivellierung ihrer Empfindungen (M 95 f., 186), die Beliebigkeit (M 101), Flachheit (M 157) und Flüchtigkeit (M 146) ihrer Wahrnehmungen. Die Künstler, die sich an Macnos »Pseudo-Renaissancehof« (M 200) aufhalten, erscheinen schemenhaft und blutleer; sie benehmen sich wie Gäste in einer Talkshow, die darauf warten, die ihnen zugeschriebenen Rollen zu verkörpern.16 Sie haben in Macnos Palast eine andere Bedeutung gewonnen als im ›wirklichen‹ Leben (M 151 f.), ihre Kunst selbst ist unterkühlt und technologisch-abstrakt, ohne unmittelbare sinnliche Wirkung (M 41, 154). Liza tritt fast nur als Zuhörerin in Erscheinung. Anstatt durch das geplante Interview Macnos unbekannte Seiten zum Vorschein zu bringen, ist sie nur Projektionsfläche seines eigenen Selbstbildes (M 195). Fast alle Gespräche in Macno sind einseitig; es gibt so gut wie keine Kontroversen, stattdessen dominiert der Konsens. Liza verkörpert damit sowohl die Journalistin, die sich willig von den Mächtigen hofieren lässt,17 als auch den Konsumenten, der ohnmächtig der Verführungskraft des Fernsehens erliegt. Allegorisiert wird dies durch die Liebesbeziehung, die sie mit Macno eingeht. Dieser verführt sie in einem geheimen unterirdischen Schwimmbecken, dessen zitterndes bläuliches Licht nicht zufällig das eines Fernsehbildschirms evoziert (M 97). Dieser Raum entspricht Macnos Vorstellungen von Ursprünglichkeit, Wahrheit und Authentizität – und ist doch merkwürdig künstlich; seine Ausstattung hat die klinische Eleganz eines Hochglanzeinrichtungsmagazins; die in einem schwerelosen, gleichtemperierten Amalgam von Licht, Luft und Wasser gesprochenen Dialoge erscheinen wie Luftblasen, die an der Oberfläche zerplatzen. Dies bewog die Kritik, einer-
16 M 20. – Die sozialen Rollen, die ein jeder spielt, sind ein zentrales Thema von De Carlos Werk. Vgl. Cornelia Klettke: »A colloquio con Andrea De Carlo«, in: Italienisch 17, 33 (1995), S. 2-23, hier S. 11. 17 Vgl. De Carlo in der »Introduzione«: »Ich wollte, dass Liza wie so viele Fernsehjournalisten ist […]: einschmeichelnd und passiv, gierig, narzisstisch und oberflächlich, ohne kritischen Geist und vollgefrachtet mit gesundem Menschenverstand, konditioniert durch das, was andere wie sie über dieselben Kanäle gesagt und wiederholt haben, bis es wahrer schien als das Wahre« (M IX-X). 66
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seits von einer gefährlichen Nähe zu den romanzi Harmony18 zu sprechen, andererseits aber auch von einer literarischen Umsetzung bekannter Fernsehserien der 80er Jahre wie Dallas oder Dynasty.19 Dieser Rückzugsraum entzieht sich also gerade nicht der Logik des Palastes: Liza [...] si lascia prendere da un’oscillazione che [...] la trascina all’indietro oltre il limite dell’equilibrio, dove […] ricade attraverso strati di sensazioni decrescenti, in un abisso sempre meno profondo, attuito e morbido come la superficie del letto. (M 121)20
Seine vermeintliche Tiefe verwandelt sich vielmehr in eine behagliche Oberfläche, die allein das Bedürfnis nach Komfort bedient. Vor allem aber wird Macnos bisherige Tätigkeit beim Fernsehen thematisiert, die seiner jetzigen Rolle gegenüber gestellt wird. Durch Gespräche mit Macnos ›Hofstaat‹ und die Durchsicht von Archivaufzeichnungen macht sich Liza mit der Zeit ein Bild von den Veränderungen, die er seit Beginn seiner Karriere durchgemacht hat. Ursprünglich Rocksänger, debütierte er im Fernsehen mit der Sendung Collisioni, in der er die Spielregeln des politischen Diskurses brach. Seine nonkonformistischen Live-Interviews lebten von Improvisationstalent, Überraschungseffekten und Spontaneität, wodurch es ihm gelang, die Logik der interviewten Politiker zu unterlaufen. Auch seine Magazinsendungen zeichneten sich durch Direktheit und Authentizität aus. Macno wollte die Realität so zeigen, wie sie ist, ungeschminkt und unbeschönigt – eben das ›wahre Leben‹, indem er beispielsweise seine Heimatstadt, die als dynamische moderne Metropole galt, als industriellen Albtraum darstellte (M 107). Der in einem Käfig nervös hin und hergehende Jaguar, der im Vorspann seiner Sendung zu sehen ist, zeigt den Unruhegeist Macnos, der die Fesseln des alten Fern-
18 Vgl. Ceserani, S. 70. – Die über Kioske und Supermärkte vertriebenen Liebesromane der Reihe »Romanzi Harmony« des Verlags Mondadori sind die bekanntesten romanzi rosa in Italien. 19 Angelo Guglielmi: Trent’anni di intolleranza (mia), Milano: Rizzoli 1995, S. 171. Guglielmi zitiert Macno auch als ersten »romanzo Berlusconi«. 20 Dt.: »Liza […] lässt sich erfassen von dem Beben, das […] sie über die Grenzen des Gleichgewichts hinaushebt, wo sie […] dann zurückfällt durch Schichten nachlassender Erregung, bis der Abgrund an Tiefe verliert und weich und flach wird wie die Oberfläche des Bettes«. Andrea De Carlo: Macno, aus dem Italienischen von Renate Heimbucher-Bengs, Zürich: Diogenes 1989. Alle weiteren Übersetzungen aus Macno folgen dieser Ausgabe. 67
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sehens sprengen will und von einem unbändigen Veränderungswillen beseelt ist. Während diese frühe Epoche von Macnos Fernsehvergangenheit recht ausführlich geschildert wird, erfahren wir nur wenig über die Zeit nach der von ihm selbst eingeleiteten Ära der Direktübertragung, die – so kann man vermuten –, der Ausgangspunkt für seine politische Karriere gewesen sein muss. Macno habe erkannt, so erfährt Liza von Ottavio, dass das Publikum sich im Fernsehen nicht selbst widergespiegelt sehen möchte, sondern dass es sich besser sehen möchte. (M 62) Der Höhepunkt seiner televisiven Wirkung ist die Rede zum ersten Jahrestag der ›Revolution‹. Ihre Wirkung wird von allen, die sie gehört haben, als überwältigend beschrieben, auch Liza selbst kann sich ihrem Eindruck nicht entziehen, als sie die Videoaufzeichnung davon sieht und dabei in Tränen ausbricht. Die emotionalisierende, den Verstand der Zuhörer ausschaltende Wirkung von Macnos Rede wird, in McLuhan’scher Manier, auf den Vorrang des Mediums gegenüber der Botschaft zurückgeführt, wodurch die Materialität des Energieflusses und der Wechsel heller und dunkler Lichtpunkte auf dem Bildschirm ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken: Il significato del suo discorso non è in quello che dice ma in quello che suscita, nei flussi e riflussi incontrollabili di energia, nel gioco fondo di opacità e chiarezza e opacità che fa trattenere il fiato alle migliaia di uomini e donne raccolti nella piazza […].21
Die Eigenschaften dagegen, die Macno heute auszeichnen, sind Distanziertheit (M 117, 161), Unzugänglichkeit (M 105, 180) und Ungeduld (M 14), eine nur noch flüchtige Begeisterungsfähigkeit (M 184) oder sogar Interesselosigkeit (M 180), fehlender Realitätssinn (M 178) bis hin zum Wirklichkeitsverlust. Nun greift er selbst zu den manipulierten Bildern, die er früher vehement abgelehnt hat – ohne sich allerdings Illusionen über deren Wirkung zu machen (M 184). Er hat das Vertrauen in die Macht der elektronischen Bilder längst verloren, weil sie trotz ihres Anspruches, alles zu zeigen, nichts zeigen, und weil sie die Zeit auf das reine Präsens reduzieren:
21 M 165. Dt.: »Der Sinn seiner Rede liegt nicht in dem, was er sagt, sondern in dem, was er auslöst, in den unkontrollierbaren Strömen und Gegenströmen von Energie, im tiefgründigen Spiel von Dunkel und Klarheit und Dunkel, das den Tausenden auf dem Platz versammelten Männern und Frauen den Atem raubt«. 68
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Sono cosí odiosi, i video. Hanno questa memoria implacabile e ottusa, questa incapacità di selezionare gli elementi sullo sfondo. Non riescono ad essere ambigui, non riescono a omettere niente, a dilatare il tempo o a contrarlo. Hanno solo un tempo, che è il tempo, e immagini che sono le immagini. Ti fanno vedere solo quello che ti fanno vedere.22
Macnos Tod ist daher unvermeidlich (M 219).23 Schon früh durch eine selbstzerstörerische Ader ausgezeichnet, stirbt er am Ende durch ein Attentat, für das vermutlich sein Nachfolger Ottavio Larici verantwortlich ist. Larici ist nichts anderes als eine etwas blassere Zweitausgabe von Macno. Wie sein Vorgänger zieht er die Aufmerksamkeit seiner Anhänger auf sich, macht Liza den Hof und führt sie aus dem Palast heraus in die Stadt. Die Menschen nehmen zwar die Nachricht von Macnos Tod erschüttert auf, gehen aber nach kurzer Zeit wieder zur Tagesordnung über. Dass auf den Bildschirmen nun Larici an die Stelle Macnos getreten ist, scheint keinen Unterschied zu machen. Wenn Macno den televisiven Gegenstand verkörpert, insbesondere die Macht und die Anziehungskraft, die von ihm ausgehen, und Liza seine Rezeption, dann repräsentiert der Palast den televisiven Text, was durch die gleichsam elektromagnetischen Schwingungen, in die er versetzt ist, angedeutet wird: Ci sono cicale sugli eucalipti, diffondono una vibrazione insistente nello spazio. […] Le cicale vanno avanti a frinire e frinire sulla stessa frequenza, fanno vibrare impercettibilmente l’intonaco del palazzo.24
Der Palast ist ein abstrakter Raum, der keine Nähe, sondern lediglich Kontiguität zwischen den Gästen herstellt; sie haben untereinander ebenso wenig Beziehungen wie Figuren, die in verschiedenen Fernsehpro22 M 144. Dt.: »Schrecklich, diese Videos mit ihrem gnadenlosen und dumpfen Gedächtnis, mit ihrer Unfähigkeit, auch das Hintergründige sichtbar zu machen. Sie sind unfähig, zweideutig zu sein, etwas wegzulassen, die Zeit zu dehnen oder zu raffen. Sie kennen nur eine Zeit, eben die Zeit, und nur eine Art von Bildern, eben die Bilder. Sie zeigen nur das, was sie dir zeigen«. 23 Vgl. Jørn Moestrup: »L’opera di Andrea De Carlo«, in: Serge Vanvolsem / u. a. (Hg.), I tempi del rinnovamento. Atti del convegno Internazionale Rinnovamento del codice narrativo in Italia dal 1945 al 1992, Bd. 1, Roma/Leuven: Bulzoni/Leuven U. P. 1995, S. 649-659, hier S. 654. 24 M 152. Dt.: »Auf den Eukalyptusbäumen sitzen Zikaden, die durchdringende Schwingungen in den Raum senden. […] Die Zikaden zirpen und zirpen auf der immergleichen Frequenz, lassen die Palastmauern und jeden Grashalm auf dem Rasen unmerklich vibrieren«. 69
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grammen auftreten und nur durch das Zappen des Zuschauers miteinander relationiert werden: Ogni persona o piccolo nucleo di persone sembra non avere in comune con le altre che la presenza nello stesso luogo: come partecipando a una crociera senza altro in comune che la crociera.25
Dieser Raum ist somit im wörtlichsten Sinn ein »contenitore« (Behälter) – so lautet die italienische Bezeichnung für eine mehrstündige Fernsehsendung, die aus verschiedenen, oft sehr heterogenen Programmteilen besteht.26 Der Palast weist außerdem eine topographische Besonderheit auf: Er besteht aus zwei Hälften, einer durch die Fernsehbilder verbreiteten offiziellen und einer privaten, in der sich Macno und seine Gäste aufhalten (M 12). Allerdings merkt Lizas Kameramann schnell, dass ihm der Zutritt zu den interessantesten Räumlichkeiten verwehrt ist (M 156). Es stellt sich daher die Frage, welcher Teil des Palastes nun eigentlich der verborgene ist: der öffentliche oder der private? Wie auf einem Möbiusband ist jeweils die andere Seite unsichtbar. Anders gesagt: Nicht nur bekommen die Zuschauer keinen Einblick in das Innere der Macht, auch das Machtzentrum ist blind für die Welt draußen. Der Palast ist ein hermetisch abgeriegelter Raum, den zu überschreiten immer etwas Subversives hat: »Tutta la vita del palazzo è completamente stagna rispetto alla città, come una colonia sulla luna. Il che se ci pensi è solo un altro modo di rifiutare la realtà«.27 Die Stadt – die Realität außerhalb des Palastes, in die sich Macno nur noch heimlich und verkleidet begeben kann –, wird von Liza schon nach kurzer Zeit als ein weit entfernter Raum empfunden (M 173, 175). Überhaupt ist Distanz eines der hervorstechendsten Merkmale in Macnos Residenz. Akribisch werden immer wieder die genauen Entfernungen zwischen den Figuren angegeben:
25 M 33. Dt.: »All die Einzelpersonen und Grüppchen scheinen nichts anderes gemeinsam zu haben als ihre Anwesenheit am selben Ort: wie Teilnehmer an einer Kreuzfahrt, die außer der Kreuzfahrt nichts verbindet«. 26 Vgl. Omar Calabrese: Vuoto a rendere: il contenitore. Slittamenti progressivi di un modello televisivo, Torino: Nuova ERI 1989. 27 M 196. Dt.: »Das Leben im Palast ist von der Stadt vollkommen abgeschottet, wie eine Kolonie auf dem Mond. Und wenn du dir’s recht überlegst, ist das doch nur eine andere Art und Weise, die Wirklichkeit zu leugnen«. 70
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Quando [Liza] è a quattro metri da Macno (M 21) Si guardano negli occhi a venti centimetri di distanza (M 73) Ci sono tre metri tra di loro (M 186) Macno è a quattro o cinque metri da lei (M 205).28
Nur im Schwimmbecken, im Element des Wassers, kommt es zu einer Annäherung zwischen Liza und Macno, bis hin zur vollkommenen Aufhebung der Entfernung zwischen ihnen (M 99, 101). Es handelt sich aber nur um eine illusionäre, relative Nähe, die dadurch zustande kommt, dass im selben Augenblick die Distanz zwischen dem Wasser und dem Palast anzuwachsen scheint (M 101). Sobald die beiden das Schwimmbad verlassen, kommt es zu einem erneuten Anstieg sowohl des räumlichen als auch des zeitlichen Abstands. Diese geradezu obsessive Akzentuierung der Distanz zwischen den Personen verweist auf die paradoxe Beziehung zwischen dem Fernsehzuschauer und den Menschen auf dem Bildschirm, die zwar räumlich nur wenige Meter oder gar Zentimeter von ihm entfernt sind, die aber dennoch unendlich weit weg sind, da keine Möglichkeit der Interaktion mit ihnen besteht. In der Stadt hingegen dominiert nicht Distanz, sondern Nähe. Charakteristisch dafür ist das Vergnügen, das Liza und Macno empfinden, als sie sich durch das Gedränge an einem Eisstand kämpfen müssen (M 130). Die Stadt zeichnet sich durch ihre dichten sinnlichen Eindrücke aus, durch ihre völlig andere Geräusch- und Geruchskulisse: Aus den Fenstern erklingen Stimmen, Gelächter und das Geklapper von Geschirr, Radiomusik wird durch den Lärm eines vorbeifahrenden Mopeds unterbrochen, der Duft von Tomatensoße mischt sich mit dem Geruch nach verbranntem Öl (M 125 ff.). Hier wird sich Liza bewusst, dass ihr Gespür für Sinneswahrnehmungen während ihrer Zeit im Palast völlig ausgeschaltet war (M 146). Dort kann die Unmittelbarkeit der sinnlichen Perzeption nur noch nostalgisch evoziert werden. In einer mise en abyme, vermittelt über das Medium des Bildes bzw. der Fotografie, artikuliert sich Macnos Sehnsucht nach der Befreiung vom ewigen Präsens des Fernsehens in seinem Wunsch, die zeitliche Dichte außerhalb des Bildschirms zu erleben:29 Ogni tanto mi basta guardare un quadro o una fotografia, e improvvisamente vorrei essere lì dentro ed essere un altro, con un passato che mi permetta di co-
28 Dt.: »Vier Meter vor Macno«; »Sie sehen sich aus zwanzig Zentimeter Entfernung in die Augen«; »es liegen drei Meter zwischen ihnen«; »Und da ist Macno, vier, fünf Meter weiter«. 29 Dies könnte der Grund sein, warum die Uhren in der Stadt völlig unterschiedliche Zeiten anzeigen (M 133). 71
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noscere tutte le sfumature del quadro e di quello che c’è appena oltre la cornice, la densità dell’aria e lo spirito dei piccoli oggetti, i cambiamenti minuti attraverso cui è passato nel tempo ogni singolo elemento del paesaggio.30
Immerhin gibt es noch ein Leben jenseits des Fernsehens, aber es rückt aus dessen Innensicht in weite Ferne. De Carlo denkt in Macno die Konsequenzen einer spezifisch televisiven Machtübernahme durch. Es geht nicht um die Verführung durch die Macht, der jeder erliegt, der mit ihr ausgestattet ist,31 sondern darum, welche dem Medium inhärenten Eigenschaften eine Entwicklung in Gang setzen, die zwangsläufig in den Despotismus führt. Wenngleich Macnos ursprüngliche Forderungen, die er in seiner Zeit als Fernsehjournalist erhoben hat – eine saubere Umwelt, menschenwürdige Wohnungen – durchaus ehrenwert in der Absicht sind, fördert ihre Realisierung – sofortige Schließung umweltverschmutzender Industrien, Abriss ganzer Wohnviertel (M 178) – zutage, dass die schönen, schlichten Utopien der TV-Welt einen hohen Preis haben, weil sie nicht die Rechnung mit der Komplexität des Lebens machen. Der Gedanke an die irreduzible Pluralität des Wirklichen löst in Macno regelrecht Panik aus: E mi veniva in mente […] quante sensazioni diverse e irripetibili moltiplicate per milioni e milioni nello stesso secondo e sparse in modo irrintracciabile nello spazio [c’erano]. E la pura vertiginosa impossibilità di essere mai nemmeno lontanamente adeguato a questo infinito simultaneo mi faceva versare la nostalgia in angoscia pura, come se fossi in piedi davanti a un abisso.32
In dem Maß, wie sein politisches Handeln von der Oberflächlichkeit, Flüchtigkeit, und Unbeständigkeit begleitet ist,33 die das Fernsehen aus30 M 146. Dt.: »Manchmal brauche ich nur ein Bild oder ein Photo anzusehen und möchte plötzlich mittendrin sein, ein anderer sein, mit einer Vergangenheit, auf Grund derer mir alle Feinheiten dieses Bildes und dessen, was gleich außerhalb des Rahmens kommt, vertraut wäre, die Dichte der Luft und das Wesen all der kleinen Dinge, die feinen Veränderungen, die jedes noch so kleine Detail der Landschaft mit der Zeit durchgemacht hat«. 31 Vgl. Moestrup, S. 654. 32 M 147. Dt.: »Und mir fiel ein […] wie viele Millionen und Abermillionen verschiedener und einmaliger, unerreichbar im Raum verstreuter Empfindungen in dieser einen Sekunde [es gab]. Und die absolute, schwindelerregende Unmöglichkeit, dieser unendlichen Simultaneität jemals auch nur im entferntesten gewachsen zu sein, ließ meine Sehnsucht in nackte Angst umschlagen, so als stünde ich vor einem Abgrund«. 33 Darauf verweist auch der Titel eines von einem Leibwächter Macnos geschriebenen Romans, Stati instabili. Dieselbe Aufschrift erblickt Liza am 72
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zeichnen, ist er auf die manipulativen Mittel angewiesen, mit Hilfe derer er seine mediale Wirkung aufrechterhalten kann.
Mauro Covacich: Fiona Als Mauro Covacich über 20 Jahre später seinen Roman Fiona veröffentlichte, hatte sich die Fernsehlandschaft in Italien grundlegend verändert. Hatte De Carlo noch ein Staatsfernsehen und eine manipulative politische Berichterstattung im Visier, bezieht sich Covacich auf eine Erscheinung, die mehr als jedes andere Format die aggressiven Marktstrategien der kommerziellen Sender repräsentiert: die Realityshow.34 Der Ich-Erzähler Sandro ist verantwortlicher Redakteur der Sendung Habitat, bei der nach der bewährten Formel von Big Brother zehn Kandidaten um das ›Überleben‹ im Container wetteifern. Obwohl er als »Autor« der Show bezeichnet wird,35 tritt er kaum als Entscheidungsträger in Erscheinung. Die Ideen stammen vielmehr von seinem Team, das den Verlauf der Sendung steuert. Doch die Kandidaten weichen vom vorgesehenen Skript ab, es kommt zu Oralsex mit einem querschnittsgelähmten Bewohner, was in weiterer Folge Racheakte und Vergewaltigungen im Habitat-Haus nach sich zieht – alles live gesendet. Parallel dazu wird Sandros Privatleben erzählt. Er hat mit seiner Frau Lena, einer kettenrauchenden Byzantinistin, ein Kind aus Haiti adoptiert, die dreijährige Fiona, die allem Anschein nach autistisch ist. Sie kann nicht sprechen, sie verweigert jede Form von Zärtlichkeit, insbesondere gegenüber ihrem Vater, der keinen Zugang zu ihr findet. Anstatt mit seiner Tochter zu reden, zieht er sich in einen endlosen inneren Monolog zurück (F 73). Seine Rettung glaubt er in einer Unbekannten zu finden, die regelmäßig vor dem Kindergarten auftaucht und von der sich später herausstellt, dass sie Fionas erste, ebenfalls gescheiterte Adoptivmutter Maura Ende des Romans auf dem T-Shirt eines jungen Mannes am Flughafen (M 224), der nach Meinung einiger Interpreten Macno selbst sein könnte. Vgl. Helmut Meter: »Liebesroman und Postmoderne in Italien. Das Beispiel De Carlo«, in: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch im Auftrage der Görres-Gesellschaft 38 (1997), S. 205-221, hier S. 211; Huß, S. 98. 34 Dieses Gegenstandes haben sich in den letzten Jahren vor allem der Kriminalroman und der Thriller angenommen, u. a. Giuseppe Pederiali: Camilla e il grande fratello, Milano: Garzanti 2005; Lello Gurrado: Nomination, Fanucci 2006. 35 Mauro Covacich: Fiona, Torino: Einaudi 2005, S. 185. Alle weiteren Seitenzahlen aus Fiona beziehen sich auf diese Ausgabe (abgekürzt: F). 73
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ist. Als Reaktion auf den Terror, als den er Fionas Ablehnung empfindet (F 7, 60, 186), wird Sandro selbst zum Terroristen. In seiner Freizeit bastelt er heimlich an Sprengsätzen, die er in Supermärkten deponiert. Beiden Erzählsträngen wohnt eine latente religiöse Semantik inne: Sandro sieht in Maura eine Verkörperung der liturgischen Formel vom ›Keim des Guten‹ (F 65), auf die Habitat-Kandidaten wartet nach dem Überlebenskampf (F 157) im Container ein zweites Leben in Talkshows und Verkaufssendern (F 153). Ganz spezifisch rekurriert Fiona auf ein mittelalterliches Modell des zweiten Lebens: Dantes Vita nova. Sandros Beatrice ist Maura, die »Platanengöttin«; wie bei Dante erahnt er bei seiner ersten Begegnung ihre Präsenz eher, als dass er sie sieht: »In questo momento entra nel nostro campo visivo una novità assoluta. […] È un’apparizione sprigionatasi dal tappeto di foglie. […] Ci separano pochi metri e un campo di forze invalicabile«.36 Er ist überzeugt, durch sein Verhalten dazu beigetragen zu haben, dass sich Maura wieder zurückzieht. Der zweiten Frau, die Dante als Schutzschild (»schermo«)37 dient, entspricht bei Covacich der »schermo televisivo« (Fernsehbildschirm), der sich als opake Scheibe vor jede unmittelbare Wahrnehmung schiebt. Auch makrostrukturelle Elemente wie die eingefügten Träume und Visionen sowie mikrostrukturelle wie die Herzallegorese (F 44), die Symbolik der Zahl neun38 und die semantische Auslegung von Eigennamen (F 142, 162) sprechen für eine bewusste Kontrafaktur des mittelalterlichen Vorbilds. Die Welt, durch die sich Sandro und Fiona bewegen, ist freilich eine ganz andere als die bei Dante. Symptomatisch sind die allgegenwärtigen Überwachungskameras, die endlose Filme von ihnen aufnehmen, und die glänzenden Oberflächen (F 3, 232), an denen alles abprallt. Zu den anderen Eltern und Kindern hat Sandro keinen Kontakt; er nimmt sie als in sich geschlossene Zylinder wahr: »Ogni coppia genitore-figlio è un cilindro chiuso, implode dentro il proprio spazio vitale«.39 Der Countdown, mit dem er täglich die neun Minuten bis zum Kindergarten herunterzählt, steuert auf den Moment des Abschieds von Fio36 F 7 f. Dt.: »In diesem Moment tritt eine absolute Neuheit in unser Gesichtsfeld. […] Es ist eine Erscheinung, die von dem Blätterteppich aufgestiegen ist. […] Wenige Meter und ein unüberwindliches Kraftfeld trennen uns«. 37 »E mantenente pensai di fare di questa gentile donna schermo de la veritade«. Dante Alighieri: Vita nova, Milano: Rizzoli 1984, V, S. 104. 38 So zählt der Erzähler am Beginn die neun Minuten bis zum gefürchteten Abschied im Kindergarten wie einen Countdown herunter; der geplante Selbstmord findet am 90. Tag von Habitat statt. 39 F 6. Dt.: »Jedes Eltern-Kind-Paar ist ein geschlossener Zylinder, er implodiert in seinem eigenen Lebensraum«. Vgl. F 99, 185. 74
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na zu, erwartet in der panischen Angst, die anderen Eltern könnten Zeugen der Zurückweisung durch seine Tochter werden. Er präfiguriert damit die drohende Explosion am Ende des Romans, als Sandro mit der mit Sprengstoff bepackten Fiona das Habitat-Haus betritt (F 44, 102, 106). Die angekündigte Explosion erweist sich als Resultat eines immer stärker anwachsenden Drucks, der schließlich zu einer Implosion führt – einem Vorgang, der im Alltagswissen mit der Bildröhre eines Fernsehers assoziiert wird. Über die konkrete Bedeutung, die »esplodere« am Ende des Romans hat, hinaus ist das semantische Feld des Explosiven auf allen Ebenen des Textes präsent, sei es konkret wie bei einem Silvesterfeuerwerk, dem Sandro in einer grotesken Familienszene beiwohnt, sei es in figurativer Bedeutung: l’esplosione del pianto di mia madre (F 94) Non voglio che scoppi tutto (F 157) l’energia detonante della dea. (F 83)40
Dahinter verbirgt sich eine latente Gewalt, die Sandros gesamte Wahrnehmung prägt, wie z. B. wenn er Lenas frisch enthaarte Haut als Schlachtfeld beschreibt, auf dem nur noch wenige Überlebende liegen geblieben sind (F 171), oder wenn er das Gefühl hat, dass die Autos auf der Gegenfahrbahn durch seinen Körper hindurch fahren (F 210). Ein expliziter, kausaler Zusammenhang zwischen den vielfältigen Formen erlebter Gewalt und Sandros Aktivitäten als Bombenbastler wird nicht hergestellt, er ist vielmehr symbolischer Natur, wie Mauras früherer Geliebter, der Hippie-Professor Alberto Lentini, in einem Interview erklärt, das er in Sandros Namen gibt (F 195). Dies wird durch die Erzählstrategie unterstützt, die dem Leser lange Zeit vorenthält, dass Sandro und der in externer Fokalisierung dargestellte Supermarktattentäter ein und dieselbe Person sind. Schon vor dem finalen Attentat ›explodiert‹ Sandro mehrmals im übertragenen Sinn, nämlich wenn er sich übergibt. Im körperlichen Symptom des Erbrechens stößt der Körper etwas aus, das einem übergroßen Druck weichen muss. Die Gegenreaktion, um das Erbrechen zu verhindern, ist Sandros ebenfalls obsessives Schlucken, das die Eruption nur aufhalten, aber nicht verhindern kann (F 57). Das Schlucken wiederum steht in einem metonymischen Zusammenhang mit dem Sprechen. So wie Lena ihre Tochter ermahnt, vor dem Sprechen zu schlucken (F 80) – um zu verschleiern, dass Fiona nur unartikulierte Laute hervor40 Dt.: »Der Tränenausbruch meiner Mutter«; »ich will nicht, dass alles explodiert«; »die explosive Energie der Göttin«. 75
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bringen kann –, tritt auch bei Sandro das Schlucken an die Stelle des Sprechens bzw. Denkens.41 »Schlucken« hat aber auch eine übertragene Bedeutung, nämlich »etwas schlucken« im Sinne von »eine schlechte Nachricht aufnehmen« oder »etwas in sich hineinfressen«. Letzteres trifft vor allem auf Fiona zu, von der Sandro sagt, sie sei ein Kind, das wie Zauberer, die Zeitungen verschlucken, unvorstellbare Mengen von Schmerz in ihrem Spinnenkörper zurückhält (F 106). Wenn die Showmasterin des fiktiven sonntäglichen Unterhaltungsprogramms Domeniquà der soeben aus dem Habitat-Haus ausgeschiedenen Bettina ankündigt, eine Überraschung für sie zu haben, die schwer zu schlucken sei (F 138), dann kokettiert sie damit gleichzeitig mit der implizierten konkreten Bedeutung des hinuntergeschluckten Spermas, dank dessen Fabrizia ihre Konkurrentin schlagen konnte. Des weiteren werden immer wieder Situationen des Verschlungen-Werdens evoziert. So stellt sich Sandro vor, von einer Autowaschanlage verschlungen zu werden (F 112) oder von Lenas Vulva (F 172). Und schließlich werden auch die Medien als ein gefräßiger Moloch dargestellt, der sich alles einverleibt (F 98). Die Implosion entspricht also auf der Ebene der körperlichen Symptomatik dem permanenten Schlucken, das irgendwann zum Erbrechen führt, und auf gesellschaftlicher Ebene dem Verschlungenwerden durch die Medien, welches den Wunsch nach einer alles vernichtenden Explosion hervorruft. Ein weiteres Symptom von Sandros Panikattacken sind kalte Schweißausbrüche. In beiden Fällen produziert der Körper Flüssigkeiten: Speichel und Schweiß. Diese und andere Ausscheidungsprodukte des menschlichen Körpers bilden letztlich die Bestandteile des Plastiksprengstoffs, den Sandro an den Wochenenden in einer leerstehenden Baracke in der Nähe von Pordenone herstellt. Die dafür benötigten Chemikalien besorgt er sich aus pharmazeutischen Produkten oder Haushaltsgeräten, aber auch aus Substanzen, die vom menschlichen Körper produziert werden oder mit ihm in metonymischer Verbindung stehen. Seine Bombe wird so zu einem Konzentrat körperlicher Absonderungen, welches die Explosion zu einem Reinigungsprozess macht. Beispielsweise verwendet er eingekochten Urin, um Harnstoffnitrat zu gewinnen (F 62), Salpeter, der auch für Halspastillen verwendet wird (F 27) und sich in den Ausblühungen alter Mauern findet (F 29) sowie Purpurin, das ihn an die Farbe von Mauras Haar erinnert (F 62). Die für Kaliumchlorat benötigten Streichholzköpfe rufen die formelhaft verwendete Bezeichnung für Fio41 F 85 f. Übelkeit tritt bei Sandro auch regelmäßig dann auf, wenn er den Habitat-Bewohnern, getrennt nur noch durch eine Scheibe, gegenübersteht (F 27). 76
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nas Mantel42 auf; ein von zwei Habitat-Kandidatinnen verwendetes glyzerinhaltiges Abführmittel löst die Assoziation an Nitroglyzerin aus (F 13), die Wachstreifen, mit denen sich Maura und Lena die Beine enthaaren, erinnern an das Paraffinwachs, das den Zünder schützen soll (F 171). Die damit verbundene Körpermetaphorik gilt für die gesamte Produktionsstätte der Realityshow, die wie ein Organismus dargestellt wird: »l’ufficio creativi non ha bisogno di aria, non ha bisogno di alberi, funziona a palpebre chiuse, le pupille rivolte all’interno, nel ventre convulso di Habitat«.43 So kommt es zu dem paradoxen Befund, dass die artifizielle, virtuelle Welt des Fernsehsenders dem Bereich des Körpers zugeordnet wird, die Welt der Natur dagegen – oder besser gesagt, das, was von ihr übrig geblieben ist, die aus typischen Nicht-Orten bestehende Landschaft zwischen Mailand und Pordenone44 – einem digitalen Raum. Covacichs Landschaften erscheinen wie von einem Computer generiert: Sembra che qualcuno abbia piegato la pianura con una tenaglia. Le pareti di roccia sono lí a cinque chilometri. Con un crepuscolo cosí cianotico, gelano il sangue. Dagli Appennini fino ad Aviano, tutto piatto, passato nella pressa. Da Aviano, un colpo di tenaglia e la terra si solleva, si piega di novanta gradi.45
Zwar verweisen »tenaglia« (Zange) und »pressa« (Presse) noch auf eine durch Werkzeuge hergestellte Fertigung, die Kälte und scheinbare Widernatürlichkeit der Modellierung lässt aber eher an digital erzeugte Landschaften denken. Die fluoreszierenden Lichteffekte evozieren Fernsehbildschirme (F 142); es dominiert die Farbe Schwarz (F 61), die zu-
42 »capottino da piccola fiammiferaia« (Mäntelchen einer kleinen Streichholzverkäuferin) (F 207, 233). 43 F 237. Dt.: »Das Kreativbüro braucht keine Luft, es braucht keine Bäume, es funktioniert mit geschlossenen Lidern, die Pupillen nach innen gewendet, in den konvulsischen Bauch von Habitat«. – Umso evidenter ist daher der Zusammenhang mit dem Erbrechen. 44 Vgl. Marc Augé: Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit, 2. Aufl. Aus d. Franz. von Michael Bischoff, Frankfurt am Main: S. Fischer 1994 [Non-lieux, 1992]. 45 F 33. Dt.: »Es scheint, als habe jemand die Ebene mit einer Zange verbogen. Die Felswände sind fünf Kilometer entfernt. In einer so zyanfarbenen Abenddämmerung bringen sie das Blut zum Gefrieren. Von den Apenninen bis nach Aviano alles platt, zusammengepresst. Ab Aviano, ein Griff mit der Zange, und die Erde erhebt sich, biegt sich um neunzig Grad«. 77
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sammen mit Zyan, Magenta46 und Gelb47 die in Tintenstrahldruckern verwendeten Grundfarben bildet. In dieser künstlichen, durch Straßen, Kanäle und eine industrialisierte Landwirtschaft geometrisierten Landschaft (F 138) bewegen sich die Menschen wie Datenströme (F 100), wie beliebig austauschbare Informationsträger. Diese Vorstellung entspricht den Theorien Albertos, eines Vertreters postmoderner Beliebigkeit, der nicht nur kurzerhand erklärt: »Siamo tutti intercambiabili«,48 sondern dies gerne auch in der Praxis erprobt, indem er sich für jemand ausgibt, der von einer unbekannten Person am Flughafen abgeholt werden soll (F 147) oder an Sandros Stelle ein Interview mit der Zeitschrift Avvenimenti führt. Anders als für Alberto ist für Sandro das Aufgehen im Nichts des Datenflusses nicht ein spielerisches Ausprobieren verschiedener Identitäten, sondern ein Hineingezwängtwerden in Rollen, die er nicht miteinander in Einklang bringen kann und die ihn zu dem Wunsch führen, nicht er selbst zu sein, nicht lebendig zu sein, niemals geboren worden zu sein (F 39, 95, 140, 151, 181). Er fühlt sich gespalten zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen der Zeit, in der er als Student mit Lena zusammen die Talking Heads hörte und noch nicht den Spitznamen Top Banana trug (F 58), ebenso wie zwischen seiner Rolle beim Fernsehen und der als Familienvater. Seine je nach Umfeld wechselnden Namen stehen für unterschiedliche Identitäten, deren Zusammenhalt für ihn nur noch um den Preis des Selbstverlustes möglich ist: Per un attimo immagino l’uomo che risponde alle interviste col mio nome49 [Top Banana], l’uomo che vedo ogni mattina nello specchio del bagno, immagino lui, il padre di Fiona [Sandro], transitare in quel piccolo monitor di sicurezza con una borsa di nylon colma di vasetti tintinnanti [Minemaker].50
46 »Magenta« ist der Name einer Bar, in der sich Sandro nach übermäßigem Alkoholkonsum übergibt (F 109). 47 Die Farbe Gelb wird vor allem mit Lenas vom Nikotin und Fionas von abgekratztem Rost gelb gefärbten Fingern assoziiert (F 201). 48 F 149. Dt.: »Wir sind alle austauschbar«. 49 In einem weiteren Interview antwortet tatsächlich ein Fremder – Alberto – in Sandros Namen auf die Fragen des Journalisten (F 194 f.). 50 F 87. Dt.: »Einen Augenblick lang stelle ich mir den Mann vor, der unter meinem Namen Interviews gibt [Top Banana], den Mann, den ich jeden Morgen im Badezimmerspiegel sehe, ich stelle ihn mir vor, den Vater von Fiona [Sandro], wie er mit einer Nylontasche voller scheppernder Gefäße an dem kleinen Überwachungsmonitor vorbeigeht [Minemaker]«. 78
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In welch hohem Maß die Rollen, die jeder einzelne spielt, vom Fernsehen vorgegeben sind, zeigt sich in der Art und Weise, wie die HabitatKandidaten auf Anregung des Teams ihre Auftritte an populären Filmen orientieren (z. B. wenn Riccardo Tom Cruise in Magnolia imitiert, um seine Erzählung vom Tod seines Vaters effektvoll zu inszenieren),51 oder in den vielen kleinen von Fernsehfilmen abgeschauten Gesten, die den Habitus von Sandros Kreativteam prägen, wie beispielsweise die Angewohnheit, die Kaffeetasse mit zwei Händen zu halten (F 123) oder mit den Fingern Anführungszeichen in die Luft zu malen wie in amerikanischen Shows (F 141). Was sich vor und was sich hinter dem Bildschirm abspielt, ist nicht mehr zu unterscheiden. Wenn etwa Sandro den als mumienartig beschriebenen Körper seiner Frau (F 25) oral befriedigt, dann gleicht er der Habitat-Kandidatin Fabrizia, die ihren Kopf über die gelähmten Beine Renzos beugt. Auch das Zeiterleben wird vom Fernsehen vorgegeben. Sandro lebt so, als müsse er jeden Augenblick auf Sendung gehen. Festgelegte Zeitintervalle bis zum Auftritt bestimmen seinen täglichen Gang zum Kindergarten, das jährliche Silversterfeuerwerk (für das im letzten Moment hektisch nach der Videokamera gesucht wird) und den finalen Countdown bis zur Explosion der Bombe (F 112 f.). Es ist eine unerbittliche, mechanische, eingeteilte Zeit, die Sandro so sehr verinnerlicht hat, dass sie seine Gedanken ständig begleitet, wie die Zeiteinblendungen auf einer Videoaufnahme (»Erano le 14,23. Poi sono venute le 14,38. Poi le 14,41«).52 Nur in seiner Baracke gelingt es ihm, die Zeit zu vergessen (F 139, 141). Die ständige Mimikry bewirkt, dass es im Zeitalter der allgegenwärtigen Überwachungskameras, in dem jeder täglich übertragen wird, kein Entrinnen vor den vorgeprägten Rollen gibt. Selbst in seiner Baracke in Pordenone, wo Sandro scheinbar unbeobachtet an seinen Bomben bastelt, ahmt er – so suggeriert die Textstrategie – immer noch jemanden nach – nämlich jenen unbekannten Attentäter, auf dessen Konto seit 1993 über 30 Sprengstoffanschläge im Nordosten Italiens, darunter mehrere in Pordenone, gingen und der in den Medien, in Anlehnung an den Brief-
51 Sandros Schwiegervater, ein pensionierter General, ahmt den Reporter aus Kubricks Full Metal Jacket nach (F 164), seine Mutter den Showmaster aus Domeniquà (F 44). 52 F 150. Dt.: »Es war 14.23 Uhr. Dann wurde es 14.38 Uhr. Dann 14.41 Uhr«. 79
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bombenattentäter Theodore Kaczynski,53 unter dem Namen »Unabomber« bekannt wurde.54 Der Einfluss des Fernsehens geht aber über die inhaltliche Ebene hinaus. Die Erzählstruktur des Romans ist die Umsetzung eines split screens im Modus der Schrift. Der Bildschirm, auf dem die Abonnenten das Geschehen im Container verfolgen können, ist viergeteilt: Den größten Teil der Bildfläche nimmt das Hauptgeschehen ein; darunter befinden sich drei kleinere Ausschnitte, in welchen ohne Ton die Nebenschauplätze gezeigt werden. Analog dazu besteht der größte Teil von Fiona aus Sandros innerem Monolog. Jeweils vier der insgesamt 48 Abschnitte des Buches, die als Überschrift das jeweilige Datum und die Zählung der Habitat-Tage tragen, bestehen aus Telefongesprächen zwischen Alberto und einer Mitarbeiterin der Adoptionsbehörde (Kap.55 2, 9, 28, 46), aus Beschreibungen der Videoaufzeichnungen aus den Supermärkten, in denen Sandro seine Sprengsätze deponiert hat (Kap. 4, 12, 21, 35), und aus seinen schon erwähnten Träumen (Kap. 7, 19, 25, 33). Dem fehlenden Ton entsprechen in diesen Abschnitten andere Formen der Unvollständigkeit: Bei den im dramatischen Modus wiedergegebenen Telefongesprächen fehlt der situative Rahmen – nur Kenner des Vorgängerromans A perdifiato,56 in dem die Geschichte von Fionas erster Adoptivmutter Maura und ihrem Geliebten Alberto erzählt wird, können auf Anhieb erschließen, worum es in diesen Telefonaten geht –, bei den Videobändern fehlt das wahrnehmende Subjekt – man weiß nicht, wer diese Bänder anschaut, vorspult, wieder stoppt oder Bild für Bild ablaufen lässt –, die Traumpassagen schließlich entbehren jeglicher rationalen raum-zeitlichen Koordinaten. Das Fernsehen selbst erscheint in den zahlreichen Bildern der Sendung Habitat, welche die typische Konturlosigkeit, Flachheit, Schmie-
53 Wie der Mathematiker Kaczynski versucht sich Sandro an Zahlen, mathematischen und physikalischen Prozessen festzuhalten (F 113, 163, 210, 216). 54 Vgl. Marco Bariletti: Unabomber. Storia in venti bombe del criminale che terrorizza il Nord-Est, Roma: Nutrimenti 2003. – In dem Vortrag »Poetica dell’Umabomber« (1999) erklärt Covacich, sich in dem soziopsychologischen Profil des Unabombers wiedererkannt zu haben; seine Bomben seien seine Bücher, mit denen er die Leser bewusst verletzen wolle, um ihnen den Wahnsinn einer Welt zu zeigen, in der alles austauschbar und daher beliebig sei. Mauro Covacich: La poetica dell’Unabomber, Ancona/Milano: Editori Associati 1999, S. 122-127. 55 Zur besseren Orientierung habe ich die Abschnitte des Romans in Kapitel durchnummeriert. 56 Mauro Covacich: A perdifiato, Milano: Mondadori 2003. 80
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rigkeit und Lumineszenz des elektronischen Bildschirmes aufweisen (F 95,187, 202). Die Verwendung filmtechnischen Vokabulars ist für Sandro zur Gewohnheit geworden: Zeitraffer (F 81), Großaufnahme (F 169), Einstellungsgrößen (F 208), Überblendungen (F 222) oder Sequenzen (F 68) sind für ihn Modi der Wirklichkeitswahrnehmung geworden. Ein fahrendes Auto nimmt er nicht als einen sich durch den Raum bewegenden Körper wahr, sondern als einen ruhenden, unter dem die Straße wie ein Laufband rollt – so wie ein fahrendes Auto auf einer Leinwand oder einem Bildschirm arretiert wird, während sich die Landschaft dahinter bewegt (F 66). Die Plötzlichkeit der Einblendungen von Licht und Geräuschen evoziert den Stil moderner Fernsehfilme: Quando tiro su le tapparelle, gli oggetti mi si scagliano addosso tutti in una volta. È come se la luce li avesse sganciati da invisibili catapulte. (F 232) Solo adesso, al telefono, mi accorgo del rumore della strada. È come se fosse esploso per colpa mia. (F 8)57
Ähnliches gilt für die Einblicke in das Innere des menschlichen Körpers, wie sie in heutigen Arztserien oder Dokumentarfilmen gezeigt werden (F 21). Vergleiche und Metaphern aus dem Bereich des Fernsehens sind überaus häufig: Regenrinnen blitzen wie Geschirr in einem Werbespot (F 85); Mauras Haar gleicht einem Kometen orangefarbener Pixel (F 184); die am Schwimmbadrand sitzenden Hausbewohner sehen aus wie Nebendarsteller in einem Pornofilm (F 15); der Kindergarten hat eine »Teletubby-Wiese« (F 6). Die Fernsehwelt ist längst in die Realität eingedrungen, so sehr, dass sie nicht mehr von ihr unterscheidbar ist: Ogni mattina Fiona viene colta nell’attimo in cui si riconosce parte di un mondo che lei segue al pomeriggio […] un mondo di pupazzi animati dove per pochi istanti – adesso – entriamo anche noi due, sgranati, saturi, un po’ schiacciati, ma decisamente identici a Fiona e papà […]. Siamo Mucca e Pollo. Siamo Johnny Bravo. Siamo Timon e Pumbaa. Siamo Ed Edd & Eddy.58
57 Dt.: »Als ich die Rollläden hochziehe, werfen sich alle Gegenstände auf einmal auf mich. Es ist, wie wenn das Licht sie aus unsichtbaren Katapulten geschleudert hätte«. »Erst jetzt, am Telefon, bemerke ich den Lärm der Straße. Es ist wie wenn er durch meine Schuld explodiert wäre«. 58 F 5. Dt.: »Jeden Morgen wird Fiona in dem Moment erfasst, in dem sie sich als Teil einer Welt erkennt, die sie nachmittags anschaut […] eine Welt aus animierten Figuren, in die in wenigen Augenblicken – jetzt – auch wir beide eintreten, körnig, gesättigt, etwas zusammengequetscht, aber eindeutig identisch mit Fiona und Papa […]. Wir sind Muh-Kuh und Chickie. 81
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Die Existenz als Zeichentrickfigur scheint sogar die einzige Möglichkeit zu sein, die Pseudowirklichkeit des Container-Lebens, die doch das wirkliche Leben abzubilden beansprucht, zu ertragen. Im Kreislauf der medialen Bilder ist kein Ursprung mehr auszumachen; die Blickrichtung kann sich daher umkehren, so etwa wenn sich Sandro von den Habitat-Bewohnern auf dem Bildschirm beobachtet fühlt (F 23), oder wenn in einem seiner Träume die Scheibe, die den Container abschirmt, nicht mehr von innen nach außen undurchlässig ist, sondern von außen nach innen. Die Trennung von Innen und Außen, von Privatem und Öffentlichem ist aufgehoben, z. B. wenn sich Alberto und Maura näher kommen, als sie beide wegen Sicherheitsmaßnahmen im Flugverkehr ihre Koffer auspacken müssen, so dass die intimsten Gegenstände sichtbar werden und das Innerste im wörtlichen Sinne nach außen gekehrt wird.59 Die leitmotivartige Betonung des Unterschieds zwischen »innen« und »außen« macht deutlich, dass Sandro diese Unterscheidung zu entgleiten droht: Io e Lena siamo fuori, penso. Sta succedendo qui fuori. Intanto dentro la tv – lì dentro, penso - una sagoma in sottoveste solca la lanugine fluorescente degli infrarossi. (F 24) (Herv. im Original) Fuori, seduti verso lo schermo, ci siamo io e i miei ragazzi. Dentro, seduti verso lo specchio del soggiorno, ci sono i cinque inquilini di Habitat. (F 177)60
In Sandros Traum kehrt sich dieses Verhältnis um: Nun sitzen er und Fiona im Habitat-Haus und schauen durch eine Scheibe nach draußen, in die künstliche Landschaft von Milano Due, wo Maura wie ein Filmstar interviewt wird (F 166 f.). Die Aufhebung der Trennung zwischen der Welt vor und der hinter dem Bildschirm wird aber vor allem durch die Figur Fionas allegorisch
Wir sind Johnny Bravo. Wir sind Timon und Pumbaa. Wir sind Ed Edd & Eddy«. 59 Dies spiegelt sich auch in der Architektur wider. Die Fassaden der Häuser sehen aus wie deren Rückseiten; die außen angebrachten Satellitenschüsseln entsprechen den Fernsehgeräten im Inneren; Menschen wie Apparate sind gleichermaßen oberflächenversiegelt (F 195 f.). 60 Dt.: »Ich und Lena sind draußen, denke ich. Es geschieht hier draußen. Gleichzeitig bahnt sich im Fernsehen – dort drinnen, denke ich – ein Umriss durch den fluoreszierenden Flaum des Infrarotlichts«. »Draußen, vor dem Bildschirm, sitzen wir und meine Leute. Drinnen, vor dem Spiegel im Wohnzimmer, sitzen die fünf Habitat-Bewohner«. 82
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vermittelt. Wenn sie, vollkommen von den Bildern gefangen,61 ihre Zeichentrickfilme anschaut, dann erscheint sie selbst wie eine Zeichentrickfigur (F 208), die anderen Zeichentrickfiguren zusieht.62 In einer mise en abyme verfolgt sie eine Sendung, in der ihre Lieblingsfiguren Mucca und Pollo63 ihrerseits eine Sendung anschauen, in denen ein ›Realweltkoch‹ ein echtes Hähnchen am Spieß brät (F198). Den hypnotisierten, tranceartigen Blick auf die Mattscheibe (F 132, 198, 236), ein Hinschauen, ohne zu sehen (F 43), hat Fiona mit den mittelalterlichen byzantinischen Mönchen gemeinsam, die das Fachgebiet ihrer Adoptivmutter sind. Lena ist Spezialistin für den Hesychasmus, jene in der mystischen Tradition der Ostkirche verbreitete Gebetspraxis, bei der die Mönche durch bestimmte Atemtechniken, Körperpositionen wie die Nabelschau, repetierende Gebetsformeln u. a. den inneren Frieden mit Gott suchten.64 Sandro erscheint seine Tochter wie eine kleine hesychastische Häretikerin (F 230). Dafür sprechen ihre Stummheit, ihr Asketismus – sie ernährt sich von Reis, abgekratztem Rost und Lenas Fußnägeln –, ihr Autismus, der sie wie ein in einem Brunnen eingemauertes Wesen erscheinen lässt, und ihr rhythmisch-monotones Hauchen gegen die Fensterscheibe, das an die rituellen Gebete der Hesychasten erinnert (F 91). Auch andere Figuren des Romans werden mit dem Hesychasmus in Verbindung gebracht: Bettina sieht aus wie eine »byzantinische Ikone« (F 138); Fabrizia praktiziert die Nabelschau (F 180); Renzo, dessen Kapuze die eines Mönches evoziert, wird in einer ähnlichen Position dargestellt (F 202); Maura wird explizit als »eine Art Eremit, ein hesychastischer Anachoret« (F 214) bezeichnet. Der Hesychasmus als eine Form der Meditation, die versucht, die sinnliche Wahrnehmung und das Denken auszuschalten, um unmittelba-
61 F 197 f. Auch wenn sie nicht fernsieht, klebt sie häufig an einer Fensterscheibe, die für sie, in Analogie zu den bekannten Metapher vom Fernsehen, zum ›Fenster zur Welt‹ wird (F 42). 62 Auch wenn Fiona als Katze (F 21), Eichhörnchen (F 60), Welpe (F 62) oder Schildkröte (F 167) beschrieben wird, erscheint sie stets als ein Wesen, das einer fremden Welt angehört. 63 Die amerikanische Zeichentrickserie Cow and Cicken (1995-1999) lief im deutschen Fernsehen unter dem Titel Muh-Kuh und Chickie. 64 Dies erklärt auch, warum die intellektuelle »cerebromadre« (F 142) (Gehirnmutter) Lena im Gegensatz zu Sandro Zugang zu ihrer Adoptivtochter findet (F 170). Beide haben Körper, die mit denen von Spinnen verglichen werden (F 8, 97), ihre Augen erscheinen wie undurchsichtige Spiegel (F 78), Fionas Finger sind vom Rostabkratzen fast schon genauso gelb wie Lenas Finger vom Rauchen; sie weisen einen ›byzantinischen Stil‹ auf (F 201). 83
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ren Zugang zu Gott zu bekommen (F 228), versinnbildlicht damit die narkotisierende, die Sinne abstumpfende Wirkung des Fernsehens – mit dem Unterschied freilich, dass hier nur das Denken ausgeschaltet wird, ohne dass es einen Gottesbezug gibt. In dem Maße, wie die Abtötung der Sinne unempfänglich für die Wahrnehmung der Umwelt macht, wird der Fernsehzuschauer blind für die Wirklichkeit. Daher wird Sandro von niemandem in den millionenfach ausgestrahlten Bildern des Supermarktattentäters wiedererkannt, obwohl er sich mehrmals als der gesuchte »Minemaker« zu erkennen gibt. »Io sono l’autore di tutto questo. Vi ho mostrato tutto, ma voi non avete visto niente«. (F 239) (»Ich bin der Autor all dessen. Ich habe euch alles gezeigt, aber ihr habt nichts gesehen«.) – dies ist die Botschaft, die er vor seinem Selbstmord mitteilen möchte, die aber wie so viele andere Sätze unausgesprochen bleibt. Erst die Stimme Mauras, der einzigen, die Sandros Selbstdenunzierung ernst nimmt, hebt die Blockierung auf. Ihre Worte bringen die Scheibe des ›Aquariums‹ (wie die Mitarbeiter des Senders das HabitatHaus nennen) zum Bersten (F 241) und führen gleichzeitig zu einem letzten Ausströmen von Flüssigkeit. Ob es tatsächlich zur Explosion kommt, bleibt offen. Vieles spricht dafür, dass auch das Zerspringen der Scheibe nur ein weiteres Element der Isotopie von Körper und Container ist,65 welche die Grundlage der allegorischen Anlage des Romans ist. Es ist vielleicht kein Zufall, dass sowohl Macno als auch Fiona auf klassische Texte der italienischen Literatur rekurrieren, in denen die Allegorie eine konstitutive Bedeutungsebene darstellt: Fiona auf Dantes Vita nova, Macno, wenn auch nur vage, auf Ariosts Orlando furioso Macnos Palast, in dem sich die Figuren ständig suchen und wieder verlieren, evoziert den Palast der Alcina (in dem Liza jegliche kritische Distanz verliert und sich prompt in Macno verliebt), zumal die sich dort aufhaltenden Personen mit auffallender Häufigkeit Namen von Bäumen oder Pflanzen tragen (Ottavio Larici, Palmario Gavin Llascas, Melissa (!), Gloria Hedges, Rainer Blume, Liza Förster) und somit an die in
65 Symptomatisch dafür ist, dass die Menschen, die Sandro in einer Antizipation des Moments nach der Explosion auf sich zukommen sieht, gleichsam mit nach außen gestülpten Körpern dargestellt werden: »Una folla di habitanti […] con i loro tunnel carpiali, i loro riflussi esofagei, le loro coliti spastiche, il loro immenso sovraccarico di energia autocombusta« (F 242; Herv. im Original). Dt.: »Eine Menge von Bewohnern […] mit ihren Karpaltunneln, ihrem Sodbrennen, ihren Magenschleimhautentzündungen, ihrer riesigen Überlast selbstentzündlicher Energie«. 84
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Pflanzen verwandelten Ritter bei Ariost denken lassen.66 Unabhängig davon wird Macnos Beschäftigung mit Botanik allegorisch für seinen Umgang mit Menschen und Dingen funktionalisiert. Sowohl die unterkühlte Prosa De Carlos als auch der neurotische innere Monolog bei Covacich stellen unterschiedliche televisive Schreibweisen dar, die man als paradigmatisch bezeichnen könnte. Volker Roloff hat auf die in der Fernsehtheorie zu findende Polarität zwischen Dramatisierung und Entdramatisierung aufmerksam gemacht: Während das Fernsehen auf der einen Seite dämonisiert und fetischiert werde, betone man auf der anderen Seite die Unverbindlichkeit, Indifferenz und Kontingenz des flow.67 Dieselbe Polarität kann man auf dem Gebiet des literarischen Sprechens über das Fernsehen finden. In Macno erscheint das Fernsehen überwiegend entdramatisierend als eine Welt der Indifferenz, Kontingenz, Belanglosigkeit und Austauschbarkeit, in Fiona hingegen wird das Fernsehen dramatisiert als eine Welt des Spektakels, der permanenten Provokation und Grenzüberschreitung. In dem früheren Werk ist die Grenze zwischen der Welt vor und hinter dem Bildschirm, zwischen dem Außen und dem Innen noch klar gezogen, in dem späteren hingegen ist diese Trennung aufgehoben. Es bestätigt sich damit die Tendenz zu einer Annäherung, Vermischung und gegenseitigen Durchdringung »einer medialisierten und alltäglichen Theatralität«, welche »die Maßstäbe der Differenzierung von Realität und Imagination, von Authentizität und Inszenierung, von Alltags- und Fernsehwirklichkeit«68 immer mehr zum Verschwinden bringt.
L i t e r at u r Augé, Marc: Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit, 2. Aufl., aus d. Franz. von Michael Bischoff, Frankfurt am Main: S. Fischer 1994 [Non-lieux, 1992]. Bariletti, Marco: Unabomber. Storia in venti bombe del criminale che terrorizza il Nord-Est, Roma: Nutrimenti 2003. Calabrese, Omar: Vuoto a rendere: il contenitore. Slittamenti progressivi di un modello televisivo, Torino: Nuova ERI 1989. 66 Einer der engsten Vertrauten Macnos ist Gärtner; Macno hat die Pflanzen im Park des Palastes selbst ausgewählt und sich um die möglichst telegene Anlage eines Parks in der Stadt gekümmert. 67 Volker Roloff: »Probleme der Fernsehästhetik. Zur Intermedialität und Theatralität des Fernsehens«, in: Peter Gendolla u. a. (Hg.), Bildschirm – Medien – Theorien, Paderborn: Fink 2002, S. 45-62, hier, S. 56. 68 Ebd., S. 61. 85
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Calvino, Italo: Prima che tu dica »Pronto«, Milano: Mondadori 1993. Carnero, Roberto: »Dal romanzo ›superficiale‹ al romanzo ›generazionale‹: Andrea De Carlo negli anni Ottanta«, in: Il Ponte 53, 11 (1997), S. 67-90. Ceserani, Remo: Il romanzo sui pattini. Una mappa della narrativa italiana contemporanea. Una densa riflessione sul ruolo della critica, Ancona: Transeuropa 1990. Covacich, Mauro: Fiona, Torino: Einaudi 2005. Covacich, Mauro: La poetica dell’Unabomber, Ancona: Theoria 1999. Covacich, Mauro: A perdifiato, Milano: Mondadori 2003. Dante, Alighieri: Vita nova, Milano: Rizzoli 1984. De Carlo, Andrea: Macno, aus dem Italienischen von Renate Heimbucher-Bengs, Zürich: Diogenes 1989. De Carlo, Andrea: Macno, nuova edizione, Torino: Einaudi 2000. Deiss, Richard: »Der europäische Fernsehmarkt«, in: Statistik kurz gefasst 24 (2002); http://www.eds-destatis.de/de/downloads/sif/np_02_ 24.pdf . Gervasutti, Luca: Dannati e sognatori. Guida alla nuova narrativa italiana, Pasian di Prato: Campanotto 1998. Giovannetti, Paolo: Retorica dei media. Elettrico, elettronico, digitale nella letteratura italiana, Milano: UNICOPLI 2004. Guglielmi, Angelo: Trent’anni di intolleranza (mia), Milano: Rizzoli 1995. Gurrado, Lello: Nomination, Roma: Fanucci 2006. Hofmeister, Alexandra: »›Dentro la televisione, ci siamo noi‹. Zur Intermedialität der ›letteratura cannibale‹: Fernsehen und Pop-Musik in Aldo Noves Puerto Plata Market«, in: Horizonte 6 (2001), S. 63-91. Huß, Bernard: »›Non c’è nessuna storia dietro nessuno degli elementi della scena‹. Zu ›postmodernen‹ Mustern im Erzählwerk Andrea De Carlos«, in: Horizonte 5 (2000), S. 79-106. Klettke, Cornelia: »A colloquio con Andrea De Carlo«, in: Italienisch 17, 33 (1995), S. 2-23. La Porta, Filippo: La nuova narrativa italiana. Travestimenti e stile di fine secolo, nuova ed. ampliata, Torino: Bollati Boringhieri 1999. Meinert, J.: »Von Aussteigern und Aufsteigern: Leseeindrücke von drei jungen italienischen Erzählern: Pier Vittorio Tondelli, Andrea De Carlo, Daniele Del Giudice«, in: Weimarer Beiträge 33, 2 (1987), S. 236-255. Meter, Helmut: »Liebesroman und Postmoderne in Italien. Das Beispiel De Carlo«, in: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch im Auftrage der Görres-Gesellschaft 38 (1997), S. 205-221.
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Moestrup, Jørn: »L’opera di Andrea De Carlo«, in: Serge Vanvolsem u. a. (Hg.), I tempi del rinnovamento. Atti del convegno Internazionale Rinnovamento del codice narrativo in Italia dal 1945 al 1992, Bd. 1, Roma/Leuven: Bulzoni/Leuven U. P. 1995, S. 649-659. Mondello, Elisabetta: In principio fu Tondelli. Letteratura, merci, televisione nella narrativa degli anni novanta, Milano: Il Saggiatore 2007. Panzeri, Fulvio: »Variazioni da un’anticamera postmoderna. Scenari & trend della narrativa italiana tra anni Ottanta e Novanta«, in: Raffaele Cardone u. a. (Hg.), Altre storie. Inventario della nuova narrativa italiana fra anni ’80 e ’90, Milano: Marcos y Marcos 1996, S. 15-52. Pederiali, Giuseppe: Camilla e il grande fratello, Milano: Garzanti 2005. Pfister, Manfred: »Konzepte der Intertextualität«, in: Ulrich Broich / Manfred Pfister (Hg.), Intertextualität, Tübingen: Niemeyer 1985, S. 1-30. Roloff, Volker: »Probleme der Fernsehästhetik. Zur Intermedialität und Theatralität des Fernsehens«, in: Peter Gendolla / Peter Ludes / Volker Roloff (Hg.), Bildschirm – Medien – Theorien, Paderborn: Fink 2002, S. 45-62. Tani, Stefano: »La giovane narrativa: emerging Italian novelists in the eighties«, in: Theo D’Haen / Hans Berten (Hg.), Postmodern Fiction in Europe and the Americas, Amsterdam: Rodopi 1988, S. 161-192.
