Leerstellen transmedial: Auslassungsphänomene als narrative Strategie in Film und Fernsehen [1. Aufl.] 9783839421185

Durch die intensive Beschäftigung mit unzuverlässigem und komplexem Erzählen haben narratologische Konzepte in den verga

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German Pages 242 Year 2014

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Table of contents :
Inhalt
I. Einleitung
II. Diskurse narrativer Auslassungsphänomene
Theoretische Verortung
Alternative zeitgenössische Leerstellenkonzepte
Reaktionen
Aktuelle Anschlussdiskurse
III. Die Leerstelle in der Literaturwissenschaft
Roman Ingardens Konzept der schematisierten Ansichten
Wolfgang Isers Leerstellenkonzeption
Fazit
IV. Leerstellen in film- und fernsehtheoretischen Konzepten
Filmtheoretische Leerstellenkonzepte
Fernsehtheoretische Leerstellenreflexionen
Ergebnis
V. Formen von Leerstellen im audiovisuellen Erzählen
Unbestimmtheit
Auslassung
Dekontextualisierung
Unterbrechung
Darstellungsleere
Ergebnis
VI. Leerstellen im filmischen Erzählen
Twelve Monkeys
Vantage Point
Fazit
VII. Leerstellen in televisuellen Erzählformen
Serielles Erzählen
Fernsehspiel
Fazit
VIII. Ergebnis
Bibliographie
Literatur
Film
Fernsehen
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Leerstellen transmedial: Auslassungsphänomene als narrative Strategie in Film und Fernsehen [1. Aufl.]
 9783839421185

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Nadine Dablé Leerstellen transmedial

Nadine Dablé (Dr. phil.) unterrichtet Medienwissenschaft an der Leuphana Universität Lüneburg. Ihre Schwerpunkte sind Geschichte, Theorie und Ästhetik der Medien.

Nadine Dablé

Leerstellen transmedial Auslassungsphänomene als narrative Strategie in Film und Fernsehen

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2012 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Scala Programmkino Lüneburg Lektorat & Satz: Nadine Dablé Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-2118-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

I. Einleitung | 9 II. Diskurse narrativer Auslassungsphänomene | 15

Theoretische Verortung | 16 Alternative zeitgenössische Leerstellenkonzepte | 18 Reaktionen | 21 Aktuelle Anschlussdiskurse | 24

III. Die Leerstelle in der Literaturwissenschaft | 31

Roman Ingardens Konzept der schematisierten Ansichten | 31 Wolfgang Isers Leerstellenkonzeption | 42 Fazit | 56

IV. Leerstellen in film- und fernsehtheoretischen Konzepten | 61

Filmtheoretische Leerstellenkonzepte | 61 Fernsehtheoretische Leerstellenreflexionen | 87 Ergebnis | 108

V. Formen von Leerstellen im audiovisuellen Erzählen | 111

Unbestimmtheit | 112 Auslassung | 122 Dekontextualisierung | 129 Unterbrechung | 134 Darstellungsleere | 139 Ergebnis | 145

VI. Leerstellen im filmischen Erzählen | 147

Twelve Monkeys | 148 Vantage Point | 170 Fazit | 191

VII. Leerstellen in televisuellen Erzählformen | 193 Serielles Erzählen | 193 Fernsehspiel | 210 Fazit | 218 VIII. Ergebnis | 221 Bibliographie | 225

Literatur | 225 Film | 236 Fernsehen | 237

Danksagung

Das Entstehen dieser Arbeit wurde durch ein dreijähriges Promotionsstipendium der Leuphana Universität Lüneburg ermöglicht und zusätzlich durch einen Druckkostenzuschuss des Förderfonds für den Wissenschaftlichen Nachwuchs der Graduate School gefördert. Besonders danke ich Herrn Professor Werner Faulstich, der die wissenschaftliche Betreuung meines Dissertationsprojektes übernommen und dieses durch seine stetige Bereitschaft zur Diskussion sowie kritische und inspirierende Ratschläge begleitet hat. Sein Institut für Angewandte Medienforschung bot meiner Arbeit den institutionellen Rahmen und mir eine produktive kollegiale Atmosphäre, für die ich Malte Hagener und Kathrin Rothemund zu großem Dank verpflichtet bin. Für die bereitwillige Übernahme des Zweit- und Drittgutachtens danke ich Frau Professor Emer O‘Sullivan sowie Herrn Professor Helmut Korte. Den Entstehungsprozess dieser Arbeit haben viele Menschen positiv begleitet, die hier nicht alle genannt werden können. Mein Dank gilt ihnen allen. Für die zahllosen inspirierenden Gespräche nach langen Filmabenden danke ich der erweiterten Konstanzer Stifterstraßengemeinschaft; hier sind die ersten Ideen entstanden. Für die kontinuierliche Unterstützung in allen Phasen des Entstehungsprozesses danke ich meinen Lüneburger Freundinnen und Freunden, die immer zur rechten Zeit auch für die gelegentlich erforderliche Ablenkung sorgten. Mein besonderer Dank gilt all denen, die die Arbeit in unterschiedlichen Phasen durch ihre kritische Lektüre verbessert haben. Nicht zuletzt danke ich meinen Eltern für ihre uneingeschränkte moralische Unterstützung, für Wurzeln und Flügel.

I. Einleitung

Zwei Männer in einer Lagerhalle; der eine, Mister Orange (Tim Roth), liegt stark blutend auf dem Boden, der andere, Mister White (Harvey Keitel), hält ihn im Arm. Während sich nähernde Polizeisirenen zu hören sind, gesteht Mister Orange seinem ‚partner in crime‘, dass er ein verdeckt ermittelnder Polizist ist, woraufhin Mister White ihm eine Waffe an den Kopf hält. Als die Polizisten im Off die Halle stürmen und Mister White auffordern, seine Waffe fallen zu lassen, wechselt die Einstellung in eine Großaufnahme von White. Es fallen zwei Schüsse, dann kippt er aus dem Bildausschnitt.1





Häufig ist in einer Geschichte gerade das Unausgesprochene – oder Ungezeigte – das eigentlich Interessante. Man wird als Zuschauer dazu verleitet, das Verschwiegene selbst zu imaginieren, das Fehlende zu addieren, die Geschichte weiterzuspinnen. Dieses Unausgesprochene wirkt dabei nicht nur auf die alltagsweltlichen Rezipienten wie ein Horror vacui, der sie zum Vervollständigen herausfordert, es übt auch eine starke Anziehungskraft auf diverse wissenschaftliche Disziplinen aus. Entsprechend breit gefächert sind die Diskurse, die sich narrativen Auslassungsphänomenen widmen. 1

Finale Szene aus Reservoir Dogs (Quentin Tarantino, 1992) 1:28:50-1:31:11.

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Will man dieses Unausgesprochene in einer Narration der wissenschaftlichen Auseinandersetzung zugänglich machen, muss man zunächst fragen, mit welchem Gegenstand man es dabei zu tun hat. Vorab gilt es, verschiedene Formen von Ungesagtem zu unterscheiden. Zum einen sind gewisse Informationsdefizite ein unvermeidliches a priori jeder Erzählung, denn keine Narration kann jemals erschöpfend ausformuliert sein und eine umfassende Beschreibung all ihrer dargestellten Elemente erreichen. Der Satz ‚Ein Mann geht im Regen die Straße entlang‘ funktioniert auch, wenn man nichts weiter über den Mann, den Regen, die Straße oder das Gehen erfährt. Der Satz hat keinen Abbildcharakter, sondern eher Abkürzungscharakter, er ist funktional auf einzelne Aspekte reduziert. Allerdings wird bei dieser Art der Auslassung im Allgemeinen das Nichtgesagte nicht als etwas Fehlendes wahrgenommen, es hinterlässt keine bemerkbare Lücke, keine Leerstelle. Ähnliches gilt auch für Ellipsen, also zeitliche Aussparungen mit raffender Funktion, die zwar Information auslassen und dies eventuell auch deutlich markieren, bei denen aber das Ausgelassene selbst nicht als fehlend wahrgenommen wird. Kurz, das Ungesagte ist nicht bedeutungstragend. Das, was ausgelassen wird, wird deshalb ausgelassen, weil es keine Relevanz für die Geschichte besitzt.2 Anders in der eingangs beschriebenen Schlussszene aus Quentin Tarantinos Reservoir Dogs: Hier wird den Zuschauern vorenthalten, wer die Schüsse abgibt und wen diese treffen. Das Auslassen dieser Informationen wird explizit inszeniert; das Fehlen ist bedeutsam. Genau diese Art von Informationslücken, die ein bedeutungstragendes Fehlen markieren, sollen hier zugrunde gelegt werden. Sie sind nicht durch die reine Abwesenheit von etwas gekennzeichnet, sondern werden gerade durch diese Abwesenheit sichtbar und damit implizit anwesend gemacht. Die Relevanz des Fehlens fordert Aufmerksamkeit; den Rezipienten wird bewusst, dass etwas fehlt. Dieser Mangel wiederum erzeugt ein imaginäres Schließen der Lücke. Optionen werden gedanklich durchgespielt, Wahrscheinlichkeiten

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Die Grenzen zwischen Aspekthaftigkeit, Ellipsen und Leerstellen sind zuweilen nicht trennscharf und es stellt sich gelegentlich die Frage, ob eine Auslassung aus Gründen der Redundanzvermeidung erfolgt oder ob diese doch als Leerstelle fungiert. Aspekthaftigkeit und Ellipsen können also durch ihren entsprechend instrumentalisierten Einsatz immer auch zu bedeutungsvollen Leerstellen werden.

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geprüft, Hypothesen entworfen. Erschießt Mister White den Verräter Mister Orange, bevor er selbst von der Kugel eines Polizisten getroffen wird, oder ist bereits der erste Schuss auf ihn gerichtet? Deutet das Zucken seines rechten Armes auf den Rückstoßeffekt seiner eigenen Waffe oder auf den Einschlag einer Kugel hin? Bietet der unterschiedliche Klang der beiden Schüsse die Lösung oder schießen zwei Polizisten aus unterschiedlicher Position? Selbst wenn eine Lesart als die wahrscheinlichste angenommen wird, gibt es letztlich keine Sicherheit für den Zuschauer. Man kann zwar vermuten, muss aber ergänzen, was nicht explizit gegeben ist. Folglich sind solche Leerstellen als maßgeblich für die Sinngebung eines ästhetischen Werkes zu konstatieren. Auf die Aktualität dieses Phänomens verweist eine gegenwärtige Renaissance des Leerstellenbegriffs. Dieser entstammt ursprünglich der Literaturwissenschaft und wird in den letzten Jahren vermehrt in unterschiedlichen geisteswissenschaftlichen Disziplinen zwar hochfrequent genutzt, jedoch ohne dass mit dem gesteigerten Interesse an der Terminologie auch eine definitorische Schärfe einhergehen würde. Die Übertragung der Kategorie Leerstelle auf filmisches Erzählen scheint nahe liegend und wurde in einigen Publikationen der letzten Jahre bereits in Ansätzen angedacht. Die Frage nach der Möglichkeit und Sinnhaftigkeit einer solchen Übertragung vom literarischen auf audiovisuelles, d.h. nicht nur filmisches, sondern auch televisuelles Erzählen, steht im Zentrum dieser Arbeit. Dazu muss zunächst geklärt werden, was genau Leerstellen sind, bevor analytisch überprüft wird, ob und wie sie in audiovisuellen Narrationen auftreten, wonach man sie taxonomisch unterscheiden kann und welche narrativen Funktionen sie erfüllen. Vorgehen Begonnen werden soll mit einer theoretischen Verortung des Phänomens Leerstelle. Der Fokus liegt dabei auf einem einführenden Überblick über die zentralen Konzepte der literaturwissenschaftlichen Leerstellentheorie der Rezeptionsästhetik. Berücksichtigung finden soll außerdem eine kurze Darstellung einiger alternativer Leerstellenkonzepte, die sich dem Phänomen aus einer anderen Perspektive nähern, ebenso die kritischen Reaktionen, die auf die rezeptionsästhetischen Ansätze folgten, wie auch die neueren Diskurse zur Leerstellenthematik und -problematik, die infolge der

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breiten Wirkung der Rezeptionsästhetik auf die Geisteswissenschaften entstanden sind. Um das Konzept der Leerstelle in dem hier intendierten Sinne nutzbar zu machen, ist eine definitorische Fixierung des uneindeutigen Leerstellenbegriffes erforderlich. Dazu ist es nötig, im Anschluss an diesen ersten Überblick ausführlicher zu den ursprünglichen theoretischen Konzepten zurückzukehren, um eine kritische Rekonstruktion des Begriffes vorzunehmen und die konstitutiven Merkmale von Leerstellen präzise herauszuarbeiten. Ausgehend von einer solchen literaturwissenschaftlichen Primärdefinition soll anschließend in den theoretischen Grundlagentexten sowohl des filmischen als auch des televisuellen Erzählens nach Hinweisen auf die Beschreibung verwandter ästhetischer Phänomene gesucht werden, um zu sehen, ob Leerstellen auch für das audiovisuelle Erzählen von Relevanz sind. Da sich aus der jeweiligen Spezifik der Medien Film und Fernsehen – obwohl beide audiovisuell erzählen – durchaus andere Prämissen für eine Leerstellendefinition ergeben können, müssen die Erkenntnisse an der theoretischen Basisliteratur beider Narrative überprüft und gegebenenfalls entsprechend modifiziert werden. Anschließend erfolgt eine analytische Anwendung des modifizierten Konzepts Leerstelle auf audiovisuelle Erzählformen. Exemplarisch werden dazu zwei Filme sowie unterschiedliche Fernsehsendungen detailliert auf ihre Leerstellen und deren Funktionen hin untersucht, wobei es explizit nicht um empirische Rezeptionsprozesse gehen soll, sondern um eine textnahe Analyse der Sinnangebote, die das Material bereithält. Die Auswahl der Analysegegenstände erfolgt entsprechend dem Fokus, der in den literaturwissenschaftlichen Konzepten vorgegeben wird, aus dem Spektrum des fiktionalen Erzählens. Die Ergebnisse der Analyse sowohl der Filme als auch der Fernsehnarrationen sollen in einer Schlussbetrachtung zusammengefasst werden, um abschließend zu einem Urteil über die Funktionalität der Kategorie Leerstelle zu gelangen. Methodik Jede Analyse audiovisuellen Materials ist mit dem Problem der Flüchtigkeit des Analysegegenstandes konfrontiert. Daher muss eine solche Analyse auf einer „Objektivierung des eigenen Filmerlebnisses“ (Korte 1999: 24) basieren. Diese wird durch Sequenz- bzw. Einstellungsprotokolle angestrebt, die

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eine Übertragung des filmischen und televisuellen Materials in eine „systematisierte, lineare Form“ (Korte 1991: 171) darstellen. Dadurch wird ermöglicht, nachvollziehbare, argumentativ belegte Aussagen zu treffen, die entsprechend immer wieder neu überprüfbar sind, auch wenn ein „intersubjektiver Endzustand“ (Korte 1999:24) selbst anhand von Protokollen nie erreicht werden kann, da die komplexen bisensorisch-simultanen Wahrnehmungen in Sprache und damit auch in ein Nacheinander übersetzt, das heißt zwangsläufig reduziert werden müssen. „Natürlich liegt in dieser ‚Versprachlichung‘ auch eine Destruktion der sinnlichen Gesamtgestalt des Films, die gerade im Zusammenspiel der verschiedenen, gerade auch nichtsprachlichen Mitteilungsebenen des Films ihren besonderen ästhetischen Ausdruck findet.“ (Hickethier 2001: 27) Das wiederholte Schauen des Materials selbst wird also durch die Protokolle niemals ersetzt, nur unterstützt. Als Hilfsmittel zur Fixierung des transitorischen audiovisuellen Materials, das es ermöglicht, eine analytische Distanz zum Material selbst einzunehmen und so zu einem Überblick über die Strukturen zu gelangen, sind sie dennoch unerlässlich. (Vgl. Korte 1991: 170ff, Korte 1999: 32ff, Hickethier 2001: 26ff, Faulstich 2008a: 67ff) Der Analyse werden die klassischen Kategorien der Film- und Fernsehanalyse zugrunde gelegt, wie sie zum Beispiel bei Hickethier (2001), Faulstich (2008a und 2008b) und Korte (1999) eingeführt werden. Da das Erkenntnisinteresse auf dem ästhetischen Potential der Leerstellen liegt, werden die formalen Analyseschwerpunkte entsprechend auf diese Strukturen ausgerichtet und ein hermeneutisch orientiertes, sequenzanalytisches Vorgehen gewählt. Insofern eine solche Methode „verborgene, also nicht offenkundig zutage tretende, Bedeutungen des Textes sichtbar machen“ (Hickethier 2001: 32) will, scheint sie besonders geeignet, um die Leerstellen, die ja gerade Abwesenheiten indizieren, erkennbar werden zu lassen. Denn das Potential der Leerstellen liegt im Erkennen der Differenz zwischen dem, was gegeben ist, und dem, was gegeben sein könnte, aber vorenthalten wird. Aus dieser Differenz heraus entstehen die Vervollständigungsakte der Rezipienten. Die Bedeutung des Films selbst entsteht also „erst in der Wahrnehmung durch das Publikum […]. Denn die rezipierte Botschaft als Summe filminterner und -externer Einflußfaktoren ist immer eine durch individuelle, situative und historisch-gesellschaftliche Variablen

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beeinflußte Konstruktion des Zuschauers“3 (Korte 1999: 14). Genau diese Beziehung zwischen den Einzelteilen und dem Ganzen, das eben mehr ist als nur die Summe seiner Teile, versucht die Hermeneutik als eine den reinen Text überschreitende Methode zu erfassen, indem das ursprüngliches Material und Interpretationsergebnisse immer wieder miteinander abgeglichen werden.

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Gleiches gilt entsprechend auch für den jeweils Analysierenden, der immer zuerst auch ein Rezipient ist.

II. Diskurse narrativer Auslassungsphänomene

Auslassungsdiskurse gibt es in vielen wissenschaftlichen Disziplinen. Selbst der konkrete Terminus Leerstelle wird heute fast inflationär, gleichzeitig aber auch sehr indifferent verwendet und zur Abdeckung eines breiten Spektrums unterschiedlicher Phänomene herangezogen. Dies führt unweigerlich zur Verwässerung und lässt den Begriff unpräzise werden. Es erscheint wenig sinnvoll, diese vielfältigen Auslassungsdiskurse durch alle Disziplinen zu verfolgen und etwa auch auf die Leerstelle in der Atomstruktur von Kristallen oder auf mathematische Leerstellen – wie die Nullstellen in der Geometrie oder die Ziffer Null – näher einzugehen.1 Ebenso überflüssig wäre es, sich auf ausgedehnte Leerstellendiskurse einzulassen, die rein die schriftmaterielle Ebene betreffen, etwa auf die Einführung des Leerzeichens zur Abgrenzung von Wörtern, oder sich mit rhetorischen Formen der elliptischen Rede zu befassen. Daher sollen hier die dominanten literaturwissenschaftlichen Konzepte von Roman Ingarden und – auf diesem aufbauend und diesen weiterführend – Wolfgang Iser im Zentrum der Betrachtung stehen, die die Relevanz des ästhetischen Phänomens Leerstelle erkannt, es einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung zugeführt und schließlich terminologisch fixiert haben. Zunächst wird eine theoretische Verortung dieser beiden Leerstellenkonzepte gegeben, wobei außerdem sowohl alternative zeitgenössische Ausprägungen als auch Anschlussdiskurse berücksichtigt werden müssen, sowohl diejenigen, die kritisch auf

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Für einen kurzen Abriss solcher Diskurse und weiterführende Literatur siehe z.B. Dotzler (1999) und Kolokitha (2005).

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die rezeptionsästhetischen Ansätze reagierten, als auch diejenigen, die eine Wiederbelebung einzelner Aspekte betrieben haben.

T HEORETISCHE V ERORTUNG Der Philosoph Roman Ingarden, der seine Ideen zu schematisierten Ansichten und Unbestimmtheitsstellen in literarischen Kunstwerken in zeitlicher Nähe zur Prager Schule entwickelte, bezog sich dabei maßgeblich auf die phänomenologische Philosophie Edmund Husserls, bei dem er in den 1910er Jahren studiert und promoviert hatte. Seine wohl bekannteste und nachhaltigste Veröffentlichung, eine Literaturontologie mit dem Titel Das literarische Kunstwerk, wurde 1931 veröffentlicht. Bereits wenige Jahre später erschien mit Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks2 eine Schrift mit eher erkenntnistheoretischer Perspektive auf denselben Gegenstand, die jedoch deutlich auf den früheren ontologischen Ausführungen basiert. Beide Schriften befassen sich mit „allgemeinen sprachlichen Bedeutungseinheiten und den Weisen ihres Erfaßtwerdens“ (Fieguth/Swiderski 1997: XI), also mit der Art und Weise, wie Texte zusammengesetzt sind und von ihren Lesern erfasst werden. Die darin formulierten Überlegungen Ingardens wurden allerdings weniger in seiner eigenen Disziplin, der Philosophie, wahrgenommen, als vielmehr in der Literaturwissenschaft, und erst Jahrzehnte später durch ihren großen Einfluss auf die Rezeptionsästhetik einem größeren Rezipientenkreis bekannt. Insbesondere haben die von ihm in diesem Zusammenhang geprägten Begriffe Unbestimmtheitsstelle und Konkretisation, die sich direkt auf Leerstellenphänomene beziehen, dauerhaft Eingang in den literaturwissenschaftlichen Diskurs gefunden. Unter Unbestimmtheitsstellen versteht er diejenige „Seite oder Stelle des dargestellten Gegenstandes, von der man auf Grund des Textes nicht genau wissen kann, wie der betreffende Gegenstand bestimmt ist“ (Ingarden 1997: 55). Die Leser vervollständigen in ihrer Vorstellung das Unbestimmte und dieses „ergänzende Bestimmen“ (Ingarden 1997: 58) nennt er das Konkretisieren. Entsprechend ist unter Konkretisation „das Abbild des

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Die polnische Originalfassung erschien 1937, die deutsche Übersetzung erst 1968.

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Werkes im Bewußtsein“ (Jauß 1987: 14) des Lesers zu verstehen. Damit ist Ingardens Konzept von Unbestimmtheitsstellen noch stark an der reinen Aspekthaftigkeit der Sprache orientiert. Sie entstehen aus der grundsätzlichen Bedingung der Sprache, wie Theodor A. Meyer es formulierte, „eine wunderbare Abbreviatur der Wirklichkeit“ (Meyer 1990: 72) zu sein, die immer „nur Bruchstücke aus dem Sinnlichen“ (Meyer 1990: 72) wiederzugeben vermag. Ingardens Arbeiten dienten Wolfgang Iser als Basis für dessen weiterführende Überlegungen zu Leerstellen in literarischen Texten, die ein zentrales Konzept der Rezeptionsästhetik darstellen. Die durch die Antrittsvorlesungen von Hans Robert Jauß (Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft, 1967) und Wolfgang Iser (Die Appellstruktur der Texte, 1969) begründete Konstanzer Schule3 bemängelte, dass bei der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Texten bislang die Instanz des Rezipienten vernachlässigt wurde. Standen zuvor das Werk selbst oder der Autor im Zentrum der Aufmerksamkeit, sollte nun nach ihrer Forderung die Instanz des Lesers stärker in Analyse und Interpretation einbezogen werden. Argumentativer Ausgangspunkt war die Feststellung, dass die Lektüre eines Werkes durch unterschiedliche Leser zu intersubjektiv divergierenden Deutungen führt. Die Rezeptionsästhetik fordert, dass bei der ästhetischen Rezeption eines literarischen Werkes seine Mehrdeutigkeit wahrgenommen, reflektiert und akzeptiert wird. Widersprüche und Unvereinbarkeiten konkurrierender Auslegungen werden dabei als Beweis dafür gewertet, dass es keinen werkimmanenten, d.h. manifest im Text enthaltenen und damit extrahierbaren Sinn geben kann. Die Konstanzer Schule geht vielmehr davon aus, dass Bedeutung immer erst während des Rezeptionsprozesses selbst generiert wird und sich aus dem als Interaktion bezeichneten Zusammenwirken von Text und Leser ergibt. Lesen wird von einem Akt des reinen Rezipierens im wörtlichen Sinne (von lat. recipere – aufnehmen) zu einem dialogischen Kommunikationsakt umgedeutet, bei dem beide beteiligten Pole – sowohl der Text als auch der jeweilige Leser – zur Konstitution des Werkes beitragen. Das bedeutet eine signifikante Aufwertung der Stellung des Lesers

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Neben den beiden wohl prominentesten Vertretern Jauß und Iser gehörten der ‚Konstanzer Schule‘ weitere Philologen an, wie etwa Manfred Fuhrmann, Wolfgang Preisendanz, Karlheinz Stierle und Rainer Warning.

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– der so zum Mit-Autor wird – gegenüber den traditionellen Autoritäten von Autor und Text. Iser benutzt in Der Akt des Lesens explizit den problematischen Begriff der ‚Interaktion‘ um dieses Text-Leser-Verhältnis zu bestimmen. Dabei handelt es sich selbstverständlich nicht um eine reziproke Interaktion im eigentlichen Sinne, sondern um Konstitutionsvorgänge, die die Leser im Prozess des Lesens vollziehen. Von ihrem Aufkommen Ende der 1960er Jahre ab dominierte die Rezeptionsästhetik die Methodendiskussion für etwa ein Jahrzehnt und erzielte eine breite, auch internationale Wirkung. Entsprechend den unterschiedlichen Interessenlagen der verschiedenen Vertreter haben sich unterschiedliche Ansätze der Rezeptionsästhetik ausdifferenziert und es wurde innerhalb der verschiedenen literaturwissenschaftlichen Positionen wiederholt diskutiert, ob es einen leserunabhängigen Textsinn überhaupt geben kann, wie das Zusammenwirken von Texten und Lesern vorzustellen sei, inwieweit von einer ‚richtigen‘ oder ‚falschen‘ Rezeption gesprochen werden kann und ob und wie die jeweils von Texten bzw. von Lesern erzeugten Anteile der Rezeption erfasst und bestimmt werden können. Der „Höhepunkt der akademischen Wirkung“ (Richter 1999: 520) war Mitte der 1970er Jahre erreicht, woraufhin die Rezeptionsästhetik langsam wieder in den Hintergrund trat, nachdem „einige Ideen in das Grundrepertoire literaturwissenschaftlichen Arbeitens eingegangen [waren] und damit ihre Auffälligkeit verloren“ (Richter 1999: 520) hatten.

A LTERNATIVE ZEITGENÖSSISCHE L EERSTELLENKONZEPTE Mit den literaturtheoretischen Beiträgen von Jurij M. Lotman und etwas später Michael Titzmann gewannen etwa zeitgleich zur Rezeptionsästhetik „auch strukturalistische Forschungsansätze zur Funktion von Leerstellen in Texten an Bedeutung“ (Kolokitha 2005: 16). Bei beiden findet die Beschäftigung mit Leerstellen allerdings nur im Rahmen einer deutlich breiter ausgerichteten theoretischen Perspektivierung auf die generelle Struktur von Texten statt und nimmt daher nur jeweils einen kleinen Teil innerhalb der jeweiligen Arbeiten ein. Lotman benutzt in Die Struktur literarischer Texte den Begriff der Minus-Prijomy, um das „bedeutungsvolle Fehlen“ (Lotman 1993: 82) eines

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Elements in einem Text zu beschreiben.4 Lotmans Vergleich zwischen dem physikalischen Loch in einer Materie und dem Informationsloch im Gewebe eines Texts verdeutlicht nicht nur, wie dieses „bedeutungsvolle Fehlen“ (Lotman 1993: 82) von ihm verstanden wird, er belegt auch die Problematik der begrifflichen Annäherung an das Phänomen Leerstelle, die häufig von Metaphern oder Vergleichen geprägt ist: „Die moderne Molekularphysik benutzt den Begriff des ‚Loches‘, der durchaus nicht das gleiche meint wie eine einfache Abwesenheit von Materie. Es ist vielmehr die Abwesenheit von Materie an einer Stelle der Struktur, die eigentlich ihre Anwesenheit voraussetzt. Unter diesen Umständen benimmt sich das ‚Loch‘ derart materiell, daß man sogar sein Gewicht messen kann […]. Mit analogen Erscheinungen hat auch der Verskundler zu rechnen.“ (Lotman 1993: 157)

Lotman thematisiert zwar explizit die bedeutungstragende Funktion dieser Lücke, geht aber – seiner strukturalistischen Position gemäß – nicht auf die Auffüll- oder Konkretisationsvorgänge und damit auf ein Mitwirken der Rezipienten am Konstitutionsprozess ein. Ähnlich ist auch Michael Titzmann im Anschluss an Lotman weniger an der „interaktive[n] Beschaffenheit der Leerstellen“ (Kolokitha 2005: 50) interessiert als vielmehr an ihrem Auftreten im kontextuellen Struktursystem. Er diskutiert ausführlich die Differenzen und Gemeinsamkeiten zwischen den von Lotman entworfenen Minus-Prijomy und den von Ingarden bzw. Iser konzipierten Unbestimmtheits- und Leerstellen. (Vgl. Titzmann 1989: 230ff) Titzmann geht es dabei nicht darum, „die Begriffe […] zu definieren und voneinander abzugrenzen“ (Titzmann 1989: 238), sondern er schlägt vor, „den kaum durch frühere theoretische Publikationen vorbelasteten Begriff der Nullposition als Oberbegriff“ (Titzmann 1989: 238) zu benutzen, ohne dass dadurch die drei ursprünglichen Kategorien obsolet würden. Deutlich zentraler beschäftigt sich Umberto Eco mit dem Themenbereich der Leerstellen. Bereits 1962 erschien Das offene Kunstwerk, das die Terminologie, mit der auch heute noch über Leerstellenphänomene

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Er selbst verweist wiederum auf Saussures Terminus des ‚zéro-problème‘. (Vgl. Lotman 1993: 81ff)

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reflektiert wird, maßgeblich beeinflusste.5 Für den Semiotiker Eco sind die Zeichen selbst die Leerstellen, denn ihnen ist kein Sinn inhärent, sondern sie müssen aufgefüllt werden, woraus sich notwendigerweise eine interpretatorische Offenheit ergibt. Für ihn gilt jedes „Kunstwerk […] als eine grundsätzlich mehrdeutige Botschaft, als Mehrheit von Signifikaten (Bedeutungen), die in einem einzigen Signifikanten (Bedeutungsträger) enthalten sind.“ (Eco 1993: 8) Diese Mehrdeutigkeit ist nicht nur „unvermeidliches Faktum“ (Eco 1993: 32), sondern „in den modernen Poetiken eines der ausdrücklichen Ziele des Werkes.“6 (Eco 1993: 8) Mit seinem von der Phänomenologie Husserls und Merleau-Pontys inspirierten Verständnis von Offenheit steht Eco dem ebenfalls phänomenologisch geprägten Konzept Ingardens recht nahe, geht jedoch weit über dessen Ansatz hinaus. Die Mehrdeutigkeit bietet zwar gerade die Möglichkeit der aktiven Beteiligung der Rezipienten, muss andererseits aber auch, so Eco, soweit begrenzt sein, dass das Kunstwerk nicht aufhört, Kunstwerk zu sein. Die Struktur muss also „den Zugang der Interpretation, die Verschiebung der Perspektiven, zugleich ermöglichen und koordinieren.“ (Eco 1993: 8) Offenheit meint somit keinesfalls eine völlige Beliebigkeit, sondern eine Tendenz zur Mehrdeutigkeit oder Unauflösbarkeit. Er unterscheidet zwischen Offenheit ersten Grades, die die basalen „Integrations- und Ergänzungsmechanismen [auslöst], die sich als charakteristisch für jeden Erkenntnisprozeß herausgestellt haben“ (Eco 1993: 138) und auf denen „der ästhetische Genuß“ (Eco 1993: 138) beruht, und Offenheit zweiten Grades, die gerade nicht auf das Schließen der Offenheit ausgelegt ist. Diese Offenheit zweiten Grades sieht er insbesondere in den „modernen Poetiken“ (Eco 1993: 138) vertreten, im Bereich der Literatur paradigmatisch etwa bei Franz Kafka oder James Joyce, bei denen es „von der semantischen Entscheidung bei einem Wort ab[hängt], wie alle übrigen zu verstehen sind.“ (Eco 1993: 39) Im Bereich der Musik verweist er diesbezüglich auf die Arbeiten von Karlheinz Stockhausen und Luciano Berio. Indem Eco seine Reflexionen nicht nur auf Literatur, sondern auch auf Musik bezieht –

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Die Aufsatzsammlung erschien 1962 zunächst auf Italienisch unter dem Titel

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Unter Poetik versteht Eco hier „nicht ein System zwingender Regeln (die Ars

Opera aperta, in deutscher Fassung erst 1977. Poetica als absolute Norm), sondern [ein] Operativprogramm, das der Künstler von Fall zu Fall entwirft.“ (Eco 1993: 10)

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wobei hier nicht der Rezipient, sondern der jeweilige „Interpret“ (Eco 1993: 27) zum Co-Autor wird und z.B. in der Sequenza per flauto solo von Luciano Berio die Dauer der Noten selbst bestimmen kann –, markiert er bereits das transmediale Potential des Konzeptes der Offenheit. Mit Lector in fabula (1979) und Die Grenzen der Interpretation (1992) schloss Eco an die Thematik, die sich insgesamt in seinen Werken niederschlägt, erneut an und befasste sich diesmal weniger mit den die Offenheit regulierenden Strukturen der Texte, sondern stärker mit der Mitarbeit der Leser bei der Interpretation und kondensierte sowie präzisierte seine früheren Überlegungen.

R EAKTIONEN Als Reaktion auf die Konzepte der Konstanzer Schule entstand ein breiter Anschlussdiskurs. Starke Kritik etwa wurde an verschiedenen methodischen Aspekten der rezeptionsästhetischen Vorgehensweisen geübt, insbesondere dem indifferenten Gebrauch zentraler Begriffe, dem Zusammenbringen heterogener Denkansätze in Form eines eklektizistischen „Theorien-Zappings“ (Richter 1999: 521) und der einseitigen Auswahl an Textbeispielen, anhand derer dann eine rein intellektualistische Lektüre durchexerziert wurde. Als eine Folge bildete sich unter dem eher psychologisch ausgerichteten Norbert Groeben und dem stärker linguistisch geprägten Siegfried J. Schmidt auch eine empirisch arbeitende Rezeptionsforschung heraus, die entsprechend den Einsatz einer empirischen Methodik forderte, um das individuelle Textverständnis der einzelnen Leser zu erheben und sich damit von der rein texttheoretischen Beschreibung der Rezeptionsprozesse durch die Rezeptionsästhetik zu distanzieren. Im Gegensatz zur eher hermeneutisch orientierten Rezeptionsästhetik bemühten sich die Vertreter der Empirischen Literaturforschung um eine radikale Trennung zwischen dem Werk und dessen Aneignung durch die Leser. Im Forschungsinteresse stand lediglich die kommunikative Funktion und nicht die ästhetische Qualität. Man war sich zwar mit der Rezeptionsästhetik einig hinsichtlich der Notwendigkeit, die Position der Leser stärker in das literaturwissenschaftliche Arbeiten einzubeziehen, allerdings gab es von Seiten der Empirischen Literaturwissenschaft einige Einwände gegen die Praktikabilität der rezep-

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tionsästhetischen Ideen. So wurde zum einen „das Verfahren, auf hermeneutischem Wege ‚die Objektivierung dieses Erwartungshorizontes als Bezugssystem‘ zu ermöglichen“ (Grimm 1975: 39), wie Jauß es konzipiert hatte, angezweifelt, zum anderen sah die Empirische Literaturforschung bei der Rezeptionsästhetik eine Beliebigkeit in der Vorgehensweise. Der Hauptvorwurf bestand darin, dass die Rezeptionsästhetik den realen Leser völlig ausklammere und durch das Konstrukt des (zudem missverständlichen und nur unzureichend definierten) ‚impliziten Lesers‘7 ersetze. „Nicht der Leser, sondern eine im Text enthaltene Vorstellung vom Publikum rückt damit ins Zentrum der Rezeptionsästhetik“ (Schöttker 1999: 541). Hier übersah die Rezeptionsästhetik, dass jede Aussage über einen Text bereits die Aussage über einen gelesenen Text ist. Der Perspektive der Empirischen Literaturforschung entsprechend muss und kann Rezeption nur als konkrete Rezeption durch konkrete Leser einer wissenschaftlichen Analyse zugänglich sein. Insbesondere die ‚SubjektObjekt-Konfundierung‘ der hermeneutischen Literaturwissenschaft wurde bemängelt, da hier der Interpret – häufig sogar unreflektiert – auf seine eigene Rezeption rekurriert. (Vgl. Groeben 1972: 259) Daraus resultierte die Forderung Norbert Groebens, die Methoden der empirischen Sozialforschung auf die Analyse von Literatur zu übertragen, um konkrete Rezeptionsprozesse zu erforschen.8 „Das Interesse gilt nicht mehr der (abstrakten) Wahrheit eines literarischen Textes noch auch dem Spektrum aller möglichen Verstehensweisen, sondern seiner jeweils historisch relevanten, politisch wirksam gewordenen und wirkenden Aussage; es gilt dem literarischen Text als faktisch rezipiertem in der Gesamtheit seiner historischkonkreten konstitutiven Merkmale: den Versionen vom Text. Der subjektive Anteil am literarischen Text als rezipiertem wird endlich als seine (geschichtliche) Objektivität begriffen.“ (Faulstich 1976: 81)

7

Zur ausführlichen Kritik des Begriffs des impliziten Lesers vgl. z.B. Holub

8

Programmatische Grundlagen sind bereits in Norbert Groeben: Literatur-

(1984) S. 84f. psychologie (1972) enthalten, differenzierter ausgearbeitet in ders: Rezeptionsforschung als empirische Literaturwissenschaft (1977).

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Auch der Medienwissenschaftler Helmut Korte greift in seinen filmanalytischen Texten auf Aspekte der Rezeptionsästhetik zurück. Er verweist nicht nur zu Recht darauf, dass auch die quantitativen Methoden der Empirie nur eingeschränkt aussagekräftig sind, sondern auch überhaupt auf die Unzweckmäßigkeit des Streites zwischen qualitativer und quantitativer Methodik, denn es könne „nicht darum gehen, die Subjektivität des Untersuchenden gegen eine vermeintliche Objektivität auszutauschen, die es im Sinne mathematischer Exaktheit hier ohnehin nicht gibt.“ (Korte 1999: 15) Vielmehr sei anzustreben, „die Möglichkeiten beider Erkenntniswege zu verbinden, in einer ‚Verschränkung qualitativer und quantitativer Kategorien und Methoden‘“ (Korte 1999: 15, vgl. auch ders. 1998: 35). Für Korte umfasst eine „differenzierte Analyse […] gleichermaßen die systematische Untersuchung der Werkstruktur, der zeitgenössischen Rezeptionsdokumente [wie etwa Rezensionen] und der historisch-gesellschaftlichen Kontextbedingungen“ (Korte 1998: 42). Mit dieser empirisch-demoskopischen Ausrichtung seines „Idealmodell[s] einer historischen Filmanalyse“ (Korte 1998: 41) geht Korte weit über eine reine Produktanalyse hinaus. Eberhard Lämmert merkte in Bezug auf die Rezeptionsästhetik kritisch an, dass der Begriff einer werkimmanenten Interpretation „eigentlich ein Widerspruch in sich“ (Lämmert 2002: 30) sei, und zielte damit ebenfalls auf die Problematik der vernachlässigten Subjektivität ab. Er warf der Rezeptionsästhetik außerdem vor, die Position des Autors und insbesondere der Autorintention nur scheinbar eliminiert zu haben, denn an ihre Stelle sei die Werkintention getreten. Diese sei zwar relativ unabhängig vom Autor, aber die Leser blieben somit weiterhin einer Autorität verhaftet. (Vgl. Lämmert 2002: 31) Lämmert sieht die werkimmanente Interpretation der Rezeptionsästhetik nur als die „Vorstufe eines leserorientierten Umgangs mit Literatur“ (Lämmert 2002: 31). Allerdings wertet er sie damit durchaus als „eine notwendige und überdies ziemlich erfolgreiche Etappe auf dem Wege zur Verwissenschaftlichung eines aktiven Rezeptionsverhaltens“ (Lämmert 2002: 31). Trotz deutlicher Hinweise auf die Defizite der Rezeptionsästhetik kommt Adam zu dem Ergebnis, „daß der rezeptionstheoretische Ansatz wohl den einzigen bemerkenswerten innovativen Beitrag der deutschsprachigen Literaturwissenschaft nach 1945 zur internationalen Methoden-

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diskussion gebildet hat.“ (Adam 2002: 11)9 Er habe maßgeblich zur „wachsenden Aufmerksamkeit für die unterschiedlichen Wirkungen eines Textes“ (Lämmert 2002: 31) beigetragen. Zwar ist die tatsächliche Auseinandersetzung mit den Konzepten inzwischen in der Literaturwissenschaft selbst in den Hintergrund getreten, andere geisteswissenschaftliche Disziplinen hingegen griffen durchaus – mit zeitlicher Verzögerung – auf einige Aspekte der Rezeptionsästhetik zurück.

A KTUELLE A NSCHLUSSDISKURSE Auch wenn die konkreten rezeptionsästhetischen Konzepte selbst außerhalb der Literaturwissenschaft zuerst nur wenig rezipiert wurden, schlug sich die grundlegend veränderte Perspektive auf das Verhältnis zwischen Text und Leser durchaus spürbar in den Geisteswissenschaften nieder, was schließlich auch in anderen Disziplinen nicht folgenlos blieb. (Vgl. Korte 1999: 18f) Wolfgang Kemp übertrug Mitte der 1980er Jahre die Rezeptionsästhetik in die Kunstwissenschaft, indem er die innere Orientierung von Kunstwerken thematisierte. Demnach stellen innerbildliche Strukturen ein Kommunikationsangebot, eine Öffnung des Bildes für die Betrachter her, die dadurch einbezogen werden. Dies geschieht hauptsächlich über die Positionierung der Gegenstände im Bild, die Perspektive auf das Gezeigte, die Wahl des Bildausschnitts sowie durch Blicke und Gesten. Kemp benutzt zur Beschreibung der Phänomene explizit die Begriffe Unbestimmtheitsstelle und Leerstelle und referiert damit auf punktuelle Unvollendetheiten von Bildern, die durch die Betrachter vervollständigt werden. Mit Iser spricht er dabei von „Scharnieren“ (Kemp 2003: 248) zwischen Bild und Betrachter. „Das vergleichsweise späte Übergreifen von deren Konjunktur10 […] auf die Kunstwissenschaft als Wissenschaft des Sehens von Bildern (im Unterschied zum Lesen von Texten)[] hatte alle Vorteile der Verspätung: Es ersparte die anfänglichen Irritationen eines empiristischen Missverständnisses von Rezeption qua historischer

9

Adam beruft sich hier auf Rainer Rosenberg: Jahresbericht der Geisteswissenschaftlichen Zentren, Berlin 1996, S. 113.

10 Er bezieht sich hier auf die Konjunktur rezeptionsästhetischer Theoreme.

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Rezeptionsvorgaben und Rezeptionsweisen ebenso wie die zunehmenden methodischen Komplikationen des Lektürebegriffs, die eben dabei waren, den Begriff der Rezeption in einem übergreifenden historischen Prozess der Dekonstruktion aufzuheben, überholt und sekundär erscheinen zu lassen.“ (Haverkamp 2005: 113)

Seitdem haben sich rezeptionsästhetische Aspekte in der Kunstwissenschaft dauerhaft etabliert, darunter weitere, explizit leerstellenbezogene Konzepte wie beispielsweise Hans Dieter Hubers Aufsatz Leerstelle, Unschärfe und Medium (2000), Fatma Yalçins Untersuchung Anwesende Abwesenheit (2004) sowie auch Gottfried Boehms Beschäftigung mit Unbestimmtheit in Bildern (2007: 199ff) belegen. In der Medienwissenschaft wurden die Reflexionen der Rezeptionsästhetik zunächst kaum wahrgenommen. Ende der 1980er Jahre fand schließlich auch hier eine langsame „Reaktualisierung“ (Korte 1999: 19) rezeptionsästhetischer Aspekte statt. Eine disziplinenübergreifende Renaissance der Narratologie insgesamt seit Mitte der 1990er Jahre lenkte das Interesse wieder verstärkt auf rezeptionsästhetische Ansätze und führte schließlich zur Wiederentdeckung des Konzeptes Leerstelle, was sich im vermehrten Gebrauch des Begriffes auch in der Medienwissenschaft zeigt.11 Parallel zu diesem zurückgekehrten Interesse an der Narratologie schlug sich in einigen geisteswissenschaftlichen Disziplinen zudem verstärkt ein kognitivistischer Trend nieder, der seine Wurzeln bereits in den 1980er Jahren hat und in dessen Rahmen die Perspektive auf Aspekte des Wahrnehmens und Verstehens von Texten gelenkt wurde, was ebenfalls zu einem aktiveren Verständnis von Rezeptionsprozessen geführt hat. (Vgl. z.B. Bordwell 1992; Bordwell 1989, Ohler 1990)12

11 Zum neuen Boom der Erzähltheorie seit Mitte der 1990er Jahre siehe z.B. Nünning/Nünning (2002). Die Autoren weisen darauf hin, dass an die Stelle der strukturalistischen Erzähltheorie mit ihrer Ausrichtung auf die Beschreibung statisch gedachter Gegenstände nun eine an der „Dynamik des Rezeptionsprozesses“ (Nünning 2002: 24) interessierte, ‚postklassische‘ Erzähltheorie getreten sei. 12 Dieser Trend, der häufig auch als cognitive turn bezeichnet wird, betrifft die „zunehmende Annäherung von Natur- und Kulturwissenschaften im Zeichen der neueren Forschung von Wahrnehmung und Wissen“ (Jagow 2005: 254). In dieser kognitivistischen Perspektive ist auch die neoformalistische Filmanalyse

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Korte selbst wendet in Der Spielfilm und das Ende der Weimarer Republik (1998) den rezeptionsästhetischen Ansatz für die Filmanalyse an. Obwohl er diesen „theoretisch hinreichend begründeten Versuch einer praktischen rezeptionshistorischen Analyse als wissenschaftliche Gratwanderung […] zwischen nachweisbaren, objektiven Daten, weitgehend nachvollziehbaren Interpretationen und der Gefahr tendenzieller Spekulationen“ (Korte 1998: 47) bezeichnet, betont er dennoch die Relevanz dieses Unternehmens, „da ein genereller Verzicht (aus Gründen wissenschaftlicher Objektivität) nur um den Preis einer erheblichen Reduzierung filmhistorischer Forschung möglich wäre, die das Medium seiner wichtigsten gesellschaftlichen Dimension – der Wirkung und politischen Funktion – berauben würde.“ (Korte 1998: 47) Allerdings geht er dabei, wie bereits beschrieben, über die reine Produktanalyse, wie sie hier angestrebt ist, hinaus und schließt mit einer Kontextanalyse sowie einer Rezeptionsanalyse empirisch zu erhebende, historisch-zeitgenössische Aspekte mit in seine Betrachtungen ein. Dorothee Kimmich geht in ihrem Aufsatz Die Bildlichkeit der Leerstelle (2003) den Spuren des Phänomens Leerstelle in frühen Filmtheorien nach, um zu belegen, dass dieses auch in „bekannten und einflussreichen Medien- und Kulturtheorien […] eine wichtige Rolle spielt“ (Kimmich 2003: 320f). Wie sie selbst einräumt, ist für ein solches Vorhaben die Untersuchung von Filmmaterial selbst erforderlich. Kimmich beschränkt sich in ihrer Darlegung allerdings auf einen Anriss der Thematik, indem sie sich auf den Aspekt der Montage begrenzt und diesen kursorisch durch einige theoretische Konzepte verfolgt. Sie kommt zu dem Schluss, dass „kein Zweifel daran bestehen [kann], daß es sich hier um zentrale Fragen ästhetischer Theorie handelt. Das Konzept der ‚Leerstelle‘ oder der ‚Unbestimmtheitsstelle‘ hat in der Geschichte der ästhetischen Theorie seit den zwanziger Jahren ohne Frage eine größere Bedeutung, als dies im ersten Moment erscheint.“ (Kimmich 2003: 335) Die Zukunft der Leerstelle in der Medienwissenschaft sieht sie allerdings in den digitalen Medien, die eine tatsächliche Interaktion zwischen Text und Rezipienten zuließen. Auch Fabienne Liptay widmet sich dem Phänomen der Auslassungen in filmischem Erzählen. Zunächst verweist sie in ihrem Aufsatz Leerstellen im

zu sehen, auf die anhand der Ausführungen von Kristin Thompson später noch einzugehen ist.

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Film. Zum Wechselspiel von Bild und Einbildung (2006) auf das Diktum von Philippe Durand, dass der Film „un art de l’ellipse“ (Durand 1993) sei und macht sich damit für die Montage als leerstellenerzeugendes Prinzip stark, was durch die Kuleschow-Experimente eindrücklich belegt wurde. Neben der Montage bezieht sie sich darüber hinaus auf die Cadrage und diskutiert sowohl die räumlichen als auch die zeitlichen Strukturen filmischer Leerstellen. Anders als Kimmich verzichtet Liptay auf den Rückbezug auf filmtheoretische Texte, sondern belegt ihre Überlegungen an zahlreichen Beispielen, die nicht nur Filmen, sondern auch der Malerei entstammen. Sie unterscheidet, ähnlich Eco, zwischen „Leerstellen, deren Auffüllung automatisch und unbemerkt erfolgt, und solchen, die regelrecht ins Auge springen“ (Liptay 2006: 110), wobei erstere „nicht eine Ausnahme, sondern eine Regel filmischen Erzählens“ (Liptay 2006: 110) darstellen, während letztere als „Stolpersteine, Irritationsmomente oder ungelöste Rätsel [auftreten], ein Stilmerkmal zuweilen, das der Regisseur für seine Erzählabsicht instrumentalisiert.“ (Liptay 2006: 110) An dieser Stelle lässt sich die Frage stellen, ob nach der für diese Arbeit relevanten Begriffsbestimmung von Leerstellen als bedeutungstragendem Fehlen die erste Variante, also der „Normalfall“ (Liptay 2006: 110), nicht aus der Definition ausgeschlossen werden muss, sofern diese Art des unproblematischen Auffüllens nichts anderes meint als das Herstellen der Fabula aus den Elementen des Sujet und es sich weniger um Leerstellen als vielmehr um Ellipsen13 handelt. Denn auch wenn das Aneinanderstoßen der Einstellungen immer ein Verkoppeln erfordert, erzeugt nicht jeder Schnitt zwingend eine Leerstelle. Liptays Verweis auf Gombrichs Etcetera-Prinzip14 – wie dieser es etwa bei optischen Täuschungen erkennt, die von den Betrachtern komplettiert

13 Zum Begriff der Ellipse siehe Genette (1994). Genette unterscheidet zwischen drei Formen von Ellipsen. Sie können explizit als Ellipsen thematisiert werden, z.B. durch den Hinweis „einige Jahre vergingen“ (Genette 1994: 76), sie können aber auch implizit auf ihr Vorhandensein verweisen und als „chronologische[] Lücke“ (Genette 1994: 77) auftreten, etwa wenn über einen gewissen Zeitraum innerhalb der erzählten Zeit nicht informiert wird. Und schließlich können sie als hypothetische Ellipsen auftreten, die erst retrospektiv offenbar werden. 14 Mit ‚Etcetera-Prinzip‘ bezeichnet Gombrich die auf einer „psychologischen Reaktion“ (Gombrich 1986: 239) beruhende Illusion von Vollständigkeit, während

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werden – macht deutlich, wie nahe hier die Leerstellenproblematik dem Bereich des unzuverlässigen Erzählens kommt. Auffüllungen, die zunächst problemlos und unreflektiert erfolgen, können sich im Nachhinein oder bei genauerer Betrachtung als durchaus intendierte Illusion erweisen, basierend auf den Codes der good continuity. In zwei weiteren Publikationen – Spinn’ es noch einmal, Spider! Ambiguität als Voraussetzung für die doppelte Filmlektüre am Beispiel von David Cronenbergs „Spider“ (2006) und Weder richtig noch falsch. Mehrdeutigkeit in Ang Lees „Brokeback Mountain“ (2007) – bezieht Liptay sich ebenfalls auf leerstellenrelevante Aspekte, nämlich die Ambiguität bzw. Mehrdeutigkeit, allerdings unter dem Vorzeichen des unzuverlässigen Erzählens, das zwar durchaus Überschneidungspunkte mit den Leerstellenphänomenen aufweist, aber dennoch nicht mit diesem gleichzusetzen ist, denn das unzuverlässige Erzählen bedarf zwar der spezifischen Offenheit, wie sie durch Leerstellen erzeugt wird, aber nicht jede Leerstelle dient dazu, das Erzählen unzuverlässig werden zu lassen. Für Trias-Afroditi Kolokitha sind filmische Leerstellen das NichtSichtbare, das in den Zwischenräumen und Übergängen der Bilder stattfindet. Damit fällt das Themengebiet Leerstelle bei Kolokitha zum einen in den Bereich der Intermedialität, die sich mit Übergängen und dem Dazwischen im Sinne intermedialer Beziehungen und Transformationsprozesse befasst. Zum anderen eröffnet das apparative Dazwischen, in dem durch Differenz die Bewegung entsteht, auch den Zugang zur Leerstelle als einer Verräumlichung. „Es geht in diesem Sinne zunehmend um Bilder der Fragmentierung von Linearität, um Verzweigungen und Kausalitätsbrüche sowie um das Moment der differentiellen Ununterscheidbarkeit.“ (Kolokitha 2005: 14) Dieses Konzept von Leerstelle wendet sie mit einem Theorienmix der theoretischen Ansätze von Raymond Bellour, Joachim Paech sowie Jacques Derrida, Gilles Deleuze, Michel Foucault und Michail Bachtin auf die Filme Jean-Luc Godards an und beschreibt die Leerstelle zwischen den Bildern als „einen differentiellen Ort zwischen Anwesenheit und

nur „einige Glieder einer Reihe“ (Gombrich 1986: 239) tatsächlich wahrgenommen werden. Durch „geschickte Anordnung“ (Gombrich 1986: 240) werden die Betrachter zu „einer bestimmten Erwartungsvorstellung“ (Gombrich 1986: 242) gebracht, so dass sie das Angedeutete ergänzen.

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Abwesenheit“ (Kolokitha 2005: 17).15 Sie widmet sich „der Aufgabe, das Phänomen des Zwischenraums und des Übergangs zwischen verschiedenen Topologien in einem interdisziplinären und intermedialen Fokus zu betrachten und in einen gemeinsamen Rahmen von solchen Bildern zu setzen, in denen Operationen des Dazwischen erkennbar sind.“ (Kolokitha 2005: 13) Damit steht Kolokitha – die einen breiten Überblick über den bisherigen Forschungsstand zur Leerstelle sowohl in der Rezeptionsästhetik als auch in strukturalistischen Ansätzen und in der Kunstwissenschaft gibt – mit ihrem Konzept von Leerstelle weniger in einer rezeptionsästhetischen, als vielmehr in einer medienphilosophischen Tradition. Eine ähnlich medienphilosophische Provenienz gilt auch für Valerie Deifel. Sie greift in ihrem Aufsatz Die Leerstelle in Film und Wahrnehmung (2009) wie Kolokitha auf Deleuze zurück und stellt dessen Ansatz des leeren Feldes dem Aspekt der Offenheit gegenüber, wie Eco ihn beschreibt, jedoch ohne die beiden Konzepte direkt aufeinander zu beziehen. Sie ergänzt diese doppelte Perspektive auf Leerstellen um eine weitere, kognitionspsychologische und kommt zu dem Schluss, dass „[d]ie Figur der Leerstelle […] immer dann auf[taucht], wenn sich in der Regel einer Strukturordnung eine Öffnung auftut, ein leeres Feld mit Potential zur Auffüllung.“ (Deifel 2009: 207) Der rezeptionsästhetische Ursprung des Begriffes Leerstelle bleibt unberücksichtigt. Die vorliegende Arbeit verfolgt das Ziel, einige der in diesen Ansätzen bereits angedachten Aspekte aufzugreifen und weiterzuführen und gleichzeitig Versäumtes nachzuholen. Eine konkrete und theoretisch gestützte Übertragungsarbeit der rezeptionsästhetischen Konzepte auf audiovisuelles Erzählen, wie sie diese Arbeit vornehmen will, ist bisher noch nicht umfassend erfolgt. Diesem Desiderat, das die bisherigen Ansätze deutlich markieren, soll begegnet werden, indem zunächst die zentralen Begriffe des Themenkomplexes Leerstelle aus den Texten Roman Ingardens und Wolf-

15 Paech spricht in Anlehnung an Bellours Entre-image von Zwischenbild. (Vgl. Paech 1990, Bellour 1990) Bei Jacques Derrida bezieht Kolokitha sich auf den Begriff der différance. (Vgl. Derrida 2004) Zu Begriff des Rhizom siehe Deleuze/Guattari (1977), zentral auch seine Texte zum Bewegungs-Bild (Deleuze 1997a) und zum Zeit-Bild (Deleuze 1997b). Bei Michel Foucault wird auf die Überlegungen zur Heterotypie, bei Michail Bachtin auf das Chronotopiekonzept zurückgegriffen. (Vgl. Foucault 1990, Bachtin 1986)

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gang Isers kritisch rekonstruiert werden, um zu einer Primärdefinition zu gelangen. Die medienübergreifende Relevanz des Konzeptes Leerstelle soll anschließend anhand vergleichbarer inhaltlicher Aspekte in den klassischen film- und fernsehtheoretischen Texten ausführlich nachgewiesen und schließlich detailliert am Material überprüft werden.

III. Die Leerstelle in der Literaturwissenschaft

Es soll hier sicherlich keine Wiederbelebung der Rezeptionsästhetik in ihrer gesamten theoretischen Breite betrieben werden. Es ist aber andererseits auch nicht erforderlich, aufgrund einzelner, umfassend kritisierter Defizite und Schwierigkeiten gleich die gesamten Reflexionen der Rezeptionsästhetik zurückzuweisen oder gar die Legitimität der theoretischen Fragestellung in Zweifel zu ziehen. Die vorliegende Arbeit will zeigen, dass es sich lohnt, zentrale Kategorien der Rezeptionsästhetik kritisch zu rekonstruieren, ohne damit erneut die Kritik der Empiriker herauszufordern. Denn es soll hier nicht um konkrete Rezeption gehen, sondern um Aspekte der Ästhetik, um Prämissen des Textes. Das Interesse liegt dabei auf dem Themenkomplex der Leer- bzw. Unbestimmtheitsstelle, wie ihn zunächst Ingarden und darauf aufbauend Iser beschreiben. Trotz des gemeinsamen Themas Leerstelle weisen die Ausführungen beider Theoretiker deutliche Unterschiede in den jeweiligen Fragestellungen und Ausrichtungen auf. Jeder der beiden Ansätze erfasst dabei relevante Teilaspekte des Gesamtzusammenhangs, die sich in der Zusammenschau – nicht additiv, sondern synthetisch – gewinnbringend ergänzen.

R OMAN I NGARDENS K ONZEPT DER SCHEMATISIERTEN A NSICHTEN In seinem Buch Das literarische Kunstwerk thematisiert Roman Ingarden die Differenz zwischen der Wahrnehmung real existierender Gegenstände

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und der Wahrnehmung verbaler Darstellungen von Gegenständen in Texten. Er weist darauf hin, dass die in Texten „dargestellten Gegenstände durch die Sachverhalte nur zur Schau gestellt, aber nicht wirklich zur anschaulichen Erfassung gebracht werden können“ (Ingarden 1972: 270). Während reale Gegenstände „allseitig […] eindeutig bestimmt“ (Ingarden 1972: 261) sind, weisen intentionale Gegenstände wie die geistigen Vorstellungsbilder, die der Rezipient beim Lesen konkretisiert, Unbestimmtheiten auf. Das bedeutet, die Vorstellung, die beim Lesen eines Wortes von dem damit Bezeichneten entsteht, ist nie so detailliert wie die Ansicht des realen Gegenstandes selbst. Diese Vorstellung, d.h. das geistige Korrelat eines wahrgenommenen Gegenstandes, bezeichnet Ingarden als intentionalen Gegenstand.1 Verhältnis von Gegenstand und Vorstellung Die These, dass die Vorstellungen von sprachlich bezeichneten Gegenständen weniger detailliert sind als die realen Gegenstände, leitet Ingarden aus der Phänomenologie Edmund Husserls2 ab. Ingarden unterscheidet dabei – zunächst noch unabhängig von der Literatur – den realen Gegenstand von der wahrgenommenen Ansicht3 dieses Gegenstandes. Der reale Gegenstand ist von der Wahrnehmung unabhängig, die Ansicht jedoch, das geistige Vorstellungsbild, ist immer auf das wahrnehmende Sub-

1

Unter intentionalen Gegenständen versteht Ingarden Gegenstände, die von Bewusstseinsvorgängen abhängen und ohne diese nicht existieren würden. Romanfiguren beispielsweise sind für ihn solche intentionalen Gegenstände, denn das Seinsfundament des intentionalen Gegenstandes liegt außerhalb seiner selbst. Hier weicht er von Husserl ab, für den intentionale Gegenstände solche sind, auf die sich ein Bewusstseinsvorgang richtet, wohingegen er das, was Ingarden als intentionalen Gegenstand bezeichnet, bloß intentionalen Gegenstand benennt. (Vgl. Ingarden 1972: 27ff; Husserl 1995; für einen Vergleich der Positionen Chrudzimski 2005)

2

Vgl. z.B. Edmund Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie oder ders: Cartesianische Meditationen.