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JUGENDKULTUR ROMANEN DER
FERNSEHKONSUM IN DEN SPANISCHEN GENERATION X UND
DAGMAR SCHMELZER 1 . E i n l e i tu n g : D i e G e n e r a ti o n X u n d d i e P o stm o d e r n e La cultura de nuestra época es audiovisual. La única realidad de nuestra época es la de la televisión. Cuando vemos algo que nos impresiona siempre tenemos la sensación de estar viendo una película. Ésa es la puta verdad. Cualquier película, por mediocre que sea, es más interesante que la realidad cotidiana. Somos los hijos de la televisión, como dice Mat Dilon en Dragstor Cauboi. (Historias 42)1
So formuliert der Protagonist Carlos aus José Ángel Mañas’ Roman Historias del Kronen von 1994 seine Generationszugehörigkeit. Nach Douglas Kellner ist die Generation X die Generation der Post-Boomer mit Geburtsdaten von 1960 bis 1980,2 die erste genuin postmoderne Generation, für die die ›Mediengesellschaft‹ keine akademische Gedankenfigur, sondern gelebte Wirklichkeit ist.3 1
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Zitiert wird hier und in der Folge aus der Ausgabe José Ángel Mañas: Historias del Kronen, Barcelona: Destino 1994. Dt.: »Die Kultur unserer Epoche ist audiovisuell. Die einzige Wirklichkeit unserer Epoche ist das Fernsehen. Wenn wir etwas sehen, das uns beeindruckt, haben wir immer den Eindruck einen Film zu sehen. Das ist die verdammte Wahrheit. Welcher Film auch immer, so mittelmäßig er auch ist, er ist interessanter als die alltägliche Wirklichkeit. Wir sind Kinder des Fernsehens, wie Matt Dillon in Drugstore Cowboy sagt«. (Übers. D. S.). Guido Jablonski datiert die Generation X auf die Geburtsjahrgänge 1961 bis 1970, vgl. Guido Jablonski: Generation X. Selbst- und Fremdbeschreibungen einer Generation. Eine literaturwissenschaftliche Studie, Diss., Düsseldorf 2003, S. 8. Vgl. Douglas Kellner: »Die postmoderne Lebenssituation von Jugendlichen«, in: Rainer Winter (Hg.), Medienkultur, Kritik und Demokratie. Der Douglas Kellner Reader, Köln: von Halem 2005, S. 179-186, hier: S. 181. Auch Wolfgang Welsch sieht die Postmoderne als die Epoche der Realisa89
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Dieser Generation verdankt der spanische Buchmarkt die Publikations- und Presseerfolge der Saison 1993/94. Enthusiastisch wird in diesem Jahr eine Generation von Jungen Wilden begrüßt, deren Bücher der Jugend aus dem Mund sprechen und die versprechen ›neu‹ und provokant zu sein.4 Der neorealistische Roman der spanischen Generation X5 nimmt die Welt der Jugendlichen der 90er Jahre zum Thema und rekrutiert aus ihnen einen Gutteil seiner Leserschaft. Der Roman ist Ausdruck eines Lebensgefühls und gleichzeitig Gesellschaftskritik. Den jungen spanischen Autoren des »realismo sucio« (schmutziger Realismus) wird vorgeworfen, dass sie mit ihrer zynisch-oberflächlichen Schreibweise und ihrem Interesse an Sex, Drogen und Kneipenexzessen nur ausländische, v. a. U. S.-amerikanische Moden kopieren.6 Vielleicht
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tion moderner Utopien in der Alltagswelt, vgl. Wolfgang Welsch: Unsere postmoderne Moderne, Weinheim: VCH, Acta Humaniora ²1988, S. 185206. Mañas’ Roman Historias del Kronen wurde 1994 zum Finalista des Premio Nadal gekürt. Ray Loriga gewinnt mit Héroes 1993 den Premio de Novela El Sitio. José F. Colmeiro erklärt den (kurzlebigen) Erfolg des »realismo sucio« auch als Inszenierung der Verlage und Kritiker in ihrer Jagd nach neusten Trends (»ultimismo«), vgl. José F. Colmeiro: »En busca de la ›generación X‹: ¿Héroes por un día o una nueva generación perdida?«, in: España Contemporánea 1 (2001), S. 7-24, hier: S. 9. Die Bezeichung »Generation X« ist dem Romantitel von Douglas Coupland entlehnt: Generation X. Geschichten für eine immer schneller werdende Kultur, Hamburg: Galgenberg 1992 [Generation X. Tales for an accelerated culture 1991]. Auch die Bezeichnung als »realismo sucio« folgt dem amerikanischen Vorbild, vgl. M. Mar Langa Pizarro: Del franquismo a la posmodernidad: La novela española (1975-99). Análisis y diccionario de autores, Alicante: Universidad de Alicante 2000, S. 87. Langa Pizarro zählt als alternative Benennungen die folgenden auf: »realismo duro« (harter Realismus), »realismo sórdido« (schäbiger Realismus), »estética nirvana« und »rockandrollo« (Wortspiel aus rock and roll und rollo ›Szenebewegung‹, ›lästige, langweilige Beschäftigung‹. Zu den internationalen Vorbildern des »realismo sucio« vgl. kurz Eva Navarro Martínez: »Una realidad a la carta: la televisión en algunas novelas de la última década del siglo XX«, in: Espéculo. Revista de estudios literarios 25 (2003); http://www.ucm.es/info/ especulo/numero25/alacarta.html , S. 1-2. Siehe auch Colmeira, »En busca de la ›generación X‹«, S. 13, der auch von »malditismo« (Neologismus aus maldito ›verflucht‹) spricht. In einem Interview bekennt sich Ray Loriga zu Kerouak und Bukowski als seinen Vorbildern, vgl. Richard Marshall: »Freedom & Memory. The Ray Loriga Interview«; 90
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liegt es daran, dass in der wissenschaftlichen Literaturkritik die Romane der spanischen Generation X nach wie vor nicht im Zentrum der Betrachtung stehen. In vielen Literaturgeschichten, die um die Jahrtausendwende erscheinen, wird die Generation X nicht erwähnt.7 Santos Alonso formuliert explizit seine Ablehnung einer Literatur, die er allein aus kommerziellen Anliegen erklärt: Der »neorrealismo costumbrista« sei nur das oberflächliche Zeugnis alltäglicher Gleichgültigkeiten und nutze das Interesse breiter Leserschichten an aktuellen Themen für einen leichten Markterfolg.8 Germán Gullón verteidigt die neue Prosa mit dem Argument, sie stelle einen Gegenpol zur Literatur in der humanistischen Tradition dar, die sich durch viele Bildungszitate dem großen Publikum verschließe und gleichzeitig literarisch konservativ sei. Schriftsteller wie José Ángel Mañas seien ähnlich den Realisten des 19. Jahrhunderts an innovativen Schreibweisen, an der Aufhebung der Hierarchien zwischen den Diskursen und an der Verknüpfung von Realität und Fiktion interessiert9 und ermöglichten auch intellektuellen Lesern das Verständnis einer fremden Welt der Bildungsferne.10 Mañas’ »retórica punk« verorte sich jenseits jeder Tradition.11 http://www.3ammagazine.com/litarchives/2004/jan/interview_ray_loriga. html . 7 So sind für Gonzalo Navajas Autoren wie Juan Marsé, Manuel Vázquez Montalbán und Antonio Muñoz Molina u. a. paradigmatische Beispiele, aus denen er seine Thesen zum postmodernen Roman ableitet, wenn er auch an einigen wenigen Stellen auf die Autoren der Generation X, auch auf José Ángel Mañas und Ray Loriga zu sprechen kommt. Vgl. Gonzalo Navajas: La narrativa española en la era global. Imagen – Comunicación – Ficción, Barcelona: EUB 2002, z. B. S. 72-73 und S. 95-99. Andere Studien zum postmodernen Roman, wie Ana María Spitzmesser: Narrativa posmoderna española. Crónica de un desengaño, New York u. a.: Lang 1999 und Vance R. Holloway: El posmodernismo y otras tendencias de la novela española (1967-1995), Madrid: Fundamentos, 1999, kommen ohne eine Nennung der Generation X aus. In Ignacio Soldevila Durante: Historia de la novela española (1936-2000), Bd.1, Madrid: Cátedra 2001 finden Mañas und Loriga ebenfalls keine Erwähnung. 8 Vgl. Santos Alonso: La novela española en el fin de siglo. 1975-2001, Madrid: Marenostrum 2003, S. 179-182. 9 Siehe Germán Gullón: »Dos proyectos narrativos para el siglo XXI: Juan Manuel de Prada y José Ángel Mañas«, in: Ángeles Encinar / Kathleen M. Glenn (Hg.), La pluralidad narrativa. Escritores españoles contemporáneos (1984-2004), Madrid: Biblioteca Nueva 2005, S. 267-281, hier: S. 268. 10 Ebd. S. 280. 11 Ebd. S. 279. 91
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Die jungen Autoren nehmen in vielerlei Hinsicht postmoderne Positionen ein, auch hinsichtlich des Fernsehdiskurses. Das Thema des Realitätsverlustes steht im Zentrum, wird jedoch nicht spielerisch verhandelt. Intertextualität ist die Regel, jedoch wird nicht – oder nicht hauptsächlich – auf den Literaturkanon Bezug genommen (wie z. B. bei Javier Marías) oder auf den Kontext der gediegenen Unterhaltungskultur (wie bei Antonio Muñoz Molina: Jazz, film noir etc.), sondern auf zeitgenössische Trivialkultur, die internationale und spanische Rock- und Technomusik, auf Gewalt verherrlichende Filme. Gonzalo Navajas diagnostiziert diese klare Verschiebung des kulturellen Referenzuniversums als Symptom dafür, dass diese neue Generation in der visuell-mündlichen Kultur der Postmoderne verankert sei, für die die Schriftlichkeit der Gutenberg-Galaxis endgültig der Vergangenheit angehöre.12 Man spricht nicht das Bildungspublikum an, sondern macht mit der »close the gap«-Forderung ernst, so ernst, dass in manchem Fall nur das Triviale übrig zu bleiben scheint. Das Stilregister des degré zéro wirkt nicht als intellektuell herausfordernde ästhetische Minimalisierung, sondern wie eine Reduktion auf Banalitäten, inhaltlich wie sprachlich. Zwar konzentrieren sich die Romane in der Tradition von Moderne und Postmoderne auf Subjektives, auf die Erfahrung metaphysischer Leere, jedoch oft aus Sicht bekiffter Jugendlicher und ohne gepflegten ennui. Der »realismo sucio« kann zudem als ein erster Schritt der Tendenz der spanischen Literatur gesehen werden, sich der Wirklichkeit und (bedingt) dem Engagement zuzuwenden.13 Seit der Jahrtausendwende steht die Erinnerungsproblematik im Zentrum einer Literatur, die sich gesellschaftlichen Anliegen öffnet.14 Doch bereits die Gegenwartsdiagnose der Generation X verabschiedet sich von der spielerisch-affirmativen offiziellen Kultur der Transitionszeit, die ein modernes Spanienbild nach innen und außen propagierte und sich der Gegenkultur der movida madri-
12 Vgl. Navajas: La narrativa española, S. 91-94. 13 So spricht Colmeiro von einer dokumentarischen Tendenz, die die Alltagswelt der Jugendlichen abzubilden versuche, siehe Colmeiro: »En busca de la ›generación X‹«, S. 13. 14 Die Bibliographie zu diesem Thema ist sehr umfangreich. Exemplarisch seien Antonio Gómez López-Quiñones: La guerra persistente. Memoria, violencia y utopía. Representaciones contemporáneas de la Guerra Civil española, Frankfurt am Main: Vervuert/Madrid: Iberoamericana 2006 und Ulrich Winter (Hg.): Lugares de la memoria de la guerra civil y el franquismo. Representaciones literarias y visuales, Frankfurt am Main: Vervuert/Madrid: Iberoamericana 2006 zitiert. 92
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leña15 bediente, um selbst noch den stark gestiegenen Drogenkonsum als letztlich positives Zeichen der Liberalisierung und politischen wie gesellschaftlichen Toleranz zu werten.16 Der Rekurs auf die audiovisuellen Medien ist in den Romanen der Generation X integraler Bestandteil der in der diegetischen Welt vorgeführten Konsumkultur.17 Der gesellschaftskritische bzw. -reflexive An15 Mit movida madrileña (Madrider Bewegung) bezeichnet man die spanische Jugendbewegung, die in den 70er und 80er Jahren von der Hauptstadt ausging. Als ursprünglich gegen die verkrusteten Strukturen der Francozeit gerichtete, liberale und hedonistische Gegenkultur entwickelte sie eine mit sexuellen Freiheiten und Drogenkonsum konnotierte, postmodernalternative Feier- und Kunstszene. 16 Zur Rolle der movida in der Kultur der Transitionszeit vgl. z. B. Javier Gómez-Montero: »Crónica parcial de la memoria literaria de la Transición española«, in: Javier Gómez-Montero (Hg.), Memoria literaria de la Transición española, Madrid: Iberaoamericana/Frankfurt am Main: Vervuert 2007, S. 7-16. Nach José-Carlos Mainer sind Literarizität, Intertextualität, Reprivatiserung und Unterhaltung in der Literatur und im Film der Transición vorherrschend, vgl. José-Carlos Mainer / Santos Juliá: El aprendizaje de la libertad. 1973-1986, Madrid: Alianza 2000, v. a. S. 232247. Zur letztlich apolitischen Kultur des desencanto vgl. auch Teresa M. Vilarós: El mono del desencanto. Una crítica cultural de la transición española (1973-1993), Madrid: Siglo XXI 1998. 17 Die viel zitierte Allgegenwart des Fernsehens gilt nicht für alle Romane der Generation X. Manche Romane, z. B. Ismael Grasas De Madrid al cielo (1994), sind aus der Perspektive gesellschaftlich marginalisierter Protagonisten und Perspektiventräger geschrieben, die infolge ihrer Armut keinen Zugang zu Fernsehen im Privatbereich haben. Fernsehen wird assoziiert mit bürgerlicher Kultur (z. B. Madrid 19, zitiert aus der Ausgabe Barcelona: Anagrama 1994). So auch in Lucía Extebarrias Roman Amor, curiosidad, prozac y dudas (1997), der die Geschichte dreier Schwestern erzählt, drei weibliche Emanzipationsgeschichten. Die eine Schwester, Rosa, das Muster der Karrierefrau, hochintelligent, beruflich sehr erfolgreich, selbstbewusst, eine gepflegte, moderne Erscheinung, hat die Möglichkeiten der spanischen Liberalisierung voll genutzt. Allerdings ist sie privat völlig vereinsamt, tablettensüchtig und unglücklich. Die zweite Schwester, Ana, hat gut geheiratet und eine Familie gegründet, hat einen Einrichtungs- und Putzfimmel und leidet am eintönigen Leben der Hausfrau. Die jüngste Schwester, Cristina, vertritt den Typ Aussteiger und die Generation X. Durch den Altersunterschied zu ihren Schwestern ist ihre Kindheit weniger durch die Enge des späten Frankismus geprägt als durch die orientierungslose Freiheit der 80er Jahre, die charakteristischen wirtschaftlichen Engpässe und geringen Chancen auf dem Arbeitsmarkt eingeschlossen. Sie studiert englische Philologie, arbeitet aber nicht in ihrem Beruf, sondern als 93
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satz der Romane und die charakteristische Verknüpfung mit dem Thema der Gewalt legen die Fixierung der Medienproblematik auf das Fernsehen nahe, ist dieses doch das Medium, auf dem die kritische Mediensoziologie und -psychologie hauptsächlich ihren Medienbegriff aufbauen. Der Beitrag nimmt sich vor, die thematischen und formalen Referenzen auf das Medium Fernsehen in Romanen der 90er Jahre am Beispiel José Ángel Mañas’ und Ray Lorigas zu sichten, um bestimmen zu können, welche diskurstypischen Zuschreibungen zum Fernsehen sowohl inhaltlich als auch erzähltechnisch aufgegriffen werden. Ausgangspunkt ist dabei die These, dass die Romane nicht nur auf die Lebenswelt der 90er Jahre reagieren, sondern auch auf den zeittypischen, d. h. postmodernen medienkritischen Diskurs.18 Das Fernsehen erbt als Leitmedium der 80er und 90er Jahre in der Medienkritik bereits traditionelle Zuschreibungen an die Massenmedien. Die These, dass die Medienkritik wertkonservativer Kreise sich immer auf das jeweilige neue oder auch jeweils auf das Leitmedium fokussiert, und das bereits seit Platons Schriftkritik, ist ja nicht neu. In der Postmoderne-Diskussion wird der kritische Diskurs um spezifische Zuschreibungen erweitert, ist doch die Postmoderne nach Baudrillard das Zeitalter der Medien. Wie das Zitat am Kapitelanfang belegt, pflichtet der Protagonist von Historias del Kronen Baudrillard hinsichtlich dieser Diagnose bei. An zwei Beispielen wird analysiert, inwiefern die Romane der Generation X postmoderne Medienkritik in ihren fiktionalen Universen umsetzen.
Kellnerin in einer Kneipe. Während die Karrierefrau mit den Medien des Computers (»¿Cómo se vive con un dicso duro por cerebro y un módem por corazón?« (Dt.: »Wie lebt es sich mit einer Festplatte als Hirn und einem Modem als Herz?«) fragt sich ihre Schwester Cristina, Amor 298, zitiert aus der Ausgabe Barcelona: Plaza & Janés 51999) und des Telefons mit Anrufbeantworter charakterisiert wird (Amor 66, 67, 71, 73, 76), die Kellnerin ihre Identität mit Rock- und Technomusik ausdrückt, ist die bürgerliche Hausfrau passionierte Fernsehzuschauerin. Typisch ist der flache Flow-Konsum, geprägt von Langeweile und Lebensüberdruss. Passivität und Perspektivlosigkeit erwachsen hier nicht aus materieller Armut, sondern aus innerer Leere. Zwar ist der Fernseher nicht der Verursacher dieser Situation, doch er perpetuiert sie, indem er wie die Drogen ein einfaches Evasionsangebot bereitstellt. 18 Die These, dass intermediale Bezüge immer auch diskursgebunden und diskursvermittelt sind, vertrete ich auch in meiner Dissertation zum intermedialen Schreiben im Spanien der 1920er Jahre, vgl. Dagmar Schmelzer: Intermediales Schreiben im spanischen Avantgarderoman der 20er Jahre. Azorín, Benjamín Jarnés und der Film, Tübingen: Narr 2007. 94
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2 . Jo sé Á n g e l M añ a s: H i s t o r ia s d e l K r o n e n ( 1 9 9 4 ) u n d d i e m e d i e n i n d u z i e r t e G e w al t Psychologische Studien belegen nur unzulänglich, dass zwischen Jugendkriminalität, Gewaltbereitschaft und Medien- bzw. Fernsehkonsum ein Zusammenhang besteht.19 Dennoch gehört diese Auffassung zum festen Repertoire des Diskursinventars nicht nur der 90er Jahre. José Ángel Mañas’ Roman Historias del Kronen ist ein paradigmatisches Beispiel dafür. Der Student Carlos, Sohn einer gut betuchten bürgerlichen Familie, erzählt, oder fast besser berichtet, von seinem Alltagsleben während der Semesterferien, das bestimmt ist von nächtlichen Touren durch Bars und Diskotheken mit seiner Clique. Die jungen Erwachsenen trinken, konsumieren Drogen, machen Frauen an. Carlos ist dabei der wildeste von allen, er beschimpft seine Freunde, wenn sie unspaßige Themen anschneiden, macht sexistische Bemerkungen, behandelt seine Freundinnen wie Dreck, ist von Gewalt fasziniert und rundum ein Egozentriker. Zu seiner Familie hat Carlos ein distanziertes Verhältnis, wenn er auch den grundlegenden Sohnespflichten nachkommt: Er isst im Kreis der Familie zu Mittag, wenn ihn auch seine Mutter dazu erst aus dem Bett schmeißen muss, er besorgt mit seiner Schwester dem Vater ein Geburtstagsgeschenk (mehrere Lyrikbände!), besucht den todkranken Opa und geht zu dessen Beerdigung. Das Geld seines Vaters gibt er üppig aus und lässt sich von der Hausangestellten der Eltern von vorn bis hinten bedienen. Gegen Ende des Romans gibt es eine überraschende Wende: Anlässlich der Geburtstagsfeier des Gruppenmitglieds Fierro kommt es zu einem Unglück. Wie üblich völlig betrunken und unter Drogeneinfluss zwingt Carlos den Diabetiker Fierro, einen schwächlichen Jungen, der im Ruf steht, homosexuell und ein Masochist zu sein, eine Flasche Whisky zu leeren. Der Junge fällt ins Koma und stirbt. Carlos flieht noch vor dessen Tod nach San Sebastián ins Ferienhaus seiner Eltern und ist der einzige seiner Clique, der Fierros Beerdigung nicht beiwohnt. Er geht weiterhin seinen ausschweifenden Freizeitvergnügungen nach und das Ereignis scheint ihn nicht berührt zu haben. Carlos ist als Vertreter der postmodernen Jugend ein Medienkonsument (vgl. seine eigene Aussage, das Zitat am Anfang, Historias 42): Die Buchkultur von Großvater und Vater ist durch eine visuelle Kultur ersetzt. Während das Apartment des Großvaters mit Bücherwänden ausge19 Vgl. z. B. Dieter Prokop: Medien-Macht und Massen-Wirkung. Ein geschichtlicher Überblick, Freiburg i. B.: Rombach 1995, S. 360-368 und Hektor Haarkötter: Abschalten. Das Anti-Medien-Buch, Darmstadt: WGB 2007, S.114-118. 95
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kleidet ist (Historias 81), er die konservative Tageszeitung ABC liest (Historias 84) und dem ohne Ton laufenden Fernseher den Rücken zukehrt, um theologische Bücher zu lesen (Historias 81), ist Carlos’ Vater ein Fan von Gedichtsammlungen, er liest z. B. Gil de Biedma, informiert sich aus der liberalen, mit der Transición und dem PSOE assoziierten Tageszeitung El País (Historias 44), aber auch aus den Fernsehnachrichten. Carlos dagegen liest wenig. Der einzige Roman, den er nach Auskunft seines Freundes Roberto erträgt, ist »Americansaico«, American Psycho (Historias 237).20 Die Ritualisierung des Fernsehkonsums in der Kernfamilie – Mutter, Vater, Carlos und seine beiden Geschwister – wird vorgeführt: Die Familie sieht bei allen Mahlzeiten Nachrichtensendungen (Historias 28, 66, 100, 122, 132, 198, 208). Die Kommunikation wird dabei zumindest in dieser Situation unterbunden (Historias z. B. 66, 208: Vater bittet um Ruhe). Zwischen Eltern und Kindern besteht auch darüber hinaus eine gestörte Kommunikation. Sicher greift es zu kurz, das Fernsehen als Alleinverursacher dieses Zustands zu sehen, ein Faktor, der diese Entwicklung begünstigt, ist der Medienkonsum im Familienverbund aber allemal. Schon Günther Anders kommentiert 1956, dass der Fernsehapparat das traditionelle räumliche Zentrum des Familienwohnraums, den Esstisch, ersetzt habe und fortan den Fluchtpunkt der Blicke wie der Raumanordnung im Wohnzimmer bilde.21 Auch Carlos’ Großvater stellt das fest und erhebt explizit den Vorwurf: – La televisión es la muerte de la familia, Carlos. Antes, la hora de comer y la hora de cenar eran los momentos en los que la familia se reunía para hablar y para comentar lo que había pasado durante el día. Ahora las familias se sientan alrededor de la tele; no hay comunicación. (Historias 84).22
20 Bret Easton Ellis’ Thriller von 1991 über einen Massenmörder aus der guten New Yorker Gesellschaft, der der Langeweile seines Yuppie-Lebens durch Sex- und Gewaltexzesse entkommt und dabei immer stärker in eine wahnhafte Parallelwelt gerät, aus der er nicht mehr herausfindet, war ein Kultfilm in der Jugendszene der 90er Jahre. 21 Vgl. Günther Anders: »Die Welt als Phantom und Matrize. Philosophische Betrachtungen über Rundfunk und Fernsehen«, in: Günther Anders, Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. 1, München: Beck 1980, S. 97-211, hier: S. 106. 22 Dt.: »– Das Fernsehen ist der Tod der Familie, Carlos. Früher waren das Mittagessen und das Abendessen die Momente, zu denen die Familie sich versammelte, um sich über das auszutauschen, was den Tag über so passiert war. Jetzt setzen sich die Familien um den Fernseher; es gibt keine Kommunikation«. 96
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Medien treten als Medienverbund auf: Carlos nutzt Fernsehen, Kinofilm und Video (im Bereich der audiovisuellen Medien, wichtig ist daneben auch die Musik). Kommt im Fernsehen nichts, was ihn anspricht, legt er sich ein Video ein (Historias 66), vorzugsweise seinen Lieblingsfilm »Jenriretratodeunasesino«, Henry: Portrait of a Serial Killer23 (z. B. Historias 30) oder auch Clockwork Orange von Stanley Kubrick (1971), in Carlos’ Slang »Lanaranjamecánica« (Historias 32). Carlos schaut obsessiv einzelne Gewaltszenen, hauptsächlich Vergewaltigungen, die er immer wieder zurückspult. Während also das Fernsehen als ein Medium der vorbei fließenden Bilder inszeniert wird, dessen Angebot man nimmt, wie es kommt, das man höchstens ausschaltet oder dem man seine Aufmerksamkeit nur geteilt zukommen lässt, ist das Video das Medium, über das man verfügt, um seine Lieblingsphantasien immer reproduzieren zu können.24 Carlos’ Filmgeschmack bevorzugt Werke, die die Folgen der Aufgabe überindividueller Normen und Ziele inszenieren und die augenblickliche Befriedigung elementarer Bedürfnisse des Einzelnen über alles andere stellen.25 Die thematische Auseinandersetzung der Texte mit der Medienkultur schlägt sich in intermedialen Referenzen nieder. Germán Gullón spricht von der »parareferencialidad« dieser Romane, die neben der Referenz auf die Alltagswirklichkeit die Referenz auf ein mediengeneriertes Paralleluniversum aufweisen, ein »parareferente informativo« aus Filmen, Videos, Rockkonzerten und Fernsehnachrichten, das Leser und Romanfiguren teilen, ein regelrechtes Universum der Simulation.26 23 Es handelt sich um einen Gewalt verherrlichenden Kultfilm von John McNaughton, der eigentlich bereits 1986 in die Kinos kam, der aber Anfang der 90er Jahre ein Revival erlebt, weil er erstmals mit Szenen gezeigt wurde, die 1986 zensiert worden waren. 24 So auch in Héroes (1993) von Ray Loriga: »Cuando tuve mi primera cinta de vídeo sentí algo muy extraño: almacenaba sensaciones que antes perdía dos o tres días después de haber visto una película«. (Héroes 72); Dt.: »Als ich mein erstes Video bekommen habe, habe ich etwas sehr Seltsames gefühlt: Ich habe Empfindungen gesammelt, die ich vorher nach zwei oder drei Tagen verloren habe, wenn ich einen Film gesehen hatte«. »Con el vídeo puedes tener la sensación aislada como un virus, y recuperarla siempre que quieras«. (Héroes 73); Dt.: »Mit dem Video kann man die Empfindung isoliert halten wie einen Virus und sie wiederbekommen, wann immer man will«. Zitiert wird aus der Ausgabe Barcelona: Random House Mondadori 2003. 25 Vgl. Navajas: La novela española, S. 96. 26 Siehe Germán Gullón: »La novela neorrealista (o de la generación X)«, in: Biblioteca virtual Miguel de Cervantes; http://www.cervantesvirtual.com/ portal/nec/ptercernivel.jsp?conten=historia&pagina=historia2.jsp&tit3=La 97
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Auffälligster Medieninhalt ist die Gewalt. Zwar schaut Carlos’ Schwester auch culebrones, d. h. südamerikanische Telenovelas (Historias 67-68), ein Genre, das Carlos verachtet, wie er auch auf Gefühlsäußerungen im ›wahren Leben‹ allergisch reagiert: Die Sentimentalität seines Vaters an dessen Geburtstag findet er abstoßend: Al hablar de su padre, el viejo se ha puesto melancólico. A mí me da vergüenza ajena verle así, tan débil. […] No es posible, está a punto de llorar. Se me pone la piel de gallina sólo de verle. [...] Esto comienza a parecerse a un culebrón sudaca. (Historias 48)27
Einmal kommentiert eine von Carlos’ Sexpartnerinnen, Rebeca, während ein Interview mit Bibi Anderson läuft, die im Fernsehen omnipräsente movida-Kultur der 80er Jahre als »tonterías de siempre«, d. h. als immer den gleichen Blödsinn (Historias 32). Carlos findet aber besonders Gewalt ansprechend und selektiert dementsprechend. Die Gewalt in den Nachrichtensendungen bekommt er beim Familienessen serviert: einen Cocktail aus Kriegsberichten, Naturkatastrophen, spektakulären Unfällen, Terrorismus, Streiks, Sportereignissen (Historias 100) und den Folgen des Drogenkonsums (Historias 132), der Neil Postmans Thesen bestätigt, dass Fernsehen nur die Affekte anspricht und sämtliche Inhalte zu Unterhaltungszwecken verkürzt.28 Carlos ist dann auch der paradigmatische Infotainment-Nutzer: Er findet die Kette an Katastrophenberichten unterhaltsam, »entretenido« (Historias 100). Die Europäische Union tue schlecht daran, den Krieg auf dem Balkan stoppen zu wollen: »El telediario, sin guerras, no sería lo mismo: sería como un circo romano sin gladiadores«. (Historias 28); Dt.: »Die Fernsehnachrichten wären ohne Kriege nicht das Gleiche: Das wäre wie ein römischer Zirkus ohne Gladiatoren«. Bezeichnenderweise findet er gera+novela+neorrealista+%28o+de+la+generaci%26oacute%3Bn+X%29 . 27 Dt.: »Der Alte spricht von seinem Vater und ist melancholisch geworden. Ich schäme mich für ihn, wenn ich ihn so sehe, so schwach. […] Es ist nicht möglich, der fängt gleich an zu weinen. Ich krieg’ schon Gänsehaut, wenn ich ihn nur sehe. […] Das kommt mir langsam wie eine südamerikanische Telenovela vor«. 28 So kritisiert Postman z. B. den »Zerfall des öffentlichen Diskurses in Amerika und seine Umwandlung in eine Sparte des Showbusiness«, siehe Neil Postman: Wir amüsieren uns zu Tode. Urteilsbildung im Zeitalter der Unterhaltungsindustrie, Frankfurt am Main: Fischer 1985 [Amusing Ourselves to Death. Public Discourse in the Age of Show Business 1985], S. 14. Vgl. zum Begriff des »Infotainment« auch Daniela Kloock / Angela Spahr: Medientheorien. Eine Einführung, München: Fink ²2000, S. 99-131. 98
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de den Fernsehkrieg am Golf, den auch Virilio in Krieg und Fernsehen als Paradigma heranzieht,29 besondern telegen, da »espectacular«; der Jugoslawienkrieg nehme sich dagegen blass aus – auch weil Gut und Böse weniger klar verteilt sind (Historias 66). Gewalt im Film findet Carlos unterhaltsam, stimulierend, faszinierend. Jochen Hörisch überschreibt sein Kapitel zu Radio, Fernsehen und digitalen Medien in Der Sinn und die Sinne mit »S(t)imulationen«30 und genau so nutzt Carlos die Gewaltbilder. Während er mit einer seiner Freundinnen, Rebeca, Sex hat, sieht er sich seine Lieblingsszene aus Clockwork Orange an, eine Vergewaltigung (Historias 34-35). Seine abgestumpfte Rezeptivität muss er künstlich steigern, um den letzten Kick zu bekommen. Er ersetzt tatsächliches Erleben durch Fernsehen, Gewaltfilme und Pornos. Sex unterlegt er zur Stimulierung mit medialen Bildern (vgl. auch Historias 78). Seine Rollenbilder und Kommunikationsformen nehmen dabei die Form seiner Vorbilder an, sind stark stereotyp, machistisch und gewaltorientiert. Die Verbindung von Gewalt mit Machtphantasien und Sexualität ist ihm auch bewusst: En mi cuarto, me tumbo en la cama, me pongo los cascos y cierro los ojos. Ultimamente tengo ideas algo macabras en la cabeza. Debe de ser por ver tantas películas de psicópatas. Comienzo a preguntarme qué se sentaría matando a alguien. Según Beitman, es como un subidón de adrenalina brutal, como una primera raya. Sonrío. (Historias 134)31
Bei Carlos scheint also die wissenschaftlich nicht belegte Animationsund Habitualisierungsthese, nach der Fernsehkonsum das Gewaltverhalten Jugendlicher verstärkt, zu greifen.32 Nach einem Kinobesuch im leitmotivischen Film Jenriretratodeunasesino fällt die Rede der Jugendlichen auf Snuff-Videos (Historias 93 29 Paul Virilio: Krieg und Fernsehen, München/Wien: Carl Hanser 1993 [L’Ecran du Désert 1991]. 30 Siehe Jochen Hörisch: Der Sinn und die Sinne. Eine Geschichte der Medien, Frankfurt am Main: Eichborn 2001, S. 317. 31 Dt.: »In meinem Zimmer lege ich mich aufs Bett, setze mir die Kopfhörer auf und mache die Augen zu. In letzter Zeit gehen mir etwas makabre Gedanken im Kopf herum. Das muss wohl daran liegen, dass ich so viele Filme über Psychopaten sehe. Ich fange an mich zu fragen, wie es wäre jemanden zu töten. Bateman sagt, es ist wie ein brutaler Adrenalinstoß, wie eine erste line. Ich grinse«. Bateman ist der Protagonist aus American Psycho (1991) von Bret Easton Ellis, vgl. oben FN 20. 32 Vgl. Berthold Stötzel: »Kinder und Medien«, in: Helmut Schanze (Hg.), Metzler Lexikon Medientheorie, Medienwissenschaft, Stuttgart/Weimar: Metzler 2002, S. 160-162, hier: S. 161. 99
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und 96), was die Wende des Romans voraus nimmt: Carlos wird vom Zuschauer zum Täter. Er vollzieht in der Wirklichkeit, was er in der simulierten Realität als stimulierend empfand und blendet aus, dass sein Tun hier Konsequenzen hat, ganz so, wie es Jean Baudrillard für den Zustand der Simulation beschreibt: Deshalb können Schuld, Angst und Tod durch den vollkommenen Genuss der Zeichen für Schuld, Verzweiflung, Gewalt und Tod ersetzt werden. Genau darauf beruht die Euphorie der Simulation […].33
Der intermediale Bezug beschränkt sich nicht auf die thematische und makrostrukturelle Dimension des Romans. Die fernsehtypische Perzeptionsweise, die passive Rezeption der fließenden Bilder wird in der Schreibweise des Romans imitiert: Im flow der Bilder ist die subjektive Erzählperspektive stark auf die Wahrnehmung der Gegenwart eingeschränkt. Es dominieren die vision du dehors, die Aufzeichnung von Nichtigkeiten. Die Sprache trägt Zeichen von Mündlichkeit, der Stil nähert sich dem degré zero. Im Aufbau des Diskurses fehlen Ordnungswille und Strukturierung. Mit Germán Gullón gesprochen: Es un poco como si el escritor en vez de estar escribiendo con un substrato de ideas tuviera puesto una antena parabólica que nunca deja de trasmitir lo presente.34
Diese fernsehtypische Echtzeitwahrnehmung, gekoppelt mit Distanzlosigkeit und fehlendem Selektions- und Sinngebungsbemühen, bestimmt nicht nur Carlos’ Medienkonsum, sondern auch seine Haltung zum Alltagsleben und den Erzählduktus des Romans. Die extreme Verengung des Fokus auf die Gegenwart führt nach Baudrillard zu einem Prozess der Zerstörung von Sinn und letztlich zu Nihilismus.35
33 Zitiert nach Jean Baudrillard: »Der symbolische Tausch und der Tod« [Ausschnitt], in: Detlev Schöttker (Hg.), Von der Stimme zum Internet. Texte aus der Geschichte der Medienanalyse, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1999 [L’échange symbolique et la mort 1976], S. 172-181, hier: S. 178. 34 Dt.: »Es ist ein bisschen, als ob der Schriftsteller statt mit einem Ideensubstrat zu schreiben eine Parabolantenne aufhätte, die niemals aufhört, das Gegenwärtige zu übertragen«. Gullón, »Novela realista«, o. S. 35 Vgl. Jean Baudrillard: »Sur le nihilisme«, in: Jean Baudrillard: Simulacres et simulation, Paris: Galilée 1981, S. 229-236. Vgl. auch Douglas Kellner: »Postmodernismus als kritische Gesellschaftstheorie? Herausforderungen und Probleme«, in: Rainer Winter (Hg.), Medienkultur, Kritik und Demo100
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Carlos’ durch Drogen verzerrte und ichbezogene Wahrnehmung im letzten Romanteil wird durch einen Perspektivenwechsel begleitet, der zu einer Steigerung des Erzähltempos führt. Die ›erzählenden‹ oder zumindest berichtenden Passagen im Präsens, die bislang zwischen den überwiegend in direkter Rede wiedergegebenen Dialogen zu finden waren, brechen jetzt ab. Der Text ›registriert‹ nur noch die direkte Rede Carlos’ und deutet die Repliken seiner Gesprächspartner – die ausgelassen sind und nur aus Carlos’ Reaktionen ergänzt werden können – durch leere Klammern an. Dadurch verengt sich die Wahrnehmung des Lesers auf Carlos, ohne dass es zu einer echten Innensicht kommt – schließlich werden nicht Gedanken und Sinneseindrücke, sondern nur Redeanteile wiedergegeben. Der dadurch entstehende Distanzverlust simuliert Simultaneität,36 eine Beschleunigung der Wahrnehmung, die zu Realitätsverlust führt, was an Virilios Thesen zum Zusammenhang von technisierter Wahrnehmung und Gewalt denken lässt: Durch die Distanz zum Objekt kann der Effekt der Gewalt ästhetisch wahrgenommen werden, das Auge wird zur Waffe und die Waffe zum Pinsel. Die Entfremdung des medialen Blicks von der humanen Perspektive ist ein Realitätsverlust.37
kratie. Der Douglas Kellner Reader, Köln: von Halem 2005 [1988], S. 78109, hier: S. 86. 36 Die Verfilmung von Historias del Kronen (1995, Regie: Montxo Armendáriz) nutzt zu dieser Wahrnehmungsverschiebung das Dispositiv des Videos: Carlos’ Blick durch die Videokamera, mit der er das Partygeschehen registriert, ist medial, er impliziert Macht. 37 Vgl. Paul Virilio: Krieg und Kino. Logistik der Wahrnehmung, Frankfurt am Main: Fischer 1989 [Guerre et Cinéma I. Logistique de la perception 1984], speziell S. 34-35. Siehe daneben auch Virilio: Krieg und Fernsehen und Virilio: Die Sehmaschine, Berlin: Merve, 1989 [La machine de vision, 1988]. 101
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3 . Ra y L o r i g a: T o k i o y a n o n o s q u i e r e ( 1 9 9 9) o d e r d i e A n ti - U t o p i e d e s M e d i e n z e i t al t e r s Ray Lorigas Roman Tokio ya no nos quiere ist eine Anti-Utopie mit Science-Fiction-Elementen und teilweise phantastischen Zügen.38 Sie erweckt den Eindruck einer konsequenten fiktionalen Umsetzung des Baudrillard’schen Universums, ausgehend von einer Projektion der postmodernen Befindlichkeit der spanischen Jugendlichen in die nahe Zukunft der Jahrtausendwende:39 Drogenabhängigkeit, Gedächtnisverlust und allumfassende Medienpräsenz prägen den Alltag.40 In der Tradition der modernen Anti-Utopie extrapoliert der Roman also Tendenzen der Gegenwart der 90er Jahre in eine grotesk ausgemalte (nahe) Zukunft.41
38 Die Begriffe Negative Utopie, Schwarze Utopie, Gegenutopie, Anti-Utopie und Dystopie werden weitgehend synonym benutzt. Dabei kann eine AntiUtopie in der Kritik an der Gegenwart eine bessere Zukunft einfordern oder utopisches Denken als solches desavouieren. In der Postmoderne ist die Amalgamierung mit der Science Fiction typisch. Vgl. Hans Esselborn: »Vorwort«, in: Hans Esselborn (Hg.), Utopie, Antiutopie und Science Fiction im deutschsprachigen Roman des 20. Jahrhunderts, Würzburg: Königshausen & Neumann 2003, S. 7-11. 39 Da sie »Latenzen und Tendenzen der Geschichte bewusst« aufgreift, ist Lorigas Anti-Utopie nach Ernst Bloch eine »konkrete« Utopie, vgl. Dietmar Heubrock: »Utopie«, in: Europäische Enzyklopädie zu Philosophie und Wissenschaften, Bd. 4, Hamburg: Meiner 1990, S. 678-690, hier: S. 680. Die »satirisch-provokative Verfremdung« der auf wissenschaftlicher und ideologischer Basis aus der Gegenwart extrapolierten Zukunft ist für die »postapokalyptische« Anti-Utopie ab dem Ersten Weltkrieg typisch, vgl. Franziska Hug: Die Gattung der Utopie im Wandel, Trier: Wissenschaftlicher Verlag 2007, S. 36-37. 40 Die folgende Analyse legt einen Schwerpunkt auf die intermedialen Bezüge des Romans zum Fernsehen. Das Thema des Gedächtnisverlusts, das im Roman dominiert, kann daher nicht in allen seinen Facetten diskutiert werden. Vgl. dazu die Interpretation von José F. Colmeiro: »La nostalgia del futuro: amnesia global y hábitos de consumo en Tokio ya no nos quiere de Ray Loriga«, in: Angeles Encinar / Kathleen M. Glenn (Hg.), La pluralidad narrativa. Escritores españoles contemporáneos (1984-2004), Madrid: Biblioteca Nueva 2005, S. 177-188. 41 Die Verlegung des »Nirgendorts« in die zeitliche Dimension der Zukunft wird mit dem Fortschrittsdenken der Aufklärung zum dominanten utopischen Verfahren. Als »Uchronie« wird sie als konkrete historische Möglichkeit aufgefasst und gewinnt so einen stärkeren Bezug zum ›Wirklichen‹. Mit der Krise der Fortschrittsgeschichten im 20. Jahrhundert werden die positiven Uchronien zu negativen. Vgl. Micheline Hugues: L’utopie, 102
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Erzählt wird die Geschichte eines Drogenhändlers, der im Auftrag einer obskuren, weltweiten, aber offensichtlich legalen Organisation chemische Drogen vertreibt. Das Unternehmen beschattet seine Agenten mit überwachungsstaatlichen Methoden und steht in Konkurrenz zu illegalen Händlern, die mit drakonischen Strafen in Schach gehalten werden sollen. Neben der chemischen Regulierung des Gefühlshaushaltes der Kunden ist vor allem das Geschäft mit der Erinnerungsmanipulation besonders einträglich. Die Erzählsituation – Erzähler ist der Protagonist – beweist, was im Laufe der Geschichte deutlich wird: Der Vertreter bedient sich zunehmend selbst aus seinem Köfferchen, was sich in der Inkohärenz in seiner Geschichte, in der Lückenhaftigkeit seiner Erinnerungen und seiner streckenweise distanzierten und emotionslosen, dann wieder zynischen Haltung gegenüber dem Erzählten ausdrückt. Die Gesellschaft verdächtigt ihn bereits seit längerem, versetzt ihn mehrfach, aus der amerikanischen Provinz nach Vietnam und Bangkok, bis sie ihn schließlich ertappt und er untertauchen muss – mit dem Inhalt seines Koffers als Beute. Sein Gedächtnisverlust verschärft sich zusehends und er bekommt die körperlichen Folgen seines Drogenmissbrauchs zu spüren. Nach einer Ohnmachtattacke wacht er in einem Berliner Sanatorium42 wieder auf. Sein Kurzzeitgedächtnis hat er komplett eingebüßt; das Langzeitgedächtnis arbeitet unwillkürlich und ohne dass er dessen Bilder zuordnen kann. Er wird verschiedenen Therapien ausgesetzt. Während er kurze Filmsequenzen nach der Sitzung nicht erinnern kann, und auch vorgespielte künstliche Erinnerungen (z. B. an seine Heimatstadt Madrid) keinen Wiedererkennungseffekt auslösen oder sich zu einem neuen Ersatzgedächtnis fügen lassen, schlägt schließlich die letzte Therapie an: Die elektrische Stimulierung bestimmter Gehirnregionen fördert sein vergessenes oder verdrängtes Trauma zutage: Seine feste Freundin, die sich bereits eine bürgerlich-familiäre Zukunft mit ihm ausgemalt hatte, hat ihn verlassen und ihm die Aussicht auf eine Heimat genommen. Als der Protagonist schließlich aus der Klinik entlassen wird, sucht er nach einigen kurzen Zwischenstationen eine alternative Kolonie von Senioren in Arizona auf, um dort einen gewissen Krumper zu trefParis: Nathan 1999, S. 102-106. Hiltrud Gnüg spricht von »Warnutopien«, siehe Hiltrud Gnüg: Utopie und utopischer Roman, Stuttgart: Reclam 1999, S. 208. 42 Zur Wahl Deutschlands als Spiegel Spaniens, als Land mit einer traumatischen Vergangenheit, einer geschichtsprägenden inneren Spaltung, als Modell des Franco-Spaniens im Bürgerkrieg, im Zweiten Weltkrieg und während des Wirtschaftswunders und schließlich als Land, in dem Demokratisierung und ökonomische Prosperität die problematische Erinnerung verdecken, vgl. Colmeiro: »La nostalgia del futuro«, S. 187. 103
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fen, der ihm bereits seit geraumer Zeit E-Mails schreibt. Er trifft auf einen alten Mann, der nur noch in Form eines sterbenden Computerprogramms existiert, nachdem er sein Gehirn einem mexikanischen Mädchen im Koma hat transplantieren lassen, worauf das Kind allerdings anfängt, sein eigenes Leben zu leben und sich von dem Alten zu lösen. Krumper erzählt ihm, er sei als deutscher Soldat im Zweiten Weltkrieg verletzt worden und seine Erfahrungen im Nachkriegsdeutschland hätten ihn dazu gebracht, sich dem lebenslangen Kampf gegen die Erinnerung zu widmen. Er stellt sich also als der Leiter des Imperiums heraus, das den Protagonisten und seine Kollegen als Agenten auf den Weg schickte. Der Protagonist führt sein Leben hauptsächlich an typischen Nichtorten: in Hotels, Bars, an Flughäfen und in Bordells. Während er sich zunächst in der amerikanischen Provinz befindet – wohin er am Ende auch zurückkehrt –, erlebt er den Hauptteil seines zunehmenden Selbstverlustes in asiatischen Großstädten. Nicht nur der Protagonist selbst, auch seine Umgebung ist ständig mobil, globalisiert und vernetzt. Unmengen von Flugzeugen und Helikoptern kreisen über der Stadt; immer wieder verunglücken einige. Der Protagonist erhält E-Mails, die belegen, dass er beschattet wird, egal wo auf der Welt er sich aufhält. Telefonnachrichten ruft er auf dem Fernsehschirm ab. Das Alltagsleben wird dominiert von Glücksspiel, Prostitution, Wettgeschäft und Konsumtreiben. Eine Atmosphäre von konstanter Bedrohung durch Verbrechen wird durch Sensationsgier begleitet. Eine klar negative Sozialutopie, die eine apokalyptische Vorstellung einer verwahrlosten postindustriellen Konsum- und Mediengesellschaft zeichnet, wird hier durch die Science-Fiction-Elemente eines durchtechnisierten Alltags unterstützt. Lorigas Roman greift die typische Struktur der modernen Anti-Utopie auf, in der die Schreckenswelt der Zukunft aus der Perspektive eines Protagonisten beleuchtet wird, der die Position eines Parias im System einnimmt.43 »Der einzelne wird zum Störfaktor im funktionierenden negativen Gesellschaftsmodell, die Erzählstruktur wandelt sich, Formen des Bewusstseinsstroms prägen die Erzählperspektive«.44 Allerdings zeigt sich bei Loriga eine ironische Abwandlung dieses Mechanismus der Desavouierung des Systems von innen: Der Protagonist ist nicht etwa ein Mensch gebliebener Sympathieträger und Keimzelle eines potentiellen Widerstands,45 sondern er potenziert die Tendenzen des Systems und führt sie an seiner Person ad absurdum.
43 Vgl. Hugues: L’utopie, S. 116. 44 Vgl. Gnüg: Utopie und utopischer Roman, S. 19. 45 Vgl. zu dieser üblichen Konstellation z. B. Hug: Die Gattung der Utopie, S. 39. 104
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Es zeigt sich noch eine weitere Variation des Gattungsmusters: Nach Joanna Jabákowska wandelt sich die apokalyptische Anti-Utopie in der Tradition von z. B. Aldous Huxleys Brave New World (1932)46 in den 80er Jahren zu einer nicht-pathetischen Groteske mit Zitatcharakter. Der ursprünglichen provokativen und kritisch-ideologischen Stoßrichtung der anti-utopischen Romane wird also postmodern die Spitze gebrochen. Diese Tendenz ist auch bei Loriga auszumachen. Die »Angstlust« bzw. der »Schauereffekt«, die Jabákowska als typisch für die Anti-Utopien der 80er ansieht, fehlt bei Loriga zwar den im Roman referieren blutigperversen Schreckensbildern nicht, wohl aber der Erzählhaltung seines Protagonisten, der abgestumpfte impassibilité zur Schau trägt, die er – so legt der Roman nahe – neben den Drogen v. a. seinem exzessiven Fernsehkonsum verdankt.47 Das Fernsehen ist als Leitmedium überall präsent. In den Hotelzimmern (z. B. Tokio 12, 79, 53),48 in Bars (z. B. Tokio 139, 154, 260), in Flughäfen und U-Bahn-Stationen. Das Fernsehen ist Bestandteil des materiellen Reichtums der zynischen Upper Class (vgl. die Bungalows mit Pay-TV, Tokio 22), erreicht aber auch marginalisierte Bevölkerungsteile: die Indianer in den Reservaten (Tokio 15), die Armenviertel Asiens (Tokio 85) und die Wohnwagen der schrägen Senioren-Kolonie in Arizona (Tokio 271). Es gehört zum degenerierten Straßenbild der Großstadt: Desde la ventana del monorraíl se ven las luces de Sinjuku y el corazón apagado del palacio imperial y los elefantes dormidos del nuevo zoo de Uono y los 46 Der Bezug zur literarischen Anti-Utopie der Moderne wird auch in Historias del Kronen hergestellt. Sprachrohr der Buchkultur und ihrer apokalyptischen Warnungen ist wieder Carlos’ Großvater: »– […] Tenéis que estudiar mucho porque la gente de tu generación lo tiene muy difícil. Sois demasiados y la competencia va a ser feroz. El otro día estaba leyendo una novela de un inglés, Jiuxli, que se titula Mundo Feliz [...]. Es un retrato terrible del mundo en que vais a vivir...« (Historias 82); Dt.: »– [...] Ihr müsst viel lernen, denn die Angehörigen deiner Generation haben es sehr schwer. Ihr seid zu viele und der Wettbewerb wird grausam sein. Neulich habe ich einen Roman von einem Engländer gelesen, Huxley, der Schöne Neue Welt heißt. […] Er ist ein furchtbares Porträt der Welt, in der ihr leben werdet…«. 47 Vgl. Joanna Jabákowska: »Die Tradition der Schauerliteratur in den apokalytischen Visionen der Nachkriegszeit«, in: Hans Esselborn (Hg.), Utopie, Antiutopie und Science Fiction im deutschsprachigen Roman des 20. Jahrhunderts, Würzburg: Königshausen & Neumann 2003, S. 107-117, Zitate S. 107 und S. 117. 48 Hier und in der Folge wird zitiert aus: Ray Loriga: Tokio ya no nos quiere, Barcelona: Plaza & Janés 2000. 105
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teléfonos encendidos de los niños drogados de Shibuya y la luz intermitente de los aviones y el rencor constante de los veteranos de guera [sic!] y la belleza renacida de las viudas y el vapor en las ventanas de los hoteles y la luz absurda de los televisores y la sangre debajo de los coches estrellados y el cielo negro y el precio rojo de las etiquetas en las rebajas y la luz amarilla de las casas de pornografía infantil y [...]. (Tokio 246)49
Der einzige fernsehfreie Raum ist das Krankenzimmer im Berliner Sanatorium (Tokio 172) – wo der Protagonist andererseits jedoch einer regelrechten ›Fernsehtherapie‹ unterzogen wird. Der Protagonist nutzt Fernsehen als Kontaktersatz: Er lässt es laufen, damit jemand da ist, wenn er nach Hause bzw. ins Hotel kommt (Tokio 19). Meist kombiniert er Fernsehen mit Bierkonsum, zum Abschalten (z. B. Tokio 61-62). Diese Angewohnheit hatte er schon im Leben mit seiner früheren Freundin (z. B. Tokio 219, 220, 227-228) – die diese Lebensweise nicht schätzte (Tokio 214-217). Während er fernsieht, duscht sie oder liest die Zeitung (Tokio 219). Diese Differenz könnte als Anfang vom Ende der Beziehung angesehen werden – die Haltung der beiden zum Leben ist inkompatibel: Während er hauptsächlich gegenwartsorientiert lebt und in seinen Zukunftsplänen nur an ihren Ideen partizipiert, plant sie aktiv und verwertet Erfahrungen, d. h. sie ist ein ›geschichtlicher Mensch‹. Das Fernsehen wird hier also als Symptom einer passiven, der Gegenwart verschriebenen Lebenshaltung inszeniert, eine Kritik die Günther Anders schon in »Die Welt als Phantom und Matrize« formuliert hat: Fernsehen betrügt den Menschen um die Erfahrung des wirklichen Lebens.50 Medien verstärken die innere Leere des Menschen, statt sie zu füllen, wie Max Picard bereits in Die Welt des Schweigens (1948) am Radio kritisiert.51 49 Dt.: »Aus dem Fenster der Einschienenbahn sieht man die Lichter von Sinjuku und das erloschene Herz des Kaiserpalastes und die schlafenden Elefanten des neuen Zoos von Ueno und die eingeschalteten Telefone der unter Drogen stehenden Kinder von Shibuya und das Blinklicht der Flugzeuge und den dauernden Groll der Kriegsveteranen und die wiedergeborene Schönheit der Witwen und den Dampf an den Fenstern der Hotels und das absurde Licht der Fernseher und das Blut unter den zerschellten Autos und den schwarzen Himmel und den roten Preis auf den Etiketten des Schlussverkaufs und das gelbe Licht der Läden mit Kinderpornographie […]«. 50 Vgl. Anders: »Die Welt als Phantom«, S. 109 und S. 114. 51 »Nicht nur das, was ist, sondern auch das, was sein wird, ist schon im voraus vom Radio besetzt. Der Mensch wird vom Geräusch der Gegenwart in eine Zukunft begleitet, die auch wieder Geräusch ist, er kennt sich im voraus schon darin aus, das macht ihm Gegenwart und Zukunft langweilig«. 106
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Im Sanatorium leidet der Patient unter der Stille, weil ihm die Minuten des Hier und Jetzt, die für ihn die einzig existenten sind, ohne strukturierendes Geräusch zu entgleiten drohen. Er hält sich an den von ferne gehörten Hintergrundgeräuschen der Fernseher fest, wie am monotonen Hin und Her eines Ping-Pong-Spiels (Tokio 196). Das Fernsehen wird für den Menschen ohne Gedächtnis zum Garanten der Wirklichkeit, weil es die Leere mit Sinneseindrücken füllt. Was aber sind die hauptsächlichen Themen des Fernsehens? Es spielt Musik und Unterhaltung, doch es zeigt v. a. Nachrichtensendungen, in denen sensationslüstern Gewalt vermarktet wird. Neben Gewaltverbrechen werden v. a. Unfälle mit blutiger Todesfolge gezeigt, oft auch Brände (z. B. Tokio 32, 38, 40, 53, 79, 96, 124, 154). Gegen Ende des Romans kommt z. B. unweit des Aufenthaltsortes des Protagonisten die Mutter seiner ehemaligen Freundin durch ein Gewaltverbrechen um – eine betagte Spielerin, die dafür berühmt war, immer zu gewinnen. In einer grotesken Szene, die der Protagonist diesmal nicht in Medienbildern, sondern in der ›Realität‹ zu sehen bekommt, schwebt der Fernsehhubschrauber bereits wie ein kreisender Geier über dem Tatort, auf dem Polizei und demonstrierende Frauenrechtlerinnen die Kulissen für die Fernsehbilder vorbereiten, die der Leser durch die Augen des Erzählers präsupponiert. Der Protagonist flieht vom Schauplatz (Tokio 267-268). Die Wirklichkeit ist hier Inszenierung, sie wird hinsichtlich ihrer optimalen Medienwirkung arrangiert.52 Mit Baudrillard gesprochen: »Die Realität geht im Hyperrealismus unter, in der exakten Verdoppelung des Realen […]«.53 Die medialen Bilder sind dabei nur die genaue Replik einer genauso absurden Wirklichkeit. Das Fernsehen ist ein »Nullmedium« (Enzensberger), das nur transmittiert.54 Dieses Thema wird gleich zu Anfang eingeführt: Der Protagonist sieht auf dem Fernsehbildschirm ein Gesicht, das er kurz zuvor auf dem Flur seines Hotels gesehen zu haben glaubt, was er als komische Koinzidenz abtut (Tokio 16-17). In den Nachrichten über den Tod eines belgischen Vertreters meint der Protagonist das Haus auf der Straßenseite gegenüber wiederzuerkennen – er blickt aus dem Siehe Max Picard: Die Welt des Schweigens, Erlenbach-Zürich: Eugen Reutsch 1948, S. 206. 52 Auch die Stilisierung der Ereignisse, ihre Züchtung hinsichtlich ihrer televisivenVerwertbarkeit, ihrer »optimale[n] Reproduktionseignung« wird bereits von Günther Anders diagnostiziert: »Das Wirkliche – das angebliche Vorbild – muß also seinen eventuellen Abbildungen angemessen […] werden«. Vgl. Anders: »Die Welt als Phantom«, S. 190. 53 Siehe Baudrillard: »Der symbolische Tausch«, S. 174. 54 Vgl. Hörisch: Der Sinn und die Sinne, S. 340. 107
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Fenster und sieht die Polizeiautos bereits dort stehen (Tokio 38). Auch erfährt er aus dem Fernsehen von Verbrechen und Todesfällen, die mit seinen Kunden in Zusammenhang stehen, z. B. sieht er den Bericht über den Tod eines mexikanischen Astronauten im Flugsimulator – mit einer Videokamera live aus nächster Nähe gefilmt –, was ihm ein unangenehmes Gefühl bereitet (Tokio 96). Was er – Ironie des Schicksals – bereits vergessen hat, woran sich der Leser aber erinnert: Es handelt sich um den Bruder einer armen mexikanischen Prostituierten, die er kurz zuvor getroffen hat und die auf ihren berühmten Bruder alle ihre Hoffnung gesetzt hatte. Teils haben solche Koinzidenzen einen bedrohlichen Charakter. So rechnet sich der Protagonist zu der Klasse von Menschen, die auf einem computergenerierten Fahndungsfoto im Fernsehen immer Ähnlichkeit zum eigenen Gesicht festzustellen meinen (Tokio 20). Der Modus der Wahrnehmung von Medienbildern und Wirklichkeit unterscheidet sich nicht, was auch in der Diskursstruktur zum Ausdruck kommt: Me bebo una cerveza en una taquería mejicana. En la televisión hay un hombre mirando una cruz en llamas. En la calle hay un chapero con una cazadora roja de seda con un dragón bordado en la espalda. Esto es lo que pienso. (Tokio 40, eine ähnliche Formulierung siehe auch 32)55
Der Stil ist banal, eine bewusste Unterbietung literarischer Standards. Ein parataktischer Satzbau mit parallelistischen Satzgliedern und Anaphern wird durch die Wiederholung einfacher, wenig sprechender Präpositionen (fünfmal »en«, zweimal »con«) und durch die zweimalige banale Formulierung mit »haber« unterstrichen. Die Perspektive ist rein äußerlich, gegenwartsbezogen und deskriptiv. Es wird die Abstumpfung des Protagonisten gegenüber der Gewalt im Fernsehen gezeigt, ebenso wie sein »Nichtdenken«. In der Guckguck-Welt nach Neil Postman56 zeigen die Bilder keine Zusammenhänge, keine Bedeutung. Was in den Blick gerät, verschwindet gleich wieder aus dem Fokus der Aufmerksamkeit und wird von Gleichwertigem verdrängt, wie der Doktor seinem Patienten erklärt (Tokio 185, 188).57 Betrachtet der gedächtnislose Protagonist im Sanatorium nicht den Doktor, betrachtet er die Blumen auf dem
55 Dt.: »Ich trinke ein Bier in einer mexikanischen Tacos-Bar. Im Fernsehen sehe ich einen Mann, der ein Kreuz in Flammen anschaut. In der Straße sehe ich einen Stricher mit einem roten Blouson aus Seide mit einem Drachen auf den Rücken gestickt. Das ist, was ich denke«. 56 Vgl. Postman: Wir amüsieren uns, S. 83. 57 Den gleichen Effekt beschreibt Postman an der Guckguck-Welt, ebd. S. 90. 108
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Nachttisch, die die gleiche Wertigkeit besitzen (Tokio 189). Jeder Sinneseindruck tilgt den vorhergehenden. Der Protagonist ist so in seiner inauthentischen Wirklichkeit gefangen, dass seine Entfremdungserfahrungen sich nicht aus dem Widerspruch zwischen Medienbildern und ›Wirklichkeit‹ ergeben, sondern durch Auffälligkeiten und Inkongruenzen des medialen Bildes als solchen, das in seiner Materialität betont wird. So empfindet es der Protagonist als beängstigend, dass im asiatischen Armenviertel die Fernseher in den Hütten alle das gleiche Programm ausstrahlen, als wären sie synchronisiert (Tokio 85). Die Diskrepanz zwischen dem Fernsehbild einer Sängerin und den Bundesligaergebnissen auf der Tonspur macht ihn stutzig (Tokio 88) und seine Wahrnehmungsstörungen infolge des Drogenmissbrauchs vergleicht er mit dem verzögerten Bildaufbau eines alten Fernsehers mit technischen Problemen (Tokio 104). Auch in Lorigas Roman ist der Bezug auf das Fernsehen nicht rein thematisch, sondern prägt die Erzählperspektive. Die Verwischung der Grenzen zwischen Alltagswahrnehmung und der Wahrnehmung medialer Bilder wird z. B. durch überraschende Lektüreeffekte erreicht. El hombre con la cara tatuada no tiene más remedio que correr hacia adelante. Hay un pequeño conserje con un solo brazo bailando en la recepción de un hotel. Me he despertado en Madrid, desconcertado, como un tipo que al salir del agua no recuerda dónde dejó la ropa. En la televisión hay una película francesa. Un hombre se hace tatuar la cara en un barracón de la legión española. »Pase lo que pase ya nunca podré volver a casa«. Eso es lo que dice el hombre tatuado. El miedo que tiene ahora le salvará del miedo del futuro. Como una de esas vacunas contra la alergía. Veneno contra el veneno. Una buena película en cualquier caso. En la recepción del hotel hay un conserje con un solo brazo bailando música de la radio. (Tokio 259)58 58 Dt.: »Der Mann mit dem tätowierten Gesicht hat keine andere Wahl, er muss vorwärts laufen. Ein kleiner Rezeptionist mit nur einem Arm tanzt am Empfangsschalter eines Hotels. Ich bin in Madrid aufgewacht, verunsichert, wie ein Typ, der aus dem Wasser steigt und sich nicht mehr erinnert, wo er die Kleider gelassen hat. Im Fernsehen läuft ein französischer Film. Ein Mann lässt sich das Gesicht tätowieren, in einer Baracke der spanischen Fremdenlegion. ›Es mag passieren was will, jetzt kann ich niemals mehr nach Hause zurück‹. Das ist es, was der tätowierte Mann sagt. Die Angst, die er jetzt hat, wird ihn vor der Angst der Zukunft retten. Wie eine dieser Impfungen gegen die Allergie. Gift gegen Gift. Ein guter Film, jedenfalls. Am Empfangsschalter des Hotels tanzt ein Rezeptionist mit nur einem Arm zur Musik des Radios«. 109
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Die Beobachtung, die die Passage einleitet, stellt sich erst im Nachhinein als eine Lehre aus einem Film heraus. Die Zeitangabe des ersten Satzes ist am ehesten gnomisch: Die Aussage formuliert eine gültige Lebensweisheit. In einer Analepse in die unmittelbare Vergangenheit (»Me he despertado«) situiert sich der Protagonist in einem Hotelzimmer in Madrid. Beim Aufstehen ist er kurz desorientiert, er hat einen Ortswechsel hinter sich und befindet sich seit langer Zeit zum ersten Mal in der inzwischen fremden Stadt seiner Kindheit. Er erwacht in einem fremden Hotelzimmer. Das Fernsehen verschafft ihm sofort Orientierung, wenn auch in einer Fiktion. Folgerichtig wird die Szene im Film im Präsens der Echtzeitbeobachtung wiedergegeben, auch wenn man sie sich hier als erinnert vorstellen muss, wurde die aus ihr abgeleitete Lebensweisheit doch vorweggenommen. Die Klammer des tanzenden Rezeptionisten ist als Beschreibung einer Wahrnehmung aufzufassen, jedoch ist sie hinsichtlich ihres ›Realitätsstatus‹ bei der ersten Nennung nicht klar einzuordnen. Handelt es sich um einen Angestellten des Madrider Hotels? Um eine weitere Filmszene? Der unbestimmte Artikel, der »hotel« vorausgestellt ist, klärt die Deixis unzureichend. Bei der Wiederholung des Satzes am Ende der Passage wird der direkte Artikel verwendet. Bedeutet das, dass es sich tatsächlich um das Madrider Hotel handelt und der Protagonist inzwischen ›in der Wirklichkeit‹ bzw. im Foyer angekommen ist? Oder bedeutet die Bestimmtheit lediglich, dass das Hotel ja bereits aus der Nennung am Anfang der Passage bekannt ist? Der Roman treibt ein ironisches Spiel mit der »paradoxalen Präsenz«, die Virilio den Fernsehbildern in Die Sehmaschine zurechnet: Die Präsenz ist nicht mehr an die räumliche Kontiguität gebunden, sondern an die Aktualität, an das Vorhandensein in einer parallelen Echtzeit.59 Es gibt allerdings einzelne Hinweise, dass jenseits des drogenmanipulierten Bewusstseins des Protagonisten und Erzählers Medienwelt und Wirklichkeit nicht komplett koinzidieren: Die Liveübertragung von Exekutionen aus amerikanischen Gefängnissen mit 30 Millionen Zuschauern macht den Job des amtlichen Zeugen an für sich überflüssig – dennoch wird sein Job beibehalten (Tokio 51). Der alte Krumper ist zum Tode verurteilt, weil sein Gesicht auf dem Bildschirm nicht mehr die nötige Aufmerksamkeit seiner Umgebung auf sich ziehen kann. Die kleine Mexikanerin mit seinem leiblichen Gehirn dagegen lebt weiter. Gibt es doch einen Unterschied zwischen medialer und ›physischer‹ Wirklichkeit? Zusammenfassend kann man sagen, dass in den beiden Beispielen Fernsehen als Bestandteil der diegetischen Welt, also als Substanz des
59 Vgl. Virilio: Die Sehmaschine, S. 144-145. 110
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Inhalts in der Terminologie von Seymour Chatman60 thematisiert wird. Bezüglich der Form des Inhalts gibt es in Tokio ya no nos quiere Ansätze einer Infizierung der Geschichte durch Medienformate, schließlich spielt sie in einer unwirklichen Welt generalisierten Verbrechens etc., in Historias del Kronen ist die Form des Inhalts nur Thema, z. B. geht es um die sensationsgierige Aufmachung von Nachrichten. Die Form des Ausdrucks dagegen lehnt sich in vielen der Romane an die fernsehtypische Echtzeitwahrnehmung an, wodurch man von einer ›fernsehinfizierten‹ Schreibweise sprechen könnte.