3

Ingarden beschränkt sich hier auf die visuellen Ansichten, weist jedoch darauf hin, dass auch andere Sinneswahrnehmungen zu Ansichten führen, „z.B. taktuelle, tonale usw.“ (Ingarden 1972:277)

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jekt einerseits und auf den wahrgenommenen realen Gegenstand andererseits bezogen. Diese Ansicht, die eigentlich vielmehr als eine „kontinuierliche Mannigfaltigkeit von Ansichten, die ständig ineinander übergehen“ (Ingarden 1972: 273) vorzustellen ist, enthält nicht die Eigenschaften, die das reale Objekt besitzt. Betrachtet man beispielsweise eine rote Kugel, so Ingardens Beispiel, dann ist die reale Kugel „kugelig“ (Ingarden 1972: 274). Die Ansicht jedoch ist weder „kugelig, noch enthält sie in ihrem Gehalte die Kugelgestalt. Sie enthält in ihm nur eine – wenn man so inkorrekt sagen darf – ‚runde Scheibe‘, allerdings mit einem ganz eigentümlichen Hinweis auf die Kugelgestalt.“ (Ingarden 1972: 274) Die Ansicht repräsentiert nur die Qualitäten der dem wahrnehmenden Subjekt zugewandten Seite der Kugel.4 „Kein Vorurteilsloser wird aber bezweifeln können, daß uns nicht die ‚Vorderseite‘ der Kugel, die überhaupt keine hintere Seite und kein Inneres hätte, sondern die allseitig bestimmte Kugel gegeben ist und daß uns somit auch ihre abgewandte Seite mitgegeben ist. Ihre bloße Mitgegebenheit aber spiegelt sich auf solche Weise in den zugehörigen Ansichten, daß die vordere Seite der Kugel in den Ansichten durch erfüllte Farbenqualitäten, die von uns gerade abgewandte Seite der Kugel dagegen nur durch einen eigentümlichen anschaulichen Charakter zur Erscheinung gebracht wird, der darauf hinweist, daß die Kugel eine so und so bestimmte von uns abgewandte Seite besitzt, dass sie dort z.B. auch eine Kugeloberfläche besitzt, die rot gefärbt ist usw.“ (Ingarden 1972: 274f)

Für Ingarden enthält also das Gegebene Informationen, die Schlüsse auf das Nichtgegebene zulassen. Die abgewandte Seite eines Gegenstandes ist, so Ingarden, in ihren qualitativen Bestimmtheiten jeweils in der Wahrnehmung der zugewandten Seite in irgendeiner Form mitgegeben. Zwar wird die abwesende Seite nur in einer unerfüllten Qualität repräsentiert und

4

Ingardens Ausführungen sind aus heutiger neurowissenschaftlicher Perspektive sicherlich angreifbar, denn die Ansichten bestehen weder aus Kugeln noch aus (zweidimensional gedachten) Scheiben, sondern lediglich aus elektrischer Spannung bzw. chemischen Reaktionen. Dass der Mensch in der Lage ist, sich abwesende Dinge vorzustellen, beweist jedoch, dass aus dieser Hirnaktivität ein gewisses visuelles Korrelat resultiert, eine optisch erscheinende Vorstellung vor dem ‚inneren Auge‘.

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unterscheidet sich somit von der Vorderseite, die in erfüllten Qualitäten gegeben ist. Allerdings ist die mitgegebene unerfüllte Qualität für Ingarden „etwas phänomenal Anwesendes und nicht etwas bloß signitiv Vermeintes“ (Ingarden 1972: 276). Dabei kann diese Unerfülltheit hinsichtlich ihrer Qualität und Quantität stark variieren, wobei er das Maximum der Unbestimmtheit bei der Wahrnehmung von völlig unbekannten Gegenständen festmacht. Implizit wird daraus deutlich, dass neben den mitgegebenen Qualitäten die Erfahrung mit den Dingen bei der Bildung der Ansichten ebenfalls eine Rolle spielt. Entsprechend können die Ansichten Veränderungen unterworfen sein. „Die Ansichten, die wir im Laufe der Erfahrung von ein und demselben Dinge erleben, verwandeln sich auf verschiedene Weise, und manches, was in einer früheren Ansicht nur in der Gestalt einer unerfüllten Qualität aufgetreten war, ist in der späteren unter der Gestalt einer erfüllten Qualität vorhanden und umgekehrt.“ (Ingarden 1972: 277)

Aus der „Gesamtheit derjenigen Momente des Gehaltes einer konkreten Ansicht“ (Ingarden 1972: 297), oder einfacher ausgedrückt, aus der Summe der variierenden konkreten Ansichten eines Gegenstandes ergibt sich schließlich die schematisierte Ansicht, die eine Art „Skelett“ (Ingarden 1972: 297) der „objektiven Eigenschaften eines Dinges“ (Ingarden 1972: 297) bildet. Zusammengefasst bedeutet das, dass die Ansicht, also das geistige Vorstellungsbild des Betrachters von einem wahrgenommenen Objekt, nicht nur Aspekte der wirklich wahrgenommenen Perspektive auf das Objekt enthält, sondern dass immer auch eine Vorstellung über die abgewandten, nicht wahrnehmbaren Perspektiven des Objektes existiert. Diese Vorstellung beruht auf den mitgegebenen Informationen, die Ingarden als etwas phänomenal Anwesendes wertet. Damit schreibt er dem Vorstellungsbild der abgewandten Seite eine Qualität zu, die der des Vorstellungsbildes der zugewandten Seite gleichkommt. Eine wichtige Rolle spielt dabei die Erfahrung mit dem realen Objekt. Wie genau die ‚unerfüllten‘ Informationen über die abgewandten Perspektiven des Objekts nun aber zustande kommen und wie man sich die ‚eigentümlichen Hinweise‘ auf die abwesende Seite und das ‚Mitgeben‘ dieser Informationen genau vorzustellen hat, bleibt jedoch vage.

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Ansichten in literarischen Werken Die so beschriebenen Ansichten erkennt Ingarden auch in literarischen Kunstwerken, denn ein literarisches Werk ist für ihn ein schematisches Gebilde, das die in ihm dargestellten Gegenstände nicht in der allumfassenden Detailliertheit realer Gegenstände beschreiben kann. Der reale Gegenstand „weist in seinem Sosein keine Unbestimmtheitsstelle auf“ (Ingarden 1972: 261), denn er ist „allseitig (d.h. in jeder Hinsicht) eindeutig bestimmt.“ (Ingarden 1972: 261) Die durch Begriffe nominal entworfenen Gegenstände in literarischen Werken hingegen sind schematisch und können „nie voll durch materielle Bestimmtheit ausgefüllt werden“ (Ingarden 1972: 264) bzw. eine solche „phantasiemäßig aktualisierte Ansicht“ (Ingarden 1972: 287), wie sie aus dem Prozess des Lesens resultiert, kann nie „die Lebendigkeit und Lebhaftigkeit haben, wie eine wahrnehmungsmäßig erlebte.“ (Ingarden 1972: 287) Kurz gesagt bedeutet das, dass aus den Worten eines Textes bei den Lesern ebensolche visuellen Vorstellungen entstehen wie aus der Wahrnehmung von Dingen. Diese Ansichten sind ebenfalls naturgemäß unvollständig bzw. nicht vollständig bestimmt. Es handelt sich um schematische Ansichten, um „Idealisierungen“ (Ingarden 1972: 279) des jeweiligen Gegenstandes. „Denn bei den einfachen nominalen Ausdrücken, wie ‚Tisch‘, ‚Mensch‘ usw., wird der zugehörige intentionale Gegenstand explicite und actualiter hinsichtlich seiner materialen Ausstattung nur in einem Moment seiner konstitutiven Natur entworfen, so daß schon z.B. die zum Menschsein gehörigen unentbehrlichen materialen Bestimmtheiten nur implicite und potentialiter mitvermeint werden. Wird ein individueller Gegenstand ‚Mensch‘ genannt und in dieser Nennung entworfen und materialiter als ein solcher bestimmt, so sind damit noch nicht alle seine (an Zahl unendlich vielen) Eigenschaften positiv eindeutig bestimmt. Die meisten von ihnen werden durch den potentiellen Bestand der nominalen Wortbedeutung nur als irgendwelche aus dem Bereich der möglichen Fälle eines bestimmten Typus von Bestimmtheiten mitvermeint, aber zugleich in ihrer Washeit nicht eindeutig angegeben.“ (Ingarden 1972: 264)

Alle in Texten dargestellten Gegenstände enthalten also a priori immer Unbestimmtheitsstellen, denn sie können nicht in der Detailliertheit entworfen werden, die die Wahrnehmung des realen Gegenstandes bietet. In der Vor-

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stellung der Leser entsteht eine rein schematische Ansicht des Gegenstandes, die von Unbestimmtheitsstellen begleitet ist. Dieses „Skelett“ (Ingarden 1972: 297) des Gegebenen wird nach Ingarden von den Lesern imaginativ ergänzt. „Nehmen wir an, daß ein bestimmter Leser dieses Romans [L’âme enchantée von Romain Rolland] Paris nicht aus eigener Erfahrung kennt. Bei der Lektüre aktualisiert er natürlich u.a. die in dem genannten Werk vorbestimmten Ansichten von den betreffenden Straßen. Da er aber die entsprechenden Ansichten nie in concreto bei einer originären Wahrnehmung dieser Straßen erlebt hat, so gelingt ihm ihre Aktualisierung nie so, daß die Gehalte der von ihm aktualisierten Ansichten eine bis ins einzelne gehende Ähnlichkeit mit jenen aufweisen könnten, die er erlebt hätte, wenn er die betreffenden Straßen einmal wirklich wahrgenommen hätte. Die vorbestimmten Ansichtenschemata werden bei der Lektüre immer durch verschiedene Einzelheiten ergänzt und ausgefüllt, die eigentlich nicht zu ihnen gehören und welche der Leser aus den Gehalten anderer ehemals erlebter, konkreter Ansichten schöpft.“ (Ingarden 1972: 28f)

Daraus lässt sich schließen, dass die Leser zur Ausfüllung der Unbestimmtheitsstellen nicht nur die den Ansichten ‚mitgegebenen‘ Qualitäten hinzuziehen, sondern auch von der Wahrnehmung der im Text beschriebenen Gegenstände völlig unabhängige, aus ihren individuellen – und damit intersubjektiv divergierenden – Erfahrungen resultierende Einzelheiten hinzufügen. Trotz dieser individuellen Ergänzungen lassen sich die Unbestimmtheitsstellen niemals ganz beseitigen. Letztendlich allerdings „spüren wir bei einer Lektüre keine ‚Lücken‘, keine ‚Unbestimmtheitsstellen‘ in den dargestellten Gegenständen. Die letzteren treten uns in der ästhetischen Erfassung ganz so, als ob sie in der erwogenen Hinsicht reale Gegenstände wären, entgegen“ (Ingarden 1972: 267). Die in literarischen Werken dargestellten Objekte gehen dabei, so Ingarden, über reine Abbildungen des real Existierenden hinaus. Sie sollen vielmehr „das Abgebildete ‚repräsentieren‘, d.h. sie müssen das Abgebildete so gut abbilden, daß man wenigstens bis zu einem gewissen Grade vergißt, daß sie ‚bloß Abbildungen‘ und nicht das Abgebildete selbst sind.“ (Ingarden 1972: 258) Diese These stellt einen Hauptkritikpunkt Isers dar, der Ingarden eine Ambivalenz vorwirft. Zum einen postuliert dieser, Unbestimmtheitsstellen seien nie vollständig

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bestimmbar, zum anderen behauptet er, sie können die vollständige Bestimmtheit eines realen Gegenstandes vortäuschen. (Vgl. Iser 1976: 267ff) Der Hinweis darauf, dass der Prozess des Lesens weitgehend ungestört verläuft und der Text nicht als lückenhaft empfunden wird, impliziert, dass Ingarden hier von einem unbewussten Prozess des ‚Auffüllens‘ ausgeht. Die Leser ‚stolpern‘ nicht über die Unbestimmtheitsstellen, sondern ergänzen fehlende Informationen unreflektiert. Daraus wird deutlich, dass es Ingarden allein um den ontologischen Status textuell erzeugter Visualisierungen geht und er in keiner Weise die Möglichkeit einer narrativfunktionalen Instrumentalisierung dieser Unbestimmtheiten in literarischen Werken in Betracht zieht. In einem späteren Abschnitt, den er mit Ergänzungen und Konsequenzen übertitelt, widmet Ingarden sich in einem Kapitel der Betrachtung von ‚Grenzfällen‘, darunter auch dem kinematographischen Schauspiel. Dabei unterscheidet er wie die literarischen Kunstwerke von der wissenschaftlichen Literatur auch die kinematographischen Kunstwerke von den wissenschaftlichen oder Informationsfilmen. In einem kinematographischen Kunstwerk5, so Ingarden, „gelangen die dargestellten Gegenständlichkeiten nicht als reale, sondern nur als quasi-reale, nur im Habitus der Realität auftretende in Erscheinung. […] Und nicht die realen Gegenstände als reale, sondern das von ihnen Abgebildete bzw. Repräsentierte gehört (nach der gemachten Aufnahme und vollzogenen Projektion) als Schicht zum Aufbau des kinematographischen Schauspiels.“ (Ingarden 1972: 348f) Ingarden unterscheidet demnach explizit die Wahrnehmung eines Gegenstandes im Film von der Wahrnehmung des realen Gegenstandes. Die projizierten Bilder stellen keine „realen, seinsautonomen Gegenstände [dar], sondern nur Phantome“ (Ingarden 1972: 348), die erst durch den Rezeptionsprozess im Sinne von Gegenständlichkeiten wahrgenommen werden. Damit ähneln Filmbilder für ihn eher den Ansichten, also den geistigen Vorstellungsbildern des jeweils wahrnehmenden Subjekts, als den realen

5

Zwar erschien Das literarische Kunstwerk 1931, es wurde allerdings bereits 1926 geschrieben. Daher bezieht sich Ingarden ausschließlich auf den Stummfilm. Entsprechend betont er, dass der Fokus im Kino hauptsächlich auf den sichtbaren Geschehnissen liegen muss, da das Kino sonst „nur ein Parasitenleben im Verhältnis zum Theater und zur Literatur“ (Ingarden 1972: 347) führen könne.

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Gegenständen, die sie abbilden.6 Die Frage, was bei einem solchen kinematographischen Schauspiel dargeboten wird, beantwortet Ingarden wie folgt: „Eine diskontinuierliche, aber ihre Diskontinuierlichkeit verbergende Mannigfaltigkeit von ‚Bildern‘, von welchen ein jedes eine mit photographischen Mitteln hergestellte Rekonstruktion einer visuellen Ansicht eines bestimmten Gegenstandes oder einer bestimmten gegenständlichen Situation ist.“ (Ingarden 1972: 344)

Hieraus wird deutlich, dass er die intermittierende Projektion der Einzelbilder als von Lücken unterbrochene Ansichten versteht. Allerdings verläuft nach Ingarden auch hier die Rezeption ungestört von den Lücken zwischen den Einzelbildern, da die Frequenz die Diskontinuität verbirgt. Entsprechend dieser Feststellung kann die Diskontinuität der Projektion gerade nicht als leerstellenrelevant gelten, denn der „Ansatzpunkt für das filmische Erzählen [liegt nicht] zwischen den Bildern im Übergang von einem Bild zum nächsten […], sondern in der […] Einstellung“ (Paech 1988: 5). Das heißt, die narrative Minimaleinheit, die in dieser Arbeit für das filmische und televisuelle Material zugrunde gelegt werden soll, ist die Einstellung und nicht das Einzelbild. Ingarden definiert die einzelnen Filmbilder als ‚Rekonstruktionen‘ visueller Ansichten, also ebenfalls als schematisch und mit Unbestimmtheiten versehen. Die zentrale Differenz zum literarischen Kunstwerk ist selbstverständlich, dass die Ansichten auf eine andere Weise, nämlich visuell und nicht sprachlich bedingt werden. „Die Konkretheit der rekonstruierten Ansichten sowie die Möglichkeit, die bei der gewöhnlichen Wahrnehmung uns fast entschwindenden Ansichten durch entsprechende technische Kunstgriffe (z.B. Vergrößerung der entsprechenden ‚Bilder‘) zugänglicher und erfassbarer zu machen, bewirkt zugleich, daß die mannigfachen rein körperlichen bzw. leiblichen oder im Leiblichen unmittelbar fundierten Verhaltensweisen der an den exponierten Geschehnissen teilnehmenden Gegenständlichkeiten (Menschen, Tiere, Dinge) viel ausgeprägter zur Erscheinung gebracht werden, als dies mit rein literarischen Mitteln möglich ist.“ (Ingarden 1972: 346)

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Dass das geistige Korrelat dadurch zur Ansicht einer Ansicht wird, oder was daraus resultiert, wird von Ingarden nicht weiter verfolgt.

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Verglichen mit den Ansichten der literarischen Kunstwerke sind die kinematographischen Ansichten deutlich konkreter, detailreicher und gegebenenfalls ausgeprägter, also weniger unbestimmt. Hier zeigt sich bereits der Ansatz einer Reflexion von medienspezifischen Ausprägungen der Unbestimmtheiten. Filmische Leerstellen scheinen für Ingarden demnach ‚schmaler‘ auszufallen als solche in literarischen Werken. Ob sich diese These bestätigen lässt, bleibt zu überprüfen. Einen großen Unterschied zu den literarischen Kunstwerken stellt für Ingarden auch die mangelhafte Darstellbarkeit von Gedanken und Gefühlen im Film dar. Sie gelangen entweder gar nicht oder nur mittelbar zur Konstitution. Diese Einschränkung hat sich mit dem Aufkommen des Tonfilms sicherlich deutlich verschoben, markiert aber, verglichen mit den Möglichkeiten der Literatur, immer noch einen signifikanten Unterschied, da Abstrakta in der Regel zwar einen sprachlichen, aber keinen visuellen Signifikanten haben. Bemerkenswert ist, dass die Aspekthaftigkeit und damit die Unbestimmtheit der Ansichten für Ingarden kein Spezifikum des Kunstwerks (also eines arte factums) darstellt – sei es literarisch oder kinematographisch –, sondern für die Ansichten intentionaler Gegenstände insgesamt gilt. Das bedeutet, dass alle Ansichten, ob sie aus der Wahrnehmung realer Objekte oder aus der Wahrnehmung von Darstellungen von Objekten gewonnen werden, Unbestimmtheitsstellen aufweisen. Vielleicht erklärt das, warum Ingarden in seinen Überlegungen die Möglichkeit, dass solche Unbestimmtheitsstellen in ästhetischen Werken auch bewusst gesetzt und instrumentalisiert werden können, völlig ignoriert, auch wenn er die Erwartungsenttäuschung reflektiert, die sich einstellt, wenn sich die von Lesern unbewusst aufgefüllten Unbestimmtheiten als fehlerhaft herausstellen. Deutlich konkreter beschäftigte sich Ingarden einige Jahre später in Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks noch einmal mit den Unbestimmtheitsstellen in literarischen Texten. In diesem Nachfolgewerk reagierte er bereits auf erste kritische Reaktionen auf seine früheren Ausführungen, entwickelte seine Ideen weiter, vertiefte sie und exemplifizierte sie anhand zahlreicher Beispiele. Diese breitere Perspektive, die jedoch unzweifelhaft der ontologischen Basis bedarf, macht seinen Ansatz deutlich fruchtbarer für leerstellentheoretische Reflexionen. Ingarden schränkt nun ein, „daß nicht alles, was im Text des Werkes nicht expressis verbis gesagt

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ist, bereits eine ‚Unbestimmtheitsstelle‘ in unserem Sinne ist. Das so NichtGesagte kann vor allem all das sein, was entweder als Voraussetzung oder Folge implicite eindeutig mitgesagt (mitvermeint) wird.“ (Ingarden 1997: 275) Hier wendet er sein Konzept der Unbestimmtheitsstelle deutlich epistemologischer als in seiner rein ontologisch ausgerichteten früheren Schrift. Als Beispiel führt er einige Stellen aus Thomas Manns Tristan an. Er zitiert den ersten Satz der Erzählung: „Hier ist ‚Einfried‘, das Sanatorium!“ (Mann 2000: 3)7. Der Text bietet keinen Hinweis darauf, wo sich das genannte Sanatorium befindet. „Dieses ‚wo‘ – z.B. in Europa, in Deutschland – bildet eine Unbestimmtheitsstelle, die eben irgendwie – wenn überhaupt – tacite vom Leser mitgemeint und so ‚ausgefüllt‘ werden mag.“ (Ingarden 1997: 275) Es folgen lediglich vage Anhaltspunkte, die eine Konkretisation erleichtern, etwa wenn hinzugefügt wird, dass „hinter seinen Schieferdächern […] tannengrün, massig und weich zerklüftet die Berge himmelan“ (Mann 2000: 3) ragen. In diesem Falle ist der Spielraum, den der Text den Lesern zur Konkretisation lässt, ziemlich groß. Ebenfalls eine Unbestimmtheitsstelle stellt der Tod Frau Klöterjahns dar, der nicht explizit, sondern nur implizit und somit uneindeutig, geschildert wird, indem Mann beschreibt, wie Spinell „seine Augen langsam an dem Gebäude empor bis zu einem der Fenster gleiten [ließ], einem verhängten Fenster, an dem sein Blick eine Weile ernst, fest und dunkel haftete“ (Mann 2000: 48)8. Aus den früheren Informationen zur Krankheit und dem Hinweis auf das am hellen Nachmittag verhängte Fenster – einer Kombination aus innerästhetischen Informationen und außerästhetischem Wissen also – lässt sich die Unbestimmtheit schließen, jedoch nie mit absoluter Gewissheit. Und selbst wenn man mit Sicherheit sagen kann, dass der Tod suggeriert wird, so „bilden die Einzelheiten des Todes, wie er eintrat, ob rasch oder langsam, unter Qualen oder als sanftes Entschlafen usw. […] Unbestimmtheitsstellen, die wahrscheinlich von keinem Leser durch irgendwelche Angaben ausgefüllt und damit auch nicht beseitigt werden.“ (Ingarden 1997: 276)

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Bei Ingarden (1997) S. 275.

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Bei Ingarden (1997) S. 276. Sein Zitat weicht leicht vom Original ab, das Wort „gleiten“ fehlt bei Ingarden.

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Ingarden unterscheidet also Unbestimmtheitsstellen, die ausgefüllt werden, weil es einen entsprechenden Suggestionsreiz gibt, von solchen, die unausgefüllt bleiben, weil ein entsprechender Suggestionsreiz fehlt, wobei beide Varianten für ihn einen ästhetischen Wert besitzen. Diese spezifische ästhetische Qualität wiederum scheint konstitutiv für Unbestimmtheitsstellen zu sein, da andere ungesagte Informationen für Ingarden wiederum explizit keine Unbestimmtheiten darstellen: „Im Text wird aber ebenfalls nicht expressis verbis gesagt, daß das Sanatorium an der Erdoberfläche ‚liegt‘. Das bildet aber keine ‚Unbestimmtheitsstelle‘ in dieser Erzählung […]. Es ist so ‚selbstverständlich‘, daß es nicht gesagt zu werden braucht.“ (Ingarden 1997: 275f.) Hierin zeigt sich die funktionale Weiterentwicklung seiner früheren Ansätze. Indem Ingarden seine zuerst rein ontologisch entworfene Theorie der Unbestimmtheitsstellen hier anhand eines Beispiels erneut aufgreift und epistemologisch funktionalisiert, wird die ästhetische Qualität herausgestellt, die er den Unbestimmtheiten zuschreibt und die sogar als konstitutiv gelesen werden kann. Er weist explizit auf das Potential hin, das in einer Analyse der Unbestimmtheitsstellen eines Textes steckt. „Die einzelnen in der Erzählung vorhandenen Unbestimmtheitsstellen (unter Berücksichtigung der Stelle im Werk, an welcher sie sich befinden) können sehr verschieden leistungsfähig in der Art sein, welche Rolle sie als unausgefüllte Unbestimmtheiten spielen und welche Ausfüllungen sie zulassen bzw. mehr oder weniger suggerieren. Vermöge dieser ihrer Leistungsfähigkeit können sie dem Leser helfen, verschiedene wertvolle Qualitäten in der ästhetischen Konkretisation zu aktualisieren. Und die Art und das Maß ihrer Leistungsfähigkeit in dieser Hinsicht bildet nichts anderes, als eben dasjenige, was wir den ‚künstlerischen Wert‘ nennen.“ (Ingarden 1997: 278f)

Indem Ingarden die Möglichkeit in Betracht zieht, „daß sie in einer künstlerisch geplanten und verständlichen Auswahl und Anordnung im betreffenden Werk verwendet werden, um eine ästhetisch wertvolle Konkretisation zu ermöglichen“ (Ingarden 1997: 278), reflektiert er nicht nur implizit die Bedeutung der Unbestimmtheiten für die ästhetische Struktur des Werkes, sondern auch explizit den funktionalen Einsatz der Unbestimmtheiten als erzählstrategische Momente und eröffnet ihre Verwendung als analytische Kategorie für die Interpretation von Texten.

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W OLFGANG I SERS L EERSTELLENKONZEPTION Wolfgang Iser beschäftigt sich wie Ingarden mit „der Bedeutung von unausgefüllten, leeren, unbestimmten oder unbesetzten Stellen in literarischen Texten“ (Kolokitha 2005: 34). Während Ingarden diese allerdings aus einem phänomenologisch bestimmten Verständnis heraus hinsichtlich ihrer Bedeutung für den literarischen Text betrachtet, betont Iser ihre Funktion als ‚Interaktionsimpulse‘ zwischen Texten und Lesern. Als Iser die Gedanken Ingardens in den 1960er Jahren aufgreift und rezeptionsästhetisch wendet, liegt der Fokus bei ihm auf der Funktion der Leerstellen als eine Art ‚Scharnier‘ zwischen den literarischen Texten und ihren Rezipienten. Zwar wird bereits bei Ingarden deutlich, dass jeder Leser beim Rezeptionsprozess nicht nur aufnimmt, sondern auch selbst aktiv wird und die Unbestimmtheiten der Ansichten auffüllt, jedoch vollzieht sich dieses Konkretisieren des nur unvollständig Gegebenen für ihn weitgehend ‚tacite‘, wie er es nennt, also stillschweigend, unbewusst. „Mit dem Konkretisationsbegriff hat [Ingarden] die Rezeptionsstruktur literarischer Gebilde zwar skizziert, aber nicht im Sinne ihrer kommunikativen und zugleich paradoxalen Beschaffenheit, sondern ausschließlich im Sinne einer Aktualisierung derjenigen Elemente, die der Text potentiell für eine Aktualisierung bereithält.“ (Kolokitha 2005: 34) Ingarden lässt also den durchaus problematischen Aspekt der ‚Interaktivität‘ unberücksichtigt, den die Rezeptionsästhetik zu ihrem zentralen Interessensgebiet ernennt. Iser richtet sein Interesse darauf, wie die Leerstellen im Text diese ‚Interaktion‘ mit den Lesern in Gang setzen und die individuellen Sinnkonstitutionen bedingen und steuern. Sowohl Ingarden als auch Iser benutzen beide Begriffe – Unbestimmtheitsstelle und Leerstelle – zum Teil äquivalent. Allerdings präferiert Ingarden den Begriff der Unbestimmtheitsstelle und spricht nur selten von Leerstelle, wohingegen Iser zumeist den Begriff der Leerstelle benutzt und damit das allgemeine Phänomen bezeichnet, das er später genauer ausdifferenziert und in drei Kategorien unterteilt: Unbestimmtheitsstellen, Leerstellen (in einem engeren Sinn) und Negationen. Durch diese uneindeutige Benutzung des Begriffs Leerstelle werden auch Isers Ausführungen zum Teil unpräzise.

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Zunächst soll sein Verständnis des spezifisch kommunikativen Potentials der Leerstellen erläutert werden, bevor anschließend auf die Unterscheidungskriterien seiner Kategorien eingegangen wird. Die ‚Interaktion‘ zwischen Texten und Lesern In seinem 1976 erschienen Buch Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung synthetisiert Iser seine früheren wirkungsästhetischen Denkansätze zu einem theoretischen Modell, in das er sowohl eine Texttheorie (Kapitel II) als auch eine Lesetheorie (Kapitel III) und schließlich eine Interaktionstheorie (Kapitel IV) integriert. Er unterscheidet grundlegend zwischen dem materiell gegebenen Text einerseits, d.h. dem Zeichenkomplex, den der Autor verfasst hat, und dem Werk andererseits, das im Prozess des Lesens durch den jeweiligen Leser und dessen Beteiligung erzeugt wird. Der Text und sein jeweiliger Leser schließen sich in der Lesesituation zusammen und erzeugen dadurch die Wirkung. „Das Werk ist das Konstituiertsein des Textes im Bewußtsein des Lesers“ (Iser 1976: 39) und hat, da es nur in Abhängigkeit vom jeweiligen individuellen Leser existiert, einen virtuellen Charakter. Damit distanziert Iser sich von der Praxis der Textinterpretation, wie sie zuvor in den Literaturwissenschaften vertreten wurde. Eine solche traditionelle Interpretation reduziert den Text auf ein reines Konsumprodukt, aus dem man den ‚Sinn‘ zu extrahieren versucht. Wenn es auf diese Weise möglich wäre, den ‚Sinn‘ vom Text zu subtrahieren, so Iser, dann sei es in der Folge auch möglich, diesen ‚Sinn‘ separat zu reproduzieren und es wäre nicht mehr erforderlich, den literarischen Text selbst zu lesen. (Vgl. Iser 1976: 12ff) Dieser Position begegnet Iser mit der Frage danach, wozu man einen literarischen Text noch originaliter lesen sollte, wenn man seinen extrahierten ‚Sinn‘ auch komprimiert aus einer anderen Quelle konsumieren kann? Die Antwort und zugleich die Begründung der Illegitimität des Konsumgedankens liegt für ihn im Erlebnischarakter von Literatur – mit den Worten Roland Barthes’ im ‚plaisir du texte‘ (Barthes 1973). Der Lesevorgang ist, so Iser, mehr als reines Rezipieren im literalen Sinn, mehr als ein einfaches Konsumieren der Bedeutung, sondern man liest auch um des Lesens selbst willen. Lesen hat einen Mehrwert, den er bei literarischen Texten in eben den Elementen enthalten sieht, die zur Aktivität anregen und die Beteiligung der Leser an der Konstituierung des Werkes fordern. „[D]as Lesen

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wird erst dort zum Vergnügen, wo unsere Produktivität ins Spiel kommt, und das heißt, wo Texte eine Chance bieten, unsere Vermögen zu betätigen“ (Iser 1976: 176). Die Rezipientenaktivität und damit eng verbunden die Imagination sind demnach für Iser nicht nur eine Notwendigkeit, sondern machen einen Großteil der Faszination am Lesen aus. Der ‚Sinn‘ eines literarischen Textes ist daher auch im eigentlichen Sinne nicht vermittelbar, da er an das jeweils rezipierende Individuum gebunden ist. Implizit negiert er hier zum einen auch die Ansicht Ingardens, dass es möglich ist, richtige von falschen Konkretisationen zu unterscheiden, denn der ‚Sinn‘ ist nach Iser nicht werkimmanent, sondern entsteht erst in der und durch die Realisierung der individuellen Leser. Zum anderen wird deutlich, dass Iser seine Aussagen rein auf literarische Texte – insbesondere auf Hochliteratur – bezieht und nichtfiktionale Gattungen unberücksichtigt lässt, während Ingarden zumindest darauf verweist, dass Unbestimmtheit nicht nur auf Kunstwerke begrenzt ist. Relevant ist für Iser nun die Frage nach den rezeptionsorganisierenden Strukturen in einem literarischen Text, die die Ansatzpunkte zur Leserpartizipation bieten. In dieser Fokussierung unterscheidet sich Iser grundlegend von der rein textimmanent operierenden Literaturwissenschaft einerseits sowie von der später folgenden Empirischen Literaturforschung andererseits, die auf die Analyse der Konkretisationen durch die Leser ausgerichtet ist. Ihn interessiert das Dazwischen, die Schnittstelle zwischen Texten und ihren Lesern. In diesen Leerstellen lokalisiert er das spezifisch ‚interaktionsfördernde‘ Potential literarischer Texte. „Nun sei ohne weiteres eingeräumt, daß solche Erfassungsakte zwar von den Strukturen des Textes gelenkt, aber von ihnen nicht vollkommen kontrolliert werden. Hier wittert man die Willkür. Man muß jedoch bedenken, daß fiktionale Texte ihren Gegenstand entwerfen, nicht aber vorhandene Gegenstände abbilden. […] Folglich besitzt die von fiktionalen Texten entworfene Gegenständlichkeit nicht jene allseitige Bestimmtheit, die den realen Gegenständen zukommt; sie sind mit Unbestimmtheitsbeträgen durchsetzt. Diese stellen jedoch kein Manko dar, sondern verkörpern elementare Kommunikationsbedingungen des Textes, die eine Beteiligung des Lesers am Hervorbringen der Textintention ermöglichen. […] So eröffnen zwar die Unbestimmtheitsbeträge der Texte ein gewisses Realisationsspektrum, doch dieses bedeutet nicht Willkür des Erfassens, sondern verkörpert die zentrale Bedingung der Interaktion von Text und Leser.“ (Iser 1976: 45)

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Hier zeigt sich der Rückgriff auf Ingarden. Iser geht mit ihm konform hinsichtlich der fehlenden allseitigen Bestimmtheit bei nominal konstruierten Gegenständen – die zwar ‚entworfen‘, jedoch nicht ‚abgebildet‘ werden – und folglich ebenso bezüglich der unterschiedlichen Qualitäten von realen Gegenständen und ästhetischer Darstellungen von Gegenständen. Das Konkretisieren der Unbestimmtheitsbeträge ist bei Iser, wie schon bei Ingarden, stark an das jeweilige lesende Subjekt gekoppelt. Isers Innovation ist allerdings der explizite Hinweis auf die ‚interaktive‘ Kommunikationssituation, die sich, initiiert durch die Leerstellen, zwischen Texten und Lesern ergibt. War bei Ingarden das Auffüllen der Unbestimmtheiten eher passiv formuliert, im Sinne einer weitgehend unbewussten kognitiven Leistung, spiegelt der Begriff der ‚Interaktion‘ stärker die aktive Mitarbeit auf Leserseite wider. Für Iser sind „Text und Leser in einer dynamischen Situation miteinander verspannt“ (Iser 1976: 111) und das Auffüllen der im Verlauf der Lektüre auftretenden Leerstellen erfolgt vermittels der Konstruktion eines Erwartungshorizontes. Im sukzessiv verlaufenden Leseprozess stoßen Leser immer wieder auf Unbestimmtheiten im Text, die sie aktiv werden lassen. Um in Bezug auf die Gesamtheit des Textes und seiner Narration einen Sinnzusammenhang herzustellen, füllen die Leser diese Unbestimmtheitsstellen mit eigenen, individuellen Konkretisationen auf. Auf Basis der textuellen „Dialektik von Zeigen und Verschweigen“ (Iser 1976: 79) werden eigene Annahmen und Erwartungen über die innerästhetische Welt gebildet, die eventuell durch später auftretende Informationen wieder revidiert werden müssen. „Dabei kommt es im Verlauf der Lektüre zu einer Sequenz solcher Vorstellungsakte, weil einmal gebildete Vorstellungen immer wieder preisgegeben werden müssen, wenn sie die geforderte Integration der perspektivischen Vielfalt nicht mehr zu leisten vermögen. Über diese Korrektur der Vorstellungen ergibt sich zugleich eine ständige Modifikation des Blickpunkts, der als solcher nicht starr vorgegeben ist, sondern über die modifizierte Vorstellungsfolge immer erneut justiert werden muß […].“ (Iser 1976: 63)

Im Vergleich zu Ingarden, der die Unbestimmtheit ausschließlich auf die Aspekthaftigkeit von in literarischen Texten dargestellten Gegenständen bezieht, verknüpft Iser die Unbestimmtheit stärker mit der syntagmatischen Ebene der fortschreitenden Handlung und rückt so die Prozesshaftigkeit des

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Lesens in den Fokus. Die Leerstellen werden im Vorstellungsakt aufgefüllt und die Leser entwickeln Hypothesen hinsichtlich des Handlungsverlaufes, die im weiteren Rezeptionsprozess entweder bestätigt oder enttäuscht werden können. Entsprechend wird auch der Erwartungshorizont ständig neu überdacht und angepasst. Iser geht davon aus, dass im Vorstellungsakt aus mehreren, dem jeweiligen Leser als möglich erscheinenden Konkretisationen diejenige ausgewählt wird, die er für die Wahrscheinlichste hält, dass aber Alternativen im Hintergrund weiterhin präsent bleiben. Im Falle der Erwartungsenttäuschung kann so durch Rückgriff auf die möglichen Alternativen die Konkretisation entsprechend modifiziert werden. Entsprechend bleibt die neue Vorstellung „von dem konditioniert […], was die alte nicht mehr zu leisten vermochte. Damit zeichnet sich die preisgegebeneVorstellung der nachfolgenden ein.“ (Iser 1976: 315) Implizit beschreibt Iser damit auch die bedeutungstragende Relevanz der Leerstellen, die nicht – wie bei Ingarden – für sich selbst stehen und sich nur auf einzelne Gegenstände beziehen, sondern die textüberspannend auf die Bedeutung und Struktur der gesamten Narration wirken. 9 Literarische Texte unterscheiden sich hinsichtlich des Grades ihrer Unbestimmtheit und entsprechend variiert auch das Realisationsspektrum, das die Texte der Produktivität ihrer Leser zur Konkretisation überlassen. Die beiden Extreme – totale Steuerbarkeit durch den Text einerseits und völlige Willkür der Realisationsakte der Leser andererseits – werden dabei nie erreicht. In der Regel herrscht eher ein relativ hoher Grad an intersubjektiver Übereinstimmung zwischen den Konkretisationen der Rezipienten vor. „Für eine solche Produktivität gibt es ohne Zweifel Toleranzgrenzen, die überschritten werden, wenn uns alles deutlich gesagt wird oder wenn das Gesagte in Diffusion zu verschwimmen droht, so daß Langeweile und Strapaziertwerden Grenzpunkte verkörpern, die in der Regel unser Ausscheiden aus der Beteiligung anzeigen“. (Iser 1976: 176)

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Allerdings weist auch Ingarden in Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks an einer Stelle auf die Möglichkeit hin, dass „die verschiedenen Konkretisationsweisen […] notwendig zu verschiedenen Konkretisationen des ganzen Werkes“ (Ingarden 1997: 60) führen und reflektiert damit die Konsequenzen einzelner Konkretisationen auf den weiteren Rezeptionsprozess.

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Der Produktivität der Leser bei der Konkretisation werden durch steuernde Elemente im Text Grenzen gesetzt, wobei Iser, wie zuvor schon Ingarden, vage lässt, wie genau dieses textuelle ‚Steuern‘ der Rezeption ausfällt. Wie Ingarden geht auch Iser davon aus, dass das Abwesende im Anwesenden zum Teil ‚mitgegeben‘ ist und dass auf diese Weise die Konkretisation der Leser kontrolliert wird. „Das Verschwiegene […] und die Leerstellen in den Gelenken des Dialogs stimulieren den Leser zu einer projektiven Besetzung des Ausgesparten. Sie ziehen den Leser in das Geschehen hinein und veranlassen ihn, sich das Nicht-Gesagte als das Gemeinte vorzustellen. Daraus entspringt ein dynamischer Vorgang, denn das Gesagte scheint erst dann wirklich zu sprechen, wenn es auf das verweist, was es verschweigt. Da aber das Verschwiegene die Implikation des Gesagten ist, gewinnt es dadurch seine Kontur. […] Der Kommunikationsprozeß wird also nicht durch einen Code, sondern durch die Dialektik von Zeigen und Verschweigen in Gang gesetzt und reguliert.“ (Iser 1976: 264f)

Aber nicht nur diese – wie auch immer gearteten – Steuerelemente beeinflussen den Konkretisationsprozess. Diesem liegen, so Iser, außerdem individuell ausgeprägte, außerästhetische Normen- und Orientierungssysteme zugrunde, die jeder Leser ganz spezifisch in den Prozess der Konkretisation einbringt. Des Weiteren fließt ebenso das Wissen der Leser um literarische Konventionen und Techniken mit ein, d.h. der sozio-historische Kontext des jeweiligen Lesers wirkt sich maßgeblich auf die Art und Weise seiner Konkretisationen und damit auf das von ihm individuell konstituierte Werk aus. Aber nicht nur die Leser entstammen einem kulturellen Bezugssystem, auch im Text sind Hinweise auf spezifische Normen und Konventionen enthalten, die Iser als das ‚Repertoire‘ des Textes bezeichnet. „Im Repertoire präsentieren sich insofern Konventionen, als hier der Text eine ihm vorausliegende Bekanntheit einkapselt. Diese Bekanntheit bezieht sich nicht nur auf vorausgegangene Texte, sondern ebenso, wenn nicht sogar in verstärktem Maße, auf soziale und historische Normen, auf den sozio-kulturellen Kontext im weitesten Sinne, aus dem der Text herausgewachsen ist – kurz auf das, was die Prager Strukturalisten als die außerästhetische Realität bezeichnet haben. Das Repertoire bildet jenen Bestandteil des Textes, in dem die Immanenz des Textes überschritten wird. Doch das Hineinziehen außertextueller Normen heißt nicht, daß sie abgebildet wür-

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den, sondern daß ihnen durch die Wiederkehr im Text etwas geschieht, wodurch zugleich eine wesentliche Bedingung für die Kommunikation entsteht.“ (Iser 1976: 115)10

Die zumindest partielle Überschneidung zwischen dem Repertoire des Textes, also den in ihm sich widerspiegelnden Normen und Konventionen, und denen des jeweiligen Lesers, ist die Voraussetzung für eine potenzielle ‚Interaktion‘ zwischen Text und Leser. Das bedeutet, dass die Konkretisation immer auch von der räumlichen und zeitlichen Nähe zwischen Text und jeweiligem Leser abhängig ist. Fehlt es an einem gemeinsamen Bezugsrahmen – ein banales Beispiel wäre etwa die gemeinsame Sprache –, kann keine sinnvolle ‚Interaktion‘ stattfinden. Zugleich darf die Überschneidung aber auch nicht vollkommen kongruent sein, da „eine Kommunikation dann zustande kommt, wenn der gemeinsame Besitz nicht in totaler Deckung steht.“ (Iser 1976: 116) Das heißt, zu wenig Überschneidung führt zu Frustration der Leser, da die Unbestimmtheit unauflösbar scheint, zu viel Überschneidung führt zu Langeweile, da es an Unbestimmtheiten mangelt und die Leser nicht herausgefordert werden. Die Differenzierung von Leerstellentypen Während Ingarden keine genauere Ausdifferenzierung des Phänomens der Unbestimmtheit vornimmt, ist bei Iser eine solche gegeben. Wie bereits angedeutet, unterscheidet er zwischen drei Typen von Leerstellen, die er nicht nur einander gegenüberstellt, sondern zudem unterschiedlich wertet. Isers Erläuterungen hierzu bleiben häufig vage und explizierende Beispiele fehlen. Entsprechend stellen die folgenden Ausführungen, in denen die drei Kategorien – Unbestimmtheitsstellen, Leerstellen und Negationen – skizziert werden, eine stark verkürzte und reduzierte Wiedergabe dar. Unbestimmtheitsstellen Die Kategorie der Unbestimmtheitsstelle, wie Iser sie versteht, ist an Ingarden angelehnt und meint das Fehlen einer vollkommenen Bestimmtheit der in Texten entworfenen Gegenstände. Allerdings kritisiert Iser einige zen-

10 Iser bezieht sich hier auf Jan Mukaovskýs Kapitel aus der Ästhetik (1970, S.11ff).

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trale Punkte Ingardens, wie beispielsweise die bereits erwähnte Unterscheidung in richtige und falsche Konkretisationen des Werkes, die eine zugrunde liegende Norm impliziert. Für beide besteht ein gewisses Konkretisationsspektrum, das vom Text offen gelassen wird. Dieses Spektrum birgt für Ingarden eine ‚Gefahr‘ für die „getreue ästhetische Erfassung“ (Ingarden 1997: 58) des Textes, während Iser fragt, „ob diese Bestimmtheit nicht eher eine individuelle des Lesers und weniger eine solche ist, die der Referenz von richtig oder falsch unterliegt.“ (Iser 1976: 269) Bei Ingarden liegt der ästhetische Wert also im Text selbst begründet, bei Iser rückt er in den Akt der Konkretisation. Daraus resultiert auch ein weiterer Kritikpunkt Isers an Ingardens Ansatz. Der Aktualisierungsbegriff Ingardens stellt für ihn eher ein „unilineares Gefälle vom Text zum Leser“ (Iser 1976: 271) dar und dient nur dazu, Text und Werk zu unterscheiden, anstatt eine ‚Interaktion‘ zu bezeichnen. Ingarden gibt für ihn zudem auch keine explizite Antwort darauf, warum „Unbestimmtheitsstellen manchmal ausgefüllt werden, manchmal offen bleiben, ja manchmal auch übergangen werden sollen“ (Iser 1976: 274). In Ingardens Konzept, in dem das literarische Kunstwerk durch eine „polyphone Harmonie“ (Iser 1976: 269) gekennzeichnet ist und in dem die Unbestimmtheitsstellen zum Verschwinden gebracht werden, um die Illusion der Geschlossenheit des Werkes herzustellen, gibt es keinen Platz für „programmatische Unverständlichkeiten“ (Iser 1976: 275), wie Iser sie speziell in der modernen Literatur stark ausgeprägt sieht.11 Nehmen die Unbestimmtheiten überhand und eröffnen eine „Konkretisationsmannigfaltigkeit“ (Iser 1976: 279), so ist für Ingarden der ästhetische Wert des literarischen Kunstwerkes in Gefahr. Sein Konzept kann auf diese Form des gezielten Informationsentzugs nicht reagieren. Auch lehnt Iser die Fixierung Ingardens auf die Wahrnehmungsillusion ab, denn das impliziere das Zugrundelegen der außerästhetischen Wirklichkeit als Referenz, was wiederum die Fiktion einschränke. Iser kommt letztlich zu dem Schluss, dass von den Unbestimmtheitsstellen im Sinne Ingar-

11 In seinem späteren Werk Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks vermerkt Ingarden in einer Fußnote, die in der Fassung von 1967 hinzugefügt wurde, dass ihm die „programmatischen Unverständlichkeiten“ (Ingarden 1997, S. 304), wie sie in moderner Lyrik auftreten, das Erfassen des Sinnes des Gedichts erschweren.

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dens keine wirkliche Aufforderung ausgeht, „aus unserem Wissensvorrat die notwendigen Ergänzungen bereitzustellen“ (Iser 1976: 278), sondern lediglich ein ‚Suggestionsreiz‘, auf den kein kommunikativer Akt folgt. „Folglich ist Konkretisation nur die Aktualisierung der potentiellen Elemente des Werks und keine Interaktion von Text und Leser; daher sind Unbestimmtheitsstellen nur Suggestionsreize einer letztlich undynamisch gedachten Komplettierung und wohl kaum Bedingung für die vom Leser zu schaltende Wechselbeziehung zwischen den schematisierten Ansichten bzw. den Darstellungsperspektiven eines Textes.“ (Iser 1976: 279f)

Die Kategorie der Unbestimmtheitsstelle funktioniert nach Iser damit lediglich als Kennzeichnung des intentionalen Gegenstandes, nicht aber als Kommunikationsbegriff. Sie dient nur dem „Erzeugen einer Wahrnehmungsillusion im Vorstellungsbewusstsein“ (Iser 1976: 277) und ist damit statisch und funktionslos. Er behält den Terminus Unbestimmtheitsstelle zwar bei, spricht allerdings den so bezeichneten Phänomenen einen inferioren Status zu und sie dienen ihm lediglich als Ausgangsbasis für die Beschreibung seiner eigenen Auslassungskategorien, die er in Leerstellen und Negationen unterscheidet. Leerstellen Isers Ausführungen machen deutlich, dass er unter der Konkretisation von Leerstellen nicht wie Ingarden das Vervollständigen von nur aspekthaft dargestellten Gegenständen in der Vorstellung der Leser meint, sondern das Herstellen von Bezügen zwischen einzelnen Textsegmenten. „Leerstellen […] bezeichnen weniger eine Bestimmungslücke des intentionalen Gegenstandes bzw. der schematisierten Ansichten als vielmehr die Besetzbarkeit einer bestimmten Systemstelle im Text durch die Vorstellung des Lesers. Statt einer Komplettierungsnotwendigkeit zeigen sie eine Kombinationsnotwendigkeit an. Denn erst wenn die Schemata des Textes aufeinander bezogen werden, beginnt sich der imaginäre Gegenstand zu bilden, und diese vom Leser geforderte Operation besitzt in den Leerstellen ein zentrales Auslösemoment.“ (Iser 1976: 284)

Die so beschriebenen Leerstellen signalisieren dem jeweiligen Leser die Notwendigkeit, Beziehungen zwischen den einzelnen Textsegmenten her-

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zustellen. Leerstellen im Sinne Isers sind also „ausgesparte Beziehungen“ (Iser 1976: 284); sie unterbrechen die Textkohärenz und dadurch die „Anschließbarkeit“ (Iser 1976: 285), jedoch verunmöglichen sie diese nicht, sondern sie fordern die Leser darin heraus, Kohärenz und Anschließbarkeit selbst herzustellen. In fiktionalen Texten eröffnet diese fehlende Anschließbarkeit dem jeweiligen Leser Selektionsentscheidungen. Während man in der pragmatischen Kommunikation die „Möglichkeitsvielfalt des Gemeinten“ (Iser 1976: 286) sukzessive einzuschränken bemüht ist, erweitern die Leerstellen in literarischen Texten gerade erst diese Möglichkeitsvielfalt. Die Entpragmatisierung, d.h. der fiktionale Charakter der Literatur, spielt dabei eine entscheidende Rolle, denn erst das Fehlen vertrauter Normen führt nach Iser zur fehlenden Anschließbarkeit. „Daraus entspringt eine Steigerung der Vorstellungstätigkeit, denn es gilt nun, die scheinbar ungeregelten Anschlüsse der Schemata über eine vorgestellte Verbindung zu einer integrierten Gestalt aufzuheben. So bewirkt in der Regel die von Leerstellen unterbrochene good continuation eine verstärkte Kompositionsaktivität des Lesers, der nun die kontrafaktisch, oppositiv, kontrastiv, teleskopierend oder segmentierend angelegten Schemata – oftmals gegen eine entstehende Erwartung – kombinieren muß.“ (Iser 1976: 288) 12

Es handelt sich bei Isers Verständnis von Leerstellen also um Brüche in der Kohärenz des Erzählens, in der Kontinuität, die es erforderlich machen, Bezüge herzustellen. Aber Leerstellen führen nicht einfach nur zur Vorstellungsbildung. Die ‚Interaktion‘ zwischen Texten und Lesern gewinnt ihre Intensität gerade „dadurch, daß gebildete Vorstellungen wieder preisgegeben werden müssen.“ (Iser 1976: 289) Das bedeutet, dass neue Informationen rückwirkend die Konkretisationen der Leser falsifizieren können und diese darauf mit Modifikation reagieren müssen. Diese „Vorstellungserschwerung“ (Iser 1976: 291) durch die Textstrukturen ist für Iser ein Kriterium zur Beurteilung des ästhetischen Potentials, d.h. des Kunstcharakters eines Textes. Wie diese Steigerung der Vorstellungstätigkeit in literarischen Texten auf unterschiedliche Weise genutzt werden kann, exerziert er an drei Bei-

12 Zur näheren Charakteristik des wahrnehmungspsychologischen Begriff der good continuation verweist Iser auf Aron Gurwitsch (1964) S. 15ff.

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spielen: dem Thesenroman, dem Fortsetzungsroman und „jenem Romantyp, wie er durch Ivy Compton-Burnett repräsentiert ist“ (Iser 1976: 294), den er nicht terminologisch fixiert. Er wählt diese drei Beispiele ganz bewusst aufgrund ihrer paradigmatischen Stellung als „Extremwerte“ (Iser 1976: 294) aus. Der Thesenroman ist nach Iser durch einen relativ geringen Leerstellenbetrag gekennzeichnet und folglich ist auch die Leserbeteiligung schwach ausgeprägt. Es ist gerade Ziel des Thesenromans, die Leerstellen zu beschränken und so die Vorstellungstätigkeit der Leser weitgehend zu kontrollieren und zu steuern. Es handelt sich hierbei in der Regel um Texte, die ihre Leser überzeugen sollen. Der jeweilige Rezipient hat durch die gering ausgeprägten Leerstellen wenig Vorstellungsspielraum und letztlich nur noch die Selektionsmöglichkeit, der dargestellten Perspektive zuzustimmen oder sie abzulehnen. „[G]ute Propaganda und gute Reklame arbeiten immer mit dem Leerstellentyp der offengelassenen, wenngleich gelenkten Ja/NeinEntscheidung, denn nur dann vermag sich das gewünschte Resultat als ein Produkt des Rezipienten zu bilden.“ (Iser 1976: 296) Mit dem Beispiel des Fortsetzungsromans will Iser die Möglichkeit der kommerziellen Nutzung von Leerstellen verdeutlichen. Das Veröffentlichen von literarischen Texten peu à peu in Zeitungen hat das Ziel, ein größeres Publikum zu gewinnen. „Charles Dickens gar schrieb viele seiner Romane nur von Woche zu Woche, und zwischendurch versuchte er, soviel wie möglich darüber zu erfahren, wie sich seine Leser den Fortgang der Handlung vorstellten. Dabei machte schon das Lesepublikum des 19. Jahrhunderts eine für den vorliegenden Zusammenhang aufschlußreiche Erfahrung: es hielt den in Fortsetzungen gelesenen Roman oftmals für besser als den identischen Text in Buchform.“ (Iser 1976: 296)

Als Ursache für dieses Phänomen ermittelt Iser die Technik, den Fortsetzungsroman im Allgemeinen dort zu unterbrechen, „wo sich eine Spannung gebildet hat, die nach einer Lösung drängt, oder wo man gerne etwas über den Ausgang des soeben Gelesenen erfahren möchte.“ (Iser 1976: 297) Der durch die Verschleppung der Spannungsauflösung entstehende „Suspense-

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Effekt“ (Iser 1976: 297) 13 sorgt für eine gesteigerte Vorstellungsaktivität bei den Lesern. „Angesichts des temporären Informationsentzugs wird sich die Suggestivwirkung selbst von Details steigern, die wiederum die Vorstellung von möglichen Lösungen mobilisieren.“ (Iser 1976: 297) Die den Lesern aufgezwungene Lektürepause steigert ihre Vorstellungstätigkeit mehr als dies bei einer fortlaufenden Lektüre der Fall ist. Bei einem identischen Text können so durch die unterschiedliche Art der Publikation variierende Aktualisierungen zustande kommen. Eine andere Möglichkeit, solche unterbrechenden Leerstellen auch in solchen literarischen Werken zu instrumentalisieren, die keine Fortsetzungsromane sind, bietet das Einführen neuer Personen oder das Einsetzen neuer Handlungsstränge. Auch hier müssen die Leser versuchen, die Beziehungen zwischen dem Neuen und dem bisher Gelesenen herzustellen, ohne dass jedoch die Lektüre durch eine zeitliche Pause unterbrochen wird. Das folgende Zitat zeigt, dass eine Instrumentalisierung von Leerstellen, in der von Iser implizierten Form von Brüchen der Kontinuität, auch im filmischen Erzählen denkbar ist: „S. Kracauer berichtet eine ganz ähnliche Beobachtung aus der Kinoerfahrung. Der Werbevorspann für den nächsten Film bewirkt durch seine Schnitte und seine Montagen eine Belebung der Phantasie seiner Zuschauer, die diesen Film dann sehen möchten, der in der Regel jedoch die erzeugte Erwartung nicht voll einzulösen vermag. So rekurrieren der Werbevorspann des Films und der Fortsetzungsroman auf eine Rezeptionsstruktur der Einbildungskraft, die über die Leerstellen als Form unterbrochener Anschließbarkeit so belebt werden kann, daß sich der damit erzielte Effekt kommerziell nutzen läßt.“ (Iser 1976: 298)

Den dritten Romantyp, wie Iser ihn bei Ivy Compton-Burnett vertreten sieht, kennzeichnet, dass die Leerstellen selbst thematisch werden. Die entsprechenden Romane bestehen fast ausschließlich aus Dialogen.

13 Er benutzt den Suspense-Begriff hier allgemeiner im Sinne einer „Gespanntheit“ und nicht im engeren Sinne, der die durch eine Differenz von Figurenwissen und Rezipientenwissen entstandene Spannung aufgrund der Vorhersagbarkeit eines Ereignisses für die Rezipienten bezeichnet (in Abgrenzung zu Surprise als überraschendes Spannungselement). (Vgl. z.B. Rother 1997: 288)

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„Die miteinander redenden Figuren entstammen alle dem gleichen Milieu, und das heißt, ihrer Kommunikation liegt der gleiche Code zugrunde. Darüber hinaus erfüllt der Dialog eine weitere Bedingung der Sprachhandlung: die Figuren fragen wechselseitig zurück, um sich zu versichern, was mit dem Gesagten gemeint ist. Vollkommener können Voraussetzungen kaum erfüllt sein, um im Sinne bekannter Kommunikationstheorien das Gelingen der Sprachhandlung zu gewährleisten. Dennoch mißlingt sie unentwegt, ja, sie produziert Katastrophen. Die Sprachhandlung des Dialogs dient nicht der Verständigung über Sachverhalte und Ziele, sondern dem ständigen Aufdecken der Implikationen, die die jeweilige Äußerung motiviert.“ (Iser 1976: 299)

Indem die Romanfiguren auf die Implikationen des Gesagten abheben, schaffen sie erst neue Leerstellen, die sich allein aus dem textlich Gegebenen heraus für die Leser gar nicht als solche darstellen. Dadurch wiederum wächst die Unvorhersagbarkeit und die Leser fühlen sich „bis zu einem gewissen Grade [aus dem Text] ausgesperrt.“ (Iser 1976: 300) In diesem Beispiel – einer höchst selbstreferentiellen Form eines Auslassungsdiskurses – erkennt Iser die Verabsolutierung der Leerstelle. Negationen Die oben im Sinne von Kontinuitätsbrüchen beschriebenen Leerstellen funktionieren auf der syntagmatischen Strukturebene des Textes. Die Negationen hingegen bezieht Iser auf die Textbedeutung, weshalb er sie auf der paradigmatischen Achse der Lektüre verortet. Negationen markieren für ihn den Bruch mit Normen, d.h. bekannte Normen werden aufgerufen, um sie zu negiert. Es wird deutlich, dass Iser damit auf eine Modifikation der Einstellung der Leser abhebt und eine Übertragung vom Text auf die außerfiktionale Realität der Rezipienten erwartet. „Solange sie [die Normen] im gesellschaftlichen Zusammenhang wirksam sind, werden sie kaum als solche wahrgenommen, da sie in der von ihnen bewirkten Regulierung aufgehen. Erst ihre Entpragmatisierung macht sie thematisch.“ (Iser 1976, S. 328) Das bedeutet, erst die Negation der Norm im literarischen Text lässt diese auch außerfiktional erkennbar und dadurch reflektierbar werden. Dabei wird über die Negation zwar „die Gegenläufigkeit der im Text markierten Positionen“ (Iser 1976: 334) konturiert, formulieren muss diese dann allerdings jeder Leser selbst in seinen Konkretisationen. „Eine solche Konvergenz besteht darin, daß der Leser eine Einstellung bezieht, durch die

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er über das verfügt, was den in dieser Polarität gezeigten Figuren gleichermaßen fehlt, aber gleichermaßen nottun würde: die Einsicht in das, was sie sind.“ (Iser 1976: 334) Dadurch erlangt der jeweilige Leser eine Überlegenheit gegenüber den Figuren des Textes. Hier zeigt sich, wie stark die Kategorie der Negation bei Iser moralisch besetzt ist. Für ihn hat Literatur eine gesellschaftliche Funktion zu erfüllen und ihr Potential liegt darin, den jeweiligen Leser auf seine habitualisierten Normen und Codes aufmerksam zu machen und dadurch eine gewisse Befreiung von der Beschränkung seiner gewohnten Ansichten zu bewirken. „Bezieht er die Position seiner Entdeckung, dann vermag ihm der Habitus Thema der Beobachtung zu werden; hält er am Habitus fest, dann verschenkt er, was er entdeckt hat.“ (Iser 1976: 337) Die Kategorie der Negationen differenziert Iser weiter aus. Negationen, die dazu dienen, „die in der Lektüre gewonnene Einsicht auf den eigenen Habitus zurückzukoppeln“ (Iser 1976: 341), nennt er primäre Negationen. Von diesen grenzt er die sekundären Negationen ab, bei denen es gilt „die eigenen Erfahrungen zu löschen, woraus sich Leerstellen ergeben, die ihre Besetzbarkeit verweigern.“ (Iser 1976: 341) Erstere erwirken also eine Selbstkorrektur, letztere eine Irritation der Leser. „Primäre Negationen markieren ein virtuell gebliebenes Thema, dem der negierende Akt entspringt. Deshalb beziehen sie sich vorwiegend auf das in den Text eingezogene, der außertextuellen Welt entnommene Repertoire. Ihre Relevanz ist daher themenspezifisch. Sekundäre Negationen markieren die notwendige Rückkoppelung der im Lesen erzeugten Sinngestalten auf den Habitus des Lesers. Sie werden dadurch wirksam, daß sie die Sinnkonstitution des Textes gegen die Orientierung des Habitus steuern, ja oftmals dessen Korrektur bedingen, soll die fremde Erfahrung begriffen werden. Ihre Relevanz ist daher funktionsspezifisch.“ (Iser 1976: 341)

Diese Differenz ist allerdings nur von rein theoretischer Bedeutung, da die beiden Subkategorien, so Iser, in der Empirie immer in Mischverhältnissen auftreten. In der modernen Literatur beobachtet er nicht nur ein Übergewicht an sekundären Negationen, sondern sogar einen Anstieg an Instrumentalisierungen der primären zu Gunsten der sekundären. Das zeigt sich darin, dass häufig ein Erwartungshorizont gebildet und sofort wieder verworfen wird, „woraus sich Leerstellen ergeben, die nun durch Vorstellungen nicht mehr sinnvoll zu besetzen sind“ (Iser 1976: 342). Entspre-

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chend konstatiert er eine Erschwerung des Konstituierungsprozesses für die Leser durch den Text, was in eine gesteigerte Aktivität resultiert, oft begleitet von Desorientierung, Frustration und gelegentlich auch Resignation vor der Dechiffrierbarkeit. Aus dieser zirkulären Problematik der Hypothesenbildung und Erwartungsenttäuschung, die praktisch en abyme geführt werden kann, wird der hermeneutische Charakter von Isers wirkungsästhetischer Theorie deutlich. Isers Ausführungen zu Leerstellen lassen erkennen, dass die Unterscheidung zwischen den Kategorien normativ motiviert ist. Worin sich Anknüpfungspunkte zwischen Ingarden und Iser ergeben, welche Aspekte von Leerstellen für beide konstitutiv sind und welche Konsequenzen sich daraus für die hier intendierte Analyse ergeben, soll im Folgenden kurz bilanziert werden.