4 . S p a n i sc h e P o s tm o d e r n e : E i n E x tr e m f al l Die thematische Bearbeitung des Fernsehens in den besprochenen Romanen verbindet sich mit einer übergreifenden Befindlichkeitsanalyse der Gegenwart der 90er Jahre: In konturlosen Großstädten ohne Zentrum und einer enthierarchisierten Gesellschaft ohne ethische Orientierungspunkte leben die Jugendlichen einen entfremdeten Alltag ohne Ziel. Ihr Verhalten ist von Beschleunigung, Gegenwarts- und Konsumorientierung, Oberflächlichkeit, Realitäts- und Werteverlust, Verdrängung emotionaler Probleme, Gewaltphantasien, der Verwischung von Tag und Nacht in einem Rausch aus Medien- und Drogenmissbrauch und Kommunikationsarmut geprägt.61 Diese Zustandsdiagnose kann man auf allgemein postmoderne Befindlichkeiten zurückführen. So begründet Carlos in der Auseinandersetzung mit seinem Vater seine Orientierungslosigkeit mit dem postmoder60 Während der Inhalt (story / content) eine Substanz in der kulturell gefilterten und wahrgenommenen Wirklichkeit und eine Form in den literarischen Instanzen events (actions, happenings) und existents (characters, settings) aufweist, hat auch der Diskurs oder expression eine Form, die Struktur der narrativen Vermittlung, und eine Substanz, die medienabhängige Manifestation im verbalen (oder anderen medialen) Code. Siehe Seymour Chatman: Story and Discours. Narrative Structure in Fiction and Film, Ithaca/London: Cornell UP 1978, S. 26. 61 In seiner soziologischen Studie Sociología de valores en la novela contemporánea española. (La generación X), Madrid: Fundación Santa María 2003, S. 134 benennt Antonio Gutiérrez Resa die Paradigmen »cultura del bienestar« (Wohlstandsgesellschaft), »presentismo« (Gegenwartsbezogenheit), »lo más ›in‹ (the best)« (Marken- und Modebewusstsein) und »tópicos« (Klischeedenken) als die Punkte, in denen die Romane Sonko 95 und Historias del Kronen von José Ángel Mañas mit der Wertorientierung der Jugendlichen der 90er Jahre, wie sie Meinungsstudien konstatieren, zur Deckung kommen. 111
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nen Wertevakuum, in dem den Jungen die Möglichkeit zur identitätsbildenden Opposition fehlt: El rollo sesentaochista pseudoprogre de siempre. Son los viejos los que lo tienen todo: la guita y el poder. Ni siquiera nos han dejado la rebeldía: ya la agotaron toda los putos marxistas y los putos jipis de su época. Pienso en responderle que justamente lo que nos falta es algo por o contra lo que luchar. (Historias 67)62
In der Tat zeichnen sich viele Romane der Autoren der Generation X in den 90er Jahren zwar durch ihre Zuwendung zu Alltagsthemen und zur gesellschaftlichen Wirklichkeit aus, die durchwegs pessimistisch gesehen wird, doch fehlt einerseits eine klare, explizite Reflexion über die Missstände und andererseits vor allem ein positives Gegenbild, eine Perspektive, die aus dem Dilemma herausführen könnte. So bezeichnet Manuel Vázquez Montalbán die jungen Autoren als »generación del enigma, sin la voluntad socialrealista de ›denunciar‹«,63 als die Generation des Rätsels, ohne den sozialrealistischen Willen zur Anklage. Die 90er Jahre in Spanien sind denn auch mehr noch als anderswo durch wirtschaftliche und politische Passivität geprägt. Wenn auch die Entwicklung zur Dienstleistungsgesellschaft mit wenig attraktiven Jobs – nach Douglas Coupland McJobs genannt64 – und das Ende des hohen Wirtschaftswachstums der Boom-Zeit auch in anderen Ländern zu einer schlechten Situation der Jugendlichen auf dem Arbeitsmarkt führt, ist in Spanien die Jugendarbeitslosigkeit besonders hoch. Mitte der 90er Jahre erreicht sie ihren Höhepunkt mit über 40 %. Vor allen Dingen der Zugang zu sicheren Stellen ist längerfristig blockiert, z. B. im Staatsdienst, der nur über die oposiciones, jährlich stattfindende Auswahlprüfungen, zugänglich ist. Viele Jugendliche arbeiten in Jobs, die ihrer Ausbildung – auch ihrer akademischen Ausbildung – nicht entsprechen, und das nicht, wie im Roman Couplands, aus Enttäuschung über den öden Arbeitsalltag als mehr oder minder freiwillige Aussteiger, sondern weil sie trotz ihrer Bemühungen keine Arbeit finden. Politisch verlängern sich die Nachwe-
62 Dt.: »Der alte pseudoprogressive Scheiß der 68er. Die Alten sind die, die alles haben: den Zaster und die Macht. Nicht mal die Rebellion haben sie uns gelassen: Die haben schon alle die verdammten Marxisten und die verdammten Hippies ihrer Zeit aufgebraucht. Ich will ihm antworten, dass uns gerade etwas fehlt, wofür oder wogegen wir kämpfen können«. 63 Vgl. Manuel Vázquez Montalbán: »La generación X, Y y Z«, in: Manuel Vázquez Montalbán: Un polaco en la corte del Rey Juan Carlos, S. 360386, hier: S. 379. Zur Generation X siehe v. a. ebd. S. 378-386. 64 Siehe Coupland: Generation X, S. 14. 112
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hen des desencanto der 80er Jahre angesichts des Machtmissbrauchs und der Korruption der letzten PSOE-Zeit in einer zynisch-antipolitischen Einstellung. Diese erste genuin postmoderne spanische Generation ist zugleich auch die erste postfrankistische, eine Generation eines konkreten Posthistoire, für die weder die Opposition gegen die Diktatur noch die Unsicherheiten und die Aufbruchstimmung der Transitionszeit zum eigenen Erinnerungs- und Identitätsbestand gehören.65 Der gesellschaftliche Wandel, der Jugendliche direkt in der Postmoderne absetzte, erfolgte in Spanien besonders schnell und führte zu einem verschärften Generationenkonflikt. Während ihre Eltern trotz der wirtschaftlichen Prosperität des späten Frankismus durch die Anomalie der Diktatur gewissermaßen noch in einer modernen Periode gelebt hatten – sie erfuhren eine stark klerikal geprägte Bildung und kannten ein öffentliches Leben, das durch autoritäre Strukturen geprägt war, die auch im privaten Bereich noch griffen (Ehegesetz, Abtreibung, Rechte der Frau etc.). Andererseits konnte sich ein leicht anachronistischer Idealismus der Opposition gegen die Diktatur in den Kreisen oppositioneller Intellektueller noch halten. Der Entwurzelungseffekt durch die schnelle ›Postmodernisierung‹ ist in Spanien daher besonders ausgeprägt und führt zu einem besonders starken Entfremdungseffekt zwischen Eltern und Kindern. So diagnostiziert Alberto Medina Domínguez für das Spanien der 90er Jahre ein Verharren in der Melancholie der Mediengesellschaft, wie sie Adorno sieht: Während die politische Rechte der Franco-Zeit nachtrauert, vermisst die Linke die in der postmodernen Mediengesellschaft verloren gegangene Handlungsfreiheit und die Euphorie des Emanzipationsprojektes.66 Die Enttäuschung über diesen Verlust trifft eine Generation besonders heftig, die durch die Ungleichzeitigkeiten in der gesellschaftlichen und politischen Entwicklung Spaniens, einen 40 Jahre aufgeschobenen Freiheitstraum nun nicht verwirklichen, sondern nur dessen postmodern-medialer Inszenierung beiwohnen kann. Die für die Postmoderne typische Medienkultur etabliert sich in Spanien weit schneller. Die Liberalisierung der Medien setzt verstärkt ab Anfang der 70er Jahre ein und zieht eine Kommerzialisierung der Kultur nach sich, die sich beispielsweise im Phänomen des destape, des Interesses breiter Rezipientenschichten an Erotik und Sexualität äußert. Der Aufbau des staatlichen Fernsehens erfolgt zu einer Zeit, in der der Glaube an den staatlichen Auftrag der political correctness und re-education nicht mehr im gleichen Maße greift wie in der Nachkriegszeit, in der das 65 Vgl. Vázquez Montalbán: »La generación X, Y y Z«, S. 378. 66 Vgl. Alberto Medina Domínguez: Exorcismos de la memoria. Políticas y poéticas de la melancolía en la España de la transición, Madrid: Libertarias 2001, S. 19. 113
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deutsche öffentlich-rechtliche Fernsehen aufgebaut wurde, das in seinem aufklärerischen Selbstverständnis gewissermaßen einen paradigmatischen Gegenpol zum Kommerzfernsehen einnimmt. Einerseits gibt es daher im spanischen Staatsfernsehen der Demokratie von Anfang an stärker kommerzialisierte Angebote, andererseits wird der Zynismus der Machteliten auf der politischen Bühne umso bewusster. Joan Ramon Resina liest so die gesamte Transición als Inszenierung und Medienspektakel: »One need only glance back at the cultural promotion and symbolic concentration in the heady years of reestablished electoralism to realize that the resolution of the conflict was fictitious even at the ideal level of culture«.67 Zur öffentlichen Zurschaustellung der spanischen Demokratiefähigkeit gehört dabei auch ein bewusst konstruierter postmoderner Anstrich: »Officialdom strained to rid Spain of its traditional aspect by promoting a postmodern look which found its conscious parody in Almodóvar’s films of the eighties«.68 So interpretiert auch José F. Colmeiro die in Tokio ya no nos quiere vorgeführte Amnesie als Diagnose postmoderner Befindlichkeit ebenso wie als Aussage über das Spanien der Transición, das sich der Gegenwart und gleichzeitig dem kollektiven Vergessen und Vergeben der traumatischen Bürgerkriegs- und Nachkriegsereignisse verschreibt, um die politische Stabilität der jungen Demokratie zu sichern.69 Der Verlust bzw. die Verdrängung der Erinnerung mache aber die Ausbildung von Identität unmöglich und verhindere somit auch eine klare Zukunftsper67 Siehe Joan Ramon Resina: »Introduction«, in: Joan Ramon Resina (Hg.), Disremembering the Dictatorship. The Politics of Memory in the Spanish Transition to Democracy, Amsterdam: Atlanta 2000, S. 1-15, hier: S. 10. 68 Siehe Joan Ramon Resina: »Short of Memory: the Reclamation of the Past Since the Spanish Transition to Democracy«, ebd., S. 83-125, hier: S. 92. 69 Man spricht vom »Pakt des Vergessens«. Nach Santos Juliá handelt es sich um einen bewussten Akt der Eliten, die begleitend zur Generalamnestie der politischen Verbrechen während des Krieges und der Franco-Zeit darauf verzichteten, die Vergangenheit zur rhetorischen Waffe in der Auseinandersetzung um die Demokratisierung zu machen, vgl. Santos Juliá: »Echar al olvido: Memoria y amnistía en la Transición«, in: Claves de Razón Práctica 129 (2003), S. 14-24. Der »Pakt des Vergessens« wird seit den 90er Jahren als eine der großen Beschränkungen des Übergangsprozesses diskutiert, vgl. Rafael Chirbes: »De que memoria hablamos«, in: Carme Molinero (Hg.), La Transición, treinta años después. De la dictadura a la instauración y consolidación de la democracia, Barcelona: Península 2006, S. 229-246. Eine negative Interpretation vgl. z. B. Gregorio Morán: El precio de la transición. Una interpretación diferente y radical del proceso que condujo a España de la dictadura a la democracia, Barcelona: Planeta 1991. 114
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spektive. Tokio, als Chiffre der Zukunft (dort spielt auch die Episode mit der Freundin des namenlosen Protagonisten, die ihm eine gemeinsame familiäre Zukunft verweigert), will vom willens- und orientierungslosen Protagonisten des Romans als dem Stellvertreter der in der zweiten Person Plural aufgehobenen traditionslosen Generation X des Romantitels nichts mehr wissen.70
L i t e r at u r Anders, Günther: »Die Welt als Phantom und Matrize. Philosophische Betrachtungen über Rundfunk und Fernsehen«, in: Günther Anders, Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. 1, München: Beck 1980, S. 97211. Baudrillard, Jean: »Sur le nihilisme«, in: Jean Baudrillard, Simulacres et simulation, Paris: Galilée 1981, S. 229-236. Baudrillard, Jean: »Der symbolische Tausch und der Tod« [Ausschnitt], in: Detlev Schöttker (Hg.), Von der Stimme zum Internet. Texte aus der Geschichte der Medienanalyse, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1999 [L’échange symbolique et la mort 1976], S. 172-181. Chatman, Seymour: Story and Discourse. Narrative Structure in Fiction and Film, Ithaca/London: Cornell UP 1978. Chirbes, Rafael: »De que memoria hablamos«, in: Carme Molinero (Hg.), La Transición, treinta años después. De la dictadura a la instauración y consolidación de la democracia, Barcelona: Península 2006, S. 229-246. Colmeiro, José F.: »En busca de la ›generación X‹: ¿Héroes por un día o una nueva generación perdida?«, in: España Contemporánea 1 (2001), S. 7-24. Colmeiro, José F.: »La nostalgia del futuro: amnesia global y hábitos de consumo en Tokio ya no nos quiere de Ray Loriga«, in: Angeles Encinar / Kathleen M. Glenn (Hg.), La pluralidad narrativa. Escritores españoles contemporáneos (1984-2004), Madrid: Biblioteca Nueva 2005, S. 177-188. Coupland, Douglas: Generation X. Geschichten für eine immer schneller werdende Kultur, Hamburg: Galgenberg 1992 [Generation X. Tales for an accelerated culture 1991]. Esselborn, Hans: »Vorwort«, in: Hans Esselborn (Hg.), Utopie, Antiutopie und Science Fiction im deutschsprachigen Roman des 20. Jahrhunderts, Würzburg: Königshausen & Neumann 2003, S. 7-11. Gnüg, Hiltrud: Utopie und utopischer Roman, Stuttgart: Reclam 1999. 70 Vgl. Colmeiro: »La nostalgia del futuro«, S. 188. 115
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FLIPPING, ZIPPING, SWITCHING, GRAZING: GESAMMELTE LITERARISCHE KURZGESCHICHTEN I N Z A P P I N G V O N D I D I E R D A E N I N C K X (1992) JÖRG TÜRSCHMANN 1 . P o l i t i s c h e A u f k l är u n g u n d K r i m i n al l i t e r a tu r Seit Beginn der 1980er Jahre veröffentlicht Didier Daeninckx nahezu jedes Jahr regelmäßig ein Buch.1 Meist handelt es sich um Kriminalromane, in einigen wenigen Fällen um Sammlungen kürzerer Erzählungen. Daeninckx hat mit seiner Literatur durch eine exemplarische Mischung aus Unterhaltung und politischem Engagement Aufsehen erregt. Dieses Erfolgsrezept hat es ihm ermöglicht, seine Erzählungen in einer Reihe verschiedener Verlage zu publizieren und in einigen Fällen mit seiner Literatur Preise zu gewinnen. Fast in jedem Buch ist dem Text eine Kurzbiographie des Autors vorangestellt. Darin heißt es, dass er, heute knapp 60jährig, als Drucker, Journalist und Animateur in der Freizeitbranche gearbeitet habe. Diese Informationen sind aufschlussreich, insofern sie mit den Geschichten in seinen Büchern zu tun haben. Der Autor scheint die Drucktechnik genauso gut zu kennen wie die Regeln der Berichterstattung und der Unterhaltung. Seine Vorliebe für gesellschaftliche Außenseiter lässt sich durch den Hinweis erklären, dass Daeninckx 1977 eine Zeit der Arbeitslosigkeit genutzt habe, um seinen ersten Roman Mort au premier tour2 zu schreiben, der dann aber erst fünf Jahre später veröffentlicht wurde, also 1982. Ab 1995 trägt Daeninckx, schon erfolgreich, einige Romane zu der von Jean-Bernard Pouy initiierten Serie Le Poulpe bei, stellt die Aufarbeitung unbekannter historischer Ereignisse aus antifaschistischer Perspektive in den Vordergrund und vergleicht dabei ver-
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Die folgenden Angaben zum Autor gehen zurück auf Elfriede Müller u. a.: Histoire noire. Geschichtsschreibung im französischen Kriminalroman nach 1968, Bielefeld: transcript 2007, S. 60-66. Eine deutschsprachige Ausgabe gibt es nicht; s. Übersetzungsvorschlag (ebd., S. 60): »Tod im ersten Wahlgang«. 119
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schiedene Zeitpunkte der französischen Geschichte.3 »Gleichwohl ist die politische Haltung der Poulpe-Romane negativ, da sie in kein konkretes politisches Projekt mündet«.4 Die Bekämpfung faschistischer Tendenzen durch Erinnerungsarbeit und zugleich der Pessimismus gegenüber der Zukunft prägen schon frühere Romane des Autors. Der Durchbruch gelingt 1984 mit Meurtres pour mémoire, wofür Daeninckx den Preis Vaillant-Couturier und den Grand Prix de la littérature policière erhält.5 In einer geschickten Überlagerung mehrerer Ereignisse der französischen Geschichte des 20. Jahrhunderts gelingt es Daeninckx, an die Verfolgung und Ermordung von Algeriern in Paris durch die Polizei bei einer Demonstration am 17. Oktober 1961 zu erinnern.6
2. Zappen und die mittlere Schärfe der Aufmerksamkeit Vor diesem Hintergrund politisch-literarischen Engagements formuliert Daeninckx seine Auffassung über das Fernsehen in einem Spannungsfeld aus politischer Analyse und stimulierender Genreliteratur. Der Titel des Bandes Zapping von 1992, ausgezeichnet mit dem Preis Louis-Guilloux,7 verspricht aber darüber hinaus eine Nutzungsweise, die im Umgang mit einem Buch nicht möglich ist. Die Bedeutung des Ausdrucks »Zappen« ist nicht festgelegt. In Wild-West-Zeiten war mit zapped jemand gemeint, der ›abgeknallt‹ worden war. Das englische zapping bezeichnet ein Kurzschlussgeräusch oder aber auch beim Öffnen einer Internetseite
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Ebd., S. 92. Ebd., S. 94. Didier Daeninckx: Meurtres pour mémoire, Paris: Gallimard 1984; [Dt.: Bei Erinnerung Mord, 2003]. Dieser Roman ist für das Fernsehen unter der Regie von Laurent Heynemann verfilmt worden und wurde als neunte Episode der Fernsehserie Série Noire am 26. Januar 1985 in Frankreich gesendet (http://ftvdb.bfi.org. uk/sift/title/281285 ). Didier Daeninckx: Zapping, Paris: Denoɺl 1992. Die Folio-Ausgabe von 1994, nach der im Folgenden zitiert wird, ist um die Erzählung »Farming Class Hero« erweitert. Eine Hörbuchfassung liegt ebenfalls vor: Didier Daeninckx: Zapping, gelesen von Yves Belluardo, La Bazoge: Studio de la Croix des Landes 2005. Die erste Kurzgeschichte des Bandes, »La place du mort«, wurde 1998 für das Radio adaptiert (http://fr.wikipedia.org/wiki/ Didier_Daeninckx ). Eine Übersetzung ins Deutsche gibt es nicht. 120
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einen aufblinkenden Pop-Up. Zapping ist ein Obergriff für die Verwendung der Fernbedienung durch den Fernsehzuschauer, genauer auch die Flucht vor Reklameeinspielungen in ein anderes Programm. Flipping oder switching ist die Flucht vor einem langweiligen Programm in ein anderes Programm, die Suche nach Höhepunkten. Grazing ist das Hinund Herschalten, um mehrere Sendungen gleichzeitig zu verfolgen. Gesichert sind diese Begriffe alle nicht, doch geben sie einige Strategien im Umgang mit der Fernbedienung wieder.8 Die Medienwissenschaft bewertet dieses Nutzerverhalten sehr unterschiedlich. Verurteilung und Optimismus kreisen um die Frage nach dem Sinn oder der Sinnlosigkeit beim Umschalten mit Hilfe der Fernbedienung.9 Eine Position zwischen diesen beiden Extremen besagt, dass das Zappen eine »höchst effektive und rationale Weise« des Umgangs mit dem Fernsehangebot sei:10 Das Umschalten ist deshalb höchst interessant und ein Ausdruck eines ganz eigenen Typs von Aneignungshandlungen, weil es sich nicht in simpler Informationsaufnahme beschränkt. Vielmehr ist es eine Bewegung in einem Feld von semiotischen Textalternativen. Das Bewußtseinskonstrukt, das man sich dazudenken kann und muß, umfaßt das Bewußtsein des Textes, des Fragments oder Stücks, das aktual [sic] aufgenommen und verstanden wird, und ein eigenes Bewußtsein des Felds von Alternativen, vor dem jenes aktuelle Stück sich befindet.11
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Diese Informationen stammen aus: http://de.wikipedia.org/wiki/Zappen ; Martin Wysterski: Webgezapped. Selektion im TV und WWW, Marburg: Tectum 2003; Mike Friedrichsen u. a.: Fernsehwerbung – quo vadis? Auf dem Wege in die digitale Medienwelt, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2004, S. 275; Bernd W. Wirtz: Medien- und Internetmanagement, Wiesbaden: Gabler 42005, S. 388. Für weitere Literatur zum Thema s. Hans J. Wulff: »Umschalten / Zapping: Strategien der selektiven Fernsehnutzung. Eine Arbeitsbibliographie«, in: Medienwissenschaft / Hamburg: Berichte und Papiere 39 (2003), Hamburg: Universität Hamburg; http://www1.uni-hamburg.de/Medien/berichte/arbeiten/0039_03 .html ). 9 Vgl. Karl Sierek: Aus der Bildhaft. Filmanalyse als Kinoästhetik, Wien: Sonderzahl 1993; Hartmut Winkler: Switching, Zapping. Ein Text zum Thema und ein parallellaufendes Unterhaltungsprogramm, Darmstadt: Häusser 1991; Jean-Louis Chabrol / Pascal Périn: Le Zapping, Issy-lesMoulineaux: CNET 1992. 10 Hans J. Wulff: »Rezeption im Warenhaus. Anmerkungen zur Rezeptionsästhetik des Umschaltens«, in: Ästhetik und Kommunikation 21, 88 (1995), S. 61-66, hier: S. 62. 11 Ebd. 121
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Zwei Faktoren spielen beim Umgang mit der Fernbedienung eine Rolle: das »Rezeptionsinteresse« und der »Horizont«. Letzterer besteht aus dem »aktuellen Angebot und dem historischen Horizont, durch den das Subjekt sozialisiert wurde«. Die Sozialisation beruht auf der Seherfahrung, die aus der Fernsehrezeption selbst herrührt.12 Fernsehzuschauer, die aus einer unbekannten größeren Anzahl von Programmen auszuwählen haben, können diese Aufgabe nicht lösen. Das Rezeptionsinteresse wiederum richtet sich auf bevorzugte Gegenstände. Doch dieses Interesse »wechselt von Tag zu Tag, vielleicht sogar von Umschaltphase zu Umschaltphase«.13 Zappen erfolgt auf der Grundlage einer Beziehung zwischen »Vordergrund« und »Hintergrund«. Die aktuell verfolgte Sendung muss ihre Attraktivität vor dem Hintergrund des parallel laufenden Fernsehangebots beweisen. Für einen Programmwechsel entscheidend ist erstens die »Ganzqualität« eines Textes, die die Rückkehr zum Text gewährleistet, zweitens das involvement, das mit dem Thema, dem Stil oder der Fabel zu tun hat, und drittens – als ein Sonderfall des involvement – das »Spannungserleben«: Umschalten dient gerade nicht dazu, Texte zu entleeren, sondern den Sinnhorizont des Fernsehfeldes immer wieder zu aktualisieren. […] Das hat mit einer Erprobung [HJW] zu tun, in der die Rezeption selbst auf ihren Erfolg hin durchgespielt und an Beispielmaterial ausprobiert wird.14
Dieses Verhalten wird vom »Flaneur« erprobt und »die damit verbundene Vorstellung, sich die urbane Konsumwelt begehend anzueignen«.15 Der Fernsehzuschauer, der zappt, praktiziert »nur eine besondere Ausprägung von Alltagswahrnehmung« bzw. der Erforschung des »situativen Feldes«,16 wo ebenfalls die Aufmerksamkeit ständig die Beziehung zwischen Vordergrund und Hintergrund neu ordnet. Die Verweise auf Walter Benjamins Passagenwerk als Modell der Großstadterfahrung und als Strukturmodell offener Erzählformen für die Literatur und den Kinofilm sind hinlänglich bekannt. Dennoch können Literatur und Film nicht das vagabundierende Rezeptionsverhalten wie beim Fernsehen bieten. Eher liefert der Vergleich eines gedruckten literarischen Werks mit der Aufzeichnung einer Fernsehsendung Aufschluss:
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Ebd. Ebd., S. 63. Ebd. Ebd., S. 64. Ebd., S. 65. 122
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Dies macht den Unterschied zwischen der aktuellen Besichtigung eines Programms und der Aufzeichnung von Programmen mit dem Videorekorder aus: Offenbar gehört es zum Wissen über den ontologischen Status des Fernsehens, daß es zum Zeitpunkt der Ausstrahlung ein gemeinsames Zeitkontinuum, ein gemeinsames »Aktual« der situativen Gegebenheiten und des Fernsehens gibt. Die Aufzeichnung bricht eine Sendung aus diesem Zeitfeld der Situation heraus. Die Beschreibung des Umschaltens muß die Modalität der Möglichkeit ebenso reflektieren wie den Bezug auf die situative Zeit, weil der rezipierte Fernsehtext auf dem Hintergrund anderer möglicher Gegenstände der Zuwendung ebenso stattfindet wie im Kontinuum der Alltagszeit.17
Literatur kann einer Aufzeichnung gleichen, die eine einzelne Sendung enthält. Sie kann das Umschalten durch offene Erzählungen imitieren. Sie kann vom Wechsel der Aufmerksamkeit zwischen Fernsehangebot und Alltagswelt erzählen. Wenngleich auch der sich in der Lektüre anschließende Dialog zwischen Leser und Text als ein feuilleton, ein »Umherblättern« denkbar ist, wenn beispielsweise die kurzen Erzählungen in Zapping wie die abgebildeten Waren in einem Katalog in beliebiger Reihenfolge lesbar zu sein scheinen, so bliebe jedoch laut der Ideologiekritik, die sich aus der positiven Bewertung des Zappens speist, ein Merkmal immer erhalten: »die bürgerliche Utopie eines Kunsterlebens, das ganz konzentriert und versunken ist«.18 Hier bietet das Fernsehen, anders als die »romantische Vorstellung der Begegnung des Subjekts mit dem Kunstwerk« in einer »intime[n] Situation«, die »Distanz« gegenüber dem Text auf gleicher Augenhöhe in einer »öffentliche[n] Kommunikation«, weil immer mehrere Angebote um die Aufmerksamkeit des Rezipienten ringen.19
3 . Z a p p i n g – ei n K a t al o g f i x e r I d e en Vom materiellen Träger einer Erzählung lässt sich nur bedingt auf die Art ihrer Rezeption schließen. Mediendeterminismus bedeutete im Fall des Fernsehens, dass die Zuschauer nur die Möglichkeit des Zappens besäßen. Alles andere wäre eine medienunspezifische Nutzungsweise. Es hieße auch zu behaupten, dass es im Fernsehen schlicht unmöglich wäre, ein Werk zu verbreiten und rezipieren. Dass andere Rezeptionsweisen vorkommen, beweisen einzelne herausragende Sendungen, die einen großen Teil des Fernsehpublikums zu einem bestimmten Zeitpunkt an 17 Ebd. 18 Ebd., S. 66. 19 Ebd. 123
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sich binden. Allerdings bleibt das Fernsehen immer ein Aufführungsmedium. Insofern prägt diese Eigenheit sehr wohl die Erwartung der Zuschauer. Ein Werk ist daher ein Ereignis, eine herausragende Begebenheit. Ein Werk ist im Fernsehen »eine Sendung mit einer Gemeinde«.20 Selbst beliebte Fernsehserien, Talk- und Gameshows werden auf diese Weise zu einem periodisch wiederkehrenden Ereignis und können sich einer großen Aufmerksamkeit des Publikums sicher sein. Die Printliteratur kennt zwar auch den Kult des Medienereignisses, beispielsweise wenn ein bekannter Autor ein neues Werk veröffentlicht und damit für großes Aufsehen sorgt. Die Lektüre dieses Werks erlaubt es jedem Leser, sich mit anderen darüber auszutauschen. Denn er darf davon ausgehen, dass andere auch davon gehört oder es sogar gelesen haben. Doch ist der eigentliche Lektüreprozess für das Lesepublikum nicht in der völligen Gleichzeitigkeit einer gemeinsamen Rezeption eingeschlossen. Die Unabhängigkeit des einzelnen Lesers bleibt in dem zeitlichen Rahmen gegeben, in dem das Werk in der Öffentlichkeit beworben, kritisiert oder gelobt wird. Später handelt es sich um eine davon unabhängige Entscheidung, dieses Werk zu lesen. Zapping ist aber nicht zu einem solchen Medienereignis geworden. Der Werkcharakter ist hier nur durch die printmediale Fassung gegeben, wird aber durch den Umstand, dass es sich um kurze Erzählungen handelt, teilweise wieder aufgehoben. Für den Leser von Zapping ist es möglich, die kurzen Geschichten nicht in der Reihenfolge zu lesen, in der sie im Buch angeordnet sind. Sie bauen nicht aufeinander auf. Allenfalls einige Handlungsorte und historische Daten wiederholen sich. Die Verbindung besteht laut Daeninckx zwischen den Erzählungen auf thematischer Ebene, nicht auf zeitlicher. Die Erzählsammlung imitiert also das Zappen mit der Fernbedienung nicht, nicht einmal den Programmablauf eines einzelnen Senders. Zapping a été entièrement consacré à la télévision. Les nouvelles ont été écrites sur trois ans à peu près. Je savais que j’étais en train de maltraiter la télévision autant qu’elle me maltraite. Après, j’ai rassemblé toutes les nouvelles qui portaient sur le thème du faux-semblant. J’aurai pu faire en sorte que ce soit encore plus abouti en racontant une journée-catastrophe, en commençant, par exemple, par Télé-Matin et en terminant avec des émissions pas possibles comme les Soap-Opéras de façon à constituer quelque chose de rythmé. Je le ferai peut- être plus tard.21
20 Ebd., S. 61. 21 Didier Daeninckx: »Ecrire en contre. Deuxieme partie. Entretien avec Christiane Cadet« 1996; (http://www.daeninckx.net/entretienstotal.htm ); Dt.: »Zapping war ganz dem Fernsehen gewidmet. Die Novel124
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Es werden kurze Geschichten von Menschen erzählt, die in verschiedenen Funktionen mit diesem Medium zu tun haben. Dazu gehören Fernsehzuschauer, Regisseure, Journalisten, Politiker und die Gäste von Talkund Spielshows. Die Episoden sind locker verbunden durch wiederkehrende Orts- oder Zeitangaben sowie durch die Wiederaufnahme von ähnlichen Protagonisten oder Konfliktsituationen. So kommt häufiger die kleine nordfranzösische Stadt Berck vor, oder die Handlung hat mit dem Datum des Nationalfeiertags zu tun, dem 14. Juli. Mitunter gibt es allerdings eine engere Verbindung zwischen zwei unmittelbar aufeinander folgenden Erzählungen, was aber nicht zwingend notwendig macht, sie nacheinander zu lesen. Wie bei den Titeln seiner Romane liebt der Autor das Wortspiel in Form von Anspielungen auf andere populäre Erzählwerke in der Kinogeschichte oder bekannte Erzeugnisse der Popularkultur.22 In Zapping gibt es Erzählungen mit dem Titel »Psyshowpathe«, »Farming Class Hero« und »Ticket tout ridé«. Im Sinne der Titel zielen die Geschichten häufig auf eine überraschende Wende ab, seltener auf eine Suspense-Situation.23 Es werden dem Leser Informationen vorenthalten, bis plötzlich am Schluss eine unerwartete Wendung erfolgt. Eine der kürzesten Erzählungen ist »Rafle en direct«.24 Am Nationalfeiertag des Jahres 2000, also vom Zeitpunkt der Veröffentlichung aus gesehen in der nahen Zukunft, ziehen wie üblich Militär und Vertreter verschiedener Nationen am Präsidenten vorbei, während »der Rest der Welt«25 in Besichtigungsbusse verfrachtet wird, ihm die Pariser Sehenswürdigkeiten gezeigt und namentlich genannt werden, bis der Name des Flughafens fällt und den Insassen der Busse klar wird, dass sie auf dem Weg zu ihrer Ausweisung unterwegs sind. Die Erzählung endet mit einem zornigen Wechsel in die
22
23 24 25
len wurden innerhalb von fast drei Jahren geschrieben. Ich wusste, dass ich dabei war, das Fernsehen so schlecht zu behandeln, wie es mich behandelt hatte. Danach habe ich alle Novellen gesammelt, die vom Thema des falschen Scheins handelten. Ich hätte in der Art noch Gelungeneres machen können, wenn ich einen Katastrophentag erzählt hätte, indem ich zum Beispiel mit Télé-Matin begonnen und mit unmöglichen Sendungen wie den Soap-Operas aufgehört hätte, um etwas Rhythmisches zu schaffen. Ich werde es vielleicht später machen«. So heißen zwei seiner Romane Métropolice und Nazis dans le métro in Anspielung auf die Filme Metropolis (1927) von Fritz Lang und Zazie dans le métro (1960) von Louis Malle. Vgl. Raphaël Baroni: La tension narrative. Suspense, curiosité et surprise, Paris: Seuil 2007, S. 107-108. Daeninckx: Zapping, S. 122-124; Dt.: »Live-Razzia«. Ebd., S. 124. 125
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gebundene Rede und einer typographischen Hervorhebung durch Fettdruck: Le 15 juillet 2000 à l’heure du premier journal télévisé, la France se réveilla normale. Ni noire, ni jaune. Ni bleue, ni rouge. Blanche et grasse.26 [Hervorhebung im Original]
Das Fernsehen kommt hier nur am Schluss ausdrücklich vor. Die gesamte Erzählung wird aber durch ihren Titel unter das Vorzeichen einer Fernsehübertragung gestellt. Der Wechsel von der Parade, die für die Öffentlichkeit inszeniert wird, zur Abschiebung ist für den Leser nicht sofort ersichtlich. Denn der Transfer zum Flughafen erfolgt in SightseeingBussen. Die Razzia findet in der Erzählwelt vor den Augen der Öffentlichkeit statt und eben doch auch nicht. Nur der Leser der Erzählung erhält gleichermaßen den Eindruck vom ungestörten Ablauf, in den sich die Busse nahtlos einfügen, und dem Schicksal, das auf die Fahrgäste wartet. Die Beobachterperspektive ist hier ein eingeengter Blick auf die Wirklichkeit. Daeninckx liefert die Informationen zum Verständnis der Handlung für den Leser ganz aus dieser Sicht, die zur Erzählhaltung gerinnt. Ist es in »Rafle en direct« eine anonyme Menge, so liegt häufiger der Fall vor, dass eine Figur und der Leser denselben Informationsstand teilen. Am besten ist der Effekt dieses Verfahrens wiederzugeben, wenn die Informationsabfolge entsprechend nachvollzogen wird. In der unmittelbar vorangehenden Erzählung »Les Allumeuses suédoises«27 ist ein 14. Juli in den 1970er Jahren der Zeitpunkt, an dem die Hauptfigur Jacques Vidal ihre Frau kennenlernt. 1975 wird eine Tochter geboren. Zuvor ist Jacques Vidal immer ins Kino gegangen und hat sich dort Pornos angeschaut, vor allem die aus Schweden, die sogar im schwedischen Kulturzentrum gezeigt wurden. 1991 kommt er nach einem langen Arbeitstag nach Hause und bemerkt, dass seine Tochter mit dem vielsagenden Namen Eva einen jener Pornos im Fernsehen anschaut, die er aus seiner Zeit als Kinogänger kennt. Er will seiner Tochter die unzüchtigen Bilder verbieten, für deren Verbreitung er den Privatsender Canal+ verantwortlich macht. Sie klärt ihn auf: Es handelt sich um FR 3, wo der 26 Ebd.; Dt.: »Am 15. Juli zur Stunde der ersten Fernsehnachrichten erwachte Frankreich normal. / Nicht schwarz, nicht gelb. / Nicht blau, nicht rot. / Weiß und fett«. 27 Ebd., S. 115-121; aus dem französischen Argot ungefähr zu übersetzen mit »Die schwedischen Scharfmacherinnen«. 126
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Film Monika im Rahmen einer Bergman-Retrospektive gezeigt wird. Das Fernsehen dient hier als Vermittlungsinstanz, die Erinnerungen auslöst und eine Rezeptionsweise unter unangemessenem Vorzeichen fortsetzt. Bergmans Film Sommaren med Monica von 195328 gerät durch das Fernsehen für Jacques Vidal zu einem Schlaglicht auf die eigene Vergangenheit. Auch hier wieder hat der Leser spätestens am Schluss die Möglichkeit, die falsche Fährte zu erkennen, auf die ihn die Erzählung durch die enge Erzählperspektive lenkt. Das letzte Wort der Erzählung ist »Monika…«. Es bleibt offen, ob die Hauptfigur ihre Art, mit dem Film umzugehen, zum kanonisierten Verständnis in ein Verhältnis setzen kann. Das scheinbare Missverständnis sagt auch etwas über das Fernsehen aus. Fernsehen ist laut der Hauptfigur gleichzusetzen mit Canal+. Der Erzähler dagegen weist erstaunlicherweise auf andere Angebote hin und entlarvt seine Hauptfigur, einen Computerexperten, als Mediennutzer mit Doppelmoral, der selbst nach seiner Heirat noch im Beisein seiner Frau im schwedischen Kulturzentrum Filme zu seinem pornographischen Vergnügen anschaut. Die beiden Beispiele zeigen, dass eine fixe Idee über eine Bruchstelle hinausgeführt wird. Durch die sukzessive Vergabe von Informationen wird diese Perspektive als ein Irrtum enthüllt. Es liegt also ganz anders als beim Zappen eine Einengung des Sinns vor, eine krampfhafte Aufmerksamkeit. Diese verhärtete Sicht verstellt den Blick auf andere Bedeutungsebenen, andere Umgangsweisen mit dem Fernsehen. Entscheidend ist, dass die Aufdeckung des eindimensionalen Verständnisses mit einem Ereignis, einer überraschenden Wende verbunden ist. Dieser bedeutsame Moment lässt innerhalb jeder Erzählung die Engstirnigkeit deutlich werden, die zuvor durchgängig von der Faszination eines Schauspiels ausging. Das »Werk«, das sich im Fernsehen laut medienwissenschaftlicher Ansicht nur insgesamt als »Ereignis« begreifen lässt, kommt bei Daeninckx eben durch ein zusätzliches Ereignis innerhalb dieses »Werks« zu Schaden. Die außermediale Wirklichkeit, der Alltag, also das »situative Feld«, das wie das »Fernsehfeld«29 beim Zappen durch eine Vordergrund-Hintergrund-Relation geprägt wird, drängt sich als solches in den Vordergrund. Fernseherleben und Alltagswahrnehmung sind nicht durch eine Binnendifferenzierung zueinander vermittelt, sondern stehen sich als Blöcke gegenüber. Der Einschnitt in die Faszination des Betrachters lässt sich als historischer Realismus bezeichnen, selbst wenn er sich bloß auf die Biographie einer literarischen Figur bezieht.
28 Der Film wurde in Deutschland unter dem Titel Zeit mit Monika, in Österreich unter dem Titel Rausch der Liebe gezeigt. 29 Wulff: »Rezeption im Warenhaus«, S. 61 und 64. 127
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4 . D i e P e r s e v e r a n z d e s H e l f e r s yn d r o m s Die Geschichten in Zapping schildern die Einengung des Blickfelds nicht nur hinsichtlich der Schaulust. In einer weiteren Art von Erzählungen wird ausgebreitet, wie das Fernsehen sich als soziale Instanz inszeniert, die den Armen und Bedürftigen helfen möchte und dabei genau das Gegenteil erreicht. Meist steht eine Spielshow im Mittelpunkt, in der die Teilnehmer Geld gewinnen können. Dabei entblößen sie ihre Bildungsmängel und ziehen den Spott der Öffentlichkeit auf sich. Doch selbst wenn sie gewinnen, bringt ihnen das Geld nur Unglück. In der Erzählung »Œil pour œil«30 müssen die Kandidaten Gewinne einspielen, um einer Blinden die Operation in den USA zu ermöglichen, die 200.000 Francs kosten soll. Das Spiel bringt 100.000 Francs ein. Die blinde Frau namens Véronique Bertholet fährt in die USA nach Dayton und ist nach der Operation nicht nur blind – eine Information, die erst mit dem letzten Wort gegeben wird: »D’aveugle, elle devint borgne«.31 Das Geld hat nicht gereicht. Die Überschrift zitiert einen biblischen Kontext herbei und kann im Sinne einer zynischen Verurteilung des selbst gewählten sozialen Auftrags verstanden werden, den das Fernsehen von der Kirche übernommen hat. In »Tirage dans le grattage«32 wird der Gewinner in einer Fernsehsendung, ein alter armer Mann, der in der Provinz lebt, in der gerade die Feiern zum 14. Juli angekündigt werden, irrtümlich von einem Bankräuber als Verräter angesehen, der die Komplizen eines Banküberfalls an die Polizei verraten und dafür eine Prämie eingestrichen haben soll. Deshalb muss der einsame Greis auf seinem Hof sterben, als der Bankräuber, als einziger seiner Bande noch in Freiheit, dorthin kommt, um sich das Geld zu holen. Der Kontext des Fernsehens wird ganz am Ende enthüllt, so dass der Leser erst hier erfährt, woher das Geld eigentlich stammt. In »La chance de sa vie«33 erhält die durch einen ärztlichen Kunstfehler an
30 Daeninckx: Zapping, S. 145-155; Dt.: »Auge um Auge«. 31 Ebd., S. 155; Dt.: »Zuerst blind wurde sie einäugig«. 32 Ebd., S. 101-111; nicht wörtlich übersetzbar. Die Wendung gratter un billet fällt auf der letzten Seite und bezieht sich darauf, dass die Kandidaten immer ein Los freirubbeln müssen, um die Teilnahme an der Gameshow zu gewinnen. Das französische tirer ist hier doppeldeutig, einmal in dem Sinne, dass ein Los »gezogen« wird. Zum anderen wird auf den alten Mann »geschossen«, so dass das Schießen als Ereignis in die Geschichte um die Show, die für den alten Mann mit dem Rubbellos beginnt, hereinbricht. 33 Ebd., S. 32-46; Dt.: »Die Chance ihres Lebens«. Der Titel bezieht sich auf die weibliche Hauptfigur und verweist zugleich auf eine Fernsehshow na128
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AIDS erkrankte Adélaïde genügend Geld, um ihr aus der durch hohe Arzt- und Krankenhauskosten verursachten Insolvenz ihres Haushalts zu helfen und sie vor dem Gerichtsvollzieher zu bewahren. Doch ihre Familie lauert ihr am Schluss auf und möchte ihr das Geld wegnehmen, weil sie Adélaïde die ganze Zeit unterstützt habe. Adélaïde tötet alle und dazu noch einen Polizisten. Hier ist die Hauptfigur Opfer ihrer eigenen engen Perspektive und der Hilfe durch das Fernsehen. Ihr Lebensziel ist es, aus der finanziellen Krise zu entkommen. Dafür tut sie alles. Das Geld aus der Fernsehsendung verstrickt die Heldin und ihre Familie in einen fatalen Konflikt. Die Hartnäckigkeit des Helfersyndroms prägt nicht nur das Fernsehen, sondern auch einzelne Personen. Sie bekommen es auf ihrem missionarischen Weg mit dem Fernsehen zu tun und erleben dadurch eine Überraschung. Dabei vergisst Daeninckx hier wie in den anderen Fällen nicht, seinen genreartigen Geschichten wenigstens das Etikett eines historischen Ereignisses, das im Hintergrund steht, anzuheften. In »Le psyshowpathe«34 wohnt Valérie in einem Hochhaus, an dessen Eingang eine Plakette angebracht ist zum Gedenken an den Widerstandskämpfer Jean Philippon, der am 24. August 1944 von den Deutschen erschossen worden ist. Valérie denkt kurz darüber nach, ob ein Mitbewohner des Hauses, der laut Namensschild an seinem Briefkasten den gleichen Familiennamen trägt, mit Philippon verwandt sein könnte. Das Thema spielt dann in der Erzählung keine Rolle mehr. Vielmehr spürt Valérie einem Nachbarn nach, aus dessen Wohnung häufiger die Schreie einer Frau dringen. Eines Abends sieht sie vom Freien aus im Fenster schemenhaft wie in einem Schattenspiel, dass ihr Nachbar eine Frau zu Boden ringt. Wieder sind Schreie zu hören, als sie sich seiner Wohnungstür nähert. Sie fasst sich ein Herz und betritt die Wohnung, deren Tür nicht verschlossen ist. Dort findet sie ihren Nachbarn auf dem Boden vor, wo er sich mit einer aufblasbaren Sexpuppe umher wälzt. Im Fernsehen läuft ein Porno. Auf Knien und mit Tränen in den Augen kriecht er auf Valérie zu, umklammert ihre Beine und fleht sie an zu bleiben: »[…] et elle se laissa tomber«.35 Fernsehen, Schattenbilder und Töne, die über den privaten Bereich hinaus dringen, werden zum Kontaktmittel für den Mann, dessen erbärmliche Situation genau die Erwartung der helfenden Valérie trifft. Die Heldin verhilft sich schließlich damit selbst zu einer Beziehung.
mens »La chance de leur vie«; Dt.: »Die Chance ihres Lebens«, wobei mit dem Pronomen leur mehrere Personen gemeint sind. 34 Ebd., S. 92-100. 35 Ebd., S. 100; Dt.: »[…] und sie ließ sich fallen«. 129
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Diese Hilfe als Selbsthilfe zeigt auch »Santé à la une«.36 Der IchErzähler ist mit seiner Freundin in Straßburg, wo er in der Ferne Michèle sieht, eine frühere Bekannte, die er einmal geliebt hat. Allein verfolgt er sie in den nächsten Tagen. Sie bewegt sich in einem zwielichtigen Milieu. Und sie scheint in Schwierigkeiten zu stecken. Schließlich führt sie ihn in ein Lokal, wo ein toter Mann liegt, der aus dem Bauch blutet. Die Erzählerfigur steigt in den dritten Stock, der Blutsspur folgend, und findet Michèle mit einem Messer in der Hand. Michèle nimmt ein Videoband und legt es ein. In dem Film wird berichtet, dass nach Operationen häufig Teile des Operationsbestecks unbemerkt im Leib verbleiben. Ihr Bekannter, der Tote, hatte diese Angst und hatte immer wieder unter Schreien den Fernsehbericht angeschaut. Sie habe ihm nur helfen wollen, indem sie ihm ein für alle Male beweisen wollte, dass sich nichts in seinem Bauch befand. Der Ich-Erzähler geht im Anschluss in eine Telefonzelle und gibt seiner Freundin zu verstehen, dass er sich von ihr trennt. Die Hilfe zerstört Beziehungen. Die überscharfe Aufmerksamkeit findet Nahrung in einer Video-Aufzeichnung, die alles auslöst und die für die Beteiligten kein anderes Handeln zulässt. Anders also als beim Zappen ist es wieder eine eindimensionale Lesart der Begebenheiten und der Fernsehaufnahme, die keine Alternative zulässt. Es handelt sich um das Versinken in einen Text, indem jemand sich ganz der Botschaft unterwirft und die anderen ihren einspurigen karitativen Auftrag so starrsinnig verfolgen, dass sie schließlich das zerstören, was sie lieben.
5 . D i e S p r a c hl o s i g k e i t d e s I n d i v i d u u m s Daeninckx inszeniert in seinen Geschichten immer einen Bruch, den er seinen Lesern nicht schildert, sondern durch den Einsatz von Überraschungen erleben lässt. In diesem Sinn findet ein Umschalten statt. Es ist kein willentliches Verhalten eines Streunenden, sondern der Wechsel erfolgt durch eine bis zum Schluss unmerkliche Zwangsläufigkeit. Zapping steht dabei ganz in der Tradition des Nach-68er-Polars, also des Kriminal- oder Detektivromans, der häufig Einflüsse des US-Detektivromans aus den 1950er Jahren aufweist. Das Scheitern der Revolte und die brutale Uniformität des Denkens in der etablierten kommunistischen und sozialistischen Linken schaffen die Sehnsucht nach individueller Entfaltung in einem Raum, der durch einen kritischen Blick aus der Gegenwart auf die Vergangenheit punktuell wenigstens zur Registratur verpasster Möglichkeiten wird. Die in ihrer Enttäuschung voneinander isolierten Vertre-
36 Ebd., S. 58-71; Dt.: »Gesundheit im Ersten«. 130
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ter der 68er-Bewegung eint ihre gemeinsame Erinnerung und Erfahrung. Die Erinnerungsarbeit bleibt aber ein persönliches Unterfangen. Die historische Dimension erweitert die Möglichkeit zur Analyse der heutigen Welt. [Walter] Benjamin bestimmte das Verhältnis von Vergangenheit und Gegenwart ebenfalls neu, indem er eine Einheit des Früheren mit dem Späteren behauptete, aus der doppelten Perspektive der dargestellten und der darstellenden Zeit. Zwischen diesen beiden Zeiten liegt Benjamin zufolge keine Kontinuität, sondern ein Sprung. Dieser Sprung lässt die Vergangenheit nur als Bild aufblitzen.37
In Zapping wird immer aus der Gegenwart heraus erzählt, in die die Vergangenheit unvermutet hereinbricht, ohne dass daraus eine umfassende Entwicklung vom Früher zum Heute ersichtlich würde. Dabei werden die Figuren und mit ihnen die Leser von ihrer eigenen Engstirnigkeit überrascht. Dieses Sich-Versenken in eine televisuelle Botschaft ist wie gesagt eher untypisch für den Umgang mit dem Fernsehen. Denn das Zappen bedingt ein anderes Erlebnis. »Kontemplation und Rezeption in der Zerstreuung unterscheiden sich grundsätzlich. Während erstere sich bewußt auf den Gesichtssinn einschränkt, tritt dieser im Fall zerstreuter Rezeption eher in der Hintergrund«.38 Hartmut Winkler argumentiert mit Benjamin, der das breite Publikum in einer Testfunktion sah, dem es durch Zerstreuung gelingt, Genuss und Kritik miteinander zu verschmelzen. Stattdessen führt Daeninckx sowohl auf der Seite des Fernsehens als auch auf der Seite der Zuschauer eine Perseveranz eindimensionaler Perspektiven vor. Der Aufbruch dieser apperzeptiven Verhärtungen erfolgt durch das »Aufblitzen« der Vergangenheit in der Gegenwart. Die Episode um das scheinbar im Leib vergessene Operationsbesteck in »Santé à la une« verdeutlicht eines: Die Opfer gesellschaftlicher Missstände finden kein Sprachrohr, um sich zu artikulieren. Wenn sie dies versuchen, müssen sie immer den Rahmen sprengen, den das Fernsehen vorgibt. Sie erleben auf diesem Umweg die Realität, der sie zum Opfer fallen. Um diesen Sachverhalt, wie er sich vielleicht den Geschichten in dem Sammelband als generelle Moral unterstellen lässt, zu verdeutlichen, lässt sich das Scheitern gerade unter Bezug auf die postmoderne Philosophie der 1980er Jahre erklären. Jean-François Lyotard scheint in Der Widerstreit den Beginn der Entwicklung einer unauslöschlichen Differenz zwischen der Ernsthaftigkeit einer politisch-moralischen Anklage
37 Müller u. a.: Histoire noire, S. 24. 38 Winkler: Switching, Zapping, S. 50. 131
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und ihrer Entkräftung im Fernsehen mit zu bedenken.39 Die Existenz realen sozialen Elends bleibt unaussprechlich und unbeweisbar, ihre Kritiker sind zum Schweigen verurteilt. Unter dem différend, dem »Widerstreit«, versteht Lyotard bekanntlich eine Art von Schweigen inmitten eines diskursiven Raumes. Es mag also allenthalben über etwas gesprochen werden, es kommt damit aber nicht zum Ausdruck. Lyotard führt dieses Paradox terminologisch gleich zu Beginn seines Bandes mit den Begriffen des »Unrechts« (tort) und des »Schadens« (dommage) ein. Er versteht unter einem Unrecht einen Schaden, dessen Existenz nicht artikuliert werden kann. Lyotard begründet dies im antiken Sinn als ein Dilemma: Ein Unrecht wäre folgendes: ein Schaden, der als solcher nicht nachgewiesen werden kann, da die Mittel dazu verloren gegangen sind. Dies ist der Fall, wenn das Opfer seines Lebens beraubt wird – oder aller Freiheiten oder der Denk- / und Meinungsfreiheit oder einfach des Rechtes, diesen Schaden zu bezeugen, oder noch einfacher: wenn der Satz der Zeugenaussage selbst seines Geltungsanspruchs beraubt wird. In all diesen Fällen kommt zum Verlust, den der Schaden darstellt, die Unmöglichkeit hinzu, andere davon in Kenntnis zu setzen […]. Wenn sich das Opfer über die Unmöglichkeit hinwegsetzen und dennoch das erlittene Unrecht bezeugen will, stößt es auf folgende Argumentation: Entweder passierte der Schaden, den Sie einklagen, nicht und Ihre Zeugenaussage ist falsch; oder er passierte doch, und was Sie erlitten haben, ist, da Sie es bezeugen können, kein Unrecht, sondern nur ein Schaden, und Ihre Zeugenaussage ist immer noch falsch. […] Entweder Sie sind das Opfer eines Unrechts oder Sie sind es nicht. Wenn Sie es nicht sind, täuschen Sie sich (oder lügen), wenn Sie das Gegenteil bezeugen. Sind Sie es, da Sie ja dieses Unrecht bezeugen können, so ist es kein Unrecht, und Sie täuschen sich (oder lügen), wenn Sie aussagen, daß Sie Opfer eines Unrechts seien.40
In dieser Begriffskonstellation zeichnet das wahre Unrecht aus, dass es sich nicht artikulieren lässt, denn andernfalls ist es keines. Wird das Unrecht aber deutlich, fällt der Geschädigte dieser Offenlegung unbemerkt zum Opfer, das Unrecht bleibt also verborgen. Daeninckx erzählt nicht, ob sich das Operationsbesteck im Leib des Patienten befand oder nicht, sondern nur von der Beweisaufnahme, die den möglichen zu Unrecht Geschädigten vernichtet. Alle Enthüllungen beruhen auf diesem Mechanismus. Die Immigranten in »Rafle en direct« können nicht von ihrem Schicksal berichten, denn sie sind durch die Art und Weise ihres Abtransports in den Repräsentationsmodus der Gedenkfeiern des 14. Juli völlig integriert. Würden sie behaupten, sie würden 39 Jean-François Lyotard: Der Widerstreit, München: Fink 1987 [Le Différend, 1983]. 40 Ebd., S. 22-23. 132
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›abgeschoben‹, so wäre dies allenfalls ein persönlicher Schaden, aber kein Unrecht. Denn im Augenblick ihrer Ausweisung können Sie sich nicht bemerkbar machen. In »Les Allumeuses suédoises« bleibt unklar, ob Jacques Vidal einen neuen Blick auf die Filme von Ingmar Bergman gewinnt. Den Schaden, den er von seiner Tochter abwenden will, kann er nicht als Unrecht anklagen. Denn würde er dies tun, so würde er eingestehen müssen, dass er die Filme mangels besseren Wissens als Pornos betrachtet hat. Die blinde Véronique Bertholet kann in »Œil pour œil« ebenfalls nicht von ihrem erlittenen Unrecht erzählen. Denn sie hat sich auf das Spiel eingelassen, ohne zu ahnen, dass sie zu einem Opfer wird, es also schon ist. Anschließend bleibt ihr Schicksal ungehört. In »Tirage dans le grattage« kann der alte Mann als Opfer eines Gewinnspiels nicht von seinem Schicksal erzählen, weil das Unrecht, das darin besteht, dass Geld Unglück bringt, erst mit seinem Tod deutlich wird. Der Mord an ihm wird aber der Öffentlichkeit von der Fernsehredaktion verschwiegen. In »La chance de sa vie« vernichtet Adélaïde letztlich sich selbst, indem sie ihre Familie und einen Polizisten ermordet. Der Beweis des Unrechts, das ihr zuerst durch ihre Erkrankung an Aids, dann durch horrende Behandlungskosten, schließlich durch den Diebstahlversuch der Angehörigen angetan wird, erfolgt auf solch radikale Weise, dass sie das Verständnis für ihr Schicksal, wegen des offenen Erzählausgangs vermutlich, ein für alle Mal unmöglich macht. »Le psyshowpathe« ist vor dem Hintergrund eines unaussprechlichen Unrechts die anrührendste Geschichte. Denn Valérie tut ihrem Nachbarn Unrecht. Doch deckt die Enttarnung seiner Einsamkeit Valéries eigene Suche nach einer Beziehung auf. Das Unrecht, das der Nachbar scheinbar begeht und das er als sein eigenes Opfer in flagranti als ein ganz anderes belegt, entpuppt sich als Sprachrohr für Valéries eigene Sehnsucht, die in unzulässige Ängste und Schuldzuweisungen pervertiert ist. Sie beide wenden die Anklage des anderen bzw. von sich selbst wortlos aus der diskursiven Praxis in ein menschliches Miteinander.
6 . D er fal sc he S c h ei n Das Dilemma der Unaussprechlichkeit ist Teil einer Anklage, die Daeninckx in allen Erzählungen nicht artikuliert, sondern als überraschende Enthüllungen vorführt. Dieser Erlebnischarakter beruht auf keiner Argumentation, in der begrifflich dargelegt wird, welche Verfehlungen der Fernsehgesellschaft vorzuwerfen sind. Diese Verfehlungen gerinnen dagegen im Polar selbst wieder zu Spektakeln. Die Faszination geht dabei von der Gesamtorganisation nach der Art einer Nummernrevue aus und
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in den einzelnen Erzählungen von überraschenden Erkenntnissen, die der Leser und die Figuren machen. Nur so kommt die historische Geschichte der französischen Gesellschaft ins Spiel. »Wenn die Schriftsteller und im besonderen die Schriftsteller der Gegenwart und noch mehr die modernistischen Schriftsteller die Vergangenheit berühren, dann tun sie dies immer nach dem Proust’schen Modell, in der Diskontinuität«.41 Die vermeintliche Ideologiekritik, die sich bei einem politischen Aktivisten wie Daeninckx vermuten ließe, ist gerade nicht als Utopie zu finden, sondern als momentanes Faszinosum, das von einer Überraschung, von dem Einbruch der Vergangenheit in die Gegenwart im Sinne eines Spektakels ausgeht. Hieraus resultiert auch die Tatenlosigkeit der literarischen Figuren oder aber ihre Vernichtung, wenn sie etwas gegen ihre eigene Situation oder die der Gesellschaft unternehmen wollen. Sie trifft die Ideologiekritik des Spektakels, welche die Literatur Prousts ins Visier nahm: »Der Begriff [des Spektakels] beschreibt präzise den Bezug des Ästheten zum Objekt seiner Wahrnehmung: [E]r ist von diesem getrennt und mag ihn nicht durch praktisches Eingreifen zu verändern«.42 Das Spektakuläre nutzt Daeninckx für seine Zwecke, indem er auf starke Kontraste setzt und somit den Inszenierungsstrategien des Fernsehens selbst folgt. Die Verstellung ist dabei nicht das Objekt der Kritik, sondern Mittel zum Zweck. Er attackiert scheinbar den Zynismus, der die Scheinheiligkeit des Fernsehens begleitet, wenn in einer Episode eine attraktive Moderatorin über exorbitante Gagen für ihre Auftritte verhandelt, um dann in ihrer Sendung den Abbé Pierre zu empfangen. Es geht immer um die Inszenierung eines möglichst starken Kontrastes, wenn in einer Zukunftsvision das Alltagsleben zu einem permanenten Quiz geworden ist, in dem ständig Fragen beantwortet werden müssen, damit technische Geräte funktionieren oder sich Türen öffnen lassen. Der visuelle Eindruck wird gleich einer Inszenierungsanweisung in quasi protokollarischen Beschreibungen von Fernsehsendungen festgehalten, wenn wie in einem dramatischen Text Mimik und Gestik kursiv gedruckt in Klammern in den Text eingefügt sind: »applaudissements fervents, cris d’admiration, exclamations« oder »Soulèvement réflexe de la commissure des lèvres«.43
41 Régine Robin zit. nach Müller u. a.: Histoire noire, S. 25. 42 Peter Bürger: »Zur ästhetisierenden Wirklichkeitsdarstellung bei Proust, Valéry und Sartre«, in: Peter Bürger (Hg.), Vom Ästhetizismus zum Nouveau Roman. Versuche kritischer Literaturwissenschaft, Frankfurt am Main: Athenäum Fischer Taschenbuch Verlag 1975, S. 23-48, hier: S. 26. 43 Daeninckx: Zapping, S. 148-149; Dt.: »heftiger Applaus, Bewunderungsschreie, Ausrufe«, »Reflexartiges Anheben des Mundwinkels«. 134
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Verstellung statt Offenlegung liegt immer dann vor, wenn ein öffentlicher Rahmen vorgegeben ist. Daeninckx zeigt aber auch, wie jemand diesen Rahmen bewusst nutzt, um nach Art einer Maskerade im Stillen die künstliche Situation zu genießen. In der Erzählung »Une famille de merde«44 spielen zwei Familien in einer Spielshow gegeneinander. Dabei genießt es der Vater der einen Familie, seine ahnungslose Frau in aller Öffentlichkeit zu betrügen, weil mit der Tochter in der gegnerischen Familie seine Geliebte zugegen ist. Diese Geschichte ist damit aber nicht zu Ende. Denn in der Sendung wird die Beziehung zur Geliebten vor laufenden Kameras enthüllt, und es kommt zu einem Eklat. Es handelt sich um einen der wenigen nicht vorgesehenen Momente televisueller Präsentation, in der die Akteure ihren eigenen Weg gehen und dadurch einen hohen Grad von Intimität verdeutlichen, also auf paradoxe Weise in aller Öffentlichkeit ihre Privatsphäre zurückgewinnen. Hier wird der Fernsehzuschauer zum Zeugen eines Ereignisses, das unvermittelt für sich spricht. Das Fernsehen rahmt sich sozusagen selbst ein und siedelt zwischen dem inneren Rahmen einer gesicherten und kalkulierten Inszenierung und dem äußeren Rahmen einer technisch-mechanischen Reproduktion einen schmalen Raum von Wahrhaftigkeit an, der nur durch seine Unvorhersehbarkeit und Planlosigkeit glaubwürdig ist. Es ist jedoch fraglich, ob das Fernsehen durch das daraus entstandene Spektakel nicht hinzugewinnt, gerade weil die Inszenierung außer Kraft gesetzt ist und nur noch die Apparatur als letzter Vorhang zwischen Faszinosum und Zuschauern bleibt. Wie auch in den anderen Geschichten bricht in einen Fernsehtext, also ein Werk, das immer im Fernsehen ein Ereignis ist, ein unvorhergesehenes momentanes Geschehen herein. Hier wird dieses Eindringen für alle Zuschauer sichtbar. Die Opfer dieses Augenblicks, die betrogene Ehefrau, die beiden Familien, können sich nun zwar in gewissem Sinn durch ihr sichtliches Leiden artikulieren, weil sie im Augenblick der Erkenntnis und in ihrer Wut gezeigt werden. Die Vergangenheit bricht spektakulär und destruktiv in die Situation herein, ohne positive Ausblicke in die Zukunft zu eröffnen. In »Farming Class Hero«45 wird ein junger Mann namens JeanClaude Charlois in einer Sendung vorgeführt, weil er heldenhaft einer Bauernfamilie bei einem Brand das Leben gerettet hat. Zurückgekehrt in die Provinz wird er gefeiert, bis man ihn vergisst. Wieder versucht er bei einem Brand Leben zu retten, allerdings sterben drei Personen, und es stellt sich heraus, dass er selbst den Brand gelegt hat. Er muss dafür fünf Jahre ins Gefängnis und wird am Nationalfeiertag wegen guter Führung 44 Ebd., S. 190-203; Dt.: »Eine Scheißfamilie«. 45 Ebd., S. 183-189; der Titel spielt möglicherweise auf John Lennons politisch ambitionierten Song »Working Class Hero« aus dem Jahr 1970 an. 135
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vorzeitig entlassen. Er erhält daraufhin ein Angebot, in einer Sendung über Pyromanen aufzutreten. Die Rollen sind also völlig austauschbar. Ein und dasselbe Individuum kann gegensätzliche Rollen im Fernsehen einnehmen. Im Fall dieser Erzählung hat der Held durch die Darstellung seiner Heldentat in aller Öffentlichkeit seine Betroffenheit aufgegeben. Er ist nicht mehr die Person, die durch eine Situation zum Handeln herausgefordert wurde, sondern jemand, der seine Selbstgewissheit an eine Institution abgegeben hat, die eine Zeugenschaft fordert und damit jede Person an einen Ort der Uneigentlichkeit versetzt.