F AZIT Roman Ingardens Konzept der Unbestimmtheitsstellen beruht auf der Unmöglichkeit einer vollständigen und allumfassenden Darstellung von Gegenständen in Kunstwerken, d.h. sowohl in literarischen Texten, auf die er sich hauptsächlich bezieht, als aber auch in kinematographischen Kunstwerken. Die visuellen Ansichten, die die Rezipienten von den beschriebenen Gegenständen entwickeln, sind hinsichtlich einiger Aspekte unbestimmt und werden unwillkürlich aufgefüllt. Dieses Auffüllen bzw. Konkretisieren basiert einerseits auf innerästhetischen Informationen aus den gegebenen Qualitäten und andererseits auf eigenen Ergänzungen, die aus individuellen, außerästhetischen Erfahrungen resultieren. Eine so konkretisierte Ansicht hat zwar ebenfalls nie die volle Bestimmtheit realer Gegenstände, aber das Dargestellte repräsentiert für die Rezipienten das Abgebildete selbst, wodurch die dargestellten Gegenstände in der Wahrnehmung zu quasi-realen Gegenständen werden. In seinem späteren Werk verlässt Ingarden die rein ontologische Basis seines Ansatzes und widmet sich nun der analytischen Betrachtung. Auf dieser Ebene stellt nicht jede ausgelassene Information auch zwingend eine Unbestimmtheitsstelle dar, so Ingarden, da Selbstverständliches nicht ausformuliert werden muss – so sei z.B. davon auszugehen, dass, wenn von einem ‚Doktor Leander‘ die Rede ist, es sich hierbei um einen Menschen

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handelt. (Vgl. Ingarden 1997: 275f) Implizit führt er somit ein Relevanzsystem als Distinktionsmerkmal für Unbestimmtheitsstellen ein. Ingarden unterscheidet zwischen solchen Unbestimmtheiten, die aufgefüllt werden, da ein entsprechender Suggestionsreiz gegeben ist, und solchen, die unausgefüllt bleiben können. Durch diese, wenn auch nur unscharf abgegrenzte Ausdifferenzierung und nur in Ansätzen durchgeführte Weiterentwicklung seiner ursprünglichen Überlegungen macht Ingarden seinen Ansatz funktional fruchtbar. Durch seinen kurzen Exkurs, in dem er sich mit Unbestimmtheiten in kinematographischen Kunstwerken beschäftigt, weist er bereits auf die Möglichkeit der medienübergreifenden Relevanz des Phänomens hin. Unbestimmtheitsstellen in Filmen vermutet er etwa in der intermittierenden Projektion (diese sind jedoch wiederum nur auf der rein ontologischen Ebene anzusiedeln), in der nur eingeschränkten Darstellbarkeit von Gedanken und Gefühlen sowie in der Aspekthaftigkeit der bildlichen Darstellung selbst, die für ihn eher den Ansichten als den realen Gegenständen gleichzusetzen ist. Ob filmische Leerstellen aufgrund der konkreteren und detailreicheren Ansichten, die der Film gegenüber der Literatur bietet, tatsächlich schmaler ausfallen, wird noch zu prüfen sein. Für Iser steht nicht die Unbestimmtheit selbst, sondern der Konkretisationsakt, den er als ‚Interaktion‘ zwischen Text und Lesern begreift, im Fokus des Interesses. Der Leser, der bei Ingarden ein passiver Auffüller von Qualitäten war, wird hier zum aktiven Mitarbeiter an der Herstellung des Werkes aus dem Text. Eine unreflektiert aufgefüllte Unbestimmtheit, wie sie von Ingarden beschrieben wird, wäre demnach für Iser keine Leerstelle. Durch diese Beschneidung auf entweder das völlig unbewusste Konkretisieren der gegebenen Leerstellen bei Ingarden oder das vollständig bewusste Bestimmen der Leerstellen bei Iser greifen beide Theoretiker zu kurz und limitieren sich selbst in ihrer Perspektive auf das Phänomen Leerstelle. Auf einer phänomenologisch-ontologischen Ebene hält jeder Satz, jedes einzelne Wort eines Textes ebenso wie jede Einstellung einer audiovisuellen Erzählform unendlich viele Unbestimmtheiten bereit. Dieses basale Verständnis von Unbestimmtheit stellt die unverzichtbare Grundlage dar, muss jedoch transzendiert werden, will man die Kategorie sinnvoll analytisch einsetzen. Ein solches gröberes Raster legen auch Ingarden und Iser

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an, um mit der Kategorie funktional umgehen zu können. Nicht alles, was nicht explizit gesagt oder gezeigt wird, ist demnach gleich eine Leerstelle. Es gilt also in Bezug auf die Leerstellen zwischen entbehrlichen und unentbehrlichen Informationen zu unterscheiden. Während durch elliptische Auslassungen solche Informationen ausgespart bleiben, die für die Erzählung entbehrlich sind, werden durch Leerstellen gerade solche Informationen vorenthalten, die Relevanz besitzen. Es ist mit Iser und in Abgrenzung zu Ingarden davon auszugehen, dass ihr Fehlen im Rezeptionsprozess entsprechend als Mangel empfunden wird, wobei dies durchaus auch erst retrospektiv der Fall sein kann, wenn eine vermeintliche Ellipse nachträglich als Leerstelle entlarvt wird. Im Unterschied zur Unbestimmtheit, die sich auf die Aspekthaftigkeit und Unvollständigkeit einer Darstellung bezieht, stellen die Iser’schen Leerstellen Brüche in der Kontinuität dar, die die Leser dazu herausfordern, die Lücke zwischen zwei Segmenten zu schließen. Die Herausforderung der Leser besteht dabei weniger in der Vervollständigung von nur partiell Gegebenem, sondern im Herstellen von Bezügen und in der Kontextualisierung des Gezeigten. Entsprechend wird im Folgenden zur besseren Unterscheidung und begrifflichen Präzisierung für diese Ausprägung der Begriff des Kontinuitätsbruchs benutzt, während der Terminus Leerstelle als übergreifende Bezeichnung beide Ausprägungen – Unbestimmtheiten und Kontinuitätsbrüche – fasst. Isers Kategorie der Negationen verweist über die Grenzen des Textes selbst hinaus auf außerfiktional bestehende Normen. Negationen bewegen die Leser dazu, ihre Reflexionen über die eigentliche Erzählung hinaus auf eine extradiegetische Ebene auszuweiten. Negationen stellen Brüche mit Normen und Erwartungen dar. Dadurch erkennen die Leser Gegenläufigkeiten im Text und gelangen zu Einsichten, die den handelnden Figuren fehlen. Dementsprechend erfüllen Negationen für Iser keine ästhetische, sondern eine didaktische Funktion, die empirisch nachzuweisen wäre, und sind für die Fragestellung, der hier nachgegangen werden soll, zu vernachlässigen. Iser beschreibt im Vergleich zu Ingarden die Konkretisation viel stärker als eine syntagmatische Entwicklung, gekennzeichnet durch die sukzessive Informationsvergabe im Prozess des fortschreitenden Lesens. Daraus resultiert die Erfordernis des wiederholten Auffüllens neu auftretender Leerstellen, des notwendigen Modifizierens von aufgebauten Erwartungen.

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Aus diesem hochdynamischen Konkretisationsprozess heraus ist schließlich das Erfassen des Gesamtzusammenhangs der Lektüre möglich. Am deutlichsten wird die Relevanz der Leerstellen für die Gesamtstruktur des Textes in seinen Ausführungen zu Negationen ersichtlich. Allerdings wird dieser wichtige Aspekt darin stark normativ und nur einseitig behandelt. Der prozesshafte Charakter des Rezeptionsfortgangs macht jedoch deutlich, wieso Iser von einer ‚Interaktion‘ spricht: Text und Leser ‚verhandeln‘ die Bedeutung sukzessive. Daraus ergibt sich auch Isers Abwertung der eher paradigmatisch gestalteten Unbestimmtheitsstellen zugunsten seiner Leerstellen. In letzteren sieht er weniger die mangelnde Bestimmtheit eines Gegenstandes als vielmehr eine Lücke in der fortschreitenden Konstitution der Handlung. Die Leser sind aufgefordert, Bezüge und somit eine Kohärenz herzustellen. Sie besetzen die Leerstellen in der Kontinuität der Handlung durch eigene Vorstellungen, die dann, bei später auftretenden Informationen eventuell modifiziert oder gar aufgegeben werden müssen. Die Leerstellen öffnen den Text für die aktive Beteiligung der Leser und aus dieser resultiert nach Iser das spezifische Vergnügen am Lesen. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass trotz aller Differenzen in den beiden Konzepten von Ingarden und Iser übereinstimmend zentrale Punkte als konstitutiv gesehen werden. Dies ist zum einen die Relevanz des Ausgelassenen, wodurch Konkretisationsvorgänge in Gang gesetzt werden und durch die Mitarbeit der Rezipienten ein Auffüllen des Fehlenden bedingt wird. Beide gehen zum anderen davon aus, dass das Abwesende in einer unbestimmten Weise im Anwesenden mitgegeben ist, so dass die Bedeutungsvielfalt eingeschränkt und der Konkretisationsprozess durch rezeptionsorganisierende Strukturen gelenkt werden. Neben diesen innertextuellen Steuermechanismen, auf die beide nicht näher eingehen, kommen zudem beim Auffüllen der Leerstellen außertextuelle Strukturen zur Wirkung, wie die individuellen Erfahrungen der Rezipienten sowie ihre soziokulturellen Orientierungssysteme. Auf die Möglichkeit eines gezielten Einsatzes von Leerstellen bzw. auf deren Funktion für die Narration geht Ingarden gar nicht und Iser nur sehr latent ein. Neben der ideologischen Bedeutung der Negationen werden lediglich Aspekte wie das Erzeugen von Spannung und Aufmerksamkeit angeschnitten. Folglich stehen entsprechende Betrachtungen hierzu noch

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aus; ein Desiderat dem zumindest in Bezug auf audiovisuelle Narrationen im Folgenden nachzugehen ist. Sowohl bei Ingarden als auch bei Iser finden sich Ansätze zu Reflexionen einer transmedialen Gültigkeit ihrer theoretischen Ansätze. Entsprechend ist zu fragen, ob sich Hinweise auf narrative Auslassungsphänomene in audiovisuellen Erzählformen auch in der klassischen filmund fernsehtheoretischen Literatur nachweisen lassen. Aus der Kombination der oben beschriebenen, basalen Leerstellen-Entwürfe von Ingarden und Iser einerseits mit den diversen theoretischen Überlegungen zu Auslassungen in audiovisuellen Narrationen, die nachfolgend wiedergegeben werden, andererseits sollen schließlich übergreifende Analysekategorien entwickelt werden, die transmedial anwendbar sind.

IV. Leerstellen in film- und fernsehtheoretischen Konzepten

Im Folgenden wird anhand entsprechend ausgewählter Beispiele, zunächst der filmtheoretischen und anschließend der fernsehtheoretischen Basisliteratur, überprüft, welche Aspekte aus dem Themenkreis der Leerstelle sich in diesen Ansätzen finden lassen, ob Ähnlichkeiten zu Ingardens Unbestimmtheiten und Isers Leerstellen in der Beschreibung einzelner Aspekte nachweisbar sind oder ob sich die Diskussion hier auf völlig andere Phänomene konzentriert, die in Bezug auf audiovisuelle Leerstellen relevant sind.

F ILMTHEORETISCHE L EERSTELLENKONZEPTE Das Spektrum an Publikationen zu ästhetischen Aspekten des Films ist breit und in nahezu allen theoretischen Abhandlungen lassen sich zahlreiche Hinweise darauf feststellen, dass unterschiedliche leerstellenrelevante Aspekte wie Kontinuitätsbrüche oder Arten von Auslassungen – konstitutive Bestandteile filmischen Erzählens – durchaus behandelt oder zumindest thematisch angeschnitten oder implizit mitgedacht werden.1 Ein genuiner Leerstellendiskurs findet sich darunter jedoch nicht.

1

Natürlich gibt es auch hier wenige, die Regel bestätigende Ausnahmen (etwa Alfred Hitchcocks Rope (1948), der vorgibt, ohne Schnitte und entsprechend ohne zeitliche Auslassungen zu erzählen), wobei diese Abweichungen – gerade durch ihr Abweichen – die Regel implizit immer mitreferieren.

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Insbesondere in der letzten Dekade hat sich eine ausgedehnte Auseinandersetzung mit Fragen des unzuverlässigen Erzählens etabliert, die zentrale Punkte, die auch in Bezug auf Leerstellen von Bedeutung sind, in den Fokus nimmt.2 Die darin aufgegriffenen Aspekte werden jedoch aus einer anderen Perspektive heraus und explizit distinktiv behandelt und nicht integrativ, als unterschiedliche Ausprägungen der Oberkategorie Leerstelle, wie es hier geschehen soll. Daher scheint es gewinnbringender, den Fokus auf die basalen theoretischen Standardwerke aus dem Bereich der Filmästhetik zu richten und dort nach Hinweisen auf grundlegende Leerstellenstrukturen zu suchen. So werden etwa mit Rudolf Arnheim und Béla Balázs zwei frühe Theoretiker berücksichtigt, die häufig der konstruktivistischen oder formalistischen Filmtheorie zugeordnet werden, wobei Arnheim mit Film als Kunst (von 1932) ein eher wahrnehmungstheoretisches Grundlagenwerk verfasste und Balázs mit Der Geist des Films (von 1930) eher formalästhetisch zu verorten ist. Siegfried Kracauer als Vertreter eines eher am Realismus orientierten Standpunktes steht mit der Theorie des Films (von 1960) und in einer aus der Soziologie kommenden phänomenologischepistemologischen Tradition der Position Ingardens nahe. Außerdem sollen aus dem Bereich der Montagetheorien zum einen die Schriften Sergej Eisensteins (die in den 1920er und 30er Jahren entstanden) – ebenfalls dem Konstruktivismus zuzuordnen – herangezogen werden, zum anderen die Ausführungen von Jean-Pierre Oudart (aus dem Jahr 1969), in denen er das Konzept der Suture herausarbeitet. Kristin Thompson knüpft mit ihrem Konzept einer neoformalistischen Filmanalyse (von 1988) an den russischen Formalismus an und kombiniert diesen mit einer explizit kognitiv orientierten Filmtheorie, wodurch sie auch rezeptive Aspekte in ihren Fokus nimmt. (Vgl. z.B. Elsaesser/Hagener 2007: 26, 31; Kimmich 2003; Albersmeier 2003) Für die Filmtheorie gilt, wie auch für die Literaturtheorie festgehalten wurde, dass die auftretenden Phänomene von den unterschiedlichen Autoren zum einen nicht einheitlich benannt, zum anderen aus divergierenden Kontexten heraus betrachtet werden. Ziel der folgenden Ausführungen ist es daher, die relevanten Aspekte aus den ausgewählten theoretischen Konzepten quellenorientiert herausarbeiten, um anschließend eine übergreifende Perspektive zu ermitteln. Wie bereits erwähnt, sollen anhand der daraus

2

Z.B. Liptay/Wolf (2005), Helbig (2006), Kaul/Palmier/Skrandies (2009).

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resultierenden Erkenntnisse eine Weiterentwicklung der Definition und schließlich – nach dem Blick auf die fernsehtheoretischen Ansätze – eine Ausdifferenzierung der Leerstellenkategorien erfolgen. Rudolf Arnheim: Film als Kunst In seinem Buch thematisiert Arnheim sowohl Unbestimmtheiten als auch Kontinuitätsbrüche in Form von räumlichen und zeitlichen Auslassungen. Auch der Aspekt der Rezipientenaktivität und damit implizit verbunden das gedankliche Vervollständigen der Informationslücken ebenso wie deren bewusster, funktionaler Einsatz kommen zur Sprache. Damit deckt Arnheim in Film als Kunst bereits wesentliche Gesichtspunkte des Phänomens Leerstelle ab. Unbestimmtheit – auch wenn er diese nicht explizit so benennt – entsteht nach Arnheim dann, wenn die Darstellung von der konventionellen, charakteristischen Weise des Zeigens abweicht und ungewöhnliche Perspektiven oder Bildausschnitte gewählt werden. Kontinuitätsbrüche stellen für ihn Phänomene dar, die auf den „elementaren Materialeigenschaften des Filmbildes“ (Arnheim 2002: 24) beruhen und daher konstitutiv für filmisches Erzählen sind. Leerstellencharakter können die daraus entstehenden Auslassungen dann erhalten, wenn sie entsprechend instrumentalisiert werden. Beide Kategorien sollen kurz anhand einiger Textausschnitte aus der Perspektive Arnheims dargestellt werden. Er konstatiert, dass ein Filmbild keine „einfache Wirklichkeitswiedergabe“ (Arnheim 2002: 21) ist, sondern dass es gegenüber dem ‚Weltbild‘ gewisse Abweichungen aufweist. Diese Abweichungen stellen für ihn allerdings keinen Nachteil dar, denn „ohne solche ‚Mängel‘ gegenüber der Wirklichkeit ist Kunst überhaupt nicht möglich.“ (Arnheim 2002: 21) Film als Kunst bedeutet für ihn entsprechend das Erzeugen einer ganz eigenen filmischen Wirklichkeit und nicht das Nachahmen oder Abbilden der Realität. Der Film bietet jedoch „eine partielle Illusion. Er vermittelt bis zu einem gewissen Grade den Eindruck wirklichen Lebens“ (Arnheim 2002: 38). Um einen Gegenstand möglichst ‚gut‘ – d.h. bei Arnheim so, dass das reale Objekt darin wiedererkannt wird – abzubilden, soll eine besonders charakteristische Ansicht des Gegenstandes gewählt werden. „[F]ür das Auffinden der charakteristischen Ansicht gibt es keinerlei formulierbare Regel, es ist Gefühlssache.“ (Arnheim 2002: 26) Anders als Ingarden er-kennt Arnheim

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das Potential, das in der Abweichung dieser Darstellungskonventionen liegt, indem er feststellt, „daß bei der künstlerischen Behandlung der Photographie (resp. des Filmbildes) durchaus nicht immer solche ‚Einstellungen‘ gewählt werden, die das Charakteristische des betreffenden Gegenstandes am besten zeigen, sondern häufig bewußt andre, zur Erzielung besondrer Wirkungen.“ (Arnheim 2002: 26f) Hier spielt er auf die Dialektik von „Zeigen und Verschweigen“ (Iser 1976: 79) an, auf die auch Iser hinweist und referiert damit implizit das Entstehen von Unbestimmtheiten, die durch diesen bewussten Einsatz zur Leerstelle werden. Etwas konkreter lässt sich sein Verständnis dieses Unbestimmtheitskonzeptes anhand eines geschilderten Beispiels zeigen. Arnheim geht darauf ein, dass die Auswahl der Perspektive und des Winkels großen Einfluss darauf haben können, was der Filmrezipient letztendlich auf der Leinwand sieht. „Dadurch, daß dem Filmmann die Wahl der Einstellungen obliegt, ist ihm zugleich die Möglichkeit gegeben, die Gegenstände, die er ins Bild nehmen will, nach seinem Willen auszuwählen; zu verdecken, was er nicht zu zeigen oder vorläufig nicht zu zeigen wünscht“ (Arnheim 2002: 62). Als Beispiel dafür, wie durch eine bestimmte Perspektive auf etwas Unbestimmtheit erzeugt und dadurch gezielt Rezipientenaktivität angeregt wird, verweist er auf den Film Chaplin als Auswanderer3: „[Es] wird zu Anfang ein entsetzlich schwankendes Schiff gezeigt, auf dem alle Passagiere seekrank sind: die Hände an den Mund gepreßt, taumeln sie zur Reling. Dann kommt Chaplins Auftrittsszene: Man sieht ihn über die Reling hängen, mit dem Rücken zum Publikum, den Kopf weit nach vorn gebeugt, die Beine strampeln – jedermann, der das sieht, meint, der Arme zahle dem Ozean Schmerzensgeld. Plötzlich aber rappelt Charlie sich hoch, dreht sich um, und man sieht, daß er mit seinem Spazierstock einen großen Fisch aus dem Wasser geangelt hat. Dieser Überraschungseffekt ist erzielt unter Ausnutzung der Projektion, unter Berücksichtigung der Tatsache, daß der Zuschauer die Situation von einem ganz bestimmten Ort aus betrachtet. […] [W]äre sie vom Wasser her aufgenommen, so hätte jedermann von Anfang an gesehen, daß Chaplin sich gar nicht erbricht sondern angelt, man wäre also erst gar nicht auf den falschen Gedanken gekommen. […] Diese Szene ist aber gerade nicht so aufgenommen, daß man den Vorgang am besten

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Originaltitel The Immigrant (Charles Chaplin, 1917), deutscher Titel Der Einwanderer.

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erkennen kann, sondern im Gegenteil: man sieht keine Spur von dem, was Chaplin treibt, und so kommt die beabsichtigte Täuschung zustande.“ (Arnheim 2002: 50f)

Arnheim geht davon aus, dass die Zuschauer aus dem Dargestellten heraus darauf schließen, dass Chaplin sich übergibt, was die naheliegendste Assoziation ist. Das Zitat zeigt, dass er das Potential der Unbestimmtheit zur Erzeugung und Lenkung bestimmter Erwartungen erkennt. Auf Unbestimmtheiten referiert Arnheim implizit auch in Bezug auf den Bildausschnitt. Er beschreibt eine Szene aus Buster Keaton als Filmreporter4, um zu belegen, wie entscheidend sich die Wahl des Bildausschnitts auswirken kann: „Morgens früh, das Büro wird geöffnet, die Angestellten kommen, man sieht den Empfangsraum, mit der Barriere, an der die Kunden empfangen werden. Das Mädchen hat hier ihren Platz, sie tritt auf, kleidet sich aus, setzt sich zur Arbeit. Und plötzlich dreht sich der Aufnahmeapparat ein wenig, und nun sieht man eine Ecke des Warteraums, die bisher nicht sichtbar war, und da sitzt Buster Keaton […]. Die groteske und unnaturalistische Wirkung der Szene ist aber dadurch erzielt, daß der Zuschauer meint, eine geschlossene, total übersichtliche Situation zu sehen […].“ (Arnheim 2002: 86f)

Die Wahl des Bildausschnittes stellt eine Entscheidung dar, durch die festgelegt wird, was im Bild zu sehen ist und was nicht. Darin liegt die Möglichkeit, „Spannungen zu erzeugen, indem etwa gerade das Wichtige und Sehenswerte außerhalb des Bildes bleibt“ (Arnheim 2002: 90). Durch Hinweise aus dem Bildausschnitt hinaus – etwa durch ein Spiegelbild im Wasser (vgl. Arnheim 2002: 88) oder durch vorauseilende „schwarze Schatten schleichender Verbrecher“ (Arnheim 2002: 88) – werden Teilinformationen gegeben, d.h. Andeutungen gemacht, die, auch wenn Arnheim das an dieser Stelle explizit so nicht ausformuliert, die Vorstellungstätigkeit der Rezipienten herausfordern müssen. Insbesondere die Nahaufnahme hat nach Arnheim das Potential, den „Zuschauer allzu leicht in völliger Unklarheit über die räumliche Umgebung des abgebildeten Gegenstandes oder Gegen-

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Originaltitel The Cameraman (Edward Sedgwick, 1928), deutscher Titel Buster der Filmreporter bzw. Der Kameramann.

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standsteils“ (Arnheim 2002: 90) zu lassen, wie es z.B. in Dreyers La Passion de Jeanne d’Arc von 1928 der Fall ist. An anderer Stelle wird Arnheim bezüglich der Rezipientenaktivität konkreter. Auch im gezielten Einsatz von Licht, Schatten und Unschärfe sieht er Potential für Unbestimmtheiten. (Vgl. Arnheim 2002: 86) „[B]esonders reizvoll [ist] das Ungewisse, Unverständliche des unscharfen Bildes […]: man ahnt noch nicht, was da kommen wird, macht sich alle möglichen Vermutungen zurecht, und dann plötzlich ist das Bild scharf, und die Überraschung ist da.“ (Arnheim 2002: 125) Hier verweist Arnheim explizit auf die Konkretisationsleistung der Rezipienten, die sich aufgrund der Unbestimmtheit ‚Vermutungen zurechtmachen‘. Zudem wird implizit deutlich, dass dafür die Unvollständigkeit der gegebenen Information, die Partialität des Gezeigten ursächlich ist. Angedeutetes wird von den Zuschauern komplettiert. Neben diesen Phänomenen, die unter Ingardens Kategorie der Unbestimmtheit zu subsumieren sind, sieht Arnheim einen weiteren Unterschied zwischen Filmbild und Wirklichkeit im „Wegfall der raum-zeitlichen Kontinuität“ (Arnheim 2002: 34). Damit thematisiert er weitere leerstellenrelevante Aspekte, die unter Isers Kategorie der Leerstelle im Sinne einer Kombinationsnotwendigkeit fallen. Siegfried Kracauer: Theorie des Films Die leerstellenrelevanten Aspekte, die bei Siegfried Kracauer diskutiert werden, fallen in den Bereich der Unbestimmtheiten. Die von ihm beschriebenen Phänomene können dabei in visuelle und akustische Leerstellen unterschieden werden, wodurch die Dialektik von Bild- und Tonebene der audiovisuellen Medien thematisiert wird. Leerstellen im Sinne von Kontinuitätsbrüchen reflektiert er in seiner Theorie des Films nicht. Trotz seines grundsätzlich eher passiven Rezipientenverständnisses – er geht davon aus, dass Filme „vorwiegend die Sinne des Zuschauers affizieren und ihn so zunächst physiologisch beanspruchen, bevor er in der Lage ist, seinen Intellekt einzusetzen“ (Kracauer 1985: 216) – finden sich auch Hinweise auf Konkretisationsaktivität bei den Zuschauern, die anhand ihrer inner- sowie außerästhetischen Erfahrung die Unbestimmtheiten auffüllen. Für Kracauer stellt „das Unbestimmbare“ (vgl. Kracauer 1985: 105ff) eine der fünf wesentlichen Affinitäten des Mediums Film dar, worunter er

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versteht, dass sich „Bedeutung innerhalb wechselnder Zusammenhänge verändert.“ (Kracauer 1985: 105) Bereits reale Objekte sind für ihn durch Unbestimmbarkeit gekennzeichnet. Werden diese realen Objekte im Film dargestellt, so weisen auch die Abbildungen die Unbestimmbarkeit auf. Für Kracauer ist als Vertreter des Realismus eine Filmaufnahme „nur dann filmisch, wenn sie den Rohstoff der Natur in seiner Vieldeutigkeit in sich begreift“ (Kracauer 1985: 106). Für ihn bringt diese Tatsache die Regisseure in eine Zwickmühle: Ihnen sei einerseits durchaus daran gelegen, die „physische Realität um ihrer selbst willen darzustellen“ (Kracauer 1985: 107), d.h. die Realität in ihrer Vieldeutigkeit wiederzugeben. Andererseits wollen sie mit ihren Filmen aber auch Geschichten erzählen, woraus die Notwendigkeit entsteht, den Bedeutungsspielraum der dargestellten Objekte einzuschränken und ihnen einen Sinn zu geben, „der sich auf die Story bezieht“ (Kracauer 1985: 106). Zur Untermauerung dieser These verweist er auf die Experimente von Kuleschow und Pudowkin, die belegen sollen, dass die „Reduktion (und Bestimmung) der Bedeutungen von Filmbildern eine Sache des Schnitts ist.“(Kracauer 1985: 106) Konkreter sind seine Reflexionen zur Unbestimmtheit von Geräuschen. (Vgl. Kracauer 1985: 173ff) Er unterscheidet identifizierbare von unidentifizierbaren Geräuschen. Identifizierbar sind sie dann, wenn man sie einer bestimmten Quelle zuordnen kann, unabhängig davon, ob diese im Film aktuell zu sehen ist oder nicht. Das akustisch reproduzierte Geräusch ähnelt einem realen Geräusch, das der Zuschauer aus Erfahrung kennt. Als Beispiele nennt er Hundegebell oder Glockengeläut. „[K]aum hören wir es, so neigen wir dazu, uns wie vage auch immer die Kirche oder den Glockenturm vorzustellen, von dem es herkommt; und von dort mag die Fantasie gemächlich weitertreiben, bis sie auf die Erinnerung eines mit Kirchgängern gefüllten Dorfplatzes stößt, die im Sonntagsstaat zum Gottesdienst strömen. Allgemein gesprochen, ruft jedes vertraute Geräusch innere Bilder seiner Quelle hervor, ebenso wie Bilder von Tätigkeiten, Verhaltensweisen usw., die entweder gewohnheitsmäßig mit diesem Geräusch verbunden werden oder sich im Gedächtnis des Hörenden darauf beziehen.“ (Kracauer 1985: 174)

Solche identifizierbaren Geräusche, die ohne ihr visuelles Signifikat auftreten, lösen bei ihren Rezipienten Konkretisationsaktivitäten aus, indem sie Vorstellungen ihrer potentiellen Quellen hervorrufen. Nach Kracauer len-

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ken solche Geräusche, deren Quelle nicht zu sehen ist, unabhängig davon, ob sie identifizierbar sind oder nicht, die Aufmerksamkeit auf „die materiellen Aspekte der Realität“ (Kracauer 1985: 174). Übersetzt in rezeptionsästhetische Termini hieße das: Die Geräusche charakterisieren einen Gegenstand nur zum Teil, die visuellen Aspekte bleiben – durch die Wahl des Bildausschnittes – im Off und damit unbestimmt. Die Rezipienten ergänzen die fehlenden Aspekte anhand ihrer Erfahrung mit den realen Gegenständen und konkretisieren eine visuelle Vorstellung des akustisch Wahrgenommenen. Darin stecken Hinweise auf Unbestimmtheit als eine Art von Leerstelle, auf Rezipientenaktivität und auf das Einbeziehen der außerästhetischen Erfahrung in den Konkretisationsprozess. Dass diese Diskrepanz von Bild und Ton auch gezielt instrumentalisiert werden kann, bleibt unerwähnt. Im Kapitel Die Errettung der physischen Realität (Kracauer 1985: 389ff) beschäftigt sich Kracauer mit den ‚Konfrontationen‘ von Film und Vorstellung. „Filme oder Filmpassagen, die sichtbare materielle Realität mit unseren Vorstellungen von ihr konfrontieren, können diese Vorstellungen entweder bestätigen oder Lügen strafen.“ (Kracauer 1985: 396) Hier ist eine Nähe zu Isers Idee der Negationen erkennbar. Ebenso wie Iser betont Kracauer die ideologische Funktion dieser enttäuschenden Konfrontationen. Er geht davon aus, dass bestätigende Szenen dazu dienen, sie unreflektiert anzunehmen. Das bedeutet für ihn, dass diese Bestätigung trügerisch ist. Zudem sind „bestätigende Bilder von geringerem Interesse als solche, die unsere Vorstellungen von der physischen Welt in Frage stellen.“ (Kracauer 1985: 397) Als Beispiel für eine solche enttäuschende Konfrontation zieht er ebenfalls die bei Arnheim bereits beschriebene Szene mit Charlie Chaplin heran, der bei wildem Seegang über der Reling hängt, allerdings nicht – wie der Kontext nahe legt – aus Übelkeit, sondern um zu fischen. Das, was Kracauer unter ‚Konfrontationen‘ versteht, ist also eine bewusste Täuschung, eine Irritation der Zuschauer, die, zumindest in seinem Beispiel, durch Leerstellen induziert wird. Die Darstellung legt den Rezipienten eine bestimmte Konkretisation nahe. Diese Vorstellung wird schließlich enttäuscht. Im Beispiel des Chaplin-Filmes entsteht aus dieser ‚Entlarvung‘ Komik. In solchen Irritationen erzeugenden ‚Konfrontationen‘ sieht Kracauer dementsprechend also durchaus die Möglichkeit der erzählstrategischen Funktionalisierung von Leerstellen.

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„In der Wirklichkeit spielt sich für den einzelnen Beschauer jedes Erlebnis resp. jede Erlebniskette in einem geschlossenen räumlichen und zeitlichen Ablauf ab. Ich sehe etwa, wie zwei Menschen in einem Zimmer miteinander verhandeln. Ich stehe in vier Metern Entfernung. Ich kann die Entfernung ändern, kann näher herangehen, aber diese Änderung erfolgt nicht sprunghaft; ich kann nicht plötzlich nur noch in zwei Metern Entfernung sein sondern muß die Strecke zwischen vier und zwei Metern Abstand durchlaufen. […] Ähnlich steht es mit der Zeit. Ich kann nicht plötzlich sehen, was diese beiden Menschen zehn Minuten später miteinander tun, sondern diese zehn Minuten müssen voll verstreichen. Es gibt in der Wirklichkeit für einen Beobachter keine Zeit- und keine Raumsprünge sondern eine raum-zeitliche Kontinuität. Nicht so im Film. Die gefilmte Zeitstrecke läßt sich an einem beliebigen Punkt abbrechen. Sofort darauf kann eine Szene vorgeführt werden, die zu völlig andrer Zeit spielt. Und ebenso lässt sich das Raumkontinuum unterbrechen. […] Ich kann eben noch in Sydney gewesen sein und bin gleich darauf in Magdeburg. […] Diese Möglichkeit ist zunächst nur eine technische. Bei der praktischen Verwendung tritt zumeist eine Einschränkung dieser Freiheit dadurch ein, daß den Inhalt des Films eine Handlung bildet, die eine gewisse Einheitlichkeit des zeitlichen und räumlichen Ablaufs hat. In ihn passen sich die Einzelszenen ein.“ (Arnheim 2002: 34f)

Der Film ist also grundsätzlich nicht dem Einhalten einer zeitlichen und räumlichen Kontinuität verpflichtet. Es kann allerdings, so Arnheim, nicht völlig willkürlich durch Zeit und Raum gesprungen werden, es sei denn „zur Erzielung bewußt grotesker Wirkungen“ (Arnheim 2002: 36). Ebenso wie in Bezug auf die Unbestimmtheit zieht Arnheim auch bei den Kontinuitätsbrüchen die Möglichkeit einer gezielten Funktionalisierung in Erwägung, so dass die Auslassung narrative Relevanz erhält und zur Leerstelle wird. Er thematisiert aber nicht einfach nur die Brüche und Lücken, die durch raum-zeitliche Sprünge entstehen, sondern weist auch auf die Probleme hin, die durch diese Kontinuitätsbrüche für die Rezipienten entstehen: „Während innerhalb der Einzelszene das Zeitkontinuum unangetastet bleiben muß, sind Szenen, die auf verschiedenen Schauplätzen spielen, zeitlich zueinander indifferent, so daß man weder sagen kann, die folgende Szene geschehe gleichzeitig, vorher oder nachher.“ (Arnheim 2002: 36)

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Die temporalen und kausalen Zusammenhänge müssen sich die Rezipienten selbst anhand der Handlung erschließen, d.h. sie müssen aktiv werden, Beziehungen herstellen und die Lücken auffüllen. „Denn aus der bloßen Aufeinanderfolge innerhalb des Films kann noch nicht auf eine zeitliche Aufeinanderfolge geschlossen werden.“ (Arnheim 2002: 37) Wie bei den Referenzen auf Unbestimmtheiten, die dann von geringerer Ausprägung sind, wenn die charakteristischen Ansichten dargestellt werden, geht Arnheim auch im Falle der Kontinuitätsbrüche davon aus, dass „[w]enn nur alles Wesentliche des Vorgangs gezeigt wird, […] die Illusion für uns komplett [ist]“ (Arnheim 2002: 41). Bei der Montage ist es folglich die Aufgabe des Regisseurs, „den Zusammenhang des Ganzen so zu gestalten, daß der Zuschauer auch in die gewünschte Einstellung kommt“ (Arnheim 2002: 98). Insgesamt zählt Arnheim mit den Hinweisen auf Perspektive, Bildausschnitt, Licht, Schatten, Unschärfe und Montage in seinem Text diverse Möglichkeiten auf, wie Unbestimmtheit und Kontinuitätsbrüche in Filmen entstehen bzw. erzeugt werden können. Er beschreibt also nicht nur die Leerstellenphänomene selbst, sondern verweist zudem direkt auf die filmischen Techniken, die diese erzeugen, sowie auch auf den gezielten Einsatz dieser Techniken, um die Zuschauer zu bestimmten Interpretationen zu verleiten. Der bewusste künstlerische Einsatz der filmischen Mittel dient dem Erzielen besonderer Effekte und stellt, so Arnheim, ihre „Eigenart als bildformende Faktoren“ (Arnheim 2002: 52) heraus. Daraus wird deutlich, dass die von ihm beschriebenen Phänomene, die im Anschluss an Iser und Ingarden als Leerstellen verstanden werden können, für Arnheim ausdrücklich ästhetischen Charakter haben. Béla Balázs: Der Geist des Films In den Ausführungen Balázs’ ist festzustellen, dass er sowohl auf Unbestimmtheiten als auch auf Kontinuitätsbrüche eingeht und dabei zudem ein gewisses Mitgegebensein von Information im Anwesenden auf das Abwesende erkennt. Neben visueller Unbestimmtheit spricht Balázs, wie bereits Kracauer, von akustischen Unbestimmtheitsfällen und reflektiert darüber hinausgehend auch die Möglichkeit der Stille oder des Nicht-Verstehens im Sinne einer Leerstelle. Diese Option der Nicht-Darstellung, wie Balázs sie spezifisch für das audiovisuelle Erzählen beschreibt, stellt ein Phänomen

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dar, das in den literaturtheoretischen Konzepten – entsprechend dem rein sprachlichen Charakter der Literatur – nicht reflektiert wurde. Diese Form der Abwesenheit von Information muss jedoch in Bezug auf eine Anwendung der Leerstellenkategorie auf Bewegungsbilder notwendig berücksichtigt werden. Rezipientenaktivität wird explizit thematisiert, ebenso die bewusste Funktionalisierung der Montageformen und damit implizit auch das Instrumentalisieren der Leerstellen. In Balázs’ Ausführungen dazu tritt außerdem ein weiterer neuer Aspekt hervor: Die Leerstellen in Form von Kontinuitätsbrüchen können in zwei unterschiedlichen Ausprägungen auftreten. Zum einen beschreibt er am Beispiel von Zeitsprüngen, wie Informationen zwar ausgelassen werden, die Zuschauer aber dennoch recht gut darüber ‚im Bilde‘ sind, was sich in den ausgelassenen Zeitspannen ereignet haben kann. Im anderen Beispiel – einem Wechsel des Handlungsortes – entsteht durch die Leerstelle eine Irritation der Zuschauer, die erst langsam die Bezüge herstellen müssen. Kontinuitätsbrüche können sich also entweder unproblematisch oder aber problematisch für die Zuschauer gestalten. Damit wird in Balázs’ Konzept sowohl der bei Ingarden zentrale Aspekte des unreflektierten Konkretisierens als auch der bei Iser hervorgehobene Punkt des bewussten Auffüllens sinnvoll integriert, indem er sie unterschiedlich ausgeprägten Leerstellen zuschreibt. Er stellt ‚einfache‘ (zeitliche) Auslassungen, die entsprechend unreflektiert ergänzt werden können, einer starken Dekontextualisierung der Einstellungen gegenüber, die entsprechend bewusstere Rezipientenaktivität erfordert. Diese Differenzierung der Kontinuitätsbrüche in einfache Auslassungen und stärkere Dekontextualisierungen scheint ein funktionaler Ansatz für eine Anwendung auf filmisches Erzählen zu sein. Wie sich diese Hinweise in den Ausführungen Balázs’ konkret widerspiegeln, soll anhand einiger Textstellen belegt werden. Ebenso wie die beiden bereits behandelten Theoretiker beschäftigt sich auch Balázs mit der Wahrnehmung von Gegenständen und ihrer Darstellung. „Daß jedes Ding eine bestimmte, einmalige Gestalt hat, ist eine Konstruktion des Denkens oder eine Erfahrung des Tastgefühls. Für das Auge haben die Dinge nur Erscheinung, also nur das Bild ihrer Gestalt. Und darum nicht eines, sondern hundert verschiedene Bilder aus den verschiedenen Perspektiven.“ (Balázs 2001: 30)

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Die Perspektive auf einen Gegenstand bestimmt die Wahrnehmung, die die Rezipienten von diesem Gegenstand haben. In diesem Zusammenhang thematisiert Balázs die Auswahl des Bildausschnittes, geht dabei allerdings nicht näher auf die daraus resultierende Unbestimmtheit selbst ein, sondern vielmehr auf die unvermeidliche Subjektivität der Kamera. Hier werden Ähnlichkeiten zu Ingardens Idee des Mitgegebenseins von Nichtsichtbarem im Bild erkennbar: „Durch die Einstellung wird das Bild im Raum lokalisiert. Durch die Einstellung kann aber auch der Raum in das Bild reflektiert werden. In der Großaufnahme etwa ist die Umgebung nicht zu sehen, aber ihre Atmosphäre liegt wie ein Niederschlag auf dem herausgehobenen Bild. Wie in einem Fokus fängt die Großaufnahme die Lichter und Schatten des Raumes ein. Wir müssten an einem Gesicht allein sehen können, welcher Art der Raum ist, in dem sich der betreffende Mensch befindet.“ (Balázs 2001: 31)

Anhand der Großaufnahme – einem zentralen Thema für Balázs – legt er dar, dass Bilder Hinweise auf das enthalten, was außerhalb ihres Bildausschnittes liegt. Mittels dieser inhärenten Hinweise können die Rezipienten die Umgebung, den Raum außerhalb der Bildbegrenzung imaginieren, sie konkretisieren fehlende Aspekte und füllen die Unbestimmtheiten partiell auf. Eine eindeutige Bestimmung kann jedoch allein durch die in einer Einstellung (mit-)gegebenen Informationen nicht erfolgen. „Im Film genügt auch die bedeutungsvollste Einstellung nicht, um dem Bild seine ganze Bedeutung zu geben. Diese wird letzten Endes von der Position des Bildes zwischen den anderen Bildern entschieden.“ (Balázs 2001: 42) Auch Balázs referiert damit, wie Arnheim und Kracauer, auf die grundsätzliche Uneindeutigkeit der Einzelbilder bzw. der Einstellungen. Erst durch die Montage, durch eine sukzessive syntagmatische Kontextualisierung wird die Vieldeutigkeit eingeschränkt. Auch wenn Rezipienten die Bedeutung eines Bildes nicht genau einschätzen können, weil weitere kontextuelle Informationen (noch) fehlen, wecken diese doch bestimmte Assoziationen und es entstehen Konkretisationen. Diese sind dabei von den vorangegangenen Bildern bestimmt, d.h. die Bilder stehen in einer „Assoziationsreihe“ (Balázs 2001: 42) und sind durch diese „mit einer Bedeutungstendenz“ (Balázs 2001: 42) aufgeladen.

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Die Montage ist für Balázs das bedeutungsorganisierende Prinzip. Er unterscheidet zwischen der produktiven und der unproduktiven Montage. „Wenn wir alles, was wir erfahren sollen, in den Bildern sehen, dann gibt die Montage von sich aus nichts hinzu. Sie ordnet nur die fertigen Bedeutungen, um den Ablauf der Handlung verständlich zu machen.“ (Balázs 2001: 44) In diesem Falle nennt er die Montage unproduktiv5. „Produktiv wird die Montage, wenn wir durch sie etwas erfahren [bzw. konkretisieren], was in den Bildern selbst gar nicht gezeigt wird.“ (Balázs 2001: 44) „Wir sehen jemanden aus einem Zimmer herauskommen. Dann sehen wir das Zimmer in Unordnung, mit Spuren eines Kampfes. Dann vielleicht eine Stuhllehne, von der Blut tropft. Wir haben weder den Kampf gesehen noch das Opfer, aber wir sind im Bilde. Wir haben es erraten.“ (Balázs 2001: 44f)

Durch die Montage entstehen Kontinuitätsbrüche, Sprünge, in denen Informationen ausgelassen werden, auf die aber, anhand der gegebenen Bilder – mehr oder weniger eindeutig – geschlossen werden kann. Das Ausgelassene besitzt Relevanz, weshalb es sich nicht um eine einfache Ellipse handelt, sondern um eine Leerstelle, die mit der Kontinuität bricht, um Information vorzuenthalten. Dadurch wird die Vorstellungsaktivität der Zuschauer stimuliert. Balázs reflektiert auch die unterschiedlichen Stilmittel der Montage in diesem Zusammenhang: „Dasselbe Gesicht: einmal jung und gleich darauf alt. – Wenn diese beiden Bilder zueinander geschnitten sind, so ist es ein unlogischer Sprung. Wenn sie langsam ineinander überblenden, so bedeutet das vergangene Zeit. Wir denken uns diese Zeit.“ (Balázs 2001: 55) In diesem Beispiel wäre ein einfacher Schnitt für Balázs ‚unlogisch‘. Die zeitliche Auslassung würde die Rezipienten eventuell irritieren oder die Herstellung der Beziehung zwischen beiden Bildern erschweren. Eine Blende hingegen hält er für geeignet, die Rezipienten zu einer sinngemäßen Interpretation zu verleiten, denn bei einer Blende „fühlen wir keinen Sprung“ (Balázs 2001: 57). Die Form der Montage kann also das Herstellen von Zusammenhängen vereinfachen oder erschweren.

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Da diese Form der Montage für den hier relevanten Themenkomplex nicht wieter von Belang ist, wird davon abgesehen zu diskutieren, ob es eine solche „unproduktive Montage“ überhaupt geben kann.

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Was hier am Beispiel eines zeitlichen Sprunges verdeutlicht wurde, gilt für Balázs auch bei räumlichen Sprüngen: „Das letzte, übriggebliebene Detailbild des verschwundenen Raumes überblendet zu dem ersten, gleichsam vorausgeschickten Detailbild des kommenden. Das weckt Erwartung. Man versucht zu erraten, wo man sich nun befindet!“ (Balázs 2001: 58) Das Zitat verweist zudem direkt auf die Aktivität der Rezipienten, die durch die Auslassungen dazu verleitet werden, zu ‚erraten‘, in welcher Beziehung das Gezeigte zu dem Vorangegangenen steht und somit einen Kontext imaginieren. In seinem dem Ton gewidmeten Kapitel finden sich ebenfalls einige kurze Passagen, die als Hinweise auf Unbestimmtheit gelesen werden können. Ganz banal können diese entstehen, wenn etwas zu sehen, aber nicht zu hören ist oder umgekehrt etwas zu hören, aber nicht zu sehen. (Vgl. Balázs 2001: 130ff) Auch die Problematik, dass die Lokalisierung der Quelle eines Geräusches oft schwierig ist, wird von ihm angemerkt. „Wenn nur drei Menschen in gleicher Entfernung im Bild erscheinen und eine Stimme ertönt, so ist es fast unmöglich, festzustellen, wer von den dreien spricht“ (Balázs 2001: 118), abgesehen natürlich davon, man kann dies optisch erkennen. Hinzu kommt die audiospezifische Problematik, dass sich gleichzeitig auftretende Geräusche in der Regel vermischen. „Dinge, die ich im Raum sehe, sehe ich entweder nebeneinander, oder sie decken einander. Optische Eindrücke vermischen sich nicht. Erklingen jedoch mehrere Töne auf einmal, so verschmelzen sie zu einem Gesamtgeräusch.“ (Balázs 2001: 117) Die Ursache hierfür sieht Balázs in der „Ungeschultheit unseres Gehörs“ (Balázs 2001: 119) verglichen mit der Dominanz des visuellen Sinns. Im Tonfilm sieht Balázs das einzige Medium, die einzige Kunst, der es möglich ist, Stille darzustellen. „Keine nur visuelle Kunst könnte die Stille darstellen, weil sie kein Zustand, sondern ein Ereignis ist. […] Stille hat nur dort Bedeutung, wo es auch laut sein könnte.“ (Balázs 2001: 121) Insofern diese Stille bzw. Nicht-Darstellung also bedeutungstragend ist, ist sie als eine Leerstelle zu verstehen. Im Vergleich zum Stummfilm bietet also der Tonfilm auch die Möglichkeit, sogar die Sprache selbst als eine Leerstelle zu instrumentalisieren. „In der ‚Melodie des Herzens‘ spricht ‚das Volk‘ ungarisch, obwohl die Helden deutsch reden. In dem Froelich-Film ‚Die Nacht gehört uns‘ sprechen die italienischen Bauern italienisch.“ (Balázs 2001: 127) Da, so Balázs, nicht angenommen werden kann, dass das deutsche Publikum dieser beiden Filme ungarisch oder italienisch versteht, wird

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die Sprache zur Leerstelle für die Rezipienten, insofern davon auszugehen ist, dass die Zuschauer zu Hypothesen über die Gesprächsinhalte angeregt werden.6 Hinsichtlich der audiovisuellen Dialektik thematisiert Balázs also nicht nur die Divergenz zwischen Bild und Ton sowie zwischen On und Off, sondern verweist auch auf intendierte Unverständlichkeit, die Inhalte unbestimmt bleiben lässt. Sergej M. Eisenstein: Schriften Sergej M. Eisenstein beschäftigte sich mit dem Medium Film nicht nur als Theoretiker, sondern auch als Praktiker, was für ihn allerdings keinen Gegensatz darstellt, sondern sich vielmehr gegenseitig bedingt. Auch er geht von einer grundlegenden Mehrdeutigkeit der filmischen Einstellung aus, wobei er darunter weniger eine paradigmatische, auf das Filmbild selbst bezogene, als vielmehr eine syntagmatische, auf die Position in einer Sequenz bezogene Uneindeutigkeit versteht. Die Bedeutung entsteht also immer erst durch das Zusammenwirken der Einstellungen. Entsprechend stellen Leerstellen im Sinne von Kontinuitätsbrüchen für ihn wesentliche Montageformen dar, mit denen Konflikte bzw. Attraktionen erzeugt und bestimmte Rezeptionswirkungen erzielt werden können. Hierbei geht es ihm insbesondere um eine Montage, die gezielt Irritation bewirkt, um „die Zuschauer durch bewusst geschaffene Konflikte zum Nachvollzug der gedanklichen Inhalte“ (Elsaesser/Hagener 2007: 39) anzuregen. Demzufolge ist Zuschaueraktivität ein wichtiger Faktor für Eisenstein, was anhand einiger Textstellen belegt werden soll. Im Unterschied zu den bisherigen Theoretikern beschäftigt Eisenstein sich nicht mehr mit dem Verhältnis zwischen realem Gegenstand und dargestelltem Gegenstand. Allerdings geht auch er von einer grundsätzlichen Mehrdeutigkeit des Filmbildes aus, denn jede Einstellung ist für ihn Teil einer syntagmatischen narrativen Einheit und erst aus diesem Kontext der Einheiten heraus, der sich im Verlauf der Rezeption in Form einer ‚Dominanten‘ offenbart, lässt sich die Mehrdeutigkeit der Einzelbilder verringern oder gar auflösen. Ziel ist es nach Eisenstein, diese Mehrdeutigkeit durch

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Es stellt sich allerdings einschränkend die Frage, ob der Einführung fremder Sprachen nicht noch andere Funktionen zukommen.

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die Montage zu reduzieren und den Rezipienten die „dominierenden Merkmale“ (Eisenstein 1984: 234), d.h. die inneren Beziehungen einer zusammenhängenden Reihe von Einstellungen möglichst eindeutig vorzuführen. „Eine solche Reihe könnte noch sehr lange fortgesetzt werden, bis endlich jenes Filmstück kommt, das jenen Index bildet, der die gesamte Reihe mit diesem oder jenem ‚Vorzeichen‘ ‚tauft‘. Aus diesem Grunde empfiehlt es sich auch, den entsprechenden Indikator möglichst an den Anfang zu setzen (in ‚schulmäßiger‘ Bauweise).“ (Eisenstein 1984: 235)

Aus der geschickten Kombination der Einstellungen ergibt sich nach Eisenstein die gewünschte Bedeutung. Diese Art der Aneinanderreihung von Einstellungen mit einer erkennbaren ‚Dominante‘ als stärkstem Reiz stellt für ihn die orthodoxe Form der Montage dar. Seine Ausführungen zeigen, dass Zuschaueraktivität ein zentraler Punkt seines Konzeptes darstellt, er gleichzeitig jedoch den Konkretisationsspielraum der Rezipienten möglichst gering halten und kontrollieren will. „Wir können also sagen, daß eben das Montageprinzip im Gegensatz zum darstellerischen den Zuschauer selbst schöpferisch tätig sein läßt und dadurch die auffallende Intensität der schöpferischen Erregung im Zuschauer erzeugt, durch die sich das emotionale Kunstwerk bei der Darstellung der Ereignisse von der nur informatorischen Logik der einfachen Wiedererzählung unterscheidet.“ (Eisenstein o.J.: 254)

Die Wirkung wird erzielt durch ‚Attraktionen‘, die an die Stelle der Handlung treten und bei den Zuschauern ganz gezielte, d.h. kalkulierbare und wiederholbare Reaktionen erzeugen sollen. Diese Nutzung und zugleich starke Limitierung der Leerstellen erinnert an Isers Ausführungen zum Thesenroman, der eine ähnlich didaktische Funktion erfüllen soll. In seinem ersten Film Streik, in dem es um die gewaltsame Niederschlagung eines Arbeitskampfes geht, setzt Eisenstein diese theoretischen Überlegungen in Form einer Kollisionsmontage filmisch um. „Die schrecklichste Darstellung von Blut ist das Blut selbst. Die schrecklichste Darstellung des Todes – der Tod. […] Ich führte nun mit Hilfe eines Montageumschnitts in das gespielte Blutbad Filmstücke mit echtem Blut und Tod ein. Den Schlachthof. […] Es kam ein wirklich unheimlicher Eindruck heraus. Viele konnten nur unter

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Krämpfen auf die Leinwand schauen. Bei der Premiere (1924) war der Effekt des Filmschlusses ausgesprochen stark. Dann brachten wir den ‚Streik‘ in den Simonovskij-Bezirk, wo wir ihn teilweise auch aufgenommen hatten. Alles verlief wunderbar. Der Film kam ausgezeichnet an, mit einer Ausnahme – der des Finales. Gerade das zum Entsetzen erstarrte Blut des Finales kam nicht an. Ich war über diesen Reinfall verblüfft, bis ich mir klarmachte, daß ein ‚Schlachthof‘ keinesfalls nur als poetische Verallgemeinerung, als Metapher rezipiert werden musste. Der Schlachthof kann auch als ein Ort rezipiert werden, wo Lebensmittel, Fleisch zubereitet werden.“ (Eisenstein 1974: 275)

An diesem Beispiel wird deutlich, wie aus Eisensteins Montagetechnik, die aus dem Zusammenbringen von Divergentem besteht, Leerstellen erzeugt werden. „[D]as offenkundige Nicht-Verstehen des STREIK-Finales in seiner metaphorischen Qualität verweist auf eine mangelnde Bestimmtheit und Bestimmbarkeit der ‚molekularen Wirkungseinheit‘ Reizregister/ Attraktion“ (Schnell 2000: 74) durch die Rezipienten. Die Montage von Schlachthausbildern zwischen die Bilder des niedergeschlagenen Streiks erzielte bei unterschiedlichen Rezipienten(gruppen) eine divergierende Wirkung. Der Zusammenhang der Einstellungen war für die Zuschauer nicht so eindeutig wie von Eisenstein erhofft und das Publikum besetzte diese Leerstelle auf unterschiedliche Art. Während die Stadtbevölkerung den Zusammenhang wie intendiert im Sinne von: „Man ging mit den Menschen wie mit Vieh um“ (Eisenstein 1974: 275) konkretisierte, hatte diese Montage auf die eher ländliche Bevölkerung, zu deren Alltag das Schlachten von Tieren gehörte, eine ganz andere Wirkung und erzielte nicht den gewünschten Schockeffekt. „Das Betrachten […] weckte weniger Assoziationen an Tod und Blut, als vielmehr an Rindfleisch und Koteletts.“ (Eisenstein 1974: 275) Auch wenn Eisenstein mit diesem Ergebnis nicht zufrieden war und als Reaktion darauf eine Überarbeitung des Konzepts vornahm, belegt das Beispiel doch, dass aus der Kollision von unzusammenhängenden Einstellungen Leerstellen entstehen. Diese bewirken eine Kontextualisierungsnotwendigkeit; die Zuschauer müssen die Zusammenhänge (hier zwischen Streik und Schlachthaus) individuell vollziehen, wobei sie – das ergibt sich implizit aus Eisensteins Ausführungen – auf außerästhetische Erfahrungen zurückgreifen.

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Jean-Pierre Oudart: Cinema and Suture Der Begriff der Suture, der eigentlich das Vernähen einer Wunde bezeichnet, wurde zunächst von Jacques Lacan in die Psychoanalyse eingeführt, später von seinem Schüler und Schwiegersohn Jacques-Alain Miller in Bezug auf Diskurse wieder aufgegriffen und schließlich von Jean-Pierre Oudart für die Filmtheorie weiterentwickelt. Dem Konzept der Suture liegt ein defizitäres Verständnis von Leerstellen zugrunde, da diese die Illusion von Geschlossenheit und Vollständigkeit stören. Während für Iser die Leerstellen, bzw. die daraus resultierende Beteiligung der Leser am Konkretisationsprozess konstitutiv für das Vergnügen am Text sind, stellen Leerstellen in diesem psychoanalytischen Ansatz geradezu eine Bedrohung des Zuschauervergnügens dar und das Auffüllen bzw. ‚Einnähen‘ als ein kurativer Akt sowohl für den Film als auch für das gespaltene Zuschauersubjekt erfolgt unreflektiert und unbemerkt. Auch wenn die Integration der Zuschauer selbst in die Leerstellen des Films einen durchaus ‚interaktiven‘ Ansatz darstellt, so kann von Konkretisationen im Sinne imaginativer Eigenaktivität der Zuschauer zur Mitproduktion des Werkes aus dem gegebenen Text in diesem Konzept nicht die Rede sein. Das Entstehen der Leerstellen durch die Aneinanderreihung diskreter Einstellungen und durch Verweise aus dem Bildraum heraus ist allerdings an die hier zuvor ausgeführten Vorstellungen von Leerstellen anschließbar. Lacan spricht von Suture in Bezug auf das Sehen, indem er postuliert, dass der „Augenblick des Sehens […] als Nahtstelle“ (Lacan 1980: 125) auftritt, als „Verbindung zwischen dem Imaginären und dem Symbolischen“ (Lacan 1980: 125). Er greift den Begriff der Suture auf, um seine Subjekttheorie zu verdeutlichen, nach der die Identität aufgrund ihrer Abhängigkeit von Signifikanten nur durch vorherige Spaltung erreicht werden kann. Die Suture, die Nahtstelle, stellt für ihn eine „Pseudo-Identifikation“ (Lacan 1980: 124) dar.7 Der Begriff selbst dient ihm dabei als Metapher, wobei Miller darauf hinweist, dass die Suture als Konzept, selbst wenn sie von Lacan nicht explizit so bezeichnet wird, doch konstant präsent sei. (Vgl. Miller 1977: 26)

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Für eine ausführlichere Darstellung siehe z.B. Winkler (1992) S. 54ff; Elsaesser/ Hagener (2007) S. 110ff, Kolokitha (2005) S. 69ff und Heath (1977).

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Miller greift dieses unterschwellige Konzept auf und expliziert es. Unter Suture versteht er „the relation of the subject to the chain of its discourse“ (Miller 1977: 25). Der Diskurs enthält Platzhalter8 und öffnet sich so für die Rezipienten, die deren Position einnehmen können. „The insertion of the subject into the chain is representation, necessarily correlative to an exclusion which is a vanishing.“ (Miller 1977: 33) In diesem – sehr abstrakten – Leerstellenkonzept füllen die Zuschauer die Leerstellen nicht durch ihre Konkretisationen aus, sondern dadurch, dass sie selbst den leeren Platz im Diskurs einnehmen und dadurch Kohärenz herstellen. „Als Strukturprinzip ist die Suture eine von der Repräsentation freigelassene Leerstelle, die das Subjekt […] imaginär bindet; sie markiert ein fehlendes Element oder einen Mangel, der aber als Ersatz von etwas gekennzeichnet ist.“ (Kolokitha 2005: 70f) Deutlich konkreter wird der Suture-Ansatz bei Oudart, der den Begriff direkt auf Filme anwendet. Sein Ansatz basiert stark auf der Idee einer good continuity – idealtypisch im klassischen Erzählkino Hollywoods –, bei der die Montage der Illusion von räumlicher und zeitlicher Kohärenz untergeordnet wird. Den Zuschauern wird der Eindruck vermittelt, sie sähen eine „vollständige Welt, in der alles, was gezeigt wird, einen Zweck hat und keine Fragen offen bleiben.“ (Elsaesser/Hagener 2007: 117) In dieser Geschlossenheit liegt für Oudart die Freude (jouissance)9 am Dargestellten, die jedoch nicht von Dauer ist. „As described by Oudart, the process of reading a film goes in stages, the first of which is a moment of sheer jubilation in the image […]; a moment, as it were, untroubled by screen and frame, prior to the articulation of cinema. Awareness of the frame then breaks this initial relation, the image now seen in its limits; the space which, just before, was the pure extent of the spectator’s pleasure becomes a problem of representation, of being-there-for – there for an absent field, outside of

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Bei Miller im Original „tenant-lieu“, in englischen Übersetzungen divergierend manchmal als „a taking-the-place-of“, „holding-the-place-of“ oder „stand-in“ bezeichnet. (Vgl. Miller 1977: 26, Fußnote)

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Diese jouissance, die für Oudart durchaus erotisch konnotiert ist, lässt sich auf Lacan zurückbeziehen, der auf die einheitsstiftende Funktion des Bildes hinweist, so etwa wenn die Identität des Subjekts durch sein reflektiertes Spiegelbild hergestellt wird. (Vgl. Oudart 1990: 38, Winkler 1992: 55)

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the image (‚the fourth wall‘), for the phantom character that the spectator’s imagination poses in response to the problem: ‚the absent one‘.“(Heath 1977: 57)

Die Freude der Zuschauer bei der Rezeption wird also nach Oudart – und konträr zu Iser – durch das Eindringen der Leerstellen in die Geschlossenheit der Einstellung10, durch das Bewusstwerden der Aspekthaftigkeit der Darstellung bedroht. Als Gegenmaßnahme besetzt der Rezipient die Leerstellen und schließt sie, vernäht sie, so dass die Illusion einer homogenen Einheit gegeben ist. Die Leerstellen liegen demnach in der Eigenschaft des Bildes, ‚nur‘ ein Frame (cadre) zu sein. Diese äußert sich zum einen in der Beziehung der Bilder zueinander, wie sie, darauf wurde bereits in den vorherigen Theorien verwiesen, durch die Montage entsteht: „[I]f two consecutive images do not tend towards articulation together, but instead function initially as autonomous cells […], then their articulation can only be produced by an extracinematic element […] or by the presence of common signifying elements in each image.“ (Oudart 1990: 36) Zum anderen im Verweis auf den Raum außerhalb der Grenzen des Filmbildes: „Every filmic field is echoed by an absent field, the place of a character who is put there by the viewer’s imaginary, and which we shall call the Absent One.“ (Oudart 1990: 36) Damit verweist Oudart neben einem Konzept von Leerstellen auch auf die aktive Rolle der Zuschauer, in denen er den „key to the process of any cinematic reading“ (Oudart 1990: 38) sieht. Auch ein Mitgegebensein an Informationen, eine implizite Anwesenheit von eigentlich Abwesendem wird reflektiert, indem er auf das ‚Echo‘ verweist, das das anwesende Feld im abwesenden erzeugt. Das Suturieren, so Oudart, verläuft weitgehend unbewusst, denn der Zuschauer „does not know that its own function is at work and is being represented in the reading“ (Oudart 1990: 39). Den Zuschauern bleibt keine andere Wahl, als sich in die vorstrukturierte diskursive Ordnung einzufügen und die Rezeption entsprechend dieser Vorstrukturierung durch das Gegebene zu realisieren. Es handelt sich also um ein Konzept von Rezipientenaktivität, die deutlich passiv zu verstehen ist.

10 Im Original spricht Oudart hier von „l’image“, also dem Bild, gemeint ist damit jedoch nicht das Einzelbild, sondern die Einstellung.

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Kristin Thompson: A Neoformalist Approach to Film Analysis Ein ausdrücklich aktives Verständnis von Filmrezeption vertritt Kristin Thompson in ihrer neoformalistischen Filmanalyse. Entsprechend ist ihr Ansatz im Hinblick auf ihr Konzept von Rezipientenaktivität und der Art und Weise, wie Konkretisationsprozesse bedingt werden, relevant. Thompsons Ausführungen zeigen eine deutliche Nähe zu Isers Auffassung dieses Aspekts. Wie dieser sieht sie den Reiz der Rezeption in dem Wechselspiel aus „Zeigen und Verschweigen“ (Iser 1976: 79), aus dem letztlich die Beteiligung der Zuschauer hervorgeht, so dass aus dem materiell gegebenen Text das konkretisierte Werk entsteht. Während Ingarden und Iser nur darauf eingehen, dass die Zuschauer herausgefordert werden und aktiv reagieren, unterscheidet Thompson genauer danach wie diese Beteiligung aussieht. Die Hypothesenbildung wird dabei von (mit)gegebenen Informationen, den cues, bedingt und gesteuert. Allerdings enthält Thompsons Konzept auch entscheidende Unterschiede, die hier von Relevanz sind. Sie geht nicht nur auf die leerstellenartigen Strukturen selbst ein, die sie in Form von irritierenden Kontinuitätsbrüchen beschreibt, sondern stärker auf das Wechselspiel zwischen Informationsvergabe und Informationsentzug und betont die Relevanz dieser Interdependenz, die stärker symbiotisch als konkurrierend aufzufassen ist. Gleichzeitig betont sie deutlicher als Iser die bedeutungskonstitutive Funktion dieser Phänomene, die eine werkübergreifende Dominante bilden. Entsprechend ist der Hypothesenbildungsprozess stark dynamisch konzipiert und Form und Inhalt sind aneinander gekoppelt. Bei Thompson wird deutlich, dass Leerstellen nicht nur eine Erscheinung an der Textoberfläche sind, sondern sich in der Struktur des Werkes niederschlagen und hier Bedeutung entfalten. Im Anschluss an Nelson Goodman11 konstatiert Thompson in Bezug auf die Rezipientenaktivität: „The viewer actively seeks cues in the work and responds to them with viewing skills acquired through experience of other artworks and of everyday life. The spectator is involved on the levels of perception, emotion, and cognition, all of which are inextricably bound up together.“ (Thompson 1988: 10)

11 Vgl. Goodman 1973: 227-286, insbesondere 242ff.

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Die Wahrnehmung des Films wird also zum einen durch die materiell gegebenen cues, zum anderen durch das, was die Zuschauer selbst individuell mitbringen, ihre ansozialisierten viewing skills, gelenkt. Aus diesem Zusammenspiel resultieren sowohl emotionale als auch kognitive Prozesse und die Bedeutung wird hergestellt. Dabei meint Bedeutung für Thompson „not the end result of an artwork, but one of its formal components. […] Meaning here is taken to be the work’s system of cues for denotations and connotations.“ (Thompson 1988: 12) Die konnotativen Bedeutungsebenen sind „the most difficult type for audiences to recover outside the original context“ (Thompson 1988: 22), während denotative offensichtlicher sind. Interessant ist daran insbesondere, dass für Thompson die Bedeutung des Werkes an seine Struktur gekoppelt ist, was eine scharfe Trennung von Form und Inhalt ausschließt. Mit den russischen Formalisten unterscheidet Thompson zwischen Sujet und Fabel. Das Sujet (syuzhet), so Thompson, „is the structured set of all causal events as we see and hear them presented in the film itself“ (Thompson 1988: 38f), während die Fabel (fabula) die „mental construction of chronologically, causally linked material“ (Thompson 1988: 39) bezeichnet. Die Zuschauer bringen also die gelegentlich ungeordneten oder unzusammenhängenden Elemente des Sujet in einen sinnhaften Zusammenhang und erzeugen dadurch die Fabel. Die Fähigkeit dazu wird in der Mediensozialisation erlernt, so dass das Umordnen in der Regel unproblematisch erfolgt. Nach Thompson können jedoch „the differences between fabula und syuzhet […] be manipulated in an infinite number of ways“ (Thompson 1988: 39) wodurch die Rezeption erschwert wird. Hierin ist ein erster Hinweis auf Leerstellen erkennbar: Durch die bewusste Erschwerung der ‚einfachen‘ Rezeption werden die Zuschauer zu verstärkter imaginativer Eigenaktivität aufgefordert. Die durch die Zuschauer geleistete Bedeutungszuschreibung ist für Thompson vom historischen Kontext des Werkes sowie seiner Zuschauer abhängig, d.h. „the neoformalist critic will not treat its [the film’s] devices as fixed and self-contained structures that exist independent of our perception of them.“ (Thompson 1988: 25f) Damit zieht sie implizit eine – Iser vergleichbare – Unterscheidung zwischen dem Film als materiell Gegebenem einerseits und dem individuell rezipierten Werk andererseits. Die Zuschauer tragen aktiv und essentiell zur Herstellung des Werkes bei und vollziehen dabei „a series of activities, some physiological,

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some preconscious, some conscious, and some presumably unconscious.“ (Thompson 1988: 26) Sowohl die physiologischen als auch die unbewussten spielen jedoch nach Thompson für die Filmwahrnehmung eine untergeordnete Rolle, da es sich bei ersteren um automatische und unausweichliche Reaktionen des Körpers handelt und letztere ein „unneccessary construct“ (Thompson 1988: 27f) der psychoanalytisch ausgerichteten Filmanalyse darstellen, das die Zuschauer zu passiven, enthistorisierten Rezipienten macht. (Vgl. Thompson 1988: 28f) Folglich geht Thompson davon aus, „that film viewing is composed mostly of nonconscious, preconscious, and conscious activities.“ (Thompson 1988: 29) Die vorbewussten Aktivitäten umfassen das „nearly automatic processing of information in ways that are so familiar that we do not need to think about them.“ (Thompson 1988: 27) Darunter fällt zum Beispiel das Wiedererkennen gezeigter Gegenstände oder Personen in wechselnden Einstellungen. „Such mental processes differ from physiological activities in that they are available to our conscious mind“ (Thompson 1988: 27), d.h. wir können darüber reflektieren, was bzw. wie wir wahrnehmen. Hierunter können auch solche Konkretisationen fallen, mit denen Informationsdefizite unreflektiert aufgefüllt werden, wie es von Ingarden, Eco und Liptay thematisiert wird. Als Leerstellen können diese Lücken nur dann gelten, wenn sich die Defizite im weiteren Verlauf als bedeutungsrelevant oder die vorbewussten Konkretisationen rückwirkend als problematisch erweisen. Bewusste Aktivitäten sind solche, die die Zuschauer während der Rezeption bemerken, etwa wenn sie versuchen, sich bestimmte Auffälligkeiten zu erklären, oder „struggle to understand a story, to interpret certain meanings“ (Thompson 1988: 27). Wie aus vorbewussten Aktivitäten durchaus bewusste werden können, da die Zuschauer in ihrer Rezeption herausgefordert werden, belegen Thompsons Hinweise auf abweichende oder ungewöhnliche Darstellungsformen. „For example, we recognize that shapes on the flat cinema screen represents threedimensional space because we can rapidly process depth cues; unless the film plays with our perception by introducing difficult or contradictory cues, we will not consciously have to think about how to grasp the spatial representation. Similarly, we tend automatically to register the passage of represented time, unless the film uses a complex temporal layout that skips over, repeats, or otherwise juggles events, in which case we begin a conscious sorting-out process.“ (Thompson 1988: 29f)

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Die Ausführungen belegen einen Wechsel in der Aufmerksamkeit und in der Art der Wahrnehmung der Zuschauer durch das Auftreten von ‚Irritationen‘. ‚Spielt‘ der Film mit der Wahrnehmung oder den Konventionen bzw. treten starke Kontinuitätsbrüche auf, wird die vorbewusste Rezipientenaktivität zu einer bewussten Verarbeitung. Implizit führt Thompson hier aus, dass Leerstellen im Film eine bewusste – im Sinne von aktiver Interpretation der Bedeutung – kognitive Tätigkeit der Zuschauer generieren. Anhand der cues und erlernter Denkmuster findet bei den Zuschauern während der Rezeption eine kontinuierliche Hypothesenbildung statt „about a character’s actions, about the space offscreen, about the source of a sound, about every local and large-scale device that we notice.“ (Thompson 1988: 30) Im Verlauf des Films werden diese Hypothesen „confirmed or disconfirmed; if the latter, we form a new hypothesis, and so on.“ (Thompson 1988: 30) Solche Werke, die durchgängig bestehende Wahrnehmungsmuster bestätigen und den Darstellungskonventionen folgen, führen nach Thompson dazu, dass die Zuschauer die Hypothesenbildung kaum bemerken, während solche Filme, die die Wahrnehmungserfahrung stärker herausfordern, die gezielt Offenheit herstellen und Irritationen provozieren, ein Bewusstwerden der Hypothesenbildung hervorrufen. (Vgl. Thompson 1988: 30f) Zwar unterscheidet sie in diesem Kontext ganz explizit nicht normativ zwischen high und low, aber sie weist darauf hin, dass es häufig jene Filme sind, die durch die Komplexität des Erzählens die Zuschauer herausfordern, die besonders geschätzt werden. Für die meisten Filme gilt jedoch, so Thompson, dass sie sowohl Strategien, die das Verstehen erleichtern, als auch solche, die es erschweren, in einem Spannungsverhältnis aufweisen. (Vgl. Thompson 1988: 36) Hier lässt sich eine Ähnlichkeit zu Isers Ansicht feststellen, der die Toleranzgrenzen darin sieht, dass zu viele Leerstellen in einem Werk zum ‚Strapaziertwerden‘ der Leser führt, zu wenige wiederum zu deren ‚Langeweile‘. (Vgl. Iser 1976: 176) Um diese beiden Strategien zu beschreiben, greift Thompson auf eine Unterscheidung Roland Barthes zurück, der von proairetischen und hermeneutischen Codes spricht. Für Thompson versorgen die Elemente der proairetischen Linie die Zuschauer mit Informationen, anhand derer das kausale Verständnis entwickelt wird und Verknüpfungen hergestellt werden können, während die hermeneutische Linie „consists of the set of enigmas the narrative poses by withholding information“ (Thompson 1988: 39, vgl. Barthes 1987: 23ff), also gerade die Elemente umfasst, die dem Zurückhal-

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ten von Informationen dienen. Informationsvergabe und Informationsverzögerung stehen so in einem Spannungsverhältnis zueinander, wobei nach Thompson genau daraus die Anregung zur Rezipientenaktivität besteht. „The interaction of these two forces is important for maintaining our interest in the narrative. By working to grasp the proairetic line, we feel satisfaction in understandding actions, but the ongoing questions posed by the hermeneutic material pique our interest and keep us oriented towards hypothesis formation.“ (Thompson 1988: 39)

Diese Balance aus „Zeigen und Verschweigen“ (Iser 1976: 79) erzeugt die spezifische Dynamik, die die Zuschauer letztlich zu den Konkretisationen anregt. Dazu ist nicht nur die Herausforderung durch die Leerstellen erforderlich, sondern ebenso auch die regelmäßige Bestätigung der Zuschauer durch bekannte, leicht einzuordnende Erzählmomente. Aus dieser Kombination erfolgt die aktive Herstellung der Fabel, ohne die die einzelnen Sujet-Ereignisse lediglich additiv aneinandergereiht erscheinen würden. Ergebnis Zunächst fällt auf, dass alle Theoretiker sich mit dem Begriff ‚Film‘ ausschließlich auf den fiktionalen Film beziehen und andere, nonfiktionale Teilbereiche des Mediums ausblenden. Dies stellt eine Analogie zur Herangehensweise bei Ingarden – der diese Einschränkung reflektiert – und Iser dar, deren Fokus ebenfalls auf das fiktionale, nicht-pragmatische Erzählen in der Literatur gerichtet ist. In den filmtheoretischen Texten werden durchaus Phänomene aufgegriffen, die sich den beiden Leerstellenkategorien Unbestimmtheit und Kontinuitätsbruch, wie sie bei Ingarden und Iser herausgearbeitet wurden, zurechnen lassen. In diesem Kontext wird auch auf Rezipientenaktivität verwiesen sowie der funktionale dramaturgische Einsatz der Leerstellen thematisiert, der überwiegend an eine Abweichung von konventionellen Darstellungsschemata bzw. der good continuity gekoppelt wird. Unbestimmtheiten können im filmischen Erzählen durch die Wahl der Perspektive, des Bildausschnitts, die Beleuchtung oder Unschärfe erzeugt werden (Arnheim), indem von der Darstellung des ‚Charakteristischen‘ abgewichen wird und relevante Aspekte verborgen bleiben. Damit in Zusammenhang stehen auch die Divergenz von Bild und Ton sowie Verweise aus

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dem On ins Off, die zur Erzeugung von visueller Unbestimmtheit rein akustisch gegebener Information genutzt werden können (Kracauer, Balázs, Oudart). Ein gänzlicher neuer Aspekt tritt bei Balázs auf, der die Stille im Tonfilm oder das Nicht-Verstehen des Akustischen thematisiert. Insofern es sich dabei um eine ostentative Nicht-Information handelt, die für die Zuschauer erkennbar ist und diese entsprechend zu Vorstellungstätigkeit anregt, kann diese Stille durchaus Leerstellencharakter haben. Entsprechend muss eine solche Kategorie der Darstellungsleere in den Kategorienkanon aufgenommen werden. Kontinuitätsbrüche, die für die Rezipienten die Notwendigkeit erzeugen, Zusammenhänge herzustellen – so wie Iser sie als Leerstellen beschreibt –, stellen auch in filmischen Narrationen ein wesentliches Strukturelement dar. Die Bedeutung des Films entsteht erst in der Sukzession der Einstellungen und wird durch die Zuschauer hergestellt (Eisenstein, Oudart). Die Kontinuitätsbrüche stören die good continuity und damit den Prozess der ‚einfachen‘ Rezeption. Thompson weist diesbezüglich auf die Interdependenz von Informationsvergabe und Informationsentzug hin, die das Vergnügen der Rezeption ausmachen. Nicht nur die Herausforderung durch die Leerstellen, sondern auch die regelmäßige Bestätigung und das Zeigen von Bekanntem oder Erwartbarem sind essentiell für das Aufrechterhalten des Zuschauerinteresses. Balázs unterscheidet zwischen zwei Formen, die Kontinuitätsbrüche annehmen können und so zu Leerstellen werden: Sie können einerseits als Auslassungen auftreten, die ein Schließen der zeitlichen oder räumlichen Sprünge erfordern, oder sich andererseits als Dekontextualisierungen des Gezeigten manifestieren, durch das die Zuschauer stark irritiert werden und das das imaginative Herstellen von Zusammenhängen bedingt. Entsprechend dieser Befunde erfolgt also eine Ausweitung der beiden ursprünglichen Kategorien. Neben die Unbestimmtheiten tritt als weitere Dimension die Darstellungsleere. Gleichzeitig werden Kontinuitätsbrüche genauer differenziert in Auslassungen und Dekontextualisierungen, so dass man nun von vier Leerstellengattungen sprechen kann. Es bleibt jedoch zu überprüfen, ob im Bereich der Fernsehtheorien ähnliche inhaltliche Schwerpunkte nachzuweisen sind, oder ob die Perspektive sich auf zusätzliche oder etwa ganz andere Aspekte ausweiten lässt.

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F ERNSEHTHEORETISCHE L EERSTELLENREFLEXIONEN Wie schon für die Filmtheorie sollen auch für den Überblick über den fernsehtheoretischen Leerstellendiskurs Grundlagentexte herangezogen werden, die sich aus unterschiedlichen Perspektiven auf das Fernsehen richten und es hinsichtlich seiner ästhetischen Qualitäten theoretisch beschreiben. Ein entsprechender Diskurs setzt allerdings erst recht spät ein, da das Fernsehen in seinen ersten Jahren nicht als ein Medium mit ästhetischen Qualitäten wahrgenommen wurde, sondern unter dem Aspekt des Massenmediums, das hauptsächlich quantitativ und auf seine gesellschaftlichen Implikaturen hin betrachtet wurde. Verglichen mit dem künstlerischen Potential des Films sah man das Fernsehen, das zunächst ausschließlich aus Liveübertragungen bestand, beispielsweise um die ästhetischen Möglichkeiten der Montage beschnitten. Zeitgleich zur starken Ausbreitung des Fernsehens in den 1950er Jahren wurde außerdem im Rahmen der sich entwickelnden Auteur-Theorie abgrenzend deutlich, dass diese Art der individuell-ästhetischen Urheberschaft für das Fernsehen nicht gilt, da selten ein einzelner Regisseur für den visuellen Stil verantwortlich ist.12 Entsprechend galt das Fernsehen lange als ästhetisch minderwertiges Medium. Zudem war das zu analysierende Material flüchtig, d.h. vor der Einführung von Videorekordern nicht konservierbar und – im Vergleich zum Film – als Liveausstrahlung auch nicht wiederholt rezipierbar. Dies trug zu dem Mangel an frühen theoretischen Arbeiten ebenso bei wie die Vielgestaltigkeit des Fernsehens, die nicht nur den Gegenstand der Fernsehforschung – Einzelwerk oder Programm – uneindeutig werden lässt, sondern auch allgemeingültige, übergreifende Aussagen problematisch macht, was auch heute noch dazu führt, dass sich die meisten Publikationen zur Ästhetik des televisuellen Erzählens an Einzelaspekten oder spezifischen Beispielen abarbeiten. (Vgl. Butler 2009; Adelmann et al. 2002) Auch angesichts dieser Diversität der theoretischen Ansätze sei an dieser Stelle noch einmal darauf verwiesen, dass die einzelnen Arbeiten nicht umfassend inhaltlich wiedergegeben, sondern nur partiell berücksichtigt und hinsichtlich der leerstellenrelevanten Aspekte thematisiert werden, um

12 Für eine ausführlichere Darstellung der Gründe, weshalb das ästhetische Potential des Mediums Fernsehen zunächst verkannt wurde, siehe das einleitende Kapitel bei Butler (2009).

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so zu einem Überblick über televisuelle Leerstellenphänomene zu gelangen. Die daraus resultierenden Ergebnisse sollen mit den Befunden der filmtheoretischen Diskurse abgeglichen werden und schließlich zu einer Weiterentwicklung der Definition und einer Anpassung des Konzeptes an das audiovisuelle Erzählen führen. Eine außergewöhnlich frühe theoretische Annäherung an das Fernsehen bilden die Ausführungen von Gerhard Eckert (Die Kunst des Fernsehens, 1953), die eine der ersten ästhetischen Auseinandersetzungen mit dem Medium, seinen Möglichkeiten und auch Rezeptionsbedingungen darstellen und „zu den differenziertesten Untersuchungen [gehören], die in den ersten deutschen Fernsehjahren […] vorgelegt wurden“ (Rusch 2007: 297). Wie für Eckert gilt auch für die anderen hier berücksichtigten Theoretiker, dass sie das Fernsehen in Vergleich und Abgrenzung mit anderen Medien diskutieren, um so seine Spezifik zu fassen. Für Raymond Williams (Television: Technology and Cultural Form, 1975) und John Ellis (Visible Fiction, 1982) stehen die kulturellen Aspekte des Mediums im Zentrum des Interesses. Die Debatte um das fernsehspezifische Merkmal des Flows, die von Williams „paradigmenbildend angestoßen“ (Adelmann et al. 2002: 28) und von Ellis aufgegriffen und ergänzt wurde, ist heute ein zentraler Aspekt der Fernsehtheorie. John Fiske, ein Vertreter der durch die Cultural Studies geprägten Medienwissenschaft, geht in Television Culture (1987) stärker auf narrative Aspekte des televisuellen Erzählens ein und bezieht sich dabei auch explizit und ausführlich auf die Aktivität des Publikums beim Rezeptionsprozess. Auch Jeremy Butler fokussiert in Television. Critical Methods and Applications (2002)13 stärker die televisuelle Narratologie, allerdings im Hinblick auf einen eher analytischen Zugang zum Medium, so dass leerstellenrelevante Aspekte deutlich latenter thematisiert werden als bei Fiske.

13 Die erste Auflage erschien zwar bereits 1994 bei Wadsworth (Belmont), zugrundegelegt wird hier jedoch die zweite, überarbeitete und stark erweiterte Auflage von 2002.

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Gerhard Eckert: Die Kunst des Fernsehens In den Ausführungen Gerhard Eckerts14 findet eine Leerstellenreflexion nur implizit statt, indem er Leerstellen im Sinne einer Abweichung von der Norm bzw. als nicht erstrebenswert beschreibt und entsprechend eine ästhetische Funktion nicht in Betracht zieht. Zwar geht auch er auf das Anregen der Phantasie und auf Konkretisationsprozesse der Zuschauer ein, sieht diese jedoch beim Fernsehen sehr gering ausgeprägt und bringt sie nicht in einen dezidierten Zusammenhang mit den Leerstellenphänomenen. In der Ablehnung des Phänomens als Abweichung ist allerdings bereits dessen potentielle Existenz inbegriffen. Eckerts Darlegungen bieten entsprechend Hinweise auf ein mögliches Auftreten von Leerstellen. Diese ähneln den Beschreibungen aus der Filmtheorie und beziehen sich auf eine partielle Präsenz des Offs im On. Nach Eckert, der das Zeigen dessen, der spricht, als Standard setzt und von einer Bildmischung ausgeht, die immer die bestmögliche Orientierung bietet, sind so entstehende Unbestimmtheiten für das Fernsehen jedoch von geringer Relevanz. Sein Verweis auf die Anregung der Phantasie der Zuschauer belegt jedoch den Leerstellencharakter. Eckert beschreibt in seinem 1953 erschienenen Buch „die Stellung des Fernsehens im Vergleich zu seinen technischen Geschwistern“ (Eckert 1953: 5). Er sieht das Fernsehen in einer Position zwischen dem Hörfunk und dem Film; mit beiden teilt es Gemeinsamkeiten, zu beiden bestehen aber auch Unterschiede. Er ist dem neuen Medium gegenüber grundsätzlich positiv eingestellt und hebt den potentiellen Kunstcharakter des Fernsehens hervor, weist aber auch auf negative Effekte hin: „Daß das Fernsehen der Phantasie Grenzen steckt, ist kaum zu leugnen. Der Held, den das Hörspiel schilderte, sah in eines jeden Hörers Vorstellung anders aus – jeder malte sich ihn ebenso wie den Schurken nach seinem Willen. Jetzt erhalten wir –

14 Auch wenn hier nur Bezug auf die leerstellenrelevanten Aspekte seiner Schrift von 1953 genommen wird, sei dennoch auf Eckerts unrühmliche Vergangenheit während des Nationalsozialismus verwiesen. Er habilitierte sich 1941 mit einer Arbeit über den Rundfunk als Führungsmittel, was ihn nicht nur für eine „Rundfunkkarriere nach Kriegsende disqualifizierte“ (Rusch 2007: 293), sondern auch eine kritisch distanzierte Rezeptionshaltung erfordert.

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wie beim Film – den für alle Beschauer einheitlichen Din-A 4-Helden und den Schema F-Schurken. Die Sängerin, deren Stimme uns entzückte, der Conférencier, über dessen Späße wir lachten, der Reporter oder der Nachrichtensprecher – ihnen allen gaben wir doch erst ein Gesicht, willentlich oder unabsichtlich. Aus der Stimme erwuchs uns ein Bild.“ (Eckert 1953: 22f)

Die dem Radio fehlende „bildliche Präzision“ (Eckert 1953: 23) wird durch das Fernsehen geboten, woraus im Grunde folgt, dass das Fernsehen die visuelle Unbestimmtheit, die für das Radio konstitutiv war, auflöst. Aus den Ausführungen Eckerts wird deutlich, dass er diese Thematik tatsächlich im Sinne einer Leerstelle reflektiert, indem er auf die Konkretisationsprozesse der Rezipienten hinweist. Die individuelle Vorstellungsbildung ist für Eckert ein zentraler Faktor bei der Rezeption von Medien und der Aspekt, dass das Fernsehen diesbezüglich der „Phantasie Grenzen steckt“ (Eckert 1953: 22) wird von ihm deutlich negativ bewertet. Er weist jedoch im Anschluss darauf hin, dass es auch bei der Rezeption von Fernsehsendungen zu Konkretisationsprozessen kommt, und warnt vor einer vorschnellen Verurteilung des Fernsehens als Medium der „geistigen Verarmung“ (Eckert 1953: 23): „Dennoch sollte man mit dem Vorwurf, das Fernsehen lähme die Phantasie […] sehr vorsichtig sein. Denn gewiß ist, daß die Eindringlichkeit des Bilderlebnisses zwar die im Augenblick mitschaffende Phantasie so gut wie überflüssig macht, der nachschaffenden Phantasie nach dem Schluß der Sendung aber mehr und plastischere Ansatzpunkte gibt als der Rundfunk. Denn der Bildeindruck ist unzweifelhaft nachhaltiger als der akustische. Umso wichtiger ist freilich, daß der Mensch nicht mit Bildeindrücken überladen wird, damit das geistige Fortspinnen der erlebten Sendung noch in hinreichendem Maße möglich ist.“ (Eckert 1953: 23)

Zwar sieht Eckert die Konkretisationsarbeit der Rezipienten insgesamt weniger als im Radio und auch nicht während der Fernsehrezeption selbst gefordert, sondern erst im Anschluss. Der Appell, dass die Rezipienten „nicht mit Bildeindrücken überladen“ (Eckert 1953: 23) werden sollen, um noch einen ausreichenden Konkretisationsspielraum zu gewähren, zeigt seine gedankliche Nähe zum Themenkomplex der Leerstelle. Indem er auf das „Fortspinnen“ (Eckert 1953: 23) und die „nachschaffende Phantasie“ (Eckert 1953: 23) der Zuschauer verweist, markiert

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er einen neuen Aspekt, der bisher noch nicht reflektiert wurde: Die Reichweite von Leerstellen über die Grenzen der eigentlichen Rezeption hinaus. Gemäß Eckerts Ausführungen können sich Leerstellen nicht nur im Moment der Wahrnehmung selbst auf die Mitarbeit der Zuschauer auswirken, sondern diese auch darüber hinaus noch kognitiv beschäftigen. Diese Nachwirkung sieht er insbesondere an die Visualität gekoppelt und entsprechend als ein Spezifikum des Fernsehens gegenüber dem Hörfunk. Unabhängig davon, ob diesem Primat des (Audio)Visuellen zuzustimmen ist, wird durch Eckerts Verweis auf ein Nachwirken der Leerstellen die Konkretisationsaktivität in ihrer zeitlichen Dimension vom Moment des Rezipierens gelöst – ein Aspekt, der für das hier vertretene dynamische Verständnis von Rezeption und das strukturelle Wirken von Leerstellen zentral ist. Raymond Williams: Programming: Distribution and Flow Bei Raymond Williams sind insbesondere seine Ausführungen zu fernsehspezifischen Kontinuitätsbrüchen von Relevanz in Bezug auf Leerstellenphänomene. In diesen Kontinuitätsbrüchen erkennt er allerdings nicht deren trennende, sondern die verbindende Funktion als zentrales Merkmal. Leerstellenrelevant werden diese Brüche, da Informationen partiell gegeben und partiell vorenthalten werden. Auch wenn Williams Rezipientenaktivität nicht explizit thematisiert, wird aus seinen Ausführungen deutlich, dass daraus bei den Zuschauern der Wunsch entsteht, zu wissen, wie es weitergeht. Durch diese Brüche in Form von Unterbrechungen werden also Informationen verzögert und dadurch Leerstellen erzeugt, die die Aufmerksamkeit der Zuschauer binden. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit einer erneuten Ausdifferenzierung der Leerstellen: Neben die Auslassungen und Dekontextualisierungen treten zudem solche Kontinuitätsbrüche, die die Vergabe von Information durch Unterbrechung der Narration verzögern. Wie sich dieses implizite Verständnis von Leerstellen bei Williams konkret niederschlägt, soll anhand einiger Textstellen belegt werden. Im vierten Kapitel seines Buches Television: Technology and Cultural Form (1974) beschreibt Williams die Spezifika der Programmstruktur. Dabei hebt er den stark verbindenden Charakter der Zwischensegmente hervor und prägt für den so entstehenden fließenden Übergang zwischen einzelnen narrativen Einheiten den inzwischen fest etablierten Begriff des Flow.

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„What is being offered is not, in older terms, a programme of discrete units with particular insertions, but a planned flow, in which the true series is not the published sequence of programme items but this sequence transformed by the inclusion of another kind of sequence, so that these sequences together compose the real flow, the real ‚broadcasting‘.“ (Williams 1990: 90)

Die Metapher des Fließens umfasst sowohl die Permanenz des Sendens als auch – als eine Konsequenz daraus – die Flüchtigkeit des Programms und suggeriert ein (eventuell sogar unmerkliches) Ineinanderübergehen, ein Verschränktsein und eine Ununterscheidbarkeit der einzelnen Teilelemente. Aus der Kombination von Hauptelementen und Zwischenelementen, die sich zudem in ihrer Ästhetik stark ähneln, entsteht etwas Neues, ein Konglomerat, sodass man, nach Williams, im Grunde nicht mehr von diskreten Teilelementen (discrete units) sprechen kann. Allerdings räumt er ein, dass es dennoch möglich ist, eine narrative Einheit, trotz der Transformationen, denen diese als Element in der Programmstruktur unterliegt, immer noch als eine narrativ zusammengehörige Sequenz zu erkennen und von den Einschüben zu unterscheiden. (Vgl. Williams 1990: 91f) Der Aspekt, um den es Williams im Wesentlichen geht, ist der Unterschied zwischen der „real internal organisation“ (Williams 1990: 93), die eben aus einem Flow von „differently related units“ (Williams 1990: 93) besteht, und der „declared organisation“ (Williams 1990: 93) einer Reihe von „timed sequential units“ (Williams 1990: 93). Daher ist für ihn ein Festhalten an der Bezeichnung ‚Unterbrechung‘ (interruption) für solche Elemente, die in die narrative Einheit eingeschoben werden – wie etwa Werbespots oder Trailer – durchaus legitim. „At whatever stage of development this process has reached – and it is still highly variable between different broadcasting systems – it can still be residually seen as ‚interruption‘ of a ‚programme‘.“ (Williams 1990: 92f) Ein Film, der durch mehrere Werbepausen unterbrochen wird, ist also immer noch eine narrative Einheit und die eingeschobenen Spots und Trailer werden von den Zuschauern auch als davon unterscheidbare Unterbrechungen wahrgenommen. Der Flow, innerhalb dessen diese narrative Einheit ‚Film‘ wahrgenommen wird, beeinflusst allerdings die Rezeption. Oder, wie Jeremy Butler resümiert: „Although we commonly talk of watching a single television program as if it were a discrete entity, more commonly we simply watch television. The set is on.“ (Butler 2002: 4)

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Der leerstellenrelevante Aspekt bei Williams liegt weniger im Flow selbst als vielmehr in seinen Unterbrechungen. Der Begriff impliziert, dass es sich grundsätzlich um etwas Fortlaufendes handelt, das jedoch für eine bestimmte Zeit ausgesetzt und zu einem späteren Zeitpunkt wieder weitergeführt wird. Dabei handelt es sich nicht um ein Fehlen von Information, sondern lediglich um deren Verzögerung. Dennoch kann eine solche Unterbrechung Leerstellencharakter haben, insofern Relevantes erkennbar vorenthalten wird, wenn auch nur für eine absehbare Zeitspanne. Die gleichzeitige Verfügbarkeit von mehreren Alternativen versetzt die Rezipienten in die Lage, sich durch ‚Zappen‘ ihr Rezeptionssyntagma wie eine Collage selbst zusammenzustellen. Sie montieren bzw. mischen sich ihren individuellen Text selbst. (Vgl. Schumacher 2000: 223) Aus der Möglichkeit des Zappens ergibt sich die Gefahr, dass sich die Zuschauer im Falle einer Unterbrechung der Narration für ein anders Programm entscheiden könnten, was es für die Sender erforderlich macht, Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Die Aufmerksamkeit und das Interesse der Rezipienten müssen nicht nur geweckt, sondern über die Unterbrechung hinaus aufrecht erhalten werden, um sie an die Sendung zu binden. Zu diesem Zweck erfolgt „the reiterated promise of exciting things to come, if we stay.“ (Williams 1990: 94) Vorausdeutungen darauf, wie es nach der Unterbrechung weitergeht, stellen ein Versprechen auf Kommendes dar. Das bedeutet, sie bieten bereits Hinweise, wie die Leerstelle aufgefüllt werden könnte, dürfen aber wiederum nicht so viele Informationen preisgeben, dass das Schließen der Lücke unproblematisch und eindeutig geschehen kann. In diesen Hinweisen wird demnach mit der Dialektik von „Zeigen und Verschweigen“ (Iser 1976: 79) gespielt, wie Iser sie bereits konstatiert, so dass die Neugier der Rezipienten geweckt und ein Impuls für Konkretisationsaktivitäten gegeben wird. Insofern Informationen nur partiell anwesend sind und daraus für die Zuschauer der Wunsch resultiert, zu wissen, wie es weitergeht, stellen entsprechend auch Unterbrechungen Leerstellen dar. Diese sind zeitlich determiniert und werden bei der Wiederaufnahme der Narration geschlossen. Damit unterscheiden sich Unterbrechungen zwar deutlich von anderen Arten von Kontinuitätsbrüchen, wie sie in den Filmtheorien in Bezug auf die Montage und damit einhergehend das Auslassen von Informationen diskutiert wurden. Allerdings ist die Unterbrechung, wie Williams sie für den Fernsehflow beschreibt, an Isers Aussagen zum Fortsetzungsroman rückbindbar. Auch hier werden keine Informationen kom-

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plett ausgelassen, sondern lediglich zeitlich verzögert. Wie bereits bei Eckert erweist sich damit auch bei Williams die zeitliche Dimension der Leerstellen als ein wesentlicher Aspekt, zu der Nachwirkung kommt nun die Dauer als Faktor hinzu. John Ellis: Visible Fictions Auch John Ellis geht in Visible Fictions (1982) auf diese Form der Leerstellen ein, die sich nach ihm aus der spezifischen ‚Segmentalität‘ ergeben, und die er insbesondere in Bezug auf das serielle Erzählen behandelt. In der Verzögerung von Information durch die Aufsplittung inhaltlicher Einheiten werden die Zuschauer zur Hypothesenbildung angeregt, worin Ellis das eigentliche Vergnügen der Rezeption sieht. Gleichzeitig führt die Kombination der Elemente, die in sich zwar eine starke Kohärenz aufweisen, die aber untereinander eine geringe Verknüpfung haben, dazu, dass die Zuschauer die Kontexte bzw. den übergeordneten Zusammenhang selbst herstellen müssen. In seinen Ausführungen dazu finden sich entsprechend Hinweise auf die Leerstellenformen der Unterbrechung wie auch der Dekontextualisierung. Ellis referiert zudem auf die Aspekthaftigkeit bzw. Unbestimmtheit, die infolge der Tendenz des Fernsehnarrativs zu Nah- und Großaufnahmen und der Multiperspektivität des multi-camera editing entsteht. Insgesamt weisen Ellis Ausführungen damit auf drei verschiedene televisuelle Leerstellenphänomene hin, die er zwar nicht explizit so bezeichnet, aber in diesem Sinne reflektiert. Kontinuitätsbrüche thematisiert Ellis in einer expliziten Replik auf Williams, wobei er dessen Konzept insofern kritisiert, als er die Programmabfolge weniger als Flow, sondern vielmehr als Segmentalisierung verstanden wissen will. Er bemängelt, dass Williams die einzelnen Programmbestandteile noch zu sehr als separate Elemente sieht. „Here both the strength and weakness of William’s argument becomes clear. Flow assembles disparate items, placing them within the same experience, but does not organise them to produce an overall meaning. This is a valuable insight; however, the problem lies in William’s definition of ‚items‘. ‚Items‘ are still separate texts, independent works like a cinema film. Finally, for Williams, flow is a feature of TV that severely compromises and alters the separate texts that TV has manufactured. His model is of cinema-style texts which appear in a context that reduces their sepa-

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ration one from another. In doing so, he underestimates the complexity of broadcast TV’s particular commodity form, which has very little to do with the single text.“ (Ellis 1991: 117f)

Die Grundeinheit des Fernsehprogramms ist für ihn das Segment, „a coherent group of sounds and images, of relatively short duration that needs to be accompanied by other similar such segments.“ (Ellis 1991: 116) Ellis betont sowohl die Insichgeschlossenheit der einzelnen Segmente, die der kurzen Aufmerksamkeitsspanne der Zuschauer entgegenkommt, als auch die Interdependenz dieser Segmente, so dass sich im Rezeptionszusammenhang aus dem Zusammenspiel eine übergeordnete Bedeutung ergibt, die mehr ist als die Summe der jeweiligen separaten Elemente. In einem Werbeblock etwa stehen die einzelnen Spots nicht für sich selbst, sondern „cluster together, inciting each other“ (Ellis 1991: 118). Dies gilt, so Ellis, auch für das fiktionale, serielle Erzählen, mit seiner Spezifik der Kombination von wiederholenden und neuen Elementen, das ebenfalls aus separaten, aber interdependenten Segmenten aufgebaut ist. „Any fiction series or serial is prone to segmentalisation, and the series and serial form the vast bulk of broadcast TV material almost everywhere. This segmentalisation takes the form of a rapid alternation between scenes and a frequent return to habitual locations and situations rather than any sustained progression through sequential logic of events. In the series and the serial alike, these segments tend never to coalesce into an overall totalising account. The form that tends to be adopted by TV fiction, in this sense, is the same as TV news, with a continuous updating on the latest concatenation of events rather than a final ending or explanation.“ (Ellis 1991: 120)

Ellis argumentiert dafür, einzelne Sendungen nicht zwangsläufig als geschlossene narrative Einheiten aufzufassen, indem er ihre Konstruktion aus inhaltlich unzusammenhängenden und damit eigenständigen Segmenten betont: „Each scene is coherent in itself, delivering a particular meaning, an event, a relation between characters.“ (Ellis 1991: 121) Das Erzählen im Fernsehen erfolgt weniger linear als vielmehr alternierend, wobei dadurch allerdings, anders als im Film, keine Parallelität der Ereignisse impliziert wird. Aus diesem Zusammenfügen von inhaltlich voneinander unabhängigen und nicht unmittelbar aufeinander beziehbaren Segmenten entstehen

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Sprünge in Ort, Zeit und Handlung, also Kontinuitätsbrüche. Diese einzelnen Segmente müssen von den Zuschauern im Verlauf der Rezeption immer wieder kontextualisiert und mit Vorangegangenem in Zusammenhang gebracht werden. Neben dem durativen Aspekt, wie er sich in Eckerts Nachwirkung oder Williams Unterbrechung ausdrückt, kann der zeitlichen Dimension der Leerstellen mit Ellis ein iteratives Moment zugefügt werden. Im Kapitel Broadcast TV narration kommt Ellis erneut auf diese Offenheit zurück und konstatiert, Fernsehen „has a more dispersed narrational form: it is extensive rather than sequential. Its characteristic mode is not one of final closure or totalising vision; rather, it offers a continuous refiguration of events.“ (Ellis 1991: 147) Die einzelnen Segmente weisen zwar eine starke innere Kohärenz auf, jedoch ist der Bezug der Segmente zueinander „not as concentrated and causal as it tends to be in classic cinema narration.“ (Ellis 1991: 147f) Diese Offenheit der internen Beziehungen korrespondiert mit einer in der Serialität des televisuellen Erzählens begründeten Offenheit nach Außen, denn „closure and finality is not a central feature of TV narration“ (Ellis 1991: 147). Zwar spricht Ellis diesbezüglich nicht von Leerstellen und ebenso wenig von Rezipientenaktivität, jedoch wird aus seinen Ausführungen klar, dass das Fernsehen durch seine spezifische Segmentalität von einer Offenheit dominiert ist, die durchaus Leerstellenqualität haben kann. Die Zusammenhänge zwischen den Segmenten entstehen letztlich durch die Konkretisationen der Zuschauer, die die PlotSegmente zu einer übersegmentalen Story zusammenfügen. Hiermit werden die Leerstellen zum Strukturprinzip des seriellen Erzählens. Aufgrund der starken inneren Kohärenz der einzelnen Segmente, in denen Erzählzeit und erzählte Zeit häufig kongruent sind, wirken sich die Übergänge zwischen den einzelnen Segmenten einer größeren narrativen Einheit (wie etwa einer Serienepisode) als starke Brüche aus. „The aspect of break, of end and beginning, tends to outweigh the aspect of continuity and consequence.“ (Ellis 1991: 148) Dies stützt nicht nur Ellis’ Segmentalisierungs-These, sondern zeigt auch, dass diese Bruchstellen potentiell Leerstellencharakter besitzen, denn der Wechsel zwischen den Segmenten unterbricht die Informationsvergabe. „The movement from event to event is more circumspect. This circumspection shows itself in two ways: The first is the multiplication of incidents whose conse-

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quences and conclusion are suspended. […] The second form of circumspect movement from event to event is that characterised by the soap opera and the drama alike. Events are at a premium: when they occur they generate tidal waves of verbiage, of gossip, discussion, speculation, recrimination. […] In each form, the events that take place are anticipated. For the soap opera/drama, the deliciousness of the anticipation is worth in many instances more than the event itself.“ (Ellis 1991: 151)

Zum einen werden also gewisse Informationen über die Bruchstelle hinweg hinausgezögert, zum anderen werden Informationen weit (und redundant) ausgebreitet. In beiden Fällen aber – und hier geht Ellis erstmals konkret auf Aspekte der Rezipientenaktivität ein – provoziert diese Art des Erzählens Erwartungen bei den Zuschauern. Die gegebenen Informationen sind ausreichend, um basierte Hypothesen entwickeln zu können, die letzte Gewissheit wird jedoch verweigert. Dabei liegt der Reiz dieses Erzählens nicht in der überraschenden Auflösung, sondern gerade – das macht Ellis deutlich – in der „deliciousness of the anticipation“ (Ellis 1991: 151) bzw. in der Verzögerung der erlösenden Bestätigung der Zuschauererwartungen. Nicht selten wird eine solche Auflösung durch Serien auch längerfristig oder vollständig verweigert. „Fundamentally, the series implies the form of the dilemma rather than that of resolution and closure.“ (Ellis 1991: 154) In dieser Tendenz des Fernsehens zur seriellen Offenheit liegt sein spezifisches Leerstellenpotential. „The run of a series ends without resolving its basic dilemma. This marks a basic difference between the cinema narrative and the TV series narrative. The film text aims for a final coherent totalising vision, which sets everything back into order.“ (Ellis 1991: 156) Wenn also davon auszugehen ist, dass das fiktionale televisuelle Erzählen durch die Segmentstruktur von Kontinuitätsbrüchen in Form von Unterbrechungen geprägt ist, die das Fortschreiten der Narration verzögern, dadurch die Zuschauer vorausdenken lassen und Hypothesenbildung anregt, so kann hier durchaus von Leerstellen als grundlegendem Strukturprinzip gesprochen werden. Neben Kontinuitätsbrüchen, die in der seriellen Struktur des Fernsehens konstitutiv sind, geht Ellis im Kapitel Broadcast TV as Sound and Image auch auf Unbestimmtheiten des Fernsehnarrativs ein. Er beschreibt, dass das „TV image tends to be simple and straightforward, stripped of all detail and excess of meaning. Sound tends to carry the details“ (Ellis 1991: 129).

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Während nach Ellis das Bild „a more illustrative function“ (Ellis 1991: 129) hat, übernimmt der Ton die Rolle, die eigentliche Information zu übermitteln und das Interesse zu wecken und zu binden. Diese „visual bareness“ (Ellis 1991: 130) kann allerdings nur insofern als leerstellenrelevant gelten, als einerseits Bedeutungstragendes ausgelassen und andererseits die Konkretisationsaktivität der Zuschauer gesteigert wird. Ellis betont jedoch, dass die Detailarmut des Fernsehens, die Leere in der Darstellung, geradezu notwendig ist, um – trotz der kleineren Bildfläche und der geringeren Qualität – das Relevante hervorzuheben. „The narratively important detail is stressed by this lack of other detail.“ (Ellis 1991: 130) Diese Leere des Bildes wiederum kompensiert das Fernsehen durch den – im Verhältnis zum Film – häufigeren Einsatz von Großaufnahmen, kürzeren Einstellungen und Multiperspektivität. „The use of several cameras and the possibility of alternation between them produces a style of shooting that is specific to TV: the fragmentation of events that keeps strictly to the continuity of their performance.“ (Ellis 1991: 131) Diese Fragmentierung und die Dominanz kleiner Einstellungsgrößen können zu einer Einschränkung der räumlichen Orientierung führen, wie aus einigen späteren Ausführungen deutlich wird. „Details and complete bodies are both presented only to the extent that they can be registered as ‚a bit of a body/a whole body‘. The exception to this is the face, and specifically the female face. In some sense, the female body is hidden, made obscure, by the heavy emphasis that broadcast TV gives to various kinds of close-up.“ (Ellis 1991: 142f)

Aus der Tendenz des Fernsehens zu Nah- und Großaufnahmen resultiert nach Ellis eine gewisse Aspekthaftigkeit des Dargestellten. Was er hier in Bezug auf den weiblichen Körper konstatiert, lässt sich auch unabhängig von Genderaspekten allgemein formulieren. Gegenstände, Räume und Personen sind aufgrund der kleineren Einstellungsgrößen im Fernsehen häufig nur in Ausschnitten zu sehen, so dass umfassende, einen Überblick vermittelnde Ansichten ausbleiben. Die Information ist entsprechend partiell, die Darstellung führt zu Unbestimmtheit und es kann, über Ellis hinausgehend, festgehalten werden, dass diese Partialität als Leerstelle instrumentalisiert werden und Zuschauerkonkretisationen stimulieren kann.

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John Fiske: Television Culture Fiske geht von einer grundsätzlichen Offenheit televisueller Texte aus, weshalb der Aspekt der Rezipientenaktivität in seinen Ausführungen eine prominente Rolle spielt. In seinem Buch Television Culture (1987) finden sich zahlreiche Parallelen zu den Ausführungen Isers, wobei Fiske jedoch im Unterschied zu Iser diese Offenheit nicht nur für Produkte der Hochkultur konstatiert, sondern für alle Texte. Fiske geht davon aus, dass Zuschauer durch die Offenheit dazu angeregt werden, sich aktiv an der Bedeutungskonstitution zu beteiligen, wobei sowohl textinterne Elemente als auch textexterne Orientierungssysteme steuernd auf die Konkretisationsaktivität einwirken. Leerstellen selbst thematisiert Fiske in Form von Kontinuitätsbrüchen, die sich aus der fernsehspezifischen Segmentation des Programms ergeben. Es lassen sich zwei Varianten unterscheiden: Werden innerhalb einer narrativen Einheit Segmente aneinandergereiht, die keine oder wenige inhaltliche Bezüge zueinander haben, entstehen Dekontextualisierungen, die die Zuschauer dazu herausfordern, die entsprechenden Zusammenhänge herzustellen. Treten die Leerstellen am Ende einer narrativen Einheit auf und bleibt diese dennoch unabgeschlossen, werden die Zuschauer dazu aktiviert, Hypothesen über den Fortgang zu entwerfen und somit die Unterbrechung imaginativ zu überbrücken. Beide Varianten führen zu einem starken Involvement der Zuschauer in die Sinnproduktion, was wiederum, so Fiske, das Vergnügen der Rezeption ausmacht. Auch wenn er seine Perspektive auf nonfiktionale Programmformen wie Nachrichten oder die Hybridform Werbung ausweitet, bleibt doch das für das Fernsehen dominante fiktionale serielle Erzählen zentraler Gegenstand seiner Ausführungen. Bereits in Fiskes Nominaldefinition von Fernsehen wird deutlich, dass es für ihn keinen fixen, der televisuellen Erzählung inhärenten Sinn gibt, sondern dass Bedeutungen von den Rezipienten zugeschrieben werden: „In this book I work with a definition of television as a bearer/provoker of meanings and pleasures“ (Fiske 1991: 1). Das Fernsehen und seine Programme sind nicht als konsumierbare Ware zu verstehen, sondern vielmehr als „potentials of meaning“ (Fiske 1991: 14). Fiske geht dabei wie Iser von einer Interaktion zwischen Rezipient und (televisuellem) Text aus.

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„Programs are produced, distributed, and defined by the industry: texts are the product of their readers. So a program becomes a text at the moment of reading, that is, when its interaction with one of its many audiences activates some of the meanings/ pleasures that it is capable of provoking. So one program can stimulate the production of many texts according to the social conditions of its reception.“ (Fiske 1991: 14)

Wo für Iser der Text durch den Akt der Rezeption zum Werk wird, da wird für Fiske das Programm durch den Rezeptionsakt zum Text. Fiske orientiert sich hier an Roland Barthes Unterscheidung zwischen Werk und Text, die konträr zur Verwendung bei Iser genutzt wird – bei Iser ist der Text das materielle Produkt des Autors und das Werk die jeweils individuelle Konkretisation der Rezipienten, bei Fiske, analog zu Barthes, genau umgekehrt. Bezeichnend ist allerdings die Vornahme dieser grundsätzlichen Unterscheidung, die die Bedeutung der produktiven Mitarbeit am Konstitutionsprozess durch die Rezipienten in die theoretische Reflexion einschließt. „A work of literature is a lifeless object, a fixed pattern of signifiers on the pages of a book: this only becomes a text when the book is opened up and read. A work is potentially many texts, a text is a specific realization of that potential produced by the reader.“ (Fiske 1991: 96)

Fiskes Perspektive, dass es keine festgeschriebene Bedeutung gibt, schließt die Möglichkeit kontingenter Lesarten ein. Daraus folgt, dass es im Fernsehprogramm Ambiguitäten gibt, die konstitutiv sind und eine Offenheit erzeugen. Diese Offenheit meint jedoch nicht, dass die Bedeutungskonstitution willkürlich erfolgt, sondern diese wird durchaus gelenkt und strukturiert. „An essential characteristic of television is its polysemy, or multiplicity of meanings. A program provides a potential of meanings which may be realized, or made into actually experienced meanings, by socially situated viewers in the process of reading. This polysemic potential is neither boundless nor structureless: the text delineates the terrain within which meanings may be made and proffers some meanings more vigorously than others.“ (Fiske 1991: 15f)

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Diese Polysemie ist auch hinsichtlich der Darstellung der Charaktere relevant, denn deren unvollständige Bestimmtheit ist nach Fiske ein zentraler Faktor, der die Identifikation der Rezipienten mit den Fernsehcharakteren befördert. „This sort of identification enables a viewer to enter the character’s skin in a way that is impossible with real people for characters are never fully represented in the text – they are metonyms that invite the viewer to fill in the rest.“ (Fiske 1991: 170) In Anlehnung an Ien Angs Ausführungen zu Dallas kommt er zu der Feststellung, dass die Charaktere, mit denen sich die Rezipienten stark identifizieren, ihnen in der Regel auch realer erscheinen als die Charaktere, mit denen eine geringere oder gar keine Identifikation stattfindet. (Vgl. Fiske 1991: 174) Das führt er zurück auf das Eigenengagement bei der Beseitigung der Polysemie. Dieses Schließen der Leerstellen im televisuellen Text erfolgt, wie bereits erwähnt, nicht völlig beliebig, sondern wird durch die gegebenen Strukturen des Textes immer auch partiell reguliert und strukturiert. Die Narration oszilliert daher in einem Zustand zwischen Offenheit und Geschlossenheit. 15 „I shall characterize the television text as a state of tension between forces of closure, which attempt to close down its potential of meanings in favor of its preferred ones, and forces of openness, which enable its variety of viewers to negotiate an appropriate variety of meanings.“ (Fiske 1991: 84)

Nach Fiske sind diese rezeptionsorganisierenden Merkmale, die das Realisationsschema der potentiell bereitgehaltenen Konkretisationsmöglichkeiten einschränken, die kulturellen Codes, also regelgeleitete Zeichensysteme, die innerhalb einer Kultur intersubjektiv geteilt werden. (Vgl. Fiske 1991: 4) Für ihn stellen diese Codes „links between producers, texts, and audiences“ (Fiske 1991: 4) dar. Auch der Einsatz von Kamera, Licht, Editing, Musik etc. bei den Erzählformen des Fernsehens ist bereits kulturell kodiert und legt jeweils bestimmte Bedeutungen nahe. Erneut lassen sich Parallelen zu Iser feststellen, der ebenfalls auf die Relevanz von außerästhetischen Normen- und Orientierungssystemen verweist, die die Rezipienten jeweils in den Prozess der Rezeption mit einbringen. Für Fiske ist die Fähigkeit der Zuschauer, Konkretisationen zu entwerfen, eine soziale

15 Die Terminologie der ‚Offenheit‘ bzw. ‚Geschlossenheit‘ von Texten übernimmt Fiske von Eco. (Vgl. Fiske: 94)

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Praxis, d.h. „not an innate gift, but an acquired ability“ (Fiske 1991: 17). Fernsehinhalte lösen entsprechend keine festen Bedeutungszuschreibungen aus, sondern befördern und begünstigen lediglich bestimmte Konkretisationen mehr als andere; Interpretationen können gelenkt, aber nicht kontrolliert werden. Entsprechend dieser Feststellung fordert Fiske einen Perspektivenwechsel in der Fernsehwissenschaft: „Textual studies of television now have to stop treating it as a closed text, that is, as one where the dominant ideology exerts considerable, if not total, influence over its ideological structure and therefore over its reader. Analysis now has to pay less attention to the textual strategies of preference or closure and more to the gaps and spaces that open television up to meanings not preferred by the textual structure, but that result from the social experience of the reader.“ (Fiske 1991: 64)

Er selbst lässt hier jedoch noch unausgeführt, wie sich diese Offenheit genau darstellt und wie die Polysemie bzw. Unbestimmtheit erzeugt wird. Konkreter in Hinsicht auf eine genauere Differenzierung der Offenheit wird Fiske in seinem Kapitel Segmentation and flow (Fiske 1991: 99ff), in dem er sich auf die Ausführungen von Williams, Ellis und Robert C. Allen (1985) und damit auf die Kategorie der Kontinuitätsbrüche bezieht, die durch das segmentalisierte Erzählen entstehen. „Title sequences frequently exploit this segmentation by editing together shots from the forthcoming or past programs in a rapid, highly enigmatic way. Music video is another example of exaggerated segmentation. Even drama series and serials, where the narrative requires the principles of logic and cause and effect, may be segmented into short scenes with logical links omitted. The switching between one narrative strand and another in multi-narrative programs such as soap operas is frequently rapid and unmotivated. […] Allen (1985) finds soap opera’s abrupt changes from plotline to plotline a device that opens the text up and requires an active reader […].“ (Fiske 1991: 103)

Fiskes Hinweise, dass diese Sequenzen häufig in einem „highly enigmatic way“ (Fiske 1991: 103) montiert sind und „logical links omitted“ (Fiske 1991: 103) werden, deutet den Leerstellencharakter dieser Kontinuitätsbrüche an. Das Aneinanderreihen inhaltlich unzusammenhängender Sequenzen erzeugt Unentscheidbarkeit (indeterminacy) hinsichtlich der kon-

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textuellen Bezüge. (Vgl. Allen 1985: 80, Fiske 1991: 103) Diese bewusst eingesetzten Dekontextualisierungen eröffnen „syntagmatic gaps“ (Fiske 1991: 103), die die Zuschauer schließen müssen. Dass gerade aus dem aktiven Umgang der Zuschauer mit diesen Brüchen das Vergnügen entsteht, lässt sich aus Fiskes Äußerungen zum Zapping entnehmen, das er ebenfalls in Bezug auf Segmentalisierung thematisiert: „Zapping allows the viewer to construct a viewing experience of fragments, a postmodern collage of images whose pleasures lie in their discontinuity, their juxtapositions, and their contradictions.“ (Fiske 1991: 105) Neben der dekontextualisierenden ‚Kollision‘ der disparaten Segmente, die bereits von Williams und Ellis beschrieben wurde, weist Fiske darauf hin, dass gaps nicht nur innerhalb einer Erzähleinheit auftreten, etwa wenn zwischen den Erzählsträngen alterniert wird, sondern auch episodenübergreifend. „Larger versions of these gaps occur between episodes, and in these the viewer ‚enters the text‘ in [an] imaginative and creative way […].These gaps quite literally make the soap opera a producerly text, for they invite the reader to ‚write in‘ their absences, and the invitation is readily accepted by many viewers […].“ (Fiske 1991: 103)

Auch hier schließen die gaps die Zuschauer in die Bedeutungsproduktion ein, indem diese aktiv werden und die Lücken füllen. Diese „absences“ (Fiske 1991: 103) oder Pausen brechen ebenfalls mit der Kontinuität der Narration, erzeugen aber weniger Dekontextualisierungen als vielmehr zeitlich begrenzte Unterbrechungen. Die Zuschauer müssen auf die Fortsetzung warten. Dieser Aspekt ist insbesondere in Bezug auf das serielle Erzählen relevant. Allerdings zieht Fiske, wie Ellis, eine Verbindung zwischen Fiction und Nonfiction, indem er auf strukturelle Ähnlichkeiten zwischen den episodenbasierten Series einerseits und Nachrichtensendungen und Werbespots andererseits hinweist, denen er, trotz ihrer narrativ geschlossenen Erzählstruktur, eine gewisse Offenheit zuspricht.

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Jeremy Butler: Television. Critical Methods and Applications Auch Butler hebt in seinen Ausführungen hervor, dass Unterbrechungen für das serielle Erzählen im Fernsehen einen zentralen narrativen Aspekt darstellen. Indem die Preisgabe bedeutungsrelevanter Informationen durch Unterbrechungen verzögert wird, entstehen „enigmas“ (Butler 2002: 26), die die Zuschaueraktivität anregen. Neben diesen Unterbrechungen, die er durchaus als konstitutiv und strukturrelevant beschreibt, stellen andere Leerstellen für Butler eher Abweichungen von der Norm dar. Es kann jedoch herausgelesen werden, dass in Bezug auf die Segmentalisierung aus dem Zusammenfügen inhaltlich diskreter Elemente sowie auch aus Widersprüchen zwischen Bild und Ton oder aus ‚abweichenden‘ Montageformen durchaus Brüche in der Kontinuität entstehen können, die zu Orientierungsschwierigkeiten führen und daher der Kategorie der Dekontextualisierung zuzurechnen sind. Auch Hinweise auf Unbestimmtheiten finden sich bei Butler in Ansätzen, etwa wenn er auf das Verschleiern von Identitäten durch die Beleuchtung verweist, auch wenn diese sicherlich nur rudimentär vorhanden sind. Für seine Analyse der narrativen Struktur und Ästhetik des Fernsehens, jeweils in Vergleich und Abgrenzung zum Film, legt Butler als Basis das invisible storytelling des continuity style im klassischen Hollywoodkino zugrunde, dessen narrativer Stil auch die Inhalte des Fernsehens geprägt hat. Insofern Geschlossenheit (closure) eine der zentralen Komponenten des klassischen Erzählstils ist, stellen Leerstellen, die ja gerade gegensätzlich eine Öffnung der Narration herbeiführen, für ihn Abweichungen vom Schema dar. „If a narrative concludes without answering its questions and the ending is ambiguous or open, this is an instance of narrative aperture. For the most part, narrative aperture exists only in nonclassical films.“ (Butler 2002: 19) Obwohl Butler Offenheit damit als Irregularität des klassischen audiovisuellen Erzählens deklariert, finden sich in seinen weiteren Ausführungen dennoch Hinweise auf Leerstellenphänomene, wenn auch entsprechend rudimentär. So etwa, wenn er erwähnt, dass „[b]acklighting may be used to mask a killer’s identity“ (Butler 2002: 107) oder einschränkt, dass „contradiction between sound and image occurs infrequently on television. When sound does contrast with image it’s normally to make some sort of narrative or editorial point.” (Butler 2002: 178) Das narrative Poten-

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tial, das in diesen abweichenden Darstellungen liegt, bleibt unerwähnt, obwohl Butler sie unter der Überschrift ‚Manipulating Viewer Understanding‘ (Butler 2002: 178f) behandelt. Ähnliches gilt für Butlers Aussagen zur Auswahl des Bildausschnitts: „The camera’s distance from the scene and the direction in which it is pointed, among other factors, determine what we will see in a television image.“ (Butler 2002: 115) Dass durch den Frame damit gleichzeitig auch bestimmt wird, was wir nicht sehen, kann man aus Butlers Ausführungen nur implizit herauslesen. Die good continuity des klassischen Hollywoodstils beruht auf der narrativen Kohärenz des Gezeigten. „Shots are arranged so that the spectator always has a clear sense of where the characters are and when the shot is happening – excepting narratives that begin ambiguously (e.g., murder mysteries) and clarify the ‚where‘ and ‚when‘ later.“ (Butler 2002: 149) Zu Brüchen in dieser Kohärenz kommt es nur, wenn die Regeln der good continuity nicht beachtet werden, wenn etwa in einer Schuss-GegenschussSzene die Kamera nicht entsprechend der 180°-Achse positioniert wird: „A shot from the other side of the axis […] might contain spatial surprises or cause disorientation.“ (Butler 2002: 149) Eine unkonventionelle Perspektivierung der Kameraeinstellung führt dazu, dass zwischen zwei aufeinander folgenden Einstellungen einer Szene eine Diskrepanz entsteht. Die räumliche und zeitliche Orientierung der Zuschauer wird verweigert. Einen ähnlichen Effekt hat nach Butler auch der Jump Cut, „which results in a disruptive gap in space and/or time, so that something seems to be missing.“ (Butler 2002: 159) Butler geht in diesen Ausführungen, wie bereits erwähnt, nicht direkt auf Leerstellenphänomene selbst ein, seine Darstellung lässt aber in Ansätzen die Reflexion von Unbestimmtheiten und Dekontextualisierungen erkennen. Am deutlichsten auf leerstellenrelevante Aspekte nimmt Butler Bezug hinsichtlich des fiktionalen und insbesondere des fiktionalen Erzählens im Fernsehen. Er konstatiert, dass sowohl ‚made-for-TV movies‘16 als auch Serien nicht einfach nur durch Werbung unterbrochen werden, sondern in ihrer narrativen Struktur explizit auf diese Unterbrechungen ausgerichtet sind.