7 . P o l i t i s c h e s E n g ag e m e n t d u r c h F e r n s e he n Fernsehen ist bei Daeninckx keine Institution für Bildung und Aufklärung, sondern »Neo-Fernsehen«, wo es keinen »Kommunikationsvertrag«, kein »symbolisierendes Drittes«, mehr zwischen Produktion und Rezeption gibt, etwas als Fiktion oder Dokumentation emotional und affektiv zu erleben bzw. geistig zu verstehen: In Bezug auf dieses Dispositiv zeichnet sich das Neo-Fernsehen vor allem durch das Fehlen jeden Rekurses auf ein solches symbolisierendes Drittes aus: Das Neo-Fernsehen lädt seine Zuschauer nicht dazu ein, einen Komplex von Operationen der Sinn- und Affekterzeugung anzuwenden, sondern schlicht und einfach dazu, mit dem Fernsehen zu leben und zu beben; die dreipolige vertragliche Relation ist durch eine direkte Relation zwischen dem Zuschauer und seinen anderen Ichs auf dem Bildschirm ersetzt worden (Studiogäste und Moderator) […]; der Übergang vom Paläo- zum Neo-Fernsehen bedeutet, von einer einem Kommunikationsvertrag verschriebenen Funktionsweise zu einer dem bloßen Kontakt verschriebenen Funktionsweise überzugehen.46 [Hervorhebungen im Original]
Zapping wird zu Beginn und am Schluss von zwei Erzählungen quasi eingerahmt, die vom persönlichen Kontakt zwischen Medienpersönlichkeiten und Zuschauern handeln. In beiden wird von einem politischen Engagement erzählt, das sich als persönliche Betroffenheit nicht artikulieren kann, weil die betreffenden Hauptfiguren den Tod erleiden. Aus dieser Position ist keine Zeugenschaft möglich. In »La place du mort«47 46 Francesco Casetti u. a.: »Vom Paläo- zum Neo-Fernsehen. Ein semiopragmatischer Ansatz«, in: Ralf Adelmann u. a. (Hg.), Grundlagentexte zur Fernsehwissenschaft. Theorie – Geschichte – Analyse, Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft 2001 [»De la paléo- à la néo-télévision. Approche sémio-pragmatique«, 1990], S. 311-333, hier: S. 327. 47 Daeninckx: Zapping, S. 11-31; Dt.: »Der Platz des Toten«. 136
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deckt der Fernsehjournalist Alcine Tolana in seiner Sendung einen Immobilienskandal an der Küste von Marseille auf, von dem er selbst betroffen ist, da ein altes Grundstück seiner Familie vom Staat zu einem ungerechtfertigt niedrigen Preis erworben und dann teuer weiterverkauft wurde. Er klagt diesen und weitere Fälle in seiner Fernsehsendung an. Schließlich wird er von Unbekannten vermutlich im Auftrag der Immobilienmafia ermordet. Als die Fernsehöffentlichkeit glaubt, seine fehlende Sendung werde ein schmerzliches Loch in der Fernsehlandschaft hinterlassen, wird sie eines Besseren belehrt. Eine weitere Folge wird ausgestrahlt mit einer Puppe, die täuschend echt wie Tolana aussieht und die dessen Stimme imitiert. So lässt sich mit Lyotard sagen, dass Tolana nicht sterben darf, damit seine Zeugenschaft keine wirkliche Anklage wird. Anders herum gesagt: Zeugenschaft muss eine kommunikative Geltung haben, sie muss einen Erfolg erzielen, mehr nicht. Was bezeugt wird, ist völlig gleichgültig, weil Zeugenschaft eigentlich nicht möglich ist. Spekulationen und geheime Machenschaften von Potentaten, die im Hintergrund die Fäden in der Hand halten, bilden in Zapping den Nährboden für eine apokalyptische Sicht auf die Gesellschaft. Die Vergangenheit scheint allgegenwärtig, so bis auf die Wortebene, wenn in der letzten Erzählung des Bandes, »Le Penochet«, vom »dernier Hussard« die Rede ist und Daeninckx die Lesart »S. A.« anbietet.48 Explizit politisch sind die Erzählungen vor allem, wenn vor faschistischen Demagogen gewarnt wird, die sich des Fernsehens bemächtigen könnten. Dem fügt Daeninckx eine Attacke gegen den Faschismus und das Fernsehen als Mittel zu seiner Verbreitung hinzu. Die Hauptfigur der Erzählung führt ein Tagebuch darüber, was sie jeden Tag im Fernsehen gesehen hat und wie oft ihr der Anführer einer faschistischen Partei namens Le Penochet begegnet. In dem Fernsehtagebuch sind Zitate von Interviews und in der Ich-Form gehaltene Kommentare zu diesen Äußerungen zu lesen. Die Erzählung wechselt schließlich aus der Tagebuchform in die auktoriale Erzählperspektive. Es wird geschildert, dass der Protagonist erfolgreich ein Attentat auf Le Penochet begeht, wobei er selbst stirbt. Der stille Heldentod ist die einzig mögliche politische Aktion in der Mediokratie. Während in der Fiktion der ersten Erzählung »La place du mort« die linke Presse kommentiert: »[…] ce ne sont pas des initiatives individuelles, si courageuses soient-elles, qui permettront à la France de disposer 48 Ebd., S. 220-228; hier: S. 225; der Titel der Erzählung ist vermutlich eine Anspielung auf den rechtsradikalen Front National und seinen Anführer Le Pen. Die Abkürzung »S. A.« wird im Französischen ähnlich ausgesprochen wie das Wort hussard, (Husar). Le Dernier Hussard (Dt.: Der letzte Husar) ist der Titel eines Romans von Henri-Hugues Lejeune aus dem Jahr 1990. 137
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d’une information libre et pluraliste […]«,49 scheint sich der Protagonist in »Le Penochet« subversiv zu verhalten gegenüber der im Fernsehen verbreiteten Ideologie. Denn: »Die Berichterstatterinnen und -erstatter [des Fernsehens] können nicht garantieren, dass das Publikum Ereignisse innerhalb des hegemonialen Rahmens dekodieren wird, auch wenn sie den Kommunikationskreislauf initiieren […]«.50 Doch ist das Attentat Form der Anklage eines Unrechts?
8 . F e r n s e hg e sc h i c h te Le Penochet ist zum Präsidenten der Französischen Republik gewählt worden. Er lobt vor laufenden Kameras die SS als Vorbild für die Jugend. Seine Worte finden sich als Notiz im Text, die die Hauptfigur Maurice Laurint so kommentiert: Je n’ai pas pu en supporter davantage. Mon déjeuner a reflué dans ma bouche et je n’ai eu que le temps d’atteindre le seau, près du lit de camp. J’ai quitté mon survêtement et j’ai sorti le costume du placard.51
Diese Worte müssen zu einem Zeitpunkt verfasst worden sein, als Laurint noch lebte. Dennoch schreibt er zum ersten Mal in der Vergangenheit, als ob er bereits wüsste, dass er sterben wird. Als er sich Le Penochet in der Öffentlichkeit nähert, lachen seine Anhänger über Laurints Aussehen. Der Leser erfährt, dass es sich um den gestreiften Anzug eines KZ-Häftlings handelt. Im Fall der oben zitierten Worte wird also aus einer unmöglichen Perspektive erzählt. Wieder liegt das Paradox des tödlichen Opfers vor, das der beste Zeuge seiner Anklage sein soll. Es muss mit seinem Tod beweisen, dass die Anklage des Unrechts, das ihm widerfahren ist, berechtigt ist, was schlicht unmöglich ist, da es sich dann
49 Ebd., S. 25.; Dt.: »[...] es sind keine Alleingänge, so mutig sie auch sein mögen, die Frankreich eine freie und pluralistische Meinungsvielfalt ermöglichen werden […]«. 50 Stuart Hall: »Die strukturierte Vermittlung von Ereignissen« [Originaltitel unbekannt, 1965], in: Ralf Adelmann u. a. (Hg.), Grundlagentexte zur Fernsehwissenschaft. Theorie – Geschichte – Analyse, Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft 2001 [»De la paléo- à la néo-télévision. Approche sémio-pragmatique«, 1990], S. 344-375, hier: S. 362. 51 Daeninckx: Zapping, S. 227; Dt.: »Ich konnte es nicht mehr ertragen. Mein Essen kam mir hoch, und ich hatte gerade noch Zeit, den Eimer beim Feldbett zu erreichen. Ich zog meinen Trainingsanzug aus und holte meinen Anzug aus dem Schrank«. 138
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nicht mehr artikulieren kann. Aber das Fernsehen – so kann man aus der Sicht von Daeninckx behaupten – stellt genau diese Forderung und macht sich zum Sprachrohr eines faschistischen Revisionismus.52 Daeninckx vertritt mit seinen Erzählungen die Tradition der »hermetischen« Medientheorien: Die Vorstellungen von einer hermetischen Medienwelt, in der das Medium Realitätsersatz sei, ist eng mit der Vorstellung von der durch das Medium hergestellten universalen Gleichzeitigkeit verbunden, beide ergänzen, ja bedingen sich. Der mediale Realitätsersatz bedeutet eine Vernichtung von räumlicher Differenz. Wo es keine zeitliche Differenz mehr gebe, falle auch der Raum in sich zusammen. Wo es keine Distanz mehr gebe, löse sich die Wahrnehmungsidentität auf.53
Die postmoderne Medientheorie als »Ergebnis der 68er Enttäuschung über die geringe Veränderbarkeit der Welt« bei Jean Baudrillard, in diesem pessimistischen Sinn aber auch unter anderen theoriegeschichtlichen Vorzeichen bei Klages, Spengler, Adorno, Horkheimer, Anders, Kluge, Negt, Schmidt und Luhmann54 wird bei Daeninckx zum literarischen Fatalismus. Die einzelnen Erzählungen reflektieren allerdings als Literatur Erzählpositionen, aus denen heraus individueller Protest darstellbar wird. Dennoch verpasst es Daeninckx, eine historisch differenzierte Sicht auf die Darstellung von Themen zu werfen, die zu einer bestimmten Zeit die öffentliche Diskussion zu innen- wie außenpolitischen Ereignissen im französischen Fernsehen prägen.55 Stattdessen benutzt er eine endgültige Funktionsbestimmung des Fernsehens, um spektakuläre apokalyptische Visionen heraufzubeschwören. Sogar die selbstmörderische Aktion in 52 Vgl. Lyotard: Der Widerstreit, S. 18: »Um einen Raum als Gaskammer identifizieren zu können, akzeptiere ich nur ein Opfer dieser Gaskammern als Zeugen; nun kann es – meinem Kontrahenten zufolge [der Historiker und die Opfer, die die Existenz von Gaskammern behaupten] – nur tote Opfer geben, sonst wäre diese Gaskammer nicht das, was er behauptet; es gibt also keine Gaskammer«. 53 Knut Hickethier: »Simulation oder Programmfluß. Theorieaspekte des Programmfernsehens«, in: Stefan Arbabanell u. a. (Hg.), Fernsehen Verstehen, Frankfurt am Main: Haag + Herchen Verlag 1993, S. 101-124, hier: S. 105. 54 Ebd., S. 104-110. 55 Vgl. dagegen Henri Boyer u. a.: Scènes de télévision en banlieues 19501994, Paris: INA, L’Harmattan 1998; vgl. auch die Hinweise auf den ersten Golfkrieg, Sarajewo, die Entstehung von Arte, die Einstellung des Senders La Cinq u. a. m. bei Robert Prot: Précis d’histoire de la radio et de la télévision, Paris: L’Harmattan 2007, S. 252-256. 139
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der letzten Erzählung ist davon nicht ausgenommen, da sie letztlich einer selbstwidersprüchlichen totalitären Version eines Alles oder Nichts verpflichtet bleibt. Die Fernsehhistoriographie setzt dagegen auf die »Ermüdung« und »Langeweile« des Zuschauers, die das Zappen als eine wohlorientierte Handlungsweise gelten lässt. »Die vorhandenen Programmstrukturen sind dabei die Voraussetzung für seinen freien Umgang. Wären die Programmacher jetzt ebenfalls so frei, die Programmstruktur aufzuheben, würde der Zuschauer immer weniger auch das finden, wonach er sucht, er würde sich ganz ausblenden«.56 In Frankreich verbindet sich damit vor dem Hintergrund einer ›postmodernen Aufklärung‹ die Hoffnung auf ein neues politisches Bewusstsein im Umgang mit dem Fernsehen: »[…] et on peut parier que la lassitude d’un public citoyen supplantera sa résignation«.57 Von dieser Hoffnung ist in Zapping keine Rede.
L i t e r at u r Baroni, Raphaël: La tension narrative. Suspense, curiosité et surprise, Paris: Seuil 2007. Boyer, Henri u. a.: Scènes de télévision en banlieues 1950-1994, Paris: INA, L’Harmattan 1998. Bürger, Peter: »Zur ästhetisierenden Wirklichkeitsdarstellung bei Proust, Valéry und Sartre«, in: Peter Bürger (Hg.), Vom Ästhetizismus zum Nouveau Roman. Versuche kritischer Literaturwissenschaft, Frankfurt am Main: Athenäum Fischer Taschenbuch Verlag 1975, S. 2348.
56 Hickethier: »Simulation oder Programmfluß«, S. 120. 57 Jean-Jacques Ledos: L’âge d’or de la télévision 1945-1975, Paris: L’Harmattan 2007, S. 278; Dt.: »[…] und man kann wetten, dass die Ermüdung bei einer staatsbürgerlichen Öffentlichkeit ihre Resignation ersetzen wird«. Vgl. Yvette Rocheron: »French Viewers’ Association. A Seedbed for Television Democracy«, in: French Cultural Studies 6 (1995), S. 145-166, hier: S. 145: »Since the eighties, the French language has not only acquired such English terms as ›le zapping‹ but also neologisms of less infamous ilk like ›la télévision-tapisserie‹ which refer to programmes used as background. Such linguistic inventiveness […] expresses both the extraordinarily rapid mutations of the French television industry, and a malaise about their effects on national culture. More positively, dreaming of a post-modernist Enlightenment, some televiewers’ associations have claimed that communication policies should promote ›la citoyenneté télévisuelle‹«. 140
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Casetti, Francesco u. a.: »Vom Paläo- zum Neo-Fernsehen. Ein semiopragmatischer Ansatz«, in: Ralf Adelmann u. a. (Hg.), Grundlagentexte zur Fernsehwissenschaft. Theorie – Geschichte – Analyse, Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft 2001 [»De la paléo- à la néotélévision. Approche sémio-pragmatique«, 1990], S. 311-333. Chabrol, Jean-Louis / Périn, Pascal: Le Zapping, Issy-les-Moulineaux: CNET 1992. Daeninckx, Didier: »Ecrire en contre. Deuxieme partie. Entretien avec Christiane Cadet« 1996; http://www.daeninckx.net/entretienstotal. htm . Daeninckx, Didier: Meurtres pour mémoire, Paris: Gallimard 1984 [Dt.: Bei Erinnerung Mord, 2003]. Daeninckx, Didier: Zapping, gelesen von Yves Belluardo, La Bazoge: Studio de la Croix des Landes 2005; http://fr.wikipedia.org/wiki/ Didier_Daeninckx . Daeninckx, Didier: Zapping, Paris: Denoɺl 1992. Friedrichsen, Mike u. a.: Fernsehwerbung – quo vadis? Auf dem Wege in die digitale Medienwelt, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2004. Hall, Stuart: »Die strukturierte Vermittlung von Ereignissen«, in: Ralf Adelmann u. a. (Hg.), Grundlagentexte zur Fernsehwissenschaft. Theorie – Geschichte – Analyse, Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft 2001 [Originaltitel unbekannt, 1965], S. 344-375. Hickethier, Knut: »Simulation oder Programmfluß. Theorieaspekte des Programmfernsehens«, in: Stefan Arbabanell u. a. (Hg.), Fernsehen Verstehen, Frankfurt am Main: Haag + Herchen Verlag 1993, S. 101124. Ledos, Jean-Jacques: L’âge d’or de la télévision 1945-1975, Paris: L’Harmattan 2007. Lyotard, Jean-François: Der Widerstreit, München: Fink 1987 [Le Différend, 1983]. Müller, Elfriede u. a.: Histoire noire. Geschichtsschreibung im französischen Kriminalroman nach 1968, Bielefeld: transcript 2007. Prot, Robert: Précis d’histoire de la radio et de la télévision, Paris: L’Harmattan 2007. Rocheron, Yvette: »French Viewers’ Association. A Seedbed for Television Democracy«, in: French Cultural Studies 6 (1995), S. 145-166. Sierek, Karl: Aus der Bildhaft. Filmanalyse als Kinoästhetik, Wien: Sonderzahl 1993. Winkler, Hartmut: Switching, Zapping. Ein Text zum Thema und ein parallellaufendes Unterhaltungsprogramm, Darmstadt: Häusser 1991.
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Wirtz, Bernd W.: Medien- und Internetmanagement, Wiesbaden: Gabler 4 2005. Wulff, Hans J.: »Rezeption im Warenhaus. Anmerkungen zur Rezeptionsästhetik des Umschaltens«, in: Ästhetik und Kommunikation 21, 88 (1995), S. 61-66. Wulff, Hans J.: »Umschalten / Zapping: Strategien der selektiven Fernsehnutzung. Eine Arbeitsbibliographie«, in: Medienwissenschaft / Hamburg: Berichte und Papiere 39 (2003), Hamburg: Universität Hamburg; http://www1.uni-hamburg.de/Medien/berichte/arbeiten/ 0039_03.html . Wysterski, Martin: Webgezapped. Selektion im TV und WWW, Marburg: Tectum 2003. http://de.wikipedia.org/wiki/Zappen . http://ftvdb.bfi.org.uk/sift/title/281285 .
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F E R N S E H E N – ZU R »S H O W « G ES T E L L T . TV-Q U I Z - U N D S P I E L S H O W S I M K I N O F I L M – EINE SICHTUNG KLAUS PETER WALTER
Die nachfolgende Studie macht es sich zur Aufgabe, anhand eines Korpus von sieben Spielfilmen von französischen, spanischen und USamerikanischen Regisseuren zu untersuchen, wie in diesen für das Kino bestimmten Werken die Welt des Fernsehens, genauer: das Phänomen der Quiz- und Gameshows thematisiert und fiktional ausgestaltet wird. Was macht das Erkenntnisinteresse einer solchen Sichtung aus? Um diese Frage zu beantworten, ist zunächst einzugrenzen, was mit ›Spielshow‹ gemeint ist. Ohne auf die Subtilitäten einer Auseinandersetzung mit dem ›Spiel‹-Begriff im Allgemeinen einzugehen,1 seien für unsere Zwecke drei übergeordnete definitorische Grundkonstituenten erwähnt, deren Geltungskraft dann auch in den entsprechenden filmischen Ausgestaltungen thematisiert wird. (1) Als hauptsächliches Auswahlkriterium wird die wie auch immer anspruchsvolle oder auch schlichte Erbringung einer Leistung innerhalb der Fernsehsendung angenommen, sei sie – wie meistens – kognitiver, motorischer oder emotiver Natur. Wie in der »klassischen« Quizsendung vollzieht sich die Verwirklichung dieser Leistung in der Regel in einem agonalen Rahmen, d. h. als Wettstreit zwischen mehreren KonkurrentInnen, die keine Fernseh-Profis darstellen, sondern aus der anonymen Masse der Fernsehzuschauer rekrutiert werden (wobei im Übrigen diese »Kampf«-Situation in unseren Beispielen nicht zwingend gegeben ist, wie wir sehen werden). (2) Wichtig ist auch, dass die erfolgreiche Leistungserbringung prämiert wird, zumeist natürlich in pekuni-
1
Vgl. dazu vor allem Roger Caillois: Les jeux et les hommes. Le masque et le vertige, édition revue et augmentée, Paris: Gallimard 1967. Zur Analyse von TV-Spielsendungen vgl. Klaus-Peter Walter: »Kultur im Spiel? Französische, spanische und deutsche Spielsendungen im Vergleich«, in: HansJürgen Lüsebrink / Klaus Peter Walter (Hg.), Interkulturelle Medienanalyse. Methoden und Fallbeispiele aus den romanischen Kulturen des 19. und 20. Jahrhunderts, St. Ingbert: Röhrig Universitätsverlag 2003, S. 107-134. 143
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ärer Form oder in geldwerten Gratifikationen wie etwa die Teilnahme an anderen Segmenten der Fernsehkommunikation. (3) Die Darbietung des Leistungswettstreits erfolgt in einer spezifischen – und in der Regel seriellen – Sendeform, die die performativen Akte mit allen möglichen Regularien zum Ablauf und auch mit ausgeklügelten inszenatorischen Mitteln in Spielform aufbereitet, weil als Ziel dieser spezifischen Fernsehkommunikation möglichst hohe Einschaltquoten anvisiert werden, was dadurch erreicht werden kann, dass das Unterhaltungsbedürfnis der Zuschauer (und nicht etwa das sachliche Abprüfen bestimmter Leistungspotenziale bei den KandidatInnen) bedient wird. Führt man sich diese Basisgegebenheiten, die als Selektionskriterien für die nachfolgende Analyse fungieren,2 vor Augen und bedenkt man zugleich, dass das Fernsehen seit den frühen 60er Jahren bis heute (noch) aufgrund seiner wörtlich zu nehmenden »Ausstrahlungskraft« und seiner massenhaften Rezeption das audiovisuelle Leitmedium unserer Zivilisation darstellt, wird offenbar, warum gerade Spielsendungen einen privilegierten Ort der Beliebtheit innerhalb der Fernseh-Kommunikation darstellen, wie die z. T. stupende Langlebigkeit bestimmter einschlägiger Erscheinungsformen, vor allem aber auch die beeindruckenden Einschaltquoten verdeutlichen (so bringt es die bereits seit 1999 laufende deutsche Variante von Who Wants to Become a Millionaire? – Wer wird Millionär? mit Günther Jauch auf RTL – nach wie vor auf eine Quote von 5-6 Millionen Zuschauern pro Sendung, zu der die Resonanz bestimmter Imitatprodukte bei anderen Sendeanstalten hinzuzurechnen ist). Es ist das im weitesten Sinn »demokratische Prinzip«, das der Gesamtheit der Gameshows ihre Attraktivität verleiht. Nicht die professionellen »Macher« haben hier, wie sonst üblich, das Sagen vor der Kamera, sondern den sprichwörtlichen »Kleinen Leuten« wird eine aktive Partizipation an der Massenkommunikation gewährt. Sie, deren Licht normalerweise unter dem Scheffel gestellt bleibt, werden in die Lage versetzt, im geregelten Wettstreit ihre »wahren Fähigkeiten« unter Beweis zu stellen und dafür auch eine materielle Gratifikation einzustreichen, deren Höhe als Ertrag im normalen Erwerbsleben undenkbar wäre. Vielleicht ist es jedoch mehr noch als die Aussicht auf üppige Belohnung der hochgradige Öffentlichkeitscharakter des Fernsehens, der die KandidatInnen zum Mitmachen und die Zuschauer zur Identifikation mit ihnen motiviert: Für die Dauer einer Sendung bzw. einer Erfolgssträhne eröffnet sich die Möglichkeit, aus der Anonymität der Masse herauszutreten und einem 2
Nach diesen Definitionsmerkmalen muss u. a. ein für die medienwissenschaftliche Reflexion so interessanter Film wie Peter Weirs The Truman Show (1998) ausgeklammert werden, auch wenn er den ›Show‹-Begriff im Titel trägt. 144
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staunenden Millionenpublikum im gleißenden Scheinwerferlicht vor Augen zu führen (»to show« eben), dass man eine Erfolgspersönlichkeit darstellt (wo doch ansonsten das »Telegenie« der breiten Masse lediglich in negativen Rollen von Opfern, Zeugen oder Tätern anlässlich von Unfällen, Katastrophen oder kriminellen Akten ausgenutzt wird). Von hier aus lässt sich deduzieren, dass das Medium ›Spielfilm‹, wenn es sich zwecks Auswahl geeigneter Stoffe für fiktionale Aufbereitungen dem Nachbar-, aber auch Konkurrenzmedium ›Fernsehen‹ nähert, ein besonderes Interesse daran haben müsste, diesen demokratischen Anspruch der Spielshows auf den narrativen Prüfstand zu stellen – sei es, um die Gültigkeit des Anspruchs zu beleuchten, sei es, um dessen Scheitern im Rahmen einer »Kulturindustrie« (Horkheimer / Adorno), dank derer wir uns »zu Tode amüsieren« (Postman) festzustellen. Und es könnte noch ein weiteres Interesse dazu kommen, sich kinematographisch auf Gameshow-Handlungen abendfüllend einzulassen: Gerade weil diese Sendeform des Fernsehens maßgeblich auf Aktanten aus der breiten Masse der Bevölkerung setzt, ist sie in den Bedingungszusammenhängen ihres Entstehens und ihrer Abläufe vielleicht doch nicht so eindimensional, wie sie im Ablauf der Plateau-Aufnahmen daher kommt, bestimmen doch zugleich systemimmanent-mediale, politischgesellschaftliche und individual- und massenpsychologische Faktoren ihr Erscheinungsbild, wie zu zeigen sein wird. Bevor wir ganz unbefangen die Spielarten der filmischen Aufbereitung des Objektbereichs ›Spielshow‹ registrieren und dann hinterfragen wollen, kann vor dem Hintergrund dieser Herleitung zum besseren Verständnis der Detailauswertungen ein übergeordneter Befund vorgegeben werden, weil er eigentlich evident ist. Ob explizit oder implizit vermittelt, verfolgt die kinematographische Thematisierung von Spielunterhaltung im Fernsehen jedes Mal eine metonymisch ausgerichtete Darstellungsabsicht: Letzten Endes meinen die Ansichten, die narrativ von den Shows im Einzelnen entworfen werden, »das Fernsehen« in seiner Grundbeschaffenheit schlechthin.
R o b e r t R e d f o r d : Q u i z S h o w ( 19 9 4 ) Was läge näher, als unsere Sichtung mit dem Spielfilm beginnen zu lassen, der, basierend auf einem tatsächlichen Skandal, sowohl von seinem Titel her als auch in der Durchführung der Thematik programmatische Geltung für sich beanspruchen kann – Quiz Show von Robert Redford aus dem Jahr 1994. Verstärkt aus der Perspektive des aufstrebenden Kongressermittlers Richard Goodwin (eine authentische Person) erzählt
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der Film von einem krassen Fall der Quiz-Manipulation, der betrügerischen Kandidatensteuerung in der beliebten Sendung »Twenty One« aus den späten 50er Jahren. Bestimmte Typen von Top-Kandidaten werden solange im Voraus mit den entsprechenden Fragen und Antworten versorgt, wie ihre scheinbare Allwissenheit die Einschaltquoten in der Erwartung immer neuer Spitzenleistungen und Rekordprämien in die Höhe treibt. Ist ihr Marktwert ausgelaugt, nötigen die Macher – an der Spitze der millionenschwere Pharmasponsor, der sinnigerweise sein Tonikum »Geritol« unter die Leute bringen will – die Kandidaten mit der Aussicht auf eine zukünftige Fernsehkarriere, mit einer absichtlich falsch gegebenen Antwort aus der Show auszuscheiden und einem neuen vermarktbaren Hoffnungsträger Platz zu machen. Es trägt im Übrigen zur im wahrsten Sinn so zu bezeichnenden Spektakularität von »Twenty One« bei, dass die zum Versagen designierten Kandidaten an einer gezielt einfachen Antwort zu scheitern haben, um ein Moment des »tragischen Versagens« ins Spiel zu bringen. Ganz in der Tradition des Thesen- und des Gerichtsfilms macht es sich Quiz Show zur Aufgabe, die Mechanismen des unterhaltsamen Massenbetrugs anhand zweier einander ablösender »Rategenies« darzustellen, die Aufdeckung des Schwindels durch einen blitzgescheiten Ermittler zu schildern und schließlich das Verhalten der Entlarvten anlässlich der offiziellen Anhörung durch die Untersuchungsbehörde des amerikanischen Kongresses zu inszenieren. Zur thesenhaften Anlage des Films gehört insbesondere die Artikulation einer zweifachen Schuldzuweisung: Vordergründig ist es zunächst das Fernsehsystem, das in seiner kommerziellen Anlage und damit seiner Gier nach ständig ansteigender »Quote« den Missbrauch praktiziert, wobei die Macher und natürlich auch der Sponsor letztendlich völlig unbeschadet aus der Affäre hervorgehen. Aber nur diejenigen Kinobesucher, die die Geduld aufbringen, auch noch den Abspann von Quiz Show in seiner Gänze zu verfolgen, werden der Entlarvung der eigentlichen Schuldigen gemäß der Logik des Films teilhaftig: Zu Melodie und (englischem Text) der berühmten »Mackie Messer«-Ballade (»Und der Haifisch, der hat Zähne«) aus Brechts Dreigroschenoper werden die Namenslisten des Anhangs mit Ansichten begeisterter und belustigter Menschen aus dem Studiopublikum einer QuizShow überblendet, bis sich die einzelnen Einstellungen rasch auf Großaufnahmen der jeweiligen Mundpartien konzentrieren, wodurch sich der Bildeindruck haifischartiger oder besser noch hyänenhaft bleckender Zähne aufdrängt, bis das Bild den Film genau mit einer solchen Detailansicht einfriert (vgl. 2:07,00 ff.)3. Selten ist das Phänomen der »reißeri3
Die Echtzeitangaben beziehen sich auf die im Anhang aufgeführten benutzten Versionen der analysierten Spielfilme. 146
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schen« Vermarktung eines Fernsehinhalts so konkret vor Augen geführt – und in die Verantwortung der Instanz ›Publikum‹ gestellt worden, das nach immer neuen Leistungen seiner Stellvertreter auf der Studiobühne (aber auch nach deren Versagen!) giert und so die Quoten-Betrugsmaschinerie konditioniert. Damit wird aus der Tribunalsituation, die Quiz Show in der übergeordneten narrativen Anlage wie auch in der konkreten Ausgestaltung des Schlussteils konstruiert, deutlich, dass der Film anhand des Paradigmas ›Quiz-Sendung‹ das Fernsehen als Kommunikationssystem an sich aburteilt. Ermittler Richard Goodwin, positive Hauptfigur des Films, bringt es abschließend ebenso resigniert wie prägnant in der Manier von Horkheimer / Adornos Fernsehkritik (»Aufklärung als Massenbetrug«)4 projektiv auf den Punkt: »Ich dachte, wir könnten das Fernsehen drankriegen. Stattdessen wird das Fernsehen uns drankriegen« (2:01,27). Über die systemimmanent orientierte Kritik am kommerziell verderbten System ›Fernsehen‹ hinaus zeigt Redfords Film jedoch auch gleich von seinem Vor-Vorspann weg einen ideologischen Kausalzusammenhang für den betrügerischen Einsatz von Quizsendungen auf. Am Anfang des Films wird nicht zufällig aus dem Autoradio die Meldung eingespielt, dass die Sowjets mit Sputnik I die erste Raumsonde in Umlauf gebracht haben (was den Beginn der Spielfilmhandlung auf Oktober 1957 datiert) (0:02,04). Wenn die Nachricht mit der desillusionierten Feststellung, »dass es mit Amerika nicht so gut aus[sieht], wie wir glauben«, schließt (0:02,19) und unmittelbar in Verbindung mit dem Vorspann auf die Vorbereitung zu einer neuen Folge von »Twenty One« umgeschnitten wird, kommt so die inhärente Logik des Fernsehbetrugs zur Darstellung: Der bisherige Quiz-Star, Ex-G. I. Herbie Stempel inkarniert die rückwärtsgewandte Legitimationsmentalität des american dream aus der Nachkriegszeit – »Auch Du kannst reich werden« (0:09,20) –, ist aber eigentlich ein »Verlierertyp« (0:08,33). Was Amerika jedoch angesichts des Sputnikschocks und der mit ihm einhergehenden Verunsicherung braucht, ist eine Bildungsoffensive, für die der linkische und hässliche Autodidakt Stempel, zudem noch Jude, nicht tauglich ist. Das Fernsehen hat gerade in seiner Eigenschaft als »Agentur der Gesellschaft« (Helmut Schanze), und sei es unter Zuhilfenahme von handfesten Manipulationen, nun einen professionellen Leistungsträger zu mobilisieren, weshalb man Charles Van Doren, Dozent an der Columbia University und aus einer der renommiertesten Intellektuellenfamilien des Landes 4
Vgl. Max Horkheimer / Theodor W. Adorno: »Kulturindustrie. Aufklärung als Massenbetrug«, in: Max Horkheimer / Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt am Main: S. Fischer 1969 [amerik. Erstausgabe 1944], S. 108-150. 147
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stammend, als »die große weiße Hoffnung« (0:53,16) in »Twenty One« für 50 Millionen Zuschauer lanciert. An ihm als der neuen QuizKoryphäe kann die »Sache der Bildung« (0:24,14) sogartig durch die Unterhaltungssendung propagiert werden, und so macht es angesichts seines gesellschaftlichen Auftrags nichts aus, dass sich auch dieser Intellektuelle für seine Auftritte von den Fernsehproduzenten kaufen lässt und ihm nach der Entlarvung vor Gericht das Pathos der ehrlichen Betroffenheit zu seiner Exkulpierung und sogar Heroisierung genügt, wie die Tribunalsequenz am Ende gleichsam verbittert aufzeichnet.
S an ti ag o L o r e n z o : M am á e s bo ba ( 1 9 9 9 ) Der Spielfilm Quiz Show als Prototyp der kinematographischen Aufbereitung der Gameshow-Thematik stellt seine Kritik an diesem Programminhalt des Fernsehens also sowohl unter mediensystematische als auch unter ideologisch-gesellschaftliche Bedingungszusammenhänge. Dieselbe Kombination weist ein weiteres Filmbeispiel auf, das in einem etwas weiteren Sinne unserem Korpus der Verfilmungen leistungsmäßiger Bewährung in »Spiel«-Sendungen zugerechnet werden kann. Zugleich bringt das fragliche Werk, Mamá es boba (»Mama ist doof«) von Santiago Lorenzo (1997 entstanden, Premiere 1999) eine dritte Ebene der Problemreflexion ins Spiel, die noch in Quiz Show zugunsten der gesellschaftlichen und medialen Implikationen weitgehend ausgeblendet worden war, die Bedeutung des Zusammenhangs von Gameshow-Rolle und identitärer Selbsterfahrung. Zugleich ist es sicherlich kein Zufall, dass dieser Aspekt gerade im Kontext einer ganz bestimmten Fernsehkultur, der spanischen nämlich, seinen Niederschlag gefunden hat. Denn auch wenn die Behauptung, die nachfolgend behandelten Auswüchse der Fernsehkommunikation gäbe es nirgendwo anders festzustellen, sicherlich heuchlerisch wäre, ist doch unverkennbar, dass – wahrscheinlich aus Gründen einer Überreaktion auf eine in jeder Hinsicht repressive Medien- und Sozialpraxis – in Europa zuvörderst Spanien vom Phänomen der sog. »telebasura« (»Fernsehmüll«) in einer derart hemmungslosen Ausprägung heimgesucht wird. Gemeint ist damit die ebenso genüssliche wie würdelose Zur-Schau-Stellung und / oder Aufbereitung von sexuellen Deviationen, Aggressivität, moralischem Fehlverhalten, Enthüllungen aus dem Bereich des Intimlebens, die einen primitiven Voyeurismus bedienen. Dies geschieht in eigens dafür vorgesehenen Fernsehformaten, Reportagesendungen oder – für unseren Zusammenhang wichtiger – in Talk- und Showsendungen, in denen irgendwelche Antagonisten in schonungsloser Konfrontation zur Belustigung des Publikums übereinander,
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auch brachial, herfallen. Aktanten solcher Schlammschlachten sind entweder die Schönen und Reichen des Showbusiness, die sich einen Imagegewinn davon versprechen, oder irgendwelche underdogs der Gesellschaft, die meinen, Aufmerksamkeit zu erheischen, in Wirklichkeit aber nur vorgeführt werden.5 Mamá es boba handelt von einem Gespann betrügerischer Fernsehmacher, die in einer Kleinstadt in Zentralspanien unter Missbrauch öffentlicher Gelder den Lokalsender »Tele Aquí« (»Tele Vor Ort«) lancieren. In Abwandlung unseres Kriteriums der amateurhaften ›Leistungs‹Erbringung in einer Spielshow entwickeln die Produzenten eine auf besondere Primitivität abzielende Programmattraktion, in der es ex negativo auch um eine Leistungsdemonstration geht: Gema Perdulí,6 treuherzige Putzfrau des Sendegebäudes und kaum des Alphabets kundig, wird nicht ohne Hintergedanken zur Nachrichtensprecherin des Senders auserkoren und wird so zum unfreiwilligen Show-Star. Gezielt bis zur Unerträglichkeit inszeniert der Film das hämisch-brüllende Gelächter nicht nur der Fernsehleute im Studio, sondern auch der Freunde, ja aller Einwohner der Stadt, die sich an Gemas nervösen Entzifferungsbemühungen vor laufender Kamera gnadenlos delektieren.7 Erst als auch noch Gemas nicht minder schlichte Ehemann in einem primitiv-schlüpfrigen Ratespiel regelrecht vorgeführt wird, beginnt das unglückselige Paar zu ahnen, dass es als Opfer skrupelloser Vermarktungsinteressen missbraucht worden ist. Am Ende der Geschichte fängt die auktoriale Aufnahmeapparatur des Films das zugleich gesellschaftliche wie persönliche Scheitern der kläglichen Fernsehprotagonisten in einer Sequenz ein, die Bild und Tonspur in entlarvender Weise zusammenspielen lässt. Verhöhnt von allen, hat sich die Familie auf eine Parkbank zurückgezogen und beschließt, aus
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Vgl. zum Phänomen der telebasura Lorenzo Díaz: La caja sucia: telebasura en España, Madrid: La esfera de los libros 2005. Das Insistieren auf Gemas Familienname Perdulí im Fernsehen gibt angesichts der entsprechenden Konnotationen im Spanischen – »perdularia« (»Schlampe«) und »pendulario« (»Hängebusen«) – weiteren Anlass zur öffentlichen Häme. Nebenbei bemerkt, stellt Gemas Auftritt die farcenhaft-überzogene Bestätigung von Neil Postmans These dar, dass das Fernsehen im Rahmen seiner globalen Unterhaltungsstruktur mehr und mehr dazu tendiert, auch die durchaus »seriösen« Inhalte wie Nachrichten oder Bildungssendungen einer immer unterhaltsameren Aufbereitung zu unterwerfen (Neil Postman: Wir amüsieren uns zu Tode. Urteilsbildung im Zeitalter der Unterhaltungsindustrie, Frankfurt am Main: S. Fischer 1985 [amerikan. Erstausgabe 1985]). 149
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der Stadt wegzuziehen. »¿Qué pintamos aquí?« (Dt.: »Was treiben wir hier eigentlich noch?«), fragt die endlich desillusionierte Mutter (wörtlich übersetzt, lautet die stehende Wendung: »Was malen wir hier?«). »Pintamos un cuadro« (Dt.: »Malen wir doch ein Bild«), sagt treuherzig der Ehemann, der wieder einmal nichts verstanden hat. Dann stehen sie auf und gehen von dannen, ohne es zu merken, mit gestreiften Regenmänteln, denn die Parkbank war »recién pintado« (Dt.: »frisch gestrichen«) (1:21,19 ff.). So malen sie kein Bild, sondern werden bemalt, sie bleiben noch im Abgang ausgelachte Objekte einer bildhaften Einrahmung – die »Angeschmierten« eben. Ist es Selbstironie des Spielfilms, wenn er sich durch die Wahl der Überlegenheitsperspektive hier im Auslachen der tumben Perdulí zum Komplizen der Fernsehveranstaltung macht? Auf der Vermittlungsebene verschärft der Film seinen anklagenden Duktus durch eine besondere Strategie, die generell zu einem der wichtigsten Markenzeichen des spanischen Gegenwartsfilms geworden ist: Die Geschichte wird aus der Erlebnisperspektive eines Kindes erzählt. Martín, der Sohn der Perdulí, gibt sich im off-Ton, der die Diegese begleitet, als Berichterstatter seines eigenen Leidensweges zu erkennen. Er, der im Gegensatz zu den Eltern deren mediale Demütigung durchschaut (so klar übrigens, dass es seiner raffinierten Initiative zu verdanken ist, dass die betrügerischen Fernsehleute schließlich von der Justizbehörde entlarvt werden), erfasst anhand der Erfahrung am eigenen Leib die Gemeinheit, mit der die Eltern, insbesondere die Mutter, vorgeführt werden: So wie er in der Schule zum Prügelknaben wird und von den Mitschülern an die Wand gestellt und mit Bällen beschossen wird, weil er immer noch in die Hose macht, so werden Gema und ihr Mann anlässlich der erniedrigenden Fernsehauftritte durch die Lachsalven des Publikums »beschossen«. Gerade vom Filmende her vermag die Betonung der kindlichen Perspektive dann aber auch zu verdeutlichen, dass die Darstellung von Gemas unfreiwilligen Show-Einlagen über die Kritik an den perfiden Ausbeutungspraktiken des Medienapparates hinaus geht und letztendlich auch einen gesellschaftlichen Stellenwert gewinnt. Mit Blick auf den Leidensweg der Eltern bedeutet für Martín die Praxis des Fernsehens »vor Ort« eine »Schule des Lebens«, wie die zynische Schlussfolgerung aus dem Erzählten in einem schriftlich eingeblendeten Schlusstext vor dem Abspann verkündet: Wenn die Jugendzeit vorbei ist, werden Kinder wie Martín in vielen Fällen zu glücklichen Erwachsenen, die sich über jede Kleinigkeit freuen können. Denn sie haben die Angst vor der Niederlage verloren. Letztendlich wissen sie, dass, egal was passieren mag, nichts mehr so schlimm kommen kann wie all das, was ihnen früher widerfahren war. (1:22,51 ff.) 150
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F r a n ç o i s T r u f f au t : F ah re n h e i t 4 5 1 ( 1 9 6 6 ) Im Gegensatz zu der spezifisch spanischen Prägung von Mamá es boba hat es sicherlich keine nationalkulturelle Bewandtnis mit dem Umstand, dass die beiden Spielfilme, die am eindringlichsten Spielshows als Ausdruck gesellschaftlicher Befindlichkeiten, genauer: Missstände, behandeln, von französischen Autoren (Claude Chabrol, François Truffaut) gedreht worden sind, zumal Truffauts Fahrenheit 451 (1966) eine Verfilmung des gleichnamigen US-amerikanischen Romans von Ray Bradbury aus dem Jahr 1953 darstellt und hauptsächlich in England gedreht wurde. Die Tragweite der in beiden Fällen eingebrachten Medienkritik ist in jedem Fall globaler Natur. Greift man lediglich den für uns relevanten Spielshow-Ausschnitt aus Fahrenheit 4518 heraus, könnte die Fernsehsequenz als bloße Farce erscheinen. In einer zukünftigen, technisch höher entwickelten Gesellschaft, die schon großformatige Bildschirmwände und das Prinzip der interaktiven Kommunikation Fernsehen – Publikum zu Hause kennt, ist Linda, die gelangweilte Ehefrau des hauptberuflich Bücher verbrennenden Feuerwehrmanns Montag, begeisterte Adeptin der Spielsendung »Familientheater: Komm und spiel mit uns«. Lindas Leistung vor dem häuslichen Bildschirm besteht darin, bei einem Signalton aufgerufen, anlässlich eines fiktiven Festessens, das Gegenstand des Spiels ist, die Anzahl der einzuladenden Gäste und die Benennung der Tischvorsitzenden zu bestätigen und zu bestimmen, wer in welchem Gästezimmer schläft. Immerhin bringt Lindas anfangs zögerliche »Bewältigung« dieser Aufgabe ihr von Seiten der Spielleiter sendungsimmanent höchstes Lob ein (»Linda, du bist einfach fantastisch«).9 Die karikaturesk anspruchslose Spielleistung der Kandidatin10 gewinnt jedoch hochgradig an Bedeutung, wenn man sie in die Gesamtsituation der filmischen Welt einordnet, ist die Szenerie doch im Alltagsleben einer totalitären Gesellschaft eingeordnet, deren Machthaber die Unterdrückung ihrer Untertanen dadurch bewerkstelligen, dass sie Besitz 8
Der Titel verweist bekanntlich auf den Hitzegrad, bei dem Papier zu brennen beginnt. 9 Vgl. 0:15,34 ff.. 10 Interessanterweise hat Truffaut das Moment der (wenn auch läppischen) Erbringung einer Intelligenzleistung gegenüber der Romanvorlage weiterentwickelt; im Buch, wo Manuskripte zu Fernsehsendungen noch erlaubt sind, geht es lediglich darum, dass Linda im Rahmen eines Fernsehspiels eine ausgelassene Nebenrolle übernimmt und von zu Hause aus ihren Part an einer bestimmten Stelle vorträgt (vgl. Ray Bradbury: Fahrenheit 451, Frankfurt am Main: Büchergilde Gutenberg 2002, S. 25 f.). 151
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und Lektüre von Schrifterzeugnissen unter Todesstrafe stellen und als Ersatz für die im Prinzip aufklärerischen Printmedien der Bevölkerung eben audiovisuelle Fernsehunterhaltung auf dem geschilderten Niveau der Spielsendung anbieten. Damit wird die Sequenz zum sanften Instrument terrorgleicher Herrschaft, die so funktioniert, dass der Anschein von »familiärer Atmosphäre« erzeugt wird: In dem Maße, wie das Medium per Interaktivität (wobei übrigens nicht klar wird, ob es sich um eine echte Kommunikation mit »unserer« Linda handelt, oder ob vage alle Lindas vor dem Bildschirm angesprochen werden) in die Privatsphäre der Zuschauerin eindringt und eine scheinhafte Kommunikation etabliert (»Komm, spiel mit uns«), wird bei Linda gerade angesichts der krassen Anspruchslosigkeit ihrer Leistung die Illusion erzeugt, zur großen Familie der Mediengesellschaft zu gehören. Der beklemmend drohende Blick des Spielleiters auf Linda herab, aber auch die sichtliche Angst der Kandidatin zu versagen, verweisen im Übrigen auf das Moment des Terrors, das dieser TV-Kommunikation eigen ist, die dem unbefangenen Betrachter in einem fast schon Freud’schen Sinne ›unheimlich‹ (als Auftauchen des Fremden / Verdrängten im Eigenen / »Heimeligen«11) anmuten muss.12 Darüber hinaus macht der weitere Handlungsfortschritt um die Figur Linda deutlich, dass Fernsehkonsum in der Praxis der Spielsendung letztlich doch aufgezwungen ist und deshalb unbefriedigend bleibt. Die Spielepisode ist nur eine Phase in Lindas sinnentleertem Leben und fungiert als Suchtverhalten parallel zu ihrem Tablettenkonsum, der sie um ein Haar in den Selbstmord treibt, beides also Ersatzhandlungen, die ihre Selbstentfremdung und Abhängigkeit zum Ausdruck bringen, Wirkungen, die so im wahrsten Wortsinn ›von oben herab‹ (man beachte das Dispositiv der Bildschirmwand) intendiert sind.
11 Vgl. Sigmund Freud: »Das Unheimliche«, in: Sigmund Freud, Studienausgabe, Bd. IV: Psychologische Schriften, Frankfurt am Main: S. Fischer 1970, S. 241-274, hier 267 ff. 12 Zieht man den befremdeten Blick des gerade heimgekehrten Ehemanns Montag noch in Betracht, der ganz offensichtlich die Veranstaltung als Farce durchschaut und sich dann auch der verbotenen Buchlektüre zuwenden wird, bevor er von Linda an die Staatsgewalt verraten wird, lässt sich erneut ein Bezug zur gesellschaftskritischen Fernsehtheorie herstellen: Die Spielsequenz aus Fahrenheit 451 veranschaulicht höchst plastisch Günter Anders’ so treffenden Begriff vom Fernsehen als »negativem Familientisch« (vgl. Günter Anders: Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. I: Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, München: Beck 6 1983 [Erstauflage 1956], S. 104 ff. 152
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C l a u d e C h a b r o l : M as q u e s ( 1 9 87 ) Auch in Claude Chabrols Kinofilm Masques (1987) wird die Fragwürdigkeit einer seichten Spielshow mit einer gesellschaftskritischen Verweisungskraft ausgestattet. Das Werk handelt von den mörderischen Machenschaften des Showmasters Christian Legagneur, dessen Familienname (»der Gewinner«) bereits darauf hinweist, dass nicht etwa die debilen Kandidaten seines beliebten Unterhaltungsspektakels »Le bonheur pour tous«, einer Art »Herzblatt«-Partnervermittlung für Senioren, die potenziellen Gewinner sind, sondern er selbst den Gewinn einfährt. Nicht nur, dass er die KandidatInnen regelrecht vorführt (mehr oder weniger senile Erscheinungen mit lätzchenartig umgehängten Herzen haben in einer quietschrosafarbenen Bühnenausstattung unter seiner ebenso rührend Anteil nehmenden wie dominanten Leitung peinliche Gesangs- und Tanzleistungen zu erbringen), es stellt sich am Ende heraus, dass Legagneur die Show als Einstieg in die radikale Ausbeutung der Alten benutzt: Ist die Prämie für das Siegespaar eine Weltreise, profitiert sein Reisebüro davon, nach der Weltreise werden die Teilnehmer in das von ihm betriebene Altenheim verbracht, wo er sich vor ihrem Ableben noch ihr Erbe erschleicht. Auch vor der Ausführung von Morden schreckt der vermeintliche Wohltäter in seiner Habsucht nicht zurück. Als Symbol für seine wahre Rolle in der Gesellschaft steht die Tatsache, dass er nebenher ein Verschrottungsunternehmen betreibt, das ihm bei der Beseitigung seiner Opfer zusätzlich gute Dienste erweist. Chabrol hat in Masques, seinem 37. Spielfilm, die thematische Grundkonfiguration seines Schaffens einmal mehr variiert und für dieses Mal an der Welt des Showbusiness und der Gameshows festgemacht. Getreu dem programmatischen Filmtitel geht es um die von Chabrol immer wieder entlarvte Kluft zwischen dem ostentativ hervorgekehrten gutbürgerlichen Schein (hier in Form des fürsorglichen Umgangs mit den Senioren unserer Gesellschaft), hinter dem sich in Wirklichkeit die gnadenlose Praxis von skrupelloser Ausbeutung und Vernichtung aus Profitgier verbirgt. Ohne umständliche Vermittlung oder Brechung setzt Chabrol den Showmaster als Personifikation dieser gesellschaftlichen Wahrheit in Szene. Legagneur ist der geschilderte Betrüger und Mörder qua Fernsehsendung, wie man sagen könnte, da er anlässlich dieser Auftritte aus dem reichhaltigen Fundus seiner wehrlosen KandidatInnen schöpft, um die »Herzblatt«-Akteure auch zu Mitspielern und damit Opfern seiner kriminellen Machenschaften zu instrumentalisieren. Gerade weil er in der Rolle des gerührten Biedermanns den gesellschaftlich hoch angesehenen Auftrag der »Altersversorgung« zu erfüllen vorgibt (»Das Glück für alle«, affichiert der Titel der Spielsendung großformatig im Bühnenbild),
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steht er idealtypisch für die Perversität des bürgerlichen Kapitaldenkens als Triebkraft allen Handelns. Die Demaskierung des Scheins und die Brutalität des wahren gesellschaftlichen Seins leistet der spektakuläre Show-down der Handlung auf dem Live-Plateau der Spielsendung. Im Augenblick der Preisverleihung nähern sich Legagneurs Widersacher, die er beseitigt zu haben glaubt, womit ihm sofort klar wird, dass er verspielt hat. Er beendet seinen Showauftritt mit einem zynischen Schlussmonolog: [Legagneur, an sein greises Kandidatenpaar gewendet] - Oh, gerade Ihnen brauche ich ja nicht zu erklären, dass jedes Ding sein Ende hat, nicht wahr? [M. Loury] - Aber nicht doch... - M. Loury, soll ich Ihnen etwas anvertrauen? Ich mag das Alter nicht – es macht mir Angst. [Mme. Lemonnier] - Aber das braucht es nicht... - Und das Publikum mag ich auch nicht – es widert mich an. Wissen Sie, M. Loury, was ich in Wirklichkeit mag? Das liebe ich! [er reibt genüsslich Daumen und Zeigefinger gegeneinander] - Also dann, meine Verlobten auf der rosa Wolke [noch lauter, an das Studiopublikum gewendet], war das alles nicht schön, was? [das Siegespaar, eifrig] - Aber ja doch, es war schön! [Schreiend] - Nein! Scheußlich ist es! Es ist der pure Schwindel. Der Betrug mit dem Herzen [wieder Daumen und Zeigefinger reibend] ist der perfekteste. Es genügt, dass man Sie glauben macht, es sei irgendwo das [hämisch-breit] Herz mit im Spiel, und Sie schlucken alles. Ausbreiten, was schamhaft verborgen bleiben müsste, ist das nicht eine gute Definition des Obszönen, (oder)? […] Meine Damen und Herren, es bleibt mir nur, Ihnen noch eins zu sagen, und zwar aus der Tiefe des [wieder hämisch] Herzens – Sie können mich am A... lecken. [Während er mit Kusshand nach hinten abgeht, wo zwei Kriminalbeamte schon zu seiner Verhaftung bereit stehen, fährt die Frontalkamera rückwärts und gibt zu erkennen, dass es sich bei dem abgefilmten Wirklichkeitsausschnitt um das Bild eines Fernsehapparats gehandelt hat. Eine Hand schaltet das Gerät aus.] (1:32,29 ff.)
Es ist nicht nur der Gehalt dieses Finales und sein sprachlicher Ausdruck, der die wahre Bedeutung des »Masken«-Titels so schonungslos illustriert, sondern vor allem die ironische In-Eins-Setzung des Fernsehauftritts mit den tatsächlichen Verkehrsformen der bürgerlichen Praxis, die Chabrol hier buchstäblich zur Schau stellt. Denn noch im Augenblick der (Selbst-)Entlarvung des Mörders findet die Pervertiertheit der vermeintlich bürgerlichen Wohlanständigkeit ihre mediale Homologie in der Parodie eines schmissigen Show-Abgangs: Dazu gehört der gefühlvolle Abgesang (»Erlauben Sie mir, in Schönheit aufzuhören«), auch wenn 154
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Legagneur das Publikum beleidigt, statt sich artig zu bedanken; die Verfolger tauchen als offizielle »Überraschungsgäste« aus den Publikumsrängen auf, der Moment der Verhaftung wird damit begründet, dass sich hinter den Kulissen etwas rege und Legagneur nachschauen müsse, was los ist; und noch die fratzenhafte Verabschiedung (»Sie können mich mal...« statt des üblichen »Bleiben Sie gesund bis zum nächsten Mal«) ist begleitet von der obligatorischen Kusshand, die der Showmaster seinem Publikum zuzuwerfen hat – allerdings in dem Augenblick, wo seine Physiognomie zu verschwimmen beginnt und das Augenmerk der Kamerabewegung gilt, die die vermeintlich direkte Studioaufnahme zum Anblick eines Fernsehbildschirms verkleinert. Steckt in der schlussendlichen Evokation des Fernsehzuschauers – ob er nun ausschaltet, weil er gesehen hat, was er wollte, oder weil er der Gelackmeierte des schönen Scheins der Tele-Unterhaltung ist, auch bei Chabrol wie bei Redford und Lorenzo ein Moment der Anklage gegen das Publikum als maßgeblicher, den Missbrauch konditionierender Instanz? In jedem Fall verweist die Schlusseinstellung ganz gegenständlich-konkret auf die Tatsache, dass es sich bei dem Gesehenen um »das« Fernsehen gehandelt hat.
P au l T h o m a s A n d e r s o n : M ag n o li a ( 1 9 9 9 ) Was im Rahmen der bisherigen Betrachtungen allenfalls unterschwellig angeklungen ist, weil die behandelten Spielfilme ihren Fokus eindeutig auf die Darstellung der medialen bzw. der gesellschaftlichen Tragweite von Gameshows gerichtet haben, ist die Abhandlung des Gegenstandsbereichs unter den Prämissen einer Persönlichkeitserfahrung. Dabei hinterlässt diese noch ausgesparte Akzentuierung des Themas – welche Bedeutung besitzen Spielsendungen im Allgemeinen, ihre Realisation im Studio und ihre Ausstrahlung für die Lebensentwürfe der Protagonisten (Mitspieler wie Showmaster und Produzenten) – quantitativ wie auch hinsichtlich der Intensität der kinematographischen Inszenierung den nachhaltigsten Eindruck, wie zu zeigen sein wird. Es kann nicht verwundern, dass die drei einschlägigen Kinofilme, die das Phänomen ›Spielshow‹ als eine geradezu existenzielle Problematik begreifen und entsprechend abhandeln, aus dem Mutterland dieser Fernsehgattung, aus den Vereinigten Staaten, stammen. Eher ganzheitlich, gemäß der epischen Totalität, die sein Bauprinzip ausmacht, setzt sich Magnolia von Paul Thomas Anderson mit dem Zusammenhang von Quizshow und Persönlichkeitsprägung auseinander. Der Film, der zur Zeit seiner Premiere (1999) für Aufsehen sorgte, weil sein gerade einmal 29jähriger Regisseur über drei Stunden alle »großen«
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Themen menschlicher Existenz wie Leben und Sterben, Schuld, Verzweiflung, Sühne und Erlösung abhandelt, selbst vor der Einbringung biblischer Bilder in Gestalt eines reinigenden Unwetters herabregnender Kröten (vgl. Exodus 8-10) nicht zurückschreckt und dann noch das Ganze als filmimmanente Philosophie über die Macht des Zufälligen verstanden haben will. Mit den darstellerischen Mitteln des Episodenfilms, der ineinander geschnittenen Sequenzenteile und der Parallelmontage beleuchtet Magnolia über 24 Stunden die Schicksale von neun Hauptfiguren, deren Wege sich in der Nähe von Los Angeles kreuzen13 und deren Existenzen sich miteinander verstricken. Für unsere Betrachtung ist dabei ausschlaggebend, dass der lebensweltliche Fluchtpunkt all dieser Begegnungen in mehr oder weniger direkter Ausprägung eben die Welt einer ganz bestimmten Quizshow und ihrer Produktion ist. Ein Blick auf vier der am maßgeblichsten vom Quiz-Universum geprägten Protagonisten vermag zu verdeutlichen, welches Bild von der Fernsehunterhaltung Magnolia entwirft. Da ist ganz oben in der Hierarchie der Medienzar Earl Partridge, dessen Konzern die Quizshow produziert. Er liegt in den letzten Zügen und wird auf dem Totenbett mit seiner Vergangenheit konfrontiert: Vor Jahren hatte er seine erste, todkranke Frau und den gemeinsamen Sohn schutz- und mittellos im Stich gelassen, um unbehindert von dem Familienballast Karriere machen zu können. Sein Sohn Frank, der nach einer entsprechend lieblosen Kindheit mittlerweile selbst im Business als Guru einer antifeministischen Agitationsshow zur Aufrüstung des männlichen Geschlechts tätig ist, besucht den Vater auf Betreiben von Earls zweiter Frau, bewegt vom Wiedersehen, aber ohne Bereitschaft zum Verzeihen. Jimmy Gator ist der Quizmaster und als solcher ein Veteran des Genres. Obwohl er weiß, dass ein Streukrebs ihn nur noch wenige Monate leben lassen wird, versucht er trotz diverser Schwächeanfälle, auf dem Fernsehplateau den souveränen Spielleiter zu geben. Sein »eigentliches« Problem ist ein anderes: Er hat seine Tochter Claudia in ihrer Kindheit sexuell missbraucht, woraufhin sie, mittlerweile erwachsen, ein gestörtes Verhältnis zu Männern entwickelt hat und heroinsüchtig geworden ist. Vergeblich sucht Jimmy die Aussöhnung mit der Tochter, und nur der erwähnte Krötenregen verhindert zufällig seinen Selbstmord. Im Übrigen gewinnt angesichts eines solchen Charakters der Titel seiner Erfolgssendung, »What Kids Do Know« einen geradezu zynischen Beigeschmack. Ein weiteres Opfer der Show ist »Quiz Kid« Donnie Smith, vor Jahren gefeiertes Rategenie und Rekordhalter an Erfolgsrunden. Im richtigen 13 Der Filmtitel spielt dann auch auf den Magnolia Boulevard an, der das San Francisco Valley durchzieht und im Film immer wieder als Ort der Begegnung zwischen Zufall und innerer Notwendigkeit in Erscheinung tritt. 156
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Leben hat er jedoch nie Fuß fassen können, nachdem seine Eltern die von ihm erspielten Siegprämien durchgebracht haben und er in seinem Vertreterjob, zu dem er aufgrund seines mittlerweile verblassten QuizRuhms angeworben wurde, versagt. Im Augenblick der Filmhandlung sieht er sich gezwungen, im Büro seiner Arbeitgeber einzubrechen, um sich das Geld für eine Zahnspange zu beschaffen (auch hier verhindert der hereinbrechende Krötenregen die Ausführung der Tat). Steht die Quizshow im Hinblick auf die Schicksale der drei genannten Protagonisten für das von der Erzählerstimme ausdrücklich genannte Leitmotiv des Films: »Und es steht geschrieben: Wir haben mit der Vergangenheit abgeschlossen, aber die Vergangenheit nicht mit uns« (2:46,09), so gilt diese Einsicht für den Jungen Stanley, jetziges »Quiz Kid« in Aktion und die eigentliche Hauptfigur des Films, nur für die allerunmittelbarste Vergangenheit, mehr noch aber als Konsequenz, die für die Zukunft zu ziehen ist: Stanley wird von seinem gefühllosen Vater, der obendrein noch arbeitslos ist, zu immer neuen Sendungshöchstleistungen getrieben, obwohl ihm die Veranstaltung auf die Nerven geht. Als der »Druck« auf ihn im wahrsten Wortsinn zu groß wird und er sich während einer Raterunde mangels Pause zum Austreten in die Hose macht, führt er den Eklat herbei: Er weigert sich, wie sonst als Vertreter des Kinderteams bei ihm üblich, in der Duellrunde mit einem erwachsenen Kandidaten nach vorne zu kommen und das Wunderkind zu spielen. Vor laufender Kamera wird sein Aus-der-Rolle-Fallen zur bewegenden Anklage gegen das Gefühl, seiner Kindheit beraubt und als Medienmarionette missbraucht zu werden: [Stanley] - Ich muss... Ich soll immer alles tun, ich beantworte immer die Fragen, aber ich will das nicht mehr. [...] [Jimmy Gator] - Die Unentschlossenheit eines Kindes, meine Damen und Herren. [Lachen und Applaus] - Das ist nicht witzig. Auch nicht süß. Sehen Sie, so werden wir angeguckt. Ich bin doch..., ich bin doch schließlich kein Spielzeug, keine Puppe oder so. Ihr glaubt das aber, weil ihr uns niedlich findet. Wieso... was... warum soll ich mich wie ein Monstrum fühlen? Weil ich Fragen beantworte? Oder viel weiß? Oder weil ich zum Klo muss? Was soll das, Jimmy? Was soll das? Das... das möcht’ ich..., das frag’ ich Sie jetzt. - Ich weiß nicht genau, Stanley. [...] - Ich bin nicht kindisch, ich bin nicht klein und süß. Ich bin klug, und deshalb bin ich kein Püppchen, ein Püppchen, an dem man sehen kann, wie lächerlich das ist, wenn man klug ist. Ich... Ich weiß ganz viel. Ich weiß..., ich weiß..., ich weiß, dass ich zum Klo muss und... und... [Die Sendung wird abgebrochen, der Abspann läuft durch] (1:47,10 ff.).
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Anhand des skizzierten Schicksals der vier Quiz-Individuen wird deutlich, wie drastisch, um nicht zu sagen überzogen, Andersons Film die Spielsendung als desaströse Veranstaltung des Inauthentischen auf der Kinoleinwand denunziert. Für Macher, Ausführende und Kandidaten (und damit für alle weiteren Personen, die in einer engen Beziehung zu ihnen stehen) wird sie zum Ort und zum Ausdruck einer dramatischen Lebenslüge: Die Einen versuchen mit der Veranstaltung des schönen und populären Scheins ihre schuldhafte Vergangenheit zu kaschieren, die anderen erkennen projektiv aus der Erfahrung ihrer Fernsehrolle, dass hier für sie ein misslingendes Leben vorprogrammiert wird. Wenn Stanley, der nach seinem Ausfall in der Sendung selbstbewusst geworden ist und staunend den alttestamentlichen Regen der Kröten miterlebt hat, seinen maßlos enttäuschten und wütenden Vater zu Hause mit Nachdruck auffordert: »Dad, Du musst netter zu mir sein« (2:47,46), meint er damit ein Leben ohne Quzishow, ohne ihren medialen Leistungsdruck und die objekthafte Zur-Schau-Stellung seiner Person.
D ar r e n A r n o f s k y : R e q u i e m f o r a D re a m ( 2 0 0 0) Im Unterschied zu Andersons multiperspektivischem Werk konzentriert sich Darren Aronofsky in seinem fünften Spielfilm, der den suggestiven Titel Requiem for a Dream (2000) trägt, auf einen Aspekt der Beziehung zwischen Spielshow und Persönlichkeitsentwurf, nämlich das Psychogramm einer Kandidatin in spe, und dies auch nur in einem der beiden Handlungsstränge, deren Zusammenwirken allerdings auch konstitutiv für die Verhaltensbewertung ist. Sara Goldfarb, eine Frau mittleren Alters, fristet im New Yorker Stadtteil Brooklyn ein vereinsamtes Dasein; ihr Ehemann hat die Familie offenbar schon vor Jahren sitzen lassen und / oder ist zwischenzeitlich verstorben, ihr Sohn Harry besucht sie »offiziell« nur selten, kommt jedoch häufiger heimlich, um in seiner chronischen Geldnot ihren Fernseher zu stehlen und beim Pfandleiher zu versetzen. Sara muss das Gerät dann sofort wieder auslösen, denn sie ist begeisterte Zuschauerin von Shows und hat nur einen Wunsch – einmal in Tappy Tibbons Sendung »We Got a Winner« aufzutreten. Der Spielmodus dieser Show ist grenzwertig einfach, die zu erbringende »Leistung« grotesk anspruchslos: Zum »Gewinner« wird, wen die Fernsehleute auf die schriftliche Bewerbung hin für das Plateau bei Tappy Tibbon auswählen. Daraufhin wird man zu der hysterischen Skandierung des Publikums »Wir haben einen Gewinner!« und »Bravo, Sara!« auf die Bühne geleitet, wo man im Rampenlicht, vom guruhaften Showmaster aufgefordert, seine Persönlichkeit vor Millionen von Zuschauern »zur
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Schau« stellen, d. h. das als erfüllte Realität präsentieren kann, was eigentlich nur Wunschtraum bleibt. Als Sara tatsächlich die Mitteilung erhält, dass man sie ausgesucht habe, und nun sehnsüchtig auf den Einladungstermin wartet, erklärt sie ihrem Sohn in entwaffnender Einfalt, warum ihr die Teilnahme so viel bedeutet: [Sohn Harry] – Was ist so toll daran, im Fernsehen zu sein? Diese Pillen hier bringen dich um, bevor du überhaupt hinkommst, verdammt. [Sara] – Was so toll daran ist? Du bist doch eben im Taxi hergekommen. Hast du gesehen, wer da [auf der Bank vor dem Haus] den besten Platz hatte? Ich bin jetzt auf einmal wer, Harry! Und alle mögen mich hier plötzlich. Und bald sehen mich Millionen Menschen im Fernsehen, und die werden mich auch alle mögen. Ich werde ihnen von dir erzählen und von deinem Vater, wie gut er immer zu uns war, erinnerst du dich? Das ist ein Grund für mich, morgens aufzustehen, und genauso ein Grund abzunehmen, ins rote Kleid zu passen. (0:41,25 ff.)