16 Butler spricht verkürzt auch von MOW als Abbreviatur für ‚movie of the week‘.

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„In short, MOW’s are designed to be interrupted. Their narrative chain is segmented to take advantage of commercial breaks. Rather than a continuous chain of events in cause-effect relationship with one another, the MOW often (though not always) halts the action and provides a small climax just before the commercials begin. This climax does not resolve the enigma, as does the final climax of a theatrical film. Instead, it heightens the enigma, posing questions that entice the viewer to stay with this channel through the commercials to find out what happens next.“ (Butler 2002: 21)

Die Fernsehfilme machen sich demnach die Spezifik des Mediums zu Eigen und integrieren die ökonomisch motivierte Unterbrechung in ihre Ästhetik, indem bewusst Offenheit erzeugt wird, die die Zuschauer binden soll. Gleiches gilt auch für das serielle Erzählen – sowohl in Series als auch in Serials –, das auf diese Diskontinuität ebenfalls reagiert, indem die Narration segmentiert wird. „These between-commercial segments, sometimes called acts, consist of one or more scenes that hold together as strongly as classical scenes do. They end with their own small climax, which leads into the commercial break. The function of this precommercial climax is not to resolve narrative dilemmas, but instead to heighten them, to raise our interest in the narrative as we flow into the commercials. New, minor enigmas may even be posed just before the segment ends.“ (Butler 2002: 25f)

Die Zuschauer werden mit einem Rätsel in die Werbeunterbrechung entlassen, eine Situation bleibt unabgeschlossen, narrativ relevante Informationen werden verzögert. „We enter, or ‚flow‘ into, a commercial break on the heels of a question mark.“ (Butler 2002: 29) Dass daraus für die Zuschauer Spannung oder Neugier darauf, wie es weitergeht und letztlich Rezipientenaktivität resultieren kann, wird von Butler nicht weiter ausgeführt. „In sum, the segmentation of the series narrative interrupts the rising curve of increasingly intensified action that we see in classical cinema and replaces it with portions of narrative equipped with their own miniature climax – in a sense, a series of several upward curves. […] The chain is slightly ruptured, but not sundered by the so-called commercial breaks.“ (Butler 2002: 26)

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Nach der Werbeunterbrechung wird dann die Narration wieder aufgenommen und die mit Spannung erwartete Auflösung der Situation geboten. Allerdings werden im seriellen Erzählen nie alle Offenheiten geschlossen und alle losen Erzählstränge verknüpft, „we’ll get our answers to this small enigma […], but the overarching enigma is sustained.“ (Butler 2002: 29) Die beiden Basisformen seriellen Erzählens, die Serials und die Series, unterscheiden sich diesbezüglich dahingehend, dass die Series als eher episodenorientierte Narrationen im Allgemeinen deutlich weniger langfristige, episodenübergreifende Erzählstränge transportieren als die Serials. „In the series, the link between each week’s programs is rather vague. In the serial, the connection is fundamental to its narrative pleasures.“ (Butler 2002: 27) Während bei den Series die Unterbrechungen hauptsächlich innerhalb einer Episode und durch kurzfristige Rätsel wirken, kommt bei den Serials als zusätzlicher Faktor noch die Unterbrechung von Episode zu Episode hinzu. Allerdings können auch bei den Series am Ende einer Episode nie alle Rätsel aufgelöst werden, „because to do so would mean the end of the series itself.“ (Butler 2002: 26) Und auch bei den Serials kommt es ab und zu zum Schließen von Offenheit, denn „[i]f they didn’t, we would probably stop watching out of total frustration. […] But these climaxes never result in narrative resolution.“ (Butler 2002: 29) Kurz gefasst bedeutet das für das serielle televisuelle Erzählen, dass seine beiden Ausprägungen narrativ stark von den Unterbrechungen bestimmt sind, sich dieser jedoch unterschiedlich bedienen. Die Series werden von mehreren, episodeninternen Spannungsbögen geprägt, die jeweils die Werbeunterbrechungen zur Erzeugung von Klimaxen nutzen und die zum Episodenende hin die kurzfristigen Rätsel auflösen, während einige übergeordnete, langfristige Handlungsstränge weiterhin offen bleiben. Die Serials hingegen sind durch eine Vielzahl von offenen Strängen geprägt, die mit Hilfe der Unterbrechungen zur Werbung und zum Episodenende immer wieder dramatisch forciert, aber auch wieder pausiert, jedoch nur selten zur einer Geschlossenheit geführt werden. Für beide Varianten gilt also, dass eine Balance aus Offenheit und Geschlossenheit angestrebt wird. Würden alle Leerstellen geschlossen, bestünde kein Anreiz mehr, die Serie weiterzuschauen, bzw. würden Handlungsstränge nie zu Ende geführt, wäre die Frustration der Zuschauer ein Resultat daraus. Auf das Ideal einer solchen Balance aus Öffnen und Schließen wurde bereits von Iser für den Bereich Literatur und von Thompson für den (fiktionalen) Film verwiesen.

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E RGEBNIS Es kann festgehalten werden, dass sich auch in den fernsehtheoretischen Basistexten Hinweise auf die Relevanz von Leerstellenphänomenen finden, auch wenn diese häufig nicht ganz so explizit ausformuliert werden. Auffällig ist insbesondere, dass alle Texte, die den Untersuchungsgegenstand aus unterschiedlichen Perspektiven thematisieren, sich übereinstimmend auf solche Leerstellen beziehen, die in Form von Unterbrechungen auftreten. Informationen werden bei dieser Variante der Kontinuitätsbrüche nicht ausgelassen, sondern nur über eine bestimmte Zeitspanne ausgesetzt. Entsprechend ist eine weitere Untergliederung der Kategorie der Kontinuitätsbrüche erforderlich, neben die Auslassungen und Dekontextualisierungen treten die Unterbrechungen. Diese werden insbesondere in Bezug auf das serielle Erzählen thematisiert und sind für diese Formen konstitutiv (Fiske, Butler) und strukturbildend. Auch Fernsehfilme sind in ihrer Struktur auf die ökonomischen Bedingungen des Fernsehens ausgerichtet und machen sich diese dramaturgisch zunutze (Butler), insgesamt bleiben sie in ihrer Spezifik in der fernsehtheoretischen Literatur jedoch häufig unreflektiert. Verweise auf eine entsprechende Funktionalisierung von Unterbrechungen wurden bereits von Iser in Bezug auf den Fortsetzungsroman gegeben, daher kann diese Ausdifferenzierung der Kategorien auch für literarische Texte von Relevanz sein. Neben der televisuell dominanten Kategorie der Unterbrechungen werden auch andere Formen von Kontinuitätsbrüchen thematisch aufgegriffen. Ebenfalls in engem Zusammenhang mit der Segmentstruktur televisueller Narrationen stehen Dekontextualisierungen, die sich aus dem Zusammenfügen unzusammenhängender Segmente ergeben, die inhaltlich nicht miteinander in Zusammenhang stehen. Diese Zusammenhänge zwischen den Segmenten müssen die Zuschauer selbst aktiv herstellen (Ellis, Fiske). Sowohl die Unterbrechungen als auch die Dekontextualisierungen können ein starkes Involvement der Zuschauer erzeugen, worin Fiske das Vergnügen der Rezeption ausmacht. Unbestimmtheiten werden ähnlich den Filmtheorien in Bezug auf das Ineinanderwirken von diegetischem Off und On (Eckert) oder dem Einsatz von Licht und Bildausschnitt (Butler) diskutiert, ihnen wird jedoch in den Fernsehtheorien wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Auf einen medienspezifschen Aspekt verweist Ellis, indem er die Tendenz des Fernsehnarrativs zu

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Nah- und Großaufnahmen und der Multiperspektivität des multi-camera editing als ursächlich für eine stärkere Aspekthaftigkeit bzw. Unbestimmtheit televisuellen Erzählens anführt. Eine Reflexion von Phänomenen der Nicht-Information, der Darstellungsleere, wie sie sich in der Filmtheorie bei Balázs zeigt, lässt sich in den Fernsehtheorien lediglich in Form von Hinweisen auf die spezifische Detailarmut des Fernsehbildes bei Ellis wiederfinden. Die Befunde zeigen insgesamt, dass Leerstellenphänomene sowohl im filmischen als auch im televisuellen Erzählen durchaus ästhetisch relevant, bedeutungskonstitutiv und grundlegendes narratives Strukturpinzip sein können. Zugleich wurde deutlich, dass für die Anwendung auf audiovisuelles Erzählen eine Ausweitung der beiden ursprünglichen Kategorien Unbestimmtheit und Kontinuitätsbruch erforderlich ist, um die Phänomene analytisch fassen zu können. Diese Ausdifferenzierung soll nun erfolgen und anhand von Beispielen illustriert werden.

V. Formen von Leerstellen im audiovisuellen Erzählen

Die quellenbezogene Rekonstruktion der Kategorie Leerstelle hat gezeigt, dass es sich dabei durchaus um ein supramediales Phänomen handelt, das nicht nur für die Literatur, sondern auch für das audiovisuelle Erzählen wesentlich ist. Die von Ingarden und Iser konzipierten Kategorien der Unbestimmtheitsstelle und des Kontinuitätsbruches wurden in vergleichbarem Verständnis auch in den film- und fernsehwissenschaftlichen Theorien diskutiert. Darüber hinaus konnte festgestellt werden, dass einzelne Aspekte genauer differenziert bzw. medienspezifisch betrachtet und zum Teil auch neue Paradigmen thematisiert wurden. Entsprechend wird die Kategorie der Unbestimmtheit beibehalten, während die Kontinuitätsbrüche genauer unterschieden werden in Auslassungen, Dekontextualisierungen und Unterbrechungen. Außerdem soll dem Paradigma eine neue Kategorie hinzugefügt werden, um Arten der Nicht-Information begrifflich zu fassen: die Darstellungsleere. Diese fünf Dimensionen der Kategorie Leerstelle werden im Folgenden näher klassifiziert und anhand von Beispielen erläutert, um sie anschließend für eine Analyse einsetzen zu können. Leerstellen sind solche Stellen in einem ästhetischen textuellen Gewebe1, die sich durch ein bedeutungsrelevantes Fehlen von Information auszeichnen. Es handelt sich also nicht um ein notweniges Auslassen von Irrelevantem, sondern um ein gezieltes Vorenthalten von Informationen, die

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Text soll hier und im Folgenden nicht eng gefasst als rein auf die Schriftform fixiert verstanden werden, sondern allgemeiner, als ein ästhetisches Produkt, das in unterschiedlichen Medien wie Buch, Film oder Fernsehen auftreten kann.

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zur Herstellung von Bedeutung erforderlich sind. Durch das Fehlen dieser Informationen werden die Rezipienten zur Konkretisationsaktivität herausgefordert und sie füllen die bestehende Lücke imaginativ auf.2 Das Schließen der Leerstelle erfolgt anhand einer Orientierung an den gegebenen Informationen, so dass das Realisationsspektrum durch die Strukturen des Textes eingeschränkt und erzählstrategisch gelenkt werden kann. Provokant formuliert könnte man sagen, Leerstellen sind eine Art textuelles Rätsel, das zwar die Rezeption erschwert und infolgedessen die Rezipienten zu gesteigerter Reflexionsaktivität stimuliert, das aber gerade darin auch einen Mehrwert bietet. Die Leerstellen eines Textes sind dabei immer auch ein Teil des narrativen Syntagmas, sie stehen nicht für sich, sondern sind in einen größeren strukturellen Gesamtzusammenhang eingebunden, sind Teil der Ästhetik, der Dramaturgie, des Rhythmus. Entsprechend ist das Schließen der Leerstellen nicht als ein statisches Auffüllen im Moment der Wahrnehmung des Fehlens zu denken, sondern vielmehr als ein dynamischer Prozess, der im Fortschreiten der Rezeption stattfindet, so dass die Distribution neuer Informationen das Revidieren oder Anpassen vorheriger Konkretisationen erfordern kann.

U NBESTIMMTHEIT Als unbestimmt werden im Allgemeinen solche Sachverhalte bezeichnet, die nicht vollständig dargestellt und daher nicht eindeutig bestimmbar sind. Da allerdings keine Darstellung allumfassend sein kann, soll für diese Arbeit darüber hinaus als konstitutiv gelten, dass das spezifische Fehlen im Fortgang des Textes immer auch dramaturgische Relevanz besitzen muss. Unbestimmt in diesem Verständnis sind Sachverhalte also dann, wenn sie

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Hier muss einschränkend angemerkt werden, dass Leerstellen bei Rezipienten nicht zwangsläufig Konkretisationen hervorrufen müssen. Neben dem Wecken von reiner Neugier – ohne Erzeugen eigener Imaginationen –, die durchaus auch als eine Aktivität gewertet werden kann, ist auch völlige Aktionslosigkeit der Rezipienten denkbar. Aufzufächern, welches Spektrum die individuelle Rezeption annehmen kann, ist allerdings nicht Zweck dieser Arbeit, daher steht das Potential des Textes zur Konkretisationsstimulation im Fokus.

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nur in Teilen gegeben sind, während andere narrativ relevante Aspekte (zunächst) undargestellt bleiben. Es handelt sich demnach um eine ästhetisch funktionalisierte Unbestimmtheit. Diese Form der Leerstelle kann sich sowohl auf die erzählerische Dimension als auch auf die Dimension der Darstellung beziehen und in audiovisuellen Produkten als akustische wie auch als visuelle Unbestimmtheit auftreten. Das Gegebene fungiert dabei als Anreiz für die Rezipienten, das Nichtgegebene zu konkretisieren. Die Unbestimmtheit ist demnach keine vollständige Leere, sondern enthält bereits einige Informationen, die als Basis für die Vervollständigung dienen und die somit steuernd auf die Konkretisation einwirken können. Die Partialität der gegebenen Informationen stellt entsprechend das maßgebliche Kennzeichen der Unbestimmtheit dar. In der Regel sind Unbestimmtheiten deutlich als Leerstellen exponiert, d.h. die Rezipienten bemerken im Moment der Wahrnehmung, dass bestimmte Aspekte unbestimmt bleiben und ihnen Informationen vorenthalten werden. Zur Illustration soll eine Szene aus dem Film Burn After Reading (Ethan und Joel Coen, 2008) dienen, die ein Exempel für eine durchaus charakteristische Art der Funktionalisierung von Unbestimmtheit bietet: Das Einführen neuer Figuren in die Narration. Im gewählten Beispiel wird der Charakter Linda (Frances McDormand) über eine Fragmentierung ihres in Teilen entblößten Körpers vorgestellt. Die Szene (0:15:02-0:16:45) beginnt in einer Schwarzblende, während eine männliche Stimme zu hören ist: „We take all the chicken fat off your buttocks, here …“ Diese erste optische Unbestimmtheit stellt keine allzu große Schwierigkeit dar, die Szene kann relativ eindeutig durch die akustische Information definiert werden: Ein Schönheitschirurg (Jeffrey DeMunn) berät einen Patienten oder eine Patientin. Die Aufblende offenbart nun den zuvor angesprochenen Körperteil in einer Spiegelung. Während der Arzt mit seinen Ausführungen fortfährt, werden weitere Körperpartien der Patientin gezeigt.

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 Erst nachdem auch die Brüste zur Sprache gekommen sind – die nicht wie die anderen Körperteile gezeigt werden, sondern auf die nur durch den Blick des Arztes verwiesen wird –, beteiligt sich die bisher noch unbestimmte Frau selbst stärker an dem Gespräch und zieht dadurch den Blick des Arztes auf ihr Gesicht. Spätestens nun, da das Gesicht auch dialogisch explizit thematisiert wird und der Arzt entsprechend hinaufblickt, wird die Leerstelle für die Zuschauer deutlich markiert: Der Arzt spricht mit jemandem, blickt angestrengt nach oben in ein Gesicht, eine Perspektive, die den Rezipienten ostentativ verwehrt wird.

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 Das Erste, was die Zuschauer von Linda sehen, ist ihr Körper, der darüber hinaus nur in Fragmenten gezeigt und als mangelhaft und verbesserungsbedürftig dargestellt wird. Der Dialog wird noch 45 Sekunden lang fortgesetzt, während die Einstellung weiterhin lediglich einen der beiden in der Szene anwesenden Charaktere zeigt, den sichtlich angestrengt aufblickenden Arzt. Erst als dieser konkret auf mögliche Maßnahmen in Lindas Gesicht zu sprechen kommt, erfolgt endlich der spannungslösende Schnitt auf dieses. Allerdings ist auch das Gesicht wiederum zunächst nur partiell zu sehen und erst mittels eines zoom out wird es vollständig erkennbar.

 Durch den Einsatz der Unbestimmtheit in dieser Szene, die durch die Fragmentierung des defizitär charakterisierten Körpers und die lange Einstellung auf den in unbequemer Haltung aufschauenden Arzt deutlich markiert ist, wird die Aufmerksamkeit der Zuschauer wesentlich stärker auf den neuen Charakter Linda gelenkt, als dies ohne die Unbestimmtheit möglich wäre. Den Zuschauern werden über eine Minute hinweg verschiedene Aspekte einer Person präsentiert, anhand derer sie sich eine Vorstellung dieser neuen Figur bilden. Dadurch wird direkt eine besondere Beziehung zu dem

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Charakter hergestellt, er erhält eine spezifische Relevanz und wirkt durch die Exklusivität seiner Einführung wichtig. Über mehrere Sequenzen Vergleichbar wird auch die Einführung des Gangsterbosses Marsellus Wallace in Tarantinos Pulp Ficton (1994) stark durch Unbestimmtheit strukturiert. Zunächst wird er in der ersten Sequenz in einem Gespräch seiner beiden Handlanger Vincent (John Travolta) und Jules (Samuel L. Jackson) thematisiert, woraus bereits einige Aspekte seines Charakters hervorgehen und ihn als irrationalen, brutalen und einflussreichen Mann erscheinen lassen. Die folgende Sequenz (00:20:40-00:24:30) führt diesen Supergangster dann akustisch ein, indem zunächst über eine Minute lang sein Monolog zu hören ist, während die Zuschauer gleichzeitig nur sein Gegenüber, der Boxer Butch (Bruce Willis) sehen, der selbst kein Wort sagt. Anschließend wechselt die Einstellungsgröße und nun ist auch der erste optische Aspekt von Wallace erkennbar, der Butch gegenübersitzt – jedoch noch immer unbestimmt, da nur sein Hinterkopf zu sehen ist. Eine der folgenden Einstellungen zeigt schließlich eine Halbtotale des Raumes, wobei Wallace nun zwar frontal zu sehen ist, jedoch aus großer Distanz und im Halbdunkel und damit nicht erkennbar. Diese Unbestimmtheit wird weiter aufrechterhalten, eine vollständige Auflösung wird in dieser Szene verwehrt und die Zuschauer müssen weiter darauf warten, sein Gesicht zu sehen. Indem die Figur Wallace nur sukzessive – zunächst über dialogische Hinweise, dann über seine Stimme, den Blick auf seinen Hinterkopf und schließlich eine distanzierte, dunkle Frontalansicht – eingeführt wird, steigert sich die Spannung und das Interesse der Zuschauer an dieser Figur. Ihre Besonderheit und Relevanz für die Geschichte wird hervorgehoben und die Zuschauer dazu herausgefordert, sich Vorstellungen von diesem Gangsterboss zu bilden. Erst 40 Minuten später wird erneut ein Blick auf seinen Hinterkopf gewährt, den er diesmal leicht zur Seite dreht, um so erneut ein Stück mehr preiszugeben. (01:05:45-01:06:20) Und es dauert wiederum 22 Minuten, bis Wallace dann schließlich erstmals vollständig erkennbar gezeigt wird. (01:28:41-01:29:25) Im ersten Beispiel hat die Unbestimmtheit eine recht kurze Dauer und ist nur über eine Szene hinweg wirksam, während sie im zweiten Beispiel deutlich länger aufrecht erhalten wird und über mehrere Sequenzen hinweg besteht. Allerdings hat die Unbestimmtheit in beiden Beispielen lediglich eine dramaturgische Funktion. Eine Unbestimmtheit, die sich nahezu über die gesamte Dauer des Films erstreckt, und zudem nicht nur dramaturgisch,

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sondern auch narrativ relevant ist, weist The Usual Suspects (Bryan Singer, 1995) auf. Die Eröffnungssequenz (0:01:48-0:04:24), die von dem Insert „San Pedro California – last night“ eingeleitet wird, gibt die Begegnung zweier Männer wieder, die sich mit Keaton und Keyser ansprechen. Während Keaton (Gabriel Byrne) deutlich erkennbar gezeigt wird, bleibt der zweite Mann, Keyser (Kevin Spacey), unbestimmt, da er immer nur vom Hals abwärts zu sehen ist. Keaton sitzt verletzt auf dem Boden, Keyser tritt zu ihm und richtet eine Pistole auf ihn. Während zwei Schüsse zu hören sind, werden Totalen des Schiffes gezeigt, auf dem sich die Szene abspielt. Der Mord selbst ist für die Zuschauer dadurch nicht sichtbar, wird aber akustisch nahegelegt. Zentraler ist die Unbestimmtheit, die die Identität Keysers betrifft, denn sie bleibt nicht nur bis zum Ende ungeklärt, sondern bestimmt auch wesentlich die Dramaturgie des Films. Es ist deutlich, dass dem in dieser ersten Sequenz gezeigten Geschehen bereits Ereignisse vorausgegangen sein müssen und dass der Einstieg medias in res nun dazu dient, die Zuschauer auf diese Ereignisse neugierig zu machen. „Da die Enthüllung dieses Geschehens für das Verständnis der Eingangssequenz notwendig ist, darf der Zuschauer mit Recht erwarten, ob nun chronologisch weitererzählt oder zurückgeblendet wird, darüber in irgendeiner Weise aufgeklärt zu werden.“ (Lahde, 2002: 154) Aber nicht nur die Frage nach dem Geschehen ergibt sich aus dieser Anfangssequenz, auch die Unbestimmtheit Keysers ist so deutlich inszeniert, dass sie auf die Zuschauer unvermeidlich bedeutsam wirkt. „Der Film verweigert ganz offen Informationen, die für die Identifizierung des Mannes entscheidend wären.“ (Lahde 2002: 154) Das Fehlen der Information wird explizit ausgestellt und fordert die kognitiven Fähigkeiten der Zuschauer unmissverständlich heraus. Sie werden im weiteren Verlauf des filmischen Erzählens auf Hinweise achten, die die Identität des unbestimmten Keysers betreffen. Die Anfangssequenz endet mit einer Explosion auf dem Schiff. Einer der beiden Überlebenden ist der Kleinganove Verbal Kint (Kevin Spacey), der in einem Polizeiverhör die Vorgänge bis zu jenem Abend aus seiner Perspektive wiedergibt, die den Zuschauern durch Rückblenden visuell präsentiert wird. Gleichzeitig liegt ein unbekannter zweiter Überlebender mit schweren Verletzungen im Krankenhaus und wird ebenfalls befragt, wobei nach seinen Beschreibungen ein Phantombild Keysers angefertigt wird. Beide Handlungsstränge, wobei der zweite nur sehr latent erzählt wird,

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laufen auf die finale Identifikation und damit die Auflösung der Unbestimmtheit Keysers hinaus. Verbal Kint, der als ein schwächlicher und unterdrückter Charakter dargestellt wird, der mit seiner Halbseitenlähmung wohl kaum zu größeren kriminellen Alleingängen in der Lage ist, evoziert in seiner Befragung ein Bild Keyser Sozes, das diesen als eine Art Supergangster erscheinen lässt, der die gesamte kriminelle Unterwelt zu kontrollieren scheint. Das Besondere an der Leerstelle in dieser Narration ist, dass die Figur des Keyser Soze im Verlauf des Films visuell mit verschiedenen Identitäten aufgefüllt wird. Während Verbal die Geschichte der kriminellen Anfänge Sozes wiedergibt, wird ein junger, langhaariger Mann gezeigt (Still 0:58:55).

An einer anderen Stelle des Films äußert der Zollinspektor Kujan (Chazz Palminteri) die Vermutung, dass Keaton selbst Keyser Soze sei. Entsprechend wird eine Sequenz gezeigt, die die Unbestimmtheit durch das Gesicht Keatons auffüllt und ihn als Keyser Soze in Mantel und Hut darstellt, wie dieser in der Anfangssequenz zu sehen war (Still 1:29:58) .



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Die Auflösung am Ende des Films jedoch offenbart, dass Verbal Kint selbst, der gerade das Polizeirevier verlassen hat, der Supergangster ist. Die Gedanken Inspektor Kujans werden für die Zuschauer visualisiert und gleichzeitig mit dessen Erkenntnis nimmt der unbestimmte Soze nun die Identität Kints an, wenn auch zunächst noch durch den Rauch der Zigarette zum Teil verdeckt (Still 1:35:21).

 Zeitgleich wird das Phantombild vollendet und an Kujan gefaxt. Auch auf diesem Bild ist nun eine Zeichnung Kints als Keyser Soze erkennbar. In der letzten Szene des Films wird also die Unbestimmtheit, die mit der ersten Szene eingeführt wurde, aufgelöst und damit kann auch der Film enden (Still 1:37:02).

 Wie dieses Beispiel zeigt, wird die Leerstelle dazu benutzt, die eigentliche Identität der beiden Charaktere Keyser Soze und Verbal Kint zu verschleiern. Um diese Unbestimmtheit herum wird letztlich die gesamte Handlung

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aufgebaut. Sie ist das zentrale Moment des Films und konstitutiv für die gesamte Narration. Ihre Auflösung führt zu einer retrospektiven Umwertung des Gezeigten, woraus sich für die Zuschauer geradezu die Forderung nach einer zweiten Rezeption ergibt. Die narrative Struktur ist dabei komplexer, als in der hier gegebenen Kürze verdeutlicht werden kann, und es werden während des Films Hinweise sowohl in die eine als auch in die andere Richtung gegeben. Zudem wird ein großer Teil des Films in Form von subjektiven Rückblenden von Verbal Kint präsentiert, die sich im Nachhinein als ‚Lügen‘ herausstellen. Maurice Lahde sieht in dieser Komplexität und dem „‚Missbrauch‘ filmsprachlicher Konventionen“ (Lahde 2000: 164) die Besonderheit, sowohl den vertrauenden Zuschauern als auch den kritischen eine Herausforderung zu bieten. Vergleichbare Verwendungen von Unbestimmtheiten sind auch im televisuellen Erzählen durchaus gängig, etwa wenn es gilt, in einem Krimi die Identität eines Täters unbestimmt zu halten, um das Miträtseln der Zuschauer herauszufordern. Ein relativ prominentes, weil zeitlich maximal ausgedehntes Beispiel, das eine andere Funktion erfüllt, bietet die Sitcom Home Improvement (ABC, 1991-1999), in der einer der Charaktere über die gesamte Laufzeit der Serie unbestimmt bleibt. Das Gesicht des Nachbarn der handlungstragenden Familie Taylor ist während der insgesamt acht Staffeln immer nur von der Nase aufwärts zu sehen, der untere Teil seines Gesichts ist stets durch Requisiten – zumeist den Gartenzaun – verdeckt (Still S1, E1 09:02).



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Die Figur Wilson Wilson war in 173 der insgesamt 203 Episoden vertreten und erst in der letzten Episode wurde diese Unbestimmtheit aufgelöst (Still S8, E28, 16:19).

 Die nur partielle Darstellung des Gesichtes wurde zum Running Gang, der immer wieder auch selbstreflexiv thematisiert wurde. In Folge 21 der vierten Staffel wird etwa die Unbestimmtheit variiert, indem diesmal abweichend die untere Gesichtshälfte zu sehen ist, während die obere verdeckt wird (Still S4, E21, 17:07).



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Gerade dieser Bruch mit der selbstauferlegten Konvention stellt einen selbstreflexiven Umgang mit der Unbestimmtheit aus. Es wird markiert, dass es sich hierbei um ein Spiel der Serie mit ihren Zuschauern handelt, ein Augenzwinkern, durch das auf einer Metaebene kommuniziert wird. Was Rushkoff über ähnliche Phänomene in televisuellen Werbespots postuliert, kann auch hier gelten: „By winking at the audience, the advertiser is acknowledging that there’s someone special out there […]“ (Rushkoff 2000: 187) Die Unbestimmtheit hat hier weniger einen spannungserzeugenden Effekt, sondern dient der metatextuellen Adressierung der Zuschauer und wird durch die lange Dauer zu einem starken Wiedererkennungsmoment. Die Zuschauer fühlen sich mit der Serie, ihren Darstellern und ihren narrativen Spezifika vertraut und durch das deutlich inszenierte Spiel des Nicht-Zeigens direkt angesprochen. Sie erkennen das Augenzwinkern und erfahren dadurch als Zuschauer Bestätigung. Diese deutliche Zurschaustellung einer Unbestimmtheit über mehrere Staffeln hinweg ist zwar durchaus kein Einzelfall für serielles Erzählen – die Serie Charlie’s Angels (ABC, 1976-1981) etwa trägt einen Charakter im Titel, der selbst nie zu sehen, lediglich zu hören ist –, sicherlich aber auch nicht die Regel.

AUSLASSUNG Im Unterschied zur Unbestimmtheit beruht die Auslassung nicht auf partiellem, sondern auf dem völligen Fehlen von Information. Sie stellt eine Lücke im audiovisuellen Text dar, wobei sich auch hier die Abwesenheit von Information als dramaturgisch relevant erweisen muss, wodurch einfache Ellipsen aus der Definition ausgeschlossen sind. Die Rezipienten bemerken früher oder später, dass ihnen zur Vervollständigung der Story aus den Elementen des Plots relevante Hinweise vorenthalten werden und reagieren entsprechend mit Konkretisationen, um die durch die Auslassung entstandene Lücke zu schließen. Während die Rezipienten im Falle der Unbestimmtheit diese in der Regel bereits simultan zur Wahrnehmung bemerken, können Auslassungen auch erst retrospektiv erkennbar sein. Ein Beispiel aus dem Film The Lord of the Rings – The Fellowship of the Ring (Peter Jackson, 2001) soll belegen, wie eine Auslassung zur Erzeugung extremer emotionaler Spannung instrumentalisiert wird. In einer Parallelmontage (1:01:28-1:02:40) werden zwei Erzählstränge aufeinander

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zu geführt. Die Hobbits haben in einem Gasthof Unterschlupf gefunden. Sie wissen nicht, dass die Schwarzen Reiter, die sie suchen und verfolgen, bereits auf dem Weg zu ihnen sind. Die Zuschauer sehen alternierend die schlafenden Hobbits und die Ankunft der Schwarzen Reiter im Dorf sowie ihr Einfallen in das Gasthaus. Auf diese Weise wird ganz klassisch Spannung im Sinne von Suspense erzeugt, denn die Zuschauer haben gegenüber den positiv besetzten Charakteren der Hobbits einen entscheidenden Informationsvorsprung und sehen dem Zusammentreffen der Handlungsstränge und damit dem Aufeinandertreffen der Schwarzen Reiter und der hilflosen Hobbits ängstlich entgegen. Die Parallelmontage suggeriert, dass abwechselnd das Wesentliche beider Handlungsstränge gezeigt wird. Schließlich positionieren sich die Schwarzen Reiter neben den Betten der Hobbits und heben die Schwerter, um zuzustechen. Ein Schnitt bringt in einer Aufsicht – der Position der Reiter entsprechend – noch einmal einen der schlafenden Hobbits ins Bild. Die beiden Erzählstränge treffen nun aufeinander, Ort, Zeit und Handlung beider Stränge werden vereint.

Das Aufeinandertreffen beider Parteien kulminiert in der vorauswirkenden Vorstellung der Zuschauer, wie die erhobenen Schwerter gleich auf die Hobbits hinabfahren werden, die unweigerlich beim Anblick der drohenden Klinge – der Perspektive der Hobbits entsprechend aus der Untersicht – entsteht. In dem Moment, in dem die Schwarzen Reiter zustechen, wird

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erneut der Hobbit Sam gezeigt, der nun erschreckt die Augen aufschlägt und zusammenzuckt.

 Die Schwarzen Reiter stechen viele Male zu (ein leicht retardierendes Moment), bevor sie schließlich die Bettdecken wegziehen und feststellen müssen, dass in den Betten nur Attrappen liegen. Ein weiterer Schnitt enthüllt nun, dass die Hobbits sich tatsächlich gar nicht (mehr) in ihren eigenen Betten, sondern in einem anderen Raum befinden, wo sie nun von den Schreien der Schwarzen Reiter aufgeweckt wurden.

 Die Auslassung ist für das Funktionieren dieser Sequenz essentiell. Sie wird durch die Parallelmontage ermöglicht, die eine Gleichzeitigkeit der Abläufe suggeriert und durch die alternierende Erzählweise gestattet, einen gewissen Zeitraum des einen Stranges zu überspringen. Gleichzeitig wird durch die Beschränkung der Kameraeinstellungen auf Groß- und Nahaufnahmen in dieser Szene eine ‚korrekte‘ räumliche Orientierung verweigert. Offenbar haben die Hobbits in der ‚Zwischenzeit‘ – während die Zuschauer das Näherkommen der Schwarzen Reiter verfolgten – den Ort gewechselt, denn sie befinden sich nun nicht mehr in ihrem ursprünglichen Schlafraum, in den die Schwarzen Reiter eingedrungen sind. Die eigentliche Leerstelle wurde also nicht markiert, sondern durch andere Informationen gefüllt und

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durch eine Kombination aus Parallelmontage und kleinen Kameraeinstellungen verschleiert. Man geht als Zuschauer davon aus, dass alles, was von Relevanz ist, gezeigt wird. Erst retrospektiv ist erkennbar, dass wichtige Informationen vorenthalten wurden. Aus Suspense wird für die Zuschauer Surprise, wenn ihr ursprünglicher Wissensvorsprung gegenüber den Hobbits in das Erkennen des Informationsdefizits umschlägt. Die klaren Erwartungen, die durch die Art der Montage geweckt wurden, werden enttäuscht und die starke emotionale Anspannung der Bedrohungssituation schlägt in Entspannung und Erleichterung um, sobald die Zuschauer realisieren, dass die Gefahr für die Hobbits nicht so akut ist, wie impliziert wurde. „Der Sinn liegt nicht im Bild, sondern die Montage projiziert dessen Schatten ins Bewußtsein des Zuschauers.“ (Bazin 2009: 93) Ohne die Auslassung, also mit dem Wissen, dass sich die Hobbits gar nicht mehr in ihrem ursprünglichen Zimmer befinden, wäre ein so starker Spannungsaufbau nicht möglich gewesen. Diese Form der Auslassung wirkt sich also direkt auf den Spannungsverlauf der betreffenden Sequenz aus. Sobald die explizit erzeugten Erwartungen der Zuschauer enttäuscht wurden, wird die Leerstelle offenbar und die Auslassung kann nachträglich mit modifizierten Konkretisationen gefüllt werden, die sich darauf beziehen, dass die Hobbits das Zimmer gewechselt haben müssen. Über diese Sequenz hinaus hat die Leerstelle keine Bedeutung. Ein anderes Beispiel soll zeigen, dass es auch Auslassungen gibt, die bedeutungskonstitutiv für den gesamten Film sind. Ein prominentes Exempel dafür ist der Film The Sixth Sense (M. Night Shyamalan, 1999), in dem eine relevante, ausgelassene Information am Ende des Films als Überraschungseffekt preisgegeben wird. Zu Beginn des Filmes (0:09:33 – 0:10:30) wird der Hauptcharakter Malcolm Crowe (Bruce Willis) von einem Einbrecher angeschossen. Eine Halbtotale zeigt ihn in Aufsicht schwer verletzt auf dem Bett liegend, seine Frau (Olivia Williams) eilt ihm zu Hilfe. Eine Schwarzblende beendet die Szene. Die anschließende Aufblende präsentiert in einer Weiten eine Straße und die Hinweise THE NEXT FALL und SOUTH PHILADELPHIA werden eingeblendet. Malcolm Crowe sitzt mit einem Klemmbrett auf einer Parkbank, hat sich also offenbar von seiner Schussverletzung erholt. Im Folgenden erzählt der Film die Geschichte des Psychologen Crowe, der sich um den Jungen Cole Sear (Haley Joel Osment) kümmert.

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Die Auslassung findet in der Zeit statt, die durch die Schwarzblende überbrückt wird. Crowe hat die Schussverletzung nicht überlebt, sondern ist gestorben und während der restlichen erzählten Zeit ein Geist, der nur von dem kleinen Jungen gesehen wird. Ebenso wie die Zuschauer weiß auch er selbst nicht, dass er tot ist, und er erfährt es, ebenfalls wie die Zuschauer, erst am Ende des Films. Bis dahin bleibt diese Information nicht nur vorenthalten, sondern es wird in keiner Weise nahe gelegt, dass mit Crowe selbst etwas nicht stimmen könnte. Dadurch wird gewährleistet, dass diese Enthüllung am Ende einen enormen Überraschungseffekt hat. Die vermeintliche zeitliche Ellipse entpuppt sich nachträglich als Leerstelle. Diese erzeugt während des Schauens des Films zwar keine gesteigerte Konkretisationsaktivität, rückblickend jedoch lässt die Auflösung die Zuschauer einige Szenen neu überdenken und die wie selbstverständlich konkretisierten Zusammenhänge modifizieren, die auf der mediensozialisierten Annahme der Zuschauer beruhten, dass nichts Relevantes verschwiegen wird. Die Auslassung bewirkt in diesem Falle nicht nur einen Überraschungseffekt am Ende des Films, sondern stellt alles zuvor Gezeigte in Frage und erfordert, ähnlich wie bei The Usual Suspects, eine Umbewertung des Gezeigten ex post. Anders als bei anderen Filmen mit unerwartetem Ende oder unzuverlässigem Erzählen resultiert die Notwendigkeit einer retrospektiven Neubewertung nicht aus der Perspektive einer verzerrten Wahrnehmung eines Charakters – wie etwa in den Filmen Fight Club (David Fincher, 1999), American Psycho (Mary Harron, 2000) oder Stay (Marc Forster, 2005) – oder dem Nahelegen einer anderen Interpretation der ‚Wirklichkeit‘, wie etwa in Stage Fright (Alfred Hitchcock, 1950) oder dem Remake von Ocean’s Eleven (Steven Soderbergh, 2001), also aus intendierter Falsch-Interpretation von gegebener Information, sondern aus deren vollständigem Fehlen. Das Gezeigte in The Sixth Sense ist durchaus verlässlich, das Nicht-Gezeigte jedoch ist bedeutungskonstituierend für den Film und die Auflösung dieser Leerstelle führt zu einer Neubewertung der gezeigten Ereignisse. Im televisuellen Erzählkontext sind Auslassungen deutlich seltener zu finden als Unbestimmtheiten. Allerdings hat sich auch hier in den letzten Jahren ein deutlicher Wandel vollzogen, der insbesondere in Bezug auf neuere US-amerikanische Serien unter unterschiedlichen Bezeichnungen

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diskutiert wurde – so etwa als ‚Quality TV‘3, ‚cinematic television‘4 oder ‚narrative complexity‘5. Diese neuen, mit klassischen seriellen Erzählkonventionen brechenden Serien zeichnen sich durch komplexe narrative Strukturen mit episodenübergreifenden Handlungssträngen aus und weisen auch ein hohes Maß an Leerstellen auf. Entsprechend lassen sich auch hier Beispiele für Auslassungen vermehrt nachweisen. Ein konkreteres, episodeninternes Beispiel für eine Auslassung lässt sich anhand der Serie Prison Break (Fox, 2005-2009) verdeutlichen. In einer der letzten Episoden der Serie (Staffel 4, Episode 21) wird eine Auslassung eingesetzt, die erst später in der Episode wieder aufgelöst wird und dadurch eine Reinterpretation der Handlung erfordert, die zwischen Auslassung und Auflösung erfolgt ist. Die Auslassung verschweigt wichtige Informationen, wodurch den Zuschauern eine bestimmte Interpretation des Gezeigten nahe gelegt wird. In der entsprechenden Szene (17:51-19:50) beraten die beiden Charaktere Michael (Wentworth Miller) und Alex (William Fichtner) darüber, wie sie mit den geheimen Daten weiter verfahren wollen, derentwegen sie von zwei unterschiedlichen Parteien erpresst werden. Liefern sie den Koffer mit den Daten an General Krantz (Leon Russom) aus, werden Michaels Freundin Sara (Sarah Wayne Callies) und Alex Frau Pam (Callie Thorne) freigelassen; Liefern sie ihn an Christina Scofield (Kathleen Quinlan), wird Michaels Bruder Lincoln (Dominic Purcell) freigelassen. Während Michael alle Geiseln retten will, ist in dieser Situation nicht klar, welche Optionen Alex, der die Daten ursprünglich zerstören bzw. an das FBI übergeben wollte, in Erwägung zieht. Wie Michael, der dies explizit thematisiert, wissen auch die Zuschauer nicht, ob man ihm vertrauen kann. Die Szene endet mit dem Hinweis von Michael an Alex: „So if there is something you need to do to protect Pam, you should do it“ woraufhin Alex den Raum verlässt und Michael mit dem Datenkoffer zurück bleibt. In mehreren der folgenden Szenen wird Alex gezeigt, wie er zuerst mit Christina Scofield telefoniert und ihr die Daten anbietet, wie er vor dem Datenkoffer steht, als Michael – mit skeptischem Blick – den

3

Geprägt wurde der Begriff bei Jane Feuer (1984). Vgl. auch Robert Thompson (1996) und Robin Nelson (1997) sowie (2007).

4

Vgl. John Thornton Caldwell (1995) und Kristin Thompson (2003).

5

Vgl. Jason Mittell (2006).

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Raum betritt (26:52-27:30), und schließlich, wie der von Michael an den General übergebene Koffer leer ist (33:10-33:15), wohingegen Alex’ Koffer, den er an Christina übergeben will, die Festplatte enthält (38:16-38:42). Unwillkürlich entsteht daraus der Eindruck, Alex habe Michael hintergangen und sich die Daten angeeignet. Selbst als sich schließlich herausstellt, dass Michael noch immer im Besitz der Daten ist, bleibt dieses Misstrauen bestehen. Erst als Michael seiner Freundin Sara nachträglich den Plan erklärt, wird eine Rückblende gezeigt, die die Ursprungsszene fortsetzt. (41:1141:48) Diese Rückblende beginnt mit dem letzten Satz Michaels an Alex, woraufhin dieser sich zur Tür wendet. Kurz bevor Alex den Raum verlässt, ruft Michael ihn jedoch zurück und es wird nun gezeigt, wie die beiden gemeinsam einen Plan entwerfen und die Koffer präparieren (Still 41:28).

 Die Rückblende zeigt den Zuschauern eindeutig, dass ihnen zuvor handlungsrelevante Informationen vorenthalten wurden, wodurch Zweifel an der Loyalität des Charakters Alex erzeugt wurden. Die Rückblende, die die ursprüngliche Szene fortsetzt, offenbart diese Auslassung und führt dazu, dass eine Reinterpretation erfolgt. Neben dieser kurzfristigen, über wenige Szenen oder eine Episode ausgedehnten Auslassung gibt es in allerdings auch langfristig ausgedehnte und strukturbestimmende Auslassungen, deren Auflösung über eine ganze Staffel, wenn nicht gar über mehrere Staffeln hinweg verzögert wird. So etwa in der Serie Lost (ABC, 2004-2010), in deren erster Episode eine Gruppe von Menschen nach einem Flugzeugabsturz auf einer Insel strandet. Im Verlauf der sechs Staffeln werden in zahlreichen flashbacks – später auch

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in flash forwards und flash sideways – immer wieder Einblicke in das frühere, spätere oder gar alternative Leben der Gestrandeten gegeben, die die Charaktere näher bestimmen. Dadurch werden mehrere Zeitebenen eröffnet. Ausgelassen werden jedoch gezielt solche Informationen, die sich auf das Dazwischen beziehen. Dieses Dazwischen scheint jedoch relevant hinsichtlich der Gründe, wieso gerade diese Personen alle den Flug 815 von Sydney nach L.A. genommen haben, wieso das Flugzeug abgestürzt ist, etc. Diese gezielten Auslassungen sind nicht nur innertextuell wirksam, sondern sind ein zentrales strukturelles Merkmal des Erzählens in Lost, durch das die spezifische offene textuelle Struktur erzeugt wird.

D EKONTEXTUALISIERUNG Dekontextualisierungen entstehen, ebenso wie Auslassungen, an den Stellen der Narration, an denen mit der räumlichen oder zeitlichen Kontinuität gebrochen wird. Wie aus den Ausführungen von Balázs ersichtlich wurde, können diese Brüche gelegentlich so strukturiert sein, dass ein einfaches Herstellen der Zusammenhänge für die Zuschauer nicht möglich ist, da sie nicht kontextualisiert werden können . Diese Form der Leerstelle kann auf verschiedene Weise erzeugt werden: durch textimmanente Widersprüche, durch montagebedingte akustische bzw. visuelle Kollisionen sowie durch Brüche im Plot, die die Zusammenhänge der aufeinander bezogenen Erzähleinheiten nicht rekonstruierbar werden lassen. Gemeinsam ist diesen Phänomenen, dass die Rezipienten durch die fehlende Eindeutigkeit der Situation irritiert werden und ihre Aufmerksamkeit auf den Erzählprozess selbst gelenkt wird. Sie müssen aktiv die widersprüchlichen, irritierenden Elemente in einen plausiblen Erzählzusammenhang bringen und einen sinnhaften Kontext konkretisieren. Durch das Stören der einfachen, unreflektierten Rezeption wird der simple Konsum oder Nachvollzug des Gezeigten verweigert und die Rezipienten stattdessen zu gesteigerter Eigenreflexion herausgefordert, um so die fehlenden Kontexte und Relationen zu konkretisieren. Der Fokus verlagert sich von zukunftsgerichteten Hypothesen zu synchronen Reflexionen der Situation. Anstatt danach zu fragen, was passieren wird, fragen sich die Rezipienten vielmehr wie das aktuell Gezeigte einzuordnen ist.

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Geradezu idealtypisch für das dekontextualisierte Erzählen sind die Filme David Lynchs, über die oft gesagt wird, dass sie sich einer (vollständigen) Sinnerschließung verweigern. Dekontextualisierungen treten jedoch auch in weniger ‚sperrigen‘ Filmen auf. So sind sie beispielsweise bedeutungskonstitutiv für die Filme Memento (Christopher Nolan, 2000) oder Eternal Sunshine of the Spotless Mind (Michel Gondry, 2004), in denen unterschiedliche Zeitebenen in einer nicht der Chronologie der Ereignisse entsprechenden Anordnung wiedergegeben werden, die die Zuschauer selbst in die ‚richtige‘ Reihenfolge bringen müssen, um die Narration nachvollziehen zu können. Deutlich wird das Prinzip der Dekontextualisierung auch am Beispiel der Anfangssequenz (0:00:06-0:05:15) aus Michael Hanekes Caché (2005). Der Film beginnt mit dem Establishing Shot einer Straße in der Totalen mit Blick auf ein Haus. Die Einstellung wirkt fast wie ein Freeze Frame, auf dem die Credits eingeblendet werden, denn im Hintergrund tut sich – abgesehen von leichten Windbewegungen der Pflanzen – zunächst nichts. Nach etwa einer Minute durchquert ein Mann das Bild, nach einer weiteren Minute, kurz nach Ausblenden der Credits, verlässt eine Frau das Haus und kurz danach kreuzt ein Fahrradfahrer die Straße.

 Dann ist unvermittelt der Dialog zwischen einem Mann und einer Frau zu hören, während weiterhin dieselbe Einstellung gezeigt wird. Die Stimmen klingen sehr nah, wobei nicht vorstellbar ist, woher sie kommen bzw. zu wem sie gehören könnten und in welchem Zusammenhang sie bzw. das Gesagte zu der gezeigten Straße stehen.

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Er:

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Alors?

Und?

Sie:

Rien.

Nichts.

Er:

C’etait ou?

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Und wo war es?

Sie: Dans un sac en plastic à la porte.

In einer Plastiktüte an der Tür.

Sie: Qu’est-ce qu’il y a?

Was ist denn?

Schließlich erfolgt ein Umschnitt und das Haus wird in einer Halbtotalen aus einer anderen Perspektive gezeigt. Ein Mann tritt aus der Tür, geht über die Straße, schaut suchend in die Richtung, die der Perspektive der vorherigen Einstellung entspricht. Es ist deutlich dunkler als in der vorherigen Einstellung, so dass von einem Zeitsprung ausgegangen werden muss.

Nachdem der Mann ins Haus zurückgekehrt ist, nimmt die Darstellung wieder die vorherige Perspektive ein und setzt die erste Einstellung fort – ein erneuter Zeitsprung, diesmal scheinbar entgegen der Chronologie, denn es ist wieder heller – und der Dialog wird weitergeführt. Während nun die Frau von einem Videoband spricht, treten plötzlich im Bild die typischen Streifen auf, die durch das Spulen eines Bandes entstehen. Das zuvor starre Bild erhält Bewegung, es wird vorgespult.

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 Erst dadurch wird markiert, dass hier unterschiedliche Darstellungsebenen miteinander gekreuzt wurden. Die starre Einstellung ist nicht der ‚Normalmodus‘ der Erzählung, sondern bereits Teil der Erzählung selbst. Die Zuschauer sehen das, was die beiden Charaktere, die sie hören, ebenfalls sehen. Das Videobild ist allerdings zunächst nicht als solches markiert, wodurch die Irritation entsteht. Denn nicht nur kann der kurze Dialog nicht sinnhaft eingeordnet werden, auch Tonspur und Bild passen nicht zueinander und lassen sich zunächst auch nicht zueinander in Beziehung setzen. Dass wir es bei dem auditiv Gegebenen mit der primären Erzählebene und bei dem visuell Gegebenen mit einer innerdiegetischen, einer SekundärEbene zu tun haben, wird erst im Nachhinein deutlich. Bei der eingeschobenen Einstellung handelt es sich entsprechend auch nicht nur um einen Perspektivwechsel oder Zeitsprung, sondern um einen Ebenenwechsel, der nun auch visuell die primäre Handlungsebene präsentiert und mit der auditiven Ebene zusammenführt. Entsprechend kann nun der Dialog auch mit dem Bild in Zusammenhang gebracht werden, denn die beiden Personen unterhalten sich über das Videoband, das gleichzeitig zu sehen ist und das ihr Haus zeigt. Was an dieser Eingangssequenz gezeigt wurde, gilt für den gesamten Film. Immer wieder wird durch das unmarkierte Wechseln der Erzählebenen Irritation erzeugt, so dass man sich als Zuschauer bei dem, was man gerade sieht, nie sicher sein kann, welcher Ebene es tatsächlich angehört. Durch diese Form der Brüche wird das Herstellen des Gesamtkontextes deutlich erschwert und die Zuschauer werden zu permanenter Aufmerksamkeit herausgefordert. Genau darin liegt die Funktion der Dekontextualisierung. Der Film problematisiert auf diese Weise das Thema Wahrnehmung und erzeugt durch die Instrumentalisierung von Leerstellen eine

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gesteigerte narrative Komplexität, die die Aufmerksamkeit der Zuschauer auf den Erzählprozess selbst lenkt. Ein Beispiel für eine Dekontextualisierung in Fernsehnarrationen bietet die Sitcom How I Met Your Mother (CBS seit 2005). Folge 5 der zweiten Staffel beginnt mit einer Szene (00:00 – 00:18), die ein zukünftiges Ereignis vorwegnimmt, um dann im Laufe der Episode sukzessive aufzuklären, wie es dazu kommen konnte. Gezeigt wird zunächst, wie die beiden befreundeten Charaktere Lily (Alyson Hannigan) und Barney (Neil Patrick Harris) in dessen Bett nebeneinander aufwachen und sich beide ob dieser Tatsache erschrecken. Die Situation hat offenbar eine Vorgeschichte, die jedoch zunächst unerzählt und damit unklar bleibt. Und auch das Kontextwissen der Zuschauer über die beiden beteiligten Charaktere kann nicht zu einer Einordnung dieser Situation beitragen. Die Szene ist dekontextualisiert und daher für die Zuschauer nicht interpretierbar. Sie erzeugt jedoch Konkretisationsaktivität. Die zunächst naheliegendste Hypothese wird jedoch vom Erzähler aus dem Off unmittelbar ausgeschlossen, indem er darauf hinweist, dass Alkohol beim Zustandekommen dieser Situation keine Rolle gespielt habe.

 Die Szene wird aus ihrem zeitlichen und narrativen Kontext herausgelöst und an den Anfang der Episode gestellt. Durch diese Vorausdeutung werden die Zuschauer aufgefordert, sich mögliche Ursachen und Kontexte selbst vorzustellen. Der Ausschluss des motivisch häufig eingesetzten Faktors Alkohol macht dabei das Zusammenkommen der beiden Charaktere noch unwahrscheinlicher und stellt eine größere Herausforderung an die Zuschauer dar. Während des Verlaufs der Episode können die Hypothesen

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permanent an die sukzessive vergebenen Informationen angepasst werden. Allerdings sind diese relativ spärlich und bieten keine Orientierungsmöglichkeiten, die das Gezeigte zu kontextualisieren erlauben. Diese Dekontextualisierung zu Beginn der Folge hat die Funktion einer Attraktion. Den Zuschauern wird suggeriert, dass es zu der nahezu unvorstellbaren Situation kommt, dass die beiden Charaktere Lily und Barney miteinander im Bett landen. Es wird Neugier darauf erzeugt, wie sich diese Situation narrativ legitimieren lässt. Die Leerstelle dient folglich als Köder, der bereits zu Beginn der Episode Aufmerksamkeit schaffen und die Zuschauer durch Neugier binden soll. Eine analoge Struktur, allerdings ohne die sexuelle Komponente, findet sich auch in anderen Folgen, so etwa in Episode drei der zweiten Staffel, in der zu Beginn die Konfliktsituation mehrerer Parteien gezeigt wird, deren Zustandekommen erst sukzessive, in drei Handlungssträngen, narrativ aufgelöst wird.

U NTERBRECHUNG Im Falle einer Unterbrechung handelt es sich um eine Leerstelle, die durch das Abbrechen einer Erzähleinheit entsteht, in der Regel, um sie zu einem späteren Zeitpunkt wieder aufzunehmen und fortzusetzen. Durch diesen Abbruch wird die Erzähleinheit als nicht abgeschlossen empfunden, was bei den Rezipienten das Bedürfnis nach Konkretisation weckt. Im Gegensatz zur Auslassung wird die relevante Information nicht vollständig vorenthalten, sondern ihre Preisgabe verzögert, so dass diese Art der Leerstelle ein rein dramaturgisch retardierendes Moment darstellt. Durch den Abbruch – zumeist an einer inhaltlich spannenden Stelle – ist die Unterbrechung für die Rezipienten sofort deutlich wahrnehmbar und erzeugt unmittelbar Konkretisationsaktivität. Diese Konkretisationen sind entsprechend nicht wie bei der Auslassung auf Vergangenes ausgerichtet, sondern prospektiv auf Zukünftiges. Unterbrechungen werden, das haben die theoretischen Ansätze nahe gelegt, im seriellen Erzählen besonders deutlich instrumentalisiert, indem die Narration nicht nur für wenige Minuten angehalten wird, sondern für einen Tag, eine Woche oder bis zum Beginn der neuen Staffel. Da es sich aber bei Unterbrechungen jeweils auch um eine Form von Brüchen in der Kontinuität des Erzählens handelt, sind sie auch in filmischen Narrationen durch-

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aus vorstellbar, etwa bei alternierendem Erzählen. Allerdings gilt auch hier, dass nur dann von Leerstellen gesprochen werden kann, wenn durch die Unterbrechung bedeutungsrelevante Informationen vorenthalten bzw. verzögert werden, was die Zuschauer zu eigenen Konkretisationen anregt. Sie wollen wissen, wie der jeweilige Handlungsstrang weitergeht, sie sind gespannt. Auch für die Unterbrechung gilt, dass sie auf der Ebene der Diegese sowie auch auf der Strukturebene auftreten kann. Unterbrechungen einzelner Sequenzen dienen durch ihre Alternanz häufig der Spannungssteigerung und werden in Form von Parallelmontagen instrumentalisiert, wie bereits in dem zur Auslassung dargestellten Beispiel aus The Lord of the Rings – The Fellowship of the Ring deutlich wird. Ein ähnliches Beispiel – ohne die Auslassung – bietet etwa der Film Jurassic Park (Steven Spielberg, 1993). Hier werden in einer Sequenz (1:32:00-1:39:00) zwei Vorgänge alternierend montiert, die miteinander in Verbindung stehen. In dem Vergnügungspark Jurassic Park sind durch einen Stromausfall alle Elektrozäune der Dinosauriergehege ausgefallen. Dr. Sattler (Laura Dern) macht sich auf den Weg, um die Stromversorgung wieder herzustellen und das Problem der Ausbruchsgefahr damit zu beheben. Gleichzeitig befindet sich eine kleine Gruppe von Charakteren – Dr. Grant (Sam Neill) mit den Kindern Tim (Joseph Mazzello) und Lex (Ariana Richards) – innerhalb eines der Dinosauriergehege. Sie treffen auf einen der großen Elektrozäune und stellen fest, dass dieser abgeschaltet ist. Da ihnen Gefahr in Form sich nähernder Dinosaurier droht, versuchen die drei, über den Zaun zu klettern. Weder sie wissen, dass Dr. Sattler zur gleichen Zeit versucht, die Stromversorgung wieder zu aktivieren, noch weiß diese, dass die drei Protagonisten zeitgleich versuchen, einen der Elektrozäune zu übersteigen. Jeder der beiden Handlungsstränge wird immer wieder unterbrochen, um den Erzählfokus auf den jeweils anderen zu legen. Die Schnittfrequenz wird schneller, je näher die einzelnen Stränge ihrem Ziel kommen. Dadurch entstehen Leerstellen für die Zuschauer, die nun zwangsläufig Hypothesen entwickeln, wie es wohl bei dem jeweils unterbrochenen Strang weitergehen mag. Wird es gelingen, die Stromversorgung wieder herzustellen? Schaffen es die drei Akteure noch rechtzeitig über den Zaun bevor entweder die Dinosaurier sie erwischen oder der Strom wieder einsetzt? Mit dem Anschalten des Stroms und der gleichzeitig bereits abgeschlossenen Überquerung des Zaunes ist die Leerstelle schließlich gefüllt und die

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Hypothesen der Zuschauer werden bestätigt oder widerlegt. Die Parallelmontage findet ebenso ihr Ende und neue Handlungsstränge setzen ein. Die Leerstellen dieser Art sind also nur von Relevanz für einen kurzen Zeitraum und szenenbestimmend. Während die Reichweite der Leerstellen in diesem Fall auf eine Dauer weniger Minuten bis Sekunden beschränkt ist, können solche wiederholten Unterbrechungen auch umfangreicher und über die gesamte Narration ausgedehnt auftreten. In Hitchcocks Strangers on a Train (1951) etwa ergeben sich aus einer anfänglichen Begegnung der beiden Haupthandlungsträger zwei Erzählstränge, die alternierend weitergeführt werden und auch immer wieder zusammentreffen. Die Schlusssequenz mit den leerstellenhaften Unterbrechungen wird hier über zwanzig Minuten ausgedehnt, in denen die Zuschauer zu Eigenaktivität herausgefordert werden und Hypothesen konkretisieren. Im letzten Teil von Peter Jacksons Ring-Trilogie The Lord of the Rings – the Return of the King (Peter Jackson, 2003) wird es Aufgrund der Vielzahl der relevanten Charaktere, die sich an unterschiedlichen Orten befinden, fast über den gesamten Film hinweg erforderlich, alternierend zu erzählen. Um alle Schauplätze erzählerisch abdecken zu können, ist es nötig, den Narrationsfluss regelmäßig zu unterbrechen und immer wieder den Fokus zu wechseln. Phasenweise werden so bis zu vier aktuelle Handlungsstränge parallel verfolgt, wobei die Unterbrechungen – die nicht selten in besonders dramatischen Handlungsmomenten stattfinden – dafür sorgen, dass Spannung entsteht und keiner der Stränge als irrelevant betrachtet wird oder in Vergessenheit gerät, selbst wenn er länger nicht im Fokus steht. Durch die Unterbrechung wird die Auflösung der Spannung verzögert und das Geschehen dramatisiert. Auf diese Weise werden auch Aspekte, die gerade nicht erzählt werden, präsent gehalten. Die Zuschauer wollen wissen, wie es an den jeweiligen anderen Orten mit den anderen Charakteren wietergeht, und werden in ihrer Konkretisationsaktivität stimuliert. Die Zuschauer denken die unterbrochenen Stränge weiter und schließen die durch das Cross Cutting geöffnete Lücke. Die Unterbrechungen bestimmen dadurch die narrative Struktur grundlegend. Geradezu konstitutiv ist diese Art der Leerstellen für manche Episodenfilme, wie Short Cuts (Robert Altman, 1993) oder Crash (Paul Haggis, 2004), die die Unterbrechung zu ihrem Erzählprinzip machen. Die einzelnen Episoden sind weitgehend unabhängig voneinander und nur durch minimale Berührungspunkte latent miteinander verknüpft. Dabei sind die

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Unterbrechungen seltener auf das Erzeugen kurzfristiger Spannung oder die Dramatisierung und Verzögerung des Gezeigten ausgelegt, sondern dienen überwiegend der Dynamisierung der alternierend erzählten Episoden. Daraus resultiert eine nicht szenenbezogene, sondern final ausgerichtete Gespanntheit der Zuschauer, die sich einerseits fragen, wie sich die Konflikte der einzelnen Protagonisten oder Protagonistencluster zum Ende hin lösen werden, und gleichzeitig rätseln, wie sich die einzelnen Episoden miteinander verknüpfen lassen. Diese übergreifende Gesamtbedeutung der einzelnen Geschichten müssen die Zuschauer dann letztendlich aus dem Gezeigten (und dem Nichtgezeigten, Konkretisierten) selbst entwerfen. Die Fragmentierung des multicharakteralen Erzählens in verschiedene Geschichten und kurze Segmente eröffnet die Möglichkeit vielfältiger potentieller Verknüpfungspunkte der unterschiedlichen Stränge. Dadurch ergeben sich Leerstellen, die den spezifischen Reiz dieser Filme ausmachen und die die Rezipienten zur Mitarbeit herausfordern und dazu aktivieren, eine übergeordnete Kohärenz herzustellen und die räumlichen, zeitlichen und interpersonellen Zusammenhänge zu konkretisieren. Dass Unterbrechungen für das televisuelle Erzählen zentral sind, hat sich bereits in den theoretischen Reflexionen gezeigt. Ähnlich der bereits geschilderten Struktur in The Return oft he Ring wird auch in Lost durch gezielte Unterbrechungen der Fokus der Narration auf unterschiedliche Protagonistengruppen, Orte und Zeiten aufgesplittet und diese spannend und präsent gehalten. Veranschaulichen lässt sich die spezifische Instrumentalisierung von Unterbrechungen zu dramaturgischen Zwecken im Kontext von fernsehspezifischen Werbeunterbrechungen an der Serie 24 (Fox, 2001-2010). In Episode 2 der ersten Staffel wird vor der ersten Werbepause zunächst inhaltlich Spannung erzeugt und diese schließlich durch die Unterbrechung verstärkt. Der Hauptcharakter Jack Bauer (Kiefer Sutherland) ist Leiter einer Spezialeinheit (Counter Terrorist Unit) und damit beauftragt, einen geplanten Anschlag auf den Senator zu verhindern. In seinem Büro erhält er den Anruf seines Vorgesetzten Richard Walsh (Michael O’Neill), der während eines Treffens mit einem Informanten unter Beschuss geraten ist. In Splitscreen wird das Gespräch wiedergegeben, in dem Walsh (rechtes Teilbild) Jack (linkes Teilbild) kurz über die Situation informiert und ihn um Hilfe bittet (Still 12:09).

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 Dann fällt ein Schuss und das rechte Teilbild wird schwarz. Das Gespräch mit Walsh ist dadurch beendet, dieser reagiert nicht mehr auf Jacks Nachfragen und das Bild korrespondiert mit dem Abbruch der Telefonverbindung (Still 12:28).

 Die Szene endet mit der nächsten Einstellung, in der Jack aus seinem Büro eilt, und die Werbeunterbrechung setzt mit dem für die Serie typischen Einblenden der Uhrzeit ein, die Echtzeit simuliert. Die Unterbrechung wird in diesem Fall gezielt genutzt, um die inhaltliche Spannung, die aus der Bedrohung Walshs resultiert, formal zu steigern. Die Zuschauer erhalten ausreichend Informationen, um sich ein Gefahrenszenario konkretisieren zu können, jedoch wird die Auflösung dieser Spannung durch die Werbepause über knapp fünf Minuten verzögert (und anschließend erneut um sechs Minuten, während denen Jack unterwegs zu Walsh ist und andere Handlungsstränge gezeigt werden). Die so eingesetzte Unterbrechung generiert Spannung, die die Aufmerksamkeit der Zuschauer über die Werbepause

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hinweg bindet. Auch hier schlägt sich die Leerstelle in der narrativen Struktur nieder – ist also kein reines Oberflächenphänomen.

D ARSTELLUNGSLEERE Paradoxerweise lässt sich nicht nur die Abwesenheit von Information, also die Nicht-Darstellung als Leere beschreiben, sondern es kann umgekehrt auch die Nicht-Abwesenheit von Information, das Fehlen des Fehlens als Leerstelle verstanden werden. Unter die Kategorie der Darstellungsleere fallen entsprechend solche Phänomene, die sich durch eine übermäßig ausführliche Darstellungen, das extensive Vorführen von Informationsleere oder Redundanz charakterisieren. Hier wird gerade nicht – wie in der Regel üblich – das Banale, Langweilige, narrativ Irrelevante in Form einer Ellipse ausgelassen, sondern im Gegenteil ausgiebig präsentiert. Diese strukturelle Reduziertheit und der ästhetische Minimalismus geben den Zuschauern einen ausgedehnten Raum für eigene Überlegungen. Die Darstellungsleere ist in der Regel kein Phänomen, das isoliert in einer Szene des Films auftritt, wie etwa bei den Auslassungen oder Unbestimmtheiten exemplarisch gezeigt wurde, sondern sie hängt häufig untrennbar mit dem Rhythmus des Erzählens zusammen und ist deshalb eher als szenenübergreifendes, strukturelles Leerstellenphänomen zu verstehen. Dadurch kann sie, worauf Liptay in Bezug auf Leerstellen allgemein hinweist, zu einem „Stilmerkmal [werden], das der Regisseur für seine Erzählabsicht instrumentalisiert.“ (Liptay 2006: 110) Beispiele für ausgeprägte Darstellungsleere finden sich etwa in den Filmen Yasujiro Ozus, Aki Kaurismäkis und Jacques Tatis, in Andrei Tarkovskys Stalker (1997) oder in Jim Jarmuschs Limits of Control (2009). In der ersten Szene aus Play Time (Jacques Tati, 1967) wird in zwei Einstellungen (0:03:06-0:05:20) das Geschehen in einem großen, öffentlichen Innenraum gezeigt. Die Ausgestaltung des Raumes ist äußerst steril und in Grautönen gehalten, verschiedene Menschen kommen und gehen, ohne dass ‚etwas passiert‘. Über zwei Minuten lang werden die Zuschauer mit dieser Szene alleine gelassen. Das Nicht-Erzählen, der Mangel an Handlung und verwertbarer Information über diesen relativ langen Zeitraum hinweg ist ein Angebot, eigene Imaginationen zu entwickeln: Was ist das für ein Ort? Was machen die Menschen dort? Ist einer der zahlreichen

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Passanten Handlungsträger? Wann wird etwas passieren, was wird passieren?



 Play Time ist insgesamt ästhetisch stark durch diese Art der Darstellungsleere geprägt und die entleeren Räume und die Ereignislosigkeit stehen in deutlichem Kontrast zur Opulenz anderer Filme. Gerade dadurch wird allerdings die Aktivität der Zuschauer beim Rezeptionsprozess herausgefordert. Sie sind dadurch permanent auf der Suche nach Hinweisen – oder dem Hauptcharakter Monsieur Hulot (Jacques Tati) – und bleiben aufmerksam. Eine einfache, konsumierende Rezeptionshaltung wird durch die ausgedehnte Darstellungsleere nahezu verweigert. Eine etwas anders ausgestaltete Darstellungsleere, jedoch mit vergleichbarer Wirkung, findet sich in Jim Jarmuschs Film Limits of Control (2009), der weniger über den Minimalismus der Ästhetik wirkt, als vielmehr über die Reduziertheit in der Handlung und die starke Redundanz. Der Hauptcharakter (Isaach De Bankolé), der ebenso wie alle anderen Figuren namen-

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los bleibt, hat einen Auftrag zu erledigen. Worum es sich dabei handelt, erfährt der Zuschauer nicht. Auf seiner Reise durch Spanien trifft dieser ‚lone man‘ auf einige durchaus merkwürdige Charaktere – alle mit Hut und Sonnenbrille –, die geheime Botschaften für ihn bereit halten. Die Gespräche mit diesen Charakteren laufen dabei immer nach dem gleichen Muster ab, sind also hoch redundant, und bleiben für die Zuschauer rätselhaft unverständlich. Sie finden immer in Cafés statt, in denen der ‚lone man‘ sich zwei Espressi, in zwei Tassen serviert, bestellt und beginnen mit der Frage danach, ob der ‚lone man‘ Spanisch spreche (Stills 0:33:12, 01:05:16 und

01:19:13).6





6

Zur Verdeutlichung wurden bei den Stills zusätzlich die Untertitel eingeblendet.

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 Aber nicht nur die Dialoge selbst wiederholen sich, auch die Handlungen des Hauptcharakters – er zieht sich an, besucht ein Museum, wartet, etc. – und die Motive sind wiederkehrende und zeitlich stark ausgedehnt dargestellte Momente, die zur ausgeprägten Leerstellenhaftigkeit des Filmes beitragen. Auch im Beispiel von The Limits of Control bewirkt die Darstellungsleere das Gefühl von Informationslosigkeit und Mangel an Orientierungsmöglichkeiten. Die Ereignislosigkeit des Films ist angefüllt mit darstellungsleeren Szenen. Der Film bleibt insgesamt kryptisch und die Zuschauer müssen ihre Konkretisationen an diesen geringen, redundanten Informationen orientieren, um ihre Hypothesen auszubilden. Die Darstellungsleere wirkt irritierend und provoziert das Auffüllen der Leerstelle durch eigene Konkretisationen. Nur durch die aktive Mitarbeit kann die Bedeutung des Filmes – der Themen wie Einsamkeit, Realität und Wahrnehmung thematisiert – wenigstens teilweise erschlossen werden. Aufgrund des tendenziell gesamtstrukturellen Charakters der Kategorie Darstellungsleere ist sie insgesamt deutlich weniger vertreten als die übrigen Kategorien. Dies gilt für Filme, insbesondere aber auch für Fernsehnarrative. Eine seltene Ausnahme für ein Beispiel televisueller Darstellungsleere bietet der Werbespot der Firma Wrigley, der zwar nicht in den hier relevanten Bereich des fiktionalen Erzählens fällt, der aufgrund seiner Sonderstellung dennoch kurz angeführt werden soll. Der Spot für Orbit Balance-Kaugummis instrumentalisiert Darstellungsleere, um sich markant von anderen Spots abzugrenzen und dadurch Aufmerksamkeit zu erzeugen. Es handelt sich um einen 20sekündigen Spot, der nur aus einer einzigen Einstellung besteht.

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 Zu Beginn der Einstellung ist eine rund ausgeleuchtete, grüne Fläche zu sehen. Nach zwei Sekunden wird eine weiße Schrift eingeblendet: „Ein Moment der Ruhe.“ Nach weiteren vier Sekunden wird die Schrift wieder ausgeblendet und man sieht erneut die rund beleuchtete grüne Fläche für wiederum zwei Sekunden. Während dieser ersten zehn Sekunden des Spots sind weder Musik noch Sprache oder Geräusche zu hören, wodurch der Spot schon rein akustisch aus dem Flow des ihn umgebenden Werbeblocks heraussticht. Dadurch werden selbst Zuschauer erreicht, die vielleicht gerade nicht auf den Fernsehschirm schauen und die sich nun wundern, warum nichts zu hören ist, denn zehn Sekunden Stille sind während eines laufenden Werbeblocks durchaus bemerkenswert. Die Darstellungsleere erstreckt sich jedoch nicht nur auf die akustische Ebene, sondern auch auf die visuelle. Während in anderen Spots eine relativ hohe Schnittfrequenz mit häufig wechselnden Szenen und Perspektiven dominiert, wird hier eine einzelne Einstellung benutzt, um zehn Sekunden lang eine grüne Fläche, also ein deutlich informationsreduziertes Bild zu präsentieren. Eine Werbebotschaft oder ein Hinweis auf das zu bewerbende Produkt fehlen. Dieser Minimalismus wirkt zwangsläufig irritierend und stellt die Zuschauer vor die Frage, was sie da gerade sehen. Nach der ersten Hälfte des Spots verändert sich die ‚Narration‘ und der Werbecharakter tritt hervor.

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 Die nun einsetzende Musik ist langsam und wirkt sehr harmonisch, passend zu dem Motto ‚Ruhe‘. Zugleich wird das Produkt eingeblendet, eine Packung Orbit Balance-Kaugummis. Diese Einblendung bleibt für zehn Sekunden stehen, lediglich der Schriftzug „Ein Moment für Dich“ wird ersetzt durch „Genießen und Wohlfühlen“. Die eingeblendeten Sätze suggerieren den Zuschauern, dass dieser „Moment der Ruhe“ während des Orbit-Spots extra für sie, die Zuschauer, geschaffen worden sei, um sich von der lauten, aufdringlichen Musik und den schnellen, hektischen Schnitten der anderen Spots zu erholen und dass dieser „Moment der Ruhe“ allein zum „Genießen und Wohlfühlen“ bestimmt, also frei von jeglicher Werbeabsicht sei. Gleichzeitig wird die positive Atmosphäre des Spots in seinem Kontext innerhalb eines Werbeblocks auch auf das zu bewerbende Produkt übertragen. Der Spot vermittelt den Eindruck, der Konsum des Kaugummis schaffe auch im turbulenten Alltag einen „Moment der Ruhe“. Durch diese Darstellung und den Einsatz der Leerstelle als ästhetische Kategorie fühlen die Zuschauer sich direkt von dem Spot angesprochen und als Zuschauer bzw. als Kommunikationspartner bestätigt. Den Zuschauern wird durch die ausgedehnte Darstellungsleere ein Freiraum für eigene Konkretisationen gelassen. Zu Beginn des Spots können sie eigene Hypothesen entwickeln, was die grüne Fläche bedeuten mag, ob noch etwas passieren wird und ob es sich überhaupt um einen Werbespot handelt, und wenn ja um welche Art von Spot und für welches Produkt. Die fehlende Darstellung – visuell wie akustisch – zieht die Aufmerksamkeit der Rezipienten (zurück) auf den Fernseher und weckt ihre Neugier. Das Image des Kaugummis wird selbst- und auch medienreflexiv in diesen Spot überführt, der sich durch die Darstellungsleere von den schnellen und schrillen Werbebotschaften anderer Spots abgrenzt und dadurch nicht nur Aufmerksamkeit

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für das Produkt schafft, sondern auch eine direkte Ansprache der Zuschauer darstellt. Damit wird eine Differenz zu der Reizüberflutung des umgebenden Werbeblocks erzeugt, ein kurzer Moment der ‚Entschleunigung‘. Es entsteht also eine Kongruenz zwischen beworbenem Produkt und medialer Umsetzung des Spots auf der formalen Ebene.

E RGEBNIS Die behandelten Beispiele bieten Hinweise darauf, dass mit Hilfe der entwickelten Leerstellenkategorien einige bekannte narrative Phänomene gebündelt und systematisiert werden können. Die folgende Tabelle bietet noch einmal einen skizzierenden Überblick über die fünf herausgearbeiteten Leerstellenkategorien sowie ihre Spezifika: Kategorie

Merkmale

Unbestimmtheit

Partialität der vorhandenen Information

Auslassung

völliges Fehlen von Relevantem zu einem gewissen Zeitpunkt der Erzählung Widersprüchliches oder Unzusammenhängendes muss durch die Rezipienten in einen sinnhaften Zusammenhang gebracht werden Abbruch einer noch nicht als abgeschlossen empfundenen Erzähleinheit (in der Regel zu einem späteren Zeitpunkt fortgeführt) Extensive Darstellung von Nicht-Information

Dekontextualisierung

Unterbrechung

Darstellungsleere

Anhand der Beispiele konnten nicht nur die theoretisch konzipierten Kategorien veranschaulicht, sondern auch gezeigt werden, dass Leerstellen über ihre Instrumentalisierung in einzelnen Szenen hinaus auch Bedeutung für die Gesamtstruktur der Narration haben und für die Sinnerzeugung konstitutiv sein können. Wenn hier von Struktur die Rede ist, meint dies zunächst ganz basal den inneren Aufbau, die Anordnung oder „die Menge der Relationen zwischen den Elementen eines Systems“ (Krah 1998: 511). Die nähere Betrachtung dieser Struktur soll die zugrundeliegende Ordnung, die innere Logik eines Systems, d.h. hier also eines Textes, sichtbar werden

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lassen. Ein so verstandener Strukturbegriff geht also entsprechend davon aus, „daß es sich beim untersuchten Objekt um eine Komposition handelt, bei der alle Teile aufeinander bezogen sind.“ (Faulstich 2004: 192) Neben der manifesten Handlung können über die Leerstellen auf dieser Strukturebene dadurch auch latente Bedeutungen transportiert werden, wie bereits ansatzweise gezeigt werden konnte. Es handelt sich hierbei also um Zusammenhänge, die üblicherweise in der einfachen, alltäglichen Rezeption wenig evident werden, die sich aber durchaus in der Wirkung niederschlagen. Entsprechend ihrer sturkturellen Bedeutung sind Leerstellen damit interdependent in ein System von Beziehungen eingebettet und wirken sich maßgeblich auf das Produkt, seine Rezeption, seine Aussage und seine Bedeutung aus. Daraus folgt die Relevanz der Kategorie Leerstelle auch für die Analyse. Dies soll nun entsprechend belegt werden durch eine umfassende Analyse filmischer sowie televisueller Narrationen.

VI. Leerstellen im filmischen Erzählen

Bereits anhand der theoretischen Texte hat sich gezeigt, dass Leerstellen auch für das filmische Erzählen ästhetisch relevant sein können. Dass sich für alle auf dieser Basis weiterentwickelten Kategorien filmische Beispiele haben finden lassen, bestätigt diesen ersten Eindruck. An der ausführlicheren Analyse zweier Filme soll nun exemplarisch nachgewiesen werden, dass Leerstellen in ihrer Ausdifferenzierung nicht nur ästhetisch relevant, sondern dass sie strukturell bedeutungstragend sind. Als Grundlage für die Analyse dienen zwei Filme, anhand derer die Funktionalisierung1 von Leerstellen besonders deutlich gemacht werden kann: Twelve Monkeys und Vantage Point. Beide Filme entstammen dem kommerziellen Mainstream-Kino, brechen gleichzeitig aber auch mit klassischen Narrationsschemata, woraus sich eine leerstellenspezifische Dialektik aus Informationsvergabe und Informationsentzug ergibt, aus der heraus die Bedeutungskonstitution erfolgt.

1

Wenn hier und im Folgenden von einer Funktionalisierung oder dem Einsatz von Leerstellen gesprochen wird, so ist damit nicht zwangsläufig eine intendierte Entscheidung für das Konzept Leerstelle auf Produzentenseite gemeint, sondern dieser Instrumentalisierungsprozess ist vielmehr als eine intendierte Entscheidung für ein bestimmtes ästhetisches Verfahren zu verstehen, das in der Analyse dann als Leerstelle identifiziert werden kann.

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T WELVE M ONKEYS Bei Twelve Monkeys handelt es sich um einen Science-Fiction-Film von Terry Gilliam aus dem Jahr 1995. Obwohl der Film nicht genuin unzuverlässig erzählt, stellt er doch immer wieder die Frage danach, ob man als Zuschauer dem Protagonisten trauen kann, denn mittels der Leerstellen wird gezielt offen gelassen, ob die Hauptfigur tatsächlich ein Zeitreisender oder doch ein halluzinierender Schizophrener ist, was eine tiefe Verunsicherung bei den Zuschauern erzeugt. Durch diese starke Ambiguität und das mehrfache Springen zwischen mehreren Zeitebenen wird die Narration sehr komplex, fast labyrinthisch. Inhalt Der Film Twelve Monkeys entstand im Jahr 1995 und ist in einer dystopischen, postapokalyptischen Zukunft angesiedelt.2 Durch den Ausbruch eines tödlichen Virus im Jahr 1997 wurden 90% der Menschheit ausgerottet, der verbleibende Rest lebt unter der Erdoberfläche in einer totalitären Gesellschaft unter der Herrschaft von bizarr anmutenden Wissenschaftlern. Hauptcharakter ist der Sträfling James Cole (Bruce Willis), der den Auftrag erhält, in die Vergangenheit zu reisen und Informationen über das Virus zu sammeln. Er wird insgesamt dreimal in der Zeit zurück geschickt und „die Erzählung folgt in der Regel dem Weg seines Körpers durch die Zeit“3 (Krützen 2010: 304).

2

Eine konkrete Zeitangabe, wann diese Zukunft ist, wird im Film selbst nicht gegeben. Über das Alter des Hauptcharakters, der im Jahr 1996 etwa 10 Jahre alt ist, lässt sich die Zukunft etwa auf 2025-2030 schätzen; Smith (o.J.) spricht von 2020, Dettmar (2003) von 2025, Krützen (2010), Busse (2000) und Seeßlen (1996) gehen von 2035 aus.

3

Einzige Ausnahme dazu bildet der Beginn des dritten Aktes und ist der Liebesgeschichte zwischen Cole und Railly geschuldet. Da beide sich in unterschiedlichen Zeiten befinden, werden hier kurzzeitig zwei Handlungsstränge parallel verfolgt. Diese Parallelmontage erfolgt nach ganz klassischen narrativen Schemata, als seien die beiden Protagonisten nicht zeitlich, sondern räumlich voneinander getrennt. (vgl. Krützen 2010: 306f) Abweichend von Krützen wird diese

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Bei seiner ersten Reise in das Jahr 1990 trifft er auf die Psychiaterin Kathryn Railly (Madeleine Stowe), die den verwirrt wirkenden Cole zunächst in eine psychiatrische Klinik überstellt, wo er den Mitpatienten Jeffrey Goines (Brad Pitt) kennen lernt. Durch die Äußerungen Coles, der fälschlicherweise die ‚Armee der Twelve Monkeys‘ für die Urheber des Virus in der Zukunft hält, wird Goines nach seiner Entlassung aus der Anstalt dazu inspiriert, eine gleichnamige Gruppierung zu gründen. Ihm geht es jedoch nicht um das Freisetzen eines Virus, sondern um das Retten von Tieren aus Versuchslaboren. Auf diese Weise setzt Cole selbst in der Vergangenheit des Jahres 1990 unbewusst eine Handlungskette in Gang, die wenige Jahre später zur Gründung der ‚Armee der Twelve Monkeys‘ führt, zu deren Auskundschaftung er in der Zukunft ausgeschickt wurde. Nach Coles kurzzeitiger Rückkehr in die Zukunft wird er erneut zurückteleportiert, diesmal in das Jahr 1996. Zusammen mit Railly, die er zunächst entführt, die ihm aber sukzessive mehr Glauben schenkt, macht sich Cole erneut auf die Suche nach der ‚Armee der Twelve Monkeys‘.4 Durch ein Gespräch mit Goines wird Cole nun jedoch bewusst, dass er selbst die Gründung der Armee initiiert hat. Er glaubt entsprechend, selbst für den Ausbruch des Virus verantwortlich zu sein. Dies führt bei Cole dazu, dass er nun seinerseits an seinem Verstand zu zweifeln beginnt und hofft, tatsächlich verrückt zu sein. Nach einer weiteren Reise in die Zukunft kehrt Cole schließlich – nach einem kurzen, versehentlichen Zwischenstopp im ersten Weltkrieg – erneut in das Jahr 1996 zurück. Er und Railly planen, gemeinsam in Florida unterzutauchen. Auf dem Weg zum Flughafen erkennen sie, dass Goines und die ‚Armee der Twelve Monkeys‘ nicht für den Ausbruch des Virus verantwortlich sind, was auch Cole von seiner Schuld entlastet. Im Flughafen kommt es letztlich zum Showdown. Beim Versuch, einen – relativ unvermittelt auftretenden – Wissenschaftler mit dem Virus aufzuhalten, wird Cole von einem Polizisten erschossen. Als der Wissenschaftler im Epilog das Flugzeug besteigt, um das Virus in der ganzen Welt zu verteilen, sitzt

Sequenz hier allerdings nicht mehr dem zweiten, sondern bereits dem dritten Akt zugerechnet. 4

Das zunehmende Vertrauen von Railly in Cole ist durchweg medienvermittelt. Es entsteht durch Radio- und Fernsehberichte, die er voraussagt und durch eine alte Fotografie, auf der er zu sehen ist.

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neben ihm eine Frau, die die Zuschauer als ein Mitglied des Forscherteams der Zukunft wiedererkennen. Daraus wird deutlich, dass es Cole vor seinem Tod noch gelungen ist, die relevante Information per Telefon in die Zukunft zu übermitteln: die ‚Twelve Monkeys‘ sind nicht die Urheber des Virus. Das Auftreten der Wissenschaftlerin lässt ein letztes Mal Hoffnung aufkeimen und schwächt die Dramatik des Endes ab. Jedoch ist klar, dass sie die Virenkatastrophe nicht verhindern kann, denn dies ist zum einen nicht möglich, denn – so eine Prämisse des Films – die Vergangenheit kann nicht verändert werden, und zum zweiten vermutlich auch nicht im Sinne der zukünftigen Wissenschaftler, deren status quo als herrschende Elite auf dem Virenausbruch beruht. Durch eine Probe des Virus und dessen Erforschung besteht jedoch die Möglichkeit einer Rückkehr der Überlebenden an die Erdoberfläche.5 Struktur Analog zu den Zeitreisen, die Cole unternimmt, lässt sich eine klassische Dreiaktstruktur feststellen, mit einer Exposition, während der die drei zentralen Figuren Cole, Railly und Goines in ihren jeweiligen Lebens- bzw. Zeitkontexten vorgestellt werden und einander begegnen sowie die Option der Zeitreise eingeführt wird, einem Hauptteil, in dem die dominanten Konflikte und Konfrontationen verhandelt werden, in dem aber auch die Liebesgeschichte beginnt, und einem dritten Akt, in dem die Handlung sukzessive auf die finale Auflösung hingeführt wird. Dabei ist die zeitliche Aufteilung der drei Akte relativ ausgeglichen, mit einer leichten Ausdehnung des letzten Aktes. Dass die Exposition damit deutlich länger ist, als „das sonst gebräuchliche Viertel der Erzählzeit“ (Krützen 2010: 307), erklärt Krützen durch die genretypische Notwendigkeit, mehrere unterschiedliche Zeitebenen sowie die Möglichkeit der diese verbindenen Zeitreise zu etablieren, d.h. die diegetische Welt mit ihren Grundbedingungen muss umfassend erklärt werden.

5

Tanja Busse vermutet jedoch, dass die Wissenschaftlerin durchaus auch mit dem verrückten Wissenschaftler „unter einer Decke“ (Busse 2000: 169) stecken könnte und verweist darauf, dass diese Frage unbeantwortet bleibt.

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Akt Erster Akt Exposition Zweiter Akt Spannungsaufbau

0:37:38

Dritter Akt Retardierung & Auflösung

Zeitebene der

Dauer

0:36:18

0:45:33

0:32:34 0:12:59

151

Handlung 0:01:28

1990

0:08:24

Zukunft

0:26:08

1990

0:05:12

Zukunft

0:01:03

1. Weltkrieg

0:31:23

Nov. 1996

0:15:39

Cole in der Zukunft Railly in 1996

0:16:55

1996 Flucht

0:12:59

1996 Showdown

Der Film wird grundlegend strukturiert durch zwei Merkmale: desorientierende Zeitsprünge einerseits und die fragliche Zuverlässigkeit des Protagonisten andererseits. Wie bereits dargestellt wurde, reist der Hauptcharakter mehrfach durch die Zeit, woraus sich zunächst der Eindruck einer zirkulären Zeitstruktur ergibt. Hierfür ist maßgeblich eine Szene verantwortlich, in der der Protagonist Cole doppelt auftritt. Als kleiner Junge ist er 1996 mit seinen Eltern am Flughafen und sieht mit an, wie sein erwachsenes Alter Ego aus der Zukunft erschossen wird. Die Positionierung dieser Szene sowohl zu Beginn wie auch ihre Wiederholung und Fortführung am Ende des Films führen „zu einem gedanklichen Kurzschluss“ (Krützen 2010: 320), der in der Annahme resultiert, es handele sich um einen Zeitschleife. Gleichzeitig folgt das Erzählen allerdings dem Hauptcharakter Cole, dessen Leben rein linear verläuft und mit seinem Tod – unabhängig davon, ob er sich selbst unwissentlich dabei beobachtet. „Mit anderen Worten: Cole befindet sich nicht in einem time loop, aber die Zuschauer konstruieren eine Schleife, indem sie die weitere Entwicklung des kleinen Cole ‚vorvollziehen‘. Den Zirkel gibt es nicht in Coles Leben; er entsteht nur in der Vorstellung des Betrachters.“ (Krützen 2010: 321). Die Zeit stellt dabei für Cole ein unentrinnbares System dar, aus dem es kein Entkommen gibt. Dies wird visualisiert durch eine Vielzahl an Chiffren wie etwa die Kette düsterer, klaustrophobischer, typisch ‚gilliamesker‘ Räume und Röhrensysteme, das Gefangensein Coles in den totalen Institutionen Gefängnis und Psychiatrie, deren Macht- und Überwachungsstrukturen er – zur visuellen Verstärkung zudem mehrfach gänzlich entblößt bzw. in transparenter Kleidung – voll-

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ständig unterworfen ist, oder auch die Häufung an runden Gegenständen, die die Geschlossenheit und Unentrinnbarkeit dieses Systems verdeutlichen. Dieser komplexe Verbund aus omnipräsenten Gitterstrukturen und Kreisformen wird durch zahlreiche Groß- und Nahaufnahmen unterstützt, die den Eindruck der Enge und eingeschränkten (Handlungs-)Freiheit verstärken. Das Eingeschlossensein Cole ist häufig durch Gitter hindurch zu sehen (Still 0:11:35). Der Schatten des Gitters auf Coles Gesicht verstärkt den Eindruck des Eingesperrtseins (Still 0:02:12).



 Das Zirkuläre Häufung runder Formen (Still 0:03:56) und Gegenstände – hier exemplarisch auf dem Tisch der Psychiater (Still 0:21:22).

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 Das Ausgeliefertsein Sowohl in der Vergangenheit, z.B. bei der Einlieferung in die Klinik (Still 0:14:48), als auch in der Zukunft, etwa durch den ‚TV Ball‘ der Wissenschaftler (Still 0:40:07).



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 Trotz der hohen Mobilität Coles in der Zeit bleibt er letztlich doch Gefangener des geschlossenen Systems und es wird mehrfach darauf verwiesen, dass ein Verändern der Vergangenheit nicht möglich ist. Auf diese Weise werden zirkuläre und wiederkehrende Elemente, die den oberflächlichen Zeitschleifencharakter betonen und die Möglichkeit einer Flucht dadurch immer präsent halten, kombiniert mit linearen Elementen, die diese wiederum unterlaufen und die Unentweichbarkeit der starren temporalen Struktur hervorheben, die letztlich auch Coles Fluchtversuch scheitern lässt. Auch die fragwürdige Zuverlässigkeit des Protagonisten Cole wirkt sich maßgeblich auf die Erzählweise aus. Cole ist die Hauptfigur, er bildet entsprechend „nicht nur das Handlungszentrum, sondern darüber hinaus das Interessenzentrum und die Perspektivierungsinstanz der Geschichte.“ (Eder 2008: 470) Den Zuschauern wird nicht nur die Perspektive auf die Figur, sondern regelmäßig auch die Perspektive mit der Figur präsentiert. (Vgl. Eder 2008: 595ff) Neben den Point of View Shots, die Coles Blick vermitteln, erhalten die Zuschauer zudem Einsicht in seinen wiederkehrenden Traum, was ihn deutlich von den anderen Figuren abhebt und ihn für die Anteilnahme der Zuschauer prädestiniert. Gleichzeitig besteht aufgrund des fragwürdigen mentalen Zustandes Coles über weite Teile des Films die Möglichkeit einer unzuverlässigen Perspektivierung. Es handelt sich dabei nicht um unzuverlässiges Erzählen, denn die potentielle Unzuverlässigkeit wird für die Zuschauer deutlich markiert. Sie werden nicht getäuscht oder zu falschen Annahmen verleitet, sondern offensiv mit der Ambiguität des Geschehens konfrontiert. Aus dem Zweifel am Protagonisten resultiert eine Distanz zu dem Charakter, die mit der oben beschriebenen Tendenz zur Anteilnahme kollidiert, woraus sich eine Ambivalenz ergibt, die es im Verlauf des Films aufzulösen gilt. Die

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Zuschauer müssen sich entscheiden, ob sie den Signalen der Charakterisierung Coles durch die narrative Instanz trauen oder den Signalen der Fremdcharakterisierung durch andere Charaktere, wie insbesondere Railly und die verschiedenen Wissenschaftler. Beide zentralen Merkmale – die brüchige, uneindeutige Zeitstruktur sowie die Ambivalenz hinsichtlich Coles psychischer Gesundheit – werden konstruiert und bestimmt durch eine Vielzahl an Leerstellen, durch die die für den Film spezifische narrative Komplexität und damit einhergehend die basale Verunsicherung und Orientierungslosigkeit der Zuschauer erzeugt werden. Besonders intensiv ist der Leerstellengebrauch entsprechend in den ersten beiden Akten, die Frequenz nimmt zur Auflösung hin deutlich ab. Funktionalisierung der Leerstellen Leerstellen treten in Twelve Monkeys strukturell dort auf, wo zwischen den Zeitebenen gewechselt wird. Sie übernehmen dabei im Wesentlichen zwei Funktionen: Erzeugen von Irritation zum einen und Verbergen von Information zum anderen. Während das irritierende Moment insbesondere durch Dekontextualisierungen erzeugt wird, werden entscheidende Informationen mittels Auslassungen verborgen. Daneben kommen auch Unterbrechungen und Unbestimmtheiten zum Einsatz, um die Effekte dieser beiden zentralen Kategorien zu verstärken. Allein die Kategorie der Darstellungsleere wird nicht instrumentalisiert. Dekontextualisierung Der irritierende Aspekt der Leerstellen lässt sich bereits an der Anfangssequenz des Films belegen, die mit einem Cluster an Dekontextualisierungen und Unbestimmtheiten beginnt. Erzählt wird nicht ab ovo, sondern die Informationen über das Wann, Wo und Was der Handlung werden nur bruchstückhaft preisgegeben. Bereits in den ersten drei Minuten wird zwischen drei verschiedenen Zeitebenen und Handlungsorten gewechselt, ohne dass Hinweise auf deren konkrete Zusammenhänge gegeben werden. Auf diese Weise müssen die Zuschauer sich sukzessive die Kontexte selbst erschließen. Schon in die Front Credits wird die erste Information eingebettet, die sich kurz danach, mit Fortschreiten des Schriftaufbaus, durch eine zweite Information als fragwürdig erweist (Still 0:00:35).

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 „… 5 BILLION PEOPLE WILL DIE FROM A DEADLY VIRUS IN 1997 … … THE SURVIVORS WILL ABANDON THE SURFACE OF THE PLANET … …ONCE AGAIN THE ANIMALS WILL RULE THE WORLD …“

Für das Jahr 1997 wird der Ausbruch eines tödlichen Virus vorausgesagt. Die Formulierung im Futur verlegt dieses Ereignis in die nahe Zukunft. Gleichzeitig wird ein düsterer, postapokalyptischer Gesellschaftsentwurf gezeichnet mit fünf Milliarden Toten und der Flucht der Überlebenden unter die Erdoberfläche. Ausgehend davon wird bei den Zuschauern die Erwartung einer Zukunftsdystopie aufgebaut, mit dem virusinduzierten Massensterben als einem Ausgangspunkt für die zu erwartende Handlung. In der Gestaltung durch Schriftart und -farbe optisch deutlich abgehoben enthüllt der fortschreitende Text eine weitere Information, die das Vorherige entwertet: „- Excerpts from interview with clinically diagnosed paranoid schizophrenic, April 12, 1990 – Baltimore County Hospital.“

Die Zukunftsvision wird zum Hirngespinst eines Psychiatriepatienten und die Zeitebene wird auf das Jahr 1990 zurückgesetzt. Die Erwartung des 6

Der Film lief in den USA im Dezember 1995 an, in Deutschland im März 1996, das im Vorspann gegebene Datum verweist also in die nahe Zukunft.

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Science-Fiction Themas muss infolgedessen modifiziert werden, möglicherweise in Richtung eines Psychothrillers. Dieses nachträgliche Umdeuten des zuvor als verlässliche Information Gegebenen ist ein erster ebenso expliziter wie selbstreflexiver Hinweis an die Zuschauer, dass die Informationen, die ihnen präsentiert werden, im Laufe der Rezeption und im Kontext mit anderen Informationen kontinuierlich kritisch geprüft werden müssen. Die erste Einstellung nach den an diese erste Szene anschließenden Credits zeigt eine Detailaufnahme der Augen eines Jungen (Still 0:01:27). Dieser wird Zeuge, wie ein Mann erschossen wird (Still 0:01:37).



 Der Zusammenhang zwischen dem einleitenden Text im Vorspann und dieser Szene lässt sich zunächst nicht erschließen. Die gezeigte Welt wirkt inhaltlich ‚normal‘ und vertraut, zeigt also weder eine postapokalyptisches Szenario noch scheint es sich um die psychiatrische Abteilung des Baltimore County Hospital zu handeln. Formal wird durch die High Key Beleuchtung und den leichten Slow Motion Effekt allerdings angedeutet, dass es sich nicht um das Hier und Jetzt einer filmischen Wirklichkeit handelt.

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Einer der Beteiligten, vielleicht der nicht sichtbare Schütze oder der Erschossene, könnte der erwähnte Schizophrene sein, für konkrete Annahmen fehlen aber sichere Hinweise. Die Szene endet mit einer Großaufnahme des Gesichts des Jungen, worauf nach einem Schnitt eine Großaufnahme des schlafenden James Cole folgt. Die Montage zeigt an, dass es sich bei dem Jungen und dem schlafenden Mann um die gleiche Person handelt. Offenbar hat Cole das, was den Zuschauern gerade präsentiert wurde, geträumt. Erneut wird damit etwas zuvor Gezeigtes rückwirkend in einen anderen Kontext gerückt. Dieser Einstieg in den Film mit den fragmentarischen Elementen eröffnet drei diegetische Zeitebenen: das Jahr 1990, einen unbestimmten Zeitpunkt in Coles Kindheit und Coles Gegenwart. Letztere lässt sich zeitlich und räumlich schwer einordnen, da die dargestellte Welt fremdartig wirkt und eine Alternativwelt zur außerfiktionalen Wirklichkeit darstellt. Sollte es sich um die im Vorspann beschriebene postapokalyptische Zukunft handeln, so muss die Möglichkeit mitbedacht werden, dass es sich um das Produkt der unzuverlässigen, homodiegetischen Erzählinstanz des unter Schizophrenie leidenden Character Narrator Cole handeln kann. Während die Traumsequenz jedoch mittels High Key Beleuchtung und Slow Motion deutlich als subjektive Episode markiert wurde, wird das Erleben des erwachsenen Cole als objektiv dargestellt, von einer narrativen Instanz erzählt. Alle drei eingeführten Zeitebenen bleiben in ihrer Darstellung unbestimmt, da die Informationen jeweils aspekthaft sind und nicht ausreichen, um ihre Relevanz und Bedeutung für das narrative Kontinuum des Films zu beurteilen. Gleichzeitig erzeugt die relativ unverbundene Aneinanderreihung der drei Ebenen eine Dekontextualisierung des Gezeigten. Nicht nur kann das Geschehen an sich nicht bewertet werden, auch die Bezüge der einzelnen Episoden zueinander lassen sich nur vage in Form von ersten Hypothesen herstellen. Dieser leerstellenreiche Einstieg in den Film erzeugt somit eine deutliche Orientierungslosigkeit bei den Zuschauern, die so bereits die beiden zentralen Brüche kennen lernen: die verwirrenden Zeitsprünge und die fragliche Glaubwürdigkeit des Protagonisten. Gleichzeitig wird hier schon en miniature der Zirkelschluss vorexerziert, auf dem der Film aufbaut. Von der Genreerwartung einer postapokalyptischen Zukunftsfiktion wird auf die Ebene eines Psychothrillers gewechselt. Diese Hypothese wird zunächst durch die kurze Episode getragen, die den kleinen

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Jungen zeigt. Dann jedoch wird diese Episode wiederum als ein Traum markiert und der Film ist erneut dort, wo er angefangen hat: in der düsteren postapokalyptischen Zukunft. Nicht nur zu Beginn des Films, sondern auch im weiteren Verlauf werden beim Wechsel zwischen unterschiedlichen Handlungssträngen oder Zeitebenen häufig sehr stark ausgeprägte Dekontextualisierungen eingesetzt. So etwa, wenn der Fokus der Erzählung weg von Coles düsterer, klaustrophobischer Welt und hin zu Kathryn Railly wechselt. (Still 0:10:10) In diesem Fall sind die dekontextualisierten Elemente nicht aneinander gereiht, sondern treten parallel zueinander auf. Nach einer Großaufnahme Coles erfolgt der Schnitt auf ein Gemälde, aus dem die Kamera langsam zurück zoomt, so dass immer mehr davon zu sehen ist. Aus dem Off ist eine weibliche Stimme zu hören.

 „Yet among the myriad microwaves, the infrared messages, the gigabytes of ones and zeroes, we find words, byte-sized now, tinier even than science, lurking in some vague electricity, but if we but listen, we hear the solitary voice of that poet, telling us, […]“(0:10:09 – 0:10:28).

Nach der düsteren, klaustrophobischen Atmosphäre der unteririschen Welt mit ihrem totalitären System vollständiger Kontrolle erfolgt der Umschnitt auf ein Kunstwerk, das klassische Architektur zeigt, begleitet von der Rezitation eines offenbar zeitgenössischen, futuristischen Gedichtes. Der Kontrast – nicht nur zwischen den beiden aufeinander folgenden Einstellungen, auch zwischen dem visuell gegebenen Gemälde und dem auditiv gegebenen Gedicht – kann kaum größer sein und es werden Kontexte eröffnet, die

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nicht sinnhaft geschlossen werden können. Es folgt die Einblendung BALTIMORE • APRIL 1990, die die Zuschauer über Ort und Zeit orientiert, die jedoch nicht in Bezug zu dem Gemälde oder dem Gedicht zu bringen ist. Dass eine explizite Angabe erfolgt, lässt annehmen, dass ein Zeitsprung sowie ein Ortswechsel stattgefunden haben. Umso deutlicher wird dadurch, dass die vorherige Sequenz nicht dazu in Bezug gesetzt werden kann und dass bei dieser eine entsprechende orientierende Angabe ausgelassen wurde. Es obliegt den Zuschauern, eigene Hypothesen darüber zu entwickeln, welchen Zusammenhang es zwischen den beiden so unterschiedlichen Welten gibt, die hier aufeinanderprallen, aber auch Hypothesen dahingehend, wie Bild und Ton mit der Orts- und Zeitangabe in Verbindung stehen. Ähnliche Dekontextualisierungen, in denen ‚Kunstwerke‘ als Übergänge benutzt werden, finden sich auch an anderer Stelle, so etwa wenn vom Handlungsstrang um Railly im Jahr 1996 zum Handlungsstrang um Cole in der Zukunft gewechselt wird. Die Sequenz beginnt auch hier mit der Einstellung eines Gemäldes7 (Still 1:17:34), dazu ist der Anfang des Liedes Blueberry Hill zu hören. Ebenso wird gegen Ende des Films vom Handlungsstrang um Jeffrey Goines zum Handlungsstrang um Railly und Cole gewechselt, indem unvermittelt über 25 Sekunden lang die Mammutbaum-Szene aus Hitchcocks Vertigo zu sehen ist (1:40:50 – 1:41:15, Still 1:42:13), bevor deutlich wird, dass Cole und Railly sich in einem Kino befinden.



7

Es handelt sich um Valley of the Yosemite von Albert Bierstadt.

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 Die Zuschauer werden jeweils mit etwas konfrontiert, was sie nicht erwarten konnten und was in starkem Kontrast zu dem zuvor Gezeigten steht. Die Bilder sind unmittelbar als Gemälde bzw. Kinofilm erkennbar und werden nicht als in der Fiktion reale Orte wahrgenommen, der Einstieg in den neuen Erzählstrang, bzw. die neue Zeit erfolgt also vermittelt und indirekt, mit einer Einstellung, die zeitlich nicht zugeordnet werden kann. Dadurch wird zum einen Aufmerksamkeit erzeugt und die Spannung gesteigert, denn die Zuschauer müssen darauf warten, dass sich die Einstellung ändert, die Kamera zurückfährt oder weitere Hinweise preisgibt, die eine Kontextualisierung nicht nur der Bilder, sondern des neuen Handlungsortes und der dazugehörigen Zeit ermöglichen. Dazu kommt, dass es sich bei allen drei Beispielen um Kunst, d.h. eine künstliche, fiktive Welt handelt, die als Kontrastfolie zur Dekontextualisierung genutzt wird. Dies kann als ein Hinweis auf die mögliche Unzuverlässigkeit verstanden werden, als eine Andeutung, dass den Zuschauern eine Fiktion innerhalb der Fiktion des Films präsentiert wird, dass also den Bildern nicht zwingend zu trauen ist. Insbesondere mit dem letzten Beispiel, dem Ausschnitt aus Vertigo, geht eine vielfältige Verweisstruktur einher. Zunächst ist mit der Referenz auf Vertigo der Hinweis auf das Thema der fälschlich angenommenen Verrücktheit des Protagonisten James Cole/Scottie Ferguson (James Steward) deutlich gegeben. Zudem wird auf die Frage nach der Möglichkeit angespielt, in einer fremden Zeit anwesend zu sein, allerdings nicht in Form von Zeitreise, sondern indem die (scheinbar) wiederkehrende Tote (Kim Novak) anhand der Jahresringe eines Mammutbaumes ihr Geburts- und Todesdatum markiert. Krützen (2010: 302f) verweist zusätzlich auf eine Parallele zwischen James Cole und Scottie Ferguson. Beide Männer hängen der Erinnerung an eine Frau nach: Scottie der vermeintlich verstorbenen Madeleine und Cole der

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Frau aus seinem wiederkehrenden Traum. Während ersterer die dunkelhaarige Judy schließlich in eine Blondine verwandelt und in ihr seine Traumfrau (wieder)erkennt, wird für Cole die dunkelhaarige Kathryn zu der Frau aus dem Traum, als diese sich eine blonde Perücke aufsetzt, um mit ihm zu fliehen – und dies darüber hinaus in dem Kino, in dem Vertigo läuft. Indem die Struktur des Filmes durch die zweifache Dekontextualisierung in Form von Zeitsprüngen und der Verdoppelung der Fiktion eine einfache Orientierung hier verweigert, wird der Fokus der Aufmerksamkeit genau auf diese Übergänge gelenkt und – insbesondere durch die signifikante zeitliche Ausdehnung – die Reflexion möglicher Kontexte angeregt. Die Dekontextualisierungen lassen sich aber dennoch nur sukkzessive auflösen und die gegebenen Informationen, die den Zuschauern zur Verfügung gestellt werden, um die Leerstellen zu füllen, sind uneindeutig und kryptisch. Dadurch werden unterschiedliche Optionen offen gehalten und die Hypothesenbildung bleibt ein fortwährender, aktiver Aneignungsprozess. Auslassung Die Desorientierung in der Zeit und die Möglichkeit der Unzuverlässigkeit Coles werden durch den Einsatz einer weiteren Leerstellenkategorie gestützt. Die Auslassungen treten ebenfalls verstärkt beim Wechsel des Handlungsstranges bzw. der Zeitebene auf und dienen dazu, dezidiert Informationen über die Momente der Zeitsprünge vorzuenthalten. Dadurch wird eine Ambiguität erzeugt, so dass niemals klar ist, ob die Zeitreise tatsächlich stattfindet oder ob Cole sie halluziniert. Vor der ersten Zeitreise Coles geht der Auslassung zudem eine Unterbrechung voraus, die das Gespräch zwischen Cole und den Wissenschaftlern abbricht, die ihn dazu auffordern, sich zu einem ‚Programm‘ als Freiwilliger zu melden. Noch bevor die Zuschauer erfahren, um was für eine Mission es sich handelt – von Zeitreisen war bisher noch nicht die Rede, daher fällt eine richtige Hypothese hier schwer – und wie Cole auf dieses Angebot reagiert, wird die Szene beendet. Nach dieser Unterbrechung setzt die Handlung unvermittelt im Jahr 1990 wieder ein und man erfährt kurz darauf, dass Cole, nur mit Unterwäsche und einem durchsichtigen Plastikregenmantel bekleidet, von der Polizei aufgegriffen wurde. Im Moment der Rezeption selbst kann noch nicht beurteilt werden, was in der ausgelassenen Zeitspanne passiert ist. Es bleibt unklar, wie die beiden Sequenzen in Beziehung zueinander stehen, ob es einen Zeitsprung gab bzw. ob dieser

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in die Zukunft oder in die Vergangenheit gerichtet war. Die Angabe BALTIMORE • APRIL 1990 deutet jedoch darauf hin, dass jetzt etwas folgt, das zu einer anderen Zeit an einem anderen Ort situiert ist. Im weiteren Verlauf der Sequenz wird deutlich, dass Cole selbst davon ausgeht, in die Vergangenheit des Jahres 1996 gereist zu sein. Dadurch, dass der eigentliche Teleportationsprozess ausgelassen wird, ist nicht eindeutig entscheidbar, ob Cole tatsächlich eine Zeitreise gemacht hat – in fiktionalen Wirklichkeiten nichts Außergewöhnliches – oder ob das postapokalyptische Szenario lediglich das Produkt seiner gestörten Phantasie ist und nun, mit der Begegnung zwischen der Psychiaterin Railly und dem Patienten Cole, die eigentliche Story beginnt. Während diese erste Auslassung noch eine starke Ambiguität produziert, lenkt eine weitere Auslassung, die bei Coles nächster Zeitreise aus dem Jahr 1990 zurück in die Zukunft eingesetzt wird, die Hypothesen stark in eine Richtung. Coles Aufenthalt in der geschlossenen Psychiatrie endet mit seinem rätselhaften Verschwinden aus einer kleinen Zelle, in der er sich vollständig sediert und gefesselt befand (Stills 0:35:08 und 0:36:00). Zwischen den beiden Einstellungen, die die enge Zelle jeweils in starker Aufsicht zeigen und dadurch die Ausweglosigkeit vermitteln, zeigt eine Szene die sich beratenden Psychiater. Während dieser kurzen Zeit verschwindet Cole aus der Zelle.

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Die Verwunderung der Psychiater über das Verschwinden Coles aus der Zelle stärkt die Lesart, dass er tatsächlich ein Zeitreisender ist und nun durch die Wissenschaftler der Zukunft auf irgendeine Weise zurückgeholt wurde. Allerdings ist er nach einer kurzen Sequenz, die erneut seinen Traum zeigt, wieder in der Zelle auf dem Tisch liegend zu sehen, während eine Stimme zu ihm spricht, die angibt, aus dem Nebenraum zu kommen. Auf den ersten Blick scheint diese Szene für Coles Wahnsinn zu sprechen und auszusagen, er sei gar nicht aus der Zelle entkommen, was eine Redefinition durch die Zuschauer erfordert. Jedoch hat sich nicht nur der Raum leicht verändert, Cole trägt jetzt auch seine Zukunftskleidung und ist zudem nicht mehr gefesselt, sondern kann aufstehen. Dieser zweite Blick spricht demnach für die alternative Lesart und bedingt eine erneute Redefinition zurück zur Zeitreise-Hypothese. Eine Entscheidung lässt sich nicht mit Sicherheit treffen, jedoch ist ein Sprung in der Zeit nicht zwangsweise auch mit einem Ortswechsel verbunden, weshalb Coles Anwesenheit am gleichen Ort nicht bedeuten muss, dass er noch in der gleichen Zeit ist. Im Vergleich zum ersten Zeitsprung, der durch eine relativ große zeitliche Auslassung gekennzeichnet ist und das Geschehen unmittelbar vor und nach Coles Übergang von einer Zeit zur anderen ebenfalls weiträumig ausgespart ist, rückt die Erzählung für diesen zweiten Zeitsprung bereits näher an den eigentlichen Übergang heran und lässt deutlich weniger aus. Noch weiter nähert sie sich dem Moment des Verschwindens bei einem späteren Zeitsprung an, als Cole aus dem Jahr 1996 in die Zukunft zurückkehrt. Diese Zeitreise wird nicht mehr durch eine vollständige Auslassung der relevanten Information ambivalent gehalten, sondern sie findet im diegetischen Raum statt und wird lediglich visuell durch eine Unbestimmtheit verdeckt. Cole und Railly verstecken sich in einem Wald, während die Poli-

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zei sich ihnen nähert. Cole erfreut sich der Natur, die er aus der Zukunft nicht kennt, und springt freudig rufend in einem Bach auf und ab. Während einer Einstellung von Railly, die beim Auto steht, ist Cole weiterhin im Off zu hören. In dem Moment, in dem Railly sich zu ihm umdreht, zeigt auch die Kamera wieder den entsprechenden Ausschnitt, in dem Cole jedoch nun verschwunden ist und lediglich die Wasserbewegungen andeuten, dass er kurz zuvor noch anwesend war. Der Zeitsprung selbst findet im diegetischen Off statt und bleibt damit unsichtbar. Mit der zunehmenden Annäherung der Leerstellen an den eigentlichen Moment des Zeitsprungs nimmt die Ambiguität der Lesarten ab und es verstärkt sich die Tendenz, die Möglichkeit der Zeitreise gegenüber der potentiellen Schizophrenie zu präferieren. Coles eigene Einschätzung seiner Situation läuft dabei entgegengesetzt dem zunehmenden Glauben der Zuschauer und Raillys in ihn, denn inzwischen zweifelt er selbst an seiner psychischen Gesundheit und spricht im Folgenden auch gegenüber den Wissenschaftlern der Zukunft davon, verrückt zu sein. Neben diesem systematischen Leerstellensystem aus Dekontextualisierungen und Auslassungen, die die Struktur der Narration bestimmen, lassen sich in Twelve Monkeys noch zahlreiche weitere Leerstellen nachweisen, die sich jedoch kurzfristiger auswirken und weniger zur Konkretisation von Bedeutungsebenen beitragen als vielmehr Reflexionsprozesse anstoßen, die weiter desorientieren, da sie die Hypothesen in Sackgassen führen und zum Teil auch dauerhaft unaufgelöst bleiben. Auch mehrmaliges Schauen kann nicht zur Auflösung aller Unbestimmtheiten der Story beitragen, da der Plot durch die gezielte Leerstellenstruktur polyvalent bleibt. Wenn Geoff King in Bezug auf entsprechende Erzählmuster des gegenwärtigen Hollywoodkinos von „narrative work“ spricht, wird daraus die Leistung ersichtlich, die die Zuschauer bei der Rezeption leisten müssen. (vgl. King 2007: 64 zitiert nach Krützen 2010: 330) Ergebnis Die strukturellen Leerstellen in Twelve Monkeys limitieren und steuern nicht nur die Informationsvergabe hinsichtlich der beiden zentralen Paradigmen des Films, sondern sie verlinken diese zudem untrennbar miteinander zu einem Komplex, durch den die konstitutive Ambiguität der Lesarten

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erzeugt wird. Diese Ambiguität lässt die Grenzen zwischen Vernunft und Wahnsinn Coles verschwimmen, wodurch die Leerstellen zugleich für die Charakterisierung der Hauptfigur wie auch für die Bedeutung des Filmes relevant werden. Der Charakter James Cole ist kein klassischer Held, der auszieht, um die Welt zu retten. Er beginnt seine Reise nicht freiwillig und handelt nicht intrinsisch motiviert, sondern ist „Opfer in beiden Welten, er wird von den militärischen Herrschern [der Zukunft] dirigiert und in der Welt des Jahres 1990 eingesperrt und durch Psychopharmaka ruhiggestellt, seine Ausbrüche und Rettungsversuche scheitern.“ (Busse 2000: 172) Er ist passiv, permanent verunsichert und schließlich so verwirrt, dass er seinen eigenen Wahrnehmungen und Erinnerungen nicht mehr trauen kann. Auch die für den klassischen Helden übliche Entwicklung durchlebt Cole nicht. Der Film erzählt die „Geschichte eines Individuums, das verzweifelt versucht, sich einer unmenschlichen und grausamen Gesellschaft anzupassen oder ihr zu entkommen und an beidem scheitert.“ (Dettmar 2003: 484f) Das einzige, was er nicht in Frage stellt, ist seine eigene Existenz und so ist auch für die Zuschauer das einzig Verlässliche Coles Körper, seine Präsenz. „Mit dem kahlgeschorenen Schädel, immer neuen Wunden und Blessuren, schwitzend, sabbernd und keuchend ist Bruce Willis der aufs Kreatürliche reduzierte Mensch, der nach einem Ausweg in einem Wahrnehmungschaos, nach einer Selbst-Identifikation sucht.“ (Seeßlen 1996: o.S.) Cole reiht sich damit „in eine neue Generation von Actionhelden ein, deren Identität vollkommen zersplittert und deren Körper märtyrerhafen Qualen ausgesetzt wird.“ (Stiglegger 2003: 461) Es geht also letztlich nicht um die Rettung der Welt – Cole erkennt bei seiner Reise ins Jahr 1990 selbst, dass diese Welt nicht erhaltenswert, sondern zutiefst verdorben ist („Look at them, they’re just asking for it. Maybe the human race deserves to be wiped out!“ / 0:28:25-0:28:32) –, sondern um „die Rekonstruktion [seiner] verlorenen, stets in Frage stehenden Identität“ (Stiglegger 2003: 461). Diese tiefe Unsicherheit und Orientierungslosigkeit, der Cole selbst unterliegt, wird mittels der Leerstellen, wie oben beschrieben, auf die Zuschauer übertragen. Durch die Dekontextualisierungen und Auslassungen, die die Übergänge zwischen den Handlungssträngen strukturieren, wird ihnen eine Orientierung verweigert und sie sind genauso unsicher, wie Cole selbst. Es werden wiederholt explizite Hinweise auf die eine oder andere Lesart gegeben, die erst im Verlauf des Films durch die sukzessive Ein-

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schränkung der Leerstellen die Konkretisationen immer näher an die Lösung der Frage heranführen, ob sie es bei dem Protagonisten mit einem Zeitreisenden oder mit einem psychisch Kranken zu tun haben. Und auch Cole selbst überwindet schließlich seine Selbstzweifel und beginnt, seinen Wunsch nach Selbst-Identifikation („I want to become a whole person again“ / 1:34:43-1:34:46) aktiv umzusetzen, was ihm jedoch nur kurzfristig gelingt. Zur Charakterisierung von Cole und seiner Umgebung ruft der Film auch immer wieder religiöse Motive auf, um sie anschließend jedoch in Frage zu stellen, wodurch sie oberflächlich bleiben. So wird zunächst etwa auf die Apokalypse angespielt, die nach der christlichen Eschatologie das Ende der Zeit, die Zeitenwende bedeutet. Die alte, verdorbene Welt findet ein Ende und mit der Wiederkunft Jesu Christi am Jüngsten Tag kommt das Reich Gottes; ein neues und besseres Zeitalter beginnt. Essentiell an diesem Konzept ist die Transformation, die Erlösung. Der Film selbst legt jedoch nahe, dass es keine neue Zeit und damit keine Erlösung geben kann – weder für Cole, noch für die anderen Überlebenden –, denn die Zeit in Twelve Monkeys ist nicht als sequenzielles Nacheinander von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu verstehen, sondern als unentrinnbares zirkuläres System, als Gleichzeitigkeit. Oder wie Smith in Bezug auf Heideggers Sein und Zeit konstatiert: „Being’s sense of time is not a matter of the past progressing to the current which progresses to the future. It’s more like past/present/future happen simultaneously. […] This ‚all at once’ is the horizon of time that in Twelve Monkeys equates to Cole in 1990, Cole in 1996, and Cole in 2020.“ (Smith o.J.) Entsprechend findet auch keine Transformation statt, die Welt der Zukunft ist genauso verheerend wie die Welt der 1990er Jahre und beide werden von skrupellosen Wissenschaftlerverbänden beherrscht. In der Zukunft führen sie ein totalitäres Regime, es herrscht ein permanenter Ausnahmezustand („permanent emergency code“ 0:08:22-0:08:34), Menschen werden interniert und zu Experimenten gezwungen. Diese Wissenschaftler kommen in ihrer Darstellung „close to the classic representation of the mad scientist when they run their exploratory projects to re-save the world like a madhouse. […] All of them […] behave like megalomaniacs, ready to ride Earth right into the next disaster“ (Ahrens 2009: 60). Demgegenüber stehen die Wissenschaftler der 1990er Jahre, die nicht weniger negativ charakterisiert werden. Im Fernsehen sieht Cole einen Be-

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richt über grausame Tierversuche in Laboren, Biologen entwickeln tödliche Viren und auch die Psychiater sind ignorant und überheblich. „[Sie] spielen sich […] als einzige im Besitz der Wahrheit befindliche Instanz, als ‚latest religion‘ (Railly) auf. Mit kalter Rationalität, die dennoch immer wieder an der Erklärung der ihr gebotenen Phänomene scheitert, versuchen sie, den menschlichen Geist eher zu bestimmen, als zu erforschen, In ihre weiten, weißen Hallen sitzen sie wie Götter über Cole zu Gericht […]. Die Psychiatrie ist, stellvertretend für die Wissenschaft an sich, in ihren Dogmen gefangen […].“ (Dettmar 2003: 485)

Die Unentrinnbarkeit Coles hinsichtlich der zeitlichen Struktur spiegelt sich in seiner Unentrinnbarkeit aus den gleichbleibenden Machtverhältnissen – „[d]as Neue Jerusalem ist das Alte Jerusalem“ (Busse 2000: 170) –, unabhängig davon, in welcher Zeit er sich befindet. Diese Auswegslosigkeit, in der Cole sich befindet, widerspricht der Idee der Apokalypse, die nach der Zerstörung der gescheiterten Menschheit die Erlösung verspricht. Der christliche Dualismus von Gut und Böse lässt sich nicht schlüssig auf den Film übertragen und auch der Virenausbruch wird nicht von einer göttlichen Macht herbeigeführt, um ein neues Zeitalter einzuleiten, sondern ist menschengemacht. Entsprechend sind auch die Versprechen auf ein neues ‚Paradies‘, im Film kommerziell übertragen auf Florida, nur eine scheinbare Lösung, die lediglich kurzfristig Hoffnung bietet. Cole ist kein Messias, kein Heilsbringer, er kann die Welt nicht retten – sie ist es auch nicht wert, gerettet zu werden – und er muss scheitern. Dabei lässt sich sein Tod nicht als Notwenigkeit legitimieren, die zur Aufklärung des Virenausbruchs erforderlich ist, denn die notwenigen Informationen hat Cole bereits übertragen. Vielmehr muss er sterben, da er versucht, sich dem System zu widersetzen, sich der unentrinnbaren Struktur zu entziehen und mit Kathryn zu fliehen. Die messianischen Deutungsangebote sind vielfältig: James Coles Initialen, seine Bereitschaft, sich als Märtyrer zu opfern, der mehrfach auftretende Prophet sowie zahlreiche visuelle Referenzen. Allerdings wird diese Bedeutungsebene durchgehend tiefensemantisch nicht eingelöst, worin sich eine inhärente Kritik offenbart – nicht allein an der Religion per se, sondern an quasi-religiösen, ideologischen Systemen.