Es geht also für die Kandidatin um die Aufwertung ihrer Persönlichkeit. Wenn sie sich im Fernsehen, also quasi in Form einer öffentlichen Bestätigung, selbst als glückliches Individuum darstellen kann, wird sie, anders als in der problematischen Situation ihrer tatsächlichen Lebenswelt, auch tatsächlich glücklich sein. Einerseits wird hier die Wirkung des Fernsehen in einem geradezu trivial-existenzialistischen Bedingungszusammenhang gesehen: Das Individuum konstituiert sich durch den (hier millionenfach multiplizierten) Blick der anderen als Subjekt und gelangt so zur Annahme seiner Existenz. Andererseits liegt dem Teilnahmewunsch aber auch eine Art »Persönlichkeitsspaltung« zugrunde. Die real existierende Sara schwelgt in der Vorstellung einer Ersatzbildung, der »anderen«, strahlenden »Fernseh-Sara« nämlich, die durch die Macht der Ausstrahlung (im doppelten Wortsinn) bewundernswert ist und so ihr Glücklichsein garantiert. Die Diegese sieht sich in der Folge allerdings genötigt, nur diesen zweiten, pathogenen Wirkungsmechanismus, allerdings in fataler Umkehrung, weiter zu verfolgen. Zwei Begriffe aus dem Gesprächsausschnitt, »diese Pillen« und »ins rote Kleid passen«, bedürfen der Klärung, verweisen sie doch auf Saras Vorstellung von der Realität, die der televisiven Ich-Erfahrung brutal entgegen steht. Sie wird in ihrem roten Kleid im Fernsehen auftreten, ist allerdings gegenwärtig noch zu üppig, um sich in dieses Symbol eines früheren Glückszustands hineinzwängen zu können. Anlässlich ihrer krampfhaften Abmagerungsversuche gerät sie an einen skrupellosen Arzt, der sie mit der Verschreibung von Diätpillen tablettensüchtig macht und zu immer höheren Dosen an Pillen greifen lässt. Der Film zeigt in wahren Schreckensbildern, wie Sara sich infolge ihrer Vorstellung vom 159
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Fernsehen als Plattform für eine beglückte Selbsterfahrung physisch und psychisch ruiniert. Eine der eindringlichsten Szenen des Films bebildert ihren desaströsen Seelenzustand und zeigt, wie sich der gegenüber dem Sohn angedeutete Wunschtraum von der Selbstbestätigung per Persönlichkeitsspaltung im Fernsehen zum Horrortrip verkehrt. Voll gepumpt mit ihren bunten Pillen, äußerlich ein Wrack, sitzt sie vor dem Fernseher (im Hintergrund wummert der Kühlschrank, der »entfüttert« werden will) und erlebt, wie tatsächlich die andere Sara, schlank, adrett und strahlend auf der Bühne agiert, bis sie plötzlich erleben muss, wie ihr alter ego zusammen mit Tappy Tibbon und dem Studiopublikum zu ihr in die verwahrloste Wohnung herab tänzelt und alle die reale Sara in ihrer Verkommenheit ausgiebig verhöhnen (1:05,59 ff.). Mit dieser ins Negative verkehrten Vorstellung vom Wunderbaren der Fernsehshow (die leuchtende Öffentlichkeit wird zur schmutzigen Privatheit, Bewunderung zu Hohn, beglückende Selbsterfahrung zum entsetzten Anblick der eigenen Verkommenheit) begnügt sich Aronofsky nicht. In dem Bemühen, die Vorstellung vom Fernsehen als Medium der Persönlichkeitsbildung buchstäblich als verhängnisvoll zu entlarven, greift Requiem zu einer in ihrer Eindringlichkeit überzogenen Parallelmontage. Im selben Zeitraum, in dem Sara Goldfarb durch ihre Wunschvorstellung von der Showteilnahme zur »Mumie« wird und den Verstand verliert, erlebt auch Sohn Harry seine Höllenfahrt. Der kleine Junkie und Heroindealer scheitert kläglich bei dem Versuch, mit einem Freund ins große Drogengeschäft einzusteigen, weil er selbst – wie seine Mutter auf ihre Weise – von der Sucht nicht loskommt. Wenn die Zuschauer in der Schlusssequenz des Films die Schreckensbilder von Harrys ekelhaft schwärender Einstichwunde am Arm in Großaufnahme sehen, die Amputation des Arms mit erleben und erfahren, dass er den Eingriff nicht überleben wird, und parallel dazu in nicht minder quälenden Ansichten die monströse Behandlung der völlig abgezehrten Mutter durch Elektroschocks miterleben, sie in Zwangsjacke und mit lebenserhaltenden Schläuchen vorgeführt bekommen, werden angesichts dieses makabren Spiels mit der »Montage der Attraktionen« (Eisenstein) der Abschreckungsimpetus und damit die Verdammung des Fernsehkonsums manifest, die, was den Sara-Handlungsstrang anbelangt, dem Film als »Botschaft« innewohnen.
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George Clooney: C o n f e s s i o n s o f a D an g e r o u s M i n d ( 2 0 0 2 ) Nicht minder tödlich stellt sich die Bilanz der Spielshow-Handlung in George Clooneys Debütfilm als Regisseur, Confessions of a Dangereous Mind (deutscher Synchrontitel: Geständnisse – Confessions of a Dangerous Mind ) aus dem Jahr 2002, dar, wenngleich die ironische Brechung in der »vernichtenden« Behandlung der Thematik unübersehbar ist. Gewissermaßen als Komplement zu Requiem for a Dream beleuchtet Clooneys Werk das Phänomen ›Gameshow‹ unter existenziellen Prämissen von der anderen Seite, derjenigen des Produzenten und Showmasters. Der Film konstituiert sich durch seine Rahmenhandlung als Verfilmung der tatsächlich veröffentlichten, provokativ-fiktiven »Memoiren« des ebenso real existierenden Showmasters und -produzenten Chuck Barris, in denen dieser als Bilanz seines »vergeudeten Lebens« (0:03,28) hyperbolisch seine Verachtung sowohl gegenüber der zerstörerischen Welt des Showbusiness als auch gegenüber dem gnadenlosen Umgang mit ihm als Lieferant von entsprechenden Unterhaltungseinheiten an den Pranger stellen will.14 Chuck Barris’ Geschichte, so wie sie im Film erzählt wird, ist in der Tat haarsträubend. Dem jungen Mann gelingt es trotz hartnäckiger Versuche nicht, mit Gameshow-Ideen im amerikanischen Fernsehgeschäft der frühen Sechziger Jahre den Durchbruch zu erzielen, bis die CIA auf den Versager aufmerksam wird und ihn vermittels eines Deals zum wechselseitigen Nutzen anheuert: Er lässt sich zum antikommunistischen Killeragenten ausbilden und im Gegenzug sorgt die Geheimbehörde dafür, das er endlich mit seinen Spielsendungen reüssiert. »The Dating Game«, das Modell des ebenso unsäglichen deutschen »Herzblatt«, macht die richtige Partnerwahl zum Spielziel; die Veranstaltung wird so arrangiert, dass das jeweilige Gewinnerpaar eine Reise nach Europa oder Fernost, in Einsatzorte von CIA-Missionen, geschenkt bekommt und dorthin von Chuck Barris begleitet wird. Während Chuck tagsüber zur Tarnung den Betreuer seiner siegreichen Kandidaten mimt, geht er des Nachts seinen mörderischen Einsätzen nach. So bewerkstelligt die Diegese den Eindruck einer wechselseitigen Kontamination: Es entsteht das Bild der Spielshow als einer Art »Killerspiel«, wie auch die mörderischen Einsätze, scheinbar verharmlosend, als Verlängerungen der alltagsüblichen Fernsehdarbietungen gesehen werden können. Die Verschränkung von Gameshow und CIA-Einsatz erfährt durch mehrere Begebenheiten schließlich eine krisenhafte Zuspitzung, die die 14 »Ich bin verantwortlich dafür, elektromagnetische Wellen mit hirnlähmender, kindischer Unterhaltung verseucht zu haben« (1:37,59). 161
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makabre Kombination vollends zur In-Eins-Setzung gelangen lässt. Beim Casting unsäglich schlechter Gesangsamateure kommt Chuck in Erinnerung an seinen ersten Killereinsatz die innovative Idee, für eine neue Spielshow das Prinzip des »Abschießens« auf die Kandidaten anzuwenden (der Zusammenhang wird auch als mentale Vorstellung Chucks bebildert). Das Resultat dieser fruchtbaren Berufserfahrung ist The Gong Show, in der sich Kandidaten präsentieren, die ihre lächerlichen ShowDarbietungen so lange (bzw. so kurz) zum Besten geben dürfen, bis sie nach dem Votum des Publikums per Gongschlag von der Bühne entfernt werden. Einerseits erweist sich diese Art von Spielunterhaltung offensichtlich dem primitiven Geschmack des Publikums als angepasst, andererseits regt sich immer stärker der Protest gegen Chuck Barris als dem Vollstrecker des »Untergangs der modernen Zivilisation« (1:15,50), so dass Chuck schließlich selbst von den Fernsehmachern »abgeschossen« wird. Die bildliche Umschreibung seiner Entlassung verknüpft sich jedoch auch über die medienimmanente Entwicklung hinaus mit einer dienstinternen Krise innerhalb der CIA: Ein »Maulwurf« hat sich eingeschlichen, und die Suche nach ihm bringt alle potenziellen Mitwisser der operativen Vorgänge, darunter natürlich auch Chuck, in akute Lebensgefahr. Die konkrete Zusammenführung der beiden Welten kommt, zumindest in Chucks Vorstellung, während der Aufnahmen zur letzten »Gong Show« zustande, da Chuck als Moderator fürchtet, im Studio erschossen zu werden. Die Sequenz mutet in der Visualisierung des Sendungsablaufs und seiner Verquickung mit den mentalen Erinnerungsbildern, Angstvisionen (jeder im Studio ist sein potenzieller Mörder) und Chucks von der Aufnahmeleitung vereiteltem Versuch, seine bevorstehende Liquidation als weitere Attraktion der »Gong Show« anzukündigen, regelrecht surreal an. Das Delirium endet auch wie in Magnolia mit dem »weichen« Abbruch der Show: Mit Tanzeinlagen aller Beteiligten und zu den Klängen von »If I Had a Hammer« fährt die Kamera an den Studiorängen mit den blutigen Leichen der von Chuck niedergemetzelten Studiogäste – eines seiner Gewaltphantasmen – vorbei (vgl. für die gesamte Sequenz 1:26,09 ff.). Die Verwandlung der herkömmlichen, wenn auch geschmacklosen »Gong Show« zum Kulminationspunkt von Chuck Barris’ Doppelleben findet ihre Ursache und Lösung in einer erstaunlichen psychologisierenden Wendung, die der Film unmittelbar vor dieser spektakulären Einlage vollzogen hat und damit auch die Gameshow-CIA-Verschmelzung auf eine persönlich-existenzielle Grundlage stellt. Chuck erfährt von der stets bestens informierten CIA, dass sein Killerinstinkt, der ihn sowohl für die Tätigkeit als Auftragskiller als auch für das Showgeschäft prädestiniert,
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»von Geburt an« gegeben ist und ihn in den Teufelskreis hineinversetzt, in dem er sich gegenwärtig befindet. Sein leiblicher Vater war ein Serienkiller und endete auf dem elektrischen Stuhl; bei ihm selbst offenbarte sich die Prägung schon im Mutterleib, wo er seine Zwillingsschwester mit der Nabelschnur erdrosselte. Durch diesen unfreiwilligen Tötungsakt wird wiederum die eklatante Beziehungsstörung gegenüber dem weiblichen Geschlecht vorprogrammiert: Da die Mutter ihm die Schuld an der Totgeburt der Zwillingsschwester gibt, lässt sie ihn solange als Mädchen aufwachsen, bis sie eine andere Schwester zur Welt bringt. In diese Kausalkette ordnet er eine schon längst erinnerte Begebenheit aus seiner Jugend ein: Mit elf Jahren musste er sich zum ersten Mal in einer Art »Urszene« sein Verhängnis bewusst machen, von den Frauen verachtet zu werden: Tuvia, die Freundin seiner Schwester, bringt ihm sein »abstoßendes Geschlecht« (im doppelten Wortsinn zu verstehen) zu Bewusstsein, als es ihm nicht gelingt, sein Versprechen einzulösen und ihr durch den Oralverkehr mit ihm einen Erdbeergeschmack zu verschaffen (0:03,41). Auch wenn diese psychologisierende Aufarbeitung natürlich nicht der ironischen Brechung entbehrt, und wenn es auch Chuck gelingt, sich von seinem Frauenkomplex zu befreien (indem er Tuvias alter ego, die Agentenkollegin Patricia, tötet – sie ist der »Maulwurf« – und die existenzbejahende Penny heiratet), legt das Ende von Confessions Wert auf eine pessimistische Lebensbilanz. Dass nach der »Logik« des Films die Spielshow gerade dank der hyperbolischen Verschränkung mit der Killerpraxis eindeutig als Parabel für ein verpfuschtes Leben fungiert, stellt die bitter-sarkastische Idee des alten Chuck Barris für eine neue Leistungsshow – »The Old Game« – unter Beweis: Neulich ist mir eine neue Idee für eine Gameshow eingefallen. Sie heißt: »The Old Game«: Auf der Bühne sitzen drei alte Knacker mit geladenen Knarren. Sie blicken auf ihr Leben zurück, stellen fest, wer sie so waren, was sie erreicht haben. Und was sie dann von ihren Träumen verwirklicht haben... Der Sieger ist der, der sich nicht das Hirn rauspustet. Er bekommt eine Waschmaschine. (1:41,24 ff.)
Die Bilanz dieser Sichtung der Spielshow-Verarbeitungen im Kinofilm lässt an Eindeutigkeit nicht zu wünschen übrig. Durch die narrative Ausgestaltung der Wirklichkeit hindurch entwerfen alle behandelten Filme ein abgrundtief negatives Bild von der Praxis dieses ProgrammSegments im Fernsehen. Lediglich der Tonfall des narrativen Diskurses schwankt zwischen empört (Quiz Show, Mamá es boba) und provokativ (Masques) über zynisch (Confessions) zu entsetzt und / oder pathetischtremolierend (Magnolia, Requiem). In allen Fällen veranlassen die ein163
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schlägigen Leinwandwirklichkeiten ihre Zuschauer zu der Überzeugung, eine Welt ohne Gameshows sei, ob aus gesellschaftlichen, medialen oder individualpsychologischen Gründen, in jedem Fall die bessere. Interessant ist, dass das Moment des Scheiterns, das der jeweiligen Show-Veranstaltung innewohnt, allermeistens durch eine ganz konkrete Figuration visualisiert und hörbar gemacht und damit auf den Punkt gebracht wird. Um diese Zuspitzungen noch einmal in Erinnerung zu rufen: Als Abschreckungseinstellung dient der erschütternde Anblick der physisch und psychisch zerstörten Sara Goldfarb am Ende von Requiem for a Dream, während der Zuschauer eher mitleidig den Abgang der »angeschmierten« Familie Perdulí in Mamá es boba verfolgt. Herausragend sind in diesem Zusammenhang jedoch die Sequenzen, in denen die Protagonisten aus ihrer Rolle heraustreten und ihr durch die Gameshow verantwortetes Scheitern vor laufender Kamera zum Ausdruck bringen und damit das Illusionstheater der Fernsehsendungen als solches entlarven. Eine solche Demaskierung ist bereits in Quiz Show festzustellen, wo der manipulierende Kandidat Van Doren vor dem Untersuchungsausschuss in (allerdings gespielter) Zerknirschung seine Kollaboration beim Betrug der Zuschauermassen eingesteht, noch wirksamer vollzieht sie sich aber dort, wo die Desillusionierung auf dem Fernsehplateau selbst vonstatten geht. Von Seiten eines anderen Ratespielkandidaten ist dies in Magnolia der Fall, wo der junge Stanley, mit den Nerven am Ende, sich seines Missbrauchs als »Quiz Kid« öffentlich verweigert, weil er sich eine andere Lebensweise wünscht. Von Seiten der Unterhaltungsmoderatoren finden wir in Chuck Barris (Confessions of a Dangerous Mind ) ein solches Verhaltensbeispiel, als er dem Publikum ankündigt, dass es in der »Gong Show« eigentlich bitterernst zugeht, da er »in Wirklichkeit« gleich abgeschossen werden wird. Und welches Beispiel für ein Aus-derRolle-Heraustreten könnte spektakulärer sein als Legagneurs hämisches Ablegen seiner Biedermann-Attitüde in Masques? Bildlich vermittelt oder expressis verbis kund getan, gemahnen diese filmimmanenten Hinweise auf das Inauthentische der medial vorgeführten Wirklichkeit in eigentümlicher Weise an das Prinzip des desengaño (Ernüchterung, Ent-Täuschung) im spanischen Barocktheater des 17. Jahrhunderts. Auch dort übernehmen die Akteure Rollen, mit denen sie eine Wirklichkeit durchspielen, von der sich am Ende herausstellt, dass sie eigentlich nur eine Aufführung vor dem eigentlichen Leben gewesen ist. Beiden Veranstaltungen, dem Barocktheater wie der kinematographisch vermittelten Spielshow, ist ebenfalls gemeinsam, dass im Augenblick des Finales das Spiel vorbei ist und der existenzielle Ernst das Sagen hat. Hier aber findet die Analogie ihr Ende, denn während es in der barocken Ästhetik darum geht, aus der Einsicht in die Illusionshaf-
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tigkeit des Rollenspiels (mit der das irdische Dasein als solches gemeint ist) projektiv die Ausrichtung am jenseitigen Leben bei Gott zu befördern, also auf Transzendenz hin zu arbeiten, ist das desengaño-Moment der Spielshow (immer aus der Sicht des Films, wie betont werden muss) rückwärtsgewandt und höchst weltlich: Es dient der Entlarvung und Verurteilung der medialen Veranstaltung, weil sie die Existenz der Aktanten aus gesellschaftlichen, medienpolitischen oder psychisch-persönlichen Gründen beschädigt. Ein konstruktiver »Ausblick« wohnt der Demaskierung des Rollenhaften hier nicht inne, es sei denn, man würde an die Demonstration die strikte Verweigerung anschließen, an dieser Form der elektronischen Massenkommunikation überhaupt noch teilzunehmen. Bezeichnenderweise endet der Film, der das Heraustreten aus dem Rollenspiel am drastischsten inszeniert, Chabrols Masques, mit einer anonymen Hand, die das Fernsehgerät ausschaltet – der Bildschirm bleibt definitiv schwarz. Worin ist die durchgehend ablehnende Ausmodellierung der Spielshow-Thematik im Film, zentraler Befund unserer Einzelanalyse, begründet, und warum hebt die kinematographisch inszenierte Brechung des Medienphänomens so stark auf die existenziellen Schädigungen ab, die die Veranstaltungen mit sich bringen, wie gerade aus dem Hinweis auf die Wesensverwandtschaft mit dem barocken desengaño herauszustellen versucht wurde? Sicherlich nicht ernsthaft aus dem Anspruch heraus, die Wahrheit über Produktion und Wirkung von Gameshows gleichsam als Vollzug eines »realistischen« Auftrags auf der Leinwand abzubilden, dazu sind die Verfahren der Verfremdung und der Übertreibung (der Showmaster als Seniorenmörder oder als CIA-Agent, die Kandidatin als Elektroschock-therapiertes Suchtwrack, die Quiz-Veranstaltung als Fluchtpunkt in der Aleatorik zwischenmenschlicher Beziehungen) allzu offensichtlich. Als Antwort bleibt eigentlich nur die implizite mediale Selbstreflexion, die den behandelten Spielfilmausgestaltungen des Themas zu Grunde liegt und die latent von der faktisch bestehenden Konkurrenzsituation gegenüber dem Fernsehen ausgeht, wie sie das Kino seit den 60er Jahren angesichts rapide schwindender Zuschauerzahlen als permanente Existenzbedrohung erfahren hat. Dann würde die strikte Absage an die Spielsendungen zum Einen mit dem konkreten Anspruch einhergehen, dass nur die Kinounterhaltung authentisch ist, und zum Anderen in der bereits angedeuteten Verallgemeinerung ›Spielshow‹ gleich ›das Fernsehen‹ (vgl. die Filmenden von Quiz Show und Masques) das Medium insgesamt je nach Belieben als kommerziellen Moloch, als gesellschaftliches Herrschaftsinstrument oder als Vernichtungsinstanz von Persönlichkeit aufs Korn nehmen. Realitätsprinzip oder medienkonkurrenzielle Ranküne – die eingangs angedachte
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Chance von der televisiven Leistungserbringung als Möglichkeit demokratischer Teilhabe an Massenkommunikation kommt als Darstellungsoption zur fiktionalen Ausgestaltungen von Spielshows für das Erzählkino nicht in Frage.
Filmographie Anderson, Paul Thomas: Magnolia (1999). Süddeutsche Zeitung / Cinemathek 2005 Aronofsky, Darren: Requiem for a Dream (2000). Highlight Communications o. J. Chabrol, Claude: Masques (1987). Fernsehausstrahlung in TV5 Europe 27.11.2006 Clooney, George: Confessions of a Dangerous Mind (2002). Buena Vista Home Entertainment 2003 Lorenzo, Santiago: Mamá es boba (1997/99). Fernsehausstrahlung in TVE Internacional am 07.01.2002 Redford, Robert: Quiz Show (1994). Fernsehausstrahlung in ARD am 17.10.2002 Truffaut, François: Fahrenheit 451. Fernsehausstrahlung in ARTE am 11.11.2004
L i t e r at u r Anders, Günter: Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. I: Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, München: Beck 6 1983 [Erstauflage 1956]. Bradbury, Ray: Fahrenheit 451, Frankfurt am Main: Büchergilde Gutenberg 2002. Caillois, Roger: Les jeux et les hommes. Le masque et le vertige, édition revue et augmentée, Paris: Gallimard 1967. Díaz, Lorenzo: La caja sucia: telebasura en España, Madrid: La esfera de los libros 2005. Freud, Sigmund: »Das Unheimliche«, in: Sigmund Freud, Studienausgabe, Bd. IV: Psychologische Schriften, Frankfurt am Main: S. Fischer 1970, S. 241-274. Horkheimer, Max / Adorno, Theodor W.: »Kulturindustrie. Aufklärung als Massenbetrug«, in: Max Horkheimer / Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt am Main: S. Fischer 1969 [amerik. Erstausgabe 1944], S. 108-150. 166
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Postman, Neil: Wir amüsieren uns zu Tode. Urteilsbildung im Zeitalter der Unterhaltungsindustrie, Frankfurt am Main: S. Fischer 1985 [amerikan. Erstausgabe 1985]). Walter, Klaus Peter: »Kultur im Spiel? Französische, spanische und deutsche Spielsendungen im Vergleich«, in: Hans-Jürgen Lüsebrink / Klaus Peter Walter (Hg.), Interkulturelle Medienanalyse. Methoden und Fallbeispiele aus den romanischen Kulturen des 19. und 20. Jahrhunderts, St. Ingbert: Röhrig Universitätsverlag 2003, S. 107-134.
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INVITATION TO LOVE, ODER WIE FERNSEHSERIEN IM AUTORENKINO ZITIERT WERDEN BIRGIT WAGNER
Das Verhältnis des Fernsehens zum Kinofilm lässt sich unter dem Vorzeichen der Medienkonkurrenz, aber auch des Medienverbunds diskutieren. Dass das Fernsehen als Massenmedium seit seiner Einführung dem Kino Konkurrenz macht, ist eine communis opinio, die durch die Kinokrise unserer Tage erneut bekräftigt wird. Zumindest bis zum weltweiten Zugang von Privatpersonen zum Internet und der damit verbundenen radikalen Pluralisierung der Medienlandschaft konnte das Fernsehen die Stellung des Leitmediums der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts für sich beanspruchen. Der Kinofilm war und ist in Fernsehprogramme integrierbar. Eine nationale Filmförderpolitik wie die französische setzt gerade auf diese Möglichkeit, indem sie Filme produzieren lässt, die nur kurz oder überhaupt nicht in die Säle gelangen, dafür aber das Programm der finanzierenden Fernsehkanäle komplettieren und die Quotenregelung über die Verpflichtung zur Ausstrahlung nationaler Filme erfüllen.1 Allerdings ist der Kinofilm in der Programmgestaltung der Fernsehanstalten nur ein mediales Format neben vielen anderen, die zum Teil erfolgreicher und in vielen Fällen auch populärer sind. Die Medienkonkurrenz von Kino und Fernsehen, die manche Aspekte der wesentlich älteren Konkurrenz von Theater und Kino wiederholt, wirft eine ganze Reihe von Forschungsfragen auf. Eine davon kann darauf abzielen zu untersuchen, wie diese Medienkonkurrenz von den Regisseuren des Autorenkinos selbst reflektiert wird; ein methodischer Weg für diese Analyse scheint mir die Untersuchung von Zitatpraktiken zu sein, wobei ich das intermediale Zitat als eine Form der Transposition auffasse. Ich schließe damit an meinen Beitrag in dem von Sabine Schrader und Dirk Naguschewski herausgegebenen Band über Film und Literatur in Frankreich an, in dem ich der Frage nachgegangen bin, welche Formen und Funktionen das literarische Zitat in einem Film annehmen
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Vgl. dazu René Prédal: Le jeune cinéma français, Paris: Nathan 2002, Kap. 2 : »Les enfants de la FEMIS, de la télévision et du fonds de soutien«. 169
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kann.2 Auch eine Erfassung und Klassifikation der zitierten Fernsehformate, der Formen, die diese Zitate annehmen können sowie der Funktionen dieser Zitatpraktiken für den Autorenfilm sind ein Desiderat der Forschung. Als Zitatformen sind dabei all jene Kunstmittel auf der Ebene der filmischen Enunziation des Bilds und / oder des Tons anzusehen, die ein Fragment einer Fernsehsendung zu einem direkten oder indirekten Zitat in einem Film machen. Es handelt sich dabei um eine besondere Form des Medienwechsels, insofern er intramedial und intermedial beschreibbar ist. Wenn in einer Folge von bewegten Bildern bewegte Bilder zitiert werden, bleiben die mediale Ausdrucksform und ihre semiotische Kodierung dieselben, zugleich aber werden die zitierten Bilder als Verweis auf ein »konventionell als distinkt wahrgenommene[s] Medium«3 erkennbar und eröffnen somit eine intermediale Dimension. Eine knappe, aber wegweisende analytische Studie zu der skizzierten Fragestellung hat Marie-France Chambat-Houillon in dem Band Penser la télévision vorgelegt.4 Sie macht unter anderem darauf aufmerksam, dass das Fernsehen, so wie auch der Film, als plurimediale Darstellungsform nicht nur die Möglichkeit besitzt, alle anderen Medien zu zitieren, sondern auch selbst auf semiotisch unterschiedliche Weise zitiert werden kann. Das systematische Äquivalent zum wortwörtlichen Zitat eines Textes in einem Film ist das direkte Zitat einer Fernsehsendung, das als Zitat ausgewiesen werden muss, um als solches ›lesbar‹ zu sein. Dafür gibt es verschiedene Verfahren, zum Beispiel kann die Quelle der Enunziation – der Fernsehbildschirm – gezeigt werden, ein Verfahren, das strukturell den Anführungszeichen des Textzitats im Text entspricht.5 Es genügt aber auch, nur die Bildausschnitte zu zeigen, die zum Beispiel durch eine veränderte Farbgebung als Zitat deklariert werden, oder nur die Tonspur der Fernsehsendung zu zitieren, wobei die Quelle der zitierten Äußerungen im hors-champ zumindest suggeriert werden muss. Richtet man hingegen die Aufmerksamkeit auf die verschiedenen Fernsehformate, die im Autorenkino zitiert werden, so scheinen der Zitatpraxis keine Grenzen gesetzt zu sein. Häufig werden Nachrichtensendungen integriert, die im Rahmen der filmischen Erzählökonomie den 2
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»Zitatkünste und Ausweichmanöver: Zum Ort der Literatur im neueren französischen Film«, in: Dirk Naguschewski / Sabine Schrader (Hg.), Film und Literatur in Frankreich nach 1945: Kontakte, Konvergenzen, Konkurrenzen, Marburg: Schüren 2008, S. 34-47. Irina O. Rajewski: Intermedialität, Tübingen/Basel: Francke 2000, S. 157. Marie-France Chambat-Houillon: »La répétition citationnelle dans le discours télévisuel«, in: Jérôme Bourdon / François Jost (Hg.), Penser la télévision. Actes du colloque de Cerisy, Paris: Nathan 1998, S. 97-107. Ebd., S. 105. 170
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Vorteil besitzen, den zeitgeschichtlichen, politischen oder lokalen Kontext zur Filmhandlung vermitteln zu können. Zitiert werden aber auch Werbespots, Ausschnitte aus Fernsehfilmen, neuerdings auch aus Talkshows. Eines der erfolgreichsten Fernsehformate, das Feuilleton beziehungsweise die Serie, ist schon allein deswegen zitatfähig, weil es für das Publikum in vielen Fällen ein gemeinsames kulturelles Wissen darstellt und Fangemeinschaften anspricht. Gerade weil sich Filmautoren von der kulturindustriellen Produktionsweise von Fernsehserien aber auch bedroht fühlen können, sind letztere zitatwürdig – mitunter begleitet von einem gleichsam ironischen Augenzwinkern an die Adresse des Publikums. In meinem Beitrag wird es um diese spezielle Transposition des Televisiven gehen: wiedererkennbare Bild- und Tonfolgen, die aus Fernsehserien in den Autorenfilm wandern. Im Zentrum stehen dabei die Fragen, wie Filmautoren dieses besonders beliebte und geliebte Format, dem nach wie vor der Geruch des Popularkulturellen anhaftet, in ihre Projekte integrieren, warum sie das tun und welche Funktionen solche Zitate erfüllen.
P ar o d i s ti sc he S p i e g e l u n g : T w i n P e ak s u n d I n v i t at i o n t o lo v e Den Ausgangspunkt meiner Überlegungen bilden einige Beobachtungen zu US-amerikanischen Fernsehserien. Es ist nämlich keineswegs so – obwohl es häufig so dargestellt wurde und wird – dass selbstreflexive Zitatpraktiken oder die Herstellung architextueller Bezüge6 dem anspruchsvollen Autorenkino vorbehalten wären. Schon eine Kult-Figur der amerikanischen Serienproduktion, nämlich Captain Kirk, macht sich in einer im Jahr 1968 ausgestrahlten Folge der ersten Enterprise-Serie über das Fernsehen lustig, das er als ein politisch manipulatives Medium einer ›Pre-Warp-Civilization‹7 kennzeichnet und das in der fraglichen Episode auch konsequent als solches inszeniert wird. Es handelt sich um die Episode Bread and Circuses, die das erste Mal am 15. Mai 1968 gesendet wurde. In ihr richtet sich ein Vertreter einer außerirdischen Zivilisation, die verblüffende Ähnlichkeiten mit dem römischen Imperium aufweist, aber bereits über das Massenmedium Fernsehen verfügt, mit 6
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In einem intermedial erweiterten Verständnis der Typologie der Text-TextBeziehungen, wie sie Gérard Genette in Palimpsestes, Paris: Seuil 1992, vorschlägt. Serienüblicher Fachterminus für den Entwicklungsstand von Zivilisationen, die nicht die technologischen Standards für die innergalaktische Raumfahrt entwickelt haben. 171
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folgenden Worten an Kirk: »You may not understand, because you are centuries beyond anything as crude as television«. Kirks Antwort, »I heard it was similar«, ist eine Form der Selbstironisierung, die man auch popularkulturellen Produkten zutrauen kann und soll. Als gut zwei Jahrzehnte später ein Filmautor wie David Lynch sich daran machte, gemeinsam mit Mark Frost eine Fernsehsaga zu konzipieren, die vom US-amerikanischen Sender ABC finanziert wurde – die Rede ist von der Kult-Serie Twin Peaks8 – konnte erwartet werden, dass die Vorliebe dieses Regisseurs für die narrative mise en abyme und andere Spiegeleffekte9 sich in diesem Projekt deutlich manifestieren würde. Und in der Tat, in der ersten Staffel von Twin Peaks wird von der zweiten bis zur siebten Episode eine soap opera zitiert, die den genretypischen Titel Invitation to love trägt. Ich beziehe mich im Folgenden terminologisch auf eine Arbeit von Jörg Türschmann, in der er innerhalb des Formats der Fernsehserie zwischen der Serie, dem Feuilleton und der Saga unterscheidet.10 Twin Peaks trägt alle Kennzeichen der Saga: die chronologische Verknüpfung der Episoden, das Fehlen von zeitlichen Ellipsen, die Entwicklung der Hauptfiguren und die Existenz sowohl hierarchisierter als auch parallel geführter Konfliktstrukturen. Auch die Saga muss, so wie die Serie oder das Feuilleton, eine Reihe von stereotypen Elementen enthalten, die den Zusehern die Lust an der Wiedererkennbarkeit ermöglichen und so etwas wie filmische Topoi darstellen. Dazu gehört unter anderem das Prinzip des running gag, der Wiederkehr standardisierter komischer Situationen. Einer der running gags der ersten Staffel von Twin Peaks sind nun die (in die Fiktion eingearbeiteten) Einschaltungen aus der Serie Invitation to love.11
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In den USA wurde die Serie das erste Mal vom 8. April 1990 bis zum 10. Juni 1991 gesendet. 9 Vgl. dazu Stefan Höltgen: Spiegelbilder. Strategien der ästhetischen Verdoppelung in den Filmen von David Lynch, Hamburg: Verlag Dr. Kovaþ 2001. 10 Serien sind achronologisch und konstruieren keine Ellipsen, das Feuilleton schreitet chronologisch voran, wobei Ellipsen (z. B. biographische Ellipsen im Leben der Protagonisten) vorhanden sind, die Saga ist ebenfalls chronologisch organisiert, doch zwischen den Episoden entstehen keine merklichen Ellipsen. Jörg Türschmann: »Aspekte einer Typologie von Fernsehserien«, in: Christian Hißnauer / Andreas Jahn-Sudmann (Hg.), medien – zeit – zeichen. Dokumentation des 19. Film- und Fernsehwissenschaftlichen Kolloquiums, Marburg: Schüren 2006, S. 100-107. 11 Wiederkehrende Bild-Topoi sind hingegen der Wasserfall vor dem Great Northern Hotel, das Motiv des unheimlich rauschenden Hochwalds, das 172
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So weit man das nach den einmontierten Fragmenten beurteilen kann, repräsentiert Invitation to love eine fiktive Serie vom herkömmlichen Typus der US-amerikanischen daytime soap, die ein weibliches Zielpublikum ansprechen will.12 Zitiert wird sie innerhalb einer Serie, die – nach den Worten von Mark Frost – eine Erneuerung des Formats der evening soap operas leisten sollte,13 also in einem Format, das vergleichsweise über mehr kulturelles Kapital verfügt. Zunächst einige Wort zum Status des gefälschten Zitats. Zumindest seit Borges ist die Praxis der Zitatfälschung in der Literaturgeschichte nobilitiert; sie ist aber, wie meine beiden Analyseobjekte zeigen werden, auch eine Möglichkeit des narrativen (Fernseh-)Films. Für die Rezeption ist es zunächst einmal gleichgültig, ob das Zitat von den Zusehern als gefälschtes identifiziert wird oder nicht; eindeutig ist in jedem Fall der Verweis auf das Fernsehen als Medium, auf das Format der Serie und auf die Rezeptionsformen, die sich zu diesem Format ausgebildet haben. Auch ein gefälschtes Zitat besitzt die Funktionen des architextuellen Verweises.14 Die Einblendungen aus Invitation to love werden durch die bereits genannten Verfahren in ihrem Zitatstatus eindeutig situiert. Visualisiert wird jeweils die Quelle der Enunziation, der Fernsehapparat, dessen bewegte Bilder sich durch eine leichte Graublaufärbung der Farbskala unübersehbar von der realistischen Farbigkeit der Twin Peaks-Saga abheben, und gezeigt wird immer auch die Reaktion der verschiedenen Figuren, die dieser als soap opera gekennzeichneten Sendung ihre AufmerkKnistern der Elektrizität in Neonröhren und die in der Dunkelheit und im Wind schwankende Verkehrsampel von Twin Peaks. 12 Zur »gendered nature« dieser Art von soap opera vgl. Robert C. Allen: »Introduction«, in: Robert C. Allen (Hg.), To be continued… Soap operas around the world, London/New York: Routledge 1995, S. 1-26. 13 »We tried to renew evening soap operas the same way Hill Street Blues did with the police series ten years ago. David added a surrealistic touch«, Mark Frost zit. in: Michel Chion: David Lynch, translated by Robert Julian, London: British Film Institute 1995, S. 104. 14 In der Unterscheidung zwischen der »citation-réplique« (wiederholendes Zitat) und der »citation-représentation« (darstellendes Zitat), die ChambatHouillon vornimmt, entspricht das gefälschte Zitat der »citation-représentation«: »Si la citation-réplique entretient avec le texte cité une relation de conservation littérale, la citation-représentation propose davantage une recréation de cette littéralité«. (Dt.: »Unterhält das wiederholende Zitat mit dem zitierten Text eine Beziehung der Wortwörtlichkeit, so leistet das darstellende Zitat eher die Neu-Schaffung dieser Wortwörtlichkeit«, vgl. Chambat-Houillon: »La répétition citationnelle«, S. 102 f.). Die Fälschung wäre damit ein Grenzfall der Neu-Erschaffung von Wortwörtlichkeit. 173
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samkeit schenken. Für den aufmerksamen Betrachter entwickelt sich aus diesen Zitaten eine fragmentarisch mitgeteilte, eigenständige Handlung, die in parodistisch-spiegelbildlichem Verhältnis zu den Handlungssträngen von Twin Peaks steht. Es geht, wie in der zitierenden Sendung, um leidenschaftliche und um käufliche Liebe, um eine komplexe und emotional aufgeladene Vater-Tochter-Beziehung, um die Aufspaltung einer weiblichen Figur in eine verführerische und eine naive Variante (so wie im Fall von Laura Palmer und ihrer Cousine Maddy Ferguson) und um nackte physische Gewalt sowie das Böse. Im Folgenden werde ich zwei der insgesamt sechs Einschaltungen von Invitation to love in der ersten Staffel von Twin Peaks analysieren.15 Das erste Mal taucht das gefälschte Zitat in der zweiten Episode auf, in einer Sequenz, die die Figur Shelly (Mädchen Amick) am Morgen im Haus ihres Ehemanns zeigt. Shelly, deren Mann Leo Johnson (Eric Da Re) nicht zu unrecht vermutet, von ihr betrogen zu werden, wurde am Ende der ersten Episode von Leo brutal geprügelt. Man sieht also in dieser kurzen Sequenz die junge Frau, die Spuren der Misshandlung des vergangenen Abends im Gesicht trägt, wie sie im Morgenmantel eine der ersten Gesten des Tages ausführt und den Fernseher einschaltet. Durch die Möglichkeiten der Montage wird die Verzahnung der zitierenden Episode mit der zitierten daytime soap so präzis geregelt, dass letztere zum parodistischen Zerrspiegel für die erstere wird. Die Sequenz beginnt mit einer Einstellung, die das Interieur des Hauses mit Blick auf den bereits laufenden Fernseher zeigt; in der zweiten Einstellung bewegt sich Shelly auf den Fernsehapparat zu, wodurch dieser aus dem Bildfeld rückt, der Ton aus dem hors-champ hält ihn jedoch präsent und bringt die Vorspann-Ankündigung: »Each day brings a new beginning and every hour holds the promise of an…«; die nächste Einstellung zeigt den vom Bildausschnitt gerahmten kleinen Bildschirm¸ auf dem ein Päckchen mit rosa Schleife auf ein blassblaues Satintuch gelegt wird – die Farbwahl indiziert das Genre.
15 Fernsehserien wurden im anglophonen Sprachraum immerhin bereits seit den 1980er Jahren zum Gegenstand ›text‹analytischer und rezeptionsbezogener Analysen (vgl. Allens Forschungsüberblick in seiner »Introduction«, S. 6 ff.). 174
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Episode 2 : Shelly und…
… die soap opera
Darauf folgt ein Schnitt, dann die Großaufnahme des Fernsehschirms mit dem Titel der zitierten Serie (»Invitation to love«), der als Fortsetzung der Tonspur des fiktiven Vorspanns (»Each day brings a new beginning…«) von einer einschmeichelnden Stimme gesprochen wird.
Die Episode in der Episode Die nächste (amerikanische) Einstellung zeigt Shelly, wie sie den Apparat mit der Fernbedienung ausschaltet und in sarkastischem Tonfall kommentiert: »Right«. Daraufhin sieht man in einer Halbtotale ein gerahmtes Foto, das Leo Johnson zeigt, daneben liegt die Fernbedienung, beide Objekte liegen auf dem Fernseher.
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»Right«.
Leo, gerahmt
In den folgenden Einstellungen hört man ein Klopfen an der Tür, die erschrockene Shelly nähert sich ihr, und – tatsächlich: each day holds the promise of an invitation to love – vor der Tür steht ihr Liebhaber Bobby Briggs (Dana Ashbrook), der sich mit »hi baby« ankündigt. Das alles ist sehr raffiniert gefilmt, was gewiss auch darauf zurückzuführen ist, dass David Lynch persönlich bei dieser zweiten Episode Regie geführt hat (bekanntlich gibt es ja bei amerikanischen Fernsehserien eine Vielzahl von Regisseuren, die an der gleichen show mitwirken, und das gilt auch für Twin Peaks). Parodistisch ist das Verhältnis der zitierten Serie zur zitierenden, als realistisch lesbar ist hingegen hier und auch in den anderen Folgen das Rezeptionsverhalten der fiktiven Figuren. Alle Bewohner des kleinen Städtchens an der Grenze zu Kanada scheinen dieselbe Serie zu sehen, zu kommentieren und in ihr Leben zu integrieren, ganz so wie das schon Antonio Gramsci in seinen bekannten Anmerkungen zu den Rezeptionsformen des Feuilletonromans dargestellt hat.16 Ein für David Lynch typischer Bild-Einfall17 ist die Gegenüberstellung von verschiedenen Formen von Rahmungen: Der Fernsehapparat rahmt das gefilmte Zitat, das die Liebe mit einer rosa Schleife präsentiert, und neben der Fernbedienung auf demselben Fernseher steht das gerahmte Bild von Leo Johnson, der, sobald er aus der Rahmung heraustritt, seiner Frau nach dem Leben trachtet.
16 Antonio Gramsci: »Quaderno 21: Problemi della cultura nazionale italiana. 1° Letteratura popolare«, in: Valentino Gerratana (Hg.), Quaderni del carcere, Bd. 3, Turin: Einaudi 1975. 17 Vgl. die Rolle, die das mysteriöse Kästchen mit dem blauen Schlüssel in Mulholland Drive (2001) spielt: Rahmen sind bei Lynch Abgründe, in die man hineinstürzen kann, Tunnels, durch die man eine andere Realität betritt, und Synekdochen für die Filmkamera und ihren ›verschlingenden‹ Blick. 176
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Die interne Rahmung zu visualisieren bedeutet zugleich, den externen Rahmen des Fernsehformats, in dem sich die zitierende Episode präsentiert, auf die Ebene des Sichtbaren zu heben, mit anderen Worten: eine selbstreflexive Zitatpraxis zu wählen. In den Episoden drei bis sechs sieht man jeweils kurze Ausschnitte aus Invitation to love, die in ihrer Serialität eine fragmentarische Handlung konstituieren, die jeweils einen ironischen Kontrapunkt zum Leben der diegetischen Zuseher bildet. Manchmal geht das soweit, dass sogar Körperhaltungen der Figuren der Serie-in-der-Serie die Körperhaltungen der Figuren der Twin Peaks-Saga präfigurieren, kommentieren oder parodieren. Wiederholt werden auch die emotionale Teilnahme und der Rückbezug auf das eigene Leben, die die Rezeptionsform von soap operas charakterisieren, in den Mittelpunkt gestellt. Diese Thematisierung von Rezeptionsformen wird durch das letzte Zitat von Invitation to love in der siebten Episode18 der ersten Staffel ins Groteske gesteigert; die Sequenz steht wieder in Zusammenhang mit dem Handlungstrang Shelly – Leo Johnson – Bobby Briggs. Bobby taucht auf der Suche nach Shelly in ihrem Haus auf, trifft aber auf Leo, der ihm dort auflauert. Leo versucht, den Liebhaber seiner Frau mit einer Hacke zu erschlagen und wirft ihn dabei gegen den laufenden Fernsehapparat. Hinter Bobbys zusammensinkendem Körper werden die bewegten Bilder der soap opera sichtbar.
Bobby vor dem laufenden Fernsehapparat Doch bevor Leo Bobby töten kann, wird er selbst von einem Täter außerhalb des Raums niedergeschossen und sinkt schwer verletzt auf ein Sofa zurück, von dem aus er das Finale einer Episode von Invitation to love beobachten kann (und auch muss, denn er befindet sich in einem
18 Regie: Mark Frost. 177
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Dispositiv, das dem Blick keinen Ausweg lässt.) Es handelt sich dabei um das Finale, in dem der böse Charakter der zitierten Serie zu Tode kommt.
Leos Blickfixierung
Die Episode in der Episode
Diese Sequenz der Serie-in-der-Serie ist nicht nur eine fiktive Verdoppelung von Leos (vermeintlichem) Tod,19 sondern auch ein die Ästhetik des Grotesken streifender Kommentar zur Unausweichlichkeit des Mediums Fernsehen, das die Konsumenten bis in den Tod begleitet und verfolgt. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Invitation to love für die Twin Peaks-Saga die Funktion einer selbstreflexiven mise en abyme einnimmt und ästhetisch zwischen den Verfahren der Parodie und der Groteske angesiedelt ist. Dass das innerhalb einer Fernsehserie geschieht, ist wohl in direktem Zusammenhang mit der Tatsache zu sehen, dass David Lynch vom Autorenfilm her kommt und ein von dieser künstlerischen Herkunft geprägtes Verhältnis zum Format der Serie mitbringt.20 Das Prequel zu Twin Peaks, der nach Abschluss der Dreharbeiten der Saga gedrehte Kinofilm Twin Peaks – Fire Walk With Me (1992), für den 19 Dass vermeintlich Tote nach unwahrscheinlichsten Peripetien später wieder auftauchen, ist ein Merkmal US-amerikanischer Fernsehserien seit Dallas und Dynasty. Vgl. dazu Allen: »Introduction«, S. 19. – In Twin Peaks wird diese mediale Auferstehung von Figuren anhand der späten Wiederkehr des schon im Pilotfilm für tot erklärten Besitzers der Sägemühle auf eine Weise zelebriert, die parodistisch lesbar ist. 20 Zu der Stellung von Twin Peaks zwischen den Ansprüchen des Autorenkinos und der handwerklichen Perfektion der anglophonen Serienproduktion vgl. Chion: David Lynch, und Thierry Jousse: David Lynch, Paris: Cahiers du cinéma éditions 2007. Zu David Lynchs Verhältnis zum Medium Fernsehen kann man seine Selbstaussagen in Lynch on Lynch, hrsg. von Chris Rodley, London/Boston: Faber and Faber 1997, nachlesen, in denen er in betont distanzierter Weise über seine Erfolge und Misserfolge im Umgang mit den Verantwortlichen von ABC berichtet. 178
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Lynch allein als Regisseur zeichnet, beginnt im Übrigen bezeichnenderweise damit, dass ein laufender Fernsehapparat zerschlagen wird, wobei der Schrei einer Frau zu hören ist. Im Gegensatz zu anderen Sequenzen desselben Films lässt sich diese, wenn auch erst aus dem Rückblick, durchaus einem Handlungsstrang zuordnen, doch zugleich ist sie auch eine Geste der (ironischen oder resignierten?) ›Durchstreichung‹ des Mediums Fernsehen, ein Schlusspunkt unter eine Erfahrung, die Lynch massiv mit den Produktionsbedingungen der amerikanischen Unterhaltungsindustrie konfrontierte. Ähnliche medienreflexive Verfahren der Transposition des Televisiven lassen sich auch im europäischen Autorenkino finden, wovon der zweite Teil meines Beitrags handeln wird.
Serielle Trost-Droge: D r ô le de Fé l i x u n d L u x e , g lo i r e e t v o l u p t é Drôle de Félix (deutscher Titel: Felix) wurde 1999 von Jacques Martineau und Olivier Ducastel gedreht21 und auf der Berlinale von 2000 ausgezeichnet.22 Es handelt sich um einen Film, der auf strukturell sehr ähnliche Weise die Zitatpraxis von Twin Peaks wiederholt, sie aber in eine gänzlich andere Handlung, ein anderes Medium und ein anderes Genre integriert. Mich interessiert dabei nicht, ob es sich um einen direkten ›Einfluss‹ handelt – das ist denkbar, denn Twin Peaks ist in Frankreich auf dem Sender La Cinq im Jahr 1991 gelaufen23 –, sondern mich interessiert wiederum die Frage nach den Formen und Funktionen der Zitate aus einer Fernsehserie, die in diesen Film eingearbeitet sind. Drôle de Félix ist eine kontrovers beurteilte, jedenfalls aber interessante ›Übersetzung‹ der Gattung des Roadmovie in den französischen Autorenfilm.24 Die Hauptfigur, der titelgebende Félix (Sami Bouajila),
21 Der erste long-métrage der beiden Regisseure ist die Musikkomödie Jeanne et le garçon formidable (1998), nach Drôle de Félix folgte Ma vraie vie à Rouen (Mein wahres Leben in der Provinz, 2002) sowie eine erfolgreiche Filmkomödie, Crustacés et coquillages (Meeresfrüchte, 2004). Im Mai 2008 startete Ducastels und Martineaus jüngster Kinofilm, Nés en 68. 22 Preis der TEDDY Jury (Queer Film Award). 23 In Frankreich nur mit bescheidenem Erfolg, vgl. Chion: David Lynch, S. 100 f. 24 Das Genre des Roadmovie ist nie ein ausschließlich US-amerikanisches gewesen; beispielhaft genannt seien nur La Strada (Fellini 1954) und Pier179
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macht sich auf eine Reise von seiner Heimatstadt Dieppe in der Normandie nach Marseille, um dort seinen algerischen Vater zu finden, der die französische Mutter noch vor der Geburt des Sohnes verlassen hat. Félix ist gleich in dreifacher Hinsicht benachteiligt: Er hat nicht nur das Aussehen eines beur, er ist Aids-infizierter Homosexueller und arbeitslos. Diese Summierung von Faktoren hätte sein fiktives Leben bei anderen Filmemachern zu einem Leidensweg gestaltet, nicht so bei Martineau und Ducastel, die Félix, seinem sprechenden Namen gemäß, als einen glücklichen Schelm zeigen. Dirk Naguschewski sieht darin das Resultat einer Entwicklung, die die Darstellung von männlicher Homosexualität allmählich aus dem Imaginären der metaphorischen und realen Krankheit befreit.25 Auf seinen verschiedenen Stationen vom Norden Frankreichs in den Midi lernt Félix eine Reihe von Menschen, alte und junge, Männer und Frauen, kennen, mit denen er jeweils in freundlichen Kontakt tritt. Eine Ausnahme davon bildet sein nächtlicher Aufenthalt in Rouen, wo er zum Zeugen einer rassistischen Gewalttat und selbst von den Tätern massiv bedroht wird. Er findet nicht den Mut, seine Beobachtungen der Polizei zu melden, weil er seinerseits den Polizeibeamten rassistische Reaktionen unterstellt. Ansonsten aber wandert, tanzt und fährt er mit den gerade sich anbietenden Fahrzeugen gegen Süden, um dann schlussendlich auf ein Treffen mit dem Vater zu verzichten: Der Weg war das Ziel, eine Illustration, wenn man so will, des schönen Gedichts von Antonio Machado: Caminante, son tus huellas / el camino y nada más…26 Oder, wie Wim Wenders, ein deutscher Vertreter des Genres Roadmovie, formuliert: »Am Reisen hat mich nie das Ankommen interessiert, immer nur die Reise selbst«.27
rot le fou (Godard 1965), die auf ihre Weise die Straße und das Unterwegssein erkunden. 25 Naguschewski stellt in seinem Aufsatz Drôle de Félix in eine Reihe von Filmen, die »die Ko-Artikulation von Homosexualität und Maskulinität mit dem Thema Krankheit verbinden«, um ihm dann letzten Endes doch einen Ausnahme-Status (jenseits dieser Traditionslinie) zuzuweisen: »Versehrte Männer. Figuren des Homosexuellen im französischen Kino«, in: Freiburger Geschlechterstudien 21 (2007): Männer und Geschlecht, S. 207-227, hier S. 207. 26 »Wanderer, deine Spuren / sind der Weg und sonst nichts…«: Antonio Machado: »Proverbios y cantares XXIX«, in: Geoffrey Ribbans (Hg.), Campos de Castilla, Madrid: Cátedra 1991, S. 220. 27 Wim Wenders: »In no city, and no country… Flüchtige Notizen zum Unterwegs-Sein«, in: Norbert Grob / Thomas Klein (Hg.), Road Movies, Mainz: Bender 2006, S. 21-39, hier S. 39. 180
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Das Genre des Roadmovie teilt mit der Fernsehserie die episodische Struktur; es stellt sozusagen eine Mini-Serie dar, die durch die Figur des reisenden Protagonisten zusammengehalten wird. Es ist nun gerade diese Struktur, die den beiden französischen Regisseuren eine ähnliche Zitatpraxis erlaubt, wie wir sie in Twin Peaks kennen gelernt haben. Félix ist Fan einer Serie mit dem Baudelaire parodierenden, ebenfalls sprechenden Titel Luxe, gloire et volupté (Luxus, Ruhm und Wollust), die im Verlauf des Films insgesamt vier Mal zitiert wird, wobei es sich wie im Fall der amerikanischen Saga um ein gefälschtes Zitat handelt. Anders aber als bei Twin Peaks wird der zitierte Film niemals visualisiert. Er ist nur mit ›seiner‹ Tonspur präsent, deren Quelle jeweils im hors-champ liegt, und er manifestiert sich darüber hinaus in der Blickrichtung und den Kommentaren der diegetischen Figuren, die während dieser Sequenzen von Akteuren zu Zuschauern mutieren. Drôle de Félix stellt somit die Frage nach den Rezeptionsformen von Fernsehserien in den Vordergrund. Darüber hinaus erfüllt die zitierte Serie in diesem Film ebenfalls die Funktion eines running gag und konstruiert eine fragmentarische Handlung, die in spiegelbildlichem Verhältnis zur Filmhandlung steht; es handelt sich, wie man aus den Bruchstücken der Dialogführung erschließen kann, um eine soap opera, in der Liebesbeziehungen, eine problematische Vaterschaft und individuelle Handlungshemmungen das Handlungsgerüst bilden. Luxe, gloire et volupté ist so wie Invitation to love eine Sendung, die am Morgen ausgestrahlt wird, Félix hat sie während seiner Arbeit als Barkeeper auf einem Fährschiff nach England kennen und lieben gelernt. Am ersten Tag seiner Arbeitslosigkeit sehen die Zuseher ihn mit seinem Freund Daniel (Pierre-Loup Rajot) im Bett, Félix ist gerade aufgewacht, und sein erster Impuls ist der Griff zur Fernbedienung, um den Fernsehapparat einzuschalten.
Félix wacht auf Die Quelle der Enunziation des Zitats verbleibt in der gesamten Sequenz im hors-champ, der durch die fast schon parodistische Blickfixierung der 181
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Figur Félix auf den nicht sichtbaren Fernsehapparat mit dem diegetischen Raum in Verbindung steht.
Mais qu’est-ce que tu regardes?
Blickfixierung Die Tonspur der zitierten Serie wird den Äußerungen der handelnden Figuren unterlegt, Félix kommentiert für sich die Handlung mit der emotionalen Anteilnahme, die Fernsehserien erzeugen können: »Si elle retourne avec lui, je fais une dépression« (Dt.: »Wenn sie wieder mit ihm zusammenkommt, krieg’ ich eine Depression«). Daniel, von dem man später erfährt, dass er den Beruf eines Gymnasiallehrers ausübt, entdeckt in dieser Sequenz eine ihm bisher verborgene Leidenschaft seines Freundes und kommentiert sie unwirsch mit einem »t’as pas honte?« (Dt.: »schämst du dich nicht?«). Damit wird die Frage der kulturellen Wertung eines popularkulturellen Phänomens angeschnitten, die auch in den weiteren Zitatsequenzen eine wichtige Rolle spielen wird. Das zweite Mal taucht Luxe, gloire et volupté in der Episode »Mon petit frère« (»Mein kleiner Bruder«) auf. Félix hat auf einer Station seiner Reise, in der Stadt Chartres, den 17-jährigen Schüler Julien kennen gelernt, der ihm die Möglichkeit der Übernachtung in seinem Zimmer anbietet, eine Möglichkeit, die Félix annimmt, ohne auf die Avancen des Jungen einzugehen. Als er am Morgen in dem für ihn fremden Zimmer 182
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aufwacht, bleibt seine Reaktion dieselbe, er nimmt die Fernbedienung in die Hand und schaltet den Fernseher ein. Wieder ist die Reaktion des momentanen Partners kritisch, Julien kommentiert: »c’est un peu con, c’est pour les grand-mères« (Dt.: »Das ist doch ein bisschen doof, was für Großmütter«). Dieser Kommentar schlägt die Brücke zu der Episode »Ma grandmère« (»Meine Großmutter«), in der Félix von einer alten Dame namens Mathilde aufgegabelt wird, die ihn in ihr Haus einlädt, um ihm im Austausch gegen Bett und Quartier einige Hausarbeiten aufzutragen, für die ihr eigener Sohn nie die Zeit findet. Mathilde (Patachou) hat nun tatsächlich das Alter einer Großmutter, sie repräsentiert also den Publikumssektor, für den Luxe, gloire et volupté Juliens Meinung nach angelegt ist. Félix aber ist vorsichtig geworden; als er am Morgen zum Frühstück erscheint, stellt er erfreut fest, dass Mathilde für sich und ihn gegenüber dem Fernseher (der sich wie zuvor im hors-champ befindet) aufgedeckt hat, doch er sichert sich durch eine Frage ab: »c’est complètement débile, vous trouvez-pas?« (Dt.: »Das ist total schwachsinnig, finden Sie nicht?«), worauf Mathilde antwortet: »Débile? C’est complètement idiot« (Dt.: »Schwachsinnig? Es ist total idiotisch«), um sich darauf fröhlich als Fan zu deklarieren und die Lust am Trivialen für sich in Anspruch zu nehmen, wodurch zwischen den beiden sofort das Phänomen der Fangemeinschaft entsteht. Zum Wiederholungsmuster des running gag gehört, dass Félix die für die Behandlung seiner Aids-Infektion notwendige Medikamenteneinnahme jeweils mit der Stunde der Fernsehserie verbindet: Fernsehprogramme strukturieren Tagesabläufe,28 für den jungen Aids-Infizierten wie für die alte Dame. Beide schlucken ihre Pillen angesichts der laufenden Serie.
28 Der vom Programm vorgegebene Zeitpunkt des Konsums einer Episode ist eines der Kennzeichen, die Fernsehserien von anderen Serienprodukten unterscheiden: vgl. Roger Hagedorn: »Doubtless to be continued. A brief history of serial narrative«, in: Allen: To be continued…, S. 27-48, hier S. 28. 183
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Frühstücksfernsehen
Pillenritual In der Episode »Ma grand-mère« geht es aber auch um den handlungsleitenden Einfluss, den fiktive Charaktere aus Serien auf das Leben von Menschen nehmen können. Am Vorabend hat Félix gemeinsam mit Mathilde eine Nachrichtensendung gesehen, in der von der Gewalttat in Rouen berichtet wurde, deren Zeuge Félix geworden war; das Opfer, so wird mitgeteilt, sei inzwischen verstorben. Diese Sequenz ist auch in Hinblick auf die Zitatpraxis relevant, sie enthält nämlich Einstellungen, die Félix und Mathilde von hinten zeigen und dieses eine Mal den Blick auf den Fernsehschirm und die ›dokumentarischen‹ Bilder, die zum Bericht aus Rouen gesendet werden, freigeben. Der Akzent liegt in diesem Fall also auf den zitierten Bildern (der ›Authentizität‹ des Berichteten, eine der Funktionen des Zitats von Nachrichtensendungen), nicht auf der Reaktion der beiden Zuseher.
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Nachrichten aus Rouen Für Félix stellt sich jedenfalls erneut die Frage, ob er sich nicht doch als Zeuge bei der Polizei melden solle, und Mathilde rät ihm am Abend dringend dazu. Zu diesem Gewissensproblem scheint ihm nun am nächsten Morgen die Episode von Luxe, gloire et volupté eine Handlungsanleitung zu geben, als eine weibliche Stimme innerhalb der Serie nachdrücklich dazu auffordert, mehr Kampfbereitschaft zu zeigen: Interaktion von fiktiven mit ›realen‹ Lebensvollzügen. Die Vorbildfunktion der Handlungsschemata von Fernsehsagas wird in der letzten Episode, die die soap opera zitiert, noch einmal thematisiert. Félix liegt morgens allein in einem Hotelbett und kann ungestört und sichtlich mit Genuss seine Sendung konsumieren.
Im Hotelbett Die Stimme aus dem hors-champ des Fernsehapparats scheint ihn gleichsam zu einem Entschluss zu ermuntern: »Ne me retiens pas, je suis décidée.« (Dt.: »Halt mich nicht auf, ich bin entschlossen«). So wird auch Félix letzten Endes zumindest eine Entscheidung treffen, nämlich die, auf die Begegnung mit dem Vater zu verzichten. Er lernt begreifen, dass ihm die Reise als Prozess der Selbstfindung, nicht aber als zielgerichteter Impuls wichtig ist.
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Gewiss ist die erste und evidente Funktion des Zitats der Fernsehserie in Drôle de Félix die Herstellung situativer Komik.29 In der Komik der jeweiligen Rezeptionssituationen können sich aber auch die Filmzuschauer selbst wiedererkennen, mit ihren jeweiligen deklarierten oder auch sorgfältig vor den Blicken der anderen verborgenen Rezeptionsgewohnheiten: die Strukturierung der Tage durch Sendezeiten, die emotionale Teilnahme an einer fiktionalen Welt, der Trost und die Ablenkung vom eigenen Ich, die diese Teilnahme bieten kann, die Möglichkeit der Fangemeinschaft mit Gleichgesinnten, zugleich aber der Rechtfertigungszwang vor Zeitgenossen, die popularkulturelle Produkte nicht genießen können oder zu verachten vorgeben. So ist diese Zitatpraxis, wie im Übrigen auch die für Twin Peaks erörterte, eine durchaus reflexive. Sie zeigt, wie die Medienkonkurrenz von Fernsehen und Kino im Autorenfilm produktiv gewendet werden kann, und das auch dort, wo nicht auf experimentelle filmische Verfahren zurückgegriffen wird. Im Fall von Drôle de Félix bleibt noch zu sagen, dass das Trostpotential von Narrativen in diesem Film doppelt aufgerufen wird, in der Filmhandlung und in der mise en abyme der gefälschten Zitate. Die überwiegende Mehrzahl der rezenten französischen Filme, die die männliche Homosexualität thematisieren, präsentieren ihre Protagonisten als fragile oder gebrochene, jedenfalls aber unglückliche Individuen, und das umso mehr, wenn der Faktor Aids in die Handlung integriert wird. Drôle de Félix ist dazu ein Gegen-Narrativ: Es stellt einen glücklichen Homosexuellen dar, obwohl dieser angesichts seiner Lage auch Grund zum Unglücklichsein hätte. Félix aber ist ein Hans im Glück, und der gesamten Filmerzählung haftet etwas Märchenhaftes an. René Prédal hat in seinem Buch Le jeune cinéma français diese Ausnahmestellung gewürdigt (obwohl er dem Film ansonsten kritisch gegenüber steht und an manchen Stellen einer homophoben Einstellung Ausdruck verleiht).30 Der Film ist
29 Naguschewski bezeichnet den ganzen Film als ein »›Aids-Drama‹ im Modus des Komischen«, vgl. »Versehrte Männer«, S. 221. 30 Prédal: Le jeune cinéma français, S. 137, vor allem aber S. 157, wo der Autor einen klassischen Topos der Homophobie bemüht: »… trop d’épisodes hédonistes se veulent tellement édifiants que le prosélytisme le plus lourd prend souvent le pas sur l’analyse psycho-sociale«. (Dt.: »…allzu viele hedonistische Episoden sollen so erbaulich wirken, dass die psychosoziale Analyse hinter plumper Proselytenmacherei zurücktritt«). Anders die englischsprachige Kritik, zum Beispiel bei Carrie Tarr: Reframing difference. Beur and banlieue filmmaking in France, Manchester: University Press 2005. Tarr betont, dass Félix einerseits »the object of a desiring gaze« ist – eine unübliche Position für einen beur-Charakter im 186
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ein Plädoyer für Geschichten mit glücklichem Ausgang: Er endet mit einer symbolischen Fahrt ins Freie, Félix und Daniel haben sich in Marseille getroffen und stehen auf einem Schiff, das aus dem Hafen ausläuft. Auf der Metaebene ist Drôle de Félix aber auch ein Plädoyer für das Glück, das durch das Erzählen von Geschichten in die Welt kommt. Im Lichte der vorangegangenen Analyse ist festzuhalten, dass der Film genau das tut, was er in der mise en abyme und in der Thematisierung der Rezeptionsformen der Fernsehserie zeigt: Er erzählt eine tröstliche Geschichte für Menschen, die sich gern von Narrativen trösten lassen, und er tut das auf die Art und Weise, die Umberto Eco für das postmoderne Erzählen als die einzig mögliche bezeichnet: begleitet von ironischen und selbstreflexiven Momenten.
L i t e r at u r Allen, Robert C.: »Introduction«, in: Robert C. Allen (Hg.), To be continued… Soap operas around the world, London/New York: Routledge 1995, S. 1-26. Chambat-Houillon, Marie-France: »La répétition citationnelle dans le discours télévisuel«, in: Jérôme Bourdon / François Jost (Hg.), Penser la télévision. Actes du colloque de Cerisy, Paris: Nathan 1998, S. 97107. Chion, Michel: David Lynch, translated by Robert Julian, London: British Film Institute 1995. Genette, Gérard: Palimpsestes, Paris: Seuil 1992. Gramsci, Antonio: »Quaderno 21: Problemi della cultura nazionale italiana. 1° Letteratura popolare«, in: Quaderni del carcere, Bd. 3, hrsg. von Valentino Gerratana, Turin: Einaudi 1975. Hagedorn, Roger: »Doubtless to be continued. A brief history of serial narrative«, in: Allen, Robert C. (Hg.), To be continued… Soap operas around the world, London/New York: Routledge 1995, S. 27-48. Höltgen, Stefan: Spiegelbilder. Strategien der ästhetischen Verdoppelung in den Filmen von David Lynch, Hamburg: Verlag Dr. Kovaþ 2001. Jousse, Thierry: David Lynch, Paris: Cahiers du cinéma éditions 2007. Machado, Antonio: »Proverbios y cantares XXIX«, in: Geoffrey Ribbans (Hg.), Campos de Castilla, Madrid: Cátedra 1991, S. 220. Naguschewski, Dirk: »Versehrte Männer. Figuren des Homosexuellen im französischen Kino«, in: Freiburger Geschlechterstudien 21 (2007): Männer und Geschlecht, S. 207-227. französischen Film –, andererseits aber auch »an active, optimistic, desiring subject in his own right« darstellt (S. 149 bzw. 150). 187
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Prédal, René: Le jeune cinéma français, Paris: Nathan 2002. Rajewski, Irina O.: Intermedialität, Tübingen/Basel: Francke 2000. Rodley, Chris (Hg.): Lynch on Lynch, London/Boston: Faber and Faber 1997. Tarr, Carrie: Reframing difference. Beur and banlieue filmmaking in France, Manchester: University Press 2005. Türschmann, Jörg: »Aspekte einer Typologie von Fernsehserien«, in: Christian Hißnauer / Andreas Jahn-Sudmann (Hg.), medien – zeit – zeichen. Dokumentation des 19. Film- und Fernsehwissenschaftlichen Kolloquiums, Marburg: Schüren 2006, S. 100-107. Wagner, Birgit: »Zitatkünste und Ausweichmanöver: Zum Ort der Literatur im neueren französischen Film«, in: Dirk Naguschewski / Sabine Schrader (Hg.), Film und Literatur in Frankreich nach 1945: Kontakte, Konvergenzen, Konkurrenzen, Marburg: Schüren 2008, S. 34-47. Wenders, Wim: »In no city, and no country… Flüchtige Notizen zum Unterwegs-Sein«, in: Norbert Grob / Thomas Klein (Hg.), Road Movies, Mainz: Bender 2006, S. 21-39.
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E I N S T Ü C K B R A SI L I A N I S C H E R S O A P -R E A L I T Y – D I E B E D E U T U N G U N D D A R S T E L L UN G D E S F E R N S EH E N S I N FERNANDO MEIRELLES’ DOMÉSTICAS SANDRA STRIGL
Betrachtet man die zentrale Stellung des Fernsehens im Alltag bzw. dessen Darstellung im Film, so bietet der lateinamerikanische Kontinent ein besonders interessantes Analysefeld, zumal das Fernsehen hier eine noch herausragendere Rolle als etwa in den USA oder Südeuropa spielt und oftmals im Zentrum des täglichen Geschehens steht. Der vorliegende Analysegegenstand erweist sich als doppelt interessant, da die Darstellung des Fernsehens im Film nicht nur eine Spiegelung im Sinne einer Intermedialität mit sich bringt, sondern zugleich die – problematische – Situation der brasilianischen Medienlandschaft thematisiert. Aufgrund seiner Geschichte, auf die im Folgenden noch genauer eingegangen werden soll, gehört das brasilianische Kino zu den politisch brisantesten Filmkulturen Lateinamerikas. Die starke Präsenz der Medien findet sich auch innerhalb der Fiktion wieder, von einem breitgestreuten Musikspektrum bis zum Radio fließt hier alles ein, was sich an Massenkultur findet. Am prominentesten ist jedoch das Fernsehen, das allgemein in lateinamerikanischen Gesellschaften eine zentrale Rolle spielt. Die so genannte soap opera ist mittlerweile fixer Bestandteil des Alltags geworden, oft versammelt sich die gesamte Familie oder auch Nachbarschaft vor dem Fernseher, um Tag für Tag das TV-Drama zu verfolgen. In Brasilien ist die Präsenz des Fernsehens so stark, dass der Film sich nur mehr schwer dagegen behaupten kann. Es verwundert daher nicht, wenn auch in vielen Spielfilmen gerade diese starke Fernsehpräsenz im brasilianischen Alltag häufig aufgegriffen wird.
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Film und Fernsehen in Brasilien Anfang der 90er Jahre durchlebte das brasilianische Kino eine seiner größten Krisen, die sich zwangsläufig auf das Filmschaffen auswirkte. Diese Krise wurde jedoch nicht durch wirtschaftliche Faktoren ausgelöst, sondern durch ein institutionelles Problem verursacht: den Zusammenstoß zwischen Medien und Produzenten bzw. Regisseuren. Auf den Film sollten fortan keine Regierungsgelder mehr verschwendet werden. 1990 wurde Fernando Collor de Mello mithilfe Brasiliens größter Mediengruppe TV Globo (Organizações Globo) zum ersten Präsidenten nach zwanzigjähriger Diktatur gewählt. Er gab vor, es als seine Aufgabe zu sehen, die Staatsausgaben zu reduzieren und das Land zu modernisieren. In diesem Zuge schaffte er Embrafilme (Empresa Brasileira de Filmes) und Concice (Conselho Nacional de Cinema) ab, die bis zu diesem Punkt mitverantwortlich für das Florieren des brasilianischen Films waren. Infolge dessen fiel die Zahl der brasilianischen Spielfilme, die am Ende der 70er und 80er Jahre noch 100 pro Jahr betrugen, im Jahr 1991auf nahezu Null.1 Aus Angst vor der Konkurrenz neuer Technologien schuf TV Globo 1998 eine Abteilung, die sich in Form von Zusammenarbeit mit anderen Institutionen der Filmproduktion widmete (Globo Filmes), wobei Globo für die Präsentation des Films in den Medien verantwortlich war, und zwar nicht nur in Form groß angelegter Fernsehkampagnen (TV Spots etc.), sondern auch durch eine Cross-Media-Verbreitung, d. h. durch die Zitierung und Werbung der selbst produzierten Filme im eigenen TVProgramm, wie z. B. in soap operas und Talkshows. Das Jahr 2003 ist mit einem Neubeginn des brasilianischen Filmschaffens gleichzusetzen, der als retomada da produção (Wiederaufnahme der Produktion) in die Geschichte einging. Es wurden zwei Gesetze verabschiedet (Lei Rouanet & Lei do Audiovisual), um eine finanzielle Grundlage für den Wiederaufbau der Filmindustrie zu sichern. Allerdings wurde das Filmschaffen an bestimmte Auflagen gebunden, was den Inhalt der Filme betraf. Zwischen 1994 und 2000 wurden an die 200
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Luiz Zanin Oricchio: »The sertão in the Brazilian imaginary at the end of the millennium«, in: Lúcia Nagib (Hg.), The New Brazilian Cinema, London: I. B. Tauris 2003, S. 139-155: »Elected president in 1989 over a candidate of the Left, Fernando Collor de Mello, in one of his first acts, did away with all the sources of State support for cinema. This threw film making into crisis. Production practically came to a standstill and only picked up again in 1994 with new laws of incentive, which allow for a reduction in income tax for business that invest in cinema«. 190
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Spielfilme in Brasilien produziert, die die ganze Bandbreite vom kommerziellen bis zum experimentellen Film umspannen.2 Neben Steuerbegünstigungen ermöglichte das Gesetz auch ausländischen Vertriebsfirmen, in brasilianische Produktionen zu investieren. Die Tatsache, dass die Zahl an internationalen Koproduktionen in Brasilien stieg, ist darauf zurückzuführen, dass ausländische Firmen beim Vertrieb ihrer Filme in Brasilien bis zu 70 Prozent weniger Steuern zahlen mussten, wenn sie im Gegenzug in die brasilianische Filmindustrie investierten.3
D o m é s t i c a s : V o m T h e a te r st ü c k z u m F i l m Der Film Domésticas ist eine Adaptation des gleichnamigen erfolgreichen Theaterstückes von Renata Melo, welches auf wahren Begebenheiten basiert. Melo, die als Autorin, Tänzerin, Choreografin, Schauspielerin und Zahnärztin tätig ist und die auch am späteren Filmdrehbuch mitarbeitete, verbrachte mehr als zwei Jahre damit, über hundert brasilianische Hausangestellte zu interviewen. Viele der Geschichten und Situationen, die im Film erzählt werden, sowie die Dialoge wurden direkt aus den Interviews übernommen. Die Tatsache, dass der Film stellenweise an die Ästhetik von Werbeclips erinnert, ist unter anderem auch auf den nicht geradlinigen beruflichen Werdegang der beiden Regisseure Fernando Meirelles und Nando Olival zurückzuführen. Letzterer war vor allem in der Werbebranche tätig. Fernando Meirelles drehte nach einem Architekturstudium experimentelle Kurzfilme, gründete eine kleine Produktionsgesellschaft für Independentfilme (Olhar Electrônico) und arbeitete lange Zeit für kommerzielle Fernsehsender. Sein Film Cidade de Deus / City of God, in dem er Rap und Funk als Stilmittel der Kontrastierung und Ästhetisierung von Gewalt einsetzt und der sich andererseits durch seinen starken Realitätsbezug und dokumentarischen Charakter auszeichnet, erhielt zahlreiche Preise. Domésticas wird mit kurzen Interviews einiger Hausangestellten eröffnet, die munter über ihre Vorlieben und Abneigungen reden. Diese Eröffnungssequenz erinnert an den Beginn von Walter Salles’ Central do Brasil (1998), wo die verschiedenen Gesichter im Nahbild repräsentativ für die heterogene brasilianische Gesellschaft stehen sollen. In Domésti2 3
Lúcia Nagib: »Introduction«, in: Lúcia Nagib (Hg.), The New Brazilian Cinema, London: I. B. Tauris 2003, S. XVII-XXVI. Lisa Shaw / Stephanie Dennison: Brazilian National Cinema, London/New York: Routledge 2007, S. 36. 191
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cas wird nur eine Bevölkerungsschicht herausgegriffen und beleuchtet, jedoch geht es auch hier um die Auseinandersetzung mit der brasilianischen Identität und Gesellschaft. Während sich das brasilianische Kino zu Zeiten von Embrafilme auf das historische und kulturelle Erbe des Landes konzentrierte, um dem politischen Radikalismus des Cinema Novo Abhilfe zu verschaffen4, zeichnet sich das Kino Brasiliens seit der retomada durch seine stilistische und thematische Vielfalt aus. Trotz des Reichtums der behandelten Themen lässt sich dennoch ganz klar die Tendenz feststellen, den Gegensatz zwischen dem Großstadt- und dem Landleben aus der Sicht sozialer Außenseiter mit den Mitteln des Films darzustellen, eine Thematik, die allerdings auch schon vor der retomada im brasilianischen Film eine wichtige Rolle spielte.5 So handelt auch Domésticas von Menschen, die vom Land in die Großstadt São Paulo gezogen sind, mit dem Kopf voller Träume und dem Herzen voller Hoffnungen. Im Mittelpunkt der Erzählung stehen fünf Hausangestellte, welche die breite Palette an Persönlichkeiten und Erfahrungen repräsentieren sollen: die verheiratete Cida (gespielt von Renata Melo selbst), die enttäuscht ist von ihrem gleichgültigen Ehemann; die alleinstehende Raimunda (Claudia Missura), die davon träumt, ihren Prinzen zu finden; die quirlige Roxane (Graziela Moretto), die Schauspielerin oder Model werden möchte; die sich aufopfernde Créo (Lena Roque), deren Tochter den Obrigkeitsglauben, den ihre Mutter sowohl Gott als auch ihrem Boss gegenüber entgegenbringt, nicht teilt; und die vom Pech verfolgte Quitéria (Olivia Araujo), die ständig in Schwierigkeiten mit ihren Arbeitgebern gerät. Obwohl der Film auf realen Gegebenheiten basiert, entschied sich das Regieteam gegen einen rein realistischen Zugang und nutzte stattdessen seine Erfahrungen aus dem Werbebereich, um einen unterhaltsamen, im episodenhaften Stil erzählten Film zu schaffen, der ein Lebensmosaik repräsentiert, das von Mitgefühl und Humor geprägt wird. Die Interviews erfahren v. a. dann ein Echo im Film, wenn die fünf Frauen direkt in die Kamera bzw. zum Zuschauer sprechen, um von ihren eigenen Erfahrungen und Träumen zu berichten. In regelmäßigen Abständen treten die fünf Protagonistinnen aus der Handlung heraus und erzählen, den Blick in einer Großaufnahme direkt in die Kamera gerichtet, aus ihrem Leben. Die Figuren werden außerdem immer aus einer leichten, teilweise sogar starken Obersicht gefilmt, was das Gefühl vermittelt, als sähe jemand 4
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Deborah Shaw: Contemporary Cinema of Latin America. 10 Key Films, New York: The Continuum International Publishing Group Inc. 2003, S. 142. Shaw / Dennison: Brazilian National Cinema, S. 101. 192
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von oben auf sie herab – sei es ein Zuschauer, jemand, dem sie sich anvertrauen können, oder Gott. Sie erzählen frei aus ihrem Leben, wie und warum sie nach São Paulo gekommen sind, wie es ihnen ergangen ist und wie ihr Leben als Hausangestellte aussieht. Der blau-grünliche Filter, durch den die Einstellungen gezeigt werden, hebt die Sequenzen vom restlichen Film ab und hält für kurze Zeit kommentierend den Erzählfluss auf. Hier nimmt der Film auch dokumentarische Züge an, was durch den schwarz-grünlichen Farbfilter noch verstärkt wird. Die Geschichten der fünf Frauen werden sowohl einzeln beleuchtet als auch im Laufe der Erzählung miteinander verwoben. Insofern gibt es eine in sich geschlossene Erzählung wie auch eine Metaebene, auf der das Leben der domésticas aus der Fiktion herausgehoben und reflektiert wird.
Domésticas, 33:01
M e d i e n - u n d S ti l m i s c h u n g e n i n D o m é s t i c a s Das, was Domésticas zu einem originellen Beispiel des zeitgenössischen brasilianischen Spielfilms macht, ist das Zusammenfließen mehrerer Stile und Genres. Der Film ist eine Mischung aus Fiktion und Dokumentation, aus Spielfilm und Videoclip, aus Komödie und Drama. Anhand dieser Genre- und Stilmischungen kann man gut die Einflüsse erkennen, die im Film – auf direkte oder indirekte Weise – bestimmend waren. Der Fernseher im Film – Der Film als Fernseher 1970 gab es nicht einmal 5 Millionen Fernseher in Brasilien. 1980 waren es bereits über 18 Millionen. Heute besitzen 90 Prozent der rund 180 Millionen umfassenden Bevölkerung Brasiliens ein TV-Gerät. Folglich kann man die kulturelle Macht des Fernsehens, und mit ihm den klaren Marktführer TV Globo, nicht überschätzen. Die Tatsache, dass die Regierung nie zwischen der Fernseh- und der Filmindustrie zu vermitteln 193
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versuchte und dass Fernsehsender folglich dem nationalen Kino keine Achtung schenkten, führte zu Auseinandersetzungen, seit es das Fernsehen gibt.6 Brazil is the only country in the world where the government has never considered mediating the relationship between the two industries. In other words, it is the only country in the world where the State has never been involved in establishing what the responsibility of television should be with regard to the cinema. The paradox of Brazilian television is that it is one of the best in the world and one of the most advanced in terms of technology and production values, but from an institutional point of view, it works along the lines of the old sugar mills of Brazil’s North-East, where a handful of feudal overlords decide the destiny of people’s minds in private conversations on the veranda of their plantation houses.7
In den späten 90er Jahren kam es jedoch zu einer bedeutenden Veränderung in der Beziehung zwischen Fernsehen und Kino. Globo begann, in das Satelliten- und Kabelfernsehen zu investieren und etablierte Canal Brasil – einen Sender, der nationale Filme und Programme ausstrahlte. Globos wachsendes Interesse an der nationalen Filmindustrie kann auch daran abgelesen werden, dass Serien ausgestrahlt wurden, die an erfolgreiche Filme anschlossen. Als Beispiel wäre hier die TV-Serie Cidade dos homens (City of Men) zu nennen, die auf den internationalen Erfolg Cidade de Deus (City of God, 2002) folgte.8 In Anbetracht dieser speziellen Beziehung zwischen Film und Fernsehen ist es vielleicht nicht verwunderlich, dass Globos Einmischung in die Filmindustrie mit einem kritischen Auge betrachtet wurde. Diese Kritik hängt vor allem mit der Skepsis gegenüber der selbstherrlichen Unternehmenskultur von Globo und dem gefährlichen Einfluss, den diese auf das Fernsehpublikum ausübt, zusammen.9 Außerdem wurden Bedenken laut, dass die Qualität nationaler Produktionen unter dem Einfluss von Globo leiden würde. Eine von Globos jüngerer Koproduktionen, Olga (Jayme Monjardin, 2004), traf auf harsche Kritik in den Medien aufgrund ihrer sogenannten Fernsehästhetik.10 Globo widmet sich als absoluter Marktführer auch auf dem Gebiet der Telenovelas vielen Thematiken, die brasilianische kollektive Imagi-
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Ebd., S. 37 und S. 38. Carlos Diegues: »The cinema that Brazil deserves«, in: Lúcia Nagib (Hg.), The New Brazilian Cinema, London: I. B. Tauris 2003, S. 23-35. 8 Shaw / Dennison: Brazilian National Cinema, S. 38. 9 Ebd., S. 38. 10 Ebd., S. 39. 194
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näre seit Jahrzehnten beherrschen. Die Romantisierung und Idealisierung der Popularkultur als Fluchtversuch der Favela-Bevölkerung aus der Armut ist ein Charakteristikum nicht nur des brasilianischen Kinos, sondern auch der brasilianischen Musik, Literatur und der soap operas.11 Gleichzeitig ist das Fernsehen, vor allem die Telenovela, auch deshalb ein großer Konkurrent für das Kino, weil die Produktionsverhältnisse des Fernsehens und des Kinos vielfach miteinander verzahnt sind, was für den Film oft sehr schwer macht, sich vom Fernsehen abzugrenzen. So sind es beispielsweise oftmals dieselben Schauspieler, die in Telenovelas und in Filmen spielen (man denke an die große Fernanda Montenegro, die die Hauptrolle in Central do Brasil spielt, die aber hauptsächlich durch ihre zahlreichen Auftritte in den Telenovelas bekannt wurde). Dies brachte Probleme der Übertragung durch das Publikum mit sich, das auch im Film manche Schauspieler auf Rollen festgelegt wissen wollte, die diese traditionell in den Telenovelas übernehmen. In den späten 60er Jahren hat Globo mit der Produktion von Telenovelas begonnen und wurde relativ rasch zum Marktführer und Trendsetter in Brasilien und ganz Lateinamerika.12 Brasilien gehört seither mit Mexiko (Televisa) und Venezuela (Venevision) zu den wichtigsten Produzenten von soap operas in Lateinamerika, wobei anzumerken ist, dass sich die Telenovelas dieser Länder in Bezug auf ihre Themenwahl, Struktur und Produktionskriterien deutlich unterscheiden.13 Die Bedeutung des Wortes ›Telenovela‹ für soap opera, das sich im Portugiesischen von novela, ›Novelle‹, ableitet, ist eine Adaptierung des Phänomens des Fortsetzungsromans des 19. Jahrhunderts, das bereits um die Mitte des 20. Jahrhunderts in die Welt des Radios übertragen werden konnte. Nach dem Aufkommen des Fernsehens in den späten 50er Jahren führten die Autoren und Schauspieler der radionovela ihre Arbeit mit den Telenovelas fort. Somit erfreut sich das Phänomen der in Fortsetzungen erzählten Geschichte seit dem Aufkommen des Feuilletons im 19. Jahrundert bis heute in Brasilien einer ungebrochenen Beliebtheit. Heute werden die brasilianischen soap operas zur Hauptsendezeit ausgestrahlt; inhaltlich verpacken sie in ihre meist von der Liebesthematik dominierten Erzählungen oftmals so ernste Themen wie den Umgang mit Rassismus und der fortschreitenden Umweltzerstörung. 11 Ivana Bentes: »The sertão and the favela in contemporary Brazilian film«, in: Lúcia Nagib (Hg.), The New Brazilian Cinema, London: I. B. Tauris 2003, S. 121-137. 12 Vgl. dazu Alencar, Mauro: A Hollywood brasileira. Panorama da telenovela no Brasil, Rio de Janeiro: Senac 2002, S. 50-67 13 http://www.museum.tv/archives/etv/T/htmlT/telenovela/telenovela.htm . 195
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Ein weiteres interessantes Charakteristikum ist, dass jede brasilianische Telenovela über ihren eigenen Soundtrack verfügt. In jede Episode wird Populärmusik integriert, die Songs werden nur mit bestimmten Telenovelas in Verbindung gebracht und kommen in Form von CDs – eine mit brasilianischer Musik (versão nacional) und eine mit den amerikanischen Hits (versão internacional) – auf den Markt. Es stellt nun sich die Frage, wie das Kino effizient von den Erfahrungen der Menschen sprechen kann in einer Welt, die dermaßen von manipulierten Bildern gesättigt ist, und insbesondere in einer Kultur, die so stark von den Medien und der Popularkultur geprägt ist wie dies in Brasilien der Fall ist. One solution has been to insert ›safeguards‹ in the film: that is, to make the spectator aware of the process of production, to teach him / her how to read images, creating a structure of interactions in which the film itself, as an event among others, makes explicit its form of intervention within a certain context. I am referring to a tradition set by modern cinema that finds its continuity in works like Kiarostami’s, for instance, where we find an original combination of realism and self-reference worked out within a particular national context marked by the contraction between tradition and modernity.14
An dieser Stelle hat der Independentfilm seine Rolle erkannt, indem er die Medien- und Popularkultur in seine Fiktion einfließen lässt, jedoch gleichzeitig auf sie verweist, indem er bewusst die Fiktion an den Nahtstellen der Intermedialität und Selbstreferenzialität aufbricht. Das künstlerische Potential für ein eigenständiges nationales Kino ist also offenbar nicht mit dem Ende des Cinema Novo verschwunden. Eine junge Generation von Autoren und Regisseuren, die unter Collor in der Werbebranche, beim Fernsehen oder im Ausland überlebten und wertvolle Erfahrungen sammelten, bestimmt heute die brasilianische Kinoszene. Das Interessante und Lebendige am aktuellen brasilianischen Kino zeigt sich in seiner individuell und subjektiv bestimmten Auseinandersetzung mit der brasilianischen Realität. Die neue Generation der Filmschaffenden beobachtet und entdeckt die Realität, anstatt sie zu erklären und ästhetisch zu übersetzen. Dabei wird keine gemeinsame politische und ästhetische Konzeption angestrebt, statt dessen eine integrative Auseinandersetzung mit den Einflüssen von Massenmedien, populären Musikrichtungen und dem internationalen (Hollywood-)Kino.
14 Ismail Xavier: »Brazilian Cinema in the 1990s: the unexpected encounter and the resentful character«, in: Lúcia Nagib (Hg.), The New Brazilian Cinema, London: I. B. Tauris 2003, S. 39-63. 196
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Aus all diesen Gründen ist es somit kein Zufall, dass Fernsehen in brasilianischen Filmen omnipräsent ist, und zwar nicht nur als Objekt am Set, sondern auch als eigenständige Figur. In Terra estrangeira (Walter Salles & Daniela Thomas, 1995) verfügt der Fernseher beispielsweise über die Macht, eine Figur zu töten, indem er die Nachricht aussendet, dass Collor de Mello zum Präsidenten gewählt wurde, während er in A terceira margem do Rio (Nelson Pereira dos Santos, 1994) als magische Zauberbox fungiert. At home, but in a no man’s land, where reality does not exist, in front of an image that from time to time puts its hand into reality to grab hold of something, in front of a television, the viewer can repeat to himself what the Portuguese character Pedro says to the Brazilian Paco, who has recently arrived in Lisbon in Terra estrangeira […]: ›This is not a place to find anyone. It is the ideal place to lose someone or to lose yourself‹.15
Fernsehen kommt auch in Domésticas sowohl direkt als auch indirekt vor. Gleich zu Beginn, wo verschiedene Hausangestellte über ihre Vorlieben und Abneigungen befragt werden, meint eine, dass sie Fernsehen liebe, vor allem die Telenovelas, während eine andere gesteht, dass sie eigentlich nie fernsehe, aber wenn es doch einmal vorkomme, sie es genieße. Auch die Art, wie die Einzelschicksale beleuchtet und nur lose miteinander verknüpft werden, erinnert an die Telenovela, wo jede der einzelnen Figuren mit ihrem Leben und ihren Problemen zu kämpfen hat. Die Figur, die am meisten mit Fernsehen in Verbindung gebracht wird, ist Cidas Ehemann, der im Film immer nur vor dem TV-Gerät gezeigt wird (diese Sequenzen werden auch mit einem bläulich-kühlen Filter wiedergegeben). In der ersten Sequenz, in der er zu sehen ist, wird er zuerst in einer amerikanischen Einstellung gezeigt, dann nähert sich die Kamera in jump cuts seinem Gesicht, das in dem bläulichen Licht wie tot erscheint. Die raschen, harten Schnitte vermitteln nicht nur ein Gefühl der Distanz und Kälte, sondern erinnern auch an das Zapping beim Fernsehen. Somit wird durch das Bild ausgedrückt, dass der Mann durch das Fernsehen leb- und gefühllos geworden ist, dass ihn außer dem Fernsehen nichts mehr interessiert noch berührt – nicht einmal seine hart arbeitende Frau, die morgens das Haus verlässt und spät abends zurückkehrt. In der Sequenz, in der sie direkt mit den Zuschauern (also in die Kamera) spricht und von ihrer Beziehung erzählt, sitzt er ebenfalls vor dem Fernseher. Die beiden haben sich schließlich so sehr voneinander distanziert, dass Cida erst nach ein paar Tagen merkt, dass ihr Mann vor dem Fern15 Vgl. José Carlos Avellar: »ImagiNation«, in: Lúcia Nagib (Hg.), The New Brazilian Cinema, London: I. B. Tauris 2003, S. 245-257. 197
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seher gestorben ist. Diese Sequenz wird in verschwommen-verwackelten, bläulichen Aufnahmen wiedergegeben, so als würde die Kamera Cidas Schock und Verwirrung ausdrücken.
Domésticas, 29:27 Auch in der Sequenz, wo der Hausmeister nach unten in die Kamera blickt und den Zuschauern von seinem Traum von einem sozialen Aufstieg erzählt, wird indirekt auf das Fernsehen hingewiesen. Als Gilvan hinzukommt und ihn anspricht, im zweiten Moment die Kamera bemerkt und ebenfalls hineinblickt, wird die Fiktion für einen Moment unterbrochen und selbstreflexiv auf die Metaebene verwiesen. Das Fernsehen wird im Film also nicht nur thematisiert, sondern auch ästhetisiert, indem der Film zeitweise Aspekte der Fernsehästhetik übernimmt. Die Videoclip-Ästhetik Musik spielt in vielen brasilianischen Filmen eine prominente Rolle. Dies betrifft jedoch nicht nur die tatsächliche Verwendung von Musik im Film, sondern auch eine Filmästhetik, die sich an den Rhythmus der Musik anlehnt. Das bekannteste Beispiel hierfür ist Cidade de Deus von Fernando Meirelles, also demselben Regisseur, der auch in Domésticas Regie führte und der lange Zeit in der Fernseh- und Werbeindustrie gearbeitet hat. Dieser Film kombiniert Realismus mit einer MusikclipÄsthetik: The film’s intended realism, however, was not deemed incompatible by its creators with the ›language of the MTV, rap and disco cultures familiar to young people of the same age as its protagonists‹.16
16 Shaw / Dennison: Brazilian National Cinema, S. 104. 198
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Auch in O Invasor (The Trespasser, 2002) von Beto Brant zielt die Kombination aus schnellen Schnitten, künstlichem Licht, kalten (vor allem grünlichen) Farben, körnigem Filmmaterial und Schockmontage, begleitet von Liedern mit einem oft frenetischen Rhythmus, darauf ab, das Objekt zu deformieren und fragmentieren und das objektiv Reale zu negieren.17 Wenngleich die Thematik eine komplett andere ist, können durchaus Vergleiche zwischen diesem Film und Domésticas gezogen werden. Obwohl letzterer im Allgemeinen den Prinzipien einer realistischen Darstellungsweise verpflichtet ist, durchbrechen auch hier eine Videoclip-Ästhetik und musikalische Einlagen (hier vor allem in Form von Raps) immer wieder reflektierend die Erzählung. Ebenso spielt die Stadt São Paulo eine zentrale Rolle, die mit ihren sozialen Widersprüchen den idealen Hintergrund für den destabilisierenden Einsatz einer MusikvideoÄsthetik liefert. Dem teilweise dokumentarischen Charakter wird dadurch eine künstliche Dimension zur Seite gestellt, die das Gegebene in Frage stellt, also auch die bourgeoise Gesellschaft São Paulos. Such a technique resembles the structure of the romantic fantastic tale, in which the apparently stable bourgeois reality is disrupted by the sudden emergence of a ghostly, supernatural dimension, i. e. a hidden reality.18
Während die dokumentarischen Sequenzen eine Identifizierung der Zuschauer mit ihrem Land oder mit ihrer Stadt ermöglichen, integrieren die modernen, an die Musikvideo-Ästhetik erinnernden Sequenzen das zeitgenössische Brasilien in eine globalisierte Kultur und stehen für die heutige Entfremdung.19 Durch diese indirekte kritische Analyse gelingt es dem Spielfilm vielleicht sogar besser noch als dem Dokumentarfilm, über gesellschaftliche Entwicklungen zu reflektieren. Bedingt durch den Einfluss der Medien, zeichnet sich der Erzählstil in Domésticas also durch sein hohes Tempo aus, das unter anderem durch den vermehrten Einsatz von jump cuts erzeugt wird. Die Übergänge zwischen den einzelnen Einstellungen und Sequenzen erfolgen insgesamt schnell, was durch den episodenhaften Erzählstil verstärkt wird. Bereits zu Beginn werden einige der Figuren, sowohl Frauen als auch Männer, dem Publikum vorgestellt, indem sie in einer Nahaufnahme und den Blick in Richtung Kamera gerichtet von ihren Vorlieben und Interessen erzählen. Der Hintergrund, der von weißen Fliesen gebildet wird, so als wäre in einem klinisch reinen Waschraum gefilmt worden, bleibt statisch 17 Lúcia Nagib: Brazil on Screen. Cinema Novo, New Cinema, Utopia, London/New York: I. B. Tauris 2007, S. 123. 18 Ebd., S. 123 und S. 124. 19 Ebd., S. 130. 199
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gleich, nur die Figuren werden abwechselnd einge-blendet. So »zappt« die Kamera gewissermaßen von Gesicht zu Gesicht und präsentiert eine Vielzahl von Geschichten, die eine ganze Palette von Interpretationsund Identifikationsmöglichkeiten anbieten. Die einzelnen Geschichten werden entweder durch schnell aufeinander folgende Schnitte oder durch rasche Übergänge, die wie Schwenks wirken, verbunden. Ein Beispiel dafür ist die Sequenz gegen Ende des Films, als Raimunda auf Gilvan, ihren Verlobten, wartet, während Gilvan mit seinem Freund einen Überfall plant und im Lift stecken bleibt: Die Kamera schwenkt zuerst von Créo zu Roxanne, die vor dem Spiegel steht und sich die Zähne putzt, dann weiter zu Raimunda, die sich auf den Abend mit Gilvan vorbereitet, weiter zu Gilvan, der plötzlich im Lift stecken bleibt, von Gilvan wieder zurück zu Raimunda und wiederum zurück zu Gilvan, der mit einer Stimme aus dem Off spricht und diese bittet, Hilfe zu holen. Daraufhin gibt es erneut einen Schwenk, diesmal zu Gilvans Freund, mit dem er den Überfall geplant hat. Dieser sitzt auf dem Dach des Hauses, wo die übrigen Figuren wohnen. Im Radio läuft gerade ein Rap. Dann schwenkt das Bild auf Quitéria, die ebenfalls Musik hört und mit der Melodie mitsingt. Die Tonspur wechselt zeitgleich mit dem Bild von dem Rap zu einem fröhlichen Lied, ebenso beim nächsten Kameraschwenk auf Gilvan, wo im Hintergrund wieder der Rap ertönt (wodurch die beiden Figuren miteinander verknüpft werden). Anschließend werden noch die erboste, enttäuschte Raimunda und der im Lift schlafende Gilvan gezeigt. Die Sequenz endet mit der Aufnahme eines glücklichen Paares, das zu romantischer Musik tanzt. Diese Sequenz ist ein interessantes Beispiel, wie nur anhand von Schwenks mit unsichtbaren Schnitten Szenen miteinander verknüpft werden können. Der Zuschauer bekommt dadurch das Gefühl, als könne er in das Leben der einzelnen Figuren hineinblicken, also gewissermaßen von einer Geschichte zur nächsten »springen«. Ebenfalls bemerkenswert ist hier, wie im gesamten Film, dass der Musiktext als Kommentar zum Geschehen im Bild fungiert. Diese raschen Wechsel anhand der kunstvoll montierten Schwenks auf Bild- sowie auf Tonebene könnte man – natürlich mit Einschränkungen – durchaus mit dem Fernsehzapping vergleichen. Auch in der Sequenz, in der die verschiedenen Frauen bezüglich des Diebstahls gegen Ende des Films verhört werden, folgen die Gespräche in raschen Schnitten aufeinander. Die Bilder sind, wie in einem Musikclip, in ein unwirkliches Licht getaucht, die Figuren haben den Blick in die Kamera gerichtet, so als sei diese der befragende Polizist selbst. Die einzelnen Frauen werden aus verschiedenen Perspektiven gefilmt, mal von oben, mal aus leichter Untersicht, mal stehend, mal kniend, mal sind sie draußen, mal drinnen bei ihrer Arbeit. Die Körnig- und Farbigkeit der
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Aufnahmen ist unterschiedlich, es wird zwischen den Frauen hin- und hergesprungen, wobei das, was die Frauen sagen, auf subtile Art miteinander verknüpft ist und sich somit ein roter Faden durch die einzelnen Einstellungen zieht. Dass es sich hier um Selbstinszenierungen vor laufender Kamera handelt, deren Präsenz sich die Figuren jedoch auch bewusst sind, wird vor allem am Beispiel von Roxanne sichtbar. Sie spricht von ihrem Traum, Model zu werden und setzt sich dabei selbst in Szene, so als befände sie sich nicht auf einem Polizei-revier, sondern in einer Realityshow. Zugleich hat die Sequenz aber auch etwas Dokumentarisches, da die Figuren so aus dem Leben gegriffen erscheinen, dass es sich tatsächlich um eine wahre Begebenheit handeln könnte. Die Kamera zappt von einer Figur zur nächsten und bietet dem Zuschauer wiederum einen Einblick in die Gedankenwelt dieser Frauen und in deren Alltag – und reflektiert u. a. ihre traurige Erkenntnis, dass man als Hausangestellte oft Zielscheibe unbegründeter Anschuldigungen wird. Die Bedeutung der Musik Wie bereits vorhin erwähnt, nimmt die Musik einen wichtigen Teil im Film ein, sowohl direkt als auch indirekt. Es lassen sich hierbei zwei Stilrichtungen feststellen, die gleichzeitig repräsentativ für die zwei im Film dargestellten Bevölkerungsgruppen stehen – zum einen, und wichtigsten, die Hausangestellten, die eine Vorliebe für brasilianische Schlager haben. Zu hören sind vor allem brasilianische Popsongs von Musikern wie Angelo Máximo und Lindomar Castilho, die bekanntlich bei Hausangestellten besonders beliebt sind und deren süß-romantische Texte wie ein Kommentar die Handlung unterlegen. Die meisten dieser Texte handeln von Träumen, Hoffnungen und Wünschen – einem Leben mit Liebe und Heiterkeit. So zum Beispiel das Lied »Domingo Feliz« von Angelo Maximo: Meu domingo, alegre vai ser. Pois pretendo sair com você, ye ye ye que dia feliz. Nosso sonho de amor vai durar. Pois pra sempre eu vou lhe adorer, ye ye ye que dia feliz.20
Auch in der Sequenz, in der Cida Milton kennen lernt und somit von ihrem tristen Dasein mit ihrem desinteressierten Mann erlöst wird, fun20 Dt.: »Mein Sonntag wird fröhlich sein, denn ich habe vor, ihn mit dir zu verbringen, ye ye ye, was für ein glücklicher Tag. Unser Liebestraum wird anhalten, denn ich werde dich immer lieben, ye ye ye, was für ein glücklicher Tag«. (Diese wie alle weiteren Übersetzungen stammen von der Verfasserin des vorliegenden Beitrages). 201
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giert der populäre Schlager »Eu vou rifar meu coração« von Lindomar Castilho als Ausdrucksmittel für die Gefühle der Figuren: Eu vou rifar meu coração. Vou fazer leilão. Vou vendê-lo a alguém. Não vou deixar o coitadinho. Viver sempre sem carinho. Ficar sempre sem ninguém. Amanhã mesmo eu vou sair sem saber aonde ir. Pelo mundo à procura. Não me interessa a riqueza, não me importa a pobreza. Quero alguém que saiba amar. Eu vou rifar meu coração.21
Die Musik setzt hier also nicht nur, in Verbindung mit den raschen Schnitten, rhythmische Akzente, sondern die Songtexte dienen dazu, die Handlung zu kommentieren und den Figuren ein Sprachrohr zu verleihen. Außerdem hegt die jugendliche Bevölkerung der Großstadtslums den Traum, als Musiker dem Elend zu entkommen. Die junge Bevölkerungsgruppe, die sich mit ihrer sozialen Benachteiligung noch nicht abgefunden hat und, teilweise auch mit gewalttätigen Mitteln, den sozialen Aufstieg schaffen will, wird durch die offensiven Raplieder von Cambio Negro und Racionals MC’s vertreten, die die harte Realität der einkommensschwachen Viertel widerspiegeln. Der Freund von Créos Tochter verkörpert eine solche Figur. Durch den Rap bringt er sich selbst und zugleich eine ganze Generation zum Ausdruck. Créo streitet sich mit ihrer Tochter, und verbietet ihr den Umgang mit diesem Jugendlichen, da er sich ihrer Meinung nach nur gegen die Polizei auflehnt. Daraufhin reißt die Tochter von zu Hause aus. Auf die Sequenz mit dem Streit folgt ein Rap von der 1988 gegründeten, in Brasilien äußerst populären Gruppe Racionais MC’s aus São Paulo, die die Sprache der Favela verwendet, um stellvertretend für die arme Bevölkerung São Paulos zu singen und Stellung bezüglich der Unterdrückung und Marginalisierung zu nehmen. Der Text des Liedes »Capítulo 4 Versículo 3« fungiert hier, wie an so vielen anderen Stellen des Films, als Kommentar: 60 % dos jovens de periferia sem antecedentes criminais já sofreram violência policial; a cada quatro pessoas mortas pela polícia, três são negras; nas universidades brasileiras, apenas 2 % dos alunos são negros; a cada quatro horas um jovem negro morre violentamente em São Paulo; aqui quem fala é Primo Preto,
21 Dt.: »Ich werde mein Herz verlosen. Ich werde eine Versteigerung machen. Ich werde es jemandem verkaufen. Ich werde nicht der arme Schlucker bleiben, immer ohne Liebe leben, immer alleine sein. Noch morgen werde ich hinausgehen ohne zu wissen wohin, auf der Suche durch die Welt. Reichtum interessiert mich nicht, Armut stört mich nicht. Ich möchte jemanden, der lieben kann. Ich werde mein Herz verlosen«. 202
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mais um sobrevivente. Minha intenção é ruim, esvazia o lugar! Eu tô em cima, eu tô a fim, um dois pra atirar! Eu sou bem pior do que você tá vendo. Preto aqui não tem dó, é cem por cento veneno! A primeira faz »bum!«, a segunda faz »tá!« Eu tenho uma missão e não vou parar! Meu estilo é pesado e faz tremer o chão! Minha palavra vale um tiro, eu tenho muita munição!22
Während man den Rap hört, der von dunklen Klaviertönen eingeleitet und von einer jungen Männerstimme vorgetragen wird, sieht man zwei Kinder, die auf einem Spielplatz inmitten von unpersönlichen Wohnblöcken schaukeln. Mit einem Schnitt wechselt dann die Einstellung auf einen Motorradfahrer, dessen Helm von hinten gefilmt wird. Er befindet sich auf einer überlasteten Autobahn, es wird langsam Nacht, das Bild ist verwackelt und die Stimmung düster. Vermutlich handelt es sich bei dem Motorradfahrer um den jungen Freund von Créos Tochter. Anhand dieser Figur wird exemplarisch gezeigt, welchen Stellenwert die Medien und die Popularkultur im Leben der Jugendlichen einnehmen. The relationship between the spectacular, the posture of humility and the representation of popular culture occupies, historically, a central role in Brazilian Cinema.23
Eine interessante, für das Thema dieses Beitrags äußerst relevante Sequenz bringt auch jene Szene, in der Créo ihre Tochter im anonymen Großstadtdschungel sucht. Wiederum sieht man die Figur zuerst in einer amerikanischen Einstellung, dann nähert sich die Kamera bis zur Nahaufnahme. Das Ganze wird im Zeitraffer gezeigt, man kann die Hektik und Créos Angst regelrecht spüren, die Menschen und Lichter rundherum verschwimmen, die Einstellungen sind bläulich, unpersönlich und kalt. Dann schwenkt die Kamera direkt ein paar Meter weiter zu Quitéria, die an einer Telefonzelle steht und mit Roxanne telefoniert. Letztere wartet auf ihre Arbeitgeberin, die am Zahltag immer zu spät erscheint. Roxanne wird in Nahaufname gezeigt, wie sie am Tisch sitzt, raucht und telefoniert, die Schnitte folgen in jump cuts rasch und hart aufeinander, so 22 Dt.: »Drei von vier Menschen, die die Polizei tötet, sind schwarz. Nur zwei Prozent der brasilianischen Studenten sind schwarz. Alle vier Stunden wird in São Paulo ein Schwarzer umgebracht. Ich bin der schwarze Bruder, hab überlebt. Ich bin viel schlimmer, als ich aussehe. Dieser Schwarze hat kein Mitleid. Das erste Mal macht es »Bumm!«, das zweite »Peng!« Ich hab ‘ne Mission und bleib dabei! Ich komm daher und die Erde bebt. Meine Worte sind wie Kugeln. Ich hab viel Munition«. 23 Fernão Ramos: »Humility, guilt and narcissism turned inside out«, in: Lúcia Nagib (Hg.), The New Brazilian Cinema, London: I. B. Tauris 2003, S. 64-84. 203
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als würde man die Zeit im Zapping-Modus nach vorne treiben wollen. Dann „zappt“ die Kamera zurück zu Quitéria, fliegt über das nächtliche Lichtermeer der Großstadt, zoomt schnell hinunter, sodass das Bild verschwimmt. Schließlich wird nochmals Créos Gesicht in Großaufnahme gezeigt, hinter ihr die schnell vorbeiziehenden, verschwommenen Gesichter und Lichter. Abwechselnd gibt nun die Kamera ihr verzweifelt suchendes Gesicht wieder und zoomt in das Innere der Stadt hinein und wieder hinaus. Zum Schluss sieht man, wie sie ihr Gesicht an die Scheibe des Busses drückt, auf der sich die schnell vorbeiziehenden Lichter spiegeln. Ihr Ausdruck ist leer und niedergeschlagen, das Leben scheint an ihr vorbeizupulsieren, ohne dass sie noch ein Teil davon ist. Die Schnelllebigkeit, in der sie unterzugehen droht und die wiederum an das Zapping erinnern, wird durch den Zeitraffer, die schnellen Schnitte und Schwenks hervorgerufen.
Domésticas, 30:59 Was das Interessante an diesem Film ausmacht, ist diese Mischung aus Stilisierung – wie wir es am Beispiel der Ästhetik von Musikclips gesehen haben – und Dokumentarischem. Jene dokumentarischen Züge kommen vor allem an den Stellen zum Tragen, wo die Figuren aus der Fiktion heraustreten und sich direkt an die Zuschauer wenden und Statements über ihr Leben abgeben. Hier weist das Filmmaterial eine andere Körnig- und Farbigkeit auf als im restlichen Film und hebt diese Sequenzen dadurch aus der Fiktion heraus. Somit verlässt der Film an jenen Stellen, an denen die Figuren über ihr Leben, also über die Realität, berichten, das Stilisierte, um zum Dokumentarischem zurückzukehren. Das Bild hat jegliche Farbe und Glätte verloren, weist eine körnige Struktur und blasse Farben auf. Auch in der Sequenz, in der Raimundas Hochzeit gezeigt wird, nimmt der Film die Gestalt eines Dokumentarfilms an, die Kamera ist, wie von Hand gehalten, verwackelt. Diese Sequenz wird von Raimunda selbst eingeleitet, die den Blick in die Kamera richtet, genauso wie es al204
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le übrigen weiblichen Figuren den ganzen Film bereits getan haben. Dann sieht man ihre Hochzeit, welche an eine soap opera erinnert – Raimundas übertriebenes, schauspielhaftes Verhalten, die Ich-Inszenierung. Andererseits hat die Sequenz auch etwas von einem Home-Video – wie Raimunda in die Kamera blickt, Grimassen schneidet, an die Kamera greift und den Kameramann anspricht. Der Film bricht also genau an jenen Stellen aus seiner Stilisierung aus, in denen die Figuren in das Licht der Realität treten und aus ihrem Leben erzählen. Am Beispiel von Domésticas lässt sich zeigen, wie sehr das Filmschaffen in Brasilien durch äußere, politische Umstände beeinflusst wurde. Die Mediendominanz ist hier so stark, dass sich dies zwangsläufig auf die Filmfiktion niederschlägt. Diese Spiegelung der Medien im Film sowie das breite Spektrum an Genres, das in den Erzählungen zu finden ist, lässt sich außerdem auf die Tatsache zurückführen, dass die Regisseure über einen breit gestreuten professionellen Lebenslauf verfügen. Da die Filmschaffenden über mehrere Jahre keine Unterstützung durch den Staat genossen haben, waren sie gezwungen, sich in anderen Branchen wie der Werbung zu betätigen. Dies hat ebenfalls die Filmästhetik beeinflusst, wie dies beispielsweise in besonderem Ausmaß bei Fernando Meirelles der Fall ist. Ebenso wie die Telenovelas im Fernsehen, so spricht der Film Domésticas von den Träumen der Hausangestellten, die sich außer über ihre Arbeitsgeber nur über ihre Träume definieren. Diese Träume werden ebenfalls teilweise durch die Medien genährt, vor allem durch die soap operas. Dies zeigt sich in Domésticas vor allem anhand der Figur der Roxanne, die davon träumt, Model oder Schauspielerin zu werden. Was die Filmästhetik betrifft, so muss man vor allem das hohe Tempo hervorheben, mit dem der Film von Einstellung zu Einstellung springt. Diese Technik der raschen, harten Schnitte, die Verwendung von Zeitraffern, Schwenks und jump cuts könnte man durchaus mit dem Fernseh-Zapping vergleichen, was wiederum daran erinnert, dass in der brasilianischen Gesellschaften das Fernsehen und insbesondere die soap opera sich großer Beliebtheit erfreuen. Auch die Musik hat einen hohen Stellenwert sowohl in der brasilianischen Kultur als gesamte als auch im Film und im vorliegenden Analysebeispiel. Sehr oft werden Musik und Musiktexte dazu verwendet, einen Kommentar zum Geschehen zu liefern. Die lyrischen Worte drücken genau das aus, was die Figuren empfinden, oder stellen die Situation nochmals auf einer anderen Ebene dar. Der Film Domésticas ist also ein gutes Beispiel dafür, wie in einem Film Fernsehtechniken angewandt werden, die die Bedeutung des Fernsehens und allgemein der Medien in der brasilianischen Gesellschaft un-
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terstreichen. Somit weisen diese Filmtechniken nicht nur stilistische Merkmale auf, sondern auch inhaltliche – Form und Inhalt fließen also gewissermaßen zu einem Ganzen zusammen. Das, was Domésticas jedoch vom Mainstream abhebt, ist das Bestreben, auf eben diesen aufmerksam zu machen. Obwohl sich der Film der Ästhetik der Massenmedien bedient, um gewisse Effekte – wie jene der Musikclips – zu erzielen, so macht er auch durch das Verwenden selbstreflexiver Techniken (wie beispielsweise das bewusste Heraustreten der Schauspieler aus der Filmhandlung und die direkte Adressierung des Zuschauers) auf diese Mediendominanz aufmerksam. In dieser Hinsicht kann man den Film auf einer doppelten Ebene lesen, was ihn zu einem wegen seiner Vielschichtigkeit bemerkenswerten Beispiel in der brasilianischen Filmszene macht.
L i t e r at u r Alencar, Mauro: A Hollywood brasileira. Panorama da telenovela no Brasil, Rio de Janeiro: Senac 2002. Avellar, José Carlos: »ImagiNation«, in: Lúcia Nagib (Hg.), The New Brazilian Cinema, London: I. B. Tauris 2003, S. 245-257. Bentes, Ivana: »The sertão and the favela in contemporary Brazilian film«, in: Lúcia Nagib (Hg.), The New Brazilian Cinema, London: I. B. Tauris 2003, S. 121-137. Diegues, Carlos: »The cinema that Brazil deserves«, in: Lúcia Nagib (Hg.), The New Brazilian Cinema, London: I. B. Tauris 2003, S. 2335. Nagib, Lúcia: »Introduction«, in: Lúcia Nagib (Hg.), The New Brazilian Cinema, London: I. B. Tauris 2003, S. XVII-XXVI. Nagib, Lúcia: »Death on the beach – the recycled utopia of Midnight«, in: Lúcia Nagib (Hg.), The New Brazilian Cinema, London: I. B. Tauris 2003, S. 157-172. Nagib, Lúcia: Brazil on Screen. Cinema Novo, New Cinema, Utopia, London/New York: I. B. Tauris 2007. Oricchio, Luiz Zanin: »The sertão in the Brazilian imaginary at the end of the millennium«, in: Lúcia Nagib (Hg.), The New Brazilian Cinema, London: I. B. Tauris 2003, S. 139-155. Ramos, Fernão: »Humility, guilt and narcissism turned inside out«, in: Lúcia Nagib (Hg.), The New Brazilian Cinema, London: I. B. Tauris 2003, S. 64-84.
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GROTESK ÜBER
DAS EXPLIZIT
UND AMBIVALENT:
TELEVISIVE
BEI
ALMODÓVAR
CHRISTOPHER F. LAFERL
Wer auch nur einige wenige Filme von Pedro Almodóvar kennt, weiß, dass er häufig andere Formen des Performativen in sein cineastisches Schaffen integriert. Sei es die Gesangseinlage in Tacones lejanos (1991), die Aufführung eines Theaterstückes in Todo sobre mi madre (1999) oder die Tanzszene am Beginn und am Ende von Hable con ella (2002), die Aufnahme anderer Formen des Darstellens ist im Werk des spanischen Regisseurs so präsent, dass hier der Begriff des Medienzitats zu kurz greift, um die intermedialen Durchdringungen, die seine Filme charakterisieren, angemessen zu beschreiben. Zu Recht wurde seine Gestaltungsweise daher mit dem Begriff der Collage charakterisiert.1 Im Rahmen der durchgängigen und collagehaften Verwendung anderer Medien und Darstellungsformen spielt das Fernsehen eine zentrale Rolle, wie auch schon von der Kritik mehrfach betont wurde.2 Denn wenn Almodóvar in seine Filme auch Theateraufführungen, Ballettszenen und Konzerte integrieren mag, so kommt dem Fernsehen doch eine bedeutendere Rolle zu, als dies bei anderen Medien bzw. Darstellungsformen der Fall ist. Mit einer einzigen Ausnahme, nämlich La mala educación (2004), kommen Fernsehgeräte und Fernsehen in allen Filmen, die Pedro Almodóvar zwischen 1987 (La ley del deseo) und 2006 (Volver) gedreht hat, vor. Fast ließe sich behaupten, dass Fernsehen in seinen Filmen omnipräsent ist. Almodóvar integrierte aber Fernsehen nicht nur in fast alle seine großen Kinofilme, er versuchte auch die Vielfalt des Mediums einzufangen, indem er ganz unterschiedliche TVFormate thematisierte oder zumindest beiläufig »erwähnte«, finden sich bei ihm doch Werbesendungen, Nachrichten, Talkshows wie auch im Fernsehen ausgestrahlte Spielfilme. Eine Auslassung, die hier nicht wei1 2
Antonio Holguín: Pedro Almodóvar, Madrid: Cátedra 21999, S. 61-64. Holguín 1999, S. 117-123; Mark Allinson: A Spanish Labyrinth: The Films of Pedro Almodóvar, London/New York: I. B. Tauris 2001, S. 54-58; Ernesto R. Acevedo-Muñoz: Pedro Almodóvar, London: British Film Institute 2007, S. 207-219. 209
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ter erörtert werden soll, lässt sich dennoch beobachten, nämlich die der Fernsehserie. Zwar ist zweimal von Telenovelas und Serien kurz die Rede,3 eine längere Behandlung dieses Formats fehlt aber bisher in seinem Filmschaffen. Bei Almodóvar wird aber nicht nur ferngesehen, es wird auch viel über Fernsehen gesprochen, und das Publikum seiner Filme sieht nicht nur vieles von dem, was Fernsehen bietet, sondern erfährt auch, wie Fernsehen gemacht wird. In zwei Filmen, nämlich in Tacones lejanos und Kika (1994), wird Fernsehen schließlich sogar zentrales Thema. Der folgende Beitrag hat zwei Ziele: Einerseits möchte er einen Überblick über die verschiedenen expliziten Verwendungs- und Integrationsweisen des Fernsehens in den Filmen Almodóvars aus den letzten zwanzig Jahren geben, und andererseits möchte er die bisher vielfach geäußerte Meinung relativieren, dass es ihm – wie so vielen anderen Vertretern des Autorenfilms – in der Auseinandersetzung mit dem Fernsehen hauptsächlich um Kritik an diesem ginge. Denn wenn man die im Zeichen der Groteske stehende Collage als Strukturprinzip seines Schaffens anerkennt,4 so greift jede Analyse der Darstellung des Mediums Fernsehen in seinen Filmen zu kurz, wenn sie diese auf eine gesellschaftskritische Funktion einengen will. Sie würde dabei einen Grundzug des Grotesken übersehen, das ja durch die Verbindung von Gegensätzlichem und die grelle, schrille oder bizarre Überzeichnung, die oftmals ins Absurde und Komische reicht, definiert wird.5 Groteske und Kritik schließen einander natürlich nicht aus, aber die Intention der Groteske wie auch ihre Rezeption gehen keinesfalls ausschließlich in Kritik auf – und schon gar nicht bei Almodóvar.
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Telenovelas werden kurz in La flor de mi secreto und Fernsehserien in La mala educación erwähnt. Der Ausdruck ›grotesk‹ findet sich in der Literatur über Almodóvar allenthalben, so z. B. bezeichnet Allinson (2001, S. 57) das Reality-TV-Programm Lo peor del día aus Kika als »the most grotesque of all his cinema« oder schreibt kurz danach: »In a further grotesquely ironic revelation, the sponsor of the programme is, incongruously, a milk company« (2001, S. 58). Für eine Definition des Grotesken siehe die einschlägigen Lemmata in: Gero von Wilpert: Sachwörterbuch der Literatur, Stuttgart: Kröner 61979, S. 320-321; J. A. Cuddon / C. E. Preston: The Penguin Dictionary of Literary Terms and Literary Theory, London u. a.: Penguin 41999, S. 367-368; Angelo Marchese / Joaquín Forradellas: Diccionario de retórica, crítica y terminología literaria, Barcelona: Ariel 31991, S. 191-192; wie auch die Ausführungen von Thomas Anz: Literatur und Lust. Glück und Unglück beim Lesen, München: DTV 2002, S. 196-200. 210
GROTESK UND AMBIVALENT
Programmankündigungen und W e r b e e i n s c h a l tu n g e n Im Alltag vieler Figuren in den Filmen Almodóvars spielt das Fernsehgerät eine große Rolle. So sehen wir bereits 1980 ausgeschaltete TVEmpfänger als beredten Teil des Mobiliars in Pepi, Luci, Bom, und im Krankenzimmer Pablos aus La ley del deseo steht er genauso selbstverständlich wie im Schlafzimmer der freiwillig bettlägerigen Mutter des Richters Domínguez in Tacones lejanos. In diesem Film spielt das Medium Fernsehen eine ganz besondere Rolle, da es ein TV-Gerät ist, in dem jene Pistole versteckt wird, mit der Manuel, der Besitzer des Fernsehkanals Tele 7, von seiner Gattin Rebeca erschossen wurde. Das Fernsehen, über das – wie wir noch sehen werden – Tat und Täter preisgegeben werden, verbirgt die für eine vollständige Beweisführung nötige Tatwaffe. Im Vergleich mit eingeschalteten Fernsehgeräten sind die ausgeschalteten freilich in der Minderheit, und aus dem selbstverständlichen Bestandteil des Mobiliars wird bei Almodóvar in der Regel der an der Rahmung oder Körnung erkennbare Medienträger, der uns die mediale Transposition als solche stets deutlich vor Augen führt. Einmal greift er dieses oder jenes Fernsehformat gewissermaßen in medias res auf, das andere Mal lässt er uns den Beginn eines Programm sehen oder lenkt die Kamera auf die das Fernsehen strukturierenden Intervalle, wie Werbeeinschaltungen oder Programmankündigungen, wie z. B. ganz explizit in Kika, in dem das Insert »En nuestra programación de noche podrán ver Ustedes: 22.00 Lo peor del día / 23.05 De x The / 24.00 Noticias«, das die Sendezeit der für den Film zentralen Reality-TV-Show Lo peor del día anzeigt, zugleich aber neugierig macht, was sich wohl hinter dem Namen De x The verbergen mag. Die Werbeeinschaltungen in den Filmen Almodóvars, die in seinem Oeuvre zahlreich zu finden sind, gehören zweifelsohne zum GroteskHeitersten, das diese zu bieten haben. In diesem Zusammenhang sei nur auf die Werbung für die Pensionsvorsorge in Spanien im Vergleich mit Deutschland in Átame (1990) hingewiesen,6 einem Werbespot, dem man – wie ich meine zu Unrecht – ein besonders kritisches Potential gegenüber der spanischen Sozialpolitik zugeschrieben hat,7 oder an die Kondom- und Waschmittelwerbesendungen in Mujeres al borde de un ataque de nervios (1988) erinnert:
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Vgl. Holguín 1999, S. 120. Siehe wiederum Holguín 1999, S. 120. 211
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Cura:
Novio: Cura: Novia: Cura: Novia: Cura: Novia: Cura: Novia: Cura:
Arturo, ¿quieres recibir a Eugenia como esposa y prometes a serle fiel en las alegrías y en las penas, en la salud y en la enfermedad, todos los días de tu vida, eh? Sí, creo que quiero. ¿Y tú, Eugenia? ¡Eugenia! ¡Mándeme, padre! ¿Quieres Arturo por esposo? Claro que quiero. ¿No voy a querer? Lo que Dios ha unido que no lo separe el hombre. ¿Podemos besarnos ya, padre? Hija mía, no debes confiar en ningún hombre. ¿Ni en mi marido siquiera? ¡No, toma, toda precaución es poca!8
Kondom auf dem Brautstrauß Sieht man die Szene mit der Kondomwerbung gleich zu Beginn des Films in einem äußerst gebrochenen und fragmentierten Kontext, da sie sowohl den Werbespot selbst als auch die Aufnahme seiner Tonspur im Studio bringt, so ist die Einschaltung für das Waschmittel Ecce Omo in den normalen Programmablauf integriert:
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Dt.: »Priester: Arturo, möchtest du Eugenia zur Frau nehmen und versprichst du ihr Treue in guten wie in schlechten Zeiten, in gesunden wie in kranken, alle Tage deines Lebens? / Bräutigam: Ja, ich glaube schon. / Priester: Und du Eugenia? Eugenia! / Braut: Ja, Hochwürden! / Priester: Möchtest du Arturo zu deinem Mann nehmen? / Braut: Ja, sicher. Warum denn nicht? / Priester: Was Gott verbunden hat, das soll der Mensch nicht trennen. / Braut: Können wir uns schon küssen, Hochwürden? / Priester: Mein Kind, du darfst keinem Mann vertrauen. / Braut: Nicht einmal meinem Ehemann? / Priester: Hier, nimm. Man kann nicht vorsichtig genug sein«. (Diese wie alle weiteren Übersetzungen stammen vom Verfasser des vorliegenden Beitrages). 212
GROTESK UND AMBIVALENT
Pepa:
Policía 1: Policía 2: Pepa: Policía 1: Policía 2: Policía 1: Pepa:
Hola, soy la madre del famoso asesino de Cuatro Caminos. Cuando mi hijo vuelve a casa después de cometer uno de sus famosísimos crímenes, me trae la ropa que es una pena. – ¿Qué? ¿Dónde está la ropa que llevaba su hijo anoche? En el momento del crimen. Pues, aquí está. Mire que hermosura. ¡Ni rastro de sangre! ¡Ni de vísceras! ¡Parece mentira! ¡Ecce Omo! ¡Parece mentira!9
»Pepa« mit dem blutdurchtränkten Hemd ihres Sohnes Diese beiden Fernseh-Zitate, die uns die Protagonistin Pepa sowohl als Schauspielerin als auch als TV-Konsumentin zeigen, sind v. a. deshalb so interessant, weil sie einander ergänzen. Wird die Kondomwerbung im Kontext ihrer Produktion gezeigt, genauer während des Prozesses der Synchronisierung, in dem Pepa den Text der Braut spricht, die allerdings von einer Freundin und Kollegin gespielt wird, so haben wir im zweiten Beispiel den Sonderfall der Rezeption eines Werbespots durch die ihn maßgeblich gestaltende Schauspielerin, denn Pepa sieht – auf der Couch liegend – sich selbst im Bild. Mit beiden Beispielen macht sich Almodóvar auf groteske Weise über die Werbebranche lustig, aber nicht nur über diese, sondern auch über die katholische Kirche und ihr Kondomverbot oder über die Polizei, die hier als besonders dumm porträtiert wird. Die 9
Dt.: »Pepa: Hallo, ich bin die Mutter des berühmten Mörders von Cuatro Caminos. Wenn mein Sohn nach einem seiner superberühmten Verbrechen nach Hause kommt, ist seine Wäsche in einem traurigen Zustand. – Wie bitte? / Polizist 1: Wo ist die Kleidung, die Ihr Sohn gestern Abend getragen hat? / Polizist 2: Zur Zeit des Verbrechens. / Pepa: Hier bitte! Schauen Sie, wie schön. / Polizist 1: Keine einzige Blutspur. / Polizist 2: Und auch nicht von den Eingeweiden. / Polizist 1: Unglaublich! / Pepa: Ecce Omo! Unglaublich!« 213
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Präsentation der Werbung wäre aber nicht ambivalent, wenn es nur darum ginge, sie lächerlich zu machen.10 Almodóvar scheint auch Gefallen an ihrer Sprache zu finden, an ihren grellen Bildern und den der Gattung eigenen Übertreibungen, die er selbst nur auf die Spitze treiben kann, indem er sie grotesk mit anderen Bild- und Diskurstraditionen verbindet. Genau genommen ist das Objekt der Kritik in den beiden angeführten Werbespots recht unterschiedlich geartet. Denn wenn Almodóvar einmal einen Priester der Braut ein Kondom in den Hochzeitsstrauß legen lässt, dann macht er sich dabei wohl kaum über Anti-Aids-Kampagnen lustig, sondern vielmehr über die katholische Kirche, die ja von dieser Art von Erzeugung eines Problembewusstseins gegenüber HIV-Infektionen nicht nur nichts hält, sondern derartige Kampagnen rundweg verurteilt. Im Gegensatz dazu macht er sich sehr wohl über die Werbebranche lustig, wenn er das blutdurchtränkte Hemd eines Massenmörders zum Prüfstein für ein Waschmittel werden lässt.11
N ac hr i c h t e n se n d u n g e n Noch stärker ausgeprägt als Almodóvars Hang zur Parodie von Werbesendungen ist sein Bedürfnis, fiktive oder echte Nachrichten in seine Filme einzubauen. Ein Kritiker ging sogar soweit, die Vorliebe Almodóvars für den konstanten Einbau von televisiven Nachrichtensendungen als Obsession zu bezeichnen.12 Sei es der kurze Moment in Mujeres al borde de un ataque de nervios (1988), in dem Almodóvar seine eigene Mutter als unbeholfen lesende Nachrichtensprecherin auftreten lässt, der absurde Schreiwettbewerb in La flor de mi secreto (1993) – für den offensichtlich echtes Nachrichtenmaterial ausgewertet wurde – oder die
10 Vgl. dazu z. B. Allinson 2001, S. 55: »The advert mimics the style of countless others which claim to have the recipe for the whiter than white wash, exposing the excesses of these claims and their formulaic repetitiveness«. 11 An seinen weitaus krasseren Umgang mit der TV-Werbung, wie er in seinen frühen Filmen zu finden ist, reichen die beiden genannten Beispiele freilich nicht heran. Im Vergleich mit den Superslips aus Pepi, Luci, Bom y otras chicas del montón (1980), die mit einer dreifachen Verwendungsweise beworben werden – sie verwandeln Darmgase in Parfum, sie wirken als Windel und zusammengerollt sind sie auch als Dildos zu gebrauchen –, wirkt die Kondomkampagne und die Ecce Omo-Werbung geradezu harmlos. Vgl. dazu auch Holguín 1999, S. 119 und Allinson 2001, S. 54-55. 12 Holguín 1999, S. 120: »Los Telediarios han sido para Almodóvar una obsesión a lo largo de toda su carrera«. 214
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nüchterne, für die Handlung allerdings eminent bedeutende Berichterstattung über Waldbrände in Volver (2006), Nachrichten, Tagesschauen oder Features spielen in der Tat in Almodóvars Filmen eine große Rolle. In extenso wird das Fernsehformat Tagesschau in Tacones lejanos (1991) abgehandelt, dessen Handlung ja zu einem guten Teil rund um die Ehe zwischen Manuel, dem bereits erwähnten Besitzer eines Fernsehkanals, und Rebeca, die genau für diesen Kanal als Nachrichtsprecherin arbeitet, angesiedelt ist. Als deren Mutter, die Film- und Bolero-Diva Becky del Páramo, nach langer Abwesenheit in Lateinamerika wieder nach Madrid zurückkehrt, sieht sie – gemeinsam mit ihrer Privatsekretärin Margarita – ihre Tochter auf dem Bildschirm, als Rebeca die Nachrichten über ein ETA-Attentat vorliest. Diese kann aber beim Ablesen ein nervöses Lachen nicht unterdrücken, das im Wissen um die mögliche Beobachtung durch die stets bewunderte, aber in ihrem Ruhm nie erreichte Mutter seinen Ursprung hat:13 Margarita: Becky: Rebeca:
Becky: Rebeca:
Becky: Rebeca: Becky:
¡Mírala, está en el noticiero! A ver… Buenas tardes. Dos atentados han sido perpetrados esta mañana por el comando Vizcaya de ETA. El primero de ellos produjo la muerte de Roberto Agalburu al hacer explosión la bomba debajo de su coche. Dios mío… El fallecido se dedicaba a la venta ambulante de ajo, tenía antecedentes penales y al parecer relación con el tráfico de drogas. La explosión pudo haber provocado una matanza. ¿Pero cómo se dice una cosa así? El coche se encontraba aparcado en las proximidades de una guardería. Hubiera preferido no verlo.14
13 Vgl. dazu Allinson 2001, S. 56: »The sensationalist world of television news is revealed in High Heels where Rebeca works as a newsreader, the smaller screen reflecting her lesser achievement when compared to her large-screen mother Becky«. Dieser Gedanke, dass die Mutter die große Diva ist, während die Tochter als Fernsehsprecherin im Kanal ihres Gatten arbeitet, findet sich auch bei Carlos Polimeni: Pedro Almodóvar y el ›kitsch‹ español, Madrid: Campo de Ideas 2004, S. 97. 14 Dt.: »Margarita: Schauen Sie, sie ist in den Nachrichten. / Becky: Mal sehen… / Rebeca: Guten Abend. Zwei Attentate wurden heute durch das ETA-Kommando Biskaya verübt. Das erste führte zum Tod von Roberto Agalburu, als die Bombe unter seinem Auto explodierte. / Becky: Mein Gott… / Rebeca: Der Verstorbene war fahrender Knoblauchverkäufer, ist bereits strafrechtlich verurteilt worden und scheint in den Drogenhandel 215
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Diese Szene wirkt umso grotesker, weil man auch sieht, wie Becky mit Gesichtsmaske (die es Almodóvar angetan zu haben scheint, kommt sie doch in mehreren seiner Filme vor) auf die Performance ihrer Tochter Rebeca reagiert.