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„Der Film zeigt unentwegt Menschen, die ihren Glauben verlieren, den Glauben an die Wirklichkeit, den Glauben an ihre Mission, den Glauben, wie Dr. Railly in einer Szene sagt, an die Psychologie als ‚neue Religion‘, ‚Glauben‘ ‚können dagegen nur noch die wahrhaft Verrückten, Jeffrey Goines und seine ‚Army of the Twelve Monkeys‘ etwa, die die Tiere des Zoos befreien.“ (Seeßlen 1996: o.S.)

Dieser Glaubensverlust spiegelt die „transzendentale Heimatlosigkeit“ (Lukács 1974: 32) des modernen Menschen wider. Die Inkonsistenz in der Heilssymbolik ist also als ein Glaubensverlust zu verstehen, als ein Bruch mit der ‚Religion‘ bzw. mit der Psychologie und Psychiatrie, die als pars pro toto für die moderne Religion Wissenschaft stehen. Durch das Label des Wahnsinns wird Cole entmenschlicht. Der Verlust der Vernunft als das, was Mensch und Tier voneinander unterscheidet (Descartes 1977), lässt ihn zur Kreatur, zum ‚Monkey‘ werden.8 (vgl. Smith o.J.) Indem der Film diese Deutungsmacht der klassischen Instanzen zunächst mittels der durch die Leerstellen erzeugte Desorientierung vorführt und schließlich durch die sukzessive Auflösung der Leerstellen kritisiert, wird deutlich, dass Coles Wahnsinn keine medizinische Diagnose, sondern ein Zuschreibungsakt inkompetenter Institutionen ist. (Vgl. Foucault 1996) Diese Einsicht stellt im Verlauf des Films die Grenzen zwischen Vernunft und Wahnsinn immer deutlicher infrage. In dem Maß, in dem die Leerstellen seltener werden und die durch sie ausgelassenen Informationen weniger, nähert sich das Erzählen genau dieser Grenze an und provoziert „beim Zuschauer die Frage, ob – über die Filmrealität hinaus – auch in der echten Welt Wahrheit für Wahnsinn gehalten wird.“ (Busse 2000: 171). Mittels der Leerstellenstruktur wird die Frage nach Coles Identität an die Unentrinnbarkeit aus den zeitlichen bzw. institutionellen Strukturen gekoppelt. Dadurch werden nicht nur die Definitionshoheit und moralische Integrität der Wissenschaft – die diesbezüglich die Religion abgelöst hat – infrage gestellt, sondern der Film verursacht darüber hinaus „ein Unbehagen an der Realität“ (Busse 2000: 172) der Zuschauer selbst. Der unentrinnbare Kreislauf, den Cole nicht durchbrechen kann und in dem er gefangen ist, wie in einem Hamsterrad, verweist gleichzeitig auf vergleichbare Strukturen in der außerfiktionalen Wirklichkeit der Rezipienten. Ein Hinweis auf

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Vergleichbares gilt auch für Jeffrey Goines, der in der Psychiatrie ebenfalls zum ‚Monkey‘ wird.

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die Künstlichkeit dieser Welt und damit die Kontingenz dieses Systems kann auch in den Kunstwerken gesehen werden, die zur Dekontextualisierung eingesetzt werden. Durch die Funktionalisierung zusätzlicher Leerstellen, die gerade nicht dem desorientierenden Erzählprinzip aus Dekontextualisierungen und Auslassungen untergeordnet zu sein scheinen, sondern Auswege aus diesem Kreislauf suggerieren, die sich jedoch als Sackgassen erweisen, wird der Eindruck der Unentrinnbarkeit noch verstärkt. Der gezielte Einsatz der Leerstellen lässt also nicht nur die Identitätsproblematik manifest werden, sondern dient auf einer latenten Ebene der Kritik am bedingungslosen Fortschrittsglauben des Systems Wissenschaft, das durch technische Rationalität und Entfremdung von der Natur geprägt ist und einem „Machbarkeitswahn“ (Fritsch et al. 2003: 75) unterliegt. Der Film stellt dadurch die Frage nach einer grundsätzlichen Wissenschaftsethik und letztlich auch nach der eigenen, extradiegetischen Wirklichkeit der Zuschauer und der Autorität der dort herrschenden Definitionshoheiten.

V ANTAGE P OINT Auch das Erzählen in Vantage Point (Pete Travis, 2008) wird deutlich durch Leerstellen organisiert. Ihre Funktionalisierung ist stark an den bereits im Titel des Films angelegten Aspekt der Perspektive gebunden. Erzählt wird das Geschehen unmittelbar vor, während und kurz nach einem Attentat auf den US-amerikanischen Präsidenten aus der Sicht mehrerer, in unterschiedlichem Maße involvierter Charaktere. Nacheinander teilen die Zuschauer die Perspektive auf die Ereignisse mit diesen Figuren, wodurch sechs verschiedene Versionen des Geschehens zu sehen sind, in denen jeweils immer neue Aspekte hervortreten. Aus der Zusammenschau aller sechs Perspektiven ergibt sich der folgende chronologisch-kausale Ablauf der Story. Inhalt Der US-amerikanische Präsident Ashton (William Hurt) ist für einen Antiterror-Gipfel in die spanische Stadt Salamanca gereist. Aufgrund einer Terrorwarnung nimmt jedoch ein Double seine Stelle auf dem Podium ein, während der Präsident selbst zurück ins Hotel gebracht wird und dort das

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Geschehen im Fernsehen verfolgt. Die Secret Service Beamten Thomas Barnes (Dennis Quaid) und Kent Taylor (Matthew Fox) sind zum Schutz des Doubles auf der Plaza Mayor eingeteilt. Zwei Schüsse fallen, der falsche Präsident ist getroffen und Barnes beginnt unmittelbar mit den Ermittlungen, die schließlich seinen Kollegen Taylor als Maulwurf entlarven. Außer Barnes sind zwei weitere Charaktere auf der Plaza Mayor anwesend, die in die Ereignisse verwickelt werden: der spanische Undercover Polizist Enrique (Eduardo Noriega) sowie der amerikanische Tourist Howard Lewis (Forest Whitaker), der mit seiner Videokamera einzelne Aspekte der Ereignisse aufzeichnet. Kurz nach dem Anschlag auf das Präsidentendouble detoniert eine Bombe im Hotel des Präsidenten, woraufhin dieser von einem der Attentäter, Javier (Édgar Ramírez), entführt wird. Kurz darauf explodiert eine weitere Bombe auf der Plaza Mayor selbst. Durch die Schüsse und Bomben herrscht Chaos in der Stadt, das die Attentäter nutzen wollen, um unbemerkt mit dem echten Präsidenten zu entkommen. Die Wege aller beteiligten Charaktere kreuzen sich schließlich an einer Überführung, wo Enrique von Javier und Javier von Taylor erschossen werden, Barnes schließlich Taylor stellt und den Präsidenten aus dem Krankenwagen der Kidnapper befreit. Struktur Wie bereits erwähnt ist die Erzählung strukturell in sechs Segmente gegliedert, die jeweils unterschiedliche Perspektivierungen auf die zugrunde liegenden Ereignisse darstellen. Dabei werden einige immer gleiche Abläufe – aus variierenden Perspektiven – mehrfach wiederholt gezeigt und so die Gleichzeitigkeit der wiedererkennbaren Ereignisse in ein perspektivgebundenes Nacheinander übersetzt. Auf die einleitende Perspektive eines Nachrichtenteams folgen drei subjektive Segmente relevanter Figuren, an die wiederum die distanzierte Sicht des Präsidenten anschließt, gefolgt von einer abschließenden, integrativen Perspektive der Terroristen. Daraus ergeben sich sechs Perspektivsegmente, die in einer Vieraktstruktur organisiert sind. Der erste Akt zeigt eine noch distanzierte, weil medial vermittelte Perspektive auf das Geschehen und führt die zentralen Ereignisse ein. Der zweite Akt ist in sich dreigliedrig und gibt die subjektiven Wahrnehmungen der drei beteiligten Charaktere Thomas Barnes, Enrique und Howard Lewis wieder. In diesem Akt wird der Spannungsbogen aufgebaut.

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Der dritte Akt stellt ein retardierendes Moment dar und zeigt das Geschehen aus der Wahrnehmungsperspektive des Präsidenten, wodurch darüber aufgeklärt wird, dass es sich bei dem bisher gezeigten Präsidenten um ein Double handelt. Der finale vierte Akt integriert mehrere Perspektiven, indem er sowohl neue Charaktere aus den Reihen der Verschwörer zeigt – insbesondere Sam9 (Saïd Taghmaoui) und Javier – als auch bereits bekannte Figuren wieder aufnimmt und der schließlich die Auflösung bringt. Akt Erster Akt Einführung

Dauer

Segmente 1

0:07:16

Newsteam 0:12:38

Zweiter Akt Spannungsaufbau

0:32:58

0:07:58 0:12:22

Dritter Akt Retardierung Vierter Akt (langsame) Auflösung

0:07:58 0:32:02

2 Thomas Barnes 3 Enrique 4 Howard Lewis 5 Präsident 6 Verschwörer

Was die Erzählzeit betrifft, zeigt sich eine Analogie in der zeitlichen Ausdehnung zwischen dem einführenden ersten Akt, in dem die zentralen Ereignisse auf der Plaza Mayor vorgestellt werden, und dem retardierenden dritten Akt, der die Perspektive des Präsidenten wiedergibt. Gleiches gilt auch für den zweiten und den vierten Akt, die beide jeweils mehrere Perspektiven wiedergeben, im einen Fall additiv, im anderen integrativ. Die Segmente enden jeweils in Entscheidungssituationen mit einem Freeze Frame, so dass sich Cliffhanger ergeben. Den Übergang bildet eine kurze, in Weißblenden gerahmte Rückspulsequenz, die als trennendes Element zwischen den Segmenten fungiert und signalisiert, dass nun erneut der gleiche Zeitraum präsentiert wird. Alle sechs Segmente beginnen zum glei9

Der Charakter stellt sich Howard Lewis selbst als „Sam“ vor (0:30:44-0:30:46), weshalb dieser Name beibehalten wird, obwohl er in den Credits als „Suarez“ aufgeführt ist.

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chen Zeitpunkt der erzählten Zeit – jeweils um 11 Uhr 59 und 57 Sekunden –, aber jedes der Segmente setzt das vorherige narrativ fort, erzählt also einen längeren Zeitraum. Einzige Ausnahme bildet Segment 5, das die Perspektive des Präsidenten zeigt und mit dessen Entführung aus dem Hotel abbricht, wohingegen in Segment 4 bereits die Ankunft des Krankenwagens an der Unterführung gezeigt wird. Funktionalisierung der Leerstellen Die Besonderheit des Leerstelleneinsatzes besteht im Fall von Vantage Point in der deutlich strukturbildenden Ausprägung. Die wechselnden Perspektivierungen werden systematisch dazu genutzt, Unterbrechungen und Dekontextualisierungen zu erzeugen. Diese wirken auf der globalen, gesamtfilmischen Ebene und sind entsprechend für die Konkretisation der Bedeutung relevant. Die auftretenden Auslassungen und Unbestimmtheiten hingegen fungieren hauptsächlich auf einer lokalen, szenen- oder sequenzbezogenen Ebene zur Erzeugung kurzfristiger Effekte. Darstellungsleere tritt, wie bereits in Twelve Monkeys, auch hier nicht auf. Unterbrechung und Dekontextualisierung Die narrative Struktur des Nacheinanders unterschiedlicher Perspektiven wird dazu genutzt, zum einen gezielt instrumentalisierte Unterbrechungen am Ende jeder Perspektivsequenz einzusetzen und zum anderen durch den Wechsel von Zeit und Ort von einer Sequenz zur nächsten Dekontextualisierungen zu erzeugen. Indem die Narration abbricht, ohne dass sie zuvor inhaltlich geschlossen wird, werden die Zuschauer zu Konkretisationen angeregt, die den weiteren Fortgang betreffen, während sich die Dekontextualisierungen auf Hypothesenbildungsprozesse hinsichtlich der kausalen wie auch räumlichen und zeitlichen Zusammenhänge auswirken. Das erste Segment, das die Perspektive eines Nachrichtenteams auf die Ereignisse präsentiert, endet nach der Explosion der Bombe unter dem Podium mit dem Tod der Außenreporterin Angie (Zoe Saldana) noch relativ in sich abgeschlossen. Im Verlauf des zweiten Perspektivsegments wird an dieser Stelle angeknüpft, indem Barnes im Verlauf dieses Segments den Übertragungswagen betritt. Die Barnes-Perspektivierung setzt dadurch die Newsteam-Perspektivierung mit fort und es wird gezeigt, was im Übertragungswagen im Anschluss an die Explosion geschieht. Dadurch wird die

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Unabgeschlossenheit des ersten Segments und somit die Unterbrechung erst deutlich erkennbar. Den Zuschauern wird damit von Anfang an bedeutet, dass die einzelnen Segmente immer nur Teilaspekte des Geschehens und keinesfalls allumfassend erzählen. Das Barnes-Segment (2) selbst wird unmittelbar nach dem Etablieren einer Unbestimmtheit unterbrochen. Barnes blickt auf einen Monitor und stürmt anschließend aus dem Übertragungswagen. Was er gesehen hat, bleibt für die Zuschauer unbestimmt und durch die anschließende Unterbrechung wird die Auflösung dieser Unbestimmtheit merklich ausgedehnt. Nachdem die Unbestimmtheit bereits eine Diskrepanz zwischen dem Wissen der Figur und dem Wissen der Zuschauer erzeugt hat, sorgt die Unterbrechung für den vollständigen Bruch mit der Perspektive Barnes’. Die Zuschauer erfahren nicht, was er nun tut, wohin er geht oder was er vermutet. Beide Leerstellen dienen in ihrem Verbund der Spannungssteigerung und erzeugen Konkretisationsaktivität. Die Zuschauer fragen sich, was er auf dem Monitor gesehen hat, und versuchen, im Gezeigten Hinweise darauf zu entdecken. Ähnlich strukturiert sind auch die Unterbrechungen, die die Perspektivsegmente von Enrique (3), Howard Lewis (4) und dem Präsidenten (5) unabgeschlossen beenden. Es wird jeweils in einem Moment starker Spannung unterbrochen, im Falle des Enrique-Segments ebenfalls direkt mit einer Unbestimmtheit, bei Lewis und dem Präsidenten in akuten Bedrohungssituationen. Durch die Unabgeschlossenheit der Szenen wird die Erwartung geweckt, dass es weitergehen, dass der jeweilige Erzählstrang erneut aufgenommen und weitergeführt wird. Gleichzeitig verstärkt sich durch diese perspektivbedingte Fragmentierung des Erzählens für die Zuschauer das Bewusstsein, dass sie nicht alles zu sehen bekommen. Aus der narrativen Struktur des Nacheinanders dieser Perspektivsegmente ergeben sich nicht nur Leerstellen am Ende eines Segments, sondern auch deutliche Dekontextualisierungen zu Beginn jeder neuen Perspektivierung. Die Zuschauer werden aus der ihnen vertrauten Perspektivannäherung und dem Anteilnahmeverhältnis mit dem jeweiligen Charakter herausgerissen und eine neue Perspektive eines neuen Charakters wird präsentiert.

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Gleichzeitiges wird in ein zeitliches Nacheinander umarrangiert, was ebenso wie der Ortswechsel und die veränderte Fokalisierung10 eine irritierende Dekontextualisierung erzeugen, die eine einfache Rezeption im Sinne einer Aufnahme geradezu sabotiert und eine aktive Auseinandersetzung der Zuschauer mit dem Gezeigten erforderlich macht. Sie müssen sich zu Handlungsort und handelnden Charakteren neu orientieren und das bisher Gezeigte mit der nun neuen Perspektive selbständig verknüpfen, um so eigenaktiv die Zusammenhänge herzustellen. Alle perspektivisch aufgegriffenen Charaktere werden zwar in vorausgehenden Segmenten bereits kurz eingeführt, ihre Funktion für die Narration und das, was sie erleben und wahrnehmen, muss jedoch von den Zuschauern jeweils in den Gesamtzusammenhang der erzählten Ereignisse implementiert und kontextualisiert werden. Durch die Unterbrechungen und die Dekontextualisierungen wird also bei den Zuschauern das Gefühl einer Offenheit oder Unabgeschlossenheit erzeugt, wodurch dem Gezeigten eine besondere Relevanz verliehen und Konkretisationsaktivität provoziert wird. Das Nacheinander der unterschiedlichen Perspektiven muss imaginär in Gleichzeitigkeit umgesetzt und die unterschiedlichen Figuren und Orte müssen auf einer mentalen Karte miteinander vernetzt werden. Nur durch diese Eigenaktivität können sich die Zuschauer den Gesamtüberblick verschaffen. Dieser ist dem Gezeigten selbst nicht inhärent, sondern wird erst in der individuellen und metatextuellen Verkettung des Gezeigten durch die Zuschauer erzeugt. Indem dieser durch den Leerstelleneinsatz provozierte Gesamtüberblick von den Zuschauern produziert wird, unterliegen diese nicht mehr den Restriktionen und Begrenzungen, die aus den an den Figuren orientierten Perspektivierungen resultieren. Sie erzeugen eine übergreifend-integrative Super-Perspektive, aus der heraus nicht nur ein Wissensvorsprung gegenüber den Figuren selbst entsteht, sondern die Informationen aller Perspektiven überspannend kontextualisiert und konsekutive oder kausale Kohärenzen hergestellt werden können. Bei der Erzeugung dieser Super-Perspektive helfen den Zuschauern strukturell wiederkehrende und damit wiedererkennbare Szenen, die das zeitliche und räumliche Einordnen erleichtern indem sie im Zusammenspiel

10 Vgl. Genette (1994) 134 ff sowie 241ff. Für eine ausführliche Diskussion der Perspektivverhältnisse in Vantage Point siehe Schmöller (2010).

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mit dem Informationsentzug durch die Leerstellen der Informationsvergabe dienen. Das Wiedererkennen bestätigt die Zuschauer in ihrer Rezeption und sorgt so für ein stärkeres Involvement und eine gesteigerte Konkretisationsbereitschaft. Dieses Wiedererkennen kann dabei an Personen gebunden sein, wie etwa an das Paar Veronica (Ayelet Zurer) und Javier, das auf der Plaza Mayor eng beieinander steht. Diese Szene ist in mehreren Segmenten aus unterschiedlichen Perspektiven zu sehen (Stills 0:21:47 Perspektive 3, Enrique / 0:30:17 Perspektive 4, Howard Lewis / 0:50:50 und 0:50:58 Perspektive 6, nicht figurgebunden).







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 Während das Paar im Enrique-Segment (3) noch sehr vertraut und intim wirkt, wissen die Zuschauer beim zweiten Auftreten dieser Szene im Lewis-Segment (4) aus dem Segment zuvor bereits, dass Veronica eigentlich Enriques und nicht Javiers Freundin ist. Dadurch ändert sich zwar noch nicht die intime Darstellung des Paares, aber die Konnotation verschiebt sich für die Zuschauer bereits ins Negative.11 Im letzten Segment (6) schließlich ist das Paar ein drittes Mal zu sehen und diesmal wird den Zuschauern auch akustisch die Unterhaltung der beiden zugänglich gemacht, die zuvor aufgrund der Distanz unbestimmt war. Dabei wird deutlich, dass Veronica Javier erpresst. Entsprechend dem Wissen verändert sich auch die optische Darstellung der Beziehung zwischen den beiden, die jetzt nicht mehr intim, sondern feindselig wirkt. Zudem geht die Bedrohung nicht von Javier aus, was die Bilder vermuten lassen könnten, sondern umgekehrt von Veronica. Dieses Beispiel zeigt, wie das Wiedererkennen einzelner Elemente den Zuschauern dabei hilft, sich zu orientieren, jedoch gleichzeitig keine reine Wiederholung darstellt, sondern immer auch eine Variation, die eine Weiterentwicklung im Rezeptionsprozess initiiert. Dazu werden nicht nur Figuren eingesetzt, sondern auch auffällige verbale Äußerungen und akustische Signale, wie etwa der die Segmente jeweils einleitende Nachrichtensprecher, die Glocken der Kirche oder Barnes Ausruf „We need a medic here“ (in den Segmenten 2, 3 und 4 zu hören) oder auch zentrale Handlungen wie die Übergabe der Tasche von Enrique an Veronica, Enriques Begegnung mit dem Krankenwagen und sein Zusammentreffen mit Javier 11 Die Szene dient in Bezug auf Howard Lewis zusätzlich dazu, dessen eigene Eheproblematik anzudeuten.

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bei der Unterführung (in den Segmenten 3, 4 und 6). Diese strukturierenden Wiederholungen sind also keinesfalls redundant, sondern erfüllen die Funktion, die stark ausgeprägten Leerstellen überhaupt handhabbar zu machen. Häufig machen solche wiederkehrenden Szenen, die neue Aspekte des Bekannten mit sich bringen, eine Redefinition des zuvor Gezeigten erforderlich, da sie dieses in einen anderen Kontext rücken – wie am Beispiel des Paares bereits gezeigt wurde. Segment 5 nimmt nicht nur insofern eine Sonderstellung ein, als hier keine Begegnungen mit bereits bekannten Figuren stattfinden oder wiedererkennbare Szenen gezeigt werden, sondern auch als der erzählerische Fokus weg vom Attentatsgeschehen gelenkt wird. Während der zweite Akt sehr stark spannungserzeugend strukturiert ist, wirkt dieser dritte Akt deutlich langsamer und die Zuschauer werden in ideologisierender Dialogform über den möglichen politischen Kontext der Ereignisse informiert. Daher wirkt sich dieses Segment stark retardierend aus. Auf Unbestimmtheiten und Auslassungen wird in diesem Abschnitt entsprechend verzichtet, die Dekontextualisierung zu Beginn des Segments fällt jedoch besonders deutlich aus. Die Zuschauer wundern sich zunächst, wieso ihnen, nach den Perspektiven von Barnes, Enrique und Lewis nun die des Opfers geboten wird, das ja bereits nach wenigen Minuten niedergeschossen wird. Auch ergibt sich eine inhaltliche Diskrepanz in der zeitlichen Einordnung dieser Szene. Der Präsident sitzt nun zu Beginn des Segments 5, um 12 Uhr, bereits in seiner Limousine, während im Barnes-Segment (2) gezeigt wurde, dass das Einsteigen deutlich später stattgefunden hat. Die Irritation löst sich dann jedoch auf, wenn deutlich wird, dass es sich bei dem Attentatsopfer auf der Plaza Mayor um ein Double handelt und die Zuschauer nun sehen werden, was der ‚richtige‘ Präsident erlebt. Und auch die Unterbrechung, die dieses Segment unabgeschlossen beendet, ist relativ stark ausgeprägt. Ein maskierter Mann dringt im Anschluss an die Detonation einer Bombe in die Hotelsuite des Präsidenten ein und tötet bis auf diesen selbst alle Anwesenden. Das Segment endet mit der auf den Präsidenten gerichteten Waffe. Sowohl der Beginn als auch das Ende dieses Segments bewirken bei den Zuschauern die Notwendigkeit zur Modifikation ihrer Hypothesen hinsichtlich der Gesamtzusammenhänge. Während der zweite Akt (Barnes, Enrique, Lewis) das Attentatsgeschehen thematisiert, erfordert die Auflösung der Auslassung, dass der zuerst gezeigte Präsident ‚nur‘ ein Double ist, zu Beginn dieses Segments eine andere Interpretation. Nachdem zu-

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nächst die Attentäter erfolgreich schienen, wird nun deutlich, dass der amerikanische Stab einen Vorsprung hat, da das Attentat vorausgesehen und der Präsident ausgetauscht wurde. Der Vorteil wechselt von der Seite der Attentäter auf die Seite des Präsidenten. Doch nur wenige Filmminuten später muss dieses Konzept erneut modifiziert werden, denn am Ende des Segments ist der ‚echte‘ Präsident der Bedrohung durch einen Maskierten ausgesetzt und die Attentäter übernehmen wieder die Kontrolle. Es wird deutlich, dass die Terroristen sich des Doubles bewusst waren und das Attentat lediglich als Ablenkungsmanöver dienen sollte, um im Hotel für Verwirrung zu sorgen. In diesem klassischen Fall doppelter Kontingenz scheinen nun wieder die Attentäter dem Sicherheitsstab einen Schritt voraus zu sein. Auslassung und Unbestimmtheit Neben den Unterbrechungen und Dekontextualisierungen erweisen sich auch die Leerstellenkategorien der Auslassung und der Unbestimmtheit als relevant in Bezug auf das spezifische Erzählen des Films Vantage Point. Anders als die ersten beiden Kategorien, die auf der Ebene der Aktstruktur zentral erscheinen, spiegeln sich die Auslassungen und Unbestimmtheiten stärker auf der lokalen Ebene der einzelnen Szenen und Sequenzen wider und sind relevant in Bezug auf das perspektivierte Erzählen. Einleitend wird die Sicht eines Nachrichtenteams und insbesondere der Regisseurin Rex Brooks (Sigourney Weaver) auf den Anschlag gezeigt. Die Informationen, die auf diese Weise von den Ereignissen übermittelt werden, entsprechen einer distanzierten, medienvermittelten Perspektive, d.h. der Perspektive die Zuschauer normalerweise auf Medienereignisse haben. Die Arbeit des Nachrichtenteams im Übertragungswagen basiert auf den Aufnahmen, die die einzelnen Kameramänner vom Ort des Geschehens liefern. Der Informationszugriff ist damit bereits limitiert und die gelieferten Informationen müssen zudem in ihrer Abhängigkeit von den einzelnen Individuen gesehen werden. Darüber hinaus zeigt dieses Segment implizit auch die Reflexion des zensierenden Eingriffs in den medialen Vermittlungsprozess. Die Informationen über die Geschehnisse, die schließlich bei den Fernsehzuschauern ankommen – übertragbar auf die Zuschauer des Films, die obendrein ja auch Nachrichtenrezipienten sind – sind immer gefiltert und nicht allumfassend. Mit dieser ersten Perspektive wird damit bereits auf das zentrale Strukturmerkmal und Thema des Films angespielt:

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die explizit lückenhafte Vergabe von Informationen an die Zuschauer.12 Auch die Art und Weise, wie die Regisseurin Rex Brooks die einzelnen Kameras koordiniert und aus ihnen letztlich die Übertragung mischt, spielt auf das Erzählprinzip des Films selbst an, der ebenfalls das gleiche Geschehen aus unterschiedlichen (Kamera)Perspektiven zeigt. Wie Rex, die die unterschiedlichen Bildschirme vor sich hat (Still 0:01:53), müssen auch die Zuschauer versuchen, den Überblick über die Perspektiven zu gewinnen. Der Film erklärt in diesem ersten Segment seine eigene Struktur.

 Auf diese erste, deutlich distanzierte Perspektive folgen drei Segmente, in denen das Erzählen stark an die Fokalisierung eines Charakters gebunden wird, auch wenn die Perspektivübernahme nie vollständig ist, sondern nur eine Tendenz darstellt und immer auch objektive Szenen eingebunden sind. Die Ereignisse werden nun nacheinander aus Sicht des Secret Service Beamten Thomas Barnes, des spanischen Polizisten Enrique und des amerikanischen Touristen Howard Lewis gezeigt. Das heißt, dass die Perspektive der Zuschauer auf die Ereignisse sich der jeweiligen Perspektive dieser drei Figuren auf die Ereignisse annähert. Die Zuschauer sehen und erfahren zwar das, was auch die Figuren sehen und erfahren, teilen aber nur in weni-

12 Auch der Vorspann des Films deutet bereits die Aspekthaftigkeit des Gezeigten, die Segmentierung und die Perspektivierung des Erzählens ästhetisch voraus.

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gen Szenen auch wirklich vollständig deren subjektiv-visuelle Perspektive auf das Geschehen. 13 Das Spezifische an diesem bewussten Umgang mit den Leerstellen besteht im graduellen Variieren der Annäherung der Zuschauerperspektive an die Figurenperspektive und dem Bruch mit dieser. Durch die Anbindung der Zuschauer an die Wahrnehmung und Erfahrung der Charaktere in den einzelnen Segmenten wird eine starke Anteilnahme14 der Zuschauer an der jeweiligen Figur erzeugt. Gelegentlich führt das sogar zu Empathie mit einigen Charakteren, da die Anteilnahme nicht auf die Wahrnehmung allein limitiert bleibt, sondern die Zuschauer immer auch auf emotionale Konflikte der Figuren aufmerksam gemacht werden. Thomas Barnes etwa hat bereits in der Vergangenheit den Präsidenten beschützt und eine Kugel abgefangen, worunter er noch immer leidet. Enrique und Howard Lewis hingegen haben beide Probleme in ihren privaten Beziehungen. Enriques Konflikt mit seiner Freundin Veronica ist explizit Teil der Narration und auch Lewis’ Eheprobleme werden in mehreren Szenen latent transportiert. Die Perspektive Barnes’ (2) steht dabei nicht zufällig am Beginn des dreigliedrigen Aktes. Vor allem er bietet durch seine Aufgabe, das Rätsel um das Attentat zu lösen, eine deutliche Projektionsfläche für die Zuschauer, die sich die selben Fragen stellen. Als Bruch in dieser Anteilnahme an den Charakteren und als Gegenkraft zu der Kongruenz der Perspektiven der Zuschauer und der Figuren werden immer wieder Momente der Diskrepanz in Form von Leerstellen eingebaut. In diesen Szenen weicht die Wahrnehmung der Zuschauer sehr stark von der der Figuren ab, woraus ein Wissensvorsprung der Charaktere gegenüber den mit ihnen mitfühlenden Zuschauern resultiert. Die Perspektive auf relevante Aspekte wird in diesen Momenten für die Zuschauer ganz explizit limitiert, während die Figuren mehr wissen oder sehen. So wird den Zuschauern etwa vorgeführt, wie Thomas Barnes zuerst auf dem Display einer Kamera (Stills 0:16:20 und 0:17:15) und später auf dem

13 Für eine detaillierte Darlegung möglicher Perspektivverhältnisse siehe Eder (2008) Kapitel 12: Die Perspektivität der Anteilnahme, insbesondere S. 595ff. 14 Vgl. Jens Eders Diskussion der Begriffe „Identifikation“ (in Anlehnung an Bery Gaut) und „Anteilnahme“ (Eder 2008, 599ff.). Letzterer impliziert weniger die komplette Einswerdung der Rezipienten mit dem Charakter und soll daher hier ersterem vorgezogen werden.

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Monitor im Übertragungswagen etwas erkennt und deutlich darauf reagiert, während den Zuschauern verborgen bleibt, was genau er sieht und worauf er reagiert. Diese Diskrepanz wird zunächst nicht aufgelöst, sondern als Leerstelle gezielt eingesetzt.



 Während den Zuschauern zuvor noch in einem Point of View Shot das Display der Lewis-Kamera gezeigt wird, bleibt es im entscheidenden Moment für sie unbestimmt und nur Barnes hat visuellen Zugang zu den relevanten Informationen. Die Relevanz dessen, was er sieht, spiegelt sich für die Zuschauer nur in seinem entsetzten Blick und dem Ausruf: „Oh my god, oh my god, there is a bomb under the podium“ (0:17:24-0:17:28). Gleich darauf explodiert die Bombe bereits. Was Barnes tatsächlich gesehen hat, ob er etwa den Täter erkennen konnte, bleibt unbestimmt. Analog dazu ist auch die zweite Szene strukturiert. Barnes schaut sich im GNN-Übertragungswagen die Aufzeichnungen an und auch den Zuschauern wird der Blick auf den Monitor gewährt (Still 0:20:51). Dann erkennt Barnes etwas oder jemanden und reagiert wie bereits zuvor mit dem Ausruf: „Oh my god“ (Still 0:21:01), woraufhin er aus dem Wagen

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eilt. Auch in dieser Szene bleibt der Monitor im entscheidenden Moment für die Zuschauer unbestimmt, die Information wird ostentativ verweigert. Die Reaktion der Zuschauer auf diesen Informationsvorenthalt wird durch die Regisseurin Rex sogar ausformuliert, indem sie deren Gedanken verbalisiert: „What did he see?“ (0:21:06).

 Die Unbestimmtheiten sind in diesem Segment so explizit inszeniert, dass sie den Zuschauern nicht nur unzweifelhaft auffallen, sondern, indem sie mit der gewohnten Nähe zur Figurenperspektive brechen, auch für Spannung und Frustration sorgen. Die Figur Barnes, dessen Perspektive weitgehend geteilt wird, erhält exklusive Einblicke, die den Zuschauern selbst gezielt verwehrt werden. Dieser Mangel wird als solcher empfunden und die Zuschauer versuchen imaginativ die Lücke aufzufüllen und sich der Figurenperspektive durch leerstellenfüllende Hypothesen wieder anzunähern, die sich aus den gegebenen Informationen speisen. Aufgelöst werden diese Unbestimmtheiten erst in späteren Segmenten, indem die Szenen wiederholt werden und den Zuschauern dann ebenfalls der enthüllende Blick gewährt wird. Verglichen mit den Leerstellen, die in Form von Unterbrechungen und Dekontextualisierungen auftreten, wie sie oben beschrie-

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ben wurden, entsteht durch diese lokal ausstrahlenden Leerstellen weniger eine Kombinationsnotwendigkeit für die Zuschauer, sondern vielmehr eine Konkretisationsnotwenigkeit. Sie müssen weniger die über die gesamte Erzählzeit verstreut auftretenden Einzelaspekte zu einem sinnvollen Ganzen verbinden und so Kontexte und Kohärenzen herstellen, sondern sie müssen im Falle der Unbestimmtheiten vielmehr imaginativ tätig werden und explizite Diskrepanzen zwischen ihrer und der Figurenperspektive überwinden. Auch im zweiten Segment, das analog der Perspektive Enriques erzählt wird, findet sich ein entsprechender Einsatz von Unbestimmtheit. Am Ende wartet Enrique bei der Unterführung auf jemanden, den er mit den Worten „Surprised to see me alive?“ (0:29:06-0:29:08) empfängt. Die Unbestimmtheit besteht auch hier darin, dass die Zuschauer nicht sehen, was Enrique sieht, nämlich das Gegenüber, mit dem Enrique spricht. Nachdem die Zuschauer bisher seine Perspektive teilten und Empathie für ihn entwickeln konnten, zumal er unschuldig verfolgt und betrogen wurde, bleibt ihnen nun ein zentraler Teil des Geschehens vorenthalten. Die Äußerung Enriques lässt zusätzliche Spannung entstehen, denn offenbar geht von der für die Zuschauer nicht identifizierbaren Person eine gewisse Gefahr für ihn aus. Die Verweigerung der Information resultiert auch hier in Frustration der Zuschauer, die dadurch zu eigenen Hypothesen herausgefordert werden. Im vorliegenden Beispiel werden diese Hypothesen zusätzlich durch einige, die Leerstelle flankierende Informationen gelenkt. So ist etwa ein sich näherndes Martinshorn zu hören, das die Zuschauer mit einer früheren Szene in Verbindung bringen können, in der Enrique seine Freundin Veronica auf dem Beifahrersitz eines Krankenwagen sitzend gesehen hat. Das Wiedererkennen des Geräusches legt die Vermutung nahe, dass es sich bei der unbestimmten Person um Veronica handeln könnte. Die Unbestimmtheit wird nur stufenweise aufgelöst. Zunächst wird am Ende der nachfolgenden Perspektivierung bereits geklärt, dass die Person nicht Veronica ist, denn aus größerer Distanz ist ein männlicher Polizist zu sehen, dem Enrique in der entsprechenden Szene gegenübersteht. Diese teilweise Bestimmung erfordert eine Modifikation der Hypothesen der Zuschauer, die in ihrer Erwartung enttäuscht wurden. Endgültig bestimmt wird die Szene jedoch erst im letzten Segment, in dem die Perspektiven der unterschiedlichen Attentäter wiedergegeben werden und die Zuschauer in der unbestimmten Person Javier erkennen.

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Während die Unbestimmtheiten in den beiden beschriebenen Segmenten deutlich hervorgehoben und auch explizit als Leerstellen inszeniert werden, ist die Unbestimmtheit im folgenden, an die Perspektive des amerikanischen Touristen Howard Lewis angenäherten Segment (4) erst retrospektiv als eine solche erkennbar. Das bedeutet gleichzeitig, dass die Leerstelle gerade dadurch erzeugt wird, dass sie nicht mit der Perspektive Lewis’ bricht, sondern dass vielmehr die Perspektivierung gezielt zur narrativen Regulierung der Informationen und darüber hinaus zur Lenkung der Hypothesen instrumentalisiert wird. Die relevante Szene knüpft an das vorangegangene Segment an und führt dieses fort. Lewis steht auf der Überführung und blickt auf die Geschehnisse auf der Straße hinab, wo Enrique gerade auf die unbestimmte Person trifft. Die Unbestimmtheit, wem Enrique gegenübersteht, wird partiell aufgelöst, denn aus der distanzierten Perspektive Lewis’ wird nun ersichtlich, dass es sich nicht um Veronica, sondern um einen Polizisten, also einen Kollegen handelt. Daraus ergibt sich zunächst eine weitere Leerstelle. Die Zuschauer fragen sich, wieso Enrique bei seinem Kollegen davon ausgeht, dass dieser überrascht ist, ihn lebendig zu sehen. Es wird erneut deutlich, dass den Zuschauern hier wichtige Informationen zur Erschließung des Kontextes fehlen, denn die Perspektive Enriques ist bereits bekannt und entsprechende Hinweise wurden darin nicht präsentiert. Die teilweise Auflösung der einen Leerstelle eröffnet also eine weitere Leerstelle, die wiederum eine Modifikation der Zuschauerhypothesen bewirkt und darüber hinaus die Vollständigkeit der vorangegangenen Informationsvergabe in Frage stellt. Direkt auf diesen deutlichen Hinweis, dass der perspektivierten Informationsvergabe durchaus nicht zu vertrauen ist, folgt die nächste Unbestimmtheit. Den Zuschauern wird vorenthalten, was zwischen Enrique und seinem vermeintlichen Kollegen passiert. Aus seiner Position auf der Überführung schaut Lewis auf Enrique und Javier hinab. Dann ist der Ausruf „Freeze“ (0:40:58) zu hören und Lewis wendet sich um. In einem Point of View Shot durch die Kamera von Lewis werden den Zuschauern als vermeintliche Quelle dieses Ausrufs die beiden Secret Service Beamten gezeigt, die Enrique zuvor verfolgt haben (Still 0:41:01). Diese schießen in Richtung Enrique und Javier. Daraufhin blickt Lewis zurück zur Unterführung, wo Javier sich über den am Boden liegenden Enrique beugt, und murmelt: „He shot him“ (Still 0:41:08)

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 Die Unbestimmtheiten dieser Szene, die sich erst im letzten Segment final auflösen, bestehen darin, dass der Ausruf „Freeze“ nicht, wie durch die Montage nahe gelegt wird, von den Secret Service Beamten stammt, sondern von Thomas Barnes. Der Ruf gilt auch nicht Enrique, sondern Javier, denn dieser, auch das bleibt aus der Lewis-Perspektive unbestimmt, bedroht Enrique mit einer Waffe. Diese Waffe wird aus der Perspektive von Lewis (4) allerdings durch den angehobenen Kopf Enriques verdeckt und ist für die Zuschauer erst bei einer Wiederholung dieser Szene aus einer anderen Perspektive im letzten Segment (6) erkennbar (Still 1:13:57).

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 Die Unbestimmtheit basiert also gerade darauf, dass die Annäherung an die Perspektive Lewis’ zwar dazu benutzt wird, einen vollständigen Überblick über das Geschehen zu suggerieren, da er zudem eine erhöhte Position eingenommen hat. Jedoch werden durch das Verdecktbleiben relevanter Aspekte – wie etwa Thomas Barnes und Javiers Waffe – dennoch Informationen vorenthalten, die sich retrospektiv als bedeutungsrelevant herausstellen. Während in den ersten beiden Segmenten des zweiten Aktes, die an die Fokalisierungen der Figuren Barnes und Enrique angenähert sind, die Unbestimmtheiten durch einen Bruch mit der Perspektive der Figur deutlich markiert wurden, bleiben sie im Lewis-Segment zunächst unbemerkt, da sie der Perspektive folgen. Die Zuschauer erhalten die Informationen entsprechend den Wahrnehmungen von Lewis, die sich erst retrospektiv als unzuverlässig und unvollständig erweisen. Entscheidend ist dabei, dass aus seiner Position auch durchaus eine ‚korrekte‘ Wahrnehmung des Geschehens denkbar wäre, diese jedoch gezielt nicht umgesetzt wurde. Die Unbestimmtheiten in der Wahrnehmung führen für die Zuschauer so unweigerlich zu anderen Hypothesen. Dieses ‚Verführen‘ der Zuschauer zu einer bestimmten Lesart durch die spezifische Inszenierung erfolgt jedoch erst, nachdem ihnen in den Segmenten zuvor bereits Hinweise auf die Unzuverlässigkeit des perspektivierten Erzählens gegeben wurden. Sie wurden also zwar ‚gewarnt‘, erliegen aber dennoch unweigerlich der Suggestionskraft dessen, was ihnen gezeigt wird. Auffällig ist, dass die Unbestimmtheiten nur in diesem zweiten Akt, also innerhalb der drei Perspektivierungen Barnes, Enrique und Lewis auftreten. Gleiches gilt für die Leerstellenkategorie der Auslassung. Auch sie findet sich dominant in den drei Segmenten des zweiten Akts. So wird etwa, obwohl Thomas Barnes weiß, dass es sich bei dem Präsidenten, den

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er und seine Kollegen auf die Plaza Mayor begleiten, um ein Double handelt, diese Information für die Zuschauer bewusst ausgelassen. Hier weicht das Wissen der Figur von dem der Zuschauer ab, ohne dass diese das erkennen können. Barnes Wissensvorsprung bleibt vorerst unbemerkt, die Auslassung wird für die Zuschauer erst retrospektiv im fünften Segment erkennbar, das die Perspektive des Präsidenten selbst wiedergibt. Und auch in den Perspektivsegmenten 3 und 4 treten Auslassungen auf, die aus der Differenz zwischen Figurenperspektive und Zuschauerperspektive resultieren. Den Zuschauern wird dabei etwas vorenthalten, was für die Charaktere selbst deutlich wahrnehmbar ist. Diese Leerstellen dienen hier der Steuerung der Hypothesenbildung. Die endgültige Auflösung aller verbleibenden Leerstellen bringt schließlich das finale Segment, in dem gleich mehrere Perspektivierungen integriert werden. Zwar ist auch dieses sehr stark spannungserzeugend strukturiert, ebenso wie bereits die Segmente 2 bis 4, allerdings treten hier keine neuen Leerstellen mehr auf. Die Spannungserzeugung funktioniert also völlig unterschiedlich. Während im zweiten Akt die Leerstellen eine Offenheit bewirken, die die Zuschauer zum aktiven Schließen der Lücken auffordert und damit eine kognitive Spannung erzeugten, wird zur Erzeugung von Spannung im finalen Segment nicht auf den Einsatz von Leerstellen, sondern auf Parallelmontagen und erhöhte Schnittfrequenzen zurückgegriffen, besonders ausgeprägt etwa während der Verfolgungsjagd zwischen Barnes und Taylor. In diesem Fall entsteht keine Offenheit und bei den Zuschauern kein Bedürfnis, aktiv zu werden. Die Spannung ist daher eher als eine Art Mitfühlen zu charakterisieren und weniger als ein Anreiz zu gesteigerter kreativer Eigenaktivität. Ergebnis Die Figuren in Vantage Point bleiben weitgehend flach und stereotyp und sind stark funktional angelegt.15 Wenn überhaupt von der Dominanz eines der Charaktere gesprochen werden kann, so ist es Thomas Barnes, der durch etwas mehr Kontext plastischer wirkt. Dennoch entspricht auch er dem Klischee des traumatisierten Helden (vgl. Schmöller 2010: 147), der

15 Die Regisseurin Rex Brooks etwa spielt nach den ersten beiden Segmenten keine Rolle mehr.

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sich aus seiner anfänglichen Identitätskrise befreit und nahezu im Alleingang die Attentäter stellt und den Präsidenten rettet. Insbesondere die Gruppe der Attentäter, deren Motive und Hintergründe weitgehen unbeleuchtet bleiben, sind sehr eindimensional angelegt. Über Sam, Taylor und Veronica erfahren die Zuschauer kaum etwas, lediglich Javiers Handeln wird durch Informationen über seine Spezialausbildung und die Entführung seines Bruders legitimiert. Die Strukturierung des Films in sechs narrative Segmente führt nicht dazu, dass völlig alternative Sichtweisen des Geschehens präsentiert werden, wie dies etwa in Rashômon (Akira Kurosawa, 1950) der Fall ist, sondern es findet die permanente Redefinition und Weitererzählung einer Geschichte statt. Jedes subjektive Segment für sich genommen bleibt aspekthaft, liefert nur wenige oder unzuverlässige Informationen, alle zusammen jedoch lassen ein objektives Ganzes entstehen. Der Film suggeriert demnach die „Darstellung einer eindeutigen Wirklichkeit, die sich aus den Teilwirklichkeiten von Einzelfiguren zusammensetzt.“ (Schmöller 2010: 154) Dies gelingt durch den strukturellen Einsatz von Leerstellen in Form von Dekontextualisierungen und Unterbrechungen, die über den Bruch der Zuschauerperspektive mit der Figurenperspektive eine starke Spannung erzeugen. Das Bedürfnis nach Orientierung lässt aus den gegebenen Informationen Konkretisationsaktivität entstehen. Aus der permanenten Weiterentwicklung und Modifikation dieser Hypothesen entsteht im Rezeptionsverlauf die Super-Perspektive, welche den Zuschauern einen Wissensvorsprung gegenüber den einzelnen Figuren vermittelt. Auch Auslassungen und Unbestimmtheiten funktionieren über den Bruch zwischen Figuren- und Zuschauerperspektive, wobei in diesem Fall ein Wissensdefizit der Zuschauer entsteht, wodurch ebenfalls Spannung generiert wird, die sich jedoch stärker auf die Anteilnahme und das Involvement auswirkt. Gleichzeitig werden diese Leerstellen sehr stark zur Lenkung der Zuschauerhypothesen instrumentalisiert und dabei häufig dazu eingesetzt, falsche Fährten zu legen, um sowohl eine stärkere Anteilnahme an den Charakteren als auch mehrere Überraschungseffekte zu erzeugen. Der Film suggeriert zunächst die Lösung des Problems der Unzuverlässigkeit einzelner Perspektiven in der Form einer Super-Perspektive, ganz im Sinne des dictums ‚audiatur et altera pars‘. Dieser von den Zuschauern erzeugte Gesamtüberblick vermittelt den Eindruck, durch die Zusammen-

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schau der Einzelperspektiven alle relevanten Elemente der Story zu kennen. Darüber hinaus werden die Zuschauer durch die häufig auftretenden wiedererkennbaren Elemente in ihrer Rezeption d.h. in ihrem aus den gegebenen lückenhaften Informationen konkretisierten Gesamtüberblick immer wieder bestätigt, was den im Rezeptionsverlauf zunehmenden Eindruck der Überlegenheit und Omniszenz noch verstärkt. Auf dieser Ebene ist der Film Vantage Point als konventioneller Actionthriller konsumierbar. Dieser ideologisch kritische Eindruck der Omniszenz wird jedoch gerade durch die deutliche Instrumentalisierung der Leerstellen entlarvt, wodurch auf einer latenten Ebene die Möglichkeit einer solchen SuperPerspektive negiert wird. Das bereits im Titel angelegte Relativierungsprinzip der Perspektive wird nicht nur durch die Struktur, sondern auch inhaltlich aufgegriffen, indem das Motiv der Medien herangezogen wird. Der Film beginnt zunächst mit der Stimme eines Nachrichtensprechers des Senders GNN, der die Zuschauer über das Wann, Wo und Was der beginnenden Narration informiert. Dieser Prolog leitet die erste Perspektive ein. Die Regisseurin Brooks sitzt mit ihrem Team im Übertragungswagen und wählt, wie bereits beschrieben wurde, aus den zur Verfügung stehenden Einstellungen der verschiedenen Kameramänner aus, was in der Sendung gezeigt wird. Sie filtert die Ereignisse und selektiert das, was letztlich an die Zuschauer übertragen wird. Mehrmals wird dabei deutlich auf den zensorischen Aspekt dieser Selektion verwiesen. Der Film endet, wie er beginnt, mit dem Nachrichtensprecher, der nun verkündet, dass der Präsident bereits aus der Intensivstation entlassen und der „lone assassin“ (1:21:44-1:22:08) erschossen wurde, was, wie die Filmrezipienten wissen, nicht dem entspricht, was sie gesehen haben. 16 Die medienvermittelte Perspektive wird hier explizit als unvollständig und unzuverlässig vorgeführt, womit nicht nur deutlich Kritik am (US-ame-

16 Neben der Rahmung durch den Nachrichtensprecher und das erste Segment der Regisseurin spielen unterschiedliche Medien auch im weiteren Filmverlauf immer wieder eine entscheidende Rolle. Howard Lewis filmt mit seiner Kamera entscheidende Szenen, die Barnes wichtige Informationen liefern. Der Attentäter Sam löst per Smartphone die Schüsse aus und gibt Felipe per SMS den Befehl zu Selbstmordattentat. Veronica zeigt Javier ein Video seines gefesselten Bruders und auch die Kommunikationszentrale des Secret Service übernehmen die Attentäter.

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rikanischen) Mediensystem geübt, sondern gleichzeitig auch das Erzählen des Films selbst problematisiert und die Beeinflussung der Zuschauer thematisiert wird. Dieser selbstreflexive Umgang mit den Leerstellen lässt latent erkennbar werden, dass auch eine integrative Super-Perspektive, die letztlich auf unzuverlässigen Einzelperspektiven beruht, nicht notwendig zu einer finalen ‚Wahrheit‘ führt.

F AZIT Auf der Basis der beiden exemplarischen Filmbeispiele kann festgehalten werden, dass Leerstellen für das Medium Film eine relevante ästhetische Dimension darstellen. Im Vergleich zu den in Kapitel V dargestellten Einzelbeispielen, die einer möglichst kurzen und prägnanten Vorstellung der fünf Kategorien dienen sollten, konnte an der ausführlicheren Analyse der beiden Filme gezeigt werden, dass Leerstellen sich nicht nur auf einzelne Szenen beziehen lassen, sondern die Struktur der Filme maßgeblich prägen und für die Konkretisation der Bedeutung essentiell sind. Das beinhaltet, dass sie auch als Analysekategorie von zentraler Bedeutung sind. Beide Filme schöpften dabei nahezu das gesamte Spektrum an Leerstellen aus, die anhand der theoretischen Texte ausdifferenziert wurden, und instrumentalisierten Auslassungen, Unbestimmtheiten, Unterbrechungen und Dekontextualisierungen, ohne dass dabei auffällige Dominanzen auszumachen sind. Lediglich die Darstellungsleere trat in den beiden Filmen nicht auf. Während die Auslassungen und Dekontextualisierungen sich sehr stark auf die aktive Beteiligung der Zuschauer auswirken und entsprechende Konkretisationen provozieren, können Unbestimmtheit und Unterbrechungen – je nach ihrer Instrumentalisierung – sowohl Hypothesenbildungsprozesse als auch Involvement und Anteilnahme hervorrufen. Dies steht häufig in Zusammenhang mit der subjektiven Perspektivierung des Gezeigten. Dabei können Leerstellen sowohl durch das Einnehmen einer Figurenperspektive entstehen als auch durch den Bruch mit dieser. Übereinstimmend werden in beiden Filmen Leerstellen sowohl szenenbasiert als auch übergreifend eingesetzt und zudem stark mit dem jeweiligen Erzählprinzip verlinkt. Auf diese Weise beziehen sich Form und Inhalt der Narration explizit aufeinander, wodurch sich eine zusätzliche Kom-

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plexität ergibt. Die Leerstellen bilden eine übergreifende Struktur und das Schließen ist ein sukzessiver und hochdynamischer Akt, bei dem die Zuschauer maßgeblich selbst zum Entschlüsseln des Filmes beitragen müssen. Letztendlich stellen sie auf der Basis ihrer mehrfach modifizierten und an neue Informationen angepassten Konkretisationen einen Gesamtzusammenhang des Filmes her, der weit über das materiell tatsächlich Gegebene hinausgeht. Insofern sind Leerstellen hier eindeutig eine ästhetische Kategorie und konstitutiv für das jeweilige Erzählen in beiden Filmen.

VII. Leerstellen in televisuellen Erzählformen

Wie bereits ausgeführt wurde, umfasst das Fernsehprogramm eine Vielzahl sehr unterschiedlich ausgeprägter Erzählformen. Im Zentrum des Interesses stehen hier ausdrücklich nicht die pragmatischen Formen, sondern – analog zu Literatur und Spielfilm – nur die ästhetischen Produkte des Fernsehens, d.h. die fiktionalen Narrative, allen voran die Serien, daneben aber auch der Fernsehfilm bzw. das Fernsehspiel. Auch hier sei, wie bereits bei der Analyse der Leerstellen in Filmen, darauf verwiesen, „daß die Analyse sich in der Praxis […] auf die reellen Werke erstreckt“ (Todorov 1972: 266) und entsprechend konkrete Beispiele herangezogen werden, so dass sich deskriptive und theoretische Aspekte ergänzen. Anhand von zwei Beispielen soll im Folgenden der Einsatz von Leerstellen und ihre Ausprägungen im televisuellen Erzählen dargestellt werden, um die Relevanz der Kategorie und ihre Funktion zu verdeutlichen. Dabei liegt der Schwerpunkt auf dem seriellen Erzählen, das bereits in der theoretischen Literatur als spezifisch televisuelle Form reflektiert und hinsichtlich des Leerstellenbezuges diskutiert wurde. Daneben wird auch ein klassisches Fernsehspiel berücksichtigt und zur Leerstellenanalyse herangezogen.

S ERIELLES E RZÄHLEN Das Serielle ist die genuine Form televisuellen Erzählens. Dabei bezieht sich diese Serialität nicht auf die Relevanz der Fernsehserie im Besonderen,

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sondern ganz allgemein auf die Struktur des Fernsehnarrtivs insgesamt: den Programmablauf, die Wiederholung, die regelmäßige Wiederkehr von Formaten, den Fortsetzungscharakter von Sendungen etc. (Vgl. z.B. Hickethier 1991: 11ff, Faulstich 2008b: 31ff; 106) Gleichzeitig prädestiniert diese generelle serielle Struktur natürlich das Erzählen im Serienformat und macht die Fernsehserie zu einer genuin televisuellen Erzählform mit großer Relevanz für die Programmstruktur. Serien können „schon quantitativ als die wichtigste Form aller fiktionalen Fernsehsendungen betrachtet werden“ (Faulstich 2008b: 106). Dass Leerstellen in ihrer Ausdifferenzierung auch für dieses Narrativ zentral sind, hat sich bereits im theoretischen Teil angedeutet und soll nun exemplarisch an zwei unterschiedlichen Seriengenres belegt werden, die Leerstellen unterschiedlich funktional einsetzen: für die serielle Form der Serials steht hier die Soap Opera beispielgebend, für die Form der Series wird exemplarisch eine Sitcom herangezogen. Soap Opera Die Soap Opera, alternativ auch als Daily Soap bezeichnet, ist eine theoretisch endlos laufende Serie mit dynamischer Figurenkonstellation, wobei die einzelnen Folgen ebenfalls eine offene Struktur aufweisen. „The most obvious structural feature of daytime serials is that they never begin and never end.“ (Cantor/Pingree 1983: 22) Das Erzählen setzt nicht ab ovo, sondern medias in res ein und wird zum Ende einer Folge auch nicht abgeschlossen. Die Soap endet also nicht narrativ, sondern zeitlich terminiert, häufig mit einem Cliffhanger. Charakteristisch und zugleich konstitutiv ist die Pluralität der Handlungsstränge, die stark verschachtelt und episodenübergreifend erzählt werden. Allein hierin liegt bereits großes Leerstellenpotential. Als Beispiel für eine Soap soll hier die erfolgreichste deutsche Produktion dieses Genres herangezogen werden: Gute Zeiten, schlechte Zeiten. 1 Die Serie läuft seit 1992 wochentäglich um 19:40 Uhr auf RTL.

1

Während die klassische Soap in den USA ein Daytime-Format ist, sind die deutschen Soaps überwiegend im Vorabendprogramm angesiedelt. Dennoch stehen sie der amerikanischen Daytime Soap näher als der Primetime Soap, die in der Regel nur einmal pro Woche ausgestrahlt wird, dadurch einen höheren Etat hat und folglich mehr Action- und Außenszenen erlaubt. Gleichzeitig werden die Dialoge weniger stark ausgereizt und Konflikte schneller abgehandelt, wo-

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Struktur Eine Folge setzt in der Regel mit der Einblendung des Titellogos ein, das den Beginn der Sendung markiert. Daran schließt ein Prolog mit drei bis vier sehr kurzen Szenen an, die Ereignisse der vorherigen Folge wiederholen, um diese den Zuschauern noch einmal in Erinnerung zu rufen. Diese „Recaps“ (Landbeck 2002: 125) dienen nicht nur dem schnellen kognitiven Wiedereinstieg in das komplexe Geschehen der aktuell relevanten Handlungsstränge, sondern auch der emotionalen Einstimmung auf das Kommende. Im letzten Recap wird die Schlussszene der vorherigen Folge aufgegriffen und damit der finale Cliffhanger dieser Folge noch einmal wiederholt. Im Anschluss folgt der Titelvorspann und darauf die narrative Wiederaufnahme und Fortsetzung des durch den finalen Cliffhanger unterbrochenen Handlungsstranges der vorherigen Episode sowie eines zweiten Stranges. Dabei handelt es sich um sogenannte „pitch ups“ (Landbeck 2002: 116), die die Funktion einer Exposition übernehmen und die narrative Verbindung zwischen der vorherigen und der nun folgenden Episode herstellen. Daran schließt der erste von insgesamt zwei Werbeblöcken an, zwischen denen der narrative Hauptteil der Sendung liegt. Dieser Hauptteil greift in der Regel etwa drei bis maximal vier Handlungsstränge auf, die in insgesamt ca. 13 bis 14 kurze Sequenzen aufgesplittet werden, und führt diese narrativ fort. Im Anschluss an den zweiten Werbeblock folgen – als eine Art Epilog – noch einmal drei bis vier kurze Sequenzen, von denen zumindest die letzte mit einem Cliffhanger endet und damit auf Kommendes bzw. auf die nächste Episode verweist. Während des Abspanns mit den Credits wird mittels Split Screen zusätzlich bereits ein Ausschnitt der nächsten Folge als Appetizer gezeigt und so ein weiterer Cliffhanger generiert. Aus dieser Konfiguration von wenigen Haupthandlungssträngen, die jeweils in mehrere Sequenzen aufgesplittet und mit den Sequenzen anderer Handlungsstränge verschachtelt werden, ergibt sich für den narrativen Hauptteil eine Zopfstruktur. Dabei können die einzelnen Stränge nicht als völlig unabhängig voneinander betrachtet werden, denn auch wenn keine

durch das Verpassen einer Episode für den Nachvollzug gravierender ist als bei den Daytime-Formaten. (Vgl. z.B. Wiegard 1999: 14ff)

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akuten kausallogischen Verbindungen bestehen, sind die Handlungsstränge über die komplexen Beziehungen des Figurenarsenals doch miteinander verzahnt, da in einer Soap jeder jeden kennt. Titellogo 3-4 Szenen (Recaps)

Prolog

Titelvorspann 2 Szenen (Pitch-ups)

Exposition

Werbeblock I 3-4 Handlungsstränge alternierend in 13-14 Szenen

Hauptteil

Werbeblock II 3-4 Szenen

Epilog

Abspann mit Vorschau

Soaps gelten bis heute als ein inferiores Genre der Fernsehunterhaltung. Ihnen wird der Kunstcharakter unter anderem auch deshalb abgesprochen, da sie dem Betrachter – so einer der grundlegenden Vorwürfe – keine Verständnisleistung abverlangten, sondern im Gegenteil von ihren Zuschauern nur eine minimale Anstrengung forderten.2 Entsprechend dieser Annahme sollten Leerstellen in Soaps eher selten sein. Die Grundstruktur des Erzählens macht allerdings bereits deutlich, dass Unterbrechungen eine zentrale Rolle in der Dramaturgie der Soap spielen, da sowohl durch Fokuswechsel wie auch durch Werbepausen die Kontinuität des Erzählens unterbrochen wird. Dass diese Unterbrechungen Leerstellencharakter haben und damit ja gerade das konstitutive Moment des Rezipientenappells aufweisen, lässt sich an mehreren Beispielszenen belegt werden, um so das Argument der geringen Herausforderung der Zuschauer durch die Soaps zu widerlegen. Funktionalisierung der Leerstellen Unterbrechungen sind konstitutiver Bestandteil der Serials und damit zugleich die dominante, strukturrelevante Leerstellenkategorie. Daneben treten auch Unbestimmtheiten auf, diese dienen jedoch meist nur der kurzfristigen Verrätselung innerhalb einer Szene. Bevor detaillierter ausgeführt 2

Vgl. für eine Diskussion des ästhetischen Diskurses um die Soap Opera z.B. Allen (1985) S. 11ff, zum Problem der geringen Rezipientenherausforderung insbesondere S. 16.