TV-Moderation der Tochter
Blick der entsetzten Mutter Es lässt sich eigentlich gar nicht so recht sagen, worüber sich Almodóvar in dieser anthologiewürdigen filmischen Fernsehepisode lustig macht. Ausgeschlossen werden kann, dass er die ETA und ihre Attentate als lächerlich hinstellen wollte. Der Humor liegt hier nämlich mitnichten in der Verspottung eines kritikwürdigen oder verdammenswerten Agierens, sondern wohl eher in der ungehörigen Verbindung von Ernstem mit Lustigem, im Brechen von Tabus, in diesem Fall dem Tabu, dass über terroristisches Morden nicht gelacht werden darf. Dass sich gerade eine ältere, höchst egoistische – und wohl auch unpolitische – Diva, die durch ihre Schönheitsmaske der Lächerlichkeit preisgegeben wird, darüber mokiert, verwickelt zu sein. Die Explosion hätte ein Massaker auslösen können. / Becky: Wo gibt’s denn so etwas? / Rebeca: Das Auto war in der Nähe eines Kindergartens geparkt worden. / Becky: Es wäre mir lieber gewesen, ich hätte das nicht gesehen«. 216
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doppelt den humoristischen Effekt der Szene, legt aber zugleich die von Becky zur Schau getragene Moral als oberflächlich und heuchlerisch bloß. Becky schämt sich ihrer Tochter nicht, weil diese zu ETAAttentaten lacht, sondern weil sie dieses Lachen in der Öffentlichkeit für nicht angebracht hält. In der Folge lügt sie ihre Tochter auch an, als diese sich besorgt danach erkundigt, ob sie die Nachrichtensendung gesehen habe. Erhöht wird der humoristische Effekt noch durch die blonde, etwas hilflos aussehende Taubstummenübersetzerin, die neben Rebeca sitzt und überdies die Geliebte Manuels ist. Rebeca wird ihre Art, die Nachrichten vorzulesen, nochmals bis zur Neige auskosten, und zwar als sie vor laufender Kamera gesteht, ihren Gatten ermordet zu haben. Sie, die eigentlich nur von seinem Tod – er war ja schließlich der Besitzer des TV-Kanals – berichten sollte, gesteht das Verbrechen aber nicht nur, sondern liefert auch noch Details zu dem Mordfall, wie z. B. dass ihr Mann unmittelbar vor seinem Tod Sex hatte, allerdings nicht mit ihr, oder um es mit ihren eigenen Worten auszudrücken »sólo puedo añadir que no fue conmigo« (Dt.: »und ich kann nur hinzufügen, dass es nicht mit mir war«). Auch hier würde die Interpretation, dass sich Almodóvar mit dieser Szene nur über den sensationslüsternen Fernsehbetrieb lustig machen wollen – wie behauptet wurde –15, der Ambivalenz der Groteske, die eben nicht nur Kritik ist, nicht entsprechen.
R e al i t y- T V Weniger Interpretationsraum ist hingegen bei jenen Fernsehformaten gegeben, denen sich der spanische Regisseur ebenfalls immer wieder zuwendet, der Talkshow und dem sensationslüsternen Boulevardmagazin. Das Thema der medialen Gier jener Moderatoren und Talkmaster, die sich nur nach den Einschaltquoten richten und keine Grenzen in der Ausbeutung der von ihnen vorgeführten Gäste kennen, beschäftigt Almodóvar seit langem. Schon 1987 deutet er es in La ley del deseo (1987) in dem Interview zwischen einer von Rossy de Palma gespielten Moderatorin und dem Protagonisten Pablo an. Der Sensationalismus der Fernsehberichterstattung wird auch in Tacones lejanos thematisiert, und zwar in dem bereits erwähnten Moment, in dem Rebeca vor laufender Kamera den Mord an ihrem Gatten gesteht und die Aufnahme-Crew nach kurzem Zögern den letzten Rest von Hochachtung vor der menschlichen Privatsphäre über Bord wirft, indem sie sich entscheidet, auf jeden Fall auf Sendung zu bleiben, um Rebecas 15 Allinson 2001, S. 56-57. 217
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Geständnis bis zu ihrer Abführung durch die Polizei live übertragen zu können.16 Zum zentralen Thema wurde die Jagd nach hohen Einschaltquoten jedoch erst in Kika (1993), der bislang Almodóvars intensivste Auseinandersetzung mit der Welt des Fernsehens darstellt. In diesem Film wird die von Jean Paul Gaultier eingekleidete Skandalreporterin Andrea Caracortada zur Quintessenz des televisiven Sensationsjournalismus. Sie ist eine ehemalige Psychologin, die sich nun ihr Geld durch das Boulevardmagazin Lo peor del día verdient, in dem sie in geisterbahnhaftem Outfit von den blutrünstigsten Ereignissen des Tages berichtet. Wie in Tacones lejanos sieht man auch in Kika nicht nur das Endprodukt, also das Programm, so wie es den Zuschauer erreicht, sondern auch wie es moderiert wird und wie die Recherchen davor ablaufen. Die Reporterin versucht mit einem Motorrad, einem futuristischen Overall und einer auf ihrem Helm angebrachten Kamera so oft wie möglich bei Bluttaten zugegen zu sein. Um genau über diese informiert zu werden, arbeitet sie mit von ihr bestochenen Polizisten zusammen. Sie spricht auch ohne Scham aus, was in anderen Filmen Almodóvars nur angedeutet wird, dass es nämlich Fernsehmachern ausschließlich um eines geht, die Einschaltquoten. Wer mit Andrea Caracortada nicht kollaborieren will, dem wirft sie vor, gegen die Pressefreiheit zu arbeiten. Sowohl der Serienmörder Nicholas (auch Seriemörder scheinen es dem Regisseur angetan zu haben) als auch die naive Kika stellen sich diesem Motorrad fahrenden Moderatorinnenungeheuer entgegen. Kika bringt die Kritik an dieser Art Journalismus auf den Punkt, wenn sie sagt, dass sie es nicht toleriere, dass durch ihre Vergewaltigung die Einschaltquoten gesteigert werden sollen. Die Vergewaltigung war nämlich von ihrem voyeuristischen Partner gefilmt worden, und das entsprechende Video fand dann seinen Weg bis in die Fernsehstation. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass Kika die Vergewaltigung selbst weniger verletzt und getroffen zu haben scheint als die mediale Zurschaustellung derselben, fast so als ob Almodóvar mit diesem extremen Beispiel, das vom Publikum nicht positiv aufgenommen wurde, die These illustrieren wollte, dass nur, was in den Medien vorkomme, auch wahr sei.17 Umso mehr muss die massenmediale Berichterstattung auf der Echtheit ihrer Informationen bestehen. In diesem Sinne stellt auch Andrea Caracortada ihre Arbeit für das Fernsehen stets unter das Zeichen der Authentizität, das Markenzeichen des Reality-TV schlechthin;18 auch 16 Vgl. wieder Allinson 2001, S. 56-57. 17 Vgl. dazu Allinson 2001, S. 58 und S. 133-135. 18 Knut Hickethier: Film- und Fernsehanalyse, Stuttgart/Weimar: Metzler 4 2007, S. 186. 218
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wenn – oder gerade weil – diese in Lo peor del día bisweilen nur vorgetäuscht ist, nimmt die Moderatorin doch ihre Show vor einem leeren Zuschauerraum auf und wird der ihre Horrormeldungen begleitende Applaus doch nur über Band eingespielt.19 War die Groteske, mit der Almodóvar in den bisher behandelten Filmen Fernsehformate überzeichnete, stets ambivalent und niemals nur medienkritisch, so erreichte der vom Regisseur intendierte Humor im Fall Kikas die überwiegende Mehrheit des Publikums nicht.20 Dem Film mangelt es sowohl an Subtilität als auch an Komik. Hier blieb Almodódvar im selbstgefälligen Schrill-Grotesken stecken – ohne Ambivalenz, großteils auch ohne Humor, dafür aber mit einer umso deutlicheren Kritik am Reality-TV, genauso wie es sich inhaltsfixierte puritanische Kritiker vielleicht wünschen. Angeblich soll der Regisseur während der promotion des Films gesagt haben, dass Gott, falls es ihn geben solle, das Fernsehen wäre,21 und genau mit dieser doch etwas eindimensionalen Haltung scheint er an die Produktion von Kika herangegangen zu sein, der deshalb weit mehr zu einem Thesenfilm wurde als alle anderen Filme davor – und auch danach. Weniger extrem, weniger penetrant, dafür aber umso komischer gelang Almodóvar m. E. die Kritik an der Sensationslüsternheit des Fernsehens und am einzig für Erfolg zählenden Maßstab der Einschaltquoten in Hable con ella (2002). In der ersten Hälfte des Films gibt die Stierkämpferin Lydia einer Talkmasterin ein Interview, das von einem der beiden männlichen Protagonisten, dem argentinischen Reisejournalisten Marco auf dem Bildschirm seines Fernsehgeräts verfolgt wird: Moderadora: El próximo miércoles en la tradicional plaza de Brihuega, Lydia González encierra con seis toros. Seis toros son muchos toros. Buenas noches, Lydia. Lydia: Buenas noches. Moderadora: ¿Por qué una decisión tan drástica? 19 Vgl. dazu auch die Ausführungen von Azevedo-Muñoz 2007, S. 207-219. 20 Siehe dazu den Kommentar Polimenis 2004, S. 101: »Kika le valió las peores críticas de su carrera en España, donde parecía estar de moda castigarlo […]«. (Dt.: »Kika brachte ihm die schlimmsten Kritiken in Spanien ein, wo es fast zu einer Mode wurde, ihn zu kritisieren, […]«). 21 Polimeni 2004, S. 102: »el director, que se considera ateo, dijo durante los meses de promoción que en las sociedades contemporáneas, la televisión se ha convertido en una deidad. ›Si Dios existe, Dios es la televisión‹«. (Dt.: »Der Regisseur, der sich als Atheist bezeichnet, sagte während der Monate der promotion, dass sich in den gegenwärtigen Gesellschaften das Fernsehen in eine Gottheit verwandelt habe. ›Wenn Gott existiert, dann ist Gott das Fernsehen‹«). 219
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Lydia: Mi trabajo es torear. Dos toros, seis, los que me echen. Moderadora: Hay gente que dice que muchos toreros se han negado a torear con Usted por el mero hecho de ser mujer. Lydia: La gente puede decir lo que quiera. Allá cada cual. Moderadora: Hay demasiado machismo en el mundo del toro, eso tiene que reconocermelo. Con excepciones, claro, porque al Niño de Valencia no le importó compartir cartel con Usted durante varios meses. Lydia: Eso ya ha pasado. Moderadora: ¿Usted cree que fue todo un montaje para promocionarse él, y cuando lo consiguió la dejó? Lydia: Ya le advertí en el camerino que no iba a hablar de este tema. Moderadora: Pero hablar es bueno, mujer, hablar es bueno, y hablar de los problemas es el primer paso para superarlos. Porque al Niño de Valencia… Lydia: ¿Y dale? Moderadora: Lydia, tesoro, no seas ordinaria, déjame terminar la pregunta. Porque al Niño de… Lydia: Le advertí en el camerino de que no quería hablar de este tema. Moderadora: Tú en el camerino no me advertiste nada, y no me gusta que digas estas cosas porque la gente puede pensar que nosotros pactamos las entrevistas. Y yo no pacto nada, yo sólo hago vivo. Soy de las pocas que se atreven con el vivo. Lo mismo que tú deberías atreverte a reconocer que te han chuleado. Porque el Niño de Valencia te ha estado chuleando. Uno que ha compartido contigo no sólo la fama y el acero, sino también la cama. Te ha dejado tirado cuando a él le ha venido bien.22
22 Dt.: »Moderatorin: Nächsten Mittwoch wird Lydia González in der Arena von Brihuega gegen sechs Stiere kämpfen. Sechs Stiere sind viel. Guten Abend, Lydia. / Lydia: Guten Abend. / Moderatorin: Warum so ein drastischer Entschluss? / Lydia: Meine Arbeit ist der Stierkampf. Zwei Stiere, sechs, wie viel sie mir auch immer vorsetzen. / Moderatorin: Es gibt Leute, die sagen, dass sich viele Toreros weigern mit Ihnen in die Arena zu gehen, nur weil Sie eine Frau sind. / Lydia: Die Leute sollen sagen, was sie wollen. Jedem das seine. / Moderatorin: Es gibt zuviel Machismo im Stierkampf, das müssen Sie mir schon zugeben. Mit Ausnahmen natürlich, denn dem Niño de Valencia hat es nichts ausgemacht, mehrere Monate hindurch mit Ihnen gemeinsam aufzutreten. / Lydia: Das ist vorbei. / Moderatorin: Glauben Sie, dass das ein abgekartetes Spiel war, um sich selbst bekannter zu machen; und als er es geschafft hatte, dann ließ er Sie fallen? / Lydia: Ich habe Ihnen schon vor der Sendung gesagt, dass ich darüber nicht sprechen werde. / Moderatorin: Sprechen ist aber gut, meine Liebe, das Sprechen über Probleme ist der erste Schritt zu ihrer Bewältigung. Denn der Niño de Valencia… / Lydia: Ja und? / Moderatorin: Lydia, meine Liebe, wird’ bitte nicht ausfällig, lass mich meine Frage stellen. Denn der Niño de 220
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Die Moderatorin der Sendung, die sich als psychologisch versiert präsentiert und zugleich vorgibt, stolz darauf zu sein, nicht nach einem vorgegebenen Script zu arbeiten, sondern die ihr wichtigen Fragen immer nur live zu stellen, kann als das Paradigma – denn ein Zerrbild ist es schon lange nicht mehr – gängiger Talkmaster gelten. Sie möchte ihre Interviewpartnerin dazu bringen, ihr Intimleben vor der Kamera auszubreiten, denn nichts anderes interessiert sie, sodass auch der Stierkampf zur Nebensache des Interviews degeneriert.23 Dieses lässt eine Konstante des Genres Talkshow deutlich zu Tage treten, so wie es Georg Christoph Tholen in Die Zäsur der Medien klar herausgearbeitet hat, nämlich das nach außen getragene Selbstbekenntnis im Rahmen eines neuen Geständnisdispositivs:24 Er [= der libidinöse Kitt der Talkshows] funktioniert und verallgemeinert sich als Diskurs – so meine These – aus einer theatralischen Inszenierung therapeutischer, pädagogischer und religiöser Diskursfragmente, deren Fokussierung in den Talkshows eine Blick-Ordnung arrangiert, die ich im Anschluß an Foucault und Deleuze das innengewendete Panoptikum der Kontrollgesellschaft nennen möchte.25
Vor allem der hier von Tholen angesprochene therapeutische Diskurs tritt bei Almodóvar recht deutlich zu Tage, wenn die Moderatorin insistiert, dass Sprechen gut sei und Lydia den Mut zur Einsicht, betrogen worden sei, aufbringen müsse, um ihre Probleme bewältigen zu können. Hinzu tritt natürlich noch die Komponente des Appells an weibliche Solidarität mit deutlich feministischer Ausrichtung. Das Interview entlarvt die SenValencia… / Lydia: Ich habe Ihnen schon in der Garderobe gesagt, dass ich über dieses Thema nicht sprechen will. / Moderatorin: Du hast mir in der Garderobe gar nichts gesagt, und es gefällt mir gar nicht, dass du so etwas sagst, denn da könnten die Leute ja denken, dass wir die Interviews vorher ausmachen. Und ich mache vorher gar nichts aus, ich mache alles live. Ich gehöre zu den wenigen, die sich trauen, live zu fragen. Genauso wie du dich trauen solltest, endlich einzusehen, dass sie dich hereingelegt haben. Denn der Niño de Valencia hat dich reingelegt. Er hat nämlich mit dir nicht nur den Ruhm geteilt, sondern auch das Bett. Und als er dich nicht mehr brauchte, da ließ er dich fallen«. 23 Zum Wesen der Talkshow vgl. Jochen Hörisch: Eine Geschichte der Medien. Von der Oblate zum Internet, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004, S. 362-363, der auf Niklas Luhmanns Die Realität der Massenmedien (S. 111-112) rekurriert. 24 Georg Christoph Tholen: Die Zäsur der Medien. Kulturphilosophische Konturen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002, S. 147-168. 25 Tholen 2002, S. 152. 221
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sationslust des Formats Talkshow, auf dessen Altar – in diesem Fall – auch der zur Schau getragene Feminismus geopfert wird.
Lydia und die Talkmasterin Dass die Moderatorin Lydia mit Gewalt am Weggehen hindern will und selbst danach – in bester Slapstick-Tradition – im wahrsten Sinne des Wortes auf dem Bauch landet, macht sie zu einer lächerlichen Figur. Die Talk-Verweigerin Lydia, die schlanke und stolze Stierkämpferin, verlässt die Rede-Arena hingegen aufrechten Ganges, einer Siegerin gleich. Einen Triumph hat sie auf jeden Fall davongetragen, den über den zusehenden Marco, der sich – von ihrer Courage beeindruckt – sofort um ein Interview mit ihr bemüht. Gerade die komische Note, die die Bauchlandung der korpulenten Talkmasterin dieser Szene verleiht, lässt wieder den grotesken Charakter des Almodóvar’schen Umgangs mit dem Fernsehen sichtbar werden. Auch in seinem letzten Kinofilm Volver (2006) wurde das gleiche Format erneut eindringlich behandelt, und zwar in jener Szene, in der die krebskranke Agustina in einer Talkshow auftritt und ihr nur dann eine Reise zur Behandlung ihrer Krankheit in Houston zugesichert wird, wenn sie vor der TV-Kamera ausplaudert, was sie an Geheimnissen über das Verschwinden ihrer Mutter, den Tod des Nachbarehepaars und andere Dorfinterna weiß.26 Diese Szene ist aber bar jeder Komik, auch wenn sie durch den erpresserischen Handel, in dem eine ärztliche Behandlung nur gegen die Preisgabe von Intimem zugesagt wird, eine kritisch-groteske Note erhält. Dieser Handel würde – zumindest im europäischen Fernsehen – doch den guten Sitten widersprechen und stellt daher, wenn auch nur mehr in geringem Ausmaß, eine groteske Übertreibung dar.
26 Zu dieser Szene siehe auch die Interpretation von Acevedo-Muñoz 2007, S. 198-199. 222
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Spielfilme Wenn Spielfilme im Fernsehen ausgestrahlt werden, so stellt dies eine Transposition des Mediums Film in das Medium Fernsehen dar. Wenn nun derart ins Fernsehen transponiertes filmisches Material wiederum in einem Film zu finden ist, so wird zwar der erste Film wieder in sein ursprüngliches Medium überführt, die Rahmung – so sie ebenfalls übernommen wird – stellt aber doch einen andersartigen Kontext her. Bei Almodóvar ist der Fernsehrahmen durchwegs als solcher zu erkennen und behält daher den durch das Fernsehen hergestellten Rezeptionskontext bei. Was nun seine televisive Filmauswahl und -verwendung betrifft, wird bei ihm erstens, im Unterschied zu fast allen bisher genannten Fernsehbeispielen, nur reales Material, also tatsächlich existierende und in die Kinos gekommene Filme, über das Fernsehen wiedergegeben und zweitens lässt sich bezüglich dieses Themas ein eindeutiger Schwerpunkt ausmachen, stammen doch fast alle zitierten und transponierten Szenen aus dem Schwarzweißkino der fünfziger Jahre.27 So kann man in Kika einen Ausschnitt aus The Prowler von Joseph Losey aus dem Jahr 1951 oder in Volver einen anderen aus dem ebenfalls 1951 entstandenen Film Bellissima von Luchino Visconti sehen. In Carne trémula wird der Schuss aus Ensayo de un crimen von Luis Buñuel (1955) mit jenem Schuss verbunden, der in der Wohnung Elenas fällt und David zu einem Querschnittgelähmten macht. Am raffiniertesten darf aber die Verwendung des Hollywoodklassikers All about Eve von Joseph Mankiewicz aus dem Jahr 1950 in Todo sobre mi madre gelten: Esteban: Manuela: Esteban: Manuela: Esteban: Manuela: Esteban: Manuela: Esteban:
¡Mamá! … ¡la película va a empezar! […] ¡Qué mania de cambiar el título! ¡All about Eve significa »Todo sobre Eva«! »Todo sobre Eva« suena raro. ¿Qué escribes? Nada. Futuros premios Pulitzer. Venga, come. Debes hacer unos kilitos por si en algún momento tienes que hacer la carrera para mantenerme. Para hacer la carrera no hacen falta kilos, sino un buen rabo. ¿Quién te ha enseñado a hablar así? Preguntaste tú… Era una broma. ¿Y tú?
27 Eine Ausnahme stellt hier die Bezugnahme auf den Klassiker des Horrorgenres Night auf the Living Dead von George Romero (1968) in Átame (1990) dar. 223
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Manuela: Esteban: Manuela: Margo: Celeste: Margo:
Celeste: Eva: Celeste: Margo: Eva: Esteban: Manuela:
¿Yo, qué? ¿Serías capaz de prostituirte por mí? Yo ya he sido capaz de hacer cualquier cosa por ti. Come. Cazadores de autógrafos no son personas, son animalillos que acuden en tropel como los coyotes. Son tu público, tus admiradores. ¿Qué van admirar esos? Son delincuentes juveniles, retrasados mentales, no son público de nadie. Nunca vieron una comedia, ni siquiera han traspasado las puertas de un local. Bueno, ahí hay una que sí lo ha hecho. La he traído para que te vea. Adelante Eva. Creí que se había olvidado de mí Nada de eso. Margo aquí tienes, es Eva Harrington. ¿Cómo está, querida? Hoy, encantada. ¿No te gustaría ser actriz? Bastante me ha costado hacerme enfermera.28
Die Einbindung von All about Eve in Todo sobre mi madre ist nicht nur deshalb so kunstvoll, weil der junge Esteban durch den Titel des Films zu einem Text über seine Mutter inspiriert wird und dessen Überschrift, 28 Dt.: »Esteban: Mama! Der Film beginnt gleich! […] Immer diese geänderten Titelübersetzungen! All about Eve heißt »Alles über Eva«! / Manuela: »Alles über Eva« klingt seltsam. Was schreibst du da? / Esteban: Nichts. Zukünftige Pulitzer-Preise. / Manuela: Komm jetzt, iss! Du musst ein paar Kilo zunehmen, vielleicht musst du einmal für mich auf den Strich gehen. / Esteban: Um auf den Strich zu gehen, da braucht man keine Kilos, sondern einen guten Schwanz. / Manuela: Von wem hast du denn diese Ausdrucksweise? / Esteban: Du hast angefangen zu fragen. / Manuela: Das war ein Scherz. / Esteban: Und du? / Manuela: Was, ich? / Esteban: Würdest du dich für mich prostituieren? / Manuela: Ich war schon fähig, für dich alles Mögliche zu tun. Iss! Margo: Autogrammjäger sind keine Menschen, sie sind Tiere, die im Rudel wie die Kojoten auftreten. / Celeste: Das ist dein Publikum, deine Bewunderer. / Margo: Was sollen die bewundern? Das sind jugendliche Verbrecher, geistig Zurückgebliebene, die sind niemandes Publikum. Sie haben niemals eine Komödie gesehen, die haben nicht einmal ein Theater betreten. / Celeste: Wie du meinst, hier ist eine, die das sehr wohl getan hat. Ich habe sie mitgebracht, damit sie dich sieht. Komm, Eve! / Eve: Ich dachte schon, Sie hätten mich vergessen / Celeste: Aber nein. Margo, hier ist sie, sie heißt Eve Harrington. / Margo: Wie geht es Ihnen, Beste? / Eve: Heute ausgezeichnet. Esteban: Würdest du nicht gern Schauspielerin sein? / Manuela: Es war schon schwer genug, Krankenschwester zu werden«. 224
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eben Todo sobre mi madre, auch für den Film titelspendend wird, sondern auch weil sich im zitierten Film eine junge und ehrgeizige Schauspielerin bei der alternden Diva Margo, die von Bette Davis gespielt wird, einschmeichelt, um ihr später die Rollen, die sie insgeheim einstudiert, wegzunehmen. Genau das – allerdings ohne böse Absicht – wird ja auch Manuela tun, als sie, um ihrem verstorbenen Sohn emotional nahe zu sein, die Garderobe der Schauspieldiva Huma aufsucht, die ja von Esteban verehrt wurde. Alle genannten Beispiele aus dem Schaffen Almodóvars verschweigen die Einbettung des Mediums Film in das Medium Fernsehen nicht nur nicht, sondern machen sie explizit und durchgängig deutlich, was für das dargestellte Geschehen durchaus relevant ist. Der Unterschied zwischen Kinozitaten und Fernsehzitaten wird v. a. dann besonders deutlich, wenn man die über das Fernsehen vermittelten Filme mit den Sprech-, Tanz- und Musiktheaterszenen vergleicht, wie wir sie z. B. in Tacones lejanos oder Hable con ella finden. Entscheidend ist nämlich der Rezeptionskontext, der bei einem Film im Fernsehen ein ganz anderer ist als bei einem Film im Kino oder bei einem Theater- oder Konzertbesuch – in der Wirklichkeit genauso wie bei Almodóvar. Die Rezeption über das Fernsehen erlaubt einfach eine andere Form der Aufmerksamkeit und eine andere Interaktion mit der Umwelt als der dunkle Kinosaal. Die oben wiedergegebene Szene aus Todo sobre mi madre ist nur in der Privatsphäre der eigenen Wohnung möglich, und zwar wegen der gegebenen Intimität, der Möglichkeit des gegenseitigen unmittelbaren Austausches, wie auch wegen der Lichtverhältnisse, die es erlauben, während des Films etwas aufzuschreiben, was im Kino nur sehr schwer möglich wäre. Nur über das Fernsehen konnte Almodóvar All about Eve in seinen eigenen Film Todo sobre mi madre auf eben diese Art und Weise einbauen, über eine Szene im Kino wären die Möglichkeiten des Gespräches zwischen Mutter und Sohn, das für den weiteren Fortgang der Handlung von großer Bedeutung ist, nicht möglich gewesen. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass es sich bei All about Eve um einen fast fünfzig Jahre vorher gedrehten Film handelt, dessen Vorführung in einem Kino der neunziger Jahre nur unter ganz speziellen Vorzeichen wahrscheinlich wäre, dem aber im Rahmen einer Ausstrahlung über das Fernsehen nichts Besonders anhaftet. Ganz im Unterschied zu dem bisher erläuterten televisiven Material, das wir in den Filmen Almodóvars finden können, nimmt keines der genannten Filmzitate groteske Formen an. Genauso wenig macht sich Almodóvar mit der Verwendung von über das Fernsehen ausgestrahlten Filmen über diese oder – in diesem Kontext – über das Fernsehen lustig.
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Das Gleiche gilt überdies auch für Fernsehaufzeichnungen oder LiveÜbertragungen von Konzerten oder Musikshows. Auch diese sind stets eindeutig positiv gezeichnet, wie an der tröstenden Wirkung abzulesen ist, die die Übertragung des Liederabends Becky de Páramos in Tacones lejanos (1991) oder das Programm mit Chavela Vargas in La flor de mi secreto (1993) auszulösen imstande ist.
F l o w , T e le b as u r a u n d T e l e n o v e l a Wenn Raymond Williams in seiner Epoche machenden Studie über das Fernsehen feststellt, dass der flow, das Eintauchen in den ununterbrochenen Fluss des TV-Programms, die wesentliche televisive Rezeptionshaltung ausmacht, 29 so finden wir ein Echo dieser Feststellung auch im Kino Almodóvars wieder. In Volver z. B. sprechen zwei Kundinnen des Friseursalons Soles, der aus Steuergründen geheim betrieben wird, von ihrer Fernsehsucht. Bevor diese aber zu Wort kommen, hören wir – in einer mit dem folgenden Dialog in keinem Zusammenhang stehenden Szene –, was die beiden Protagonistinnen des Films, Raimunda und Agustina, über das Fernsehen denken, dass sie es nämlich nicht mögen. Die Haltung der beiden Nebenfiguren in der Wohnung Soles ist hier ambivalenter: Vecina 1:
Vecina 2: Vecina 1:
Es que la telebasura tiene algo. Yo, cuando me siento delante del televisor, no puedo dejarlo. Mira, me voy sintiendo cada vez peor, pero no me puedo levantar. A mí, es como la droga… Por la noche he tenido que dejar de mirarla porque luego duermo fatal. Claro, con tantos gritos, te vuelves loca.30
29 Raymond Williams: Television. Technology and Cultural Form, London/New York: Routledge 2003, S. 94: »Then again it is a widely if often ruefully admitted experience that many of us find television very difficult to switch off; that again and again, even when we have switched on for a particular ›programme‹, we find ourselves watching the one after it and the one after that. The way in which the flow is now organised, without definite intervals, in any case encourages this«. 30 Dt.: »Kundin 1: Der Fernsehmist hat etwas. Wenn ich mich vor den Fernseher setze, dann komme ich gar nicht mehr weg. Ich fühle mich zwar schlechter und schlechter, aber ich kann einfach nicht aufstehen. Bei mir wirkt es wie eine Droge… / Kundin 2: Das Fernsehen am Abend musste ich aufgeben, denn danach schlafe ich ganz furchtbar schlecht. / Kundin 1: Ja sicher, bei all dem Schreien, da wird man ja wahnsinnig«. 226
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Beide Kundinnen geben sich als »Opfer« des flow zu erkennen, wenn sie sich eingestehen, dass das Fernsehprogramm, das sie konsumieren, großteils schlecht sei, sie von ihm aber, Drogenabhängigen gleich, nicht loskämen – zumindest, wenn sie es sich einmal vor dem Fernseher gemütlich gemacht hätten. Vor dem zu Bett Gehen sei besondere Vorsicht geboten, könne einem doch die telebasura, wörtlich übersetzt der ›Fernsehmist‹, den Schlaf rauben. Die Rede von der telebasura finden wir auch schon in einem früheren Werk Almodóvars, nämlich in Hable con ella, und zwar in einer der witzigsten Szenen des Films, als die von Chus Lampreave gespielte Concierge jene Hauses, in dem Benigno vor seiner Verhaftung wohnte, dessen Freund Marco ihre Meinung über die mangelnde Aufmerksamkeit der Presse und des Fernsehens im Fall Benigno aufzwingt: Portera: Marco: Portera: Marco: Porera:
¿Le ha visto? Sí. ¿Y cómo está? Bien. El pobrecillo ni ha tenido suerte ni en la cárcel. ¡Qué poquita publicidad se le ha hecho! Aquí no ha venido ni una mala televisión! ¡Ni un mal paparazzi! ¡Con tantas programas-basura que hay! Y ninguno se ha dignado a venir, no sé, a hacerme una entrevista a mí, por ejemplo. Es muy triste cómo están los masa-media en este país.31
Ambivalent wird die Aussage der Hausmeisterin über das Fernsehen deshalb, weil sie im Medienbetrieb, den sie verurteilt, selbst gern einmal eine aktive Rolle spielen möchte. Gerade im Aufzeigen der sensationslüsternen, aber doch auch naiven Verlogenheit in Verbindung mit der Verwendung der Einzahl ›paparazzi‹ oder der hispanisierenden Verwandlung von ›mass-media‹ in ›masa-media‹ liegt die Komik der Szene.
31 Dt.: »Concierge: Haben Sie ihn gesehen? / Marco: Ja. / Concierge: Und wie geht es ihm? / Marco: Gut. / Concierge: Der Arme hatte nicht einmal im Gefängnis Glück. Wie wenig wurde darüber berichtet. Hier war kein einziges Fernsehen. Nicht ein Paparazzi! Wo es doch so viele Mistprogramme gibt. Und keines hat es der Mühe wert befunden, um – ich weiß nicht was – z. B. mit mir ein Interview zu machen. Es ist wirklich traurig um die Massenmedien in diesem Land bestellt«. 227
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Im Vergleich mit diesen abwertenden Aussagen aus dem Mund eher ungebildeter Personen in Hable con ella und Volver wird in La flor de mi secreto (1995) von Figuren, die selbst im Medienbetrieb tätig sind, ein anderes Bild gezeichnet. Eine ganz eigenartige Haltung dem Fernsehen gegenüber zeigt sich uns in diesem Film in der Gegenüberstellung der Aussage der Verlegerin Leocadias, die unter dem Pseudonym Amanda Gris triviale Liebesromane publiziert, mit dem Urteil des El PaísJournalisten Ángel. Während der intelligent, fürsorglich und sympathisch gezeichnete Ángel der Ansicht ist, dass die Romane von Amanda Gris wie venezolanische Telenovelas – »y típicamente femeninas« – seien, also große Ähnlichkeiten mit einer Fernsehgattung aufweisen würden, antwortet die Verlegerin auf den Wunsch der Autorin, nun endlich realistischere Erzählliteratur schreiben zu wollen, mit dem brutalen Satz »La realidad es algo para la televisión«. Die Verlegerin, die natürlich um das Fernsehpotential der Romane ihrer Vertragspartnerin wissen muss, begeht hier den allerorten anzutreffenden Fehler, eine Fernsehgattung, in diesem Fall die Nachrichten, mit dem Medium Fernsehen insgesamt gleichzusetzen. Wie das Urteil über das Fernsehen in der Rede der zitierten Figuren aber auch immer aussehen mag, es handelt sich in allen diesen Beispielen um Figurenrede, von der weder auf die Überzeugung des Regisseurs noch auf eine bevorzugte Rezeption beim Publikum geschlossen werden kann. Die Meinung der zitierten Figuren – mit der Ausnahme Ángels – kann eigentlich gar keine besondere rezeptionssteuernde Funktion haben, werden diese Figuren doch als kleinbürgerlich und dumm, wenn nicht sogar verlogen, dargestellt. Sie sind keine privilegierten dramatis personae, was natürlich nicht bedeutet, dass sie nicht gerade wegen ihrer Naivität, wie engstirnig diese auch sein mag, zu Sympathieträgern werden können. Kaum als Sympathieträger kann hingegen die Hauptfigur aus La mala educación (2004), der egoistische und bis zum Äußersten gehende Schauspieler Juan, gelten. Über diesen heißt es am Ende in einem die Nachgeschichte resümierenden Insert, dass er nur mehr in Fernsehserien spielen würde. Wenngleich der Enuntiator dieser Zeilen nicht ohne Weiteres mit dem Regisseur gleichgesetzt werden darf, so ist es doch ein auktorialer Erzähler, der uns diese Zeilen ans Ende des Films schreibt. Und deshalb kommt dem »nur« Bedeutung zu, und zwar in beide Richtungen, nämlich sowohl, was den enttäuschenden Fortgang der Karriere Juans betrifft, als auch was die Meinung des Erzählers über Fernsehserien anlangt. Diese stehen für ihn ganz eindeutig hierarchisch unter dem Film, denn sonst würde das »nur« keinen Sinn ergeben. Die Karriere Juans neigt sich nach seinen Kinofilmen, deren Welt er sich ja unbedingt
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als Schauspieler erobern wollte, nach unten zur weniger prestigeträchtigen Fernsehserie.
Medienkonkurrenz und Fernsehkritik Die Konkurrenz zwischen den beiden Medien Fernsehen und Film, die Almodóvar in impliziter wie expliziter Form sein ganzes Werk hindurch aufgreift, lässt sich auf einem derart hohen Verallgemeinerungsgrad, durch den das Medium Fernsehen dem Medium Film gegenübergestellt wird, aus zwei Gründen nicht sinnvoll, d. h. in diesem Zusammenhang mit dem Ziel eines wertenden Urteils, diskutieren. Erstens kann eine derartige Vergröberung, die weder den unterschiedlichen Verwendungsweisen des Films noch jenen des Fernsehens Rechnung trägt, allenfalls Binsenweisheiten zu Tage bringen, wenn sie nicht gar zu verkürzenden Falschaussagen verführt. Und zweitens wird über das Medium Fernsehen auch bei Almodóvar nur selten in toto gesprochen. Wenn man von den Bemerkungen der beiden Kundinnen in Soles Friseursalon einmal absieht, die über das Fernsehen im Ganzen sprechen und implizit v. a. den das Medium charakterisierenden flow thematisieren, so sind alle anderen Aussagen über das Fernsehen schlechthin stets nur irreführende Synekdochen, die zwar vom Fernsehen allgemein sprechen, aber doch immer nur bestimmte Formate meinen. Dies kann man bei der Verlegerin aus La flor de mi secreto genauso beobachten wie der bei Concierge in Hable con ella. Hinzu kommt, wie bereits erwähnt, dass diesen Figuren keine wie auch immer geartete Autorität zukommt, weder in der dargestellten Welt, noch als Stimmen von Gewicht für die Rezeption durch das Publikum. Wenn nun Almodóvar, der aus seinem eigenen Fernsehkonsum keinen Hehl macht,32 das Fernsehen nicht in seiner Gesamtheit verurteilt, so gilt aber andererseits ebenfalls nicht, dass er alles am und im Fernsehen gut heißen würde. In seinen Filmen übt er nämlich doch auch heftige Kritik an einzelnen Fernsehformaten. So kann kein Zweifel daran bestehen, dass er große Vorbehalte gegenüber Talkshows und Reality-TV hat, wie v. a. in seinem Meisterwerk Tacones lejanos und noch mehr in dem weniger geglückten Kika zum Ausdruck kommt. Wie kritisch die Zeichnung der Andrea Caracortada und ihres Programms Lo peor del día auch sein mag, sie hat in ihrer grotesken Übertreibung doch auch etwas äußerst Ambivalentes. Denn wenn Almodóvar 32 Dies geht z. B. ex negativo aus der Aussage hervor, dass er während der intensiven Phase der Drehabreiten an einem Film kaum lesen, ins Kino gehen oder fernsehen würde (zitiert nach Polimeni 2004, S. 118). 229
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die Sensationslust der Fernsehberichterstattung, der Talkshows und des Reality-TV anprangern wollte, so lebt gerade Kika doch auch wieder von genau diesen bereits in der Realität des Fernsehbetriebs existierenden Übertreibungsstrategien. Almodóvar kritisiert die Sensationslust und das rücksichtslose Auftreten einer Andrea Caracortada, er feiert sie aber zugleich auch. Fast hat man den Eindruck, dass Almodóvar in der Suche nach Schrillem und Ungewöhnlichem sich so verhält wie der junge Regisseur Enrique in La mala educación, der sich seine Motive aus den Faits divers der Tagespresse sucht, und zwar nicht, um sie selbst oder den Boulevardjournalismus im Ganzen zu kritisieren, sondern um sie zu verwenden. Da aber in Kika die Übertreibung – im Inhaltlichen wie im Formalen – so weit geht, dass jeder Humor auf der Strecke bleibt, kann die Groteske ihre lösende und heitere Kraft, von der Bachtin spricht,33 nicht zur Geltung bringen. Ganz abgesehen davon, dass Almodóvar in Kika u. a. ein Thema berührt, das sich für eine groteske Darstellung kaum eignet und in unserer Gesellschaft eigentlich nur ernst abgehandelt werden kann, nämlich das Thema der Vergewaltigung. Aber auch dort, wo es in Kika möglich wäre, Humor in die Groteske zu bringen, wird diese nicht ins Komische gewendet, oder dieses Komische erreicht zumindest das Publikum nicht. Andrea Caracortada ist überzeichnet und grell, in keinem Moment aber ist sie komisch oder gar lächerlich. Eine von Jean Paul Gaultier eingekleidete schöne Frau ist stets auch Objekt der Bewunderung und niemals nur des Spotts. Ob durch die mangelnde oder misslungene Komik die Gesellschafts- und Fernsehkritik des Films gemindert oder gesteigert wird, lässt sich m. E. ohne empirische Studien kaum beantworten, das ästhetische Potential des Films wird dadurch auf jeden Fall herabgesetzt; wie ja auch die Rezeption durch Publikum und Filmkritik belegt. Gelungener ist die Kritik Almodóvars an einigen Fernsehformaten, wie der Talkshow oder der Werbung, dann, wenn sich die Kritik mit Komik mischt. Dies ist sowohl bei den beschriebenen Werbesendungen in Mujeres al borde de un ataque de nervios als auch dem Interview mit der Stierkämpferin Lydia in Hable con ella der Fall. In beiden Filmen wird, nicht zuletzt wegen des diesen Szenen innewohnenden Humors, auch Kritik transponiert – eben eine Kritik, die sich über diese Formate lustig macht. Wenngleich auch hier angemerkt werden muss, dass es eine Kritik ist, die ihr Objekt nicht nur lächerlich macht, sondern sich an diesem genauso delektiert.
33 Michail M. Bachtin: »Wolfgang Kayers Theorie des Grotesken«, in: Michail M. Bachtin, Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur, Frankfurt am Main: Fischer 1990, S. 24-31. 230
GROTESK UND AMBIVALENT
Anders liegt der Fall in Almodóvars bisher letztem Film Volver, in dem ja auch eine Talkshow vorkommt. Diese hat nämlich von der Gestaltung des Settings, dem Verhalten und der Kleidung der Moderatorin her nichts Groteskes, einzig das Angebot an die krebskranke Agustina, ihr die Behandlung in Houston zahlen zu wollen, wenn sie das Fernsehen an Geheimnissen aus dem Intimleben ihres Dorfes teilhaben lässt, scheint hier geringfügig übertrieben. Diese Szene, die fast zur Gänze ohne Humor auskommt, schöpft ihr kritisches Potential auf eindeutige Weise aus und hebt sich vom Rest der Almodóvar’schen sonst stets ambivalenten Fernsehkritik ab, indem sie sich selbst ernst nimmt. Aber nicht jeder Umgang mit dem Fernsehen ist bei Almodóvar von ambivalenter und meist humoristischer Kritik geprägt. Der Einbau von über das Fernsehen ausgestrahlten Spielfilmen birgt weder Kritik noch Komik bei Almodóvar, sondern zeigt stets seine Bewunderung für den Film. Implizit heißt er aber natürlich auch damit das Medium Fernsehen gut, das gerade Filmklassiker im Bewusstsein eines breiteren Publikums erhält. Trotzdem gilt die Hommage natürlich mehr dem Film als dem Fernsehen. Dass er dieses rundweg negativ sehen oder darstellen würde, trifft aber ganz eindeutig nicht zu, und ohne Zweifel verdankt er in seinen Filmen dem Fernsehen viel, sowohl in seiner Ästhetik als auch durch die Objektwahl. Wie kritisch und ambivalent er das Fernsehen auch porträtieren mag, viele seiner Filme leben geradezu von diesem Konkurrenzmedium des Films.
F i l m o g r a p h i e P e d r o A l m o d ó v ar s 1 9 8 7 - 2 0 0 6 La ley del deseo. 1987. Mujeres al borde de un ataque de nervios. 1988. ¡Átame! 1989. Tacones lejanos. 1991. Kika. 1994. La flor de mi secreto. 1995. Carne trémula. 1997. Todo sobre mi madre. 1999. Hable con ella. 2002. La mala educación. 2004. Volver. 2006.
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CHRISTOPHER F. LAFERL
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BOTHO
TALKSHOW IM THEATER. S T R A U S S , H A N S M AG N U S E N Z E N S B E R G E R UND ROLF HOCHHUTH ARTURO LARCATI »Theater ist immer talk und show: Gerede oder Sprache und Schau oder Spiel, eine bewußt dialektische Formulierung wie Sein und Spiel, Öffentliches und Privates«. (George Tabori)1
1 . D i e A u s e i n an d e r s e tz u n g m i t d e n T al k s h o w s i m S p an n u n g s f e l d v o n K u l tu r k r i t i k u n d k o n k r e t e r T he a t e r ar b e i t In einem Leitartikel in der italienischen Zeitung La Repubblica vom 8. Oktober 2008 wundert sich der Journalist Sandro Viola, dass selbst angesichts der Hiobsbotschaften in der Folge der sich in jenen Tagen ausbreitenden globalen Finanzmarktkrise das geschäftige Treiben der Talkshows in den öffentlichen und privaten Sendern des Landes keineswegs zum Stillstand kommt. Der Kontrast zu den beunruhigenden Nachrichten, die das Sicherheitsgefühl von unzähligen Menschen erschüttern und zahllose Existenzen gefährden, lasse die ganze Leere und Oberflächlichkeit solcher Sendungen krasser denn je zum Vorschein kommen. Es zeige sich in aller Deutlichkeit, so fährt Viola fort, dass das ritualisierte Frage- und Antwort-Spiel der Moderatoren und ihrer Gäste von der Maxime the show must go on reguliert werde. Dadurch komme die brutale Logik eines allein auf Profit ausgerichteten Systems zutage, dem das Schicksal der betroffenen Menschen gleichgültig sei. In einer solchen Situation beschwört der Journalist die Worte, mit denen der spanische König Juan Carlos anlässlich des ibero-südamerikanischen Gipfeltreffens in Santiago de Chile 2007 die ausufernde Redseligkeit des Venezuelani-
1
George Tabori, Programmheft zur Aufführung seines aus dem Amerikanischen übersetzten Stückes Talk Show im Bremer Theater Condordia am 28. Oktober 1976. Der Text ist nicht als Buch erschienen. 235
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schen Präsidenten Chávez blockiert hat: »¿Por qué no te callas?« (»Warum schweigst du nicht endlich?«).2 Der Ekel vor dem »Ertrinken in einem Meer tausendmal gehörter Worte« (Viola), die Bestürzung über die inhaltliche Inkonsistenz der Talkshows sowie die »verbale Inkontinenz« der Politiker, die moralische Entrüstung über den Zynismus der Medien, die entschlossene Favorisierung der überlegenen, authentischer Kultur (die »einfachen und königlichen Manieren« eines Juan Carlos) gegenüber der »Plumpheit« und Arroganz der Dummen (Staatsmänner à la Chávez), der Ruf nach »Stille als Eingang des Geistigen« (Christine Lavant) – all diese Gesten gehören seit den achtziger Jahren grenzübergreifend zum fixen Repertoire der kulturkritischen Polemik gegen die Allgegenwart und Allmacht der Medien. Im deutsprachigen Raum wird der kulturkritische Impetus gegen die Medien seit über zwei Dezennien von Botho Strauß wach gehalten und regelmäßig mit neuen Nuancen bereichert: Zum ersten Mal in den Aphorismen von Paare Passanten (1981) ausdrücklich formuliert und in der Prosa von Niemand anderes (1987) weiter vertieft, haben seine Angriffe in dem 1993 im Spiegel erschienenen Essay Anschwellender Bocksgesang ihren bisherigen Höhepunkt erreicht. Hier wettert der Autor gegen das »Regime der telekratischen Öffentlichkeit«, das er mit der schlimmsten Form der Diktatur vergleicht, weil es sich einer subtilen Form der Manipulation der Massen bediene, welche die Zwänge verinnerlichen lasse und somit darauf verzichten könne, »die Köpfe rollen zu lassen«.3 Sie etabliere die »Totalherrschaft der Gegenwart« und beraube den Menschen jeglichen Sinns für Vergangenheit, ohne den es Strauß unmöglich erscheint, bewusst zu leben und die Zukunft sinnvoll zu planen. In Einklang mit den Positionen von Paul Virilio behauptet der Autor, dass die permanente Bilderüberflutung durch die Medien – vor allem durch Fernsehen und Kino – zu einem Zusammenbruch der Erinnerungsfähigkeit führe und malt das Gespenst einer neuen Menschheit ohne Gedächtnis – die Gattung der »matt Bestrahlten« – an die Wand.4 Strauß sieht in den Medien einen allgemeinen Verblendungszusammenhang und macht das Fernsehen für die Entfremdung der menschli2 3
4
Sandro Viola: »La lezione del re per i talk-show«, in: La Repubblica 33, 239 vom 8.10.2008, S. 1 und S. 39. Botho Strauß: »Anschwellender Bockgesang«, in: Botho Strauß, Der Aufstand gegen die sekundäre Welt. Bemerkungen zu einer Ästhetik der Anwesenheit, München/Wien: Hanser 1999, S. 55-78, hier S. 68-69. Aus dieser Ausgabe wird im Folgenden mit Seitenzahl in Klammern im laufenden Text zitiert. Vgl. Paul Virilio: Fernsehen und Krieg, aus dem Franz. von Bernd Wilczek, München/Wien: Hanser 1993. 236
TALKSHOW IM THEATER
chen Kommunikation verantwortlich. Seitdem das Tele-Medium par excellence sowohl das Verhältnis zwischen den Bürgern und deren politischen Vertretern als auch die alltäglichen Umgangsformen prägt, herrscht für ihn eine am leeren Gespräch in den Talkshows orientierte Scheinkommunikation. Der fremdbestimmte Talk ersetzt laut Strauß den authentischen Kontakt zwischen den Individuen, setzt eine künstliche Situation an die Stelle der möglichen Nähe, die sich zwischen Individuen einstellen könnte und sollte, und lässt die Einzelnen als Varianten des gleichen Typus erscheinen: Die meisten Überzeugungsträger, die sich heute vernehmen lassen, scheinen ihren Nächsten überhaupt nur als den grell ausgeleuchteten Nachbarn in einer gemeinsamen Talkshow zu kennen. Sie haben offenbar das sinnliche Gespür […] für die Fremdheit jedes anderen, auch der eigenen Landsleute, verloren. (61)
Strauß lehnt – auch diesmal in Überreinstimmung mit Paul Virilio – alle technischen Tele-Medien ab, weil sie in seinen Augen die Verständigung pervertieren und »das Wunder des Zwiegesprächs« (68) zerstören, indem sie eine Mitteilung ohne die physische Präsenz der Menschen etablieren wollen. Sie verletzten die Intimsphäre des Individuums, die Strauß für einen heiligen Bereich hält, demütigen es in seinen wichtigsten Werten – »Mehr Politik braucht es nicht, um ein Herz zu knicken«5, heißt es in einem aufschlussreichen Aphorismus – und tilgen schließlich jegliche Sensibilität für den tragischen Sinn der Existenz: »Wie sähe, denke ich oft, mein protziger Nächster aus, wenn ihn der jähe Schmerz oder Kummer träfe? Vielleicht träte zum Vorschein dann seine Würde« (61). Darüber hinaus beschuldigt Strauß das Fernsehen, die Information zu »Infotainment«6 verkümmern zu lassen und einem Prozess Vorschub zu leisten, in dem jeder Satz vom unaufhörlichen »Rauschen« des Geredes verschlungen wird.7 Dass die Sprache der Medien – dort wo Sprache 5 6
7
Botho Strauß: Niemand anderes, München: dtv 1987, S. 128. In diesem Punkt übernimmt Strauß die Thesen von Neil Postman: Wir amüsieren uns zu Tode. Urteilsbildung im Zeitalter der Unterhaltungsindustrie, aus dem Amerikan. übers. von Reinhard Kaiser, Frankfurt am Main: Fischer 1988. Vgl. Botho Strauß: Beginnlosigkeit. Reflexionen über Fleck und Linie, München: dtv 1997, S. 73 und Arturo Larcati: »›Ein Geräusch…irgendein geheimer, in der Luft drohender Nebenton, den ich nicht aushalte.‹ Zur Semantik des Rauschens und der Verschwommenheit bei Botho Strauß«, in: Andreas Hiepko / Katia Stopka (Hg.), Rauschen. Seine Phänomenologie und Semantik zwischen Sinn und Störung, Würzburg: Königshausen & Neumann 2001, S. 133-150, hier S. 145 f. 237
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überhaupt noch verwendet wird – über Schablonen nicht hinausgeht, kann dementsprechend nicht ohne Konsequenzen für die Literatur bleiben, einen Bereich, der Strauß naturgemäß sehr am Herzen liegt. Diesbezüglich stellt er einen irreversiblen Verfalls- und Verflachungsprozess fest, der die Unterschiede zwischen der Ausdrucksweise der Literatur und jener des Alltags einebnet: »Unter dem Einfluß der Quote hat sich in der Literatur der Maßstab der intelligenten Unterhaltsamkeit eingestellt und damit ein einziges Stimmungskontinuum zwischen gescheitem Talk und geistreicher Lyrik«.8 Aus all diesen Gründen beschwört Strauß einen (Ausnahme)zustand, in dem der Schleier der allgemeinen Verblendung ein für alle mal abgerissen wird und der lange verdrängte tragische Sinn der Existenz zum Vorschein kommt. Das dadurch entstehende Erlösungsbedürfnis könne dann vom Dichter erfüllt werden, dem Antipoden des Fernsehzuschauers, der, so seine Hoffnung, die Menschen für die entscheidenden Werte – »Anamnesis«, »Schicksal«, Tradition, Nation, usw. – wieder empfänglich macht: Aber die Sinne lassen sich nur betäuben, nicht abtöten. Irgendwann wird es zu einem gewaltigen Ausbruch gegen den Sinnesbetrug kommen. Wenn man nur nicht mehr von den »Medien« spräche, sondern von einem elektronischen Schaugewerbe, das seinem Publikum die Welt in dem äußersten Illusionismus, der überhaupt möglich ist, vorführte. (67)
Die von Botho Strauß emphatisch vorgetragene Diskreditierung des »elektronischen Schaugewerbes«9 – eine Emphase, die in der Gleichsetzung von »TV-Kanälen« und »Kloake« (71) gipfelt – wird in einigen Texten der näheren Gegenwart wie dem Roman Talk Show des Italieners Luca Doninelli oder dem gleichnamigen Stück des Autors und Regisseurs Thomas Enzinger konsequent fortgesetzt. Darin stellen die Autoren auf eine Art und Weise, die teilweise vom ebenfalls Talk Show betitelten Theaterstück von George Tabori antizipiert wird, einen direkten Bezug zwischen den Talkshows und dem Tod her.10 Doninelli, von der Herausforderung fasziniert, den abendlichen Ablauf einer Talkshow in all ihren Dimensionen so erzählen zu können, wie man ein klassisches Sujet erzählt, sieht in dieser Art von Sendung den 8
Botho Strauß: »Zeit ohne Vorboten« [1998], in: Botho Strauß, Der Aufstand gegen die sekundäre Welt, S. 93-105, hier S. 103. 9 Zu Strauß’ Medien- und Fernsehkritik in den Dramen vgl. Jan Eckhoff: Der junge Botho Strauß. Literarische Sprache im Zeitalter der Medien, Tübingen: Niemeyer 1999, S. 172-182 und S. 190-194. 10 Luca Doninelli: Talk Show, Milano: Garzanti 2003. 238
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Traum eines tödlichen Willens zum Macht am Werk, der in der Weigerung besteht, den Mitmenschen, den Anderen in seinem Anderssein – Strauß hatte das »Fremdheit« genannt – und seiner Würde anzuerkennen. Mit einer bewussten Übertreibung, die er als Schriftsteller glaubt anwenden zu dürfen, vergleicht er diesen tödlichen Willen mit der brutalen und menschenverachtenden Logik, die den Konzentrationslagern der Nationalsozialisten zugrunde lag. Aus diesen Voraussetzungen entsteht eine negative Vision des modernen Menschen, der zugleich Opfer und Täter im Mechanismus der medialen Abrichtung ist. Insbesondere klagt Doninelli ähnlich wie Neil Postman über die »Zerstörung der Kindheit«11 durch das Machtmonopol der Medien, welche die jüngsten Zuschauer – sowie die normalen Bürger – an die Grausamkeit und den Zynismus der Talkshow-Sendungen derart gewöhnt hätten, dass diese sie normal finden.12 Mit der Vorstellung der ›tödlichen‹ Effekte, die von den Talkshows ausgehen, verwendet Doninelli eine Metapher, die von Enzinger in seinem erstmal 2004 in Wien aufgeführten Einakter wörtlich genommen wird. Präsentiert wird hier die schauerliche Geschichte eines Kindesmissbrauchs: Das Opfer, einmal mit der Öffentlichkeit im Laufe einer Talkshow konfrontiert, hält den Druck nicht aus und begeht Selbstmord. Der Autor stellt die Frage nach der Schuld an diesem tragischen Ereignis und richtet sie nicht nur an den verbrecherischen Vater und an die Fernsehmoderatorin, die den Fall aufdeckt, sondern auch an die sich ahnungslos gebende Mutter. In den Texten von Doninelli und Enzinger entpuppt sich die Talkshow als moderner Beichtstuhl, in dem freilich das Beichtgeheimnis vor einem voyeuristischen Publikum preisgegeben wird. Bei Tabori versuchen die Bewohner eines Krankenhauses, mit Sarkasmus die Krankheit aus ihren Leibern auszutreiben und den herannahenden Tod zu bannen, indem sie sich der Reihe nach ihre Leidensgeschichte offenbaren. Bei Doninelli und Enzinger hingegen herrscht der Fatalismus, denn die Protagonisten werden Gewalt und Tod ausgesetzt ohne die Möglichkeit, ihnen zu entrinnen. Gegen die Einseitigkeit und die Übertreibungen dieser jahrzehntelangen Tradition der Medienschelte lassen sich einige Argumente anführen. Jörg Lau etwa ridikülisiert das Verhalten von Botho Strauß und anderer Medienkritiker, indem er es als larmoyante Polemik einer um den Verlust ihres Status besorgten und in ihrer Eitelkeit verletzten Elite hinstellt. In Anlehnung an den Soziologen Kaspar Maase interpretiert er den 11 Neil Postmann: Das Verschwinden der Kindheit, aus dem Amerikan. übers. von Reinhard Kaiser, Frankfurt am Main: Fischer 1988. 12 Postmann: Wir amüsieren uns zu Tode. 239
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öffentlichen Kampf gegen die Medien als modernen Ritus, in dessen Lauf die heutigen Intellektuellen das »kulturpessimistiche Lamento« über den vermeintlichen Verfall der Kultur und der Sprache öffentlich zur Schau stellen.13 In der ritualisierten Polemik gegen »[d]as Fernsehen als Feind der Kultur« sieht Lau den Ausdruck eines schlecht verborgenen Ressentiments der intellektuellen Elite, die ihre reale Bedeutung für die Massen völlig überschätzt und ohne echte Chancen versucht, den zunehmenden Verlust an Glaubwürdigkeit und Einfluss bei der Bevölkerung zu kompensieren: Das Behagen in der Kultur, das der Pöbel in seinem Medium frech zur Schau trägt, muß uns in Panik versetzen. Wir haben unser Ansehen schließlich nicht zuletzt der Tatsache zu verdanken, dass wir in jener Kultur von raffinierten Selbstquälern, die nach Nietzsche und Freud die moderne Zivilisation war, stets die Avantgarde bildeten. Und so pflegten wir unser Ressentiment und träumten vom »Ernstfall«, wie wir es immer schon getan haben, wenn uns die Wirklichkeit entgleitet. Allerdings werden solche Träumereien auf die Dauer ein zu schwacher Trost sein für die Kränkung, dass das Medium aller Medien seine Reise ohne die Intellektuellen fortsetzt.14
Die Thesen von Laus Selbstgespräch, deren Leichtigkeit und Selbstironie ein willkommenes Pendant zu den todernsten und apokalyptischen Tönen von Botho Strauß oder von Luca Doninelli darstellen, haben einiges für sich. Allerdings übersieht Lau, dass einige der von ihm an den Pranger gestellten Autoren und Intellektuellen zu den Medien eine differenziertere Position vertreten, als es den Anschein hat. Das gilt in erster Linie für den Sündenbock Strauß, der »aus der beständigen Konfrontation mit dem ›weltzerstückenden Schalten und Walten der großen Maschinen unseres Jahrhunderts‹‚ – Computer und Fernsehen – wesentliche Bestandteile seiner poetischen Konzeption«15 bezieht. Dieser Doppelaspekt von
13 Jörg Lau: »Das Fernsehen als Feind der Kultur(eliten). Ein Selbstgespräch«, in: Merkur 49, 9-10 (1995), S. 890-903, hier S. 899. 14 Ebd., S. 900-901. Das jüngste Beispiel für diese Haltung ist in der Weigerung Marcel Reich-Ranickis zu sehen, am 12. Oktober 2008 den von ARD, ZDF, RTL und Sat1 gestifteten Deutschen Fernsehpreis anzunehmen. Nach der von Thomas Gottschalk gehaltenen Laudatio für den Preisträger beschloss der Literaturkritiker nach eigener Aussage spontan, die Ehrung abzulehnen. Zuvor hatte er die im Rahmen der festlichen Übergabe gezeigten TV-Sendungen als »Blödsinn« bezeichnet und die Zeremonie als »widerwärtig« kritisiert. 15 Jürgen Daiber: »›Alles Wesen ist in Wahrheit bildlos‹ – Zur Rolle elektronischer Medien im Werk von Botho Strauß«, in: Studia theodisca 6 (1999), 240
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Strauß’ Schreiben lässt sich am Roman Der junge Mann (1984) exemplarisch nachvollziehen. In dessen Einleitung beschreibt der Autor zunächst, wie sich der Protagonist der Geschichte erfolglos bemüht, die im Laufe einer Talkshow vorgebrachten Argumente zu verfolgen. Aus der Störung der Wahrnehmung, die der Zuschauer infolge der Überblendung der Gespräche durch eine Blaskapelle und eine Life-Schaltung erlebt, folgert Strauss, dass auch das traditionelle, durch Kontinuität geprägte Erzählen unmöglich geworden ist. Allerdings bleibt er diesmal bei seiner Dämonisierung der Medien nicht stehen, sondern wagt in partiellem Widerspruch zu den früheren Position den vorsichtig formulierten Versuch, eine zeitgemäße Poetik zu entwickeln, die der medialen Auflösung der Wirklichkeit Rechung trägt sowie mit der Beschleunigung und Fragmentierung der Wahrnehmung Schritt hält: Vielleicht wird er [der Autor] zunächst gut daran tun, sich in Form und Blick zunutze machen, worin ihn die Epoche erzogen hat, zum Beispiel in der Übung, die Dinge im Maß ihrer erhöhten Flüchtigkeit zu erwischen und erst recht scharfumrandet wahrzunehmen. Statt in gerader Fortsetzung zu erzählen, umschlossene Entwicklung anzustreben, wird er dem Diversen seine Zone schaffen, statt Geschichte wird er den geschichteten Augenblick erfassen, die gleichzeitige Begebenheit.16
So wie Jörg Lau Strauß’ Entwurf einer im Einklang mit den Entwicklungen der modernen Wissenschaften und der neuesten Medien stehenden Dichtung nicht berücksichtigt und sein im Kielwasser der Romantik konzipiertes Ideal eines Zusammengehens von Poesie und Wissen nicht wahrnimmt, übersieht er ebenfalls, dass seine eigenen Angriffe gegen die medienfeindliche Elite in den 70er Jahren bereits von Hans Magnus Enzensberger an die Adresse der Neuen Linken gerichtet worden waren. Dieser hatte nämlich die von ihnen vertretene Verblödungs- und Manipulations-These als Alibi für die eigenen Schwächen entlarvt und in Anschluss an Brecht und Benjamin die Möglichkeit der Mobilisierung der Massen durch das Fernsehen emphatisch in Aussicht gestellt. Seine Hoffnungen galten einer dezentrierten und sich selbst organisierenden Mediengesellschaft, in der die Rezipienten auch Produzenten werden konnten, so wie es heute mit dem Internet geschieht: Zum ersten Mal in der Geschichte machen die Medien die massenhafte Teilnahme an einem gesellschaftlichen und vergesellschafteten produktiven Prozeß
S. 9-35, hier S. 11. Das Zitat im Zitat befindet sich in Botho Strauß: Paare, Passanten, München: dtv 1984, S. 195. 16 Botho Strauß: Der junge Mann, München: dtv 1984, S. 10. 241
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möglich, dessen praktische Mittel sich in der Hand der Massen selbst befinden. Ein solcher Gebrauch brächte die Kommunikationsmedien, die diesen Namen bisher zu Unrecht tragen, zu sich selbst.17
Zwar hat Enzensberger seine Hoffnungen auf einen emanzipatorischen Mediengebrauch später aufgegeben, indem er das Fernsehen zum »Nullmedium«18 degradiert und die meisten Zuschauer für ein zynisch aufgeklärtes Publikum erklärt hat. Jedoch hat er nicht aufgehört, die Form seiner essayistischen Texte an den Massenmedien zu orientieren bzw. die darstellerischen Möglichkeiten des Fernsehens auszunutzen, um sein Schreiben so vielfältig wie möglich zu halten. Zu seinen essayistischen Schreibstrategien zählt seit Beginn der 80er Jahre neben dem Einsatz von kurzen fiktiven Geschichten, Dialogen oder Fabeln auch die Erfindung von dramatischen Diskussionen im Stil einer Talkshow19 – man denke etwa an die bewegte Auseinandersetzung mit dem Titel Wohnkampf.20 In seinen Aussichten auf den Bürgerkrieg (1993) hingegen zielt seine Erzählstrategie darauf, chaotische Wahrnehmungen so zu montieren, dass beim Lesen der Eindruck »eines ausschließlich durch die Fernsehkanäle zappenden Zeitgenossen«21 oder einer Talkshow22 entsteht. Dadurch will Enzensberger anschaulich machen, dass die mediale Bombardierung mit Schreckensbildern uns dermaßen abgestumpft hat, dass wir Terror und Kriege nicht mehr für außergewöhnlich halten.23 Die schematisch skizzierten Positionen von Strauß und Enzensberger sind – nicht zuletzt wegen der Prominenz ihrer Vertreter – ernst zu neh17 Hans Magnus Enzensberger: »Baukasten zu einer Theorie der Medien«, in: Kursbuch 20 (1970), S. 159-86. 18 Hans Magnus Enzensberger: »Das Nullmedium oder Warum alle Klagen über das Fernsehen gegenstandslos sind«, in: Der Spiegel 20/1988 vom 16.5.1988, S. 234-244. 19 Mathias Uecker: »Strategien im Medienkampf. Der Essayist Hans Magnus Enzensberger«, in: Der Deutschunterricht 47, 6 (1995), S. 88-95, hier S. 92 f. 20 Hans Magnus Enzensberger: »Wohnkampf. Eine Talkshow«, in: Hans Magnus Enzensberger, Politische Brosamen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1982, S. 141-160. 21 Lothar Baier: »Illustrierte Chaostheorie. Zu Enzensbergers umstrittenem Bürgerkriegs-Essay«, in: Freitag vom 11.3.1994, zit. nach Uecker, Strategien im Medienkampf, S. 94. 22 Rainer Stollmann: »Hans Magnus Enzensberger takes the stand on ›Civil war‹: a talk show scenario«, in: Gerhard Fischer (Hg.), Debating Enzensberger, Tübingen: Stauffenburg 1996, S. 127-141. 23 Hans Magnus Enzensberger: Aussichten auf den Bürgerkrieg, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1993, S. 76. 242
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mende Signale einer zunehmenden Aufwertung der »Poesie der Medien«24 bzw. der Funktionsveränderung der traditionellen Literatur. Allerdings sind die seinerzeit von Joachim Kaiser aufgestellten und noch aktuellen Fragen »Was bietet das Fernsehen der Dramaturgie? Befeuert es nur die technische Phantasie oder auch die Autoren-Phantasie?« primär mit Blick auf »ein Fernsehen der Autoren«25 beantwortet worden. Wie eine am Fernsehen orientierte Dramaturgie oder überhaupt eine Fernsehästhetik im Theater aussehen könnte, ist nämlich bis heute ungeklärt geblieben. Erste Versuche eines Medientransfers vom Bildschirm zur Bühne haben im Bereich des Jugendtheaters stattgefunden oder haben, wenn wir von den erwähnten Ausnahmen absehen, erst in der Inszenierung von als »visuelles Theater« ursprünglich nicht vorgesehenen Stücken konkrete Gestalt angenommen. Eine Ausnahme bildet diesbezüglich Enzensbergers Stück Nieder mit Goethe! (1996), das von seinem Autor programmatisch als Talkshow konzipiert wurde und deshalb im Folgenden als erstes vorgestellt werden soll. Unser zweites Beispiel bildet Arbeitlose oder Das Recht auf Arbeit von Rolf Hochhuth, dessen Inszenierung am Salzburger Landestheater (UA im Dezember 1999) durch den Regisseur Guido Huonder exemplarisch zeigt, wie stark der Einsatz einer Talkshow als dramaturgisches Verfahren die Wirkung eines Stückes auf das Publikum beeinflussen kann.
2 . H an s M ag n u s E n z e n sb e r g e r s N i e de r m i t G o et h e ! ( 1 9 9 6 ) Mitte der neunziger Jahre verfasst Hans Magnus Enzensberger ein kurzes satirisch-parodistisches Theaterstück mit dem Titel Nieder mit Goethe! Eine Liebeserklärung.26 Er nimmt die Auftragsarbeit für das Weimarer 24 Jochen Hörisch: Ende der Vorstellung. Die Poesie der Medien, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1999. 25 Alfred Andersch: »Für ein Fernsehen der Autoren«, in: Alfred Andersch, Gesammelte Werke in zehn Bänden. Kommentierte Ausgabe, hrsg. von Dieter Lamping, Bd. 7: Essayistische Schriften 2, Zürich: Diogenes 2004, S. 329-336; Manfred Durzak (Hg.): Literatur auf dem Bildschirm. Analysen und Gespräche mit Leopold Ahlsen u. a., Tübingen: Niemeyer 1989. 26 Hans Magnus Enzensberger: Nieder mit Goethe! Eine Liebeserklärung. Requiem für eine romantische Frau. Ein Liebeskampf in sieben Sätzen, Frankfurt am Main: Verlag der Autoren 1995. Später abgedruckt in: Hans Magnus Enzensberger: Dialoge zwischen Unsterblichen, Lebendigen und Toten, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004, S. 95-130. Aus dieser Ausgabe wird im Folgenden mit Seitenzahl in Klammern im laufenden Text zitiert. 243
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Kunstfest 1996 zum Anlass, seine Reflexionen über das Verhältnis zwischen der Literatur und den anderen Medien fortzusetzen, indem er eine Talkshow in die Zeit des Biedermeiers zurückversetzt. In dem Nachwort zum Stück geht er den Widersprüchen und Paradoxien der Mediengeschichte nach. In erster Linie findet er es beachtenswert, dass die Literatur zwar ihre Rolle als Leitmedium in der Gegenwart eingebüßt habe und nun als ein Aufschreibsystem unter anderen fungiere27, dass aber zugleich »dem massiven Einsatz der elektronischen Simultanmedien nicht gelungen« sei, »uns die anachronistischen Geister, die wir Dichter nennen, auszutreiben« (130). Totgesagte leben länger, meint nun jemand, dem nachgesagt wurde, Mitte der sechziger Jahre selbst den Tod der Literatur angekündigt zu haben. In der Zeit der entfesselten Mediengesellschaft verdanken die Werke der Literatur, vor allem die klassischen, ihr Überleben, so Enzensberger mit einem Seitenblick auf Nietzsche, nicht ihrer Aktualität, sondern umgekehrt jenem »Rest, der für uns als ungleichzeitige Ressource in Betracht kommt« (129). Damit wertet er die »Ungleichzeitigkeit« (127) als geheimes Zentrum einer Lebenskunst, welche die übertriebene Fortschrittsgläubigkeit bzw. die einseitige Orientierung an der Zukunft korrigiert: Hatte Botho Strauß den Anachronismus als wirksames Mittel gefeiert, sich der »Totalherrschaft der Gegenwart« zu entziehen, wundert sich nun Enzensberger auf ähnliche Weise nicht, dass selbst »die Fundamentalisten des Fortschritts« (127) das nicht Zeitgemäße in seiner Entlastungsfunktion als »unentbehrliche[m] Psychofarmakon der technischen Zivilisation« (127) brauchen. Dementsprechend setzt er den Anachronismus als literarisches Verfahren bewusst ein und macht die erfundenen Dialoge zwischen Unsterblichen, Lebendigen und Toten (1994) zum Prisma, an dem sich der Zeitgeist bricht und seine merkwürdigsten und widersprüchlichsten Gesichter zeigt: Ob sich der chinesische Philosoph Zhuangzi mit einem seit 500 Jahren toten Mann unterhält, Diderot einem Interviewer aus der Gegenwart Rede und Antwort steht oder über die Persönlichkeit Goethes in einer Talkshow debattiert wird, immer geht es Enzensberger darum, sich und seinen Lesern durch Ironie die notwendige Distanz zu einer in sich selbst und in die eigenen Illusionen verliebten Gesellschaft zu schaffen. In Anschluss daran stellt er das traditionelle Oppositionsverhältnis von Literatur und Medien auf den Kopf, indem er behauptet, dass die klassischen Dichter im Grunde selbst Medien waren, deren »Geistesunterhaltungen […] Vermittlungen [her]stellten, die sich lange Zeit als mustergültig erwiesen haben« (128). Diesbezüglich betrachtet er Goethe als »Experimentator und Versuchsperson« (128) in der Erforschung der 27 Vgl. Friedrich A. Kittler: Aufschreibsysteme 1800-1900, München: Fink 1985. 244
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Grenzen zwischen Öffentlichem und Privatem bzw. in der Suche nach dem Geheimnis der Persönlichkeit. Da der Kampf der Klassiker gegen den Zeitgeist nach und nach von der Kulturindustrie integriert worden ist und selbst ihre skandalträchtigsten Werke zur genießbaren Lektüre für das Bildungsbürgertum mutiert sind, will Enzensberger in Erinnerung rufen, dass sie mit ihren Provokationen und Experimenten zu Lebzeiten regelmäßig auf Widerspruch und Ablehnung stießen. Die tief verwurzelte Aversion gegen Goethe und den zugrunde liegenden Neid auf seinen Erfolg macht er zum zentralen Thema in seinem Stück, in dem er dokumentarische Treue mit Erfindungslust insofern effektvoll verbindet, als er zwar imaginierte Gäste in seiner Talkshow in Biedermeier-Ambiente auftreten lässt, die von ihnen ausgesprochenen bösartigen Urteile aus Briefen und Zeugnissen von Goethes Zeitgenossen hingegen wörtlich übernimmt. Während die Talkshow läuft, ist der Dichterfürst anwesend, er beteiligt sich aber nicht an den Gesprächen und bleibt weitgehend im Hintergrund. Lediglich im Vorspann erhebt er seine »souveräne, gelassene […] Stimme«, um sich an die Nachgeborenen zu wenden: Da man mich aus der allgemeinen Literatur und der besonderen der Deutschen jetzt und künftig, wie es scheint, nicht loswird, so wird es dem Geschichtsfreunde gewiß nicht unangenehm sein, auf eine bequeme Weise zu erfahren, wie es in unsern Tagen ausgesehen und welche Geister darinnen gewaltet. (99)
Während des Stückes lässt er die wildesten Beschimpfungen durch zwei ehemalige Freunde und zwei ihm verbundene Frauen – vier eminenten Repräsentanten der Weimarer Gesellschaft an der Schwelle des 18. zum 19. Jahrhundert – über sich ergehen. Weder lässt er sich aus der Fassung bringen, als er von ihnen mit großen Falten unter den Augen, Hamsterbacken und Doppelkinn sowie mit hervorstehendem Bauch (101) oder »kurzen Armen« (102) beschrieben wird. Noch fällt er aus der Rolle, als er als Frauenverführer und »Egoist« (105) tituliert wird, der »Grimm, Bosheit und Tücke im Herzen« (108) mit sich trägt, oder zum »abscheulichen Theaterdirektor« und »Faktotum des Weimarischen« (109) herabgesetzt wird, der selbst seinen Beruf als Dichter verfehlt hat. Nicht einmal die ärgsten Lästerungen über sein Werk (116 f.) – die Degradierung des Werther zur »Lockspeise des Satans«, der Wahlverwandtschaften zu einem »Unflat«, des Faust zu einem »schlechte[n] Gereimsel« und des Wilhelm Meister zu einem »alte[n] Schutt, aus Cottas Taschenkalender zusammengeschrieben« – bringen ihn dazu, verbal zu reagieren. Stattdessen wohnt er mit stoischer Geduld bei, wie sich eine der Damen, die ihm offensichtlich verfallen ist, vor seinen Augen betrinkt, als sich das Gerücht verbreitet, dass er schwerkrank sei. Als die dramatische Ent245
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wicklung mit diesen peinlichen Vorfällen ihren Höhepunkt erreicht hat, wird die Nachricht von seiner Krankheit dementiert. Somit ist die Gefahr einer frühzeitigen Unterbrechung der Sendung gebannt, die Show kann mit den letzten Beleidigungen und Verleumdungen zu Ende gehen. Die Uraufführung des Stückes in Weimar am 29. Juli 1996 ist insofern eine Weltpremiere, als sie nicht nur gleichzeitig im Theater und im Fernsehen (3Sat) stattfindet, sondern auch zum ersten Mal im weltweiten Computernetz ausgestrahlt wird. Die Talkshow-Gäste werden vom Regisseur erstklassig besetzt: Für die Rolle des Moderators hat er RTLLiebling Günther Jauch verpflichtet. Die zwei Damen, Liselotte von Stöckelmann, als Charlotte von Stein unschwer zu erkennen, und Karoline Herdelein, Vertreterin des kultivierten Bildungsbürgertums, werden von Hanna Schygulla und Nicole Heesters gespielt. Die zwei Herren im Gehrock – den alten Professor Friedrich Glauber und den jungen Zeitungskritiker Ludwig Birnbaum, alter ego von Ludwig Börne – geben Ulrich Wildgruber und Robert Hunger-Bühler. In seiner Inszenierung nützt der Regisseur Andreas Morell alle Möglichkeiten aus, um die komischen und parodistischen Effekte des Stückes verstärkt zur Geltung zu bringen: Durch die heftigen verbalen Kämpfe zwischen dem konservativen Großkritiker und dem Freigeist aus Leipzig, die sich mit jenen zwischen den beiden Damen mischen, soll nämlich eine Parodie des literarischen Quartetts entstehen. So bringt er den Hund Lucie, von Charlotte von Stein angeblich Luluchen genannt, als Shooting-Star auf die Bühne. Oder er lässt seine Besitzerin betrunken herumwandern und tollpatschig auf dem Schoß ihrer Mitrednerin enden. Wie vom Stück vorgesehen, lässt er eine Nummer einblenden, unter der die Zuschauer anrufen können, um sich an der Talkshow zu beteiligen. Er führt die Figur eines fahrenden jüdischen Händlers ein, um in den Talkpausen die Werbeblöcke mit Produkten aus der Goethezeit zu drehen. Am Schluss sucht er bewusst die Provokation: Während Enzensberger im Abspann Bilder vom Goethe-Grab vorgesehen hatte, lässt er in der Aufführung Filmaufnahmen von der Beerdigung Heiner Müllers in Berlin laufen, die ihn als den einzigen legitimen Erben von Goethe präsentieren sollen. Mit seiner Gratwanderung zwischen Theater und Fernsehen versucht sich Enzensberger an der Quadratur des Kreises. Seinen Bemühungen, anspruchvolles Theater einem größeren Publikum anzubieten und somit die Forderung eines emanzipatorischen Mediengebrauchs zu erfüllen, begegnen die Theaterkritiker mit wenig Verständnis. Wolfgang Ignée etwa spricht von einer »schleppenden Séance, besonders durch die Damen, in der man das Zischelnde des Klatsches ganz und gar vermisst« und rettet lediglich den Versuch des Regisseurs, »die kleine Show ins
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Lustig-Absurde hinüberkippen zu lassen«.28 Peter Michalzik geht ein Stück weiter und wertet das »Formexperiment« von Enzensberger als »Desaster«: Nicht nur war es in seinen Augen vom »heiligen Eifer moderner Talksendungen meilenweit entfernt«, sondern auch die Verbalkontrahenten »blieben so papiern, wie die Seiten, aus denen die Sätze stammen, die sie aussagen mußten«.29 Lothar Schmidt-Mühlich gesteht zwar Enzensberger zu, »einen gewissen Verfremdungseffekt« erreicht zu haben, vergleicht aber die Qualität seines Stückes mit jener einer gewöhnlichen Fernsehsendung: »[S]o witzig und unterhaltsam das Stück auch ist, es passt sich zwangsläufig dem Niveau derer an, die der Autor eigentlich bloßstellen wollte. Am Ende ist die Talkshow eben doch nur eine Talkshow«.30 Gundorf Freyermuth kann selbst für die Idee, das Stück ins Internet zu stellen, kein Wort der Zustimmung finden. Er deutet das Experiment als »Fehlstart«, weil der Autor »das Medium so schlecht [nutzt] wie einer, der seinen Porsche im Rückwärtsgang einen Mähdrescher übers Feld schieben lässt«: Durch die mangelnde Möglichkeit der Interaktion mit den Nutzern bleibe die Weimarer Seite »isoliert vom anarchisch wuchernden Informationsnetz«.31 Aus der Reihe der Kritiker
28 Wolfgang Ignée: »Schleppende Séance. Enzensbergers Collage ›Nieder mit Goethe‹ in Weimar«, in: Stuttgarter Zeitung vom 1.7.1996. 29 Peter Michalzik: »Peinlich«, in: Frankfurter Rundschau vom 1.7.1996. Rüdiger Scharper verwendet ein vergleichbares Argument: »Die geladenen Goethe-Experten, die Damen im hochgeschnürten weißen Kleid, die Herren im Gehrock, scheinen dagegen dem Theaterfundus entsprungen zu sein. Und so geziert verhalten sie sich auch, wie verwirrte Geister, die eine Zeitmaschine hier abgesetzt hat«. (Rüdiger Scharper: »Keine weißen Socken in der ersten Reihe. Enzensberger macht in Weimer kurzen Prozeß mit Goethe«, in: Süddeutsche Zeitung vom 1.7.1996). Den Mangel an Lebendigkeit kritisieren auch Siegfried Diehl (»Zoff aus dem Zettelkasten. Verbaler Unflat aus dem großherzoglichen Augiasstall: Hans Magnus Enzensberger ›Nieder mit Goethe!‹ in Weimar«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 1.7.1996) und Ute Grundmann. Diese resümiert: »Enzensberger hat die Zitate nicht zum Gespräch gemacht; seine Figuren dozieren, aber sie debattieren nicht […]«. (»Enzensbergers ›Nieder Mit Goethe!‹ in Weimar. Nur ein laues Lüftchen«, in: Rheinische Post vom 1.7.1996). 30 L. Schmidt-Mühlich: »Eine Liebeserklärung der besonderen Art. Günther Jauch moderiert Goethe und spielt sich selbst: Enzensberger-Uraufführung beim Kunstfest in Weimar«, in: Die Welt vom 1.7.1996. 31 Gundorf S. Freyermuth: »Aus Weimar rund um die Welt: Goethes cybernautische Sendung und ihre Tücken«, in: Süddeutsche Zeitung vom 1.7.1996. 247
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tanzt lediglich Siegfried Diehl, der bilanziert: »Kein großes Stück, aber ein intelligenter Scherz, ein Spiel mit Zeit und Persönlichkeit«.32 Durch dieses »Spiel mit Zeit und Persönlichkeit« möchte Enzensberger vor allem eine künstlerische Hommage an einen außerordentlichen Mann richten, den er für sein souveränes, durch Humor und Gelassenheit geprägtes Verhalten gegenüber Neid, Missgunst und Unverständnis tief bewundert. Goethes »anachronistische« Lektion besteht aus seiner Sicht in der Aufforderung an die Menschen, die im Rampenlicht stehen, seien sie Künstler oder Politiker, sich aus dem »Mediensumpf«33 heraus zu halten und sich lieber auf die eigene Arbeit zu konzentrieren, ohne Kompromisse einzugehen. So kann er sich dessen sicher sein, dass Goethe nie an einer Talkshow teilgenommen hätte, die er für die »Form, in der sich der Mensch am meisten blamiert«,34 hält. Wer sich nicht an diese Empfehlung hält, kann man schlussfolgern, dem geht es wie den GoetheBeschimpfern im Stück, die sich selbst durch ihre Sprache bzw. durch ihren Auftritt entlarven und bloßstellen.
3 . D as R e c h t au f A r be i t v o n Ro l f H o c h hu t h Unter den Zuschauern der Weimarer Aufführung von Nieder mit Goethe! saß auch der als Doyen und moralische Instanz des deutschen Theaters bekannte Rolf Hochhuth. Als er durch seine »martialische Miene«35 möglicherweise die Skepsis gegenüber der gewagten Inszenierung ausdrücken wollte, konnte er nicht ahnen, dass bald ein Werk von ihm eine solche Gestalt annehmen sollte. Dieses Schicksal war seinem Stück
32 Diehl: »Zoff aus dem Zettelkasten«. Nicht negativ fällt auch das Urteil von Frank Quilitzsch aus, der sich der Wertung enthält und feststellt: »›Rocky‹ Faust, das klassische Superschwergewicht, siegt klar nach Punkten, ohne die Matte überhaupt betreten zu haben«. (Frank Quilitzsch: »Kam nicht, sah nicht, aber siegte. Vom Weimarer Kunstfest-Talk unbezwungen: ›Rocky‹ Goethe«, in: Berliner Zeitung vom 1.7.1996). Ralph Gambihler begründet hingegen sein Lob mit dem falschen Argument. Er möchte dem Stück »was erfrischend Ehrfurchtsloses« attestieren, indem er Enzensberger fälschlicherweise die Absicht zuschreibt, den »Mief um den Meister« vertreiben zu wollen. (Ralph Gambihler: »Wortreiches Stochern ums Klassikerdenkmal«, in: Leipziger Volkszeitung vom 1.7.1996). 33 Hans Magnus Enzensberger: »Goethe auf den Hintertreppen der Klassik«, in: Hans Magnus Enzensberger, Zu große Fragen. Interviews und Gespräche 2005-1970, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2005, S. 69-78, hier S. 73. 34 Ebd., S. 76. 35 Quilitzsch: »Kam nicht, sah nicht, aber siegte«. 248
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Arbeitslose beschieden, einem Auftragswerk für das Salzburger Landestheater.36 Darin erprobt Hochhuth eine dramaturgische Konstellation, die zwei Kategorien von Menschen gegenüberstellt: zum einen »die Arbeitslosen von heute«, »Jedermann und Jederfrau, sozusagen«, die er für die »Helden des Stückes« hielt, und zum anderen diejenigen, die »sie arbeitslos machen«: »die Wirtschaftsbosse, die Börsianer, die Banker«.37 Den ursprünglichen Titel Arbeitslose ergänzt der Autor im Laufe der Arbeit durch den Zusatz Oder das Recht auf Arbeit, weil ›Arbeitslose‹, wie er in einer für den Intendanten verfassten Notiz meint, zu resignierend, zu traurig, ja lähmend sei – während »›Das Recht auf Arbeit‹ appellativ Berechtigtes fordert, also den Zuschauer aktiviert zum Mitmachen!« Aus Hochhuths Sicht ist der Untertitel auch deshalb gerechtfertigt, weil er dieses Recht in der Verfassung verankert sehen will, wie es früher in der DDR der Fall war. So beherrscht der Kampf um die Durchsetzung dieses Anspruchs das ganze Stück – von der ersten Szene, in der eine entlassene Anwältin ihn vehement verteidigt, über kontroverse Diskussionen bis zum Schluss, in dem die Forderung vor dem Bundesverfassungsgericht vorgetragen wird. Dass ein solcher Gesetzesantrag jedoch von den Karlsruher Richtern abgelehnt wird, mindert keineswegs die Intensität des Pathos, mit dem Hochhuth für das Recht auf Arbeit eintritt, um gegen die Brutalität des neoliberalen Kapitalismus, des so genannten Turbokapitalismus, zu protestieren, insbesondere gegen die großen Konzerne und ihre Aktionäre, die hohe Gewinne erzielen und trotzdem viele Mitarbeiter entlassen. Als es zur Aufführung kommt, entscheidet sich der Schweizer Regisseur Guido Huonder für eine Einbettung der Szenen in eine Talkshow mit einem realen Talkshow-Moderator, für den er Marc Zimmermann vorsieht, das etwas weniger prominente österreichische Pendant zu Günther Jauch. Außerdem baut er in Zusammenarbeit mit einem Wiener Kabarettisten Änderungen in den Text ein. Da die Einbettung in eine Talkshow sowie die Textveränderungen keine Spur in der schriftlichen Fassung hinterlassen, ist es legitim, von einer »Salzburger Inszenierung« zu 36 Zu diesem Auftrag kam es im Jahre 1999, als Rolf Hochhuth eine Rede mit dem programmatischen Brechtschen Titel »Erst kommt das Fressen…« in Salzburg hielt und das Thema der Arbeitslosigkeit – als wichtigstes Thema der Gegenwart – den Gegenwartsdramatikern dringend empfahl. Der anwesende Intendant des Salzburger Landestheaters beauftragte ihn spontan in der anschließenden Diskussion, für das Jahr 2000 ein Stück mit diesem Thema für das Landestheater zu schreiben. 37 Vgl. Renate Wagner: »Nicht die Politik, die Wirtschaft ist unser Los. Rolf Hochhuths jüngstes Stück Arbeitslose oder Das Recht auf Arbeit erlebt am Salzburger Landestheater seine Uraufführung«, in: Bühne 1999/12, S. 52. 249
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sprechen.38 Offiziell wurden die Einrahmung und die Texteingriffe mit zwei Argumenten gerechtfertigt: zum einen mit dem Hinweis, dass einige Szenen – etwa die erste, die in einem ICE spielt – dramaturgisch schwer umzusetzen waren, und zum anderen mit der Notwenigkeit, das Stück, das vom Autor für ein deutsches Publikum geschrieben wurde, für das österreichische Publikum zu adaptieren.39 Zum ersten Punkt sei noch der Umstand erwähnt, dass Hochhuth im Stück eine lange Reihe von Fakten zitiert, um seine These von der Menschenfeindlichkeit der Wirtschaft zu untermauern, und dass dieses ständige Zitieren ebenfalls ein Problem für die Regie darstellt. In der Salzburger Inszenierung muss deshalb der Showmaster ständig unterbrechen und dem Publikum mit Erklärungen unter die Arme greifen, was das Stück schwerfällig und langatmig macht. Dies ist ganz sicher eine Schwäche auch der Salzburger Inszenierung. Dazu kommt die Schwierigkeit, ein Stück über Arbeitslosigkeit, das für ein Land mit fünf Millionen Erwerbslosen geschrieben wurde, in einem Land zu inszenieren, wo Arbeitslosigkeit sicher nicht das soziale Problem Nummer Eins im Bewusstsein der Menschen ist. Diese kulturellen Unterschiede erklären, warum sich der Regisseur etwas Originelles einfallen lassen musste, und auch, warum Hochhuth, der im Jahre 2003 eine Art Fortsetzung zu Arbeitslose mit dem Titel McKinsey kommt geschrieben hat40, das Nachfolgestück in der früheren DDR hat aufführen lassen, wo die Sensibilität für das Arbeitslosenproblem sicher viel größer war und ist.41 38 Rolf Hochhuth: »Das Recht auf Arbeit«, in: Rolf Hochhuth, Das Recht auf Arbeit. Nachtmusik. Zwei Stücke, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2000, S. 7-139. 39 Der Vorwurf an die Adresse Hochhuths, dass seine Stücke wegen der Fülle an Materialien und Belegen eher den Charakter von Lesestücken haben, hängt mit dem aufklärerischen Impetus des Autors zusammen. Hochhuth, der schon nach dem Erscheinen des Stellvertreters damit konfrontiert wurde, steht zu seinem didaktischen Engagement, weil er auch für diejenigen schreiben will, die die Aufführungen seiner Stücke nicht besuchen, und fühlt sich bei seinen Lesungen von seinem Publikum darin bestätigt. Vgl. Renate Wagner: »Nicht die Politik, die Wirtschaft ist unser Los«. 40 Rolf Hochhuth: »McKinsey kommt«, in: Rolf Hochhuth, McKinsey kommt. Molières Tartuffe. Zwei Theaterstücke. Mit einem Essay von Gert Ueding, München: dtv 2004, S. 7-79. 41 In der Tat war die damalige Inszenierung eine Notlösung: Der Regisseur machte gewissermaßen aus der Not eine Tugend, da Hochhuth den Text nur stückweise und mit großer Verspätung lieferte. Als der Termin der Uraufführung im Dezember 1999 näher kam und der Text nicht vollständig vorlag, musste der Regisseur sehr frei agieren, zumal Hochhuth mit der Aufführung von Wessis in Weimar in Deutschland beschäftigt war. 250
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Die mediale Resonanz auf die Uraufführung im Dezember 1999 war groß. In den meisten Zeitungskritiken wurde eine Unterscheidung zwischen dem Stück von Hochhuth und der Interpretation des Regisseurs gemacht. In der Regel wurde ersteres scharf attackiert, während die Arbeit des Regisseurs gerettet wurde. In einigen Fällen wurden beide an den Pranger gestellt. Positive Kritiken bildeten ähnlich wie bei Enzensberger die Ausnahme. Franz Mayrhofer zum Beispiel sieht in der Aufführung ein echtes »Desaster«. Zwar sei das Stück »ein scharfer, vergrößender Spiegel der Realität«, aber der Autor konfrontiere das Publikum mit einer bloßen »Materialsammlung«, die trotz der Bemühungen des Regisseurs »roh, zu wenig bearbeitet« bleibt.42 Dies ist auch der Tenor der von Hans Langwallner verfassten Kritik, der zwar den Versuch des Inszenierungsteams schätzt, aus dem »schnarchfade[n] Exzerpt aus Wirtschaftsseiten der Medien« ein lebendiges Stück zu machen43, letztlich aber eine ernüchternde Bilanz zieht: »Für Hochhuths Stück müsste man den Konkurs anmelden. Ob es sanierungsfähig ist, bliebt zweifelhaft«.44 Diesen Einwänden fügt Michael Skasa noch einen wichtigen Aspekt hinzu. Wie seine Kollegen billigt er zwar den Umstand, dass der Regisseur »das Hochhuthwerk zur TV-Talkshow« umgearbeitet hat, auch wenn einige Szenen aus diesem Rahmen heraus fielen, aber er findet, dass Huonder mit seinem Versuch auf halbem Weg stehen geblieben ist, weil er keine Risikobereitschaft, keine Radikalität an den Tag gelegt habe. Wäre er in der Anwendung seiner Strategie konsequent und mutig genug gewesen, setzt Skasa seine Überlegungen fort, wäre aus der Talkshow eine
42 Franz Mayrhofer: »Hochhuth-Desaster«, in: Die Furche vom 6.12.1999. 43 Vgl. folgendes Zitat: »Der Talkshow-Rahmen und die Logen-Szenen mit Opa plus Enkelin […] sind zumindest der hübsche harmlose Versuch, die dürren Texte facettenreicher anzulegen, ihnen komplexere Ebenen zu geben und in dieser medialen Verdoppelung den Zynismus gegenwärtiger ›Gewinner‹ offenzulegen«. (Hans Langwallner: »Ein konkursreifes IdeenKapital«, in: Die Kronen-Zeitung vom 6.12.1999, S. 28). 44 Ebd. Ähnlich differenziert ist die Position von Reinhard Kriechbaum. Mit Blick auf den Wechsel von Spielszenen, Video-Einspielungen und Kommentaren von den Logen attestiert er dem Regisseur: »Das hat schon in der Muppet-Show funktioniert, aber die war literarisch gelungener«. Jedoch stellt er resignierend fest: »[…] welcher Schauspieler könnte so staubtrockenen Texten auch nur Spurenelemente von Leben einhauchen?« (Reinhard Kriechbaum: »Der Papiermüll politischer Halbbildung. ›Arbeitslose oder das Recht auf Arbeit‹: Uraufführung eines Stückes von Rolf Hochhuth im Salzburger Landestheater«, in: Trostberger Tagblatt vom 7.12.1999). 251
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richtige Show geworden, ein richtiges Kabarett, eine richtige Burleske.45 Dass dem Stück die verbindenden und provokativen Elemente fehlen, will Skasa durch den Vergleich zwischen den Arbeitslosen und dem Don Carlos verdeutlichen. Während Hochhuths Stück abstrakt, langsam und fragmentarisch bleibe, sei sein Weimarer Vorbild im Stande gewesen, elementare Leidenschaften vorzuführen und packende, die Zuschauer fesselnde Konflikte zu entfachen: Hat Schiller […] etwa Prinz und Posa Leichenzahlen und Grenzhändel auflisten lassen, Zitate von Kirchenvätern, Herzögen und Fuggern an Köpfe geworfen und dies ein »Trauerspiel« genannt? Nein, er hat den »Don Carlos« geschrieben, und man erfuhr von Elend und Unrecht und Liebe und Hass.46
Einige Kritiker gehen mit ihren negativen Urteilen noch weiter. So spricht Hans Haider von einem »dramatischen Traktat, abgesichert mit Zitaten aus Presse, Politik, Justiz«. Und fügt hinzu: »Ein Drama, das zur Befriedigung seines Erklärungsbedarfs in den Rahmen einer TVTalkshow eingezwängt werden muß mit einem Talk-Master als politischhistorischen Ausdeuter des Gesagten – ein solches sollte ohne Dank dem Autor zurückgegeben werden!«47 Lothar Lohs hält den Text von Hochhuth für so schlecht, dass kein Versuch, ihn zu retten, vom Erfolg ge-
45 Michael Skasa schreibt: »Zu retten wäre der Text auch damit nicht, aber wenigstens über die Runden und über die Rampe ließe er sich bringen. So dagegen klebte er und lahmte die traurige Faktenpampe, durch keinen Gedanken verbunden oder gar vertieft oder gar zum Denken in uns gebracht, durch keinen Geisteskampf spannend, durch keine Burleske wild gemacht«. (Michael Skasa: »Die Talgschau. Auftragtheater II: Die HochhuthUraufführung ›Arbeitslose oder Das Recht auf Arbeit‹ in Salzburg«, in: Süddeutsche Zeitung Nr. 282 vom 6.12.1999). 46 Ebd. Der Rezensent des Rheinischen Merkur (Nr. 50/1999, S. 17) sieht ebenfalls die Möglichkeit der Entstehung von echten Konflikten negiert: Hochhuth habe kein Gespür für Zwischentöne und komme über eine banale Schwarz-Weiss-Malerei nicht hinaus, da er »keine bedenkenswerten Gegenargumente [erlaubt]. Alles hat richtig oder falsch zu sein. Da verhilft auch kein Kinderchor, kein faschistischer Opa und kein Regisseur der Totgeburt zum Leben«. Den Vorwurf der mangelnden Radikalität akzentuiert auch die Kritik von Paul Kruntorad, der Huonders Ansatz lediglich »eine gewisse Plausibilität« konzediert. (Paul Kruntorad: »Gib ihm die Arbeitsloskugel. Rolf Hochhuths ›Arbeitslose‹ im Salzburger Landestheater uraufgeführt«, in: Frankfurter Rundschau vom 7.12.1999). 47 Hans Haider: »Salzburgs politischer Talk-Stadel«, in: Die Presse vom 6.12.1999. 252
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krönt sein könne.48 Er schlägt ihn sogar als Preisträger für das schlechteste Stück des Jahrhunderts vor. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass auf jeden Fall den Kritikern zuzustimmen ist, wenn sie Huonders Versuch würdigen, »die als Thesen konstruierten Rollenskeletten mit wenigstens etwas Theatermuskulatur aus[zustatten]«49 und exemplarische Menschenschicksale zu gestalten. Nachdem der Regisseur die Gefahr der Abstraktion anerkannt hatte, führte er aus gutem Grund den Rahmen einer Talkshow ein, um durch die vom Moderator geführten Gespräche sowohl das hohe Pathos in Grenzen zu halten als auch eine größere Lebendigkeit, Unmittelbarkeit und Publikumsfreundlichkeit zu erzielen. Durch sein Konzept wollte er aber auch die Erkenntnis vermitteln – und das ist kaum in den Zeitungen registriert worden –, dass man nicht über Politik reden kann, ohne deren mediale Vermittlung zu thematisieren: Der Zynismus von Wirtschaft und Politik erscheint ihm in unserer Spaßgesellschaft nur als die andere Seite des Zynismus der Medien; die fehlende Verantwortung von Bankern und Politikern spiegelt sich aus seiner Sicht in jener der Journalisten und Fernsehmacher, die nur an Zuschauerquoten interessiert sind, Politik zu Infotainment degradieren und die politische Apathie nähren. In dieser Logik funktionieren kapitalistische Wirtschaft, skrupellose Politik und fragwürdiges Fernsehen wie ein perfekt abgestimmtes System kommunizierender Röhren. Nennen wir einige Beispiele für die Art und Weise, wie der Regisseur diese Problematik akzentuiert und somit ein Stück weit über die Intentionen des Autors hinausgeht. In der Salzburger Inszenierung hat er sich ein kurzes Vorspiel erdacht, in dem der Moderator im Vorfeld der Show Witze über Arbeitslose erzählt, um das Publikum bei Laune zu halten, und den Zuschauern erklärt, wie sie zu klatschen haben, wenn die Gäste – also die Arbeitslosen – auftreten. Wenn der Moderator »Eine Sendung mit Herz« verspricht, ist das ebenfalls ironisch oder sarkastisch zu verstehen, denn das Herz, von dem hier die Rede ist, verweist auf das ›kalte Herz‹ der Politiker in ihrem Umgang mit dem Problem der Arbeitslosigkeit und spielt auf die ›kalte Schulter‹ an, welche am Schluss
48 Lohs schreibt: »Der Text Hochhuths verwandelt die Show mühelos in den müden Abklatsch einer Form, die das Theater so nicht leisten kann, sondern es ganz im Gegenteil lächerlich macht. Auch die Schauspieler tragen ihre Haut todesmutig zu Markte, sie kämpfen heldenhaft, aber sie haben keine Chance«. (Lothar Lohs: »Hochhuth reitet weiter. Die Uraufführung von ›Arbeitslose oder Das Recht auf Arbeit‹ am Salzburger Landestheater«, in: Bühne 2000/1, S. 53). 49 Kruntorad: »Gib ihm die Arbeitsloskugel«. 253
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die Karlsruher Richter den Befürwortern einer gesetzlichen Verankerung des Rechts auf Arbeit zeigen. Unter diesen Prämissen konnte der Auftritt von Arbeitslosen in einer Show zur öffentlichen Unterhaltung nur Befremden beim Publikum auslösen. Durch den Rahmen der Talkshow versetzte der Regisseur die Zuschauer in die Rolle von Menschen, welche die Sendung nicht vor dem Bildschirm, sondern an Ort und Stelle des Geschehens verfolgen, und verursachte ihnen dadurch ein gewisses Unbehagen, weil die meisten mit einer unerwarteten Situation konfrontiert wurden und nicht dafür bezahlt waren, um zu applaudieren.50 Dadurch wollte Huonder sie dazu bringen, über ihren eigenen ›anästhetisierten‹, gleichgültigen Umgang mit dramatischen Nachrichten aus der Wirtschaft nachzudenken. Das programmatische Ziel seines Kraftaktes war die Des-automatisierung der moralischen Wahrnehmung. Mit anderen Worten, er beabsichtigte, den von Botho Strauß beschworenen »gewaltigen Ausbruch gegen den Sinnesbetrug« in Gang zu bringen, um den Bann des »Schaugewerbes« zugunsten einer moralischen Sensibilisierung zu brechen – in der Hoffung, dass die Zuschauer ihr moralisches Bewusstsein wieder finden und wieder fähig werden, sich zu empören, wenn sie skandalöse Nachrichten wie etwa von ungerechtfertigten Massenentlassungen hören. Ob Huonders Versuch ästhetisch voll aufgegangen ist, darüber lässt sich streiten; unsere Aufmerksamkeit verdient sein dramaturgisches Konzept auf jeden Fall. Seine Strategie, durch die Talkshow-Idee den Zuschauern den Spiegel vorzuhalten, damit sie sehen, was die Medien aus ihnen machen, nämlich moralisch unsensible Menschen, entbehrt nicht einer gewissen Subtilität. Dazu kommt, dass er durch sein Programm, die ideologischen Inhalte des Stückes zu vermitteln und, parallel dazu, einen Reflexionsprozess über die Medien auszulösen, mit Sicherheit rechnen konnte, dem Geist von Hochhuth treu zu bleiben, denn beide waren von der gleichen Hoffnung inspiriert, mit dem Stück die Zuschauer aus dem moralischen Winterschlaf wachzurütteln und aus ihnen wieder moralisch empfindende Menschen zu machen.
4 . Z u s am m e n f as s u n g u n d A u s b l i c k Je nach der Haltung, welche Autoren und Intellektuelle in der Frage der Nützlichkeit der technologischen Medien für die Literatur bzw. des Fernsehens für das Theater annehmen, lässt sich von »Apokalyptikern« und »Integrierten« sprechen. Erstere deuten die Allgegenwart der Medien in 50 Werner Thuswaldner: »Nur Rohmaterial für ein Stück«, in: Salzburger Nachrichten vom 6.12.1999. 254
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unserem Alltag als Symptom des generellen Verfalls und prognostizieren infolgedessen den drohenden Untergang unserer Kultur. Die andere Seite begegnet hingegen den massenmedialen Phänomenen mit einem distanzierteren und neugierigeren Blick, indem sie darin einen entscheidenden Faktor unseres Lebens erkennt, der sowohl unsere täglichen Gewohnheiten als auch die Produktionsbedingungen von Kunst und Kultur maßgeblich beeinflusst. Während die Apokalyptiker ihre Kassandra-Rufe ertönen lassen, machen die »Integrierten« die Forderung geltend, das Schreiben den von den neuen Medien indizierten Veränderungen der Wahrnehmung anzupassen und sich der darin verwendeten formalen Strukturen bzw. Narrative schöpferisch zu bedienen. Mit seinen frühen Essays und vor allem mit seinem Abgesang auf die deutsche Kultur im Jahre 1993 hat sich Botho Strauß in eine Reihe mit den radikalen Skeptikern gestellt und nach und nach einen apokalyptischen Ton in der Literaturszene bzw. in den Feuilletons durchgesetzt, der bis in die unmittelbare Gegenwart seine Nachahmer gefunden hat. Seine Polemik gegen die Talkshow-Gesellschaft und gegen das Fernsehen ist mittlerweile zu einem grenzübergreifenden Phänomen avanciert, wie die Beispiele des Österreichers Enzinger und des Italieners Doninelli zeigen. Ob man mehr die moralische Bedenklichkeit der Talkshow-Sendungen unterstreicht, wie ersterer es tut, oder im Sinne Doninellis den »Verlust an kritischem Bewusstsein«, den »blinden Gehorsam« und den »einfachen Konsens«51 eher unterstreicht, die aus einem falschen Umgang mit dem Fernsehen resultieren können, immer ist von einem »unwideruflichen Zerfall« implizit oder explizit die Rede, wobei die Apokalyptiker die Existenz einer Gemeinschaft von ›Übermenschen‹ erahnen [lassen], die sich über die Banalität und den ›Durchschnitt‹ zu erheben vermögen (und sei es durch Ablehnung) – im Extremfall die auserwählte community des Schreibenden und des Lesenden, ›wir beide, du und ich – die einzigen, die verstanden haben und gerettet sind; die einzigen, die nicht Masse sind‹.52
Zu der Gruppe derjenigen hingegen, die »ihre Botschaften in unbefangener Leichtigkeit, tagtäglich und auf allen Ebenen [erzeugen und übermitteln]«53, gehören idealiter Hans Magnus Enzensberger und der Regisseur Guido Huonder. Mit seiner Rede vom Fernsehen als einem »Nullmedium«, die seine in den fünfziger und sechziger Jahren scharf geführte 51 Doninelli: Talk Show, S. 8. 52 Umberto Eco: »Einleitung«, in: Umberto Eco, Apokalyptiker und Integrierte. Zur kritischen Kultur der Massenmedien, aus dem. Ital. von Max Looser, Frankfurt am Main: Fischer 1986, S. 15-35, hier S. 16-17. 53 Ebd. 255
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Polemik gegen die »Bewusstseinsindustrie«54 abgelöst und die Klagen über den Missbrauch der Medien relativiert hat, hat Enzensberger den theoretischen Rahmen für eine breite Akzeptanz der Telemedien und für eine produktive Interaktion zwischen Fernsehen und Theater geschaffen. Seine Position setzt der Autor in die Praxis um, indem er die formalen Muster der Talkshow für das Stück Nieder mit Goethe! adaptiert, wodurch der Prototyp einer neuen, auf der Affinität mit dem Fernsehen basierenden Form von Theater entsteht. Während die Verwendung von Talkshow-Strukturen bei Enzensberger wesentlicher Teil der dramatischen Konzeption ist, war sie im Stück von Hochhuth ursprünglich nicht vorgesehen und hat erst in der Salzburger Inszenierung durch Guido Huonder stattgefunden. Wenn man den meisten Zeitungskritiken folgt, ist es dem Regisseur gelungen, einem maßgeblich für das Lesen konzipierten Stück dramatische Qualitäten zu verleihen: Die Langatmigkeit und Umständlichkeit der Gespräche, die in den Intentionen des Autors der Plausibilisierung seiner gegen den »Turbokapitalismus« gerichteten Thesen dienten, seien durch die Einbettung in einen Talkshow-Rahmen zumindest partiell aufgehoben worden. Die Anlehnung an eine Talkshow-Sendung habe den Effekt sortiert, so der Tenor mehrerer Stellungnahmen, dass aus einem langweiligen Traktat ein akzeptables Stück geworden sei. Aufgrund ihrer Zielsetzungen kann die Inszenierungsarbeit für Guido Huonder als repräsentativ für die all jener Theatermacher gelten, die in erster Linie Publikumswirksamkeit im Auge haben und sich, wenn sie nicht programmatisch für das Jugendtheater arbeiten, an die jüngeren Zuschauer wenden. Sobald die konsolidierten Rituale einer Talkshow der Unmittelbarkeit einer Theatersituation ausgesetzt sind, werden sie vergrößert und erzeugen dadurch einen ironischen Effekt. Auf der Bühne wohnen wir dadurch einer besonderen Form von Theater im Theater bei, die bei Huonder durch die erfundenen Dialoge zwischen der »Enkelin« auf der Bühne und dem sich in der Loge befindenen »Großvater« im ersten Akt um eine weitere Stufe potenziert wird. Sowohl bei Enzensberger als auch bei Huonder setzt die Verwendung von Talkshow-Strukturen einen Verfremdungseffekt in Gang, der destabilisierend und verunsichernd wirkt. Jenseits der Differenzen ist den Arbeiten von Enzensberger und Huonder gemeinsam, dass sie einen ungewöhnlichen Blick auf unseren Alltag werfen und uns dazu zwingen, die Selbstverständlichkeit unserer Überzeugungen und Verhaltensweisen zu überdenken. Beide halten uns einen Spiegel vor, indem sie unseren konsolidierten Umgang mit den Telemedien in Frage stellen, wie aufgeklärt und reflektiert dieser auch sein mag. 54 Vgl. Hans Magnus Enzensberger: Einzelheiten I. Bewußtseins-Industrie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1964. 256
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Unabhängig davon, ob ihre dramaturgischen »Formexperimente« gelungen sind oder nicht, ist auf jeden Fall festzustellen, dass ihr Beispiel bereits Nachahmer gefunden hat. Im Sommer 2008 wurde nämlich in Berlin das Stück Der braune Rucksack von Patrick Wengenroth als Parodie einer zwei Jahre früher tatsächlich ausgestrahlten BeckmannSendung zum Thema »Nationalstolz« aufgeführt. Hier wurden die prominenten Talkshow-Gäste – darunter der Spiegel-Kulturchef Matthias Matussek, der Schauspieler Til Schweiger oder der Politiker Gregor Gysi – dazu gebracht, sich selbst durch ihre Sprache als dumme und arrogante Wichtigtuer zu entlarven. Dazu bediente sich der Regisseur verunglückter Statements, die aus ihrem sprachlichen Kontext herausgerissen und verfremdet wurden, oder echter Versprecher. Heraus kamen Sätze wie »Mein Leistungsanteil an dem, was Goethe geschrieben hat, ist gleich null« oder »Ich habe nichts gegen eine gescheiterte Revolution, nur war die eben nicht erfolgreich«, in denen die Ironie ins Absurde abgleitet.55 Wie unterschiedlich auch die Urteile über die Experimente von Enzensberger und Huonder ausgefallen sind, es ist nicht zu leugnen, dass sie Zeichen in Richtung einer Annäherung von Literatur und Fernsehen setzen. Wer optimistischer sein möchte, könnte sogar behaupten, dass sie möglicherweise die Weichen für die Bildung einer Fernsehästhetik im Theater stellen, die über die bloße Anwendung von Talkshow-Strukturen hinausgeht. Die wichtigste Voraussetzung für die Entfaltung einer solchen intermedialen Ästhetik ist, dass Fernsehen endlich von den negativen Vorurteilen befreit wird und als eine »individuell gestaltbare, als eine von Künstlern nutzbare ästhetische Technik in Erscheinung«56 treten kann. Während Fernsehästhetik bisher hauptsächlich für Fragen der Literaturverfilmung relevant war, lassen sich in letzter Zeit Anzeichen dafür beobachten, dass sie sich langsam auch auf dem Gebiet des Theaters durchsetzt. So hat zum Beispiel der Wiener Verein Thearte im Oktober 2008 das »Double [ein]er Seifenoper«57 im Theater geschaffen, indem er 55 In diesem Zusammenhang ist auch die dramatische Adaptierung des Filmes Talk Radio (1988) am Theater in der Josefstadt (Rabenhof) durch den Regisseur Klaus Rohrmoser im Jahr 1995 zu erwähnen. Die Vorlage stammt vom Amerikaner Eric Bogosian, der seinen Text über den zynischen Radiomoderator Barry Champlain ursprünglich als Komödie konzipiert hatte. 56 Knut Hickethier: »Fernsehästhetik. Kunst im Programm oder Programmkunst?«, in: Joachim Paech (Hg.), Film, Fernsehen, Video und die Künste. Strategien der Intermedialität, Stuttgart: Metzler 1994, S. 190-213, hier S. 190. 57 Vgl. Margarete Affenzeller: »Das Double der Seifenoper. Theater für junges Publikum bedient sich an der Fernsehästhetik: neues Format und alte Effekte«, in: Der Standard vom 13.10.2008, S. 20. 257
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die in sechs Folgen angelegte Serie Zeitlos schön (Buch: Reinhold Stumpf) auf offener Bühne erprobt hat. Ob die Arbeit von Autoren und Dramaturgen mit medial geprägten Vorstellungen von Theatralität das erwünschte Ziel tatsächlich erreicht, vom Theater her eine Brücke zum Fernsehen zu schlagen, um sich zu erneuern und zeitgemäß aufzutreten, bleibt abzuwarten. Wenn allerdings die Vermutung von Knut Hickethier zutrifft, dass die Fernsehästhetik die Einlösung der umfassenden Versprechungen der Avantgarde in Aussicht stellt, dann darf man auf die nächsten Entwicklungen mit Spannung warten.58
L i t e r at u r Affenzeller, Margarete: »Das Double der Seifenoper. Theater für junges Publikum bedient sich an der Fernsehästhetik: neues Format und alte Effekte«, in: Der Standard vom 13.10.2008, S. 20. Andersch, Alfred: »Für ein Fernsehen der Autoren«, in: Alfred Andersch, Gesammelte Werke in zehn Bänden, kommentierte Ausgabe, hrsg. von Dieter Lamping, Bd. 7: Essayistische Schriften 2, Zürich: Diogenes 2004, S. 329-336. Baier, Lothar: »Illustrierte Chaostheorie. Zu Enzensbergers umstrittenem Bürgerkriegs-Essay«, in: Freitag vom 11.3.1994. Daiber, Jürgen: »›Alles Wesen ist in Wahrheit bildlos‹ – Zur Rolle elektronischer Medien im Werk von Botho Strauß«, in: Studia theodisca 6 (1999), S. 9-35. Diehl, Siegfried: »Zoff aus dem Zettelkasten. Verbaler Unflat aus dem großherzoglichen Augiasstall: Hans Magnus Enzensberger ›Nieder mit Goethe!‹ in Weimar«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 1.7.1996. Doninelli, Luca: Talk Show, Milano: Garzanti 2003. Durzak, Manfred (Hg.): Literatur auf dem Bildschirm. Analysen und Gespräche mit Leopold Ahlsen u. a., Tübingen: Niemeyer 1989. Eckhoff, Jan: Der junge Botho Strauß. Literarische Sprache im Zeitalter der Medien, Tübingen: Niemeyer 1999. Eco, Umberto: »Einleitung«, in: Umberto Eco, Apokalyptiker und Integrierte. Zur kritischen Kultur der Massenmedien, aus dem. Ital. von Max Looser, Frankfurt am Main: Fischer 1986, S. 15-35. Enzensberger, Hans Magnus: Einzelheiten I. Bewußtseins-Industrie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1964. 58 An dieser Stelle möchte ich mich bei Frau Gaby Berginz vom Salzburger Landestheater für ihre wertvollen Hinweise bedanken. 258
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Enzensberger, Hans Magnus: »Baukasten zu einer Theorie der Medien«, in: Kursbuch 20 (1970), S. 159-86. Enzensberger, Hans Magnus: »Wohnkampf. Eine Talkshow«, in: Hans Magnus Enzensberger, Politische Brosamen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1982, S. 141-160. Enzensberger, Hans Magnus: »Das Nullmedium oder Warum alle Klagen über das Fernsehen gegenstandslos sind«, in: Der Spiegel 20/1988 vom 16.5.1988, S. 234-244. Enzensberger, Hans Magnus: Aussichten auf den Bürgerkrieg, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1993, S. 76. Enzensberger, Hans Magnus: Nieder mit Goethe! Eine Liebeserklärung. Requiem für eine romantische Frau. Ein Liebeskampf in sieben Sätzen, Frankfurt am Main: Verlag der Autoren 1995. Enzensberger, Hans Magnus: Dialoge zwischen Unsterblichen, Lebendigen und Toten, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004, S. 95-130. Enzensberger, Hans Magnus: »Goethe auf den Hintertreppen der Klassik«, in: Hans Magnus Enzensberger, Zu große Fragen. Interviews und Gespräche 2005-1970, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2005, S. 69-78. Freyermuth, Gundorf S.: »Aus Weimar rund um die Welt: Goethes cybernautische Sendung und ihre Tücken«, in: Süddeutsche Zeitung vom 1.7.1996. Gambihler, Ralph: »Wortreiches Stochern ums Klassikerdenkmal«, in: Leipziger Volkszeitung vom 1.7.1996. Grundmann, Ute: »Enzensbergers ›Nieder Mit Goethe!‹ in Weimar. Nur ein laues Lüftchen«, in: Rheinische Post vom 1.7.1996. Haider, Hans: »Salzburgs politischer Talk-Stadel«, in: Die Presse vom 6.12.1999. Hickethier, Knut: »Fernsehästhetik. Kunst im Programm oder Programmkunst?«, in: Joachim Paech (Hg.), Film, Fernsehen, Video und die Künste. Strategien der Intermedialität, Stuttgart: Metzler 1994, S. 190-213 Hochhuth, Rolf: »Das Recht auf Arbeit«, in: Rolf Hochhuth, Das Recht auf Arbeit. Nachtmusik. Zwei Stücke, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2000, S. 7-139. Hochhuth, Rolf: »McKinsey kommt«, in: Rolf Hochhuth, McKinsey kommt. Molières Tartuffe. Zwei Theaterstücke. Mit einem Essay von Gert Ueding, München: dtv 2004, S. 7-79. Hörisch, Jochen: Ende der Vorstellung. Die Poesie der Medien, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1999. Ignée, Wolfgang: »Schleppende Séance. Enzensbergers Collage ›Nieder mit Goethe‹ in Weimar«, in: Stuttgarter Zeitung vom 1.7.1996.
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Kittler, Friedrich A.: Aufschreibsysteme 1800-1900, München: Fink 1985. Kriechbaum, Reinhard: »Der Papiermüll politischer Halbbildung. ›Arbeitslose oder das Recht auf Arbeit‹: Uraufführung eines Stückes von Rolf Hochhuth im Salzburger Landestheater«, in: Trostberger Tagblatt vom 7.12.1999. Kruntorad, Paul: »Gib ihm die Arbeitsloskugel. Rolf Hochhuths ›Arbeitslose‹ im Salzburger Landestheater uraufgeführt«, in: Frankfurter Rundschau vom 7.12.1999. Langwallner, Hans: »Ein konkursreifes Ideen-Kapital«, in: Die KronenZeitung vom 6.12.1999, S. 28. Larcati, Arturo: »›Ein Geräusch…irgendein geheimer, in der Luft drohender Nebenton, den ich nicht aushalte.‹ Zur Semantik des Rauschens und der Verschwommenheit bei Botho Strauß«, in: Andreas Hiepko / Katia Stopka (Hg.), Rauschen. Seine Phänomenologie und Semantik zwischen Sinn und Störung, Würzburg: Königshausen & Neumann 2001, S. 133-150. Lau, Jörg: »Das Fernsehen als Feind der Kultur(eliten). Ein Selbstgespräch«, in: Merkur 49, 9-10 (1995), S. 890-903. Lohs, Lothar: »Hochhuth reitet weiter. Die Uraufführung von ›Arbeitslose oder Das Recht auf Arbeit‹ am Salzburger Landestheater«, in: Bühne 2000/1, S. 53. Mayrhofer, Franz: »Hochhuth-Desaster«, in: Die Furche vom 6.12.1999. Michalzik, Peter: »Peinlich«, in: Frankfurter Rundschau vom 1.7.1996. Postmann, Neil: Das Verschwinden der Kindheit, aus dem Amerikan. übers. von Reinhard Kaiser, Frankfurt am Main: Fischer 1988. Postman, Neil: Wir amüsieren uns zu Tode. Urteilsbildung im Zeitalter der Unterhaltungsindustrie, aus dem Amerikan. übers. von Reinhard Kaiser, Frankfurt am Main: Fischer 1988. Quilitzsch, Frank: »Kam nicht, sah nicht, aber siegte. Vom Weimarer Kunstfest-Talk unbezwungen: ›Rocky‹ Goethe«, in: Berliner Zeitung vom 1.7.1996. Scharper, Rüdiger: »Keine weißen Socken in der ersten Reihe. Enzensberger macht in Weimar kurzen Prozeß mit Goethe«, in: Süddeutsche Zeitung vom 1.7.1996. Schmidt-Mühlich, L.: »Eine Liebeserklärung der besonderen Art. Günther Jauch moderiert Goethe und spielt sich selbst: EnzensbergerUraufführung beim Kunstfest in Weimar«, in: Die Welt vom 1.7.1996. Skasa, Michael: »Die Talgschau. Auftragtheater II: Die HochhuthUraufführung ›Arbeitslose oder Das Recht auf Arbeit‹ in Salzburg«, in: Süddeutsche Zeitung Nr. 282 vom 6.12.1999
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Stollmann, Rainer: »Hans Magnus Enzensberger takes the stand on ›Civil war‹: a talk show scenario«, in: Gerhard Fischer (Hg.), Debating Enzensberger, Tübingen: Stauffenburg 1996, S. 127-141. Strauß, Botho: Der junge Mann, München: dtv 1984. Strauß, Botho: Paare, Passanten, München: dtv 1984. Strauß, Botho: Niemand anderes, München: dtv 1987. Strauß, Botho: Beginnlosigkeit. Reflexionen über Fleck und Linie, München: dtv 1997. Strauß, Botho: »Anschwellender Bockgesang«, in: Botho Strauß, Der Aufstand gegen die sekundäre Welt. Bemerkungen zu einer Ästhetik der Anwesenheit, München/Wien: Hanser 1999, S. 55-78. Strauß, Botho: »Zeit ohne Vorboten« [1998], in: Botho Strauß, Der Aufstand gegen die sekundäre Welt. Bemerkungen zu einer Ästhetik der Anwesenheit, München/Wien: Hanser 1999, S. 93-105. Thuswaldner, Werner: »Nur Rohmaterial für ein Stück«, in: Salzburger Nachrichten vom 6.12.1999. Uecker, Mathias: »Strategien im Medienkampf. Der Essayist Hans Magnus Enzensberger«, in: Der Deutschunterricht 47,6 (1995), S. 8895. Viola, Sandro: »La lezione del re per i talk-show«, in: La Repubblica 33, 239 vom 8.10.2008. Wagner, Renate: »›Nicht die Politik, die Wirtschaft ist unser Los‹. Rolf Hochhuths jüngstes Stück Arbeitslose oder Das Recht auf Arbeit erlebt am Salzburger Landestheater seine Uraufführung«, in: Bühne 1999/12, S. 52.
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AUTORINNEN
UND
AUTOREN
Ackermann, Kathrin, geb. 1961, lehrt französische und italienische Literaturwissenschaft an der Universität Salzburg. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören die Geschichte der literarischen Spannung und die Beziehungen zwischen Literatur und Fernsehen. Laferl, Christopher F., geb. 1963, lebt in Traunstein (Bayern) und Wien und arbeitet am Fachbereich Romanistik der Universität Salzburg. Er forscht und publiziert u. a. zur Popularkultur Spaniens, Brasiliens und der Karibik. Larcati, Arturo, geb. 1958, lebt in Anif bei Salzburg und arbeitet an den Universitäten Salzburg und Verona. Er veröffentlichte mehrere Arbeiten zur Metaphernreflexion aus der Perspektive der Autorenpoetik, zu den historischen Avantgardebewegungen und zur deutschen Nachkriegsliteratur. Roloff, Volker, geb. 1940, lebt in München und leitet das Forschungsprojekt »Intermedialität im europäischen Surrealismus« an der Universität Siegen. Zahlreiche Publikationen zu Themen der romanischen Literatur- und Medienwissenschaft. Schmelzer, Dagmar, geb. 1971, lebt in der Nähe von Regensburg und arbeitet an der dortigen Universität. Sie veröffentlichte bereits mehrere Beiträge zur Intermedialität und zur spanischen Gegenwartskultur. Strigl, Sandra, geb. 1980, lebt und arbeitet als freiberufliche Forscherin und Autorin in Berlin. Sie veröffentlichte bereits mehrere inter-disziplinäre Arbeiten zum Thema Film und Musik. Tschilschke, Christian von, geb. 1966, Professor für Romanische Literaturwissenschaft / Genderforschung an der Universität Siegen. Einer seiner Forschungsschwerpunkte ist das Verhältnis zwischen Literatur und audiovisuellen Medien.
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AUTORINNEN UND AUTOREN
Türschmann, Jörg, geb. 1962, lehrt an der Universität Wien. Er hat zahlreiche Arbeiten zu den Beziehungen zwischen Medientechniken, Didaktik, Literatur, Musik, Film und Fernsehen veröffentlicht. Wagner, Birgit, geb. 1956, lehrt Literatur- und Filmwissenschaft am Institut für Romanistik der Universität Wien. Zuletzt zum Thema Film: Sardinien – Insel im Dialog. Texte, Diskurse, Filme (Francke 2008). Walter, Klaus Peter, geb. 1953, lehrt an der Universität Passau romanische Literatur- und Kulturwissenschaft sowie Medienwissenschaften. Zahlreiche Publikationen zu diesen Gegenstandsbereichen, insbesondere zur französischen und spanischen Literatur- und Medienwissenschaft (Kino und Fernsehen).
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ZfK – Zeitschrift für Kulturwissenschaften
Birgit Althans, Kathrin Audem, Beate Binder, Moritz Ege, Alexa Färber (Hg.)
Kreativität. Eine Rückrufaktion Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 1/2008 März 2008, 138 Seiten, kart., 8,50 € ISSN 9783-9331
ZFK – Zeitschrift für Kulturwissenschaften Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent: Neben innovativen und qualitativ hochwertigen Ansätzen besonders jüngerer Forscher und Forscherinnen steht eine Masse oberflächlicher Antragsprosa und zeitgeistiger Wissensproduktion – zugleich ist das Werk einer ganzen Generation interdisziplinärer Pioniere noch wenig erschlossen. In dieser Situation soll die Zeitschrift für Kulturwissenschaften eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über Kultur und die Kulturwissenschaften bieten. Die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur, historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus kann so mit klugen interdisziplinären Forschungsansätzen fruchtbar über die Rolle von Geschichte und Gedächtnis, von Erneuerung und Verstetigung, von Selbststeuerung und ökonomischer Umwälzung im Bereich der Kulturproduktion und der naturwissenschaftlichen Produktion von Wissen diskutiert werden. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften lässt gerade auch jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen zu Wort kommen, die aktuelle fächerübergreifende Ansätze entwickeln.
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