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wird, wie diese Leerstellen strukturell eingesetzt werden, sei noch angemerkt, dass signifikante Auslassungen, Dekontextualisierungen oder Darstellungsleere sich in der hier analysierten Soap Opera nicht nachweisen ließen. Unterbrechungen dienen primär der Spannungserzeugung. Dabei ist Spannung als dramatische Struktur zu verstehen, als die klimaktische Ausrichtung einer Erzähleinheit auf etwas Kommendes. Aus ihr resultiert für die Rezipienten der aktive Wunsch zu wissen, wie es weitergeht. (Vgl. Bentley 1967: 29) Das bereits Bekannte evoziert eine starke Neugier auf das Zukünftige, so dass die Zuschauer nicht nur nicht um- oder abschalten, sondern auch immer wieder einschalten. „Es ist wie ein Appetit auf gewisse Speisen. Vielleicht schätzt man sie nicht besonders, aber man kann nicht von ihnen lassen. Das war das Geheimnis der Sheherezade in Tausend und Eine Nacht. Sie verstand es, die Teilnahme des Königs für A und B zu wecken, so daß er sie nicht köpfen ließ, um nun auch von C und D zu hören.“ (Bentley 1967: 20) Auf diesem erzählerischen Mittel, einer Art ‚narratio interrupta‘, wie sie Sheherazade meisterhaft umsetzte, beruht auch der Cliffhanger-Effekt der Soap Operas. Durch den Cliffhanger wird die Sukzession der Erzählung an einer strukturell spannenden Stelle unterbrochen, die Annäherung an die Auflösung pausiert. „Der Cliffhanger stellt den dramatisch zugespitzten Höhepunkt einer Folge dar; er findet sein Pendant am dramatisch zugespitzten Ende einer einzelnen Szene, das funktional die Spannung in der Schwebe hält.“ (Moritz 1996: 105) Diese spezifische Dramaturgie der Unterbrechung von Unabgeschlossenem und des Ausgerichtetseins auf Kommendes erzeugt ein starkes Involvement der Zuschauer. (Vgl. Fiske 1991: 103) Der Leerstellencharakter beruht also nicht allein auf dem Abbrechen, sondern auch auf dem Versprechen, dass es weitergehen wird. Dieses Wissen regt die Zuschauer an, die Unterbrechung imaginativ zu überbrücken. „Das offene Ende erzeugt nicht nur das vom Fortsetzungsroman bekannte und von den Produzenten kalkulierte Spannungsmoment, mit dem Wissen des Zuschauers, daß es nächste Woche weitergeht, suggeriert es Kontinuität, die sich als fortgeführte fiktive Handlung allwöchentlich auf dem Bildschirm materialisiert.“ (Moritz 1996:105)

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Diese suggerierte Kontinuität in Zusammenhang mit dem permanenten Aufbau von Spannung und der gleichzeitigen Verzögerung ihrer Auflösung durch die Cliffhanger macht ein spezifisches Erzählmoment der Soap Operas aus. „Die Narration erzeugt einen Erwartungsdruck auf eine Lösung, ein Ende der Geschichte hin, in dem sich alle Erzählfäden aufgehoben finden, das aber gerade bei langlaufenden Serien immer wieder hinausgeschoben bzw. nur in Teilen angeboten und zugleich mit neuen, weiterführenden Ausgangssituationen für neue Geschichten kombiniert wird.“ (Hickethier 1991: 30)

Für diese spezifische dramaturgische Struktur der Soaps, bei denen die Zuschauer in die narrative Lücke zwischen spannendem Jetzt und erlösender Zukunft geworfen werden, sind Leerstellen in Form von Unterbrechungen konstitutiv. Es gibt drei Anlässe, zu denen der narrative Prozess unterbrochen wird: Zum Wechseln des Handlungsstranges, zur Werbepause und zum zeitlich terminierten Ende der Episode. Abgesehen von diesem Wann scheint es sinnvoller, danach zu unterscheiden, was unterbrochen wird, denn daraus resultieren die leerstellenbedingte Zuschaueraktivität und die Spannung. Hier gibt es zwei grundlegende Tendenzen: Dynamisierung und Dramatisierung. Aus der wiederholten Unterbrechung der einzelnen Handlungsstränge resultiert eine Verlängerung des Wirkradius und die Zuschaueraktivität wird auf den langfristigen Verlauf des Handlungsstranges dirigiert, ist also episodenübergreifend orientiert. Diese Form der itterativen Unterbrechungen dominiert im Hauptteil der Episode und wirkt sich dynamisierend auf die Narration aus. Das häufige Alternieren lässt den geringen erzählerischen Fortschritt zurücktreten und lenkt den Fokus vom Hier und Jetzt der Handlung auf Zukünftiges. Wird allerdings eine Situation unterbrochen, die dadurch offen und unabgeschlossen bleibt, so ist der Wirkradius der Leerstelle enger und bezieht sich auf eine relativ kurze Zeitspanne. Die Wiederaufnahme und Fortführung des narrativen Stranges und die Lösung der Spannung findet – mit einer Ausnahme – noch in derselben Episode statt. In der Regel tritt diese kurzfristige Variante der Unterbrechung, die Aufmerksamkeit und das Interesse der Zuschauer halten soll, vor Werbepausen auf. Man kann entsprechend von Binnen-Cliffhangern sprechen. Diese Unterbrechungen wirken

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sich stärker dramatisierend aus, d.h. sie verstärken die gezeigte Problemsituation und intensivieren akute Spannungen und Konflikte. Die erwähnte Ausnahme von diesem Auflöse-Schema bilden die finalen Cliffhanger am Ende jeder Episode. Die Unterbrechungen treten dabei in der Regel in einer akuten Konfliktsituation auf, wodurch ebenfalls Spannung aufgebaut wird. Diese wird aber gerade nicht innerhalb der Episode wieder aufgehoben, die Auflösung bleibt aus. Die Konkretisationen der Zuschauer sind sehr konkret und sehr kurzfristig ausgerichtet, indem sie sich auf die akute Situation, die Szene selbst beziehen, die noch ungeklärt ist. Gleichzeitig wird die Unterbrechung – und damit die Verzögerung der Auflösung – lange aufrecht erhalten, woraus sich eine besonders starke Dramatisierung der Situation ergibt. Ein Beispiel für die erste Variante, den Einsatz einer Unterbrechung zum Wechseln eines Handlungsstranges, bietet etwa Episode 4159 (19.01. 2009). Paula (Josephine Schmidt) und Verena (Susan Sideropoulos) sitzen beim gemeinsamen Frühstück in ihrer WG-Küche und diskutieren Verenas Date am Vorabend sowie ihr Gefühlsleben. Diese Sequenz folgt direkt auf den Titelvorspann und kann daher der Expositions-Phase zugeordnet werden. Inhalte der vorangegangenen Episode werden dialogisch wiederholt. Nachdem Verena konstatiert: „Mit Leon bin ich durch, endgültig“ wird die Szene unterbrochen.





Weder das Frühstück noch das Gespräch der beiden Charaktere sind zwar beendet, dennoch wirkt die Szene durch die Äußerung durchaus abgeschlossen. Die Zuschauer gewinnen den Eindruck, über die relevanten Ereignisse informiert zu sein. Diese Art der Unterbrechung verleitet die Zuschauer nicht zu kurzfristig wirksamen Hypothesen, die sich auf den Fortgang der Sequenz, also den Dialog zwischen den Figuren beziehen, sondern zu längerfristigen Hypo-

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thesen, die den generellen Fortgang des Handlungsstranges betreffen. Wird Verena trotz des verpatzen Dates mit Taifun zusammenkommen? Oder ist sie – entgegen ihrer Beteuerung – doch noch in Leon verliebt? Wenn hier also von Spannung gesprochen werden kann, dann weniger von Detailbzw. Modalspannung, als vielmehr von Finalspannung – natürlich unter der Prämisse, dass es eine tatsächlich ‚finale‘ Lösung nicht geben wird und die Handlungsstränge der Soap infinit bleiben. Die Unterbrechung dient weniger der Dramatisierung des Gezeigten, sondern bewirkt eher eine Dynamisierung der inhaltlich stark redundanten, banalen Passagen. Anders verhält es sich in der positionell äquivalenten Szene der folgenden Episode (4160; 20.01.2009). Hier wird nach dem Titelvorspann die bereits zuvor in den Recaps gezeigte Cliffhanger-Szene des Vortages narrativ fortgeführt. Bei einem Blind Date auf dem Friedhof stellt sich für Lucy (Sarah Tkotsch) heraus, dass ihr bester Freund Philip (Jörn Schlönvoigt) auch ihr anonymer Internetflirt ‚Dante‘ ist, worauf sie verletzt und ablehnend reagiert. Auf Philips Rechtfertigungsversuche antwortet sie lediglich: „Du hast mich verarscht.“ Es folgen zwei Großaufnahmen der Gesichter, bevor die Szene nach insgesamt 35 Sekunden unterbrochen wird.





Hier setzt die Leerstelle mitten in einem noch nicht beendeten Dialog ein. Weder das Gespräch noch die Situation zwischen den beiden sind inhaltlich abgeschlossen, so dass die Unterbrechung sich deutlich auf das Entstehen von Spannung auswirkt. Die Erwartungen der Zuschauer richten sich auf den unmittelbaren Fortgang dieser Situation, sie fragen sich, wie der Dialog sich fortsetzen wird. Kann Philip Lucy doch noch von der Aufrichtigkeit

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seiner Gefühle überzeugen? Wird sie ihm seine Schwindelei vergeben?3 Den Zuschauern wird durch diese Unterbrechung einer Handlungseinheit und die damit einhergehende Verzögerung die Lösung der Spannung vorenthalten, wodurch eine verstärkende Dramatisierung des Dargestellten erzeugt wird. Während in diesem Beispiel die Fortsetzung in zeitlicher Nähe erfolgt – nach zwei Szenen eines anderen Handlungsstranges, die den ersten Werbeblock einrahmen –, wirkt die Unterbrechung im folgenden Beispiel längerfristig. Die letzte Szene der Episode 4161 (21.01.2009) ist in einem Standesamt angesiedelt, wo Clemens (Frank-Thomas Mende) und Elisabeth (Lisa Riecken) heiraten wollen, damit Clemens das Sorgerecht für seinen Enkel beantragen kann. Im Moment der entscheidenden Frage stürmt Clemens Sohn Tim (Oliver Bender) in den Raum und unterbricht die Zeremonie. Mit dieser Unterbrechung der Trauung korrespondiert auch die Unterbrechung der Szene.





Dadurch wird auch hier der direkte narrative Fortgang der Situation, die deutlich unabgeschlossen endet, verzögert. Die daraus resultierende Spannung ist auf eine kurzfristige Lösung der Situation ausgelegt und weniger auf den langfristigen Handlungsverlauf: Wie reagiert Clemens auf die Störung durch Tim? Werden sie sich jetzt endlich aussprechen? Wird die Hochzeit trotzdem noch stattfinden oder kann Tim sie verhindern? Allerdings wird die Unterbrechung und damit die Spannung maximal ausgedehnt und eine Auflösung zunächst verweigert. Die Zuschauer müssen bis zum nächsten Abend, manchmal sogar über das Wochenende warten, bis

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Natürlich ergeben sich daraus latent auch längerfristige Hypothesen, etwa danach, ob die beiden zueinander finden. Diese werden aber nicht direkt von der Unterbrechung ausgelöst.

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die spannungslösende Fortsetzung der Szene folgt. Die Unabgeschlossenheit der Situation verstärkt die Dramatik des Dargestellten und provoziert Hypothesenbildung. Das Versprechen auf Kontinuität bindet die Zuschauer über die Unterbrechung hinweg an die Serie. Sie wollen wissen, wie es weitergeht, und werden wieder einschalten. Wie einleitend bereits erwähnt, treten neben den Unterbrechungen als zentraler Leerstellenkategorie in GZSZ gelegentlich auch Unbestimmtheiten auf, die zur Verrätselung eingesetzt werden. Indem zumeist Personen nur partiell gezeigt werden, bleibt deren Identität unbestimmt. In der Regel werden diese Unbestimmtheiten relativ schnell – noch innerhalb einer Szene – aufgelöst. Gelegentlich können sie aber auch mit Unterbrechungen kombiniert und dadurch zeitlich ausgedehnt auftreten. Eine solche Instrumentalisierung findet sich in der finalen Szene der Folge 4160 (20.02.2009), in der die Unbestimmtheit einer Person genutzt wird, um die Bedrohlichkeit der Situation zu steigern. Jasmin (Janina Uhse) liegt schlafend im Bett in ihrem Laden, in dem sie auch wohnt. Dass die Tür versehentlich unverschlossen ist, wurde in einer früheren Szene mittels einer Nahaufnahme deutlich gezeigt, wodurch die Relevanz dieser Tatsache bereits ausgestellt wurde. Nun sieht man einen Mann in den Raum eindringen und sich dem Bett nähern, wobei dieser immer nur in einzelnen Aspekten gezeigt wird.









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Diese Unbestimmtheit erzeugt nicht nur Spannung, sondern provoziert auch die Vorstellungsaktivität der Zuschauer: Wer ist der Mann? Wird er ihr etwas antun? Wird Jasmin noch rechtzeitig wach oder kommt ihr gar jemand zu Hilfe? Dabei steigert die Unbestimmtheit die Bedrohlichkeit der Situation, wodurch das Involvement und das Mitfühlen mit Jasmin – die ja schläft und selbst gar nicht adäquat reagieren kann – deutlich verstärkt werden. Dieses Gefühl der Bedrohung wird noch weiter ausgereizt, indem die Unbestimmtheit konkretisiert, jedoch nicht vollständig aufgelöst wird. In Detailaufnahmen werden Aspekte des Gesichtes des Eindringlings gezeigt und mit Großaufnahmen von Jasmin alterniert.





Mit diesen Informationen ist für regelmäßige Zuschauer der Serie eine Auflösung der Unbestimmtheit und eine Identifikation des Mannes vermutlich möglich. Es handelt sich um den Stiefvater von Jasmin, der sie früher missbraucht hat. Er ist jedoch keine regelmäßig wiederkehrende Figur, weshalb die imaginäre Auflösung der Unbestimmtheit für Gelegenheitsseher sicherlich schwieriger ist. In beiden Fällen erzeugt die Unbestimmtheit eine starke szenenbezogene Spannung und verstärkt die Bedrohungssituation. Mit dieser Unbestimmtheit der Identität des Mannes endet diese Episode, wodurch zugleich eine Unterbrechung eintritt. Die Situation bleibt unaufgelöst und die Szene endet in einem finalen Cliffhanger, der die Unbestimmtheit exzessiv ausgedehnt. Ergebnis Wie deutlich zu erkennen ist, beruht die spezifische Offenheit des Erzählens der Soap Opera mit ihren vielen, unabgeschlossenen Handlungssträngen, auf Leerstellen. Die Unterbrechungen sind ein wesentliches Strukturmerkmal der Soaps, sie pausieren die Narration und erzeugen durch die Partialität der Informationen Konkretisationsaktivität bei den Zuschauern.

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Dadurch wird einerseits das alternierende Erzählen übergreifender Erzählstränge dynamisiert und andererseits die Handlung dramatisiert, was die Aufmerksamkeit der Zuschauer über die Unterbrechung hinweg binden soll. Die ökonomische Notwendigkeit der Werbepause wird durch den Einsatz der Leerstellen dramaturgisch instrumentalisiert. Neben den strukturell auftretenden Unterbrechungen sind auch Unbestimmtheiten eine wiederkehrende Leerstellenkategorie in Soap Operas, die häufig zu Beginn einer Szene dazu eingesetzt werden, Identitäten, Gegenstände oder insgesamt Situationen zu verrätseln und dadurch Aufmerksamkeit zu generieren. Entsprechend sind die Effekte dieser Unbestimmtheiten in der Regel kurzfristig, sie können jedoch in Kombination mit Unterbrechungen zu einer Steigerung der Wirkung eingesetzt werden. Sitcom Anders als die Daily Soaps weisen Sitcoms, als Series, eine narrativ relativ geschlossene Episodenstruktur auf mit einer initialen Problemstellung, aus der heraus sich die Handlung motiviert, die auf eine finale Lösung dieser Problemstellung ausgerichtet ist. Das Personal der Sitcoms ist deutlich reduzierter als das der Soaps und entsprechend werden auch weniger Handlungsstränge parallel geführt und das Erzählen erfolgt linearer. Demzufolge spielen Unterbrechungen hier eine deutlich untergeordnete Rolle. Auch Auslassungen und Darstellungsleere sind für das Erzählen in Series nicht von entscheidender struktureller Relevanz, sondern werden lediglich vereinzelt dramaturgisch eingesetzt. Neben dem gelegentlichen funktionalen Einsatz von Dekontextualisierungen, wie bereits oben beschrieben, dominiert in den Sitcoms die Leerstellenkategorie der Unbestimmtheit. Sie fungiert in ihrer deutlich wahrnehmbaren Informationsverweigerung als direkte Adressierung der Zuschauer, schafft Aufmerksamkeit, erzeugt Neugier, dynamisiert den narrativen Prozess und trägt schließlich zum Entstehen der Komik bei. Als Beispiel dient hier die US-amerikanische Sitcom How I Met Your Mother, die in den USA seit 2005 staffelweise von September bis April in wöchentlichem Rhythmus zur Primetime auf CBS und in Deutschland seit 2008 auf Pro 7, zunächst im Samstagnachmittagsprogramm, ab der fünften Staffel (2011) am Mittwochabend ausgestrahlt wird.

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Konzept Die Serie weist eine Rahmen- und eine Binnenhandlung auf. Die Rahmenerzählung ist im Jahr 2030 angesiedelt und ist auf ein einziges Setting beschränkt, das jedoch nicht in jeder Episode wiederkehrt. Der Hauptcharakter Ted Mosby will seinen Kindern (Lyndsy Fonseca, David Henrie) berichten, wie er ihre Mutter kennengelernt hat. Dabei wird allerdings jeweils nur die immer gleiche Einstellung der Kinder gezeigt, während der erzählende Vater unsichtbar, d.h. visuell unbestimmt bleibt und innerhalb dieser Rahmenhandlung nur als diegetischer Ich-Erzähler aus dem Off auftritt. (Still Season 1, Episode 1 0:04) Und auch die titelgebende Mutter, um die sich das Gespräch Teds mit seinen Kindern dreht, tritt niemals in Erscheinung. Auch sie bleibt unbestimmt – sowohl visuell als auch akustisch.

 Deutlich mehr Raum als diese Rahmenszenen nimmt jedoch die Binnenhandlung der Serie ein. Jede Episode gibt im Sinne dieser Binnenerzählung Ereignisse aus der Vergangenheit Teds wieder, die im Jetzt der Rezipienten verortet sind und die sich – mehr oder weniger konkret – um das Kennenlernen der potentiellen zukünftigen Mutter drehen.4 Die Unbestimmtheit der Mutter lässt die Zuschauer in jeder der Episoden aufs Neue rätseln, welche der Frauen, die Ted im Verlauf der Zeit kennen lernt, schließlich die Mutter seiner Kinder werden wird. Diese anhaltende Unbestimmtheit um4

In der ersten Staffel ist die Handlung im Jahr 2005 verortet, also zeitgleich zur US-Ausstrahlung.

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spannt damit die gesamte Serie und bleibt im Sinne einer Finalspannung immer latent präsent, auch wenn andere Ereignisse gerade im Vordergrund stehen. Sie kann, so die Vermutung, erst mit dem Ende der Serie tatsächlich aufgelöst werden, da – das sagt bereits der Titel – deren Sinn hinfällig wird, sobald der Hauptcharakter die Mutter seiner Kinder in der Binnengeschichte kennenlernt und diese für die Zuschauer identifizierbar ist. Funktionalisierung der Leerstellen Durch dieses Grundprinzip ist eine zentrale Leerstelle bereits mit dem Titel vorgegeben. Diese Unbestimmtheit ist nicht nur für einzelne Episoden oder eine Staffel zentral, sondern auf ihr basiert grundsätzlich das Konzept der Serie. Um die Zuschauer durch diese anhaltende Unbestimmtheit nicht zu sehr zu frustrieren, werden regelmäßig Hinweise eingestreut wie etwa, dass die Mutter sich auf der gleichen Party befand, aber dass man sich verpasst hätte. So wird die Möglichkeit der Auflösung immer wieder thematisiert und damit präsent gehalten, und die Reflexionen der Zuschauer werden erneut angeschoben. Die tatsächliche Auflösung wird jedoch immer wieder hinausgezögert, sozusagen maximal retardiert. Ganz im Stil Sheherazades schildert der Ich-Erzähler seinen Kindern (die allerdings von seinen Ausführungen deutlich weniger angetan sind als der Schah von Sheherazades) und den Zuschauern immer wieder neue Episoden aus seinen Junggesellenjahren. Die lange Zeitspanne der Unbestimmtheit wirkt sich deutlich auf die Erwartungen hinsichtlich der Auflösung aus. Diese wird von den Zuschauern einerseits zwar immer wieder erhofft und imaginär anhand von Informationen über die Frauen, die Ted kennenlernt, aufgefüllt, andererseits ist sie auch nicht erwünscht, da sie das Ende der Serie bedeutet. Es wird eine Atmosphäre des Besonderen evoziert und die Zuschauer erwarten entsprechend eine spektakuläre Auflösung der Unbestimmtheit am Ende der Serie. Die Leerstelle dient also dem Aufrechterhalten einer Finalspannung, die allerdings häufig nur latent wirksam ist und mit dem akuten Geschehen der Binnennarration interagiert. Durch diese Instrumentalisierung der Unbestimmtheit wird der Sitcom ein Element hinzugefügt, das der rein episodenbasierten Erzählweise klassischer Sitcoms normalerweise fehlt: eine übergeordneter Spannungsbogen. Im Fall von How I met your mother wird dieser alleine durch das Rätsel um die Mutter und die damit in direktem Zusammenhang stehenden Handlungsstränge konstituiert. Dabei übernimmt die Unbestimmtheit eine verbin-

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dungsstiftende Funktion. Die Leerstelle trägt dazu bei, den einzelnen Episoden und Staffeln einen übergeordneten Kontext zu geben. Dadurch erhält die Sitcom gleichzeitig einen für dieses Genre untypischen zeitlichen Rahmen, sie strebt einem Ziel zu und die Ereignisse wirken sich auf die fiktionale Zukunft aus. Neben dieser strukturgebenden Unbestimmtheit auf Ebene der Rahmenhandlung werden auch die einzelnen Episoden immer wieder deutlich durch den Einsatz von Leerstellen organisisert. So etwa zu Beginn der siebten Folge der ersten Staffel, als Teds Freunde Lily (Alyson Hannigan) und Marshall (Jason Segel) in ihrer Wohnung ein merkwürdiges Tier entdecken, das sie im Laufe der Episode loszuwerden versuchen. Dieses Tier bleibt jedoch für die Zuschauer unbestimmt, nur Lily und Marshall sehen es. Während der Haupthandlungsstrang dieser Episode sich um Ted dreht, der sich bei einer Partnervermittlungsagentur anmeldet und versucht, die perfekte Frau zu finden, wird der Nebenstrang mit Lily und Marshall allein durch diese Unbestimmtheit vorangetrieben. Während Marshall das Tier für eine Art Maus hält, ist Lily davon überzeugt, dass es eine Kakerlake gewesen sein muss. Die einzigen Informationen, die die Zuschauer erhalten, sind die widersprüchlichen Beschreibungen von Lily und Marshall. Da das Tier für die Zuschauer unbestimmt bleibt – auch eine ‚Phantomzeichnung‘ (Still 10:38) bringt keine nähere Bestimmtheit –,haben diese die Möglichkeit zu eigenen Konkretisationen.

 Die Unbestimmtheit dient der Verrätselung. Die Zuschauer fragen sich, um was es sich bei dem Tier handeln könnte, ob das Tier tatsächlich eine Mutation aus Maus und Kakerlake ist – wie Lily und Marshall vermuten –, wie

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man sich ein solches Tier vorstellen kann oder ob die beiden nicht doch völlig übertreiben. In diesem Beispiel bedient sich die Inszenierung der Unbestimmtheit gängiger Darstellungsmuster zur Herstellung von Bedrohungssituationen, allerdings, im Unterschied zur Unbestimmtheit in der oben beschriebenen Szene aus GZSZ, auf eine ironisierende Art. Die gängigen Darstellungsmuster aus Horror- oder Katastrophenfilmen werden übernommen, jedoch stark überzeichnet. Auf diese Art resultiert aus der Unbestimmtheit nicht Angst oder Anspannung, sondern Komik. Diese beruht auf dem Prinzip des Provozierens von Erwartungen und deren anschließender Enttäuschung, was für die Zuschauer zur Auflösung einer „gespannten Erwartung in nichts“ (Kant 1976: 276) führt, durch die keine Sinnstiftung mehr möglich ist, woraus Komik entsteht. (Vgl. Plessner: 106ff) Je länger die Unbestimmtheit aufrecht erhalten und nur durch wenige, wirre Informationen modifiziert wird, desto stärker wird die Neugier der Zuschauer auf das Tier. Die Unbestimmtheit wird auch zum Ende der Folge nicht aufgelöst, das Tier bleibt unbestimmt, allerdings bringt ein Wurf aus dem Fenster neue, überraschende Aspekte hervor: das Tier kann fliegen. Diese unerwartete Information entlarvt alle bisher naheliegenden Hypothesen – die der Maus, die der Kakerlake und die der ‚Kakermaus‘ – als falsch. Die gespannte Erwartung der Zuschauer wird nicht nur enttäuscht, sondern die Zuschauer werden stark irritiert. Offenbar handelt es sich um ein Tier, das noch absurder ist, als die Informationen bisher vermuten ließen. Neue, modifizierte Konkretisationen sind nun möglich. Das Beibehalten der Unbestimmtheit ist dafür grundlegend. Eine tatsächliche Auflösung würde die Absurdität des Tieres zwangsläufig zerstören und die Komik, die aus dieser Absurdität resultiert, brechen.5 Das Beispiel zeigt, wie Unbestimmtheit dazu genutzt wird, einen Handlungsstrang voranzutreiben und durch Spannung aufzuladen. Die Narration wird allein durch diese Unbestimmtheit befördert. Die Enttäuschung bzw. vielmehr das Konterkarieren der Zuschauerhypothesen durch die überraschende Neuinformation am Ende führt zum spontanen Abfall der gespannten Erwartungen und erzeugt Komik. Das Tier ist weg, dadurch ist auch die

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Die ‚cockamouse‘ tritt in Staffel 6, Episode 22 erneut auf, als Ted sie in einem verfallenen Hotel wiedertrifft.

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Spannung verflogen – selbst wenn die Unbestimmtheit nicht aufgelöst wurde – und der ursprüngliche Zustand wieder hergestellt. Ähnlich, wenn auch nicht ganz so dominant, wird Unbestimmtheit auch in Folge sechs der zweiten Staffel instrumentiert. Die Folge spielt in dem Architekturbüro, in dem Ted (Josh Radnor) arbeitet. Sein Chef hat für einen Wettbewerb ein neues Gebäude konzipiert, wobei das Modell dieses Gebäudes für die Zuschauer immer nur verhüllt zu sehen ist. (Still 04:22) Es bleibt also unbestimmt. Was diese Unbestimmtheit relevant macht, ist der mehrfache dialogische Rekurs auf die ausgeprägt phallische Form dieses Modells. Wiederholt wird das Modell mit Worten beschrieben oder gar für bestimmte Charaktere enthüllt, während es für die Zuschauer unbestimmt bleibt. Dadurch wird Neugier erzeugt.

 Auch wenn es sich hier ebenfalls um eine in der Episode wiederkehrende Unbestimmtheit handelt, strukturiert sie deutlich weniger die Narration der ganzen Episode, sondern wirkt stärker szenenformend. Die Neugier der Zuschauer, die durch die Unbestimmtheit geweckt wird, wird letztlich nicht befriedigt, das Modell wird nicht gezeigt. Diese unaufgelöste Verrätselung macht das Vorenthaltene interessanter, die Unbestimmtheit wird zu einem Spiel mit den Zuschauern. Wie schon im Falle des mysteriösen Tieres sind auch hier die individuellen Konkretisationen der Zuschauer interessanter, als die Auflösung der Unbestimmtheit es sein könnte. Jede Auflösung wäre eine Enttäuschung und würde den Reiz des Komischen zerstören. Auf diese Weise trägt die Unbestimmtheit wieder zur Dynamisierung der Narration bei und fügt ihr eine weitere Ebene hinzu.

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Ergebnis Die Erzählform der Sitcom hat ebenfalls Aspekte der Instrumentalisierung von Leerstellen erkennen lassen. Zum einen wurde die Unbestimmtheit dazu genutzt, die Handlung des Nebenstranges zu initiieren und voranzutreiben, zum anderen ist die Erzeugung von Komik eine wesentliche Funktion des Leerstelleneinsatzes in Sitcoms. Zudem fällt auf, dass die Unbestimmtheiten deutlich länger, d.h. über mehrere Szenen, Episoden oder Staffeln hinweg aufrecht erhalten werden, wohingegen sie in Soap Operas lediglich szeneninhärent funktionalisiert werden. Häufig wird in den Sitcoms eine Auflösung sogar ganz verweigert, was in manchen Anwendungskontexten als eine metatextuelle Adressierung der Zuschauer zur stärkeren Bindung an die Serie fungieren kann. Wie bereits in Kapitel V gezeigt wurde, können auch Dekontextualisierungen strukturbildend für die Sitcom-Narration sein. Daraus folgt, dass – anders als bei den Soaps – nicht eine Form von Leerstellen konstitutiv für das serielle Erzählen in Sitcoms ist, sondern dass in den verschiedenen Episoden jeweils unterschiedliche Leerstellen als dominante Erzählstrategie eingesetzt werden – je nach gewünschter Funktion.

F ERNSEHSPIEL In den Bereich des nicht-seriellen fiktionalen Erzählens im Fernsehen fallen – neben den redistribuierten Kinofilmen – im Wesentlichen das Fernsehspiel oder der Fernsehfilm. Auf eine ausführliche Diskussion der Unterscheidung zwischen diesen beiden Erzählformen des Fernsehens muss hier verzichtet werden.6 Die beiden am häufigsten vertretenen Kriterien zur Definition des Fernsehspiels in Abgrenzung zum Fernsehfilm sind einerseits die Unterscheidung zwischen elektronischer versus filmischer Aufzeichnung oder andererseits die Unterscheidung zwischen den televisuellen Eigenproduktionen und eingekauften Filmproduktionen. Mit Hickethier wird hier jedoch davon ausgegangen, dass das Trägermaterial als Distinktionseigenschaft inzwischen an Bedeutung verloren hat. „Alle anspruchsvollen Fernsehspielproduktionen sind heute Fernsehfilmproduktionen, die

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Für eine ausführliche Darstellung siehe z. B. Schneider (1990), von Rüden (1975), Hickethier (2001), Stockmann (2005) und Gottschalk (1979).

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sich nur noch dadurch vom Kinofilm unterscheiden, daß sie primär für das Fernsehen und nicht für das Kino produziert worden sind.“ (Hickethier 2001: 162) Eine strikte Unterscheidung zwischen Fernsehspiel und Fernsehfilm ist in Zeiten, in denen Fernsehsender und Filmproduktionen bei der Herstellung und Verwertung vielfach kooperieren und zunehmend auch digital produziert wird, ohnehin kaum mehr möglich. (Vgl. von Rüden 1975: 11) Als Beispiel für die Analyse wird hier auf ein klassisches Fernsehspiel zurückgegriffen. Das Millionenspiel ist ein vom WDR produziertes Fernsehspiel von Wolfgang Menge (Buch) und Tom Toelle (Buch, Regie) aus dem Jahr 1970. Es wurde für das Fernsehen selbst – und nicht etwa für die Leinwand – produziert, jedoch nicht mit elektronischen Fernsehkameras, sondern auf Filmmaterial. Inhalt Das Millionenspiel zeigt das Finale einer fiktiven mehrteiligen Fernsehshow, in der der Kandidat Bernhard Lotz (Jörg Pleva) eine Woche lang vor einer Gruppe Auftragskiller flüchten muss. Falls er diese Woche überlebt, gewinnt er eine Million, gelingt es den Verfolgern jedoch, ihn zu erschießen, erhalten sie die Belohnung. Während der Show, die von dem Showmaster Thilo Uhlenhorst (Dieter Thomas Heck) moderiert wird, werden wiederholt Ausschnitte eingespielt, die zeigen, wie es Lotz im Verlauf des Tages bei seiner Flucht ergangen ist. Auch Interviews mit den Verfolgern, der Köhler Bande, werden präsentiert oder (fiktive) Passanten danach befragt, wie ihnen die Show gefällt und ob sie Lotz oder den Verfolgern die Daumen drücken. Die diegetischen Zuschauer spielen aber nicht nur als passive Rezipienten – vor den fiktionalen Bildschirmen wie auch im Showstudio – eine Rolle. Sie können auch aktiv in das Geschehen eingreifen, indem sie Lotz unterstützen und ihm zu entkommen helfen oder aber auch seinen Aufenthaltsort an die Verfolger verraten. Die Verfolgungsjagd endet schließlich im Fernsehstudio, das an eine Arena erinnert. Das großes Finale der Show, Lotz‘ Lauf durch die ‚Todesschlange‘, wird von dort live übertragen. Dabei wird er zwar angeschossen, überlebt jedoch und gewinnt damit das ‚Spiel‘.

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Struktur Die primäre narrative Strategie des Fernsehspiels Das Millionenspiel besteht darin, sich als Fernsehshow zu inszenieren, wodurch den Zuschauern suggeriert wird, sie sähen keinen Film, sondern eine Livesendung. Dieser Eindruck wird formal durch die Kombination zahlreicher spezifischer Elemente erreicht, durch die die fernsehtypische Segmentstruktur fingiert wird. Showelemente werden im Wechsel mit filmisch wirkenden Ausschnitten, Werbespots, Interviews und dem Geschehen hinter den Kulissen gezeigt, so dass die Fiktion des Fernsehspiels durch die Inszenierung nonfiktionaler Sendeelemente überdeckt wird. Die Handlung des Fernsehspiels findet auf fünf unterschiedlichen diegetischen Ebenen statt. Die Ebene der Show bildet das Erzählzentrum, mit dem alle anderen Ebenen in Verbindung stehen. Durch den Livecharakter der Show bildet sie das Hier und Jetzt des Erzählens. Die Ebene des Kandidaten Lotz wird mittels filmischer Rückblicke, die jeweils mehrere Minuten umfassen, in die Show integriert. Diese beiden zentralen Ebenen vereinen sich schließlich in der finalen Sequenz, in der Lotz das Fernsehstudio erreicht. Daneben stellen die fingierte Ansagerin zu Beginn des Fernsehspiels sowie die sechs Werbespots, die die Show unterbrechen, eine dritte Ebene dar. Sie wirken wie ein fernsehspezifischer paratextueller Rahmen, der explizit dazu dient, Nonfiktionalität zu suggerieren. Gleiches gilt für die Ebene der dokumentarisch wirkenden Straßeninterviews, die ebenfalls als Einspieler während der Show gezeigt werden. Hier sind Reporter zu sehen, die auf der Straße Passanten unter anderem danach befragen, was sie von der Fernsehshow ‚Das Millionenspiel‘ halten und wie sie den Kandidaten finden. Die fünfte Ebene stellt das Geschehen hinter den Kulissen dar und ist damit die einzige Ebene, die mit der Fiktion der Nonfiktion bricht, denn hier wird präsentiert, was bei einer ‚normalen‘ Show nicht gezeigt wird: die Hinterbühne. Sie dient als deutliche Kontrastfolie zu dem, was auf der Vorderbühne, der Showbühne des Studios geschieht, und bildet den einzigen Unterschied zwischen dem, was die fiktionalen Zuschauer der Fernsehshow sehen, und dem, was wir als die realen Zuschauer des Fernsehspiels sehen. Aber auch trotz dieser im Grunde entlarvenden Einblicke in das Geschehen hinter den Kulissen wirkt sich das Zusammenspiel der übrigen Ebenen durchaus überzeugend auf die Showillusion aus.

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Ein wesentlicher Faktor in dieser komplexen narrativen Gestaltung sind die Leerstellen, insbesondere das Zusammenspiel zweier Leerstellenkategorien auf der Strukturebene des Werks. Neben einigen Unbestimmtheiten, die der kurzfristigen, dramaturgischen Verrätselung dienen, treten Leerstellen dominant in Form von Unterbrechungen und Dekontextualisierungen auf, die jeweils entgegengesetzte Funktionen erfüllen. Während Unterbrechungen fernsehtypisch eingesetzt werden, um die Einspieler spannungserzeugend in dramatischen Momenten zu unterbrechen und damit die Show-Fiktion zu stützen, dienen die Dekontextualisierungen umgekehrt dazu, diese Fiktion der Nonfiktion erkennbar werden zu lassen, d.h. die Illusion zu durchbrechen und die Zuschauer zur kritischen Reflexion anzuregen. Hickethier erkennt den hier wirksamen leerstellenhaften Aspekt der Irritation: „Die Zuschauer wussten zu diesem Zeitpunkt auf eine ganz selbstverständliche und unreflektierte Weise, was eine Show ist. Wenn jetzt die Fiktion, die ja von möglichen Welten erzählt, sich dieser Form, die nicht zum Repertoire der Darstellung von möglichen Welten gehörte, bediente, dann ergab sich daraus eine ästhetische Irritation.“ (Hickethier 2009: 73)

Aus dieser ‚ästhetischen Irritation‘ heraus, die die vertrauten Konventionen in Frage stellt, erfolgen die Konkretisationsakte und das Verstehen der Zuschauer. Funktionalisierung der Leerstellen Der gezielte Einsatz von Leerstellen erfolgt insbesondere zu Beginn des Fernsehspiels. Hier werden die Unterbrechungen und Dekontextualisierungen so kombiniert, dass die gegebenen Informationen von den Zuschauern nicht sicher eingeordnet werden können und eine starke Irritation erzeugt wird. Paradigmatisch für diese Gesamtstruktur soll hier die Eingangssequenz näher dargestellt werden. Das Fernsehspiel beginnt ohne Front Credits direkt mit einer Ansagerin, die – bereits Teil des fiktionalen Fernsehspiels – eine Fernsehshow mit dem Titel ‚Das Millionenspiel‘ ankündigt. Diese Ansage wird allerdings abgebrochen, noch bevor die Ansagerin wie üblich ‚gute Unterhaltung‘ wünschen kann, und es folgt keine Show, sondern der erste Ausschnitt, der

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Bernhard Lotz auf dem Fußboden neben einem Bett liegend zeigt.(Still 0:00:45) Dieser ist jedoch zunächst nur zu hören und nicht zu sehen, also visuell unbestimmt. Während der ersten 20 Sekunden der Szene bleibt er in dieser verdeckten Position und telefoniert („Ja … ja … ja … Kaffee“/ 0:00:43-0:01:05), erst dann richtet er sich auf und wird auch visuell bestimmt.

 Dieser Einstieg in das Geschehen um Lotz erfolgt unvermittelt und wirkt eher wie der Beginn eines Filmes medias in res. Die Aufeinanderfolge dieser beiden Sequenzen, die nicht zueinander in Beziehung zu setzen sind, und ebenso der Beginn der Handlung ohne einführende Kontextualisierung des Gezeigten geben Rätsel auf. Die Zuschauer wissen nicht, wieso die Ansage unterbrochen wurde, wer Lotz ist oder wieso er neben dem Bett liegt und sich so sonderbar verhält. Die Darstellung ist dekontextualisiert, sie irritiert und fordert dadurch zur Aufmerksamkeit heraus. In den nächsten Minuten ist nun zu sehen, wie Lotz aufsteht, den Fernseher einschaltet – auf dem erneut die Ansagerin zu sehen ist, die die Spielregeln der Show erklärt – und schließlich, durch den Zimmerservice gewarnt, unter Beschuss durch die Köhlerbande aus dem Hotel entkommt. Diese Sequenz verstärkt den Eindruck, es handele sich um einen Film. Während Lotz über die Dächer flieht, verändert sich jedoch unvermittelt die Darstellung, indem das Bild bei jedem Schussgeräusch kurz erstarrt und einen Freeze Frame des Flüchtenden zeigt. Dieses Anhalten der Wiedergabe stellt einen deutlichen Bruch mit der Illusion dar und lässt den Wechsel auf

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eine andere Darstellungsebene – die inzwischen dritte – erkennbar werden, denn nun setzt sukzessive die Titelsequenz der durch die Ansagerin angekündigten Show ‚Das Millionenspiel‘ des Senders ‚Transeuropa TV‘ ein. (Still 0:05:48)

 Die filmische Sequenz der Flucht wird – in einem spannenden Moment – unterbrochen und es findet ein Bruch in der Kontinuität statt, mit dem ein Wechsel von Ort, Zeit und Handlung einhergeht. Die Titelsequenz geht in die zuvor angekündigte Show über. Die Abfolge der Erzählelemente – die Ansagerin, der ‚Film‘ und die Show – wirken zunächst unzusammenhängend und die Bezüge zueinander sind unklar, so dass keine kausale Kontextherstellung erfolgen kann. Erst nach einigen Minuten, in denen das Showballett auftritt, wird in der Show schließlich Bezug auf den zuvor gesehenen Filmausschnitt genommen. Dadurch wird die Dekontextualisierung aufgehoben, die Zusammenhänge werden deutlich und das zuvor Gezeigte wird rückwirkend als showinterner Einspieler erkennbar. Gleichzeitig wird dadurch die zweite Leerstellenkategorie, die Unterbrechung, als ein gängiges fernsehspezifisches Instrument zur Spannungserzeugung markiert, sie ist Teil der Fiktion. Unterbrechungen treten insbesondere dann auf, wenn vom Handlungsstrang des Kandidaten auf einen der anderen gewechselt wird. Lotz flieht vor den drei Killern, die im ständig dicht auf den Fersen sind, und befindet sich daher in permanenter Gefahr, woraus Spannung entsteht. Entsprechend fordern die Unterbrechungen dieses Handlungsstranges Konkretisations-

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aktivität heraus, denn die Zuschauer fragen sich, wie es mit dem Kandidaten weitergeht, ob er den Schüssen ausweichen oder den ‚guten Samaritern‘ trauen kann und ob er die Flucht überhaupt überleben wird. Die Optionen, die an diesen Abbruchstellen möglich scheinen, sind vielfältig. Die Dekontextualisierungen hingegen wirken auf einer metafiktionalen Ebene. Die durch die häufigen unvermittelten Kontinuitätsbrüche entstehenden Irritationen und das Verweigern von Informationen zur kontextuellen Orientierung lassen Leerstellen entstehen, die sich auf das Erzählen selbst beziehen und die sich erst im Verlauf der Rezeption langsam schließen lassen. Die Zuschauer werden durch die Dekontextualisierungen wiederholt herausgefordert, sich kritisch mit dem Gezeigten auseinanderzusetzen und Hypothesen zu entwerfen. Durch diese gezielte Instrumentalisierung der Dekontextualisierungen wird so nicht nur die Showfiktion gebrochen und das Fernsehspiel als Film erkennbar, sondern auch die didaktische Intention des Fernsehspiels erfüllt sich durch diese Leerstellen. Die Orientierungslosigkeit lässt die Zuschauer nach Kontexten suchen, sie müssen das Gezeigte zueinander in Beziehung setzen und gewinnen dadurch die nötige Distanz, um die sozial- bzw. medienkritische Perspektive erkennen zu können, die sich hinter der Showfassade des Fernsehspiels Das Millionenspiel versteckt.7 Ergebnis Die narrative Struktur des Fernsehspiels wird grundlegend bestimmt von zwei unterschiedlichen Leerstellenformen: Unterbrechungen und Dekontextualisierungen. Daneben treten gelegentlich auch Unbestimmtheiten auf, werden aber in der Regel innerhalb einer Szene wieder aufgelöst und dienen lediglich dem dramaturgischen Zweck der kurzfristigen Verrätselung. Die Funktion der Unterbrechungen liegt in der Erzeugung von Spannung. Diese ist sowohl kurzfristig auf den Ausgang einzelner Gefahrensituationen als auch langfristig auf die Fluchtsituation insgesamt ausgerichtet. Durch die Unterbrechungen und den wechselnden Fokus auf die verschiedenen Handlungsebenen wird zudem die Narration dynamisiert und da-

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Dass die Leerstellen nicht von allen Rezipienten in diesem Sinne aufgefüllt wurden, belegen die Reaktionen zahlreicher Zuschauer, die sich beim Sender als zukünftige Kandidaten für die Show anmelden wollten.

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durch Aufmerksamkeit geschaffen. Insgesamt unterstützen die Unterbrechungen die narrative Strategie, das Fernsehspiel wie eine Show wirken zu lassen, indem der Flow der unterschiedlichen Segmente imitiert wird. Dieser Eindruck ist die Basis für die satirische Metaebene, die wiederum durch den gezielten Einsatz von Dekontextualisierungen erkennbar wird. Diese öffnen das Gezeigte für eine kritische Reflexion, indem durch die starken Irritationen und die Verweigerung der Orientierung Distanz zum Gezeigten aufgebaut wird, was zum einen die Fiktion der Nonfiktion erkennbar werden lässt und zum anderen die deutlich medienkritische Position offenbart. Das Millionenspiel als fiktive Finalshow einer futuristischen Gameshow reagierte auf die gesellschaftlichen Veränderungen der Zeit, die sich in einem Schwund an sozialkritischen Programmformen und einem Fokus auf den reinen Unterhaltungswert manifestierten. (Vgl. Hallenberger 1994: 52). Dabei bedient es sich durchaus formaler Elemente, die „in ihren Grundbestandteilen […] so oder ähnlich formal (wenn auch nicht in dieser zynischen Zuspitzung) auch im öffentlich-rechtlichen Fernsehen präsent waren“ (Hickethier 2009: 70). Neu war jedoch, dass es sich nicht mehr kritisch auf die außerfiktionale Welt, sondern auf die mediale Repräsentation von Welt im Fernsehen bezog und damit Bezug auf Sendungen wie Aktenzeichen XY ungelöst und Wünsch Dir was nahm, in denen viele Zuschauer Grenzüberschreitungen des öffentlich Darstellbaren sahen.8 (Vgl. Hickethier 2002) Durch seine Art der Darstellung betrieb Das Millionenspiel nicht nur Kritik am wachsenden Unterhaltungswahn des Fernsehens, indem es zeigt, wie Bernhard Lotz auf menschenverachtende Weise wie Freiwild durch die Nation gejagt wird, bis er schließlich vollständig erschöpft zusammenbricht, sondern wies auch gänzlich neue und innovative Möglichkeiten des Narrativs Fernsehspiel auf. Diese Funktionalisierung mag an Isers Negationen erinnern, die ebenfalls mit einer didaktischen Intention belegt sind. Allerdings hat Iser seine Kategorie stärker auf das tatsächliche Ändern von Verhaltensweise oder

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Die Sendung Aktenzeichen XY ungelöst fordert ihre Zuschauer in regelmäßigen Abständen zur Verfolgung von Straftätern auf und in der Spielshow Wünsch Dir was wurde durch gefährliche Aufgaben – wie das Versenken eines Autos mit den Kandidaten als Insassen in einem Pool – zum Teil die körperliche Unversehrtheit der Kandidaten massiv bedroht.

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Vorstellungen ausgerichtet, während es in Das Millionenspiel stärker um das Erkennen gesellschaftlicher Strukturen geht, ohne dass daraus direkt ein normativer Handlungsappell resultiert.

F AZIT Es ist festzuhalten, dass alle fünf Kategorien von Leerstellen im televisuellen Narrativ auftreten, wenn auch in einem deutlich unterschiedlichen Häufigkeitsverhältnis. Unbestimmtheiten, Unterbrechungen und Dekontextualisierungen sind häufig und werden ausgeprägt instrumentalisiert, während Auslassungen deutlich seltener eingesetzt werden und Darstellungsleere sogar nur in der Hybridform Werbespot und nicht im fiktionalen Erzählen nachgewiesen werden konnte. Auch wenn Leerstellen in einigen Szenen rein dramaturgisch eingesetzt werden, so kann doch festgehalten werden, dass Leerstellen sich als Strukturelemente wesentlich auf die Gesamtbedeutung televisueller Produkte auswirken. Insofern stellen Leerstellen eine relevante ästhetische Komponente dar, ein konstitutives Strukturmerkmal, das analytisch berücksichtigt werden muss. Sie erfüllen dabei die unterschiedlichsten Funktionen wie Dynamisierung, Dramatisierung, Komikerzeugung, Aufmerksamkeitsbindung und Irritation. Als eine im televisuellen Erzählen dominante Leersellenkategorie hat sich die Unbestimmtheit erwiesen, die – unterschiedlich ausgeprägt – in allen Beispielen zu finden ist. Während Unbestimmtheiten in der Soap und im Fernsehspiel zumeist nur für eine Szene von Bedeutung sind und der spannungssteigernden Verrätselung dienen, wirken sie sich in der Sitcom strukturell bedeutungsgenerierend aus und treiben das Geschehen einzelner Handlungsstränge immer wieder voran. Für das serielle Erzählen sind Unterbrechungen schon allein aufgrund der Notwendigkeit einer Organisation der zeitlich determinierten Wiedergabe des infiniten Narrationsflusses bei mehreren parallelen Handlungssträngen elementar. Die zeitliche Ausdehnung und die narrative Struktur, die den fiktionalen Programmelementen inhärent ist, bieten zudem die Basis für einen diversifizierten und differenzierten Einsatz von Leerstellen. Unterbrechungen dienen in den Soaps der Dynamisierung des alternierenden Erzählens sowie dem Dramatisieren der Handlung. Dadurch wird Span-

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nung erzeugt und eine Bindung der Zuschauer an das Programm bewirkt. Eine ähnliche Funktion übernehmen sie auch im Fernsehspiel, jedoch dienen sie darüber hinaus in dem gewählten Beispiel zusätzlich der Unterstützung einer bestimmten Lesart. Dekontextualisierungen ließen sich sowohl in der Sitcom als auch im Fernsehspiel als bedeutsames Strukturelement nachweisen. In beiden Fällen erfolgt die Auflösung, d.h. die Kontextherstellung sukzessive und wird nahezu über die gesamte Dauer der Narration ausgedehnt. Dekontextualisierungen erzeugen Irritationen und Orientierungsdefizite, woraus eine stärkere Aufmerksamkeit und Neugier resultieren. Im Falle des Fernsehspiels wurden die Dekontextualisierungen zudem dazu genutzt, den Fokus auf die Metaebene der Narration zu lenken und eine kritische Distanz zum Gezeigten zu erzeugen. Die beiden weiteren Kategorien Auslassung und Darstellungsleere ließen sich in Soap, Sitcom und Fernsehspiel nicht nachweisen. Die Beispiele in Kapitel V konnten jedoch bereits mögliche Anwendungsfelder für diese beiden Ausprägungen zeigen: Auslassungen führen in der Regel dazu, dass zuvor Gezeigtes rückwirkend in einen anderen Kontext gerückt wird und reinterpretiert werden muss. Entsprechend treten Auslassungen stärker in längeren Narrativen mit komplexer Erzählstruktur auf. Im Beispiel aus der Serie Prison Break wurde die Auslassung dazu genutzt, eine alternative Lesart nahezulegen und dadurch Konfliktspannung zu erzeugen, wodurch eine ansonsten banale Handlung dramatisch aufgeladen wurde. Die Kategorie der Darstellungsleere tritt im televisuellen Erzählen nur marginal auf. Das Beispiel des Werbespots zeigt jedoch das Potential dieser Kategorie, die Aufmerksamkeit der Zuschauer zu binden und sie als Kommunikationspartner zu bestätigen.

VIII. Ergebnis

Mit dem Begriff Leerstelle werden im Anschluss an die obigen Ausführungen medienübergreifend solche ästhetischen Phänomene bezeichnet, die sich als ein bedeutungsvolles Fehlen von Informationen manifestieren, also explizit keine Ellipsen, sondern ein intendiertes – und gelegentlich ostentatives – Vorenthalten von Hinweisen, die zur Herstellung der Bedeutung benötigt werden. Leerstellen sind durch ein gezieltes Wechselspiel aus Vergabe und Zurückhalten von Informationen gekennzeichnet, wodurch zwar Offenheit erzeugt, gleichzeitig aber auch die Konkretisationsaktivität limitiert und gelenkt wird. Die planvolle Nicht-Information geht also mit ebenso präzise ausgewählter Information einher. Das so erzeugte Empfinden eines Informationsmangels bewirkt das Aktivwerden der Rezipienten. Sie ergänzen auf Grundlage des Gegebenen das nicht Gegebene, sie stellen Bezüge zwischen Unverbundenem her und suchen aktiv nach Sinnkohärenz. Neben den Steuermechanismen, die der Text bereit hält, um die Konkretisationsaktivität zu lenken, haben auch andere Faktoren Einfluss auf die Bedeutungskonstitution. Zum einen stehen Leerstellen als Strukturelement in einem komplexen, interdependenten System von Beziehungen, die in ihrem Zusammenspiel die Sinnherstellung erzeugen. Zum anderen wirken sich individuelle Erfahrungen sowie kulturabhängige Ordnungssysteme auf die Art und Weise aus, wie Leerstellen aufgefüllt werden. Über dieses allgemeine Verständnis transmedialer Leerstellen hinaus können verschiedene Ausprägungen dieser Auslassungsphänomene unterschieden werden. Aus der Lektüre der theoretischen Literatur in Abgleich mit konkreten Beispielen wurden fünf Kategorien entwickelt. Ausgangspunkt für diese Ausdifferenzierung waren zunächst die literaturtheoretischen Schriften von Roman Ingarden und Wolfgang Iser, aus denen zwei

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grundlegende Ausprägungen von Leerstellen rekonstruiert wurden: Unbestimmtheiten und Kontinuitätsbrüche. Dabei finden sich sowohl bei Ingarden als auch bei Iser bereits Hinweise auf die transmediale Relevanz der jeweils beschriebenen Phänomene. Bei der anschließenden quellenorientierten Überprüfung der film- und fernsehtheoretischen Literatur auf vergleichbare Darstellungen von Auslassungsphänomenen konnte zwar kein genuiner Leerstellendiskurs nachgewiesen werden, dennoch wurden beide Kategorien auch für das audiovisuelle Erzählen sowohl hinsichtlich ihres strukturellen Auftretens wie auch in Bezug auf ihre ästhetische Funktionalisierung diskutiert. Auf dieser Grundlage wurde eine Ausweitung und Ausdifferenzierung der beiden ursprünglichen Konzepte auf fünf Kategorien vorgenommen. Neben die Unbestimmtheit (1) trat als eine weitere Ausprägung die Darstellungsleere (2), während die Kontinuitätsbrüche genauer unterschieden wurden in Unterbrechungen (3), Dekontextualisierungen (4) und Auslassungen (5). Diese Ausdifferenzierungen der Oberkategorie Leerstelle ermöglichen einen präziseren analytischen Zugang, so dass unterschiedliche Phänomene, die bisher in den theoretischen Arbeiten als Einzelaspekte unabhängig voneinander behandelt wurden, systematisiert und in ihrem Zusammenhang erfasst werden können. Es ist denkbar, dass eine entsprechende Ausweitung und genauere Unterscheidung nicht nur für das audiovisuelle Erzählen, sondern auch rückbezogen auf die Literatur, Kunst und andere Narrative durchaus ergiebig sein kann. Anhand der Beispielanalysen konnte nicht nur gezeigt werden, dass Leerstellen ein transmediales ästhetisches Phänomen sind, da sie nicht nur in literarischen Werken auftreten, sondern auch in den audiovisuellen Erzählformen Film und Fernsehen gezielt dramaturgisch eingesetzt werden. Darüber hinaus konnte ein breites Spektrum an Einsatzmöglichkeiten und Funktionen von Leerstellen nachgewiesen und letztlich Isers These widerlegt werden, Leerstellen seien eine exklusive Erscheinung hochkultureller Produkte. Zentrale Funktionen von Leerstellen bestehen darin, durch Dramatisierung und Dynamisierung des Geschehens der Spannungserzeugung zu dienen, Neugier zu wecken und Aufmerksamkeit zu steigern. Durch sie kann das Gefühl von Bedrohung, aber auch Komik transportiert werden, sie können den Eindruck von Exklusivität hervorrufen, zur Selbstbestätigung der Zuschauer beitragen, ein starkes Involvement am Gezeigten sowie eine

E RGEBNIS |

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stärkere Identifikation mit den Charakteren bewirken und die Zuschauer auch im Sinne einer parasozialen Interaktion als Kommunikationspartner bestätigen. Leerstellen haben sich als wichtige Analysekategorie erwiesen. Anhand der Beispiele wurde dargelegt, wie sich die Instrumentalisierungen der Leerstellen auf die Narration auswirken und damit den jeweiligen audiovisuellen Text entscheidend mitbedingen können, nicht nur auf der Ebene der Struktur, sondern auch hinsichtlich der jeweiligen Aussage auf der Ebene der Bedeutung. Entsprechend müssen bei einer umfassenden Analyse eines Textes dessen Leerstellen systematisch berücksichtigt werden. Insbesondere die Analyse der Filme und des Fernsehspiels hat ergeben, dass die Sinnerzeugung maßgeblich über die Leerstellen organisiert ist, so dass die Narration auch nur über diese erschlossen werden kann. Damit ist die Funktion von Leerstellen für die Gesamtbedeutung eines Textes deutlich höher einzuschätzen, als dies in der theoretischen Literatur bisher angedacht wurde. Iser hat zwar bereits den prozesshaften Charakter der fortschreitenden Hypothesenbildung und –modifikation während der Rezeption beschrieben, jedoch ist selbst sein Ansatz noch zu linear gedacht. Leerstellen unterschiedlicher Kategorien können innerhalb einer Erzählung ein komplexes Netzwerk bilden, das den Text strukturierend durchzieht und dabei nicht linear, sondern hypertextuell, retikulär wirkt. Die hier erarbeiteten Ergebnisse stellen entsprechend nur einen ersten Schritt dar, einen Versuch, die Relevanz des Phänomens Leerstelle als ästhetische Kategorie hervorzuheben und einer Analyse zugänglich zu machen. In ihrer Reichweite schließt die Leerstellentheorie an andere aktuell stark diskutierte, narrative Forschungsdiskurse wie das unzuverlässige, das labyrinthische und das komplexe Erzählen sowie etwa Fragen nach dem hors-champs bzw. hors-cadre an. Eine Ausweitung der Perspektiven kann hier sicherlich einen synergetischen Effekt haben und den theoretischen sowie analytischen Zugriff auf den gemeinsamen Forschungsgegenstand befördern, der ähnliche ästhetische Verfahren einschließt, die lediglich aus unterschiedlicher Perspektive und mit divergierender Terminologie behandelt werden. Inwieweit Leerstellen auch für andere ästhetische Produkte oder die Darstellung in nonfiktionalen Narrationen der unterschiedlichen Medien von Bedeutung sind, bleibt weiterführenden Arbeiten vorbehalten. Vieles spricht dafür.

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Kultur- und Medientheorie Erika Fischer-Lichte, Kristiane Hasselmann, Alma-Elisa Kittner (Hg.) Kampf der Künste! Kultur im Zeichen von Medienkonkurrenz und Eventstrategien November 2012, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-89942-873-5

Sandro Gaycken (Hg.) Jenseits von 1984 Datenschutz und Überwachung in der fortgeschrittenen Informationsgesellschaft. Eine Versachlichung September 2012, ca. 170 Seiten, kart., ca. 19,80 €, ISBN 978-3-8376-2003-0

Sven Grampp, Jens Ruchatz Die Fernsehserie Eine medienwissenschaftliche Einführung Oktober 2012, ca. 200 Seiten, kart., ca. 16,80 €, ISBN 978-3-8376-1755-9

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Kultur- und Medientheorie Annette Jael Lehmann, Philip Ursprung (Hg.) Bild und Raum Klassische Texte zu Spatial Turn und Visual Culture Dezember 2012, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1431-2

Claudia Mareis, Matthias Held, Gesche Joost (Hg.) Wer gestaltet die Gestaltung? Praxis, Theorie und Geschichte des partizipatorischen Designs Dezember 2012, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2038-2

Tobias Nanz, Johannes Pause (Hg.) Politiken des Ereignisses Mediale Formierungen von Vergangenheit und Zukunft Dezember 2012, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1993-5

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Kultur- und Medientheorie Vittoria Borsò, Michele Cometa (Hg.) Die Kunst, das Leben zu »bewirtschaften« Biós zwischen Politik, Ökonomie und Ästhetik September 2012, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1756-6

Vittoria Borsò (Hg.) Wissen und Leben – Wissen für das Leben Herausforderungen einer affirmativen Biopolitik September 2012, ca. 260 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2160-0

Thomas Brandstetter, Thomas Hübel, Anton Tantner (Hg.) Vor Google Eine Mediengeschichte der Suchmaschine im analogen Zeitalter September 2012, ca. 280 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1875-4

Uta Daur (Hg.) Authentizität und Wiederholung Künstlerische und kulturelle Manifestationen eines Paradoxes September 2012, ca. 250 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1924-9

André Grzeszyk Unreine Bilder Zur medialen (Selbst-) Inszenierung von School Shootern

Janina Karolewski, Nadja Miczek, Christof Zotter (Hg.) Ritualdesign Zur kultur- und ritualwissenschaftlichen Analyse »neuer« Rituale August 2012, ca. 310 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1739-9

Markus Leibenath, Stefan Heiland, Heiderose Kilper, Sabine Tzschaschel (Hg.) Wie werden Landschaften gemacht? Sozialwissenschaftliche Perspektiven auf die Konstituierung von Kulturlandschaften September 2012, ca. 200 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1994-2

Christoph Neubert, Gabriele Schabacher (Hg.) Verkehrsgeschichte und Kulturwissenschaft Analysen an der Schnittstelle von Technik, Kultur und Medien September 2012, ca. 250 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1092-5

Marion Picker, Véronique Maleval, Florent Gabaude (Hg.) Die Zukunft der Kartographie Neue und nicht so neue epistemologische Krisen September 2012, ca. 330 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1795-5

August 2012, ca. 540 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1980-5

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Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Dorothee Kimmich, Schamma Schahadat (Hg.)

Essen Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 1/2012

Mai 2012, 202 Seiten, kart., 8,50 €, ISBN 978-3-8376-2023-8 Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften bietet eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über »Kultur« und die Kulturwissenschaften – die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur sowie historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus wird mit interdisziplinären Forschungsansätzen diskutiert. Insbesondere jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen kommen dabei zu Wort. Lust auf mehr? Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen 11 Ausgaben vor. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften kann auch im Abonnement für den Preis von 8,50 € je Ausgabe bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]

